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German Pages 826 [828] Year 1998
Franz Oppenheimer Gesammelte Schriften
Franz Oppenheimer Gesammelte Schriften Schriften zur Demokratie und sozialen Marktwirtschaft
Im Auftrag des Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien Universität Potsdam in Verbindung mit Ludwig-Erhard-Stiftung e.V., Bonn Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf herausgegeben von Julius H. Schoeps Alphons Silbermann Hans Süssmuth
Franz Oppenheimer Gesammelte Schriften Band III Schriften zur Marktwirtschaft Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Herausgegeben von Julius H. Schoeps, Alphons Silbermann, Hans Süssmuth in Verbindung mit Bernhard Vogt Bearbeitet von Elke-Vera Kotowski
Akademie Verlag
Der Druck dieses Bandes erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Landesbank Berlin (LBB) und der Jehoshua und Hanna Bubis-Stiftung.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Oppenheimer, Franz: Gesammelte Schriften / Franz Oppenheimer. - Berlin : Akad. Verl. Schriften zur Demokratie und sozialen Marktwirtschaft / im Auftr. des Moses-Mendelssohn-Zentrum Europäisch-Jüdische Studien, Universität Potsdam. In Verbindung mit LudwigErhard-Stiftung e.V., Bonn ; Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf. Hrsg. von Julius H. Schoeps ... ISBN 3-05-002675-8 Bd. 3. Schriften zur Marktwirtschaft / bearb. von Elke-Vera Kotowski. 1998 ISBN 3-05-003156-5
© Akademie Verlag G m b H , Berlin 1998 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Oldenbourg-Gruppe. Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). N o part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Texterfassung: Kathrin Finke, Veronika Lipphardt, Peter Riedel, Tobias Barniske, Universität Potsdam Satz: Elke-Vera Kotowski, Potsdam Druck: GAM Media G m b H , Berlin Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" G m b H , Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Vorwort
VII
Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik Praktische Ökonomik und Wirtschaftspolitik [1913]
3
Zur Theorie der -weltwirtschaftlichen Beziehungen [1913]
33
Zur Geldtheorie [1914]
37
Gemeingut und Privateigentum [1914]
45
Kriegswirtschaft [1914]
67
Weltwirtschaft und Nationalwirtschaft [1915]
75
Das Bodenmonopol [1917/18]
105
Freier Handel und Genossenschaftswesen [1918]
111
Die neue Wirtschaft [1918]
124
Krisis der Nationalökonomie [1919]
130
Gemeinwirtschaft [1924]
157
Pseudoprobleme der Wirtschaftspolitik [1925]
163
Der Arbeitslohn [1926]
179
Wert und Kapitalprofit [1926]
231
Zur Möglichkeit der Konjunkturtheorie [1927]
287
VI
Inhalt
Produktivität [1926]
290
Weltprobleme der Bevölkerung [1929]
307
Alfred Amonns theoretische Auffassung [1929]
330
Lohntheorie und Sozialpolitik [1929]
346
Die ökonomische Theorie des Wertes [1931]
355
Arbeitslosigkeit [1936]
375
Wages and Trade Unions [ 1940/41]
399
A Post-Mortem on Cambridge Economics [1943/44]
427
Zweiter Teil: Marktwirtschaft Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie [1938]
449
Quellenverzeichnis
803
Namenverzeichnis
811
Vorwort
Bundespräsident Roman Herzog erinnerte anläßlich der Präsentation des ersten Bandes der „Gesammelten Schriften" im September 1995 mit folgenden Worten an Leben und Werk des Autors: „Franz Oppenheimer glaubte an die Vereinbarkeit des scheinbar Unvereinbaren. Er verwandte sein Lebenswerk darauf, die Möglichkeit einer .brüderlich geeinten Gesellschaft der Freien und Gleichen' zu beweisen. In meinen Ohren klingt das fast wie eine Devise der Französischen Revolution. Oppenheimer schrieb sein Plädoyer für Freiheit und Gleichheit allerdings mehr als hundert Jahre später, im Jahr 1919, in einer Zeit schlimmster sozialer Not in ganz Europa. Er warb deshalb für die im 19. Jahrhundert, zu Zeiten des Manchester-Kapitalismus, verschüttete Erkenntnis, daß die Wirtschaft kein Selbstzweck ist, sondern daß sie ein zutiefst soziales Ziel hat: die bestmögliche Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse in einer freien Gesellschaft." Die wirtschaftswissenschaftlichen und -politischen Arbeiten Oppenheimers gerieten in der Nachkriegszeit - abgesehen von einer kleinen Fachöffentlichkeit - mehr noch als seine Soziologie in Vergessenheit und dies obwohl nicht nur sein Schüler, der erste bundesdeutsche Wirtschaftsminister und spätere Bundeskanzler, Ludwig Erhard immer wieder hervorhob, wie groß der geistige Anteil Oppenheimers an der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft war. In der Geschichtsschreibung zur bundesdeutschen Wirtschaftsordnung wurde Oppenheimer lange nicht berücksichtigt.1 In unserer heutigen Zeit der globalen Umbrüche bedarf das Modell der Sozialen Marktwirtschaft selbstverständlich einer erneuerten Begründung. Doch fehlt der Mut zu einem utopischen Konzept, daß der Wirtschaftspolitik eine feste Orientierungshilfe bieten könnte. Oppenheimer legte mit seinem Plädoyer für eine Marktwirtschaft, die ein zutiefst soziales Ziel hat, ein solches Konzept vor, das zwar in seiner Zeit verhaftet ist, doch noch immer wertvolle Anregungen liefern kann. Das Hauptanliegen des nun vorliegenden dritten und vorläufig letzten Bandes der „Gesammelten Schriften" ist es, das nationalökonomische Denken Franz Oppenheimers in seiner gesamten Spannbreite neu vorzustellen. Im Mittelpunkt seines Erkenntnisinteresses stand die gerechte Verteilung der volkswirtschaftlichen Produktion bzw. des Einkommens. Oppenheimer ging es primär darum, ein Ideal plausibel zu machen. Erst in zweiter Linie war ihm an einer Beschreibung der realen Wirtschaft gelegen. Eine ideale „Gesellschaftswirtschaft" stellte er sich mn einen polypolistischen Markt zentriert vor. Angebot und Nachfrage strebten einem Gleichgewicht zu. Die Bevölkerungsdichte bestimme den Grad der Arbeitsteilung. Die (ungestörte) Wirtschaftsentwicklung führe zum Wachstum der Einkommen. Die Konkurrenz und das stabilisierende Wirtschaftswachstums gewährleiste die gleichmäßige Verteilung des Wohlstands und die „Harmonie der Interessen". Oppenheimer plädierte für ein Wachstumsmodell, das seiner positiven Bewertung des technischen Fortschritts und dessen sozialer
1
Zur Rezeption Franz Oppenheimers bei der Grundlegung der sozialen Marktwirtschaft vgl. Bernhard Vogt, Franz Oppenheimer. Wissenschaft und Ethik der sozialen Marktwirtschaft (= Studien zur Geistesgeschichte, Bd. 22, hrsg. von Julius H. Schoeps), Bodenheim 1997.
vm
Vorwort
Bedeutung entsprach. Er bewegte sich dabei weitgehend in den Bahnen der nationalökonomischen Klassiker und der Arbeitswertlehre, was ausführlich in seiner Schrift „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie" (1938) nachzulesen ist, die eine überarbeitete Fassung des Hauptabschnittes über die Marktwirtschaft aus seiner „Theorie der reinen und politischen Ökonomie" (1910) darstellt und hier im zweiten Teil aufgenommen ist. Im Vergleich zur zeitgenössischen Nationalökonomie war neben seiner sozialpsychologischen Betrachtung des Wirtschaftsprozesses vor allem sein Versuch originell, Macht sowohl a priori, als Faktor zur Schaffung der ökonomischen Rahmenbedingungen (etwa Besitz- und Rechtsverhältnisse), in die Analyse mit einzubeziehen, als auch mit seiner Monopoltheorie als ökonomische Größe meßbar zu machen. Oppenheimer ging hier mit seiner Definition von „natürlichen" Monopolen, beschränkter Konkurrenz und Klassenmonopolverhältnissen, sowie seiner dialektischen Betrachtung des Verhältnisses von Macht und Markt neue Wege. Seine Arbeiten zur Monopoltheorie liegen gewissermaßen auf „halber Strecke" zwischen der späteren volkswirtschaftlichen Monopoltheorie und den sozialistischen Denkern, die den Anstoß zur Berücksichtigung von Machtfaktoren im Wirtschaftsleben gaben. Für Oppenheimer bildete die zusammenhängende Kritik von Kapitalismus und Sozialismus eine Voraussetzung, um die großen sozialen Probleme seiner Zeit - Landflucht, Verstädterung, Massenarmut, Arbeiterunruhen und Wirtschaftskrisen - zu lösen. Die Ursachen für die sozialen Mißstände sah Oppenheimer nicht in der freien Konkurrenz, sondern in der Abwesenheit derselben. Der „feindliche Wettkampf" von Monopolen beeinträchtige, so seine These, die Funktionen der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung. Die Hauptverantwortung für diese „politische" Ökonomie trage das Großgrundeigentum, weil es den Staat für seine Interessen instrumentalisiert. Eine staatliche Verordnung von wirtschaftspolitischen bzw. ökonomischen Ziele schied für Oppenheimer deshalb aus, da dies nach seiner Meinung nicht unabhängig von Gruppeninteressen geschehen konnte. Er forderte daher, Monopole und Machtpositionen in der Wirtschaft zu beseitigen und die Gleichberechtigung jedes einzelnen Produzenten wiederherzustellen. Sein Bestreben richtete sich auf die Formulierung einer widerspruchsfreien Theorie marktwirtschaftlicher Konkurrenz, die freilich eine ethisch begründete Funktion haben sollte, nämlich Freiheit und soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten. Sicherlich beurteilte Oppenheimer die Wirkung des marktwirtschaftlichen Verteilungsmechanismus zu optimistisch, und auch die von ihm favorisierten Siedlungsgenossenschaften erwiesen sich schon zu seinen Lebzeiten als untaugliches Mittel, die erhoffte „Freibürgerschaft" durch ein genossenschaftliches Reformprogramm zu erreichen (vgl. Band Π: Politische Schriften). Das ordnungspolitische Potential seines „Dritten Weges" erschöpfte sich jedoch keineswegs in diesem Aspekt. Oppenheimer befaßte sich in „Praktische Ökonomik und Volkswirtschaftspolitik" (1913) mit dem Problem, neben einer von ihm initiierten Genossenschaftsbewegung, „Träger" für seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen zu benennen: Die staatlichen Möglichkeiten zur Förderung des marktwirtschaftlichen Prozesses seien eng begrenzt. Die Finanzpolitik könne zwar durch Einkommens- und Erbschaftssteuern einen gewissen Umverteilungseffekt erzielen, doch letztlich würde das Gemeinwohl zugunsten von „Klasseninteressen" vernachlässigt. Größere Bedeutung maß Oppenheimer der Bildungspolitik und dem gesetzlichen Spielraum zur Gestaltung der Besitz- und Bodenordnung bei. Grundsätzlich müßten sich die staatlichen Anstrengungen nach seiner Aussage auf die Beseitigung der hemmenden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen konzentrieren. Neben dem Staat seien vor allem große Unternehmen und Verbände dazu aufgerufen, die wirtschaftspolitischen Folgen ihrer Tätigkeiten zu kalkulieren und im Hinblick auf das übergeordnete Ziel des Gemeinwohls abzustimmen. Dies gelte nach Ansicht Oppenheimers in besonderem Maße für Politiker, Parteien und Regierungen, die keinesfalls nur die Interessen ihrer jeweiligen Klientel vertreten dürften. Besonders aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang auch seine Stellungnahmen zu sozialpolitischen Fragen, der gewerkschaftlichen Lohnpolitik und der deutschen Kriegswirtschaft.
Vorwort
IX
Oppenheimer forderte eine Verbindung von ökonomischer und politischer Demokratie, sozusagen einen radikalen Föderalismus - ein Ideal, das er am Ende seiner Schaffensperiode immer deutlicher formulierte. Seine ökonomische bzw. wirtschaftspolitische Auffassung verteidigte er in zum Teil jahrelangen Debatten gegenüber zeitgenössischen Kritikern, die in diesem Band nur exemplarisch vorgestellt werden können. Dies gilt unter anderem für die Auseinandersetzung mit dem österreichischen Nationalökonom Joseph Schumpeter, der Oppenheimers Monopoltheorie anzweifelte, oder dem Nationalökonom Alfred Amonn, der Oppenheimers Wertlehre attackierte. Oppenheimer grenzte sich in den aufgenommenen Monographien und Aufsätzen kritisch gegen damals vorherrschende nationalökonomische Schulen ab, wie die subjektive Wertlehre, die österreichische Grenznutzenschule oder die neoklassische Wirtschaftstheorie Alfred Marshalls. Gegenüber neu aufkommenden Ansätzen, insbesondere bei der Konjunkturtheorie John Maynard Keynes aus den dreißiger Jahren, bemühte sich Oppenheimer ebenso um eine Absicherung seines „Systems". Er vertrat dabei eine Diskurstradition, die bei aller Kritik Wert auf Nachvollziehbarkeit legte und deshalb immer den jeweiligen „Antipoden" zu Wort kommen ließ. Der Leser erhält auf diese Weise, sozusagen nebenbei, eine lebendige Einführung in einen wichtigen Teil der nationalökonomischen Theoriegeschichte. Der vorliegende Band umfaßt insgesamt fünf eigenständige Publikationen und 19 Zeitschriftenaufsätze Oppenheimers aus den Jahren zwischen 1913 und 1944. Der lange Publikationszeitraum und die vorhandenen Rahmenbedingungen ermöglichten es nicht, die einzelnen Schriften im Detail vorzustellen oder zu kommentieren. Die ausgewählten Texte sprechen jedoch für sich. Oppenheimer nahm zu wichtigen wirtschaftlichen Fragen in Theorie und Praxis Stellung und formulierte anhand seiner Theorie konstruktive Lösungsvorschläge. Dem Leser erschließt sich nicht nur das ökonomische Denken Oppenheimers in seiner zeitlichen und systematischen Entwicklung, sondern er erhält auch einen historischen Einblick in eine von Kriegswirtschaft und (Welt-)Wirtschaftskrisen geprägte Epoche. Aufsätze, die mehr als 20 Seiten umfassen, wurden mit einem Zwischentitel versehen. Zu Beginn der jeweiligen Schrift verweist eine Fußnote auf die Ursprungsquelle.: sofern es sich um eine eigenständige Publikation handelt, wird auf die Erstausgabe verwiesen; bei Zeitschriften werden die bibliographischen Angaben der Ersterscheinung angegeben. Die editorischen Eingriffe beschränken sich auf ein Mindestmaß: Die Orthographie wurde weitestgehend der modernen Schreibweise angeglichen, begriffliche Eigenheiten jedoch erhalten. Die Interpunktion wurde in der Originalform belassen, um die „Betonung" des Autors innerhalb seines Satzbaus zu erhalten. Erschien es darüber hinaus notwendig, Korrekturen vorzunehmen, so sind diese durch den Zusatz [A.d.R.] = Anmerkung der Redaktion ersichtlich. Hervorhebungen innerhalb der Zitate anderer Autoren sind - entgegen den Vorlagen, die Hervorhebungen gesperrt auszeichnen - durch ein kursives Schriftbild kenntlich gemacht. Die zugehörigen Quellenangaben wurden in den Fußnoten vereinheitlicht. Im Anhang dieser Ausgabe befindet sich ein Verzeichnis der von Oppenheimer benutzten Quellen, die nicht den einzelnen Werken zugeordnet wurden, sondern in alphabetischer Reihenfolge erscheinen. Ein Namenregister erfaßt alle von ihm erwähnten Personen. Sofern Oppenheimer auf eigene, in der Edition enthaltene Schriften verwies bzw. diese zitierte, so finden sich in den Fußnoten, neben den Seitenangaben der Originalausgaben, die Verweise auf die vorliegenden drei Bände dieser Edition.
Februar 1997
Die Herausgeber
Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
Praktische Ökonomik und Volkswirtschaftspolitik
[1913]
Inhalt
Α. Die praktische Ökonomik, ihr Gebiet und ihre Grenzen
6
B. Die Volkswirtschaftspolitik
7
a) Die Träger der Kunst
7
b) Die Aufgaben der Volkswirtschaftspolitik
9
c) Der Streit um den Herrschaftsbereich der Volkswirtschaftspolitik
12
d) Norm und Maßstab der Volkswirtschaftspolitik
16
e) Ist und wie ist wissenschaftliche Volkswirtschaftspolitik möglich?
18
f) Die Ziele der Volkswirtschaftspolitik
22
g) Die Mittel der Volkswirtschaftspolitik
25
h) Die Volkswirtschaftspolitik in der Literatur
29
[Dieser Aufsatz ist erstmals erschienen in: Annalen der Naturphilosophie, Bd. 12 (1913), S. 307-351; A.d.R.]
6
Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
Wir haben in dem Gebiete, das im allgemeinen als „praktische" oder „praktische und spezielle Nationalökonomie" bezeichnet zu werden pflegt, zwei Dinge streng zu unterscheiden, die zwar eine gewisse Verwandtschaft haben, aber nicht im mindesten identisch sind: die praktische Ökonomik einerseits und die Volkswirtschaftspolitik andererseits. Diese ist eine Kunst, jene eine Kunstlehre.
A. Die praktische Ökonomik, ihr Gebiet und ihre Grenzen Die praktische Ökonomik ist die wissenschaftliche Kunstlehre der Ökonomik. Die praktische verhält sich zur theoretischen Ökonomik wie etwa die wissenschaftliche Technologie zu den theoretischen Wissenschaften der Mathematik, Physik und Chemie, wie die Agrarwissenschaft zu den theoretischen Wissenschaften der Zoologie, Botanik und wieder der Chemie und Physik, wie die wissenschaftliche Medizin zur Anatomie, Physiologie usw. Welches ist das Gebiet dieser angewandten Wissenschaft? Nun, es kann kein anderes sein als das Gebiet der theoretischen Wissenschaft selbst. Die theoretische Ökonomik beschäftigt sich nach meiner Begriffsbestimmung, die zwar noch nicht anerkannt ist, aber kaum je bestritten werden wird, mit der Gesellschaftswirtschaft der entfalteten Wirtschaftsgesellschaft. Sie ist eine soziale Wissenschaft, ihr Blick bleibt immer auf das Gesellschaftliche gerichtet, auf den Personenkreis der societas oeconomica, und die Funktion, die diesen Personenkreis verknüpft, die oeconomia socialis. Aus diesem Grunde ist die praktische Ökonomik streng zu unterscheiden von einer anderen Kunstlehre, die ihr nahe verwandt und doch von ihr völlig verschieden ist, weil sie das gleiche Gesamtgebiet, aber von einem ganz anderen Gesichtspunkte aus, betrachtet. Es ist das die Privatökonomik oder Privatwirtschaftslehre, die ihren Blickpunkt nicht auf die Gesellschaft und ihre Wirtschaft, sondern umgekehrt auf die einzelne ökonomische Person und ihre Wirtschaft geheftet hält. Sie ist diejenige wissenschaftliche Kunstlehre, die den einzelnen wirtschaftenden Menschen befähigen will, seine eigene Einzelwirtschaft so ökonomisch wie möglich zu betreiben, d. h. die Wertdinge seines Bedarfs mit dem geringsten Aufwand zu beschaffen und so zu verwalten, daß der höchste Erfolg der Bedarfsdeckung erzielt wird. Wir werden ungefähr das Richtige treffen, wenn wir sagen, überall da sei Privatwirtschaftslehre, wo es sich um die Kategorie der Rentabilität vom Standpunkt nicht der Gesamtheit, sondern einer einzelnen ökonomischen Person aus handelt. Alle diese Erscheinungen und die wissenschaftliche Kunstlehre davon bleiben außerhalb unseres Betrachtungsgebietes. Aus diesem Grunde fällt insbesondere auch die gesamte Finanzwissenschaft außerhalb unseres jetzigen Gesichtskreises. Denn die Finanzwissenschaft ist die wissenschaftliche Kunstlehre von der Privatwirtschaft des Staates und der ihm untergeordneten öffentlichen Korporationen, der Provinzen, Kreise, Gemeinden etc. Denn alle diese Körperschaften sind, von der einen Seite gesehen, ökonomische Personen, und zwar Kollektivpersonen öffentlichen Rechtes, um die Terminologie meines Lehrbuches anzuwenden. Sie beschaffen und verwalten sämtlich Wertdinge, nämlich Güter und Dienste, und haben dabei dem Ideal der privaten Wirtschaftlichkeit so nahe wie möglich zu kommen. Sie sollen nicht mehr Steuern und persönliche Dienste von ihren Bürgern fordern als unerläßlich, und sollen sie so verwalten, daß die Bedürfnisse der Allgemeinheit so vollkommen wie möglich befriedigt werden. Zu dem Zwecke sollen die Beamten dieser Körperschaften genau so mit dem Gute der Steuerzahler „wirtschaften" wie ein guter Hausvater mit seinem eigenen Gute. Dazu weist sie eine wissenschaftliche Kunstlehre an, eben die Finanzwissenschaft, die, von dieser Seite aus gesehen, ein Teil der Privatwirtschaftslehre ist; und darum ist es aus inneren Gründen gerechtfertigt, geschieht nicht nur aus äußeren Gründen der Stoffverteilung, daß nach dem deutschen Vor-
Praktische Ökonomik und Volkswirtschaftspolitik
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gang seit Rau überall in der Welt die Finanzwissenschaft nicht als Teil der praktischen oder angewandten Nationalökonomie, sondern als eigene Disziplin vorgetragen wird. Auf der anderen Seite ist es freilich eben so gerechtfertigt, wenn diese Disziplin der Finanzwissenschaft dennoch nicht als Privatwirtschaftslehre den besonderen Fachschulen, sondern als dritter Hauptteil der Ökonomik der Universitas literarum vorbehalten bleibt. Denn die Fisci wirtschaften zwar wie ökonomische Privatpersonen, sind aber etwas anderes, haben ein anderes Ziel vor Augen, nicht das Ziel der persönlichen, sondern der allgemeinen Wohlfahrt. Sie sind in meiner Terminologie „öffentlich-rechtliche Personen des Gemeinen Nutzens". Die Beamten wirtschaften nicht für sich, sondern für die Gesellschaft. Darum gehört diese Kunstlehre in das System der Ökonomik; denn die Ökonomik ist ja die Lehre von der Gesellschaftswirtschaft einer Wirtschaftsgesellschaft. Mit dieser Grenzbestimmung sind wir unserem Ziele, das Gebiet unserer Studien festzulegen, einen Schritt näher gekommen. Wir dürfen sagen: alle wissenschaftliche Lehre von der Wirtschaftskunst, die weder den Staatshaushalt noch den Privathaushalt betrifft, ist das Gebiet der praktischen Ökonomik. Wir haben all das Wissen zu vermitteln, das der praktische Volkswirt als Grundlage seiner Entschlüsse und Handlungen brauchen wird, wenn er weder als Privatmann in seinem eigenen, noch als Finanzpolitiker im fiskalisch-finanzpolitischen Interesse tätig ist. Das ist zunächst nur eine negative Definition. Aber sie füllt sich doch sogleich mit positivem Inhalt, wenn wir sie genauer betrachten. Wenn wir nämlich sowohl das privatwirtschaftliche wie das finanzpolitisch-fiskalische Interesse ausschließen, bleibt als das Gebiet unserer Studien nur noch das wirtschaftliche Gemeininteresse übrig. Danach können wir die praktische Ökonomik definieren als die Wissenschaft von der gemeinnützigen Wirtschaftskunst. Diese Kunst pflegt man herkömmlicherweise als Volkswirtschaftspolitik zu bezeichnen. Freilich, die meisten Autoren nennen nicht bloß die Kunst, sondern auch die Kunst/e^re mit diesem Namen, wie man ja wohl auch sowohl die Staatskunst wie auch die Wissenschaft von der Staatskunst als „Politik" bezeichnet. Wir werden diesen Mißbrauch um der Klarheit willen vermeiden; eine Kunst und eine Wissenschaft von dieser Kunst sind sehr verschiedene Dinge. Jene ist ein Wissen, und diese ist ein Können. Es kann jemand die ganze Wissenschaft einer Kunst am Schnürchen haben, ein Musiker z. B. Harmonik und Kontrapunkt, und ist doch ein stümperhafter Komponist; und es kann ein anderer keine Ahnung von der Wissenschaft seiner Kunst haben und ist doch ein Weltgenie, wie der junge Mozart. Darum werden wir den Namen: „praktische Ökonomik" für die Kunstlehre beibehalten; die Kunst der gemeinnützigen Wirtschaft selbst aber als Volkswirtschaftspolitik bezeichnen.
B. Die Volkswirtschaftspolitik a) Die Träger der Kunst Wer ist oder wer sind die Träger, die Ausübenden dieser Kunst, der gemeinnützigen Wirtschaft? Nun, vor allem der Staat! Eine terminologische Bemerkung voraus. Wenn wir hier vom „Staat" sprechen, so wollen wir unter dem Begriffe ein für alle Male verstehen nicht nur den „Staat" im engeren staatsrechtlichen Sinne, also z. B. den Staat Preußen, sondern den „Staat" in seiner ökonomischen Bedeutung als „öffentlich-rechtliche ökonomische Kollektivperson des gemeinen Nutzens", um die Bezeichnung meiner „Theorie" zu gebrauchen. Das ist der Staat selbst und seine administrativen Unterglieder und Bestandteile mit ihren Zwangsrechten auf Steuerleistung, Dienstleistung und Gehorsam
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Enter Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
gegen die von ihnen erlassenen Gesetze und Verordnungen innerhalb des Kreises ihrer Zuständigkeit. Unter dem Worte „Staat" verstehen wir also die Reiche, die ihnen eingegliederten Bundesstaaten und deren untergeordnete Verwaltungseinheiten bzw. deren Behörden, also ζ. B. in Preußen die Provinzen, Regierungsbezirke, Kreise, Amts- und Gutsbezirke und Gemeinden. In diesem Sinne ist der Staat der vornehmste Träger der gemeinnützigen Wirtschaftskunst. Ist er doch die Zusammenfassung ganz des gleichen Personenkreises zu politischer Kooperation, der in der Volkswirtschaftsgesellschaft zu wirtschaftlicher Kooperation verbunden ist! Und ist doch der Staat, soweit er „ökonomische Person des gemeinen Nutzens" ist, - er ist außerdem noch ökonomische Person des Klassennutzens der herrschenden Klasse - auf jeder höheren Stufe seiner Entwicklung eine Institution zur Beförderung der Wohlfahrt seiner Bürger! Dazu gehört außer dem Schutze des Friedens nach außen und des Rechts und der Ordnung nach innen, außer der Sorge für die öffentliche Gesundheit die öffentliche Erziehung usw., vor allem auch die Sorge für die wirtschaftliche Wohlfahrt der Gesamtheit. Auf den Schultern des „Staates" in diesem Sinne lag in früheren Zeiten die Sorge für die gemeinnützige wirtschaftliche Tätigkeit fast allein. Die kleinsten Aufgaben fielen den kleinsten Verbänden, den Gemeinden und Gauen, die größeren den größeren, die größten Aufgaben der politischen Gesamtheit im ganzen zu. Neben dem Staate stand für einzelne Aufgaben der wirtschaftlichen Wohlfahrt eigentlich nur noch eine einzige halbstaatliche Organisation ein, die Kirche, deren Hauptarbeitsgebiet auf diesem Felde die Armenpolitik war. Noch heute überwiegt der Einfluß und die Tätigkeit des Staates in der gemeinnützigen Wirtschaftskunst alle anderen Einflüsse, überwiegt sie so stark, daß immer noch manche Forscher die praktische Nationalökonomie mit der staatlichen Volkswirtschaftspolitik identifizieren. Aber, was einst annähernd richtig war, ist heute viel zu eng geworden. Mit der Ausweitung der Wirtschaftskreise von der Stadt- zur Volkswirtschaft und dann zur Internationalwirtschaft, mit der Verdichtung der Bevölkerung auf der Fläche, hat sich die gesellschaftliche Arbeitsteilung und -Vereinigung in ungeheurem Maße vermehrt und verfeinert, sind die wirtschaftlichen Kräfte ins Ungeheure gewachsen, während gleichzeitig die früher fast unbeschränkte Macht des Staates über das Wirtschaftsleben seiner Bürger aus den gleichen Ursachen immer mehr eingeengt wurde. Immer mehr Freiheit mußte man der privatwirtschaftlichen Initiative der einzelnen Bürger lassen, immer mehr staatliche Funktionen den eigentlichen BeamtenBehörden abnehmen und der Selbstverwaltung zuweisen. So entstanden gleichsam Staaten im Staate, gewaltige private Organisationen der Interessenvertretung und nicht minder gewaltige private Organisationen für die Beförderung des gemeinen Nutzens im allgemeinen und der wirtschaftlichen Wohlfahrt im besonderen. Von den leitenden Beamten der letztgenannten Organisationen gilt unser Kennzeichen durchaus, daß sie mit ihrer Tätigkeit weder privatwirtschaftliche noch finanzpolitische Absichten verfolgen. Sie treiben gemeinnützige Wirtschaftskunst, ihre Absicht ist auf die Beförderung der gemeinen wirtschaftlichen Wohlfahrt gerichtet. Das gilt ζ. B. für die freien Vereinigungen „gegen Verarmung und Bettelei", die nicht nur Almosen geben, sondern bestrebt sind, durch zweckentsprechende Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung, der Darlehnsbeschaffung usw. Verarmende oder Verarmte wieder in den Sattel zu heben. Sie treiben ^Armenpolitik", und treiben sie, wenn sie gut geleitet sind, nach den Grundsätzen, die ihnen die wissenschaftliche Kunstlehre der praktischen Ökonomik an die Hand gegeben hat. Dasselbe gilt von den Gründern und Leitern mancher Genossenschaft, die, ohne im mindesten selbst der Stütze durch Andere zu bedürfen, der Organisation der Kleinen und Schwachen dasjenige darboten, was unser großer Volksfreund A imé Huber die „aristokratische Hilfe" nannte: Rat und Tat durch Mitarbeit und hier und da durch Darlehen. Wenn „Vater Raiffeisen" aus rein gemeinnützigen Beweggründen seine ländlichen Kreditkassen schuf, um dem Vieh- und Landwucher ein Ende zu machen, der die Bauern vernichtete, so trieb er „Sozialpolitik".
Praktische Ökonomik
und
Volkswirtschaftspolitik
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Aber selbst diejenigen Verbände, die lediglich den egoistischen Privatinteressen der Wirtschaft ihrer Mitglieder dienen wollen und sollen, selbst sie können, sobald sie eine gewisse Größe erreicht haben, nicht mehr rein privatwirtschaftlichen Erwägungen folgen. Die großen Kapitalistenverbände, die Vereine der Industriellen, die Kartelle und Trusts, die ungeheuer zahlreichen Gewerkschaften der Arbeiter, die Verbände der Genossenschaften in Stadt und Land, haben zwar keine öffentliche Stellung wie Behörden, aber sie haben oft mehr Macht und Einfluß, als kleine Staaten im Ganzen besitzen, und sie müssen bald erkennen, daß ihrer Macht auch eine steigende Verantwortung gegenüber der Gesamtheit, dem gemeinen Nutzen, entspricht. Der Schuhmachermeister Krause kann seinen einen Gesellen entlassen und seine Werkstatt auf eine ihm beliebige Zeit zusperren, wenn seine Verhältnisse es ihm gestatten. Und der Eisenbahnarbeiter Müller kann wegen Differenzen mit seinem Bahnmeister die Arbeit plötzlich niederlegen: in beiden Fällen wird das gemeine Wohl nicht im mindesten betroffen. Wenn aber die sämtlichen Kohlengruben Deutschlands ihre Arbeiter entlassen, oder sämtliche Eisenbahner in den Streik treten, so wird die allgemeine Wohlfahrt auf das Tiefste erschüttert. Und darum müssen die leitenden Männer, die solche Entscheidungen zu treffen haben, bis herab zum letzten Arbeiter, der über die Erklärung oder die Beendigung eines Ausstandes mitzustimmen hat, sich nicht nur von privatwirtschaftlichen, sondern auch, und je länger je mehr, von volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten leiten lassen. Sie dürfen ζ. B. oftmals nicht von einer zur Zeit bestehenden Übermacht allzu rücksichtslos Gebrauch machen, dürfen den Gegner nicht „bis zur Leichenblässe zur Ader lassen", sondern sie müssen den Rückschlag ihrer Handlung auf andere Zweige der Volkswirtschaft, die Reaktion der öffentlichen Meinung, die politische Lage nach außen, oft genug auch die wahlpolitische Lage im Inneren usw. mit in Rechnung setzen; kurz, sie haben Volkswirtschaftspolitik, d. h. gemeinnützige Wirtschaftstätigkeit zu treiben, haben das Allgemein-Interesse so weit wie möglich mit ihrem Privatinteresse am höchsten Lohne oder der höchsten Dividende auszugleichen und abzustimmen. Sie treiben Lohnpolitik. Ganz das Gleiche gilt für die loseren Interessenverbände, die nicht im wirtschaftlichen, sondern im politischen Gewände auf der öffentlichen Bühne agieren, für die Parteien und ihre Organe, die Presse. Eine Partei ist selten, wenn je, auf die Dauer etwas anderes als ein Verband zur Durchsetzung wirtschaftlicher Ziele mit politischen Mitteln, und eine politische Zeitung ist immer das Organ einer Partei, wenn auch oft genug einer erst sich bildenden, neuen, und zuweilen das einer schon abgestorbenen, toten. Auch in der Partei und in der Parteipresse dürfen die speziellen wirtschaftlichen Interessen der Gruppe nicht allzu einseitig, privatwirtschaftlich, vertreten werden. Selbst die schlimmsten Fanatiker müssen wenigstens so tun, als verföchten sie nicht den Gruppennutzen, sondern das Gemeinwohl, und das können sie nur, wenn sie mit einem Zerrbild der praktischen Ökonomik ein Mäntelchen über ihre privatwirtschaftliche Blöße hängen. Die ernsteren Parteimänner und Parteiblätter werden sich, gerade wie die Kartell-Leiter oder Gewerkschaftsführer, nicht nur dem Schein nach, sondern allen Ernstes so weit von gemeinnützigen Gesichtspunkten leiten lassen, wie ihnen das möglich ist, ohne die ihnen anvertrauten Privatinteressen allzu sehr preiszugeben. Darum hat jeder Parlamentarier, jeder praktische Politiker, und in Staaten mit konstitutioneller Verfassung sogar jeder Wähler Volkswirtschaftspolitik zu treiben, und sollte sich dabei von der Kunstlehre der praktischen Ökonomik beraten lassen.
b) Die Aufgaben der Volkswirtschaftspolitik Die Aufgabe der gemeinnützigen Wirtschaftskunst besteht darin, die politische Ökonomie des betreffenden Volkes zur höchsten Blüte zu führen. Wie kann das geschehen? Was kann dazu geschehen?
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Wäre die politische Ökonomie eines Volkes ein toter Mechanismus, so wäre die Aufgabe der Wirtschaftskunst von unbegrenztem Umfang. Sie müßte den Mechanismus konstruieren, aufbauen, in Betrieb setzen und im Betriebe halten, ihn nach Bedarf erweitern, bei Beschädigungen wieder herstellen, unter Umständen durch einen neuen, vollkommneren ersetzen. Ungefähr so sahen die Merkantilisten die politische Ökonomie an, und deshalb bestand ihre gesamte Ökonomik eigentlich aus nichts anderem als einer wissenschaftlichen Kunstlehre; sie war ganz oder fast ganz praktische Ökonomik. Aber wir wissen seit den Physiokraten und Adam Smith, daß die politische Ökonomie der Völker nicht ein toter Mechanismus, sondern eine Art von Organismus, ein Supraorganismus ist, in weiten Grenzen befähigt, sich selbst aufzubauen, in Betrieb zu halten, sich neuen Bedingungen der Umwelt anzupassen, zu wachsen und Störungen selbsttätig auszugleichen. Wir wissen, daß die bewegende Kraft dieses Supraorganismus das privatwirtschaftliche Eigeninteresse ist, das sich im Wettkampf der Konkurrenz durchsetzt und dadurch die „Selbststeuerung" betätigt, durch die der Wirtschaftskörper seine beiden großen Aufgaben der Produktion und Distribution vollzieht, der Gütererzeugung und Güterverteilung, um sich der üblichen Ausdrücke zu bedienen. Diese Erkenntnis mußte den Aufgabenkreis der Volkswirtschaftspolitik stark einengen. Wie stark, das hängt natürlich von der Höhe der Schätzung ab, die der einzelne Theoretiker von der regulierenden Kraft des Selbstinteresses hat. Wenn er, wie manche extremen Liberalen, die sogenannten Manchesterianer, glaubt, daß sie allein, ohne jede Nachhilfe durch den bewußten, zwecksetzenden staatsmännischen Willen, den höchsten denkbaren Zustand der Kraft und Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft herbeiführen könne, ja müsse, dann wird er der Wirtschaftskunst das Wirkungsfeld fast bis zum Verschwinden klein abstecken. Wenn er dagegen, wie unsere Kathedersozialisten, der Meinung ist, das Selbstinteresse sei eine Elementarkraft, die, wie das Feuer, nur „bezähmt und bewacht" „wohltätig" wirken kann, so wird er geneigt sein, es durch gemeinnützige Wirtschaftspolitik eben zu „bezähmen und zu bewachen", d. h. er wird dieser das Feld viel weiter abstecken. Aber das sind Dinge, die uns erst später, dann aber ausführlich, zu beschäftigen haben. Vorerst haben wir das Aufgabengebiet der Volkswirtschaftspolitik noch nicht materiell, sondern erst formell abzustecken. Und da dürfen wir sagen, und sowohl der Manchestermann wie der Kathedersozialist, ja sogar der marxistische Kollektivist, der den freien Wettbewerb so gut wie ganz ausgerottet wünschte, wird uns, freilich jeder mit einer anderen reservatio mentalis, zustimmen, - da dürfen wir sagen: die Aufgabe der Volkswirtschaftspolitik besteht darin, überall da einzusetzen, wo Leistungen vollzogen werden müssen, die das Selbstinteresse, die privatwirtschaftliche Initiative, nicht übernehmen kann, nicht übernehmen will oder nicht übernehmen darf und soll. Diese Begriffsbestimmung trifft sogar für die soeben betrachteten Grenzfälle zu, wo eine im wesentlichen privatwirtschaftlich motivierte Person aus volkswirtschaftspolitischen Motiven ihre Handlungen „dämpft". Hier wird das privatwirtschaftliche Interesse, das bestimmte Leistungen als solche nicht übernehmen will, durch kräftigere Motive beiseite geschoben, und das gemeinnützige Interesse tritt an ihre Seite oder an ihre Stelle. Um so mehr trifft die Begriffsbestimmung die reinen Fälle. Betrachten wir sie näher: Wann kann die privatwirtschaftliche Initiative gewisse, im Interesse der Gesamtheit erforderliche oder als erforderlich betrachtete Leistungen nicht übernehmen? Zwei Fälle sind möglich: entweder langt die wirtschaftliche Kraft der zunächst Beteiligten nicht aus, oder ihre geistige Kraft, ihr Bildungs- und Schulungsgrad, ist zu gering. Um ein Beispiel für den ersten Fall anzuführen, so ist die private Initiative in der Regel wirtschaftlich zu schwach, um Verbesserungen der geographischen Grundlage der Gesellschaft im großen Stile vorzunehmen. Die Eindeichung von Meeresküsten und Strömen, die Verbauung von Wildwässern in den Gebirgen, die Aufforstung kahler Gebirge, die Festigung von Dünen durch Anpflanzung, die Entsumpfung oder Bewässerung ganzer
Praktische Ökonomik und
Volkswirtschaftspolitik
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Landstriche durch Wasserbauten und dergleichen sind in der Regel - und waren jedenfalls vor der Periode der großen Kapitalvereinigungen - Unternehmungen, denen nur große Zwangsverbände, d. h. der „Staat" in unserem Sinne, wirtschaftlich gewachsen ist. Dasselbe gilt von der Gewinnung neuen Siedellandes für große Volksmengen durch großartige Maßnahmen, die die Bekämpfung von Menschen- und Viehseuchen und Pflanzenschädlingen bezwecken, etwa durch Vernichtung der Stechmücken, die die Malaria, das Gelbfieber, die Schlafkrankheit verursachen, oder der Tsetsefliege, oder des Coloradokäfers, der Reblaus, der Heuschrecken. Hier kann überall der einzelne Wirt nichts Durchgreifendes tun, weil seine Mittel eben in der Regel nur ausreichen werden, um auf seinem eigenen Grundstück das Nötige zu tun; das aber ist ganz zwecklos, da hier nur dann ein Erfolg erreicht werden kann, wenn alle Beteiligten gleichzeitig mit gleicher Kraft einsetzen. Wo diese vereinte Kraft ausreicht, mag ein freier Zweckverband die gemeinnützige Leistung übernehmen; wo sie nicht ausreicht, muß ein mächtigerer Helfer, in der Regel der Staat, eingreifen. Ebenso ist die private Initiative bis auf die Neuzeit herauf regelmäßig zu schwach gewesen, um die Verkehrseinrichtungen zu schaffen, deren die Volkswirtschaft zu ihrem Wachstum und ihrer Entfaltung so dringend bedarf. Wir wissen aus der theoretischen Ökonomik, daß die Integration getrennter kleiner Wirtschaftskreise zu einem größeren mit ihren segensreichen Folgen für die gesellschaftliche Kooperation und den gesellschaftlichen Wohlstand geknüpft ist an das Bestehen natürlicher oder die Schaffung neuer künstlicher Verkehrswege. Diese überaus wichtige, gesellschaftswirtschaftliche Tätigkeit ist bis auf die allerneueste Zeit hinaus niemals Sache der privaten, sondern der gemeinnützigen Initiative, und zwar regelmäßig der „staatlichen" gewesen. Der Staat selbst oder seine administrativen Glieder, die Provinzen, Kreise, Gemeinden, oder wohl auch staatlich eingerichteten Zweck- und Zwangsverbände mit Steuerbefugnis, haben die Straßen und Chausseen, Kanäle, Häfen und Reeden, Schleusen und Brücken gebaut oder ausgebaut, die Ströme vertieft, geradegelegt und die Fahrtrinnen unterhalten usw. Erst in neuester Zeit haben große kapitalistische Gesellschaften Eisenbahnen, städtische Flach-, Hoch- und Untergrundbahnen, transozeanische Kabel und Stationen für drahtlose Télégraphié usw. in nicht gemeinnütziger, sondern privatwirtschaftlicher Absicht begründet. Ebenso wie der Mangel an wirtschaftlicher Kraft, kann auch der an geistiger Kraft es bewirken, daß die private Initiative gewisse wichtige Aufgaben nicht übernehmen kann. Der Staat oder vorgeschrittene Landwirte wünschen ζ. B. in einem rückständigen Bauernbezirke eine neue Frucht, ζ. B. die Kartoffel, oder eine neue Kulturmethode, ζ. B. die künstliche Düngung, oder ein neues Werkzeug, ζ. B. die Drillmaschine, einzuführen. Die Bauern lehnen aus üblem Konservatismus ab. Jetzt greift im Interesse der Landeskultur die Wirtschaftspolitik ein: der Staat oder die Landwirtschaftsgesellschaft oder ein landwirtschaftlicher Kreis läßt Vorträge halten, sendet Wanderlehrer herum, verteilt umsonst Aussaat, setzt Prämien für die beste Ernte fest, richtet Versuchsfelder ein usw., bis die Absicht erreicht ist. Oder Friedrich der Große will in seinem Lande eine neue Industrie pflanzen. Von seinen Untertanen kennt niemand die Kunst; er zieht durch große Vergünstigungen fremde Handwerker und Fabrikanten ins Land, subventioniert die neue Fabrik mit Geld und Steuerfreiheit, schützt ihr Erzeugnis durch Zölle usw.: Volkswirtschaftspolitik! Das zweite Hauptgebiet der Volkswirtschaftspolitik betrifft die Gesamtheit derjenigen gemeinwirtschaftlichen Aufgaben, die das private Interesse nicht übernehmen will. Wir haben soeben schon einen Fall gestreift, wo das aus geistiger Schwäche geschah: unsere Bauern wollten die neue Methode nicht anwenden, weil sie ihren Vorteil nicht erkannten. Aber diese Fälle haben wir hier weniger im Auge, sondern umgekehrt gerade diejenigen, wo es sich um Aufgaben handelt, die das Privatinteresse nicht übernehmen will, weil es seinen Vorteil richtig erkannt hat. Hier sind wieder zwei Fälle zu unterscheiden. Der erste liegt vor, wenn eine ökonomische Person bei einer Maßnahme, die nicht nur im allgemeinen Interesse liegt, sondern auch ihr selbst nützlich ist, unlauterer Weise noch Sondervorteile herausschlagen will. Das ist ζ. B. nicht selten bei der „Regulierung", d. h.
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der Zusammenlegung und Neuverteilung der in allzu kleine Parzellen zersplitterten Felder, und bei Aufstellung von städtischen Straßenbauplänen, auch bei der Anlage von Eisenbahnen, Chausseen, Kanälen usw. der Fall gewesen, wenn einer oder mehrere Grundbesitzer der der Gesamtheit und ihnen selbst offenbar nützlichen Reform Widerstand entgegenstellten, um mehr als den gerechten Anteil an dem gesamten Gewinn einzuheimsen. In solchen Fällen kann nur der Staat kraft seiner Gewalt helfen. Er expropriiert den Widerspenstigen, indem er von seinem unveräußerlichen Obereigentum Gebrauch macht, oder er erläßt ein für alle Male Gesetze, die solchen Widerstand unmöglich machen. Das Regulierungsgesetz der preußischen Regierung, das der Zersplitterung der Äcker ein Ende machte, die Lex Adickes, die das Umlegungsverfahren bei städtischen Bauplänen regelt, sind Maßnahmen der Volkswirtschaftspolitik. Greift hier der Staat zwingend ein, vergewaltigt er den bösen, antisozialen Willen, der sich einer nötigen Verbesserung in den Weg stellt, so hat er wenigstens heute keine Zwangsmittel mehr dort, wo es sich um den nicht unlauteren, sondern legitimen Willen von Privatpersonen handelt, die eine im öffentlichen Interesse nötige Aufgabe aus dem Grunde nicht übernehmen, weil sie sich keinen entsprechenden Vorteil davon erwarten. Man kann heute dem Privatmann nicht zumuten, Arbeit und Geld an Dinge zu wenden, die ihm nicht den üblichen Gewinn an Arbeitslohn und Zins für sein Kapital abwerfen. Sind solche Dinge im allgemeinen Wirtschaftsinteresse erforderlich, so muß eben die gemeinnützige Aktion des Staates oder eigener Verbände einsetzen. Hierher gehört heute ζ. B. die Anlage von Landstraßen, die Aufforstung von kahlen Berghängen, die Verbauimg von Wildwässern. Der private Reichtum ist, im Gegensatz zu früheren Zeiten, heute unzweifelhaft stark genug, um durch das Mittel der Kapitalvereinigung solche Werke durchzuführen; aber sie würden in der Regel nicht rentieren, würden keinen oder nur einen zu geringen Ertrag bringen, und so muß eben die Volkswirtschaftspolitik die Lücke füllen, die das Privatinteresse nicht füllen will, weil sie es unter diesen Umständen nicht wollen kann. Als den dritten Fall, wo die gemeinnützige Initiative an die Stelle der privaten zu treten hat, bezeichneten wir diejenigen wirtschaftlichen Werke, die das Privatinteresse wohl übernehmen will, aber nicht soll und darf, weil das Gemeininteresse darunter leiden würde. Hier stehen wir an dem Punkte, wo das wichtigste wissenschaftliche und praktische Problem unseres ganzen Gebietes vor uns aufsteht, der schon einmal gestreifte Streit um d[en] Herrschaftsbereich der Volkswirtschaftspolitik.
c) Der Streit um den Herrschaftsbereich der Volkswirtschaftspolitik Es ist das die große Frage, wie weit dem Privatwirtschaftsinteresse die Grenze zu stecken ist, welches Feld man ihm ganz und gar uneingeschränkt überlassen darf und soll, auf welchem Gebiete man ihm nur eine durch die Staatsgewalt beschränkte und beaufsichtigte Freiheit gewähren darf und soll, und welches Gebiet ihm ganz und gar gesperrt werden muß. Grundsätzlich ist das Problem ja überaus leicht zu lösen: überall dort, wo das Gemeininteresse geschädigt werden kann, ist das Privatinteresse einzuschränken oder auszuschließen. Sehr schön! Aber man sieht sofort, daß man mit dem Satze angebrachtermaßen kaum je etwas anfangen kann, sobald man damit an eines der unzähligen Einzelprobleme herantritt, die uns auf Schritt und Tritt begegnen werden. Dann zeigt sich, daß der Satz „leer" ist, keinen praktischen Fingerzeig gibt. Es ist damit gerade so wie mit dem Hauptsatz der Ethik, den Kant aufgestellt hat: „Handle so, daß Dein Handeln die Regel allen Handelns sein kann." Auch sehr schön! Der Grundsatz sagt mir allenfalls, daß ich nicht raubmorden darf; aber er sagt mir nicht im mindesten, wie ich mich zu verhalten habe, wenn ich zwischen zwei gleichwichtigen Pflichten mich zur Entscheidung gezwungen sehe. Darf ich, wie Ibsens „Nora", eine Urkundenfälschung begehen, um einem teuren Menschen das
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Leben zu retten? Darf ich, wie der Kirchenheilige, in die Kirche ein- und den Opferstock aufbrechen, um Almosen zu geben? Darf ich lügen, um einen Todkranken zu schonen? Stehlen, um meinem Vaterlande wichtige militärische Dokumente zu beschaffen? Gerade so sagt uns unser Hauptsatz der praktischen Ökonomik fast nichts zur Entscheidung über all diejenigen Fälle, wo das private Interesse mit dem allgemeinen in Konflikt gerät, wo wir zwischen den beiden eine Entscheidung zu treffen haben. Nur die allerextremsten Fälle lassen sich mit einiger Sicherheit entscheiden, und auch diese nur vom Standpunkte einer bestimmten Zeit und gesellschaftlichen Reife, und nicht einmal diese ohne jeden denkbaren Widerspruch. Um ein paar Beispiele aufzuführen, so ist man jetzt unter den Kulturvölkern einhellig der Meinung, daß der Mensch nicht Gegenstand des Privateigentums und der privatwirtschaftlichen Ausbeutung sein dürfe, und hat demzufolge die Sklaverei überall gesetzlich verboten. Aber die Sklaverei hat jahrtausendelang als dem gemeinen Wohle nützlich gegolten, und noch heute leben in den amerikanischen Südstaaten und in Brasilien viele Männer, die ihre Neueinführung wünschen; ja, in den Südstaaten ist sie unter der Maske der Verleihung von Strafgefangenen Negern zur Feldarbeit tatsächlich, wenn auch nicht formell, hier und da wieder eingeführt worden. - Oder ein anderes Beispiel: die Erfahrung hat gelehrt, daß die Verleihung von staatlichen Hoheitsrechten an koloniale Gesellschaften wie die ostindische Kompanie dem gemeinen Wohle schädlich ist; darum gibt man heute derartige Privilegien in der Regel formell nicht mehr aus; aber der Kongostaat sieht einer solchen Kompanie überaus ähnlich. Wo es sich aber nicht um so extreme Fälle handelt, da läßt uns unser praktisch-nationalökonomisches Axiom ganz und gar im Stich. Das aber ist sehr traurig, nein mehr! Das ist für uns geradezu eine Kalamität. Denn in den extremen Fällen braucht kein Verständiger mehr unseren Rat, aber es sind gerade die nicht extremen Fälle, wo der praktische Staatsmann und Volkswirt sich um Rat an die wissenschaftliche Kunstlehre wendet, um seine Entscheidung treffen zu können - und gerade hier versagt sie durchaus. Denn zwischen den Vertretern der Wissenschaft besteht hier noch nicht einmal im gröbsten der Anfang einer Ubereinstimmung. Dieser Streit der Meinungen hat die Wissenschaft seit ihrer ersten Entstehung beschäftigt, ja, man kann sagen, daß sie an ihm erwachsen ist. Die ersten, noch stark chaotischen Gedanken, die sich um einzelne ökonomische Probleme gruppierten, faßt man, wie bekannt unter dem Namen „Merkantilismus" zusammen. Er wird oft als das erste ökonomische „System" bezeichnet, ist es aber nicht. Denn ein System kann nichts anderes als eine Theorie sein, der Merkantilismus ist aber fast durchaus praktische Ökonomik. Und diese Kunstlehre des Merkantilismus ist charakterisiert durch den geradezu fanatischen Glauben an die Allmacht des Staates und des Staatsleiters und hat darum die Tendenz, die privatwirtschaftliche Initiative auf das äußerste zurückzudrängen, um dafür der staatlich-gemeinnützigen Initiative ein möglichst großes Feld zu geben. Der Staat reguliert im allgemeinen Nutzen Industrie, Ackerbau, Handel und womöglich die Bewegung der Bevölkerung durch Zölle, Prämien, Subventionen, Preis- und Lohntaxen, Aufsichtsbeamte, durch Ein- und Ausfuhrverbote, Zunftgesetze, Gesellen- und Lehrlingsordnungen usw.; er bevormundet das wirtschaftliche Leben jedes Einzelnen auf Schritt und Tritt. Dagegen erhob sich mit den Physiokraten zuerst jene Schule der Wissenschaft, die nunmehr umgekehrt womöglich das ganze Wirtschaftsleben der Gesellschaft uneingeschränkt dem Privatinteresse überlassen wollte. Ihr Feldgeschrei ist das berühmte und berüchtigte: „laissez faire, laissez passer", „laßt die Gewerbe frei und öffnet die Grenzen". Für diese Denker der sogenannten klassischen Schule, Adam Smith und seine Nachfolger: Ricardo, Malthus und die jüngeren Briten, ist der Staat „das böse Tier"; er spielt, wenn er die Wirtschaft regulieren will, nur immer die Rolle der Kuh im Porzellanladen; er kann mit seinen plumpen Fingern die wundervolle prästabilierte Harmonie aller Interessen nur stören und zerstören. Für diese Schule besteht alle praktische Nationalökonomie nur darin, sämtliche Gesetze wegzuräumen, die der freien Bewegung der Einzelnen entgegenstehen. Der
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Staat hat keine wirtschaftliche Aufgabe, er hat sich auf den Grenz- und Rechtsschutz zu beschränken. Es bedarf keiner gemeinnützigen Wirtschaft, denn das Privatinteresse läuft dem Gemeininteresse überall und immer parallel. Wer sein Privatinteresse verfolgt, fördert eben dadurch nolens volens, und zwar auf die denkbar wirksamste Art, das Gemeininteresse. Dieser extremen Auffassung erstanden dann wieder Gegner in den Personen von Sismondi, Carey, Friedrich List und den Neomerkantilisten von der kathedersozialistischen und wirtschaftshistorischen Schule, deren Führer in Deutschland Adolph Wagner und Gustav Schmoller sind. Sie stecken der gemeinnützigen Initiative das Feld wieder viel weiter und der privatwirtschaftlichen wieder viel enger. Namentlich durch die Handels- und Zollpolitik wollen sie im gemeinen Nutzen ausgleichend, und hier fördernd, dort hemmend einwirken; aber sie weisen dem Staat und den übrigen Trägern der gemeinnützigen Wirtschaftspolitik auch noch zahlreiche andere Aufgaben zu, die das „Manchestertum" der Briten ihnen sperren wollte: den Betrieb von eigenen Großunternehmungen usw. Sie nähern sich hierdurch stark dem marxistischen Sozialismus, der die Entwicklung zu einer Wirtschaftsgesellschaft voraussagt, in der die Privatwirtschaft ganz und gar verschwunden ist und die gemeinnützige Wirtschaft „durch und für die Gesellschaft" das Feld ganz allein beherrscht, abgesehen vielleicht von einigen kümmerlichen Resten der Familien-Haushalts-Wirtschaft. Zwischen diesen Schulen besteht noch heute der Streit ungemindert fort. Beide Parteien führen gute Gründe für sich ins Feld: die Anhänger des laissez faire weisen mit Recht darauf hin, daß nur der Sporn des freien Wettbewerbs alle produktiven Kräfte der Nation entfalten könne, daß Bevormundung und Reglementierung Schlaffheit, Stockung, Armut bringe, daß keine Bürokratie der Welt die durchschnittliche Fähigkeit, Ausbildung und Hingabe haben könne, um in ein so mil lionenfach verzweigtes Gewebe wie eine moderne Volkswirtschaft anders als verhängnisvoll einzugreifen. Aber ihre Gegner sagen mit Recht, daß der uneingeschränkte freie Wettbewerb zu grauenhaften Folgen für das Volkswohl, zu einer verrückten Verteilung des Einkommens und des Vermögens, zum Raubbau an der Volkskraft geführt hat und führen mußte - und daß sie lieber auf einen Teil des Reichtums verzichten wollen, wenn nur der Rest vernünftiger unter die Glieder des Volkes verteilt würde, so daß alle wenigstens existieren könnten. Sie werden wissen, wie ich versucht habe, diesen Streit zu schlichten. Der freie Wettbewerb kann nur unter ganz bestimmten Bedingungen zu solcher Verzerrung der volkswirtschaftlichen Güterverteilung führen. So lange diese Bedingungen fortbestehen, muß der gemeinnützigen Wirtschaft ein breiter Raum gegönnt werden, um die schärfsten Spitzen der Entwicklung abzustumpfen, um den gröbsten Raubbau an der Nation zu verhindern; wenn aber diese Bedingungen beseitigt sind, darf man der Privatwirtschaft unbesorgt das breiteste Feld einräumen: dann wird die freie Konkurrenz nur noch eine Kraft des Segens, und nicht mehr des Fluches sein. Und diese Bedingungen sind zu beseitigen, wenn meine Anschauungen von den sozialen Zusammenhängen richtig sind. Ich will sie einmal hier erwähnen, damit niemand glaube, ich dächte meine Flagge zu verstecken. Nach meiner Ansicht, die hoffentlich durch gute Argumente gestützt ist, ist der „Kapitalismus", dieses unsinnige System der volkswirtschaftlichen Verteilung, nur dort möglich, wo der Grund und Boden durch Sperrung des größten Teils der Fläche in der Rechtsform des Großgrundeigentums in ein Monopol verwandelt worden ist; - und wo infolgedessen zwischen der Volksmasse einerseits und der besitzenden Klasse andererseits ein Klassen-Monopolverhältnis besteht. Das ist die einzige haltbare Erklärung für die Entstehung von Mehrwert im Wirtschaftsverkehr zwischen freien Menschen, und der ganze Kapitalismus hat kein anderes Problem als das des Mehrwerts. Von diesem Standpunkt aus erschöpft sich für mich fast die gesamte praktische Nationalökonomie in der Forderung, jene Bodensperre, jenes Klassen-Monopol zu zerbrechen, und zwar durch eine umfassende innere Kolonisation. Wenn das einmal geschehen sein wird, und es wird einmal
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geschehen, wird über praktische Nationalökonomie kein eigenes Kolleg mehr gehalten werden müssen. Bis wir aber so weit sind, können noch einige Minuten der Weltgeschichte, d. h. einige Generationen vergehen; bis dahin brauchen wir Volkswirte und Politiker, und darum müssen wir unseren Schülern so viel praktisches Wissen mit auf ihre Laufbahn geben, wie wir ihnen zu geben haben, um sich in dieser schweren und verworrenen Zeit zurechtfinden zu können. Und darum werde ich Ihnen von meiner sogenannten „Utopie" nur noch im Vorübergehen dort sprechen, wo es zum Verständnis unerläßlich ist. Kehren wir nach dieser hoffentlich nicht überflüssigen Abschweifung wieder zu unserem Thema zurück. Ich sagte Ihnen, zwischen den Ökonomisten bestehe der alte Streit über den Herrschaftsbereich der Wirtschaftspolitik ungemindert fort; es sei noch nicht einmal im gröbsten der Anfang einer Verständigung erreicht. Daraus folgt natürlich, daß in jedem besonderen Falle, vor jedem einzelnen Problem die Ansichten derartig auseinanderweichen, daß es komisch anzuschauen wäre, wenn es nicht so sehr tragisch wäre. So sehr tragisch! Sehr ernst und schwer ist unsere Zeit, eine Zeit fast schwindelerregender Umwälzungen und Neuschöpfungen gerade auch auf dem Gebiete der Wirtschaft. Tagtäglich treten neue praktische Probleme an unsere Öffentlichkeit, an unsere Staatsmänner heran, die drohend ihre Lösung fordern. Die Interessen der einzelnen Gruppen branden wild gegeneinander: die Produzenten stehen gegen die Konsumenten, die ländlichen Produzenten gegen die städtischen, alle zusammen gegen den Handel, der Standhandel gegen den Hausierhandel, die Arbeiter gegen die Arbeitgeber, die Selbständigen gegen die Trusts und Kartelle usw. Uberall soll der Staat, die Gemeinde, soll das öffentliche Gewissen schlichtend, richtend, ausgleichend eingreifen - und da wendet sich alles an den berufenen Arzt der Gesellschaft, den Ökonomisten, um Diagnose und Heilvorschriften! Was aber zeigt sich? Das Chaos! Jedes Klasseninteresse, jedes Gruppeninteresse findet seinen Verteidiger; Schutzzoll und Freihandel, Arbeiterschutz und Kapitalförderung, städtischer Grundbesitz und Mieterverbände, Staatsmonopol und freier Wettbewerb: alles tritt mit „wissenschaftlich" begründeten Forderungen und Klagen vor die Öffentlichkeit, und der Staatsmann wie das Publikum sind so klug wie vorher. Ein unerträglicher Zustand! Unerträglich für das Gemeinwesen, das in den wichtigsten Fragen seiner Wohlfahrtsversorgung und seines sozialen Friedens mitten in der Brandung des Klippengürtels des Steuermanns entbehren muß, der mit geschulter Hand, geleitet durch Kompaß und Seekarte, den richtigen Weg zum Hafen zu steuern weiß - und unerträglich vor allem für unsere Wissenschaft selbst. Wir sollen die Führer sein und sind die Lakaien; wir haben nachträglich zu rechtfertigen, was vorher von den Praktikern beschlossen worden ist. Schon ist von angesehenen Fachgenossen unverblümt ausgesprochen worden, daß unsere Wissenschaft sich um allen Kredit gebracht hat, weil ihre Vertreter in allen feindlichen Lagern gleichmäßig zu finden sind; schon fallen böse Worte von der Wissenschaft als dem bezahlten Klopffechter der materiellen Interessen; schon sind schüchterne Versuche bekannt geworden, eigene Lehrstühle zur Vertretung bestimmter mächtiger Interessengruppen zu schaffen und aus ihren Mitteln zu unterhalten; ein Versuch, der natürlich scheitern mußte, aber mit schrecklicher Deutlichkeit zeigt, wie weit wir schon in der öffentlichen Achtung heruntergekommen sind. Dieser grauenerregende Zustand, den kein Sachkenner mehr ganz leugnet, und wenige noch zu beschönigen versuchen, hat bereits zu einem wissenschaftlichen Nihilismus geführt, der nicht mehr überboten werden kann. Ein angesehener Fachmann, der Frankfurter Professor Ludwig Pohle, hat kürzlich in einer Schrift über „die Krisis in der deutschen Nationalökonomie" die Behauptung aufgestellt, eine wissenschaftliche Sozialpolitik sei überhaupt nicht möglich, es fehle jeder Wertmaßstab, jede Norm, mit der man den gegenwärtigen Zustand vergleichen könne; man könne nicht wissen, ob der Wirtschaftskörper gesund oder krank sei, könne daher nicht wissen, ob er über-
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haupt einer Behandlung durch Maßnahmen der praktischen Ökonomik bedürfe, und könne vor allem nicht wissen, welche Maßnahmen zu ergreifen seien. Denn das ist natürlich klar: weiß ich nicht, zu welchem Ziele ich hinstreben soll, so kann ich auch keinen Weg bezeichnen, den ich zu gehen habe. Wir müssen uns leider eingestehen, daß dieser radikale Nihilismus nicht ganz grundlos ist. Zum Glück handelt es sich grundsätzlich um Ubertreibungen: es gibt einen Wertmaßstab, es gibt eine Norm, an der wir uns orientieren können; wäre das nicht der Fall, so hätten wir unsere Wissenschaft aus der Liste der Lebenden zu streichen, soweit sie nicht Wirtschaftsgeschichte ist. Denn eine Wissenschaft, die grundsätzlich unfähig ist, dem Leben auch nur im mindesten zu dienen, hat keinen Anspruch mehr auf Existenz. Unser aller Leben ist zu wertvoll, als daß wir uns an den schillernden Seifenblasen einer lebenslosen Dialektik ergötzen dürften. Ich werde Ihnen sofort Norm und Wertmaßstab der praktischen Ökonomik aufzuzeigen versuchen; zunächst will ich Ihnen zeigen, inwiefern der Nihilismus Pohles, dem ζ. B. auch Werner Sombart nicht ganz fern steht, berechtigt ist.
d) N o r m und Maßstab der Volkswirtschaftspolitik Ich glaube, ihm darin beistimmen zu müssen, daß die heutige praktische Ökonomik in der Tat gänzlich ohne Kompaß im Ozean treibt, so weit die eigentliche Praxis in Frage kommt. Ihre verdientesten Vertreter erblicken ihre Aufgabe darin, zwischen den widerstreitenden Interessen die „mittlere Linie" einzuhalten. Wenn sie glauben, damit „Wissenschaft" zu treiben, so sind sie in schwerem Irrtum. Wir müssen Max Weber in Heidelberg durchaus zustimmen, wenn er sagt, daß die mittlere Linie auch nicht um ein Haar „wissenschaftlicher" sei, als irgend eine andere Linie zwischen den Interessen, ja als eines der Extreme selbst. Wenn die Sozialpolitiker der Gegenwart das nicht erkennen, so liegt das daran, daß sie die Aufgabe des wissenschaftlichen Kunstlehrers mit dem des praktischen Volkswirtes und Staatsmannes verwechseln. Dem Staatsmann bleibt oft nichts anderes übrig, als einen billigen praktischen Ausgleich zwischen den Parteien anzustreben, zu vermitteln, vielleicht zu erzwingen: aber man soll nicht aus der Not eine Tugend machen und glauben, das sei Wissenschaft oder von der Wissenschaft vorgeschrieben. So weit also die von der heutigen praktischen Nationalökonomie beratene Wirtschaftspolitik in Frage steht, hat Pohle meines Erachtens unzweifelhaft Recht; sie sind nicht wissenschaftlich orientiert. Aber er ist schon gegen die heutigen Sozialpolitiker stark im Unrecht, wenn er behauptet, sie besäßen keinen Wertmaßstab, keine Norm; und er ist, um es zu wiederholen, ganz und gar im Unrecht, wenn er behauptet, eine solche Norm sei überhaupt unauffindbar, könne nicht entdeckt werden, weil sie nicht vorhanden sei. Sprechen wir zuerst von dem Wertmaßstab, von der Norm, deren sich unsere heutigen praktischen Nationalökonomen bedienen, um ihre Diagnosen zu stellen und ihren Heilplan zu entwerfen. Sie besitzen eine solche Norm, und zwar eine richtige, aber sie besitzen sie in der Tat nur in sehr unbestimmten Umrissen, sozusagen als vages Ideal; sie ahnen es mehr, als sie es wirklich erschauen; sie sind kaum jemals zu der Frage gelangt, nach welchem Maßstab sie überhaupt die Dinge zu bewerten haben; es ist viel mehr der gesunde unverdorbene Instinkt, der sie leitet, als die wissenschaftlich nüchterne Besinnung. Und darum konnten sie nicht weiter kommen als ganz im allgemeinen die Richtung der erforderlichen Bewegung, als ganz im allgemeinen das ungefähre Ziel dieser Bewegung zu bezeichnen. Dieser Maßstab ist das, was man bildlich als die Gesundheit der Gesellschaft zu bezeichnen pflegt. Kein Mensch, der seine gesunden fünf Sinne hat, bestreitet, daß von solcher Gesundheit nur die Rede sein kann, wenn nicht mindestens die folgenden Bedingungen erfüllt sind: die Bevölkerung
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muß sich wenigstens auf ihrem zahlenmäßigen Bestände erhalten; viele, die meisten sogar, sind der Ansicht, daß ein gewisses Wachstum zu den Kennzeichen der Gesundheit gehöre. Die Gesellschaft muß so organisiert sein, daß das Interesse des durchschnittlichen Einzelnen an dem Wohle der Gemeinschaft, sein „Staatsinteresse", stärker ist als sein privates Einzelinteresse, damit der wirtschaftliche oder gar der politische Bürgerkrieg vermieden werde. Und da solche Krisen, außer durch religiöse Gegensätze - und selbst diese sind in der Regel nichts anderes als maskierte ökonomische Gruppenkämpfe - , da solche Krisen nach aller Erfahrung nur durch wirtschaftliche Schäden herbeigeführt werden, so lautet die Mindestforderung in bezug auf die Wirtschaftsordnung folgendermaßen: die Bevölkerung muß bis in ihre tiefsten Schichten hinab regelmäßig mit so vielen Gütern der Notdurft und des Behagens versorgt sein, daß ihre leibliche Kraft, Gesundheit und Lebensdauer nicht leiden, und sie darf im Laufe der geschichtlichen Entwicklung mindestens nicht von dem bereits erreichten Standpunkt der Versorgung herabsinken. Im Gegenteil: wo mit der volkswirtschaftlichen Arbeitsteilung und -Vereinigung und der Herrschaft über die Naturkräfte die Ergiebigkeit der gesellschaftlichen Arbeit steigt, da muß dieser Mehrertrag sich so verteilen, daß auf alle ein „vernünftiger" Anteil entfällt. Diese Norm hat allen Denkern über die gesellschaftlichen Dinge von jeher vorgeschwebt, wenn sie ihre Gegenwart zu bewerten und als wissenschaftlich-nationalökonomische Kunstlehrer Wege zur Besserung aufzufinden hatten. Kein Geringerer als Piaton, eines der leuchtendsten Genies aller Zeit, hat seine Gegenwart auf dieser Waage gewogen und so sehr zu leicht befunden, daß er sie völlig verwarf und in seinem „Staat" ein ganz neues Gemeinwesen auf der fremdartigen Grundlage des Kommunismus aufzubauen suchte. Ihm sind, von ganz den gleichen Erwägungen und Wertmaßstäben geleitet, alle Sozialisten des Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit gefolgt, und nicht nur die radikalen Gesellschaftsreformer und Staatskonstrukteure, sondern auch alle die konservativen Sozialisten, die christlichen Sozialisten aller Welt und die „Kathedersozialisten" der Neuzeit bis auf unsere Gegenwart. Das ist noch heute die „Norm" unserer Sozialpolitiker. An ihr orientieren sie sich in ihrer wissenschaftlichen Kunstlehre. An diesem Maßstab bewerten sie unsere gegenwärtige Gesellschaft und finden, daß sie nicht gesund, sondern entschieden krank und zwar sehr ernstlich krank ist. Sie sehen ganze Bevölkerungen, ζ. B. der Heimindustrie, körperlich verkommen; sie erkennen aus den immer drohenderen Ziffern der Rekrutierungsstatistik und aus dem rapiden Rückgang der Stillfähigkeit unserer Frauen, daß auch in den nicht so gröblich betroffenen Hauptmassen unseres Volkes die Kraft und Gesundheit herabgeht. Sie ersehen aus der Kriminalstatistik als das schlimmste Zeichen unserer Zeit das fürchterliche Anwachsen der Kriminalität der Jugendlichen, während die Gesamtkriminalität zurückgeht: alles vollwichtige Hinweise darauf, daß vieles faul ist im Staate Deutschland, daß wir Raubbau treiben an der Volkskraft, daß wir das Kapital unserer Nation zu vergeuden begonnen haben. Und sie erkennen die nächste Ursache mit völliger Klarheit: es liegt an der fehlerhaften Verteilung des Volkseinkommens! Der Zuwachs, den es durch die ins Wunderbare gesteigerte Kooperation und Beherrschung der Naturkräfte erhält, fließt zu einem zu großen Anteile der schmalen Schicht der Besitzenden, zu einem zu geringen Anteile, wenn überhaupt, der großen Masse zu. Daher jenes böse Menetekel an der Wand unserer stolzen Zivilisation, daher die steigende soziale Zersetzung, der immer gefährlichere Klassenkampf, der uns in den Bürgerkrieg zu treiben droht. Von diesem Standpunkt aus ist unseren praktischen Ökonomisten die allgemeine Richtung ihrer sozialpolitischen Ratschläge klar vorgeschrieben. Sie müssen grundsätzlich in den Interessenkämpfen zwischen Masse und Oberschicht mit der Masse sympathisieren, ihre Ansprüche auf höhere Beteiligung am Gesamtarbeitsertrage grundsätzlich anerkennen, müssen grundsätzlich der Beseitigung der mörderischen Heimarbeit geneigt sein usw. So sind sie wenigstens nicht zu der absoluten Neutralität der Hilf- und Ahnungslosigkeit gezwungen, haben wenigstens einen Standpunkt im allgemeinen. Ist nun dieser Standpunkt „wissenschaftlich" begründet?
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e) Ist und wie ist wissenschaftliche Volkswirtschaftspolitik möglich? Pohle und die Seinen bestreiten das. Sie behaupten, daß auch die grundsätzliche Stellungnahme der Sozialpolitiker zum Problem der kapitalistischen Verteilung „unwissenschaftlich", ohne logisches Fundament sei. Sie drücken das so aus, daß sie sagen, die Sozialpolitik der kathedersozialistischen Schule sei rein „gefühlsmäßig orientiert", erwachse aus Sympathien und Antipathien, die sie ohne weitere Untersuchung sozusagen instinktmäßig für allgemeingültig ansehen. Ist auch dieser Vorwurf berechtigt? Nun, die Prämisse ist richtig, - aber die Schlußfolgerung ist falsch. In der Tat beruht die Stellungnahme der Sozialpolitiker auf einem gefühlsmäßigen Fürwahrhalten: aber dieses Fürwahrhalten, dieses Gefühl ist von einer so absoluten Allgemeinheit, daß die Wissenschaft darauf nicht nur fußen kann, sondern sogar muß. Sie werden mich sofort verstehen. Wenn Sie sich nämlich überlegen, auf welchen letzten Grund jener Wertmaßstab, jene Idealnorm jeder menschlichen Gesellschaftsordnung zurückführt, die wir vorhin in ihren Hauptzügen zeichneten, so erkennen Sie, daß dieser letzte Urgrund die „Gerechtigkeit" ist, der kategorische Imperativ mit dem Inhalt, daß man niemandem tun soll, was man nicht wollen kann, daß andere uns tun; oder daß niemand als Objekt eines fremden Willens betrachtet und behandelt werden soll, oder daß unsere Handlung das Muster aller Handlung sein kann. Ich sagte vorhin, kein Mensch mit gesunden fünf Sinnen könne und werde bestreiten, daß eine menschliche Gesellschaft, um normal zu sein, wenigstens den vorhin aufgestellten Mindestanforderungen entsprechen müsse; ich konnte diese Behauptung nur wagen, weil es Erfahrungstatsache ist, daß der kategorische Imperativ in jedem normalen Menschen, ja sogar in fast jedem Verbrecher spricht und wirkt. Zwar wird das große Prinzip fortwährend verletzt; zwar werden fortwährend Menschen durch Menschen vergewaltigt, bewirtschaftet und ausgebeutet: aber das geschieht niemals, außer von völlig vertierten Bestien, ohne Verbeugung vor dem Imperativ, immer entschuldigt sich die antisoziale Gesinnung und Handlung mit Scheingründen, die in diesem einen Falle die Ausnahme gestatten oder erzwingen. Doch das gehört in eine soziologische Abhandlung. Jedenfalls, ich wiederhole die Behauptung, gibt es keinen geistig oder moralisch nicht verrückten Menschen, der jenen Wertmaßstab nicht grundsätzlich anerkennten würde]. Wenn Pohle und andere trotzdem die Sozialpolitiker angreifen, so geschieht es, weil ihnen das in der Tat unwissenschaftliche Herumtappen an den praktischen Problemen „auf der mittleren Linie" zuwider ist, vielleicht auch, weil sie glauben, Ideal sei Ideal, und unsere gegenwärtige Gesellschaft sei zwar, mit dem Ideal verglichen, recht mangelhaft, komme ihm aber doch so nahe, wie man es von der Realität eben erwarten könne. Mit anderen Worten sie werden vielleicht achselzuckend sagen, ein wenig Raubbau an der Volkskraft sei leider zur Zeit unvermeidlich, oder sie werden bestreiten, daß wir jetzt Raubbau treiben, oder werden behaupten, daß wir jetzt weniger Raubbau treiben als in früheren Zeiten: aber sie werden niemals zu behaupten versuchen, Raubbau sei das Ideal, Raubbau sei die Norm selbst. Besteht aber diese Wertnorm in der Tat, in so absoluter Allgemeingültigkeit bei allen Menschen ohne Ausnahme, so darf nicht nur, sondern muß die Wissenschaft als auf einer ihrer Grundvoraussetzungen auf ihr aufbauen. Sie muß es als Sollwissenschaft, als Wissenschaft von den Werten und Wertmaßstäben des menschlichen Handelns, als Ethik, als Rechtsphilosophie. Aber sie darf und muß auch als Seinswissenschaft, als Wissenschaft von den Wirkungen aus Ursachen, darauf aufbauen. Denn es ist eine Tatsache, daß der Mensch in allen Zonen und von allen Rassen so geartet ist, daß er den kategorischen Imperativ hört und respektiert, wenn auch nicht immer befolgt. Das ist eine allmenschliche Eigenschaft, und sie bildet gerade so eine Grundvoraussetzung unserer soziologischen Wissenschaft wie die übrigen allmenschlichen Eigenschaften des Menschen, ζ. B. die, daß er Bedürfnisse hat und bestrebt ist, sie mit dem kleinsten Mittel zum größten Erfolge zu befriedigen. Das Wissen um diese Eigenschaft der moralischen Empfindung ist, sage ich, eine der Grundlagen der
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Soziologie; denn diese Eigenschaft ist seihst eine der Grundlagen der Gesellschaft. Einige von Ihnen werden wissen, daß nach meiner grundsätzlichen Auffassung die Weltgeschichte nichts anderes ist als der Kampf zwischen dem politischen und ökonomischen Mittel der Bedürfnisbefriedigung, d. h. zwischen der unentgoltenen Aneignung durch äußere oder geistliche Gewalt einerseits, und der entgoltenen Aneignung durch Arbeit oder gleichwertigen Tausch andererseits. Nun, das ökonomische Mittel, das ist der kategorische Imperativ der Gerechtigkeit in seiner wirtschaftlichen Ausgestaltung. Wäre er nicht, so wäre eine menschliche Gesellschaft überhaupt unmöglich; jeder Keim einer solchen müßte im Moment seiner Bildung zersplittern, explodieren. Alle Gesellschaft, mithin auch alle Gesellschaftswissenschaft ist daher undenkbar, wenn die Gerechtigkeit nicht als Grundlage anerkannt wird: wie sollte da jemand eine Gesellschaft auch nur, um mit Kant zu sprechen, „imaginieren" und gar wollen können, die auf anderer Grundlage ruhte und funktionierte? Das ist eine logische Unmöglichkeit! Also darin hat Pohle Unrecht: wir können die wissenschaftliche Norm, an der wir unsere Gegenwart zu vergleichen, zu der wir sie praktisch hinzuführen haben, in ihren Hauptzügen bereits aus dem Grundprinzip aller Ethik und Gerechtigkeit gewinnen. Um mit Rudolf Goldscheid zu sprechen, der in seinem flammenden Buche: „Höherentwicklung und Menschenökonomie" ungefähr diesen Standpunkt verficht, liefert uns schon dieses Prinzip das „Koordinatenkreuz", an dem wir die Erscheinungen bewerten können. Immerhin - und darin hat Pohle wieder recht - , wenn wir weiter nichts hätten als dieses Prinzip, dann müßten wir noch immer verzweifelt Nein sagen, wenn uns jemand die Frage vorlegte: „Ist und wie ist wissenschaftliche Volkswirtschaftspolitik möglich?" Denn wir haben es als praktische Nationalökonomen immer mit ganz speziellen Problemen, mit ganz bestimmten Interessenkonflikten zu tun, und da nutzt es uns gar nichts, wenn wir ganz im allgemeinen wissen, wo wir grundsätzlich Stellung zu nehmen haben. Wir sollen ζ. B. bei einem Konflikt zwischen Arbeitern und Arbeitgebern ganz präzis angeben, wo in diesem Falle das Recht liegt, wie viel vom Gesamtertrage in diesem Falle die Arbeiter mehr erhalten sollen; und dazu langt das Prinzip in seiner Allgemeinheit gerade so wenig aus, wie das allgemeine Prinzip aller Moral zur Entscheidung eines Pflichtenkonfliktes. Dann mögen wir, soweit wir Praktiker sind, resigniert nach der „mittleren Linie" tappen: als wissenschaftliche Ökonomisten haben wir trotzdem ausgespielt. Wenn wir hier nicht weiterkommen können, müßten wir uns eigentlich Lebewohl sagen und diese Vorlesung abbrechen. Ich könnte Ihnen dann nur „spezielle Nationalökonomie" vortragen; hübsch viel Statistik und Wirtschaftsgeschichte; ich könnte Ihnen vielerlei ganz interessante Dinge mitteilen über die wirtschaftliche Gesetzgebung und Verwaltung Deutschlands und anderer Länder, über Wohlfahrtsbestrebungen privater Körperschaften, über das, was Freunde und Gegner darüber denken und schreiben - alles ohne Leidenschaft, aber wohl auch eigentlich ohne vielen Zweck. Denn - einen wissenschaftlichen Wertmaßstab von ausreichender Genauigkeit könnte ich ihnen dann nicht geben, und dann wäre eben eine wissenschaftliche Kunstlehre unmöglich. Nun, zum Glück glaube ich, Ihnen eine solche Norm, einen solchen Wertmaßstab zeigen zu können, in Ubereinstimmung mit dem von der Ethik gelieferten, aber von einer so viel größeren Genauigkeit, daß jede Erscheinung des realen Lebens daran exakt bewertet werden kann. Er kann uns geliefert werden nur durch die theoretische Nationalökonomik. Nur von ihr! Es ist gerade in dieser Zeit und gerade an diesem Orte dringend nötig, das mit allem Nachdruck zu betonen. Denn Deutschland ist von allen Ländern der Kulturwelt dasjenige, in dem heute die theoretische Ökonomik sich der geringsten Achtung erfreut, nein, besser, in dem sie heute in der tiefsten Verachtung steht. Die Ursachen dieser Haltung der offiziellen Welt sind Ihnen bekannt. Die sogenannte klassische oder bourgeoisökonomische Schule, die das Erbe der großen bürgerlichen Denker zu verwalten hatte, war bereits um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts völlig
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Wirtschaftspolitik
in leere Scholastik entartet: das rief eine scharfe Reaktion gegen alle Theorie hervor, eine Sehnsucht nach solidem Wissen, nach Erlösung von aller Spekulation, geradeso wie auf dem nahverwandten Nachbargebiet der Philosophie: auch hier trat die mühsame, aber des dauernden Erfolges sichere Einzelforschung auf dem Gebiete der sämtlichen Geistes- und namentlich der Naturwissenschaften an die Stelle der zur Scholastik und Phantastik entarteten Spekulation. Dazu kam in unserer Wissenschaft noch verstärkend, daß ihre zweite große theoretische Schule, der Marxsche Sozialismus, schon weil er Sozialismus war, alle Klasseninstinkte der Bürgerlichen gegen sich aufrief; und es verstärkte noch die Abneigung gegen die rein theoretisch-deduktive Beschäftigung mit den ökonomischen Problemen, daß der Marxismus zu Schlußfolgerungen gelangte, die auch solchen Denkern unannehmbar erschienen, die klassenmäßig nicht voreingenommen waren. Das waren die Hauptgründe, warum etwa ein halbes Jahrhundert hindurch in aller Welt und namentlich bei uns die ökonomische Theorie unter dem Nullpunkt der öffentlichen Achtung stand. Die induktive Schule, namentlich der ökonomische Historismus, wütete mit Feuer und Schwert gegen ihre letzten versprengten Vertreter. Aber der Pendel der Geschichte bleibt nicht stehen. Seit etwa einem Jahrzehnt schwingt er zurück. Der größte Teil der jüngeren Fachgenossen hat sich wieder, notgedrungen, den verpönten theoretischen Studien hingegeben, und eine neue großartige Periode der Theorie kündigt ihren Einzug an. Die Gründe waren die folgenden: zunächst hatte die historische und statistische Einzelforschung ein Material von solcher Massenhaftigkeit angehäuft, daß niemand es mehr zu übersehen vermochte; es drohte, den Forschern über dem Kopf zusammenzustürzen. Dann zeigte jede genauere Betrachtung, daß der wissenschaftliche Wert dieser Materialien zu einer künftigen Ökonomik sehr oft ihrem Umfang umgekehrt proportional war. Schon diese äußeren Gründe führten die jüngere Generation mit Gewalt zu der Erkenntnis zurück, daß noch so großes Einzelwissen erst dadurch zur Wissenschaft wird, daß man es unter beherrschende Gesetze ordnet; und das geht nicht ohne Deduktion; das kann das Sitzfleisch allein nicht leisten, dazu muß das Gehirn mit herangezogen werden. Vor allem aber zeigte sich immer mehr, daß auf einer derart chaotischen Grundlage eine praktische Ökonomik unmöglich ist. Wir haben den traurigen Zustand geschildert, in dem sich die Volkswirtschaft, die Wissenschaft von der Volkswirtschaft, und ihre gelehrten Vertreter befinden. Entweder sind sie Nihilisten und halten als solche jede wissenschaftliche Volkswirtschaftspolitik a limine für unmöglich, oder sie haben nur ein allgemeines Normalprinzip, das ihnen bestenfalls erlaubt, nach einer mittleren Linie zu tappen, die nicht im mindesten wissenschaftlich ist; übrigens trifft das der Praktiker auch ohne „Wissenschaft". Kurz und gut, in unserer Kunstlehre und unserer praktischen Kunstübung herrscht nichts anderes als die roheste Empirie - und jedermann weiß, daß die Empirie allein niemals einen wirklichen Fachmann höheren Ranges ausbilden kann. Wer nichts von der Anatomie und Physiologie usw. weiß, mag noch so viele Kranke behandeln, er bleibt dennoch ein Kurpfuscher! Und aus dem gleichen Grunde, weil keine Theorie sie erleuchtet und lenkt, ist unsere praktische Nationalökonomie zur Zeit kaum mehr als Kurpfuscherei am Körper der Wirtschaftsgesellschaft und wird von allen Praktikern und vielfach schon sogar von der öffentlichen Meinung als Kurpfuscherei bewertet. Aus diesem höchst peinlichen Zustande kann uns nur die reuige Rückkehr zur Theorie retten. Wir müssen auf die einzig mögliche Grundlage unserer wissenschaftlichen Kunstlehre zurück, die wir nie hätten verlassen dürfen. Das hat die jüngere Generation der heute lebenden Forscher erkannt, und das sollten auch Sie in seiner ganzen Tragweite und Bedeutung erfassen. Wir müssen imstande sein, die Erscheinungen mit Sicherheit auf ihre Ursachen zurückzuführen, soll es uns möglich sein, vorbeugend, schützend, fördernd oder bremsend oder gar heilend in den Ablauf des unsagbar feinen, vielverzweigten Kausalgeflechtes einzugreifen, als das sich uns das Leben einer entfalteten Wirtschaftsgesellschaft darstellt. Sonst bleiben wir rohe Empiriker, die wohl einmal aus
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Volkswirtschafespolitik
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Glück das Recht treffen mögen, aber niemals sicher sind, es zu treffen; und dann ist der Patient, den wir zu behandeln haben, übel dran. Darum muß ich hier die Bekanntschaft mit den Hauptgesetzen der Theoretik immer voraussetzen. Ich werde ja in Berücksichtigung der menschlichen Schwäche und des Umstandes, daß viele von Ihnen von Lehrern herkommen, die auf die Theorie weniger Gewicht legen, nach Möglichkeit das Nötigste repetierend erwähnen: aber Sie werden von dieser Vorlesung nur dann Erfolg haben, wenn Sie schleunigst darangehen, etwaige Lücken in Ihrer theoretischen Ausrüstung zu schließen. Bei diesen theoretischen Studien werden Sie auch ein wenig Aufmerksamkeit auf die Geschichte unserer Wissenschaft verwenden und dabei finden - und damit kehre ich nach der sehr nötigen Abschweifung wieder zu unserem eigentlichen Thema zurück -, daß unsere großen Theoretiker vom ersten Erwachen der Ökonomik zum selbständigen Dasein an mit vollem Bewußtsein nach jenem Wertmaßstabe, nach jener Norm gesucht haben, die wir so notwendig brauchen, ja, daß sie geglaubt haben, diesen Schatz schon zu besitzen. François Quesnay, der Begründer des ersten Systems in der Theorie und der ersten Freiverkehrsschule in der praktischen Nationalökonomie, hat die Norm mit voller Klarheit dem Zustande der Realität entgegengestellt, die er daran maß und bewertete. Das ist der berühmte Gegensatz zwischen dem ordre naturel und dem ordre positif, d. h. zwischen der Harmonie der sich ungestört entfaltenden Gesellschaft einerseits und der Disharmonie der von der Staatsgewalt und ihren plumpen Eingriffen gestörten Gesellschaft andererseits. Diese Vorstellung war bei Quesnay noch ziemlich leer; er postulierte die Harmonie des ordre naturel aus naturrechtlichen Voraussetzungen; aber Adam Smith kam dann schon ein gewaltiges Stück vorwärts. Er trat von dem Boden der wertenden Sollwissenschaft auf den der erklärenden Seinswissenschaft; zum ersten Male versuchte er, die Ordnung der ungestört sich entfaltenden Wirtschaftsgesellschaft aus den Voraussetzungen der Ökonomik selbst zu deduzieren. Und das gelang ihm grundsätzlich durchaus: er konnte zeigen, daß die Gesellschaftswirtschaft sich im freien Spiel der Interessen, im wirtschaftlichen Wettkampf, auf das vollkommenste „selbst steuert", um meinen Ausdruck anzuwenden; daß sie ihre beiden großen Funktionen, Produktion und Distribution, Beschaffung und Verteilung der von ihren Gliedern bedurften Wertdinge, genau so vollzieht, wie es jenes uralte Gerechtigkeitsideal der normalen Gesellschaft fordert, wenn nur eine Bedingung gegeben ist: es dürfen keine durch außerökonomische Kräfte geschaffenen Machtpositionen, keine Monopole vorhanden sein; denn sie lenken die Produktion von der Linie des geringsten Aufwandes und größten Erfolges ab und verzerren die Verteilung. Grundsätzlich, ich wiederhole es, hat der große Schotte das Problem der Norm, des Wertmaßstabes völlig gelöst; er beging nur in der Anwendung des Grundsatzes, bei der Analyse unseres ordre positif, einen verhängnisvollen Fehler dadurch, daß er die größte und einflußreichste, durch außerökonomische Kräfte geschaffene Machtposition, die Bodensperrung in der Rechtsform des großen Grundeigentums, für eine sozusagen legitime Schöpfung der rein ökonomischen Kräfte hielt. So kam er dazu, die beiden Monopoleinkommen der Grundrente und des Kapitalprofites, statt für Bestandteile des ordre positif, für solche des ordre naturel zu halten, legte damit den Grund für die Umwandlung der Ökonomik in die Klassenwissenschaft der Bourgeoisie, und leitete sie in jenen verhängnisvollen Weg, der zu ihrer Entartung in Scholastik und Phantastik führte und alle Theoretik auf ein halbes Jahrhundert der Verachtung preisgab. Aber der richtige Grundsatz konnte durch seine falsche Anwendung wohl eine Zeitlang verschüttet, aber nicht für immer begraben werden. Die zweite große Schule, die an Smith anknüpfte, die sozialliberale, brachte während der Arbeit eines Jahrhunderts eine Korrektur nach der anderen an den von ihm begangenen Fehlern an: Jones, Carey, Dühring, Walras, Henry George sind ihre besten Namen. Der konservative Sozialismus tat das Seinige; Sismondis Kritik griff tief durch und übte ihren Einfluß auf Rodbertus, und über ihn fort auf unseren alten verehrten Meister
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Adolph Wagner, sie wirkte entscheidend auf Karl Marx und zuletzt sogar auf die Bourgeoisökonomie in ihrem letzten bedeutenderen Vertreter John Stuart Mill, der in seinen letzten Schriften dem liberalen Sozialismus überaus nahe kam. Immer klarer wurde die Lösung des großen Problems herausgearbeitet; immer klarer erkannte und bewies man, daß große Teile des Eigentums, das in unserer Gesellschaftsordnung besteht, durch außerökonomische Kräfte, und nicht durch ökonomische Kräfte entstanden sind; daß es infolgedessen sich als ein System von Machtpositionen, von Monopolen charakterisiert, die nach der grundsätzlichen Auffassung von Adam Smith die Produktion ablenken und die Distribution verzerren müssen. Und immer klarer wurde mit allen seinen Zügen das Bild der normalen Gesellschaft herausgearbeitet, das Quesnay erst nur in seinen Umrissen geahnt hatte. Zuletzt gelang es mir, als dem glücklichen Erben aller dieser Großen, durch Verschmelzung von Rodbertus' Staatslehre, Marx' Kapitallehre, Jones' Grundrentenlehre, Careys Wertlehre und Dührings Lehre vom Gewalteigentum, unter Zufügung einiger bescheidener eigener Gedanken zur Psychologie der Wirtschaft und zum Krisenproblem, die Deduktion der Normalität völlig zu Ende zu führen. Ich nannte sie mit Adolph Wagner die „reine Ökonomie", und setzte sie, wie er, der „politischen Ökonomie", der Realität entgegen. Es ist grundsätzlich noch immer die alte physiokratische Gegenüberstellung von ordre naturel und ordre positif, aber nicht mehr aus ethischen Prämissen postuliert, sondern aus ökonomischen Prämissen mathematisch deduziert. Wenn diese Deduktion der Feuerprobe der Kritik dauernd stand hält, wie ich kühn genug bin, zu hoffen, dann haben wir den Wertmaßstab, dessen wir bedürfen, in aller Vollkommenheit in der Hand. Und dann können wir unserer Aufgabe, die wissenschaftlichen Arzte unseres Gesellschaftskörpers zu sein, endlich genügen. Denn wir haben jetzt nicht mehr bloß, wie unsere von Pohle so hart angegriffenen „Sozialpolitiker", das zwar richtige, aber allzu allgemeine und an Kennzeichen leere Bild der „Gesundheit", um es mit dem wirklichen Zustande zu vergleichen, sondern wir wissen jetzt genau, Zug für Zug, wie jede einzelne Funktion des Wirtschaftskörpers normalerweise abzulaufen hat. Und wie der Arzt erst daraus zu einer exakten Diagnose und zu einem begründeten Heilplan gelangen kann, daß er die einzelnen „Symptome", d. h. die Abweichungen von der Normalität in bezug auf Form, Farbe, Temperatur, chemische Zusammensetzung, physikalische Reizbarkeit, nervöse Empfindlichkeit, muskuläre Erregbarkeit usw. usw. erkennt, mißt und zu einem Bilde ordnet - genau so können wir erst jetzt zu einer exakten Diagnose und zu einem begründeten Heilplan gelangen, seit wir imstande sind, nicht mehr bloß die Abweichungen im großen Ganzen, sondern die einzelnen „Symptome", die Abweichungen im Einzelnen von der Normalität des Aufbaues und der Funktion, zu erkennen und zu messen und zu einem logisch zusammenstimmenden „Bilde" zu ordnen. Von diesem Standpunkt aus dürfen wir die Behauptung der Nihilisten mit Entschiedenheit abwehren, dürfen unsere Verhandlungen hier mit dem Vertrauen fortsetzen, daß wir nicht nur Seifenblasen steigen lassen oder totes Wissen aufspeichern. Wir dürfen die Frage: „Ist und wie ist wissenschaftliche praktische Nationalökonomie möglich?" mit Zuversicht beantworten: Sie ist möglich und zwar durch die Benutzung der Normalität, deren Gesamtbild wir der theoretischen Ökonomik verdanken, als ihres Maßstabes der Messung und Bewertung.
f) Die Ziele der Volkswirtschaftspolitik Gemeiner und Klassen-Nutzen Die wichtigste Aufgabe, die die praktische Ökonomik mittels dieses Bewertungsmaßstabes zu lösen hat, besteht darin, im allgemeinen und in jedem einzelnen Falle festzustellen, was denn eigentlich der „Gemeine Nutzen" fordere, dem die Volkswirtschaftspolitik zu dienen hat.
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Volkswirtschaftspolitik
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Wenn unsere Wirtschaftsgesellschaften in derjenigen „Harmonie aller Interessen" funktionierten, die der alte Liberalismus als verbürgt betrachtete, sobald nur alle „Monopole" fortgeräumt wären, dann wäre diese Aufgabe leicht zu lösen, so leicht wie die Aufgabe des Arztes, der im allgemeinen in jedem einzelnen Falle bestimmen soll, was die „Gesundheit" fordert. Er weiß, daß hier die volle Harmonie aller einzelnen Organe und ihrer Funktion besteht, daß ζ. B. die Leber leiden muß, wenn das Herz krank ist; und daß er die Leber durch nichts so sicher heilen kann, als daß er das kranke Herz gesund macht. Der praktische Volkswirt aber befindet sich in der Lage eines Arztes gegenüber einem Patienten, dessen sämtliche Organe Intelligenz und Sprache besitzen, und von denen jedes davon überzeugt ist, daß es nur richtig gedeihen kann, wenn ihm allein, ohne Rücksicht auf die anderen, ja sogar unter Schädigung der anderen, alle Fürsorge zugewandt wird. (Das Bild ist alt: es stammt, wie Ihnen bekannt, angeblich von Menenius Agrippa.) Und nun schreit ihm die Leber zu: „Pfuscher, Böswilliger, warum behandelst du nur das Herz? Ich bin die eigentlich Kranke, dem Herzen geht es verhältnismäßig glänzend"; und das Herz zetert entrüstet: „Höre nicht auf die Gierige; sie will nur auf meine Kosten fett werden; ihr fehlt überhaupt nichts." Ganz genau so hadern die disharmonischen Interessengruppen der heutigen Wirtschaftsgesellschaften miteinander um die Fürsorge des Volksarztes. Jede hält sich für die wichtigste, wenn nicht gar für die einzig wichtige, jede glaubt, ihr eigenes Gedeihen sei das einzig sichere Zeichen für das Gedeihen des Ganzen. Woher das kommt, wissen Sie aus der theoretischen Ökonomik und der allgemeinen Soziologie. Unsere heutige Wirtschaft ist nicht die „reine", sondern die „politische Ökonomie". Das heißt: sie hat sich im historischen Verlauf nicht ungestört entwickeln dürfen; das ökonomische Mittel, der in der Gesellschaftswirtschaft Fleisch und Bein gewordene kategorische Imperativ der Gerechtigkeit, ist in seiner Entfaltung durch „außerökonomische Kräfte", durch kriegerische und geistliche Gewalt, d. h. durch das politische Mittel, verkrümmt und verkrüppelt worden. Kurz gesprochen: die Ökonomie, das entfaltete ökonomische Mittel, ist aufgewachsen im Rahmen und unter der Pressung des Staates, der nichts anderes ist als das entfaltete politische Mittel, Schöpfung der außerökonomischen Gewalt. Und weil der Staat selbst seiner Essenz nach Klassenstaat ist; weil sein ursprünglicher Zweck in nichts anderem besteht als in der Setzung von Monopolen; weil er ursprünglich überhaupt nichts anderes ist als das rechtliche Gehäuse eines Klassen-Monopol-Verhältnisses - deshalb ist auch die im Staate lebende Wirtschaftsgesellschaft in ökonomische Klassen zerspalten, in Klassen von Monopolisten oben und Ausgebeuteten unten; und deshalb besteht zwischen diesen Klassen nicht die Harmonie der reinen, sondern die Disharmonie der politischen Ökonomie. Nun freilich ist der Staat nur in seiner ersten Entstehung reines Organ des Klassennutzens seiner Herrengruppe. Er muß sofort nach seiner Gründung, gerade im Interesse dieser Gruppe, die zwei wichtigsten Aufgaben des Gemeinen Nutzens, Grenzschutz und Rechtsschutz, auf sich nehmen. Aber damit verändert er seinen Charakter nicht, sondern kompliziert ihn nur. Er ist ein zwieschlächtiges Wesen, zur Hälfte Organ des Klassennutzens, zur anderen des Gemeinen Nutzens. Diese Zwieschlächtigkeit des Staates ist aber naturgemäß die Ursache davon, daß seine Beamten in ihrer Volkswirtschaftspolitik den Richtpunkt des gemeinen Nutzens nicht immer genau erkennen und festhalten können, sondern mehr oder weniger in der Richtung des Nutzens der herrschenden Klasse abweichen, deren Sonderinteresse sie dem Gemeininteresse gleichsetzen, weil diese Beamten erstens selbst „Staat" sind, d. h. jenen zwieschlächtigen Charakter angenommen haben, und weil sie zumeist, zum wenigsten die leitenden Beamten, selbst aus der herrschenden Klasse hervorgegangen und durch unzählige gesellschaftliche und materielle Bande mit ihr verknüpft sind. Sie handeln in der Regel subjektiv durchaus im besten Glauben, kraft jenes Hauptgesetzes der Sozialpsychologie, das den Menschen unwiderstehlich zwingt, dasjenige für gerecht und vernünftig zu
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halten, was seiner Gruppe nützt; aber nichtsdestoweniger ist der Vorwurf, der ihnen so häufig „von unten" entgegenschallt, oft genug objektiv gerechtfertigt, daß sie unter dem Schein des Gemeinnutzens doch nur den Klassennutzen befördern. Jedenfalls kommt jeweils die herrschende Schicht am besten davon, in der Volkswirtschaftspolitik, wie in der äußeren Politik. Ein Historiker, der nichts von Roms innerpolitischen Lage im Jahre 142 v. Chr. wüßte, könnte ohne weiteres aus der Zerstörung von Karthago und Korinth und der Schonung Athens schließen, daß die Klasse der Großhändler in der herrschenden Klasse den Ausschlag gegeben haben muß; und so könnte ein Historiker späterer Zeit aus unserer Zollpolitik ohne weiteres schließen, daß zu unserer Zeit die Klasse der Großgrundbesitzer am Steuer des Staatsschiffes saß. Wer im Rohre sitzt, schneidet sich Pfeifen, hat übrigens ganz recht damit, und darf das beste Gewissen dabei haben. Denn die Harmonie der Wirtschaft kann nicht aus gegenseitigem Verzichten, sondern nur durch den Streit der Interessen geschaffen werden. Ganz das gleiche wie von den Staatsbeamten gilt nun aber kraft jenes sozialpsychologischen Hauptgesetzes auch von den privaten Volkswirten, die hauptamtlich oder neben ihrer Privatwirtschaft Volkswirtschaftspolitik betreiben. Auch sie gehören einer Klasse an und unterliegen der „force coercitive" ihrer Vorstellungen, Wertungen und Uberzeugungen. Auch sie sind des besten Glaubens, nur dem gemeinen Nutzen zu dienen, und lenken doch das Steuer mehr oder weniger in der Richtung ihres Sonder- oder Klassennutzens. Wenn Sie ein Beispiel wollen: die Gründer der zuweilen großartigen Fabrik-Wohlfahrtsanlagen glauben oftmals gewiß, von rein volkswirtschaftlichen Motiven beherrscht zu sein, und richten doch die Dinge so ein, daß privatwirtschaftliche Vorteile mit dabei herausspringen, nämlich eine gewisse Bindung der Arbeiter „an die Scholle", d. h. den Betrieb, da sie nicht aufkündigen können, ohne erworbene Ansprüche einzubüßen. Und sogar die grandiose Arbeiterversicherung des Deutschen Reiches, zweifellos eins der erfolgreichsten Werke der Volkswirtschaftspolitik, sollte eingestandenermaßen nebenbei dem Ziele dienen, die Arbeiterschaft von der Sozialdemokratie abzuziehen, und d. h.: in die Wahlgefolgschaft der regierenden Klasse hinüberzulocken, ein Ziel, das die Schöpfer jenes Werkes im besten Glauben im Interesse des gemeinen Wohles erstrebt haben werden. Das Endziel der Volkswirtschafts-Po/¿t¿&er fällt also nicht immer durchaus mit dem der reinen Volkswirtschaftspolitik gesteckten Ziele zusammen, ja, es ist oft mehr nach der Richtung des Klassennutzens hin orientiert als nach der des gemeinen Nutzens. Das gilt verdoppelt von dem Hauptträger der Volkswirtschaftspolitik, dem Staate. Er ist nämlich nicht nur als öffentlich-rechtliches Wesen zwieschlächtig, Organ des Klassennutzens nicht minder wie des gemeinen Nutzens, sondern nebenbei auch noch private Wirtschaftsperson, nämlich Fiskus, und hat als solcher auch das finanzpolitische Interesse zu vertreten. Und auch das bringt ihn oft genug dazu, mehr oder weniger die Richtung des Gemeininteresses zu verfehlen, wie denn überhaupt bei solcher Personalunion selten die Ressorts reinlich auseinandergehalten werden können. Daraus folgt, daß häufig Maßnahmen, die lediglich fiskalisch-finanzpolitisch gemeint sind, unter dem Vorwand volkswirtschaftspolitischer Absichten empfohlen und durchgesetzt werden; und nicht weniger häufig geschieht es, daß Maßnahmen, die ursprünglich wirklich aus volkswirtschaftspolitischen Gründen vorgenommen wurden, allmählich ins Finanzpolitische entarten. Beide Male klagt man, zwar nicht mehr über Klassenwirtschaft, aber über „Fiskalismus". Wenn man z. B. heute vielfach über den Fiskalismus der preußischen Staatsbahnen schilt, so meint man damit, daß dieses Monopol jetzt finanzpolitisch dazu mißbraucht wird, um durch unnötig hohe Tarife dem Publikum eine „Verkehrssteuer" zu erpressen, während man es doch eingeführt hatte, um gewisse Schäden des Privatbahnsystems abzustellen und dem gemeinen Säckel den Wertzuwachs zuzuführen, der sonst in private Taschen geflossen wäre. Übrigens ist der Fiskalismus ein Laster, das nicht auf den Staat beschränkt ist: auch die Leiter privater Organisationen des gemeinen Nutzens verfallen ihm leicht, vergessen, daß ihre Anstalten nur Mittel zu einem höheren Zwecke sind, und handeln, als
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wären sie Selbstzweck. Man weiß, daß fast alle Wohlfahrtsanstalten in relativ kurzer Zeit zu Sinekuren ihres Beamtenringes in fast fataler Weise entarten. Zwischen allen diesen Klippen, dem Privatinteresse, dem Klasseninteresse und dem finanzpolitisch-fiskalischen „Kirchturm-Interesse", soll die Kunstlehre der Volkswirtschaftspolitik, soll die praktische Ökonomik den sicheren Weg zeigen. Aber leider, auch sie wird von Menschen gemacht und gelehrt, und auch diese Menschen sind Angehörige ihrer Klasse und unterliegen der force coercitive der Anschauungen, Wertungen und Uberzeugungen ihrer Klasse. Sie sehen mit ihren Augen, hören mit ihren Ohren, haben ihre Sympathien und Antipathien. Und so sind auch sie keine unparteiischen Führer. Trotz allen allerbesten Willens sind auch sie gezwungen, den Kurs statt auf den Punkt des allgemeinen Nutzens mehr oder weniger zur Seite anzusetzen - wenn sie nicht über Instrumente der Navigation verfügen, die gegen jede Störung von außen geschützt sind. Heute orientieren sich die besten von ihnen, wie die Schiffer in alter Zeit nach den ewigen Sternen, noch mühsam und ungefähr nach dem ewigen Ideal der Gerechtigkeit, aber Kompaß, Quadrant und Seekarte zur genauen Kurshaltung kann Ihnen nur die Wissenschaft mit ihrer Norm, ihrem Maßstabe in die Hand geben. Erst dann, wenn diese Norm überall anerkannt ist, werden die praktischen Volkswirte und ihre Berater, die Ökonomisten, von ihren allzu starken „persönlichen Koeffizienten" befreit und befähigt sein, in Wirklichkeit das als Richtungsziel der Volkswirtschaftspolitik einzustellen, was sie heute als Ziel nur nehmen sollen, aber trotz allen guten Glaubens nicht nehmen können·, den gemeinen Nutzen. Denn erst dann werden sie erreicht haben, was die Bedingung aller wissenschaftlichen Erfolge ist, die Vorurteilslosigkeit, die Lujo Brentano als erste Eigenschaft von dem Adepten gerade der Volkswirtschaftspolitik fordert, ohne sich darüber klar zu werden, wie weit überhaupt, und auf welchem Wege allein sie erlangt werden kann. Er sieht augenscheinlich nicht, daß der beste Wille allein nicht dazu ausreicht.
g) Die Mittel der Volkswirtschaftspolitik Wenn die Normalität, die ich in meiner „Theorie" errechnet habe, in der Tat die Normalität ist, dann gibt es nur ein Mittel zur Heilung, einen entschlossenen chirurgischen Eingriff. Am Körper unserer Volkswirtschaft zehrt ein Parasit, ein gefräßiges Wesen fremder Herkunft, ein Geschöpf des politischen Mittels, das auf dem ökonomischen Mittel schmarotzt und seinen Aufbau stört und seine Funktion in Unordnung bringt. Es muß beseitigt werden, so schmerzlos, aber doch auch so gründlich wie möglich. Das ist der einzige Rat, den ich für meine bescheidene Person zu geben habe, um den Patienten zur Heilung zu bringen: Zersprengung des Klassenmonopols durch innere Kolonisation im großen Stile. Das folgende darf dann die praktische Ökonomik ruhig der vis medicatrix naturae überlassen, und darf sich auf ein wirtschaftspolitisches Altenteil zurückziehen. Solange aber der Patient sich weigert, sich dieser rettenden Operation zu unterziehen, so lange wird den Ärzten an seinem Krankenlager nichts anderes übrigbleiben, als ihn mit Palliativmitteln einigermaßen bei Kraft zu halten, auf die Symptome loszukurieren und womöglich arge Krisen zu vermeiden. Von diesen Heilmitteln soll jetzt im allgemeinen geredet werden; im allgemeinen: d. h. wir fragen noch nicht nach den speziellen Mitteln, die bei bestimmten Schäden angewendet oder empfohlen werden, sondern wir fragen, über welche Arten und Klassen von Mitteln die Volkswirtschaftspolitik verfügt. Sprechen wir zunächst von den Mitteln des Hauptträgers der Volkswirtschaftspolitik, des Staates. In seiner Hand allein liegt das stärkste Instrument der gemeinnützigen Wirtschaftskunst, die Gesetzgebung und die die Gesetze ausführende Verwaltung. Wobei übrigens angemerkt werden muß,
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daß sehr oft die Verwaltung Gesetze im Klasseninteresse anwendet, die im Gemeininteresse erlassen wurden. Die Gesetzgebung ist oft, ja, in der Regel, das einzige Mittel, um Hindernisse fortzuräumen, die der wirtschaftlichen Entwicklung und Selbststeuerung im Wege stehen. Sie ahnen bereits, daß mir diese negative Gesetzgebung des Staates fast als die einzige erscheint, die er ausüben kann, ohne mehr Schaden als Nutzen zu stiften. Er macht dann nur reuig rückgängig, was er in früheren Zeiten selbst angerichtet hatte. Hierher gehört in historischer Betrachtung die Aufhebung der Zünfte, der Sklaverei, der Erb- und Gutsuntertänigkeit, der Souveränität der Kolonialgesellschaften, der ausschließenden Monopole gewisser Fabrikanten, Händler, Reeder usw., kurz, die Beseitigung aller sogenannten „verliehenen" öffentlich-rechtlichen Monopole, die dem freien Verkehr schädlich sind. In der Gegenwart würden hierhin gehören die gleichfalls öffentlich-rechtlichen Privilegien der „Toten Hand", namentlich der Majorate und Fideikommisse, deren Aufhebung von den meisten Volkswirten gefordert wird, nach anderen die Aufhebung aller der einzelnen Grenzzölle, aller der einzelnen Prämien auf Ein- und Ausfuhr, die Aufhebung gewisser Subventionen, die in Deutschland ζ. B. offen an einige Schiffahrtsgesellschaften und versteckt in höheren Preisen an einige Fabrikanten von Kriegs- und Flottenmaterial gezahlt werden, um ihre Betriebe zu besonderer Leistungsfähigkeit zu entwickeln. - Ferner kommt hier in Betracht die Aufhebung gewisser sozusagen negativer Monopole, die als privilegia odiosa auf bestimmte Bevölkerungsgruppen drücken und sie im Kampfe der Wirtschaftsinteressen benachteiligen, so z. B. die Aufhebung des Koalitionsverbotes für Landarbeiter in Preußen, das noch gesetzlich in Kraft ist, und die volle Durchführung der Koalitionsfreiheit der Fabrikarbeiter, die hier und da noch widergesetzlich durch die Verwaltungsbehörden beeinträchtigt wird. Weniger glücklich als mit dieser negativen, wegräumenden Gesetzgebung wird der Staat nach meiner grundsätzlichen Auffassung dann abschneiden, wenn er positiv aufbauend auf dem Wege der Gesetzgebung Volkswirtschaftspolitik zu treiben versucht. Er schafft in der Regel nur neue Monopole, die nur schwer wieder beseitigt werden können. Denn, sagt v. Ihering, „ein bestehendes Recht aufheben, heißt einen Polypen losreißen, der sich mit tausend Armen anklammert". So z. B. hat die berühmte und berüchtigte Bauordnung des östlichen Preußen auf das ohnehin schon vorhandene Monopol der Bodeneigentümer noch ein Ubermonopol gesetzt, durch das das Gemeine Wohl nach der Ansicht der meisten Volkswirte hart geschädigt wird. Und in neuerer Zeit hat sich die positive Gesetzgebung des preußischen Staates in Sachen der Spiritusproduktion und des Kalibergbaues als die eifrige Bruthenne starker Monopole erwiesen. Das Kaligesetz in specie ist ein Musterbeispiel falsch orientierter und schlecht angesetzter Volkswirtschaftspolitik. Immerhin wird der Staat auch durch dieses Mittel hier und da dem Ziele des Gemeinen Nutzens näherkommen können und zwar überall dort, wo größere Volksschichten sich nicht selbst helfen können oder aus geistiger Schwäche nicht helfen wollen; oder wo die eigennützige Raffsucht einzelner sich gierig dem Vorteil aller in den Weg stellt. Ein Muster guter positiver Volkswirtschaftspolitik war z. B. das Gesetz über die Zusammenlegung der allzu stark zersplitterten Gemeindemarken unter Brechung des entgegenstehenden Willens der widerstrebenden Besitzer: hier lag aus landwirtschaftlich-technischen Gründen der Vorteil der Maßregel für alle Beteiligten so klar auf der Hand, und hier konnte vor allem irgendein Klasseninteresse so gar nicht mitspielen, daß hier einmal das Ziel völlig erreicht werden konnte. Uberwiegend günstig wird man auch die positive Gesetzgebung Deutschlands und anderer Staaten im Interesse der Fabrikarbeiter beurteilen dürfen, die Festlegung der Länge des Arbeitstages, die Beschränkungen für Jugendliche, Frauen, Schwangere, Kinder, die soziale Versicherungsgesetzgebung, vor allem für Krankheit, Unfall und Invalidität. All das wirkt ja nur palliativ, nicht heilend, aber es hat doch viel Leiden gelindert und verhütet. Eine gewaltige Waffe hat der Staat auch in seiner Finanzpolitik in der Hand. Zunächst als Steuerfiskus nur noch auf dem Wege über die Gesetzgebung. Die meisten Staaten haben diese ihre
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Macht in der Regel im Klasseninteresse gegen das Gemeininteresse angewandt; aber es gibt praktische Ökonomisten, die die Finanzpolitik im weiten Umfange in den Dienst der Volkswirtschaftspolitik stellen wollen. Auf diesem Felde ist der erste bürgerliche Vorkämpfer unser Altmeister Adolph Wagner; er fordert eine „ausgleichende" Steuer- und Finanzpolitik mit dem Endziele nicht nur des fiskalischen Privatinteresses, sondern vor allem des Gemeininteresses. Die Besteuerung soll wenigstens die schärfsten Spitzen der kapitalistischen Entwicklung abstumpfen, soll die Tendenz zur maßlosen Bereicherung der Besitzenden und zur Proletarisierung der Schwachen wenigstens bremsen; der Staat soll ferner mit volkswirtschaftspolitischen, nicht mit rein fiskalischen Absichten als Unternehmer in das Wirtschaftsleben eingreifen, indem er sich gewisse Monopole der Produktion, des Verkehrs oder des Handels vorbehält, wie mit den Eisenbahnen, der Post und dem Telegraphendienst in Deutschland, oder indem er konkurrierend neben das Privatkapital tritt, wie als Waldbesitzer und Bergherr, um eben dadurch auf die Wut der Konkurrenz [besänftigend einzuwirken, indem er ζ. B. eine extreme Preispolitik oder einen allzu harten Druck auf die Arbeiter verhindert. Einige, namentlich Sozialisten, gehen noch weiter. Henry George ζ. B. will mit seiner „einzigen Steuer" alle Grundrente durch das radikalste Mittel staatlicher Finanzpolitik „wegsteuern". Andere träumen immer wieder von einer Wegsteuerung der großen Vermögen durch enorme Erbschaftssteuern. - Auf der anderen Seite verwerfen andere Finanzwissenschaftler die „soziale Finanzpolitik" gänzlich oder räumen ihr doch nur ein viel kleineres Feld ein, als etwa Wagner. Diese Betrachtung hat uns bereits zu Fällen geführt, wo der Staat volkswirtschaftlich eingreifen kann, ohne eigens die Klinke der Gesetzgebung drücken zu müssen, einfach aufgrund der bestehenden Rechtsordnung und der Verwaltungsnormen. Wenn ζ. B. das preußische Ministerium anordnet, daß die sämtlichen staatlichen Betriebe in bezug auf die Entlohnung, Behandlung usw. der Arbeiter als „Musterbetriebe" immer an der Spitze der Gesamtindustrie marschieren sollen, so braucht es zu dieser Volkswirtschaftspolitik keine neuen Vollmachten durch das Gesetz. Diese, nennen wir sie im Gegensatz zur Sondergesetzgebung „volkswirtschaftspolitische Verwaltungsmaßnahmen", können unmittelbar bestimmte praktische Aufgaben angreifen oder mittelbar private gemeinnützige Organisationen fördern. Bei den unmittelbaren Maßnahmen der Verwaltung können wir wieder negative und positive unterscheiden. Zu den negativen unmittelbaren Maßnahmen rechnet ζ. B. die Anwendung des staatlichen Expropriationsrechtes zur Wegräumung von Hindernissen, die das Privateigentum gemeinnützigen Werken in den Weg stellt. Positiv greift der Staat durch seine Verwaltung unmittelbar in das Wirtschaftsleben ein ζ. B. durch Vorschüsse für landwirtschaftliche Meliorationen, größere Entwässerungs- und Bewässerungsbauten, durch kapitalistische Beteiligung an gemeinnützigen Kulturwerken, wie ζ. B. an den der inneren Kolonisation dienenden „Landgesellschaften", durch Garantie von Kapital und Zinsen für die Kosten privater gemeinnütziger Anlagen; ferner durch Prämien für besondere Leistungen in der Landwirtschaft und Industrie, namentlich bei Ausstellungen, durch Beteiligung an den Kosten von internationalen und nationalen Ausstellungen, durch Verleihung von Ehrentiteln und -zeichen an hervorragende Männer der wirtschaftlichen Praxis; durch Straßen-, Bahn- und Kanalbauten in zurückgebliebenen Landesteilen, durch Errichtung besonderer Staatsinstitute mit lediglich wirtschaftlichen Aufgaben, wie die Zentral-Genossenschafts-Kasse (Preußenkasse), oder die Rentenbank in Preußen, oder von staatlichen Versicherungsanstalten und Sparkassen usw. Mittelbar kann der Staat das Wirtschaftsleben fördern ζ. B. durch Errichtung von Fach- und Fortbildungsschulen, Versuchs- und Lehranstalten für Landwirtschaft und Technik: Versuchsfelder, Lehr- und Versuchsbrauerei, physikalisch-technische Reichsanstalt. Hierher läßt sich schließlich in einem etwas weiteren Sinne alle Staatspolitik, innere und äußere, rechnen, denn alles, was den äußeren Frieden, das Recht und die Ordnung, die öffentliche Gesundheit und Erziehung, die soziale Eintracht zwischen den Klassen fördert, das hebt auch sofort die wirtschaftliche Wohlfahrt.
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Das aber ist, nebenbei bemerkt, ein guter Grund, warum der Staat in vielen Dingen anders kalkulieren darf und soll als ein Privatmann. Dieser soll, das verlangt das ökonomische Grundprinzip des kleinsten Mittels, kein Unternehmen beginnen, das ihm nicht den entsprechenden Ertrag abzuwerfen verspricht - es sei denn, er handle eben aus volkswirtschaftlichen Motiven der Gemeinnützigkeit. Der Staat aber darf und soll, und zwar nicht etwa nur aus gemeinnützigen, sondern gerade auch aus fiskalisch-privatwirtschaftlichen Gründen, auch solche Unternehmungen auf sich nehmen, deren Kalkulation einen unmittelbaren Gewinn nicht verspricht, darf sogar unter Umständen verlustbringende Unternehmungen einleiten - wenn nur die allgemeine wirtschaftliche Wohlfahrt so gesteigert wird, daß er unter Umständen als Steuer-, Eisenbahn- und Verkehrsfiskus das Vielfache dessen gewinnen kann, was er etwa als landwirtschaftlicher Fiskus oder Zollfiskus geopfert hat. Was schadet es ζ. B. dem preußischen Staate als Totalität aller Fisci, daß das in der inneren Kolonisation angelegte Kapital sich nur mit etwa 2 Prozent verzinst, so daß der Staat auf seinen Anleihedienst zulegen muß, wenn auf der anderen Seite das Steueraufkommen der betreffenden Landesteile sich verdreifacht? Dieser sozusagen höhere fiskalische Standpunkt, der zur rechten Zeit Opfer zu bringen weiß, um die Leistungskraft der Gesamtheit schließlich auch im fiskalischen Interesse stark zu heben, wird nicht immer von unseren Beamten eingenommen. Doch das gehört in die Finanzwissenschaft. Um nun zu den Mitteln der privaten Volkswirtschaftspolitik zu kommen, so werden hier in der Regel die Individuen, wenn sie nicht ungeheuer reich sind - Bourneville, Sunlight-City, ihren Bewohnern geschenkt, sind solche Beispiele - , nur im kleinen Kreise eine bescheidene Wirksamkeit ausüben können. Hier kann zumeist nur die Assoziation vieler im Gemeinen Nutzen Kraftzentren schaffen, die im großen Kreise und im großen Stile wirken können. Auch hier können wir unmittelbare und mittelbare Maßnahmen unterscheiden. Unmittelbar wirken zumeist die Organisationen der Selbsthilfe. So weit sie lediglich für ihre Mitglieder tätig sind, wie die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften und die Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit, stehen sie noch mit einem Fuß im Lager der Privatwirtschaft; soweit sie aber ohne harte Bedingungen jedem offenstehen, der dem Kreise angehört, soweit sie dadurch die wirtschaftliche Lage ganzer Gruppen und Klassen zu heben imstande sind, sind sie Organe der privaten Volkswirtschaftspolitik. Das aber gilt für die meisten Genossenschaften und für die Gewerkschaften der Arbeiter. Ganz und gar Organe der privaten Volkswirtschaftspolitik sind die Anstalten der Fremdhilfe. Aimé Hubers „aristokratische Hilfe" bildet den Ubergang, die schon einmal erwähnte Unterstützung der Selbsthilfe durch Rat, Mitarbeit und eventuell Darlehen; gleichfalls einen Übergang bilden die Versuche der französischen Produktivassoziationen, ein capital social inaliénable, ein Gesellschaftskapital für die Verbreitung ihrer Genossenschaften, aufzubringen. Reine Fremdhilfe stellen die zahlreichen Organisationen für die gemeinnützig-wirtschaftlichen Zwecke der Arbeitsnachweise, der Armenversorgung, der Wohnungsfürsorge, z. B. Gartenstädte und Gartenvorstädte, dar; ferner z. B. die Vereine zur Beschäftigung Blinder mit lohnender Arbeit. All das ist unmittelbare private Volkswirtschaftspolitik. Mittelbar wirken die von privater Seite gegründeten und erhaltenen Fachschulen und Fortbildungsschulen (Klöppelei, Schnitzerei, Geflügelzucht etc. in armen Dörfern), die technischen Museen und Bibliotheken usw., die privaten Ausstellungen auf das Wirtschaftsleben ein. Und, immer im Namen wenigstens des Gemeininteresses, wenn auch oft zum Teil oder ganz im Klasseninteresse und Gruppeninteresse, wirken mittelbar-volkswirtschaftspolitisch alle die Sekten, Vereine, Parteien und ihre Zeitungen, die auf dem Wege über die öffentliche Meinung und den Parlamentarismus die Träger der Volkswirtschaftspolitik, vor allem den Staat, dazu bringen wollen, gewisse volkswirtschaftliche Institute abzuschaffen oder einzurichten, die Praxis der Verwaltung in der oder der Richtung abzuändern usw. Die englische Anti-Cornlaw-Liga Cobdens trieb ganz gewiß sehr
Praktische Ökonomik und
Volkswirtschaftspolitik
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erfolgreich private mittelbare Volkswirtschaftspolitik, wenn auch nicht ganz unverfälscht gemeinnützige. Das wären in großen Umrissen die Hauptzüge dessen, was man ungefähr als „allgemeine praktische Nationalökonomie" oder „ a l l g e m e i n e Volkswirtschaftspolitik" bezeichnen könnte. Nun wollen wir noch kurz die Anschauungen einiger einflußreicher Schriftsteller auf diesem Gebiet besprechen.
h) Die Volkswirtschaftspolitik in der Literatur Es gibt nur wenige zusammenfassende Lehrbücher über unser Gebiet in der Weltliteratur, und diese wenigen sind ausschließlich deutscher Sprache. Was die einzelnen Verfasser zu dem Thema zu sagen haben, das wir bisher behandelt haben, zu der „allgemeinen praktischen Ökonomik", wie wir sie nennen wollen, ist nicht gerade aufregend an Umfang und Inhalt. Conrad1 beginnt mit einer allgemeinen Einleitung über Gesellschaft und Staat, den er noch ganz in alter Weise auffaßt. Er hat nach ihm die drei Aufgaben der Macht-, Rechts- und Wohlfahrtszwecke. (In Parenthese, daß der Staat soziologisch sich als Klassenstaat bildet und funktioniert, davon ist keine Rede.) Die Wohlfahrtszwecke zerfallen in solche des geistigen und des materiellen Wohles. Nach einem Exkurs über die Gefahren der geistigen Bildung und die Bedeutung der Charakter· und Gemütsbildung und der Notwendigkeit der Religion für die unteren Klassen, denen wirtschaftliche mehr als geistige Schulung nötig sei, über das gebildete Proletariat etc. kommt er dann zu der eigentlichen Volkswirtschaftspolitik. „Sie hat die Aufgaben von Staat und Gesellschaft gegenüber der Volkswirtschaft zu erörtern." Aber „welche Aufgaben dem Staate in Betreff des wirtschaftlichen Lebens zufallen", das ist eine Frage, die seit jeher strittig ist. „Sache der Wissenschaft ist es, hier den rechten Weg ausfindig zu machen, um die Extreme zu vermeiden. Es gilt, das Problem zu lösen, unter Wahrung der individuellen Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen doch den Schwächeren im wirtschaftlichen Kampfe zu schützen: ferner in erster Linie die gesamte Kultur zu fördern und bei jedem Gegensatze zwischen Gesamtwohl und Einzelinteresse unbedingt das letztere dem ersteren unterzuordnen." Sie werden vermutlich in diesen Worten gleich mir die leiseste Andeutung davon vermissen, wie die Wissenschaft es anfangen soll, das Problem zu lösen, das richtig gestellt ist, und wie sie überhaupt erkennen soll, wo das Gesamtwohl liegt, und wo es dem Einzelinteresse vorangeht. Conrad, der seiner persönlichen Auffassung nach zwischen den Manchesterleuten und den Staatssozialisten stehen dürfte - er verwirft allzu viel Staatshilfe, weil sie den Sporn der Selbstverantwortung abstumpft -, hält in wissenschaftlich ganz naiver Weise seinen persönlichen Standpunkt zu all den Fragen für den richtigen, ohne auch nur zu fragen, woran er objektiv selbst bemessen und bewertet werden könnte. Dies Grundproblem hat er überhaupt nicht gesehen. Es folgen dann einige allgemeine sehr kurze Ausführungen über die Mittel, die Aufgaben und die Grenzen der Staatstätigkeit, die mit unseren eigenen Darstellungen ungefähr übereinstimmen. Obgleich mehrfach von „Staat und Gesellschaft" als den Trägern der Volkswirtschaftspolitik gesprochen wird, geht doch aus allen Ausführungen hervor, daß Conrad nur den Staat, niemals aber private Organisationen und individuelle Privatinitiative im Auge hat. Das liegt natürlich an der mangelnden Besinnung auf das Grundsätzliche: daß nicht der Träger, sondern das Tätigkeitsgebiet das Erkenntnismerkmal abgibt, die gemeinnützige im Gegensatz zur privatwirtschaftlichen Wirt-
1
[Conrad, Grundriß zum Studium der politischen Ökonomie, 5. Auflage, Jena 1908; A.d.R.]
Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
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handlung, wird nicht erkannt, und darum fehlt es auch an jeder grundsätzlichen Abgrenzung zwischen der finanzpolitisch-privatwirtschaftlichen und der volkswirtschaftspolitischen Tätigkeit des Staates. Kleinwächter handelt auf 43 Zeilen die ganze allgemeine praktische Ökonomik ab. Er unterscheidet wenigstens zwischen der Kunstlehre und der Kunst als der Volkswirtschaftspolitik und der Wissenschaft davon. Er beschränkt sich darauf, richtig festzustellen, daß nicht nur der Staat und seine administrativen Unterglieder, sondern auch freie Vereinigungen Volkswirtschaftspolitik treiben können. Die staatliche Volkswirtschaftspolitik ist der „Inbegriff aller derjenigen Maßnahmen, die die Staatsgewalt ergreift, um die Wirtschaft des Volkes zu heben, bzw. um gewisse schädliche Auswüchse (Wucher oder dergleichen) zu unterdrücken oder hintanzuhalten". Die gesamte Volkswirtschaftspolitik des Staates und der freien Organisationen bezeichnet er „als das Verhältnis der .öffentlichen Gewalten' gegenüber den einzelnen Zweigen des Wirtschaftslebens". Der „ Wissenschaft
der Volkswirtschaftspolitik" stellt Kleinwächter
die Aufgabe aller Wissen-
schaft, „die Einheit in der Vielheit des Wissensgebietes zu sichern". „Demgemäß hat sie einerseits zu zeigen, daß in der (gleichzeitigen) Volkswirtschaftspolitik der verschiedenen Staaten eine gewisse Ubereinstimmung herrscht, [...] andererseits hat sie nach den einheitlichen Gedanken oder nach den Grundsätzen zu forschen, von denen die Volkswirtschaftspolitik des einzelnen Staates im Laufe der Jahrhunderte geleitet wurde." Das ist selbst für einen kurzen Leitfaden etwas wenig. Grundsätzlich gilt auch hier das über Conrad Gesagte, wenngleich Kleinwächter
die Rolle der Privatinitiative nicht ganz übersehen und zwi-
schen Kunstlehre und Kunst wenigstens grundsätzlich unterschieden hat. Gustav Schmoller nimmt in seinem Artikel „Volkswirtschaft" im Handwörterbuch der Staatswissenschaften zu unserer Frage eine ganz besondere Stellung ein. Für ihn verdunstet der Unterschied und Gegensatz zwischen theoretischer Erkenntniswissenschaft und wissenschaftlicher Kunstlehre ganz oder doch fast ganz; was übrig bleibt, ist im wesentlichen nur die aus unterrichtstechnischen Gründen wünschenswerte und bewährte Unterscheidung von allgemeiner und spezieller Volkswirtschaftslehre. „Wir ziehen heute in beiden Teilen das Verhältnis von Staat, Recht, Sitte und Moral zur Volkswirtschaft in Betracht; aber wir suchen das eine Mal eine abstrakte Durchschnittsvolkswirtschaft vorzuführen oder in theoretischer Begründung unser volkswirtschaftliches Wissen zusammenzufassen, und das andere Mal schildern wir eine bestimmte Zeit oder vielmehr ein bestimmtes Volk, eine Völkergruppe nach ihrer wirtschaftlichen Seite in konkreter Einzelausführung." Dementsprechend bezeichnet er dann die „spezielle Nationalökonomie" als „historisch und praktisch-verwaltungsrechtlich; sie erzählt die neuere volkswirtschaftliche Entwicklung Westeuropas oder eines einzelnen Landes nach Perioden oder Hauptzweigen der Volkswirtschaft; [...] sie ist deskriptiv in ihrer Grundlage [...]" usw. usw. Das ist der Standpunkt eines reinen Historikers. Was wir unter praktischer Ö k o n o m i k verstehen, fällt hier ganz aus der Betrachtung. Was uns aber lediglich als Grundlage
der Kunstlehre dienen
soll, die spezielle Kenntnis der Entwicklung, des Status im jetzigen Zeitpunkt, und der verwaltungsrechtlichen Grundlagen, wird zum einzigen Inhalt der „praktischen Vorlesung". Sie lehrt nicht die Praxis, sondern „erzählt" nur von der Praxis früherer Zeiten und unserer Gegenwart. Bei dieser grundsätzlichen Stellung kann natürlich das Grundproblem: „Ist und wie ist wissenschaftliche Volkswirtschaftspolitik möglich?" auch nicht einmal am fernsten Horizonte erscheinen. Wir erfahren nur, daß in die Schlüsse der speziellen Ökonomik sich „stets als leitende Motive ethische und kulturelle Wertvorstellungen und teleologische Weltbilder über den Gang der menschlichen Geschichte und des Schicksals des betreffenden Staates einmischen", und daß der Volkswirt außer dem historischen und verwaltungsrechtlichen Wissen „praktischer Weltkenntnis" bedarf. Das
Praktische Ökonomik
und
Volkswirtschaftspolitik
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ist alles ganz wahr - aber wessen ethische und kulturelle Wertvorstellungen usw. entscheiden im Konfliktfalle? Wessen „praktische Weltkenntnis" soll des Staates Kompaß sein? Der naive Standpunkt, den Pohle so hart geißelt, tritt hier mit voller Klarheit zutage: die „Vorurteile" des Autors, seine in die wissenschaftliche Arbeit mit eingebrachten Wertungen und Uberzeugungen erscheinen ihm als Axiome der Wissenschaft selbst - oder aber er gesteht, wie Schmoller ausdrücklich tut, die Gleichberechtigung jeder auch entgegenstehenden Wertung und Uberzeugung1 ein und verzichtet damit ebenfalls auf jede objektive Grundlegung der eigenen Meinung und gibt dadurch die Wissenschaft selbst auf; denn von diesem Standpunkt aus ist sie unmöglich. Daß Schmoller - gegen die „Nihilisten", die alle Wertmaßstäbe für rein subjektive Vorurteile halten - den ethischen Imperativ als objektiven Wertmaßstab betrachtet, darin werden wir ihm gern beistimmen; aber wir wissen, daß ihm dieser unbestimmte Maßstab wohl die allgemeine Richtung, aber niemals den exakten Richtungspunkt seiner Volkswirtschaftspolitik geben kann. Es fehlt die genaue Norm, die nur die reinliche Darstellung des „ordre naturel" durch die reine Theorie liefern kann. Eugen von Philippovich schreibt in seinem Grundriß der politischen Ökonomie folgendes: „Regelmäßigkeiten, die wir in der empirischen Volkswirtschaft beobachten, können uns dazu führen, Veränderungen in ihr als ein notwendiges Produkt bestimmter Voraussetzungen zu verstehen. Diese Veränderungen in der Organisation der menschlichen Wirtschaft beruhen aber, wie alles geschichtliche Leben, zu einem großen Teil auf einem planvollen bewußten Eingreifen des Menschen selbst in den Entwicklungsgang. Es machen sich auch in der Gegenwart Bestrebungen geltend, welche eine Änderung der Einrichtungen, die in der Gesellschaft der Güterversorgung und Güterverteilung dienen, herbeiführen wollen. Auch dieses zweckbewußte Eingreifen des Menschen in den Entwicklungsgang der Volkswirtschaft kann wissenschaftlich erforscht, auf seine letzten Gründe und seinen Wert geprüft werden, ja man kann es wohl als die letzte und höchste Aufgabe einer Wissenschaft von der Volkswirtschaft bezeichnen, die Ziele aufzustellen, welchen die Menschen mit den Veränderungen in der Organisation der Gütererzeugung und Güterverteilung zustreben und zustreben sollen. Dies tut die Volkswirtschaftspolitik."2 Hier fehlt die Hauptsache durchaus, die Abgrenzung des Gebietes der Volkswirtschaftspolitik als der gemeinnützigen Tätigkeit von dem der Privatwirtschaftspolitik als der eigennützigen Tätigkeit. Daher paßt die Definition unseres Autors schon auf alle Privatwirtschaft; denn jeder Landwirt, Fabrikant und Erfinder strebt danach, „eine Änderung der Einrichtungen herbeizuführen, die in der Gesellschaft der Gütererzeugung dienen", und schlechthin jeder Einzelne strebt für sich und seine wirtschaftliche Klasse nach einer entschiedenen Veränderung der Güterverteilung zu seinen Gunsten. Aber noch schlimmer: die Definition paßt auf alle außerökonomische Aneignung im großen Stile durch das politische Mittel. Wenn die Kreuzritter die Levante oder die Normannen unter Wilhelm dem Eroberer England besiegten und das Land in Rittergüter verteilten, so war das entschieden eine grundstürzende Veränderung derjenigen „Einrichtungen, die der Güterverteilung dienten", aber es war gewiß keine Handlungsweise, die vor das Forum der Ökonomik gehört, und vor allem keine Volkswirtschaftspolitik. Hiermit wollen wir unsere Revue der bisherigen Literatur abbrechen. Es fehlt überall an der dringend erforderlichen Besinnung auf die Aufgabe und den Umfang der Disziplin, und überall ist die Ursache der beklagenswerte Mangel an theoretischer Vertiefung, in den unsere Wissenschaft aus den schon angeführten Gründen versunken ist. Was die Lehrbücher unter Allgemeine Volkswirt-
1
Pohle, [Die gegenwärtige Krisis in der deutschen Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1911], S. 497.
2
Philippovich, Grundriß der politischen Ö k o n o m i e , Bd. 1, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 9. Auflage, Tübingen 1919, S. 42.
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
schaftspolitik bringen, ist nichts anderes als eine Verlegenheitseinleitung zu dem Stoffe, den die alte Kunstlehre der Kameralistik für künftige Beamte der Staatsverwaltung gesammelt hatte in einer Zeit, in der man von eigentlicher ökonomischer Wissenschaft noch nicht das mindeste ahnte und gar nicht daran dachte, der einfachen Empirie einen wissenschaftlichen Unterbau zu geben oder ihr auch nur ein wissenschaftliches Mäntelchen umzuhängen. Der Stoff ist gewachsen, ist durch die Statistik immer reicher und zuverlässiger geworden, durch die geschichtliche Einzelforschung aufgehellt und durch internationale Vergleichung wertvoller und reicher geworden: aber seine Behandlung ist immer noch die vorwissenschaftlich-kameralistische.
Zur Theorie der weltwirtschaftlichen Beziehungen
[1913]1
Das schmächtige Heftchen strotzt von Inhalt. Eulenburg untersucht mit der Gründlichkeit und Sachkenntnis, die man an ihm kennt, das Problem der Preissteigerung von allen Seiten her. Den Anfang macht eine Untersuchung der Methoden, mit denen ein solches Problem behandelt werden soll. Es wird zutreffend festgestellt, daß man keine Mittel hat, um eine allgemeine Steigerung der Güterpreise festzustellen, weil es sich beim Vergleich zweier auch nur wenig auseinanderliegender Epochen um inkommensurable Größen handelt. Denn die Güter, die den Kollektivbedarf einer Wirtschaftsgesellschaft zusammensetzen, ändern sich ihrer materiellen Natur, ihrer Gestaltgebung und vor allen Dingen ihrer relativen Zusammensetzung nach in kurzer Zeit so stark, daß ein Vergleich ihrer Geldpreise unmöglich wird. Was man vergleichen kann, sind nur bestimmte Güter und Güterkomplexe zu verschiedenen Zeiten. Dafür ist eine immerhin brauchbare Methode die der Indexziffern und Generalindexziffern, wenn sie mit der nötigen Umsicht und Vorsicht ihre Erhebungen anstellt. Hierbei gibt Eulenburg kurze, aber wertvolle Hinweise in bezug auf die Anwendung dieser Methode. Aus dem Vergleich der auf diese Weise gewonnenen Zahlen ergeben sich folgende Tatsachen: Wir haben während des 19. Jahrhunderts zwei große Preiswellen zu verzeichnen: vom Anfang des Jahrhunderts bis etwa 1850 Senkung des allgemeinen Preisniveaus; dann bis etwa 1873 eine sehr starke Steigung, dann wieder eine empfindliche Senkung bis ca. 1896, und seitdem wieder die Steigung, die das Problem dieser Arbeit ausmacht. Und zwar zeigt sich diese Kurve international gleichmäßig in den repräsentativen Ländern: Vereinigte Staaten, Deutschland und England, so daß man nationale Bedingungen, wie etwa die Handelspolitik und soziale Politik, nicht dafür verantwortlich machen kann. Auch die Preisbeeinflussung durch die großen Kapitalsassoziationen der Kartelle und Trusts kann vielleicht für die absolute Höhe der Preisgestaltung in den einzelnen Ländern in Frage kommen, aber nicht für die relativen Differenzen zwischen Preishöhe und Preistiefe; denn in England, dem Freihandelslande, wo die Kapitalsassoziationen nur eine verschwindende Rolle spielen, sind die Ausschläge der Preiskurve die gleichen, wie in den beiden anderen Ländern, hinter deren Schutzzollmauern sich die Kartelle und Trusts so üppig entwickelt haben. Ferner läßt sich aus den Diagrammen feststellen, daß diese große Preiskurve zwar von der Kurve der Konjunktur beeinflußt wird, aber von ihr unabhängige Ursachen haben muß: denn in den Zeiten des Niederganges setzt sich die sinkende Tendenz auch in Hochkonjunkturzeiten durch, und ebenso in Zeiten des Aufstieges die steigende Tendenz, auch in Perioden der Baisse. Eine speziellere Untersuchung ergibt, daß besonders die Rohstoffe im Preise gestiegen sind. Und hier sind es wieder die Rohstoffe der Industrie, namentlich der Textilindustrie, und die Metalle, die noch stärker im Preise
1
[Rezension über die Schrift: Die Preissteigerung der letzten Jahrzehnte, von Prof. Dr. Franz Eulenburg (Vorträge der Gehe-Stiftung zu Dresden Bd. 4, H. 4.). Erstmals erschienen in: Weltwirtschaftliches Archiv. Zeitschrift für Allgemeine und Spezielle Weltwirtschaftslehre, hrsg. von Bernhard Harms, Bd. 1, Jena 1913, S. 437-441.]
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Wirtschaftspolitik
gestiegen sind als die Nahrungsmittel. Der Referent darf hinzufügen, daß diese Preisbildung erwartet werden mußte: in der Regel müssen die Urprodukte stärker im Preise steigen als die Industrieprodukte, denn sie unterliegen dem Gesetz der sinkenden Erträge, während die Industrieerzeugnisse dem Gesetz der steigenden Erträge unterliegen. Nachdem auf diese Weise die Tatsachen erhoben sind, schreitet Eulenburg zur Erörterung der Ursachen vor. Jede Wert- und Preisveränderung einer Ware im Verhältnis zum Gelde kann, so lehrt die Theorie, die verschiedensten Ursachen haben: sie kann auf der Warenseite oder auf der Geldseite oder auf beiden Seiten liegen. Welcher Fall liegt hier vor? Eulenburg untersucht zuerst die Produktionskosten der Waren. Hier stehen sich zwei Tendenzen gegenüber, die preisvermindernde Tendenz der fortschreitenden Erzeugungs- und Transporttechnik und die preiserhöhende Tendenz des Gesetzes der sinkenden Erträge. Eulenburg gelangt zu der Uberzeugung, daß in der Gegenwart die letztere überwiege. Das Optimum der Produktivität sei vielfach infolge der überaus starken Nachfrage überschritten worden. Die „Grenzkosten", die den Wert auf die Dauer bestimmen, seien infolgedessen gestiegen, und so habe sich Geldwert und Preis erhöhen müssen. Er exemplifiziert auf die Produktionsverhältnisse des Eisenerzes, der Baumwolle, des Schlachtviehs, des Getreides, für das die Zeit vorbei sei, wo es ζ. B. wie in Nordamerika in extensivstem Raubbau gewonnen werden konnte. Diese Erscheinung sei international und könne durch nationale Maßnahmen, wie die Zölle und die Preispolitik der Kartelle nur verstärkt werden. Denn das ist natürlich klar, daß unter dem Zollschutz oder Kartellschutz Betriebe mit hohen Grenzkosten konserviert bleiben, die ohne diesen Schutz hätten aufhören oder ihre Produktivkraft zeitgemäß verbessern müssen. Die Steigerung der Nominallöhne der Arbeiter und Beamten, die vielfach als Ursache der allgemeinen Preissteigerung bezeichnet werden, ist viel eher als ihre Folge aufzufassen: mit der Preissteigerung der Unterhaltsmittel sank der Reallohn, und der Nominallohn mußte entsprechend erhöht werden, um einigermaßen den alten Reallohn wiederherzustellen. Wenn Eulenburg nach dieser Untersuchung der allgemeinen Gestaltung der Grenzkosten der Produktion nunmehr zu der Frage übergeht, ob die Nachfrage in der betrachteten Zeit etwa stark genug gestiegen war, um eine Preiserhöhung zu erklären, so ist dagegen, wie er das Problem einmal gestellt hat, selbstverständlich nichts einzuwenden. Und dennoch glaube ich, daß dieser ausgezeichnete Theoretiker hier nicht bis zum tiefsten Grunde des Problems vorgedrungen ist. Ich vermisse in der ganzen Arbeit - und das wird bei der Besprechung der Anschauungen Eulenburgs über die Geldseite der Preisverschiebung noch stärker zu betonen sein - die korrekte Unterscheidung zwischen dem Preise als dem gegebenen vorübergehenden Marktpreis des Produktes oder Produktenkomplexes und dem Werte, d. h. dem durchschnittlichen, bei Fortbestand der gleichen Produktionsverhältnisse stationären Preise dieses Produktenkomplexes. Wenn Eulenburg diese Unterscheidung berücksichtigt hätte, so hätte er gesehen, daß die Grenzkosten des Produktes auf den Wert, die das Angebot übersteigende Nachfrage aber nur auf den Preis influieren, und das Problem hätte sich doch wohl noch klarer darlegen lassen. Nun, da hier nur vom Preise, aber niemals vom Werte die Rede ist, müssen wir uns damit begnügen, mit dem Autor festzustellen, daß die betrachtete Periode sich charakterisiert durch eine ungeheuere Ausweitung der Nachfrage. Ihr Beginn bedeutet den entscheidenden Übergang vom Nationalwirtschafts- zum Weltwirtschaftsmarkt. Der Welthandel, der in den Jahren 1881-1895 stieg von 64 auf 71 Milliarden Mark, d. h. um 11 %, stieg von 1896 bis 1910 von 76 auf 132 Milliarden Mark, d. h. um 77 %, eine relative Steigerung auf das Siebenfache.1 Dieser ungeheueren Extensivierung des Marktes und seiner Nachfrage nach Produkten, seiner Erstreckung über den gesamten Kreis der Weltwirtschaft, auf Südamerika, Ostasien, Australien usw.
1 Eulenburg, Die Preissteigerung der letzten Jahrzehnte, Leipzig 1912, S. 46.
Z«r Theorie der weltwirtschaftlichen
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Beziehungen
steht nun eine ebenso gewaltige Intensivierung
gegenüber. Die Bevölkerung hat sich auf der Fläche
in einem unerhörten Maße verdichtet, und ihr Bedarf pro Kopf nach Waren, die der Markt liefert, dasjenige, was ich vorgeschlagen habe als „Marktbedarf" zu bezeichnen, hat sich durch die kolossale Urbanisierung der Bevölkerung einerseits und durch die Steigerung ihrer Kaufkraft andererseits sehr vermehrt. Der Städter muß nicht nur alles das auf dem Markte kaufen, was dem Bauern im eigenen Betriebe zuwächst, sondern sein Bedarf ändert sich auch qualitativ,
er braucht mehr Fleisch
und weniger Vegetabilien. Auch sonst hat der Bedarf vielfach eine andere Richtung eingeschlagen: wir verwenden ζ. B. heute in steigendem Maße Eisen, wo früher Holz zur Verwendung gelangte, und dieser Rohstoff ist nur bei steigenden Grenzkosten zu erlangen. Außerdem ist infolge des höheren Einkommens der Individualbedarf vergrößert worden, d. h. der Kollektivbedarf derselben Kopfzahl auf der gleichen Fläche ist gestiegen: alles in allem eine beträchtliche Intensivierung des Bedarfs und Vergrößerung der Nachfrage. Dazu kommt ein anderes: W o das Nominaleinkommen der Bevölkerung steigt, da sinkt der „innere Wert", der Grenznutzen, der Geldeinheit, und höhere Preise können bewilligt werden. Nun ist das Nominaleinkommen in der Tat gestiegen. Nach der Preußischen Steuerstatistik ist das Einkommen zwischen 1892 und 1910 von 5,7 auf 13,7 Milliarden Mark, das versteuerte Vermögen von 62 auf 101 Milliarden Mark gestiegen. Allerdings ist die Einkommensvermehrung zum Teil die Folge der Teuerung. Die Löhne und Gehälter mußten erhöht werden. Und ferner muß man berücksichtigen, daß die höheren Löhne nicht ohne weiteres ein höheres durchschnittliches Einkommen der Massen bedeuten; denn es sind gewiß vielfach gelernte Arbeiter mit höheren Löhnen durch ungelernte Arbeiter mit niedrigeren Löhnen ersetzt worden. Dennoch scheint Eulenburg die Zunahme des durchschnittlichen Wohlstandes für Deutschland als gesichert anzunehmen. Nach der Warenseite des Austauschverhältnisses ist nun auch die Geldseite ins Auge zu fassen. Ist der äußere Tauschwert des Geldes gefallen? Das ist die Frage, die sich jetzt stellt. Eine Vermehrung des Goldvorrats hat unbedingt in sehr großem Maße stattgefunden. In zwanzig Jahren hat sich nach Eulenburg der greifbare Vorrat an Münzgold verdoppelt, von etwa 15 auf etwa 30 Milliarden Mark. Nach der alten naiven Quantitätstheorie müßte danach der äußere Geldwert entsprechend gesunken sein; aber diese naive Quantitätstheorie wird abgewiesen. Ebenso wird mit vollem Rechte festgestellt, daß der steigende Diskont nichts für den Geldwert beweist; es ist natürlich der Diskont nichts anderes als der Ausdruck des Verhältnisses zwischen der Nachfrage und dem Angebot von Kapital,
nicht aber von Geld. Im übrigen sind doch gewisse Anmerkungen zu der Auffassung zu
machen, die Eulenburg vom „Geldmarkt" hat. Das, was man Geldmarkt nennt, hat mit dem Gelde überhaupt nichts zu tun, sondern ist lediglich der Markt der kurzfristigen Kapitalforderungen, dessen, was ich vorgeschlagen habe als „flüssiges Kapital" zu bezeichnen. Jedenfalls ist Eulenburg insofern recht zu geben, als er in Ubereinstimmung mit vielen anderen zugibt, daß vermehrte Goldproduktion die Nachfrage und den Warenpreis vermehrt und dadurch die gesamte Industrie stark anregt. Ehe ich zu den hier niedergelegten Anschauungen meine Bemerkungen mache, will ich die Inhaltsangabe des interessanten Schriftchens zu Ende führen. Eulenburg kommt jetzt zu den Wirkungen dieser Preissteigerung. Er stellt fest, daß namentlich für alle Posten, die den normalen Haushalt zusammensetzen, die Preise fast um ein Fünftel gestiegen sind. Nun sind allerdings auch Lohn und Einkommen gestiegen, und für England ist nach Eulenburg sicher, daß diese Steigerung die Ausgaben überwogen hat, also eine Uberkompensation stattgefunden hat, so daß der Reallohn in der Tat, wenn auch schwächer als der Nominallohn, gestiegen ist. Für Deutschland reichen nach seiner Ansicht die vorliegenden Daten für eine Feststellung dieses Verhältnisses nicht aus. Die Prognose, die Eulenburg gibt, beruht auf seiner Diagnose. Wir stehen an einem Wendepunkt der Wirtschaft, und zwar sind wir mit vollen Segeln in die Weltwirtschaft
hineingesteuert. Ihr charakteristisches
Kennzeichen ist die Verwandlung des Leihkapitals in Anlagekapital, der kurzfristigen in langfristige
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Investitionen. Die Rohstoffe werden trotz aller Verbesserungen der Technik immer teuerer werden. Wenn es nicht zu einem vollkommenen Stillstand der Bevölkerungszunahme kommt, worüber man heute noch nicht urteilen kann, haben wir es augenscheinlich mit einer dauernden Preissteigerung zu tun. Als Maßnahmen, die für Deutschland zur Zeit in Frage kommen, empfiehlt er namentlich Maßnahmen der Zollpolitik, vor allen Dingen Erleichterung der Einfuhr von Fleisch, und eine Steuerpolitik, die die notleidenden unteren Klassen im Gegensatz zu den oberen begünstigt; ferner verspricht er sich viel von einer volksfreundlichen Tarifpolitik der Eisenbahnen. Wenn es gestattet ist, noch zu der theoretischen Grundlage dieser ganzen Betrachtungen ein Wort zu sagen, so möchte ich hier wiederholen, daß namentlich bei der Betrachtung der Geldseite des Preisproblems, das uns hier vorliegt, wieder die Verwechslung zwischen Wert und Preis, hier des Goldes, zutage tritt, die ich schon vorhin angemerkt habe; übrigens eine Verwechslung, die sich meiner Erfahrung nach bei allen, sogar den ausgezeichnetsten Vertretern der Geldwerttheorie und Geldtheorie überhaupt findet. Eulenburg würdigt die Produktionskosten des Goldes durchaus als denjenigen Umstand, der den Wert des Goldes bestimmt, glaubt aber, daß er von hier aus in eine verbesserte Quantitätstheorie hinüberleiten kann. Das erscheint mir als irrtümlich. Die Quantität des zirkulierenden Goldes im Verhältnis zu der zu bewältigenden Warenmasse, unter Berücksichtigung der Geldsurrogate und der Geschwindigkeit des Umlaufs, kann immer nur auf den Preis, aber niemals auf den Wert des Goldes influieren; der Wert des Goldes wie der jeder anderen Ware hängt ab von den Produktionskosten des Grenzproduktes, d. h. des letzten Produktes, das der Markt noch braucht. Nun ist allerdings das Gold eine Ware von einem wesentlich anderen Charakter als die anderen Waren, und dadurch modifizieren sich die Gesetze, die seinen Preis und Wert bestimmen, einigermaßen. Während nämlich alle anderen Waren in ungefähr derselben Geschwindigkeit, wie sie auf dem Markte erscheinen, durch die Konsumtion aus dem Markte herausgenommen werden, verschwindet das Gold nur in wenigen Fällen und in geringem Maße aus der Zirkulation, in die es einmal als Münze hineingelangt ist; und infolgedessen bestimmt der vorhandene Vorrat auf viel längere Zeit und in viel höherem Maße als bei allen anderen Waren den Preis (nicht den Wert), so daß die Ausschläge, die der Preis um den Wertmittelpunkt macht, viel langsamer, in viel längeren Wellenlinien verlaufen. Darum aber muß man doch zwischen Preis und Wert auf das genaueste unterscheiden. Der Wert des Goldes hängt ebenfalls von den Kosten des Grenzproduktes ab, und, wenn man die Frage vorgelegt bekommt, ob die Teuerung etwa auf eine Depreziation des Goldes aus dem Grunde zurückzuführen ist, weil sein Wert (nicht sein Preis) gesunken ist, so müßte man seine Bemühungen auf die Aufhellung des Tatbestandes der Produktionskosten richten. Das hat Eulenburg zu tun versäumt; und doch glaube ich, daß, wenn es auch nicht möglich sein wird, zu vollkommen exakten Feststellungen zu gelangen, es doch wohl möglich sein dürfte, durch eine privatwirtschaftliche Betrachtung der Rentabilität und eine volkswirtschaftliche Betrachtung der Produktivität der Goldproduktionsbezirke schätzungsweise dem Problem näher zu kommen. Es wäre sehr wünschenswert, daß ein so sehr mit den einschlägigen Verhältnissen vertrauter Autor, wie Eulenburg, diese kleine Skizze durch Untersuchungen nach dieser Richtung hin vollenden und dadurch erst eigentlich brauchbar machen würde. Ehe wir nicht wissen, ob das Gold im Verhältnis zu anderen Waren in seinem Werte, d. h. in seiner Kaufkraft auf die Dauer und im Durchschnitt aus dem Grunde gefallen ist, weil seine Produktionskosten gesunken sind, eher können wir dem gesamten Komplex, der uns hier beschäftigt, niemals mit Sicherheit seine Geheimnisse abgewinnen.
Zur Geldtheorie1 [1914]2
In unseren zeitgenössischen Schriften über die Geldtheorie finden sich fast überall, selbst in den besseren und besten Arbeiten, die folgenden elementaren Irrtümer und Verwechslungen, seltener vereinzelt, in der Regel alle zusammen: Das erste ist die Verwechslung von Geldwert und Geldpreis. Während man sonst in der Regel den Wert irgendeiner Ware als den Preis auf die Dauer und im Durchschnitt scharf unterscheidet von dem Preis derselben Ware als dem einmaligen Marktpreis (jenes der natural price oder natural value, dieses der market price oder prix courant der älteren Theoretik) läßt man diesen Unterschied beim Gelde häufig außer acht, obgleich er hier ebenso wichtig ist. Wahrscheinlich ist einer der Gründe dafür, daß der Ausdruck „Geldpreis" regelmäßig gebraucht wird, nicht für den Warenpreis des Geldes, sondern für den Preis irgendeiner Ware, ausgedrückt in Geld. Um diese Verwirrungen zu vermeiden, sollte man sich daran gewöhnen, vom „Werte bzw. dem Preise des Geldes" zu sprechen. Das zweite ist die kaum je vermiedene Vernachlässigung des Monopolwertes des Geldes. Obgleich man wohl weiß, daß jede Ware über ihren „natürlichen Wert" dann hinausgetrieben und unter Umständen auch auf lange Zeit hinausgetrieben werden kann, wenn ihr Produzent ein Monopol genießt, d. h. wenn die freie Konkurrenz bei der Produktion der betreffenden Ware dadurch ausgeschlossen ist, daß ihre Produktion aus natürlichen Gründen („natürliches Monopol") oder rechtlichen Gründen („rechtliches", „verliehenes Monopol") den Außenstehenden unmöglich gemacht ist: und obgleich man immer wieder betont, daß auch Geld eine „Ware" sei, scheint man doch sehr selten daran gedacht zu haben, daß auch diese Ware durch Ausschluß der Konkurrenz über ihren natürlichen auf einen Monopolwert getrieben werden kann. Und doch lassen sich daraus viele Tatsachen verstehen, die ohne diese einfache Erwägung der gewundensten Erklärungen bedürfen. Wenn man ζ. B. bedenkt, daß der Staat als Monopolist der Geldproduktion fungiert, so ist nichts leichter verständlich als die Tatsache, die zu den wildesten Theorien Anlaß gegeben hat, daß unterwertiges Metallgeld (für ungenügend gedeckte Noten gilt das gleiche) vollen Nennwert haben kann, wo die Freiprägung nicht besteht, d. h. die Konkurrenz rechtlich ausgeschlossen ist, und wo der Staat wie ein rationeller Monopolinhaber handelt, d. h. sein Angebot von Geldzeichen immer unter der Nachfrage danach hält. Da eine gewisse Menge von Geld im entwickelten Tauschverkehr als dessen Medium so unentbehrlich ist, wie eine gewisse Menge von Fuhrwerken im großstädtischen Straßenverkehr, so versteht man leicht, daß eine un-
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Paul Gerngroß (Verwaltungsrat der A. Gerngroß A G , Wien), Beiträge zu einer wirtschaftlichen Theorie des Geldes, Wien/Leipzig 1913, 37 Seiten. - [Weissleder], Das Reformgeld v o n Silvio Gesell. N a c h seinem Buche „Die neue Lehre vom Geld und Zins", wiedergegeben von einem Anhänger der Gesellschen Theorie des Geldes, 2. verm. Auflage, (Problemhefte des deutschen Kulturbundes für Politik, Heft 18), Leipzig 1913, O t t o Lang, Tauschgeld und Wirtschaftsgeld. Ein Vorschlag samt Begründung, Wien 1913, 77 Seiten.
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[Erstmals erschienen in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 3, Heft 1 (1914). Originalquelle des vorliegenden Textes: Oppenheimer, Wege zur Gemeinschaft. Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. 1, München 1924, S. 398-410; A.d.R.]
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Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
terwertige Münze ζ. B. gerade so den doppelten Kurswert haben kann, wie während eines Kutscherstreiks eine Droschke nur für die doppelte Taxe zu haben ist. Drittens wird häufig vergessen, daß man den Wert oder Preis einer Ware nur ausdrücken kann in bestimmten Mengen einer anderen Ware. Daraus folgt ζ. B. der groteske Schnitzer, daß man den Wert des Goldgeldes für konstant hält, weil der Staat aus einem Kilo Feingold immer dieselbe Anzahl von Mark, Frank oder Pfund ausprägt. Ebenso gut könnte man auch den Wert eines Hektoliters Bier für konstant halten, weil man immer zweihundert Halblitergläser daraus schänkt. Viertens besteht der unausrottbare Irrtum, Geld sei irgendwie „Kapital". Geld ist aber in keinem wissenschaftlichen Sinne jemals Kapital. Geld ist erstens niemals „Kapitel im volkswirtschaftlichen Sinne", d. h. „produziertes Produktionsmittel". Es ist weder Werkzeug, noch Rohstoff, noch Hilfsstoff irgendeiner Güterproduktion. Wo es scheinbar als Rohstoff einer solchen fungiert, ζ. B. in einer Goldschmiedewerkstatt, oder in der Geldschmelze eines Arbitrageurs, da hat es seinen Charakter als „Geld" bereits verloren, ist zum Goldplättchen geworden, das zufällig und, ohne daß es darauf ankäme, eine bestimmte Prägung aufweist. Man kann für Geld produzierte Produktionsmittel kaufen, wie man eine Zigarre dafür kauft, aber dann hat man eben das Geld nicht mehr, sondern das „Kapital". Geld ist aber ebensowenig jemals „Kapital im privatwirtschaftlichen Sinne", d. h. eine Profit oder Zins bringende Anlage. Geld in noch so großen Massen, als Hort aufgeschatzt, bringt weder Profit noch Zins. Der Geldbesitzer kann „Privatkapital" kaufen, aber dann hat nicht mehr er, sondern der Verkäufer das Geld. Man sollte sich daran gewöhnen, nicht mehr von „Kapital", sondern von „Kapitalstücken" zu sprechen, wie man ja auch nicht von „Grund", sondern von „Grundstücken" spricht. Dann ist es ohne weiteres klar, daß man Geld nicht „anlegt", wenn man Aktien, Hypotheken, Obligationen usw. erwirbt, sondern daß man Geld fortgibt, um Kapitalstücke dafür zu kaufen, ganz so, wie man Geld fortgibt, wenn man ein Grundstück dafür kauft. Hier besteht eine Verwirrung, die kaum noch gesteigert werden kann: erscheint doch derjenige, der Geld anbietet, um Kapitalstücke dafür zu erwerben, im gewöhnlichen Geschäfts- und Sprachgebrauch als derjenige, der „Kapital" anbietet, während er es in Wirklichkeit nachfragtt Und erscheint doch umgekehrt derjenige, der „Geld nachfragt", indem er ζ. B. eine Hypothek auf sein Grundstück aufnimmt, oder seine Fabrik in eine Aktiengesellschaft verwandelt, deren Anteile er an der Börse zu verkaufen versucht, als derjenige, der „Kapital nachfragt", während er es in Wirklichkeit anbietet. Eine Wurzel dieser Verwirrung liegt darin, daß in unsere zumeist von Juristen traktierte Wissenschaft eine Kategorie des Geldwesens eingeschmuggelt worden ist, die sie gar nichts angeht, die wohl juristisch, aber durchaus nicht ökonomisch relevant ist. Das ist die Eigenschaft des Geldes, „Zahlungsmittel" zu sein. Weil der Gelddarleiher den Rechtsanspruch hat, von dem Entleiher nach Ablauf der Leihefrist die gleiche Summe zurückzufordern, glaubt man, er habe sein Geld gar nicht wirklich fortgegeben. Das ist aber, vom Standpunkt der Ökonomik aus gesehen, ganz gleichgültig und schwer irreführend. Für sie ist das Geld nichts anderes als Aufschatzungs- und Tauschmittel und Wertmesser, und für sie gibt es keine anderen Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Wirtschaftsgesellschaft als den unmittelbaren Tausch, auf der höheren Stufe in der Geldform, gemessen an der Geldelle. Wer ein Darlehen gibt, einen Wechsel, eine Aktie oder Hypothek kauft, tauscht Geld gegen ein Kapitalstück - und tauscht, wenn der Schuldner zahlungsfähig ist, am Verfalltage sein Kapitalstück gegen Geld zurück. Ob dieses Doppelgeschäft aufgrund einer rechtlichen Verpflichtung vorher festgemacht war oder nicht, interessiert die Ökonomik als solche gar nicht. In Lehrbücher der Ökonomik gehört die Eigenschaft des Geldes, als Zahlungsmittel zu fungieren, nur insoweit hinein, wie auch andere, rein juristische Kategorien hineingehören: als durch die Rechtsordnung gegebene Voraussetzungen des gesellschaftswirtschaftlichen Ablaufs, aber nicht als Teile seiner Funktion.
Z«r Geldtheorie
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Die Verwirrung von „Kapital" und „Geld" erreicht ihren höchsten Grad fünftens in der Gewohnheit der Börsenkreise, eine bestimmte Art von Kapitalstücken als „Geld" unmittelbar zu bezeichnen, nämlich die kurzfristigen Anlagen. Man spricht von ihrem Markte als dem „Geldmarkte", man spricht von ihnen selbst als „täglichem Geld" oder „Monatsgeld" usw. Diese Kapitalstücke mit kurzer Kündigungsfrist sind genau so wenig „Geld", wie alle anderen Kapitalstücke: man kauft und verkauft sie gegen Geld wie langfristige. Weil sie aber „Geld" heißen, deshalb werden sie fast regelmäßig auch für Geld gehalten, und diese Verwirrung hat bisher eine zureichende Geld- und Geldwerttheorie völlig unmöglich gemacht. Namentlich folgt daraus das immer wiederholte Bemühen, den Diskont, d. h. den Zins dieser kurzfristigen Kapitalstücke, als Indikator des Geldwertes zu benutzen. Das ist ganz unmöglich. Der Diskont zeigt nichts anderes an als das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Markte dieses „flüssigen Kapitals", wie ich vorgeschlagen habe, es zu nennen; überwiegt die Nachfrage, dargestellt durch Geld, Güter, langfristige Kapitalstücke, Grundstücke usw. das Angebot, so steht der Diskont hoch, im umgekehrten Falle tief. Wie hoch der Wert des Geldes zur gleichen Zeit ist, ist für den Prozeß völlig gleichgültig. Bei hohem Wert des Geldes steht der Preis für alle gegen Geld verkäuflichen Wertdinge tief, bei niederem Wert des Geldes hoch: aber auf den Diskontsatz influiert er niemals. Wohl aber influiert unter bestimmten Umständen auf den Diskontsatz der Preis des Geldes. U m das zu verstehen, muß man die sechste Verwirrung verstehen, die in diese Probleme immer einspielt, die Verwirrung zwischen Kreditgeldverkehr und Kreditverkehr. Der Kreditgeldverkehr ist der durch Wechsel, Konnossements und zum Teil durch Schecks vermittelte, über Zeit und Raum gespannte Tausch von Waren, der in normalen Zeiten am Geld nur gemessen, aber durch Geld nur zum allerkleinsten Teile vollzogen wird; es ist der Verkehr zwischen den Produzenten von Gütern und Diensten, die einer den anderen mit ihren Bedürfnisbefriedigungsmitteln versorgen. Der Kreditverkehr aber ist der Darlehensverkehr im eigentlichen Sinne. Ich kann auf diese Dinge hier nicht näher eingehen: man wird mich verstehen, wenn ich sage, daß der Kreditgeldverkehr ζ. B. durch den Kundenwechsel, der Kreditverkehr ζ. B. durch den Finanzwechsel repräsentiert wird. juristisch sind beide identisch, so verschieden sie auch immer ökonomisch sind. Jeder Kundenwechsel wird in Krisenzeiten zum Finanzwechsel, nämlich dann, wenn infolge der mit der kapitalistischen Organisation untrennbar verbundenen Uberproduktion der Preis der Ware tief stürzt. Dann reißt der Kreditgeldverkehr plötzlich ab, weil der Wechsel, den irgendein Glied der großen Kette für sein Produkt auf seinen Nachfolger ziehen kann, nicht mehr den Betrag erreicht, den er selbst auf seine Wechselverpflichtung seinem Nachfolger schuldig geworden war. Damit ist der Zusammenhang aller Tauschenden zerrissen, und das Geld, das bisher nur als Wertmesser fungiert hatte und geradesowenig in den Verkehr selbst eingetreten war, wie der Meterstab in den Verkehr des Schnittwarenhändlers, schlägt auf einmal in seinen Charakter als Ware um. Jeder muß Geld haben, um seine Wechsel zu bezahlen: die Nachfrage danach steigt enorm; wer Geld hat, hält es ängstlich fest: das Angebot sinkt enorm; unter diesen Umständen steigt - nicht sein Wert, sondern sein Preis ungeheuer, und d. h., daß alle gegen Geld verkäuflichen Dinge ungeheuer - nicht im Werte, sondern im Preise fallen. Zu diesen Dingen gehören nun auch alle Kapitalstücke, auch die langfristigen, fest verzinslichen Anlagen. Sie fallen im Preise, d. h., ihr Ertrag, der Zins, steigt: ein dreiprozentiger Konsol bringt zum Kurse von 75 vier Prozent Zinsen. Wenn aber der Ertrag der fest verzinslichen langfristigen Anleihen steigt, so muß auch der Diskont der kurzfristigen steigen, denn beide stehen in dem bekannten kinetischen Zusammenhange, den hier näher auseinanderzusetzen überflüssig ist. Nur drückt sich diese Verschiebung hier in anderer Form aus. Während bei den fest verzinslichen langfristigen Anleihen der Kurs, der Kapitalisierungswert, fällt, und erst dadurch mittelbar der Ertrag einer auf ihren Ankauf verwandten Sum-
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Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
me steigt, wächst bei kurzfristigen Anleihen der Ertrag, d. h. der Diskontsatz unmittelbar, weil ja hier der Kurswert nicht fallen kann, solange der Schuldner als fähig erachtet wird, die Summe am Verfallstage nach ihrem Nennwert zurückzugeben. Auf diese Weise hängt der Preis - aber nicht der Wert - des Geldes in Zeiten, die einen Ausnahmecharakter tragen, in Krisenzeiten, mit dem Diskontsatz dynamisch zusammen. Es erschien uns richtig, diese allgemeinen Sätze der Besprechung der drei Schriftchen vorauszusenden, die uns vorliegen. Die Schrift des Verwaltungsrates Herrn Paul Gerngroß zeigt, daß nicht jeder Kaufmann, der den Beruf zu einem Ricardo in sich fühlt, auch zu einem solchen auserwählt ist. Seine Arbeit ist nur dadurch interessant, daß sie, wie in den Spiegeln eines Vexierkabinetts, die sämtlichen Verwirrungen ins Groteske steigert und verzerrt, die wir soeben versucht haben, darzustellen. Schon die meisten Vertreter der Wissenschaft tappen mit einer gewissen Hilflosigkeit an diesen Problemen herum, die man auch nicht einmal in ihren Anfangsgründen begreifen kann, solange man nicht zwischen den beiden Kapitalbegriffen aufs schärfste, auch terminologisch, unterschieden hat, und solange man sich nicht von der fetischistischen Vorstellung befreit hat, daß Geld Kapital sei. Diese Hilflosigkeit wird bei Gerngroß nahezu mitleiderregend. Der Geschäftsmann und, wie es scheint, gar kein übler Geschäftsmann, quält sich vergeblich damit, die überlieferten Begriffe der in diesem Punkte selbst steuerlosen Wissenschaft mit seinen Erfahrungsbegriffen in Einklang zu bringen, und kommt zu den lächerlichsten Vorstellungen, die schließlich darin gipfeln, daß er längst überholte Irrtümer der merkantilistischen Auffassung aufnimmt. Die Schrift hat gar keinen anderen Wert als einen symptomatischen, nämlich aufzuzeigen, wie unerhört die Begriffsverwirrung auf diesem Felde ist, und wie weit unsere Wissenschaft in ihrer gegenwärtigen beklagenswerten theoretischen Verfassung davon entfernt ist, den Männern des praktischen Lebens auch nur die allerallgemeinste Richtung anzugeben. Auf einem nicht ganz so tiefen Niveau steht die Geldtheorie von Silvio Gesell. Gesell glaubt, eine Entdeckung gemacht zu haben: den „Urzins". Das ist eine Tauschgebühr, die überall in der Welt, seitdem das Naturalgeld (Kaurimuscheln, Vieh, Salz usw.) durch das Edelmetallgeld ersetzt worden ist, der Warenbesitzer dem Geldbesitzer bewilligen muß, sobald er mit ihm tauscht. Edelmetallgeld ist nämlich eine Ware, die praktisch unzerstörbar ist, während alle anderen Waren durch den Zahn der Zeit leiden, sich entwerten. Infolgedessen hat der Geldbesitzer niemals Eile, seine Ware loszuwerden, während der Besitzer aller anderen Produkte große Eile hat, sie loszuschlagen, weil jede Verzögerung des Austausches sie entwertet und ihm Schaden bringt. Daher erhält auch der Edelmetallbesitzer beim Tausch immer mehr als den wahren Gegenwert: und dieses Plus ist der Urzins, der bei jedem Tauschakt zwischen Ware und Geld zustande kommt, abgesehen von der Risikoprämie, und auch außerhalb eigentlicher Monopole. Aus diesem Urzins ist der Darlehnszins entstanden, und zwar sowohl für Geld-, wie auch für Warendarlehen. Das ist die Geldtheorie Gesells. Was ihr vor allen Dingen fehlt, ist die Besinnung darauf, was denn eigentlich der wahre Gegenwert des Geldes ist; mit anderen Worten, das Problem des absoluten Wertes wird (wenigstens in dieser Darstellung seines Schülers) nicht einmal gestreift. Und solange dieses Problem nicht seine Lösung gefunden, solange man immer nur von den Preisen, nicht aber vom Werte der gegeneinander ausgetauschten Dinge handelt, ist offenbar keine Möglichkeit gegeben, auch nur im allgemeinsten festzustellen, daß der Geldbesitzer mehr erhält, als ihm gerechterweise zukäme, und der Warenbesitzer weniger. So wird denn auch das besondere Problem des Wertes des Edelmetalls respektive des gemünzten Geldes nicht angeschnitten, und doch liegt hier die einzige Möglichkeit, über den grundlegenden Gedanken zu einer Entscheidung zu kommen. Gesell scheint auf dem Standpunkt der ältesten, namentlich italienischen Geldwerttheoretiker zu stehen, daß das Geld seinen Wert nur „durch
Zur
Geldtheorie
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Meinung" respektive durch staatliche Festsetzung, nicht aber kraft eines inneren Wertes seines Metallgehaltes besitze. Diesen Standpunkt hält Referent in jeder seiner Formen, auch in der neuesten Knappschen Formel, für durchaus irrig: er konnte nur aufkommen, weil man bisher die beiden in der Einführung dargelegten Fehler nicht vermied: erstens nicht zwischen Preis und Wert des Geldes zu unterscheiden, und zweitens nicht zu bedenken, daß auch das Geld unter Umständen über seinen „natürlichen" auf einen Monopolwert hinaufgetrieben werden kann. Das Edelmetall unterliegt offenbar grundsätzlich genau den gleichen Gesetzen wie jedes andere Produkt: es hat als natürlichen Wert seinen „Grenzbeschaffungswert", d. h. den Wert der letzten, mit den größten Kosten zu Markte gebrachten Einheit, die der Markt noch aufzunehmen beliebt, weil er sie noch braucht. Diese Auffassung kann vielleicht bestritten werden, obgleich sie mir alle Tatsachen der Wirtschaftsgeschichte auf das zwangloseste zu erklären scheint. Aber man muß sich darüber klar sein, daß es vorläufig überhaupt keinen anderen Standpunkt gibt, von dem aus die Phänomene im allgemeinen auch nur den Anfang einer Erklärung finden können; und man muß sich in specie darüber klar sein, daß die uns hier interessierende Gesellsche Theorie völlig in der Luft schwebt, wenn man keinen objektiven Maßstab für den Wert des Geldes einerseits und der Waren anderseits besitzt. Denn, um es zu wiederholen: Wie soll festgestellt werden, daß auf einer Seite der Uberwert des „Urzinses" gewonnen wird, wenn man den wahren oder gerechten Wert gar nicht kennt?! Es scheint mir also, daß Gesell es sich gefallen lassen muß, wenn sich seine Kritiker solange auf den Boden dieser Theorie vom immanenten Wert des Geldes stellen, bis er eine andere präsentiert haben wird. Und von diesem Standpunkt aus muß seine Auffassung zurückgewiesen werden. Aus mehreren Gründen: 1. Es ist durchaus nicht wahr, daß nur der Warenbesitzer, aber nicht der Geldbesitzer dem „Angebotszwang" unterliegt. Der Geldbesitzer, der Geld nicht essen, sich mit Geld nicht kleiden und Geld nicht als Werkzeug für seine Produktion verwenden kann, unterliegt in der Regel dem „Nachfragezwang" nach den realen Bedürfnisbefriedigungsmitteln, und das bedeutet für ihn nichts anderes als eben den Angebotszwang seines Geldes. Es gibt Fälle genug, wo der Nichts-alsGeldbesitzer seinerseits gezwungen ist, eine Tauschgebühr zu bezahlen. 2. Vor allen Dingen aber ergibt sich aus der Theorie vom objektiven Wert des Geldes als dem Grenzbeschaffungsaufwande die Unmöglichkeit der Gesellschen Auffassung in einer Gesellschaft der freien Konkurrenz, von der allein er handelt. Gold und Silber sind beliebig reproduzierbare Güter, und ihre Produktion wird solange ausgedehnt werden, bis das Einkommen des (unter den ungünstigsten natürlichen Bedingungen arbeitenden) Grenzproduzenten gleich ist dem Einkommen aller anderen Produzenten von gleicher Qualifikation und gleicher sozialer Lage zu Monopolverhältnissen. Würde das Einkommen der Gold- oder Silberproduzenten längere Zeit hindurch höher sein als das der übrigen Produzenten, so würde die Edelmetallgewinnung auf unergiebigere Fundstellen sich ausdehnen, die Grenzbeschaffungskosten würden steigen, und die Äquivalenz des Austausches sich auf diese Weise herstellen. Wir müssen daher zu dem Ergebnis gelangen, daß die Gesellsche Behauptung des Urzinses nicht nur materiell unbeweisbar ist, sondern auch aus den möglichen theoretischen Prämissen formal nicht abgeleitet werden kann, wobei festzuhalten ist, daß Gesell selbst sie nicht etwa aus ausreichenden Prämissen deduziert, sondern lediglich postuliert hat. Somit wird man dem Vorschlage, zu dem Gesell von seiner Theorie aus kommt, nur mit großer Skepsis gegenüberstehen. Er will ein neues Geld schaffen, das ebenso dem „Angebotszwang" unterliegt, wie die durchschnittliche Ware, und zwar, weil es sich ebenfalls im Laufe der Zeit entwertet. Der Staat soll ein metallisch nicht gedecktes Papiergeld mit Zwangskurs ausgeben, das jede Woche 1 %o, im Laufe des Jahres also 5,2 % seines Nominalwertes verliert. Dieses Geld wird jährlich neu
Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
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ausgegeben, derart, daß der Staat je 100 Mark oder Pfund des vorjährigen Geldes am 1. Januar des folgenden Jahres mit 94,80 Mark oder Pfund in neuem Papiergeld einlöst. (Gesell legt sich nicht durchaus auf diesen Devaluierungssatz fest, sondern will über die Höhe des Abschlages mit sich reden lassen; hier soll die Praxis allmählich das richtige Verfahren herausfinden; sein Vorschlag ist also in dieser Beziehung nur als ein vorläufiger und annähernder zu betrachten.) Durch dieses Geld, das nun in der Tat dem „Angebotszwang" einigermaßen unterliegen würde, weil jeder Geldbesitzer sich beeilen würde, es so schnell wie möglich loszuwerden, glaubt Gesell alle Schmerzen der kapitalistischen Wirtschaft heilen und vor allen Dingen ihr unheimlichstes Symptom kurieren zu können, die
Wirtschaftskrisen.
Gesell ist nicht der erste, der im Gelde und seinen Funktionen die Ursache aller sozialen Übel gesucht hat, und nicht der erste, der sich bemüht hat, unser vermeintlich sozialschädliches Geld durch ein neues zu ersetzen. Die Owewschen Labour-Notes, die geplanten Noten der Proudhonschen Volksbank usw. sollten das gleiche leisten, wie das „physiokratische Geld" Gesells; und immer wieder tauchen ähnliche Pläne auf. Ich will nur an das „ehrliche Geld" (honest money) jenes amerikanischen Schriftstellers erinnern, der wieder eine andere Lösung vorschlägt, nämlich ein Geld, dessen Wert durch eine sehr komplizierte Art von Generalindexrechnung festgestellt und durch eine Staatsbank dauernd mit dem durchschnittlichen Werte der anderen Waren in feinster Ubereinstimmung gehalten werden soll. Hier ist es ebenfalls das Problem der Wirtschaftskrisen, das auf diese Weise praktisch gelöst werden soll. Auch hier liegen der Theorie einige der in der Einleitung dargelegten elementaren Verwirrungen zugrunde, die Verwirrung von Kapital und Geld einerseits und die Verwirrung von Kreditgeldwirtschaft und Kreditwirtschaft anderseits. Der Grundirrtum aber ist der, daß die Krisen entstehen, weil nicht genug Geld da ist: „Der Grund für die Entstehung einer Wirtschaftskrise liegt also auf Seiten des Geldes", sagt Gesell. Wie die Vorstellung zustande kommt, ist leicht verständlich. Bei Ausbruch einer Krisis fehlt Geld auf das schmerzlichste, wird leidenschaftlich begehrt und erzielt einen ungeheuren Preis (d. h. die Waren stürzen ungeheuer im Preise); und Kapital, vor allem das „flüssige Kapital", erhält einen ungeheuren Zins, weil, wie oben auseinandergesetzt, auch die Kapitalstücke im Geldwert fallen, und daher ihr Ertrag steigt. Wenn in diesem Momente der höchsten Verwirrung und Not plötzlich aus irgendeiner Quelle einige Milliarden Gold in die Keller der Notenbanken hineinströmten, so würde allerdings die Krisis, soweit sie Geldkrisis
ist, sofort und völlig aufgehoben, und, soweit sie
Warenkrisis ist, mindestens sehr stark gemildert sein. Denn der Diskont würde sofort fallen, jeder Schuldner könnte sich daher das Zahlungsmittel beschaffen, um sein Kreditgeld (Wechsel usw.) einzulösen, und der Warenpreis würde sofort steigen, so daß die WechselSchuldner ihrer
Lieferanten
in der Kette des Kreditgeldverkehrs doch wenigstens für einen annähernd entsprechenden Betrag Wechselgläubiger ihrer Abnehmer
werden könnten.
Kurz und gut, offenbar ist das Geld das Heilmittel der Krisen; oder von der anderen Seite gesehen, die Krise bricht aus, weil nicht genug Geld vorhanden ist. Und so ist wohl verständlich, daß Leute, die über volkswirtschaftliche Dinge nachdenken, zu der Vorstellung gelangen, der Mangel an Geld überhaupt sei quantitativ oder der Mangel an rationellem Gelde qualitativ auch die Ursache der Krisis. Aber diese Auffassung ist an und für sich, ohne nähere Begründung, nicht zutreffender als es etwa die Behauptung wäre, der Mangel an Chinin sei die Ursache der Malaria. Auch hier leidet die Geldtheorie, die sich als das oberste Stockwerk der theoretischen Ökonomik darstellt, auf das schwerste darunter, daß das untere Stockwerk, die elementare Ökonomik, noch nicht einmal provisorisch fertig ist: sie ist vielmehr, darüber wird heute nicht mehr gestritten, kaum etwas anderes als eine überall geborstene Ruine. Wie in allen anderen Teilproblemen gibt es auch im Problem der Krisen noch nicht einmal den Anfang einer Einigung, ja eines Verständnisses.
Zur Geldtheorie
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Und so hängt denn, wie jede andere so auch jede Krisentheorie in der Luft, die das Phänomen aus den Eigenschaften unserer Geldordnung zu erklären versucht. Daß alle diese Auffassungen nicht erschöpfend sein können, ergibt sich aus der folgenden einfachen Überlegung. Stellen wir uns vor, jenes Wunder sei in der Tat geschehen, irgendein guter Geist habe gerade im kritischen Momente einige Milliarden Gold in die Keller der Notenbanken gezaubert, und die Krise sei verhindert worden. Glaubt jemand, daß dadurch nun auch die nächste Krise verhindert werden wird? Die einzige Folge wird sein, daß alle Produkte dauernd höhere Geldpreise bringen, daß alle Gläubiger verlieren, alle Schuldner gewinnen, daß der Kapitalprofit eine Zeitlang sehr hoch, weil der Reallohn eine Zeitlang sehr tief steht: denn die Arbeiter werden lange brauchen, bis sie eine entsprechende Erhöhung ihres Nominallohnes erzwungen haben. Aber trotz alledem wird, nachdem die Ausgleichung sämtlicher Preise einmal erfolgt ist, die nächste Krise einsetzen und ihre Verwüstungen anrichten, wenn der gute Geist nicht wieder das gleiche Milliardengeschenk stiftet. Ich kann hier auf die verschiedenen Krisentheorien nicht eingehen und muß auf meine Veröffentlichung über den Gegenstand „Normalität und Krisen" im Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie im Oktober 1911 verweisen. Dort habe ich mich zu erhärten bemüht, daß die sämtlichen vorliegenden Krisentheorien, die der Uber-, und der Unterproduktion, die der Unterkonsumtion und die der Überkapitalisation (die Gesellsche, in dieser Propagandaschrift augenscheinlich nur angedeutete, gehört offenbar zu dieser letzteren Kategorie) die Tatsache nicht erklären können. 1 Die Erklärung kann nur gewonnen werden aus meiner Theorie der zwiefachen
Konkurrenz.
Wie Gesell ist auch der dritte der hier zu behandelnden Autoren, O t t o Lang, Inflationist, d. h. Anhänger einer möglichst großen Vermehrung der Umlaufmittel. Auch sein Ziel ist im wesentlichen die Bekämpfung der Wirtschaftskrisen. Nach einer sehr ausführlichen wirtschaftsphilosophischen Einführung, die den selbständigen Denker in manchen interessanten Zügen verrät, aber auch eine ganze Anzahl jener einleitend angeführten elementaren Irrtümer enthält (er verwechselt ζ. B. fortwährend Geld und Kapital), kommt er mit seinem Vorschlage, ein „Wirtschaftsgeld" zu emittieren. Dieses Geld soll, im Gegensatz zu Gesell, nicht ungedeckt, sondern gedeckt sein, aber - nicht durch Edelmetall, sondern durch materielle Befriedigungsmittel, Güter. Diese Güter sollen von dem Staat selbst oder besser von einer durch den Staat beaufsichtigten, halb staatlichen, halb privaten Anstalt produziert werden, und jenes Wirtschaftsgeld soll in der Höhe ihres Wertes ausgegeben werden, also eine Art von Warrants. Welche Art von Gütern Lang im Auge hat, ist nicht klar erkennbar. Er scheint mehr an Produktiv- als an Konsumgüter zu denken. Es ist auch nicht mit völliger Klarheit erkennbar, ob der Inhaber von solchem Wirtschaftsgeld berechtigt sein soll, jene als Deckung dienenden Güter gegen Hergabe der Scheine zu erwerben; überhaupt ist der ganze Vorschlag auch nach der organisatorischtechnischen Seite hin mindestens nicht ausgeführt, vielleicht nicht einmal völlig durchdacht. Eine Kritik erübrigt sich beinahe. Lang sieht nicht, daß die Wertgeltung unserer gesamten Geldsurrogate lediglich darauf beruht, daß ihr Umtausch in Gold jeden Augenblick, zwar nicht gesichert ist (denn bei einer allgemeinen Panik müßte jede Notenbank ohne weiteres niederbrechen), aber doch als gesichert gilt, und daß die Möglichkeit, für das „Wirtschaftsgeld" irgendwelche Waren zu erhalten, die doch mindestens erst wieder in Gold umgetauscht werden müßten, niemals genügen kann, um jene Sicherheit des Umtausches in Gold zu ersetzen. Außerdem würde gerade im Falle einer Krisis der Verkehrswert der Pfandgüter, wie der aller anderen Güter, im Goldpreise enorm sinken, d. h. die Deckung würde gerade in dem Augenblick ungenügend werden, wo sie am wich-
1
Die Abhandlung ist zum Teil in die fünfte Auflage meiner „Theorie [der reinen und politischen Ö k o n o m i e ] " hineingearbeitet worden. [In: Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. III, 2. Teilbd., Jena 1924, S. 1005ff.]
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Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
tigsten ist. Wenn der Staat die Noten garantiert, so sind sie eben nichts anderes als Noten mit Zwangskurs, die gerade soviel Wert haben, wie der Kredit des Staates ihnen gewährt, und die Aushilfsdeckung durch den verpfändeten Warenvorrat würde es kaum erreichen, den Kurs nennenswert höher zu halten. Im übrigen gilt für diesen Vorschlag der gleiche entscheidende Einwand, der gegen Gesell erhoben werden mußte, daß die Krisen nicht vom Gelde ausgehen, sondern von ganz anderen Ursachen bedingt sind, und daß die Intervention des Geldes im eigentlichen Sinne, d. h. des metallischen Sachgeldes, nur von einem gewissen Momente die Krise verschärft.
Gemeineigentum und Privateigentum an Grund und Boden
[1914]
Inhalt
Vorwort
49
Lehnseigentum und Privateigentum
51
Gemeinsames Bodeneigentum in den Anfängen des Völkerlebens
51
Okkupations- und Rückenrecht
52
Rückfall unbearbeiteten Bodens an die Gemeinschaft
52
Nachbar- und Vorkaufsrecht der Stammesgenossenschaft; Jobeljahr
53
Obereigentum und Einzelbesitzrecht - Reste des Gemeineigentums in Europa
53
Gewaltsame Einführung des römischen Privatrechtes
54
Vernichtung der freien Bauern in England und Deutschland
55
Maßnahmen zur Einschränkung des Privateigentumsrechtes in England
56
Angebliche Vorteile des vollen Eigentums und Nachteile der kurzfristigen Pacht
57
Erbpacht als Ersatz des dauernden Eigentums
58
Vermeidbare Fehler des Gemeineigentumsrechtes
58
Privateigentum und Spekulation
59
Privateigentum und Entnationalisierung
59
Kolonisation durch selbstarbeitende Bauern und staatliches Obereigentumsrecht
60
Folgen des Privateigentums in Palästina
60
[Erstmals erschienen als eigenständige Publikation im Jüdischen Verlag, Berlin, 1914; A.d.R.]
48
Inhalt
Konkurrenzfähigkeit des ländlichen Kleinbesitzes
61
Kaufverschuldung und Erbverschuldung der Bodeneigentümer
62
Vermeidung der Uberschuldung bei Erbpacht
63
Verhinderung der Spekulation
63
Erfahrungen mit genossenschaftlicher Dauerpacht in England
64
Vorteile der Erbpacht für kapitalschwache Elemente
64
Erbpacht und Genossenschaft
65
Der Zionismus und das Gemeineigentum am Boden
65
Vorwort
Die vorliegende Schrift leitet eine vom Hauptbüro des Jüdischen Nationalfonds herausgegebene Serie von populärwissenschaftlichen Monographien über die Probleme der Palästinaarbeit ein, an deren Lösung der Nationalfonds zu arbeiten berufen ist. D e r Jüdische Nationalfonds (Keren Kajemeth Lejisrael) wurde am 30. Dezember 1901 vom fünften Zionistenkongreß in Basel mit folgender Bestimmung ins Leben gerufen:
„Der jüdische Nationalfonds soll ein unantastbares Vermögen des jüdischen Volkes sein, das ausschließlich nur zum Landkauf in Palästina und Syrien verwendet werden darf." Seit jener Zeit ist der Nationalfonds wesentlich erstarkt, er hat im Jahre 1913 eine Einnahme von einer Million Francs und in den letzten Monaten eine Vermögenshöhe von fünf Millionen Francs erreicht, die vom fünften Kongreß als das Grundkapital des Nationalfonds gedacht waren, nach dessen Erlangung er an seine eigentliche Aufgabe des Landkaufes herantreten sollte. Doch schon der sechste Kongreß im Jahre 1903 in Basel sah sich genötigt, mit dem Bodenkauf sogleich zu beginnen, wobei durch Kongreßbeschluß und statutarisch festgesetzt wurde, daß ein Viertel des Nationalfondsvermögens als unantastbare Reserve verbleiben muß. Die nach einigen Jahren eingeleitete Siedlungsarbeit des Nationalfonds in Palästina, die also kaum ein Jahrzehnt andauert, ist in den Berichten der Nationalfondsverwaltung an die Kongresse, sowie in zahlreichen Publikationen ausführlich geschildert. Hier sei nur hervorgehoben, daß das bisher vom Nationalfonds in Palästina investierte Kapital die Höhe von über dreieinhalb Millionen Francs erreicht hat. Im Laufe seiner Entwicklung hat der Nationalfonds nicht nur seine Mittel in erfreulicher Weise vermehrt, er wurde auch durch Angliederung neuer Fonds ausgestaltet. Zu dem ursprünglich beschlossenen Landfonds kamen hinzu: in der „Baumspende" ein Pflanzungsfonds, sowie ein Arbeiterheimstättenfonds und ein Genossenschaftsfonds. So gilt der Nationalfonds mit Recht als das bedeutendste Instrument der nationalen Kolonisation, und die Frage ist berechtigt, welche Grundsätze er in seiner Siedlungspolitik befolgen soll. Die mit der Palästinaarbeit zusammenhängenden Fragen werden immer zahlreicher und komplizierter. Die Erwerbung von Grund und Boden, seine Vorbereitung und Kultivierung für europäische Siedler, die Erziehung von Städtern zur Landwirtschaft, die Erprobung der Wirtschafts- und Arbeitsformen, die die Vorbedingungen zur Ansiedlung besitzloser Massen schaffen, die mit der Erbpacht verknüpften Kredit- und Rechtsfragen, die Probleme der Behausung in Stadt und Land, all das veranlaßte den elften Zionistenkongreß in Wien, der Nationalfondsverwaltung die Aufgabe zu übertragen, ein Arbeitssystem des Nationalfonds auszuarbeiten. Entsprechend dem Charakter des Jüdischen Nationalfonds als einer volkstümlichen Institution, die auf der Beitragsleistung der breiten Massen beruht, die durch den Zionistenkongreß auch das entscheidende Wort über seine Verwaltung und Verwendung zu sagen haben, soll die Diskussion über die Probleme unserer Arbeit unter der Mitwirkung und Kontrolle der breiten Öffentlichkeit geführt werden.
Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
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Wir beginnen deshalb mit der Herausgabe einer Reihe von Schriften, die die Grundprinzipien und Arbeitsmethoden des Nationalfonds an Hand der von uns selbst in Palästina, sowie von anderen kolonisierenden Völkern gesammelten Erfahrungen erörtern und klären soll. Diese erste Schrift von D r . Franz Oppenheimer soll den Grundgedanken des Nationalfonds entwickeln, den der Urheber der Idee des Nationalfonds, Professor Hermann dieser Institution, Theodor
Herzl,
Schapira,
sowie der eigentliche Begründer
als Basis der jüdischen Siedlungspolitik in Palästina verkündet
haben. Der Nationalfonds beruht bekanntlich auf dem Grundsatz des Gemeineigentums an Grund und Boden, er darf sein Land nicht veräußern, sondern nur in Pacht, bzw. Erbpacht geben. Welch überragende Bedeutung dieses Prinzip in der ökonomischen Entwicklung der Völker und Länder hatte und in der modernen Wirtschaft immer mehr erlangt, darüber gibt die nachstehende Schrift erschöpfende Aufklärung. Köln am Rhein, im Mai 1914
Das Hauptbüro des jüdischen Nationalfonds
Gemeineigentum und Privateigentum an Grund und Boden
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Lehnseigentum und Privateigentum Das Bodeneigentumsrecht, wie es heute in den meisten Kulturstaaten in Geltung ist, ist eine verhältnismäßig junge Institution. Dieses Recht, das dem Eigentümer das „Recht des Mißbrauchs" und Gebrauchs, wie bei jeder beweglichen Sache, verleiht, stammt aus dem römischen Recht und ist eine Folge der gracchischen Umwälzung. Als die Gracchen ihr Gesetz durchsetzten, das Recht der römischen Großbürger auf 500 Joch des römischen Gemeinackers zu beschränken, machten sie den Besitzenden die Konzession, ihnen diesen früher als Lehnseigentum des Staates besessenen Besitz zu vollem Eigentumsrecht zu verleihen. Nachdem ihre Bewegung niedergeschlagen war, fielen zwar die neuen Beschränkungen, aber das neue Recht hielten die Herren fest. Bis dahin hatte auch in Rom, wie sonst überall in der Welt, nur das einfache Besitzrecht, das Jus possessionis, nicht das Imperium directum, an dem Grund und Boden bestanden; es galt als vom Staate verliehen, der sein Obereigentum formal immer bewahrte. Erst von jetzt an wurde dieses neuartige Recht mit den römischen Waffen über den Erdball getragen; und später wurde es von den Herrenklassen anderer, späterer Völker, die dieses, den Interessen einer Herrenklasse ausgezeichnet angepaßte Recht für sich sehr gut gebrauchen konnten, halb mit List, halb mit Gewalt überall sonst in den Gebieten der westeuropäischen Kultur eingeführt. Aber bis zum Anbruch der Gegenwart hat es doch nur einen außerordentlich geringen Spielraum auf diesem Planeten gehabt. Erst seit der allerneusten Zeit dringt es mit der Einwanderung der Europäer in alle Weltteile überall mächtig vor.
Gemeinsames Bodeneigentum in den Anfängen des Völkerlebens Man hat lange geglaubt, daß die Anfänge des Völkerlebens, soweit es in Seßhaftigkeit sich abspielt, mit dem Kommunismus des Ackerbetriebes verknüpft gewesen seien. Diese Vorstellung, die allen Agrarsozialisten und Bodenreformern besonders lieb ist, ist in letzter Zeit, namentlich durch Robert von Pöhlmann, in seiner berühmten „Geschichte des Sozialismus und Kommunismus im klassischen Altertum", sehr stark erschüttert worden und hat nur noch wenig Gläubige. Pöhlmann konnte zeigen, daß es sich bei den wenigen verbürgten Tatsachen nur um den selbstverständlichen Kommunismus eines Heereslagers handelt, eines in einer Festung zusammengeschlossenen Stammes oder einer anderen Genossenschaft, die in kriegerischen Zeitläuften die hier unumgängliche Gemeinsamkeit des Betriebes und des Verzehrs pflegt. In vielen anderen Fällen, wie ζ. B. bei der Lykurgsage usw., handelt es sich um willkürliche Hineindeutung sozialistischer Wünsche in die Vergangenheit, um damit um so stärker auf die Gegenwart zu wirken und zukünftige Träume zu verwirklichen. Aber, wenn auch diese Anschauungen irrig sein mögen, unbestritten und unbestreitbar ist es, daß alle Zivilisation zwar nicht mit dem gemeinsamen Betriebe beginnt, aber mit dem gemeinsamen Eigentum der Gruppe, des Stammes, des Gaues, der Dorfschaft, der Völkerschaft an dem Grund und Boden. Das ist das Naturrecht, das ewige Urrecht, das sich ganz selbstverständlich überall ausbildet und erhält, wo nicht erobernde Gewalt ein neues stärkeres Recht einführt. Es ist das Urrecht, das Naturrecht der Gleichheit, das alle Mitglieder der Genossenschaft gleich zu stellen beabsichtigt, das niemand vor dem anderen zu bevorteilen, niemand gegenüber dem andern zu benachteiligen wünscht. Erst dann, wenn erobernde Gewalt Klassen schafft, und wenn diese Klas-
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
sen, im Staate verbunden, in ein Über- und Unterordnungsverhältnis zueinander treten, erst dann verblaßt dieses alte Recht der Gleichheit, um einem Rechte der Ungleichheit Platz zu machen, und das gestaltet mit allen anderen Rechten selbstverständlich auch das Recht am Eigentum um, bis es dann in der römischen Gesetzgebung, wie schon gesagt, seine letzte und feinste Zuspitzung erhält. Aber bis es so weit kommt, herrscht doch in fast allen Beziehungen jenes Urrecht vor. Es hat den Inhalt, jedem soviel Land zukommen zu lassen, wie er braucht, um sich und seine Familie zu ernähren; es sichert, um mich juristisch auszudrücken, den Gebrauch, den usus, aber es will jeden Mißbrauch, jeden abusus, verhindern, den erst das römische Recht dem Bodeneigentümer zusprach, „wie an jeder beweglichen Sache".
Okkupations- und Rückenrecht Zu dem Zwecke gewährt es jedem Mitglied der Genossenschaft, dem das Eigentum an dem Grund und Boden zusteht, das Recht der Okkupation. Er mag aus dem Landvorrat nehmen, soviel er braucht, um für sich und seine Familie zu sorgen. Von dem Augenblick an, w o er durch irgendwelche Zeremonie, durch irgendwelche Zeichen, ζ. B. durch Anhauen der Bäume an einer bestimmten Stelle oder durch Spannen eines Fadens oder Seiles anzeigt, daß er beabsichtigt, dieses Stück Grund und Boden zu okkupieren und zu bebauen, ruht das Recht aller anderen für eine bestimmte Frist vollkommen. Niemand hat das Recht, ein solches von einem Genossen okkupierte Stück für sich in Anspruch zu nehmen, und, solange er darauf baut, hat niemand das Recht, ihn in seinem Eigentum oder Besitz zu stören, oder gar, ihn daraus zu vertreiben. Ich wiederhole ausdrücklich: solange er darauf tätig ist! Das ist das sogenannte „Rückenrecht" des germanischen Rechtes, das übrigens in aller Welt gilt, des Rechtes, das sich in seinem Namen bildlich ausdrückt: daß niemand den Besitzer vertreiben darf von einem Stück Lande, solange er mit seinem Rücken darauf ruht.
Riickfall unbearbeiteten Bodens an die Gemeinschaft Aber die Genossenschaft wahrt ihr Obereigentum gegenüber dem Okkupanten, sobald er den geringsten Versuch machen wollte, sein Okkupantenrecht zu mißbrauchen. Und zwar statuiert sie erstens das Rückfallsrecht an sich selbst, d. h. an einen beliebigen neuen Liebhaber oder Okkupanten, sobald die Nutzung entweder gar nicht eingeleitet wird, oder sobald sie eine relativ kurze Zeit, in der Regel nur zwei Jahre, geruht hat. Wer das Land nicht regelmäßig nutzt, der verwirkt sein Recht darauf; jeder andere aus der Genossenschaft mag es, vermöge des in ihm verkörperten Obereigentumsrechtes der Gesamtheit, für sich aufs neue okkupieren; und der frühere Okkupant, der das Recht durch Nichtnutzung verwirkt hat, hat nicht das geringste Recht, gegen ihn aufzutreten. Wie weit bekannt, besteht dieses Recht noch im heutigen Palästina, und es hat den jüdischen Körperschaften nicht geringe Mühe gemacht und verursacht ihnen bis zum heutigen Tage nicht geringe Kosten, den Rückfall erworbener, aber noch nicht in Besitz genommener Böden an die benachbarten Araber zu verhindern; wir wissen, daß wir überallhin Gruppen schicken müssen, die den Boden wenigstens oberflächlich so lange nutzen, bis die geregelte Bebauung einsetzen kann, damit wir diesem Urrecht des Rückfalls wegen Aufgabe unseres Rückenrechtes nicht verfallen.
Gemeineigentum
und Privateigentum
an Grund und Boden
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Nachbar- und Vorkaufsrecht der Stammesgenossenschaft; Jobeljahr Auch das zweite Recht, das die Korporation sich kraft ihres Obereigentums in aller Welt, in Java so gut wie in Palästina, in Zentralafrika so gut wie in Nordwesteuropa unter den Germanenstämmen vorbehält, ist das sogenannte. „Näher- oder Nachbarrecht". Es hat seine gesunde Wurzel in der gesamten Rechtsauffassung dieser Völkerschaften. Wie Gierke in seinem berühmten Buche „Das Genossenschaftsrecht" feststellt, ist man in diesen Stämmen, Völkerschaften, oder wie die Gruppe sonst heißen mag, nicht Genösse, weil man Grundeigentum hat, sondern umgekehrt: man hat Grundeigentum, weil man Genösse ist. Das Grundeigentumsrecht fließt ohne weiteres aus dem Genossenschaftsrecht. Jeder Genösse hat das Recht, von dem gemeinsamen Bodeneigentum des Stammes usw. seinen Teil zu fordern. Dieses Recht schließt natürlich entsprechende Verpflichtungen gegenüber der Korporation ein. Die Korporation will unter sich bleiben; sie will jedenfalls es nicht dulden müssen, daß man ihr fremde, ihr nicht beliebte, Elemente aufzwingt. In diesen Verhältnissen, in denen die Gleichheit der Abstammung, der Nationalität, eventuell des Glaubens und der Rasse die Rolle des festen Bandes spielt, daß das Bündel Pfeile zusammenhält und unzerbrechlich macht, ist das Eindringen fremder Elemente gleichbedeutend mit Anarchie, mit dem Verlust der Wehrfähigkeit und der sozialen Existenz. Das darf nicht geduldet werden. Und deswegen steht dem Recht des einzelnen Genossen auf Grundeigentum das Recht der Gesamtheit gegenüber, das Grundeigentum an sich zurückzuziehen, sobald die Gefahr besteht, daß es in die Hände von Elementen gelange, die der Gruppe nicht erwünscht sind. Das ist der Inhalt des Näher- oder Nachbarrechtes. Zuerst wird es schlechthin verboten gewesen sein, durch Verkauf oder Abtretung oder vielleicht Verheiratung einer Tochter oder andere Verträge irgendein fremdes Element in den Verband aufzunehmen; später wird das gestattet gewesen sein, aber nur mit Einwilligung der sozialen Gruppe, der im Augenblick das Eigentum zusteht. In den deutschen Dörfern des Mittelalters hatte die Dorfschaft als Totalität das Näherrecht, und zwar als Vorkaufsrecht; sie war ohne weiteres berechtigt, in jeden Kaufvertrag mit einem Fremden einzutreten, wenn sie diesen Fremden nicht unter sich aufnehmen wollte. Ähnliche Rechte haben heute noch vielfach Familienverbände. Es ist bekannt, daß auch dieses Recht im heutigen Palästina sich noch in Resten erhalten hat, daß zu jedem Ankauf von Dorfland die Zustimmung sämtlicher Dorfinsassen erforderlich ist, die oft schwer genug zu beschaffen ist, weil auch die Vormünder der unmündigen Mitbesitzer befragt werden müssen. Und wenn dieses Recht heute noch in Palästina besteht, so ist es nur eine Fortsetzung oder vielleicht ein Wiederaufleben der uralten Rechte, von denen uns die mosaische Bodengesetzgebung berichtet. Das berühmte Jobeljahrgesetz hat auch weiter keinen Inhalt als den, den Familienbesitz und Stammesbesitz trotz aller Zersetzung durch die Geldwirtschaft und den antiken Kapitalismus immer wieder in die Hände des eigentlichen Obereigentümers zurückgelangen zu lassen, des Stammes, und innerhalb des Stammes der Familie.
Obereigentum und Einzelbesitzrecht - Reste des Gemeineigentums in Europa Mögen die Rechtsformen und Zeremonien von Land zu Land, von Sprache zu Sprache, von Rasse zu Rasse, von Erdteil zu Erdteil in noch so bunter Unregelmäßigkeit wechseln: der Inhalt dieses Obereigentumes der Gesamtheit und des bloß abgeleiteten Besitzrechtes der einzelnen ist in der
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ganzen Welt überall der gleiche. Und wird sogar dort, wo das ausschließliche römische Recht eingeführt worden ist, immer wieder in Resten unter dieser neuen Schicht des Rechtes sichtbar. Man lese das prächtige Buch von Emile de Laveleye: Das Ureigentum, übersetzt und aufs wertvollste ergänzt von Karl Bücher, dem ausgezeichneten Leipziger Nationalökonomen und Soziologen, und man wird finden, daß dieses Recht das Urrecht der Völker ist, ohne weiteres geboren aus ihren natürlichen Bedingungen und, wie ich hinzusetzen will, aus ihrem natürlichen Rechtsgefühl, das keinen Genossen vor dem anderen bevorteilt oder benachteilt wissen will. Das ganze mittelalterliche Lehenswesen beruht auf der Vorstellung, daß der sozialen Gruppe, dem Stamm, der Nation, oder dem Staate, das wechselt selbstverständlich je nach der politischen Stufe, das Obereigentum an Grund und Boden zusteht. Die Verfügung darüber hat der König, der Kuni, das Geschlechtshaupt. (Das Wort „Koenig" hat den Stamm „genos", Geschlecht.) V o m Obereigentumsrecht des Staates, vertreten durch den König, leiten die Völkerschaften, die Gaue und Dorfschaften ihr Obereigentumsrecht gegenüber dem bloßen Besitzrecht ihrer einzelnen Genossen ab; die noch nicht besiedelten Wälder aber und die neu eroberten Territorien unterstehen dem Könige, und er mag darüber im Interesse des gesamten Volkes verfügen. Von diesem Gemeineigentum an Grund und Boden, das in den Händen, oder besser in dem Besitz der verschiedenen übergeordneten Korporationen war, haben sich in Europa noch bedeutende Reste erhalten: die großen Allmenden, namentlich Südwest- und Westdeutschlands, die Gehöferschaften, die Haubergsgenossenschaften, die gemeinsame Eichenwälder besitzen und ausbeuten, sind solche Reste des Gemeineigentums, gerade so wie die Feldgemeinschaft, der Flurzwang usw., die wir erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland abgeschafft haben, Reste der gleichen ehemaligen Eigentumsbeziehungen sind, ebenfalls ein Ausfluß des Dorfrechtes über das Einzelrecht: wenn die Halme vom Felde sind, wenn die Feldfrucht hereingebracht ist, dann fällt der Acker wieder der gemeinsamen Benutzung anheim; die Dorfgenossen treiben ihre vermischten Herden darüber hin; der Einzelbesitzer darf keinen Widerspruch erheben. In sein wirkliches Eigentum
übergegangen sind von Anfang an nur die Bina jugera, die zwei Morgen
im Dorfe mit seinem Hause und seinem Kohlgarten; das ist sein Heim, das ihm für immer und durchaus ungestört gehört, sein Eigentum im strikten Sinne; aber selbst über seine Acker in der Feldflur hat er nur ein beschränktes Einzelbesitz recht, und über die noch ungeteilten Weiden und Gemeinschaften hat er nur seinen Teil am gemeinsamen
Besitzrecht kraft seiner Zugehörigkeit zu der
Dorfschaft. Auf höherer sozialer Stufe, in der oberen Klasse, finden wir analoge Rechte in den Rechtsinstitutionen der Gauerbschaften, der Fideikommisse und Majorate, wo die Familie der eigentliche Eigentümer des Grund und Bodens, der jeweilige Besitzer aber nur der Nutznießer ist. In England gehört heute noch das gesamte Land rechtlich dem Könige, alles Eigentum gilt nur als von ihm verliehenes Untereigentum. Und wenn Lloyd George heute gegen das private Eigentumsrecht der Landlords mit Nachdruck vorgeht, so stützt er sich wenigstens unbewußt auf dieses instinktmäßig vom Volke immer festgehaltene Obereigentumsrecht des Staates über alles Privateigentum. Im übrigen ist in allen zivilisierten Ländern in dem Rechte der Expropriation durch den Staat für gemeinnützige Zwecke dieses Obereigentum rechtlich festgehalten worden.
Gewaltsame Einführung des römischen Privatrechtes Wie gesagt, erst die Einführung des römischen Rechtes bricht dieses alte Volksrecht, und, wie die meisten Schriftsteller glauben, bricht sie es zum schweren Schaden des Volkes und namentlich der betroffenen Bauernschaften. Es gibt Schriftsteller genug, die den Niedergang der deutschen Bauern-
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Schäften, der dann zu den entsetzlichen Explosionen der Bauernkriege führte, ausschließlich auf die Einführung des römischen Rechtes zurückführen, das die alten deutschen Hofrechte mit ihrem Obereigentum der Dorfschaft und des Gaues verdrängte und das Land, namentlich das noch nicht benutzte Land und die gemeinen Weiden und Wälder, den Grundherren auslieferte. Ebenso beziehen eine ganze Anzahl hoch angesehener Schriftsteller die Notlage vieler indischer Bauernschaften auf die Tatsache, daß die Engländer, wie überall, die Prinzipien des römischen Rechtes auf die alten Volksrechte anwendeten, und dem lokalen Militäradel, den Zemindars, das volle Eigentumsrecht über diejenigen Gebiete einräumten, an denen sie bis dahin nur feudales Obereigentumsrecht besessen hatten, das sie nach Maßgabe eines Vormundes anzuwenden hatten, der für seinen Mündel Sorge zu tragen hat. Ahnliches wirft man den Holländern in ihren südindischen Kolonien, auf Java usw., wohl mit Recht vor; auch hier ist das arbeitende Landvolk durch die Einführung römischrechtlicher Prinzipien in ihre alten volksrechtlichen Institutionen auf das schwerste geschädigt, ihres Eigentums oder besser ihres unzerstörbaren Besitzrechtes beraubt und in eine landlose Arbeiterklasse verwandelt worden.
Vernichtung der freien Bauern in England und Deutschland Das gleiche gilt natürlich für England selbst und die übrigen Bestandteile des Vereinigten Königreiches. Eines der furchtbarsten Beispiele für das, was die Einführung des römischen Rechtes bedeuten kann, sind die sogenannten Clearings of estates in Hochschottland. Hier war nach altem Volksrecht der gesamte Clan Eigentümer des Gebietes, und das Clanhaupt hatte nur die Verfügung darüber, wie das überall der Fall ist. Die Engländer aber sprachen aufgrund ihrer römischen Rechtsbegriffe dem Obereigentümer das volle Eigentum zu, und die Folge davon war, daß, als die wirtschaftliche Konjunktur umschlug, diese armen Leute einfach von ihrem angestammten Erbe vertrieben und über See fortgefegt wurden. Die Herzogin von Sutherland war die schlimmste Vertreterin dieses Prinzipes. Sie hat buchstäblich 20.000 ihrer Clangenossen von ihrer väterlichen Hufe gehoben und an die Seeküste geworfen, wo sie zum großen Teil zugrunde gingen. Sie wurde dafür von der zeitgenössischen Wissenschaft noch sehr gelobt, wie Marx mit bitterem Spott erzählt, weil sie die private Rente ihres Grundbesitzes dadurch hob. Nach der Austreibung der Bauern bevölkerten einige Schafherden und sehr viel Wild die in Weiden und Jagdparks verwandelten ehemaligen Ackerbezirke. Nicht viel anders wirkte im mittelalterlichen Deutschland die Usurpation der gemeinen Wälder, d. h. der gesamten Landreserven, und der gemeinen Marken, d. h. der noch nicht aufgeteilten gemeinschaftlichen Gau- und Dorfgüter, durch den Adel. Der Bauer, des Rückgrates seiner Wirtschaft, des Weideganges seines Viehes beraubt, geriet in die schwerste N o t und oft genug in neue Leibeigenschaft. Auch die neueste preußische sogenannte „Regulierungsgesetzgebung", die gleichzeitig mit der Emanzipation der Leibeigenen durchgeführt wurde und die gesamten gemeinen Weiden an Einzelpersonen aufteilte, hat dazu beigetragen, einen großen Teil des deutschen Bauernstandes zu vernichten. Nirgends aber hat dieser Prozeß so verderblich gewirkt, wie in England, wo die alte freie Bauernschaft, die Yeomanry, durch die berüchtigten Inclosures of commons, d. h. die Verteilung der früher gemeinen Marken zu privatem Grundeigentum, völlig zugrunde gegangen ist. Wenn heute England vor der schwersten aller Agrarfragen steht, wenn es nur noch möglich erscheint, durch geradezu heroische Mittel, durch Maßnahmen von solcher Kraft, wie sie seit Solons Seisachthie niemals mehr versucht worden sind, dem platten Lande seine letzte Bevölkerung zu erhalten und damit dem Volke seine Wehrkraft und den inneren Markt zu retten, so führen diese Dinge zurück auf die Preisgabe des Obereigentumsrechtes der Gemeinden und des Staates zugun-
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sten einer Klasse römisch-rechtlicher Eigentümer. Heute versucht man, den Prozeß soweit wie möglich wieder rückgängig zu machen; man schützt nicht nur die noch verbliebenen Allmenden und gemeinen Wälder soviel man kann, sondern man führt bei der Neuanlage von deutschen Dörfern in Posen und Westpreußen überall den Gemeindebesitz als das Rückgrat der Steuerkraft und der Armenversorgung wieder ein; hat doch Bücher gezeigt, daß in einer solchen Landreserve, in einem solchen Gemeindelandbesitz, die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit und Verarmung der Dorfgenossen liegt. Man kann aussprechen, daß dort, wo solch Gemeindelandbesitz besteht, von einer Armenlast und von einer Verarmung überhaupt keine Rede sein kann; alle die Kräfte, die die Proletarisierung der Volksmasse heute bedingen, werden wie durch eine unsichtbare Mauer von denjenigen Dorfschaften zurückgeworfen, die zu ihren Einrichtungen starke Allmenden, einen ausreichenden Gemeindebesitz zählen dürfen.
Maßnahmen zur Einschränkung des Privateigentumsrechtes in England N o c h viel stärker versucht man das Rad der Entwicklung in England rückwärts zu drehen. Hier will man, wie ich schon einmal angedeutet, mit dem formell noch zu Recht bestehenden Obereigentum des Staates respektive der Krone wirklich Ernst machen. Man hat zuerst zwangsweise und ohne auf das sogenannte heilige Recht des Grundeigentums viel Rücksicht zu nehmen, die total verfahrenen Verhältnisse Irlands geregelt. Der Staat hat die Grundbesitzer ausgekauft und den kleinen Pächtern den Boden übereignet, wobei er außerordentlich große Opfer bringen mußte, und wobei auch die Landlords gehörig haben bluten müssen. Dann ist man dazu übergegangen, zuerst in einigen Grafschaften des gebirgigen Hochschottlands die Rente, die die kleinen Pächter zu zahlen haben, durch einen „Landgerichtshof" (Land-Court) festsetzen zu lassen, ohne daß der Eigentümer das Recht hätte, dagegen Einspruch zu erheben. Und dieses Gesetz hat sich als so segensreich erwiesen, daß es jetzt auf ganz Schottland, freilich nur auf alle kleinen Pachtungen ausgedehnt worden ist, d. h. auf alle Pachtungen unter 50 £ Pacht oder unter 50 Acres Land Fläche. N o c h energischer denkt Lloyd George jetzt in England und Wales, dem letzten Bestandteil des Vereinigten Königreiches, vorzugehen. Hier soll der jetzt viel zu niedrige Lohn der Landarbeiter von Staatswegen festgesetzt werden; und, um es dem Pächter zu ermöglichen, daß er diese erhöhten Löhne zahle, soll auf der anderen Seite auch die von ihm an den Grundbesitzer zu zahlende Pachtrente behördlich, gerichtlich, ohne Appell festgesetzt werden. Das bedeutet die Neustatuierung des Obereigentumsrechtes der Gesamtheit im Interesse der Gesamtheit, d. h. im Interesse der Gesundheit, des Reichtums, der Wehrkraft und des Glücks des Volkes, und bedeutet eine ungeheure Einschnürung und Verringerung des römisch-rechtlichen Eigentums; es soll fortan zwar noch der Gebrauch innerhalb seiner vernünftigen Grenzen gestattet sein, aber der Mißbrauch,
des Eigentums
der bis jetzt von den
englischen Großgrundbesitzern getrieben worden ist, soll abgestellt werden; es soll nicht länger gestattet sein, daß man das reichste Land, das vielen Tausenden von Menschen als Nahrung dienen könnte, dazu mißbraucht, um nur sportlichen und jagdlichen Zwecken zu dienen; daß man Ackerland in Weide niederlegt, nur um seiner Bequemlichkeit und vielleicht um einer geringen Steigerung seiner Rente willen. Die Uberzeugung von der Verderblichkeit des absoluten uneingeschränkten römischen Eigentumsrechtes an Grund und Boden ist in England bereits so weit durchgedrungen, daß sogar die Gegner der jetzigen liberalen Regierung es nicht mehr uneingeschränkt zu verteidigen wagen. Auch sie sind für eine sehr kraftvolle innere Kolonisation; auch sie wollen dem Volke so
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viel Boden zurückerstatten, wie es braucht, um atmen zu können: aber, und das ist eine sehr merkwürdige Angelegenheit, sie wollen diesen Grund und Boden nicht, wie Lloyd George vorschlägt, in Gestalt von billigen, langfristigen oder unkündbaren Pachten an das Volk geben, sondern in Gestalt des kleinen römisch-rechtlichen Eigentums. Die privatwirtschaftlichen und politischen Gründe, die sie zu diesem Vorgehen veranlassen liegen vollkommen klar auf der Hand. Der Preis des Grund und Bodens in England, wo er aus allen möglichen nichtwirtschaftlichen Gründen sehr stark begehrt ist, steht in gar keinem wirtschaftlichen Verhältnis zu der Rente, die davon gewonnen werden kann. Grund- und Bodenkapital verzinst sich durchschnittlich mit etwa zwei Prozent. Wenn der Staat also pachtet, so zahlt er maximal die heutige Pachtrente, und die ist sehr niedrig; wenn er aber gezwungen wird, zu kaufen, so zahlt er den heutigen Kaufpreis, und der ist eben sehr hoch. Außerdem wollen die Landlords lieber Stücke ihres Landes vollkommen abgeben, als ihr uneingeschränktes Eigentum durch Pachtungen belasten, auf deren Inhaber sie keinen unmittelbaren Einfluß mehr ausüben können. Sie dienen sozusagen instinktiv dem Prinzip, das die ganze bisherige Raubordnung der Welt trägt und stützt, dem Prinzip des uneingeschränkten Bodeneigentums; sie wollen dasjenige Prinzip, daß der Menschheit Glück und Frieden und Harmonie verspricht, unter keinen Umständen auch nur in kleinem Umfange zulassen. Das ist der geheime Grund ihres Widerstrebens, ihrer entgegengesetzten Vorschläge.
Angebliche Vorteile des vollen Eigentums und Nachteile der kurzfristigen Pacht Was bringen sie denn nun für Gründe als Vorwände? Nun, es ist die alte Fabel von der Unentbehrlichkeit des vollen Eigentums für die Wirtschaftlichkeit des Betriebes. Wir sagen: die alte Fabel, denn in England zeigt sich immer stärker, daß gerade das volle Eigentum nicht die höchste Wirtschaftlichkeit der Betriebsführung gewährleistet. Gerade wie in Deutschland sind auch dort die ganz großen Güter am schlechtesten bewirtschaftet; es ist ja sehr einfach einzusehen, daß namentlich den Fideikommissen alles verfügbare Kapital immer wieder beim Erbgange entzogen wird, weil jeder Fideikommißinhaber - und alle englischen Großgrundbesitzer sind ja Fideikommißinhaber - das natürliche Bestreben haben wird, seinen durch die Gesetze im wesentlichen enterbten anderen Kindern, den „weichenden Erben", möglichst viel bares Kapital zu hinterlassen. Darunter muß der Betrieb natürlich auf das schwerste leiden. Im übrigen soll nicht bestritten werden, daß im allgemeinen der wirkliche Besitzer, der Dauerbesitzer, viel wirksamer und liebevoller mit seinem Grund und Boden umgeht als der Pächter auf kurze Frist. Es ist ja selbstverständlich, daß niemand dort säen wird, wo er nicht sicher ist, daß entweder er selbst oder die Seinen ernten werden. Und so ist es klar, daß jeder Pächter, der seinen Vorteil kennt, nur so lange in das Gut investiert, wie er sicher ist, die Früchte seiner Kapitalanlage und Arbeit zu ernten, und daß er vollkommen richtig handelt, wenn er in den letzten Jahren seiner Pacht herausholt, was aus dem Objekt irgendwie herauszuholen ist, so daß nach Ablauf der Pacht ein ausgeraubtes Objekt von dem neuen Pächter erst wieder in die Höhe gebracht werden muß; und das ist immer ein sehr schwerer Verlust am nationalen Wohlstand. Und so hatte Arthur Young, der berühmte Agrarschriftsteller vom Ende des 18. Jahrhunderts, auf den die Engländer und die heutigen Gegner des liberalen Kabinetts sich immer zu berufen lieben, durchaus Recht, wenn er von dem „Zauberstabe des kleinen Eigentümers" sprach, der „Sand in Gold zu verwandeln versteht". Man muß ihn nur richtig verstehen. Er stellte den kleinen Eigentümer dem Pächter auf kurze Frist ge-
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genüber; er dachte aber nicht im mindesten an die Institution einer Pacht, die in bezug auf die Dauer des Besitzrechtes dem Eigentum gleich ist, ja, wie wir bald sehen werden, das Eigentum an Dauer noch übertrifft.
Erbpacht als Ersatz des dauernden Eigentums Selbstverständlich wirtschaftet der üripächter, der gerade so sicher ist, daß seine Ururenkel seinen Boden noch bewirtschaften werden, mit derselben Hingabe und derselben Sicherheit wie der Bauer, dem der Grund und Boden nach römischem Rechte zu eigen gehört. Daher ist mit diesem Argument von dem Segen des Eigentums wirklich nicht viel auszurichten. Das einzige Charakteristikum, das hier in Frage kommt, die ununterbrochene, unabsehbare Dauer des Besitzes, ist durch das einfache Besitzrecht unter dem Obereigentum einer Korporation, sei es nun der Staat oder eine Grafschaft oder eine Genossenschaft, vollkommen so gewährleistet, wie durch das römisch-rechtliche Eigentum; und es ist denn auch notorisch, daß überall der Erbpächter gerade so gut und so liebevoll wirtschaftet, wie der wirkliche Eigentümer.
Vermeidbare Fehler des Gemeineigentumsrechtes Freilich: das Gemeineigentum an Grund und Boden ist in historischem Betracht vielfach kompliziert worden durch schwere Fehler, die es sehr in Mißkredit gebracht haben. Schon der Flurzwang, von dem vorhin gesprochen wurde, das Recht der gesamten Gemeinde, auf der Stoppelweide die Viehherden zu treiben, dem natürlich der Zwang entsprechen mußte, sämtliche Grundstücke zu gleicher Zeit zu bestellen und zu ernten, hat sich als für eine vorgeschrittene, höhere, intensivere Wirtschaft durchaus hemmend erwiesen. Noch viel schlimmer sind die häufig mit dem Gemeineigentum verbundenen regelmäßigen Aufteilungen des Grund und Bodens, wie wir sie etwa im russischen Mir und auch im heutigen Palästina noch überall treffen. Diese regelmäßige Neuaufteilung des Landes, dieser Turnus, in dem dasselbe Grundstück in immer neue Hände gerät, ist natürlich nur verträglich mit den allerextensivsten Formen des Ackerbaues, mit der Brandwirtschaft und der wilden Feldgraswirtschaft, wo von Düngung keine Rede ist. Das verlangt aber eine ungeheure Fläche, eine Fläche, deren einzelne Stücke etwa nur in jedem 12. bis 18. Jahre einmal unter den Pflug genommen werden. Wo die Bevölkerung dichter wird, und sich ihr daher eine intensivere Wirtschaft mit regelmäßiger Nutzung des ganzen Ackers aufzwingt, da kann diese unaufhörliche Neuverteilung nicht mehr ohne Schaden für die Landwirtschaft und für die Landwirte geschehen. Denn dann wird natürlich der Boden vollkommen ausgeraubt; auch hier wird niemand düngen und fleißig bestellen, Unkraut roden, wo er nicht darauf rechnen kann, regelmäßig auch zu ernten. Alle jene Dinge aber gehören nicht zum Begriffe und Wesen des Besitzrechtes, sondern sind lediglich Akzidenzien, die man leicht davon ablösen kann. Der Besitz kann genau so fest und sicher gemacht werden, wie das Eigentum. Er kann gestaltet werden so unverlierbar wie das festeste Eigentum, ja, wie sich herausstellen wird, viel sicherer und unverlierbarer; der Besitz ist nur verlierbar, falls der Besitzer sich selbst schuldhaft durch Trägheit, Leichtsinn oder Laster ruiniert, oder in dem Falle, wo das höhere Recht der Gemeinschaft einzugreifen hat, durch Expropriation - und dieses Recht gilt ja auch gegen das römische Eigentum.
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Privateigentum und Spekulation Betrachten wir nun diesen Vorteilen des Besitzrechtes gegenüber das Recht des römisch-rechtlichen vollen Eigentums. D a ß es zu den größten Mißbräuchen Veranlassung geben kann, ist völlig bekannt; und es ist heute allgemein anerkannt, daß man die Möglichkeit eines Mißbrauches bei jedem Rechte verhindern soll, weil vom durchschnittlichen Menschen nicht zu erwarten ist, daß er sich von solchen Mißbräuchen zurückhält, so lange sie ihm möglich sind. Zu diesen Mißbräuchen gehört vor allen Dingen die spekulative
Sperrung des Bodens, d. h. das Unbrauchbarmachen, das Fort-
legen des Bodens, seine Entziehung von den eigentlichen Zwecken seiner Existenz, lediglich zu dem Zwecke, um durch künstliches Seltenmachen dieses unentbehrlichen Produktionsmittels seinen Preis zu steigern. Es ist bekannt, daß namentlich der städtische Boden solchen Mißbräuchen stark ausgesetzt ist; wir haben soeben in Tel-Aviv,
der Stadt auf dem Frühlingshügel bei Jaffa, gewisse
Spuren dieser spekulativen Preistreibung des Bodens und der Wohnungen erlebt; und es ist ja auch bereits beschlossen worden, daß wenigstens in Zukunft die Mittel des Nationalfonds nicht mehr sollen dazu gebraucht werden dürfen, um Privatpersonen unverdiente Vorteile zuzuführen.
Privateigentum und Entnationalisierung Was aber für die jüdische Kolonisation in Palästina ganz besonders in Betracht kommt, das ist die Tatsache, daß nichts so sehr den Boden dem Verlust an fremde Nationalitäten aussetzt, als das volle Eigentum. W i r haben oben betrachtet, daß in der alten Markgenossenschaft das Näher- oder Nachbarrecht, das Rückforderungsrecht der Familie, des Dorfes, des Gaues, des Stammes, wesentlich zu dem Zwecke statuiert war, um das Eindringen fremder Elemente in die Genossenschaft zu verhindern. Dieses Recht brauchen die Juden für ihre nationale Kolonisation in Palästina nötiger als irgendein anderes. Wenn sie ihre Besiedelung nicht danach einrichten, 50 werden sie erleben,
was so
viele kolonisierenden Völker erlebt haben, nämlich den Verlust des mit der größten Mühe, aber nicht mit dem Pfluge, sondern mit dem Schwerte oder mit dem Gelde erworbenen Grund und Bodens an eine fremde
Nationalität.
Blicken wir nach Böhmen: hier ist das ganze Land nach der Niederlage des
böhmischen Adels im 30jährigen Kriege alten deutschen, von Westdeutschland stammenden Adelsgeschlechtern anheimgefallen; aber die pflugführenden Arbeiter waren Tschechen, und heute sind diese sämtlichen uralten deutschen Adelsgeschlechter tschechisiert, die Fürsten Schwarzenberg schreiben sich „Svrcmbrg" nach tschechischer Mode ohne einen einzigen Vokal und sind die fanatischsten Apostel des Tschechentums im Lande. Ahnliches ist in Deutschland in den von polnischen Elementen stark durchsetzten Provinzen Posen und Westpreußen geschehen. Es geht mit den Arbeitern wie nach der Greshamschen Regel mit dem Gelde; wie das schlechte Geld das gute aus dem Lande treibt, so treibt der schlechtere, d. h. der weniger zivilisierte und anspruchslosere Arbeiter den guten, d. h. höher zivilisierten und deshalb anspruchsvolleren Arbeiter rettungslos aus dem Lande. Die dereinst von dem deutschen Pflug mit Mühe und N o t gewonnenen Provinzen östlich der alten Sprachgrenze fallen dem Polentum wieder anheim. Die deutschen Arbeiter sind über See oder in die Städte ausgewandert, und die viel fruchtbarere polnische Bevölkerung hat die Lücken ausgefüllt, so daß der Prozentsatz des Deutschtums in diesen beiden Provinzen immer stärker zurückgeht. Hier nutzt es nichts, in Polen so wenig wie es in Böhmen irgend etwas genutzt hat, daß die römisch-rechtlichen Eigentümer, die Titulareigentümer des Landes, echte Deutsche waren: das Land ist doch tschechisiert, respektive polonisiert worden. Ja, die Kraft dieser Gesetze geht so weit,
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Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
daß sogar die direkte Germanisierungsaktion der preußischen Regierung dadurch stark gekreuzt worden ist. Man hat in der ersten Zeit mit Vorliebe deutsche Großbauern angesiedelt, d. h. solche Eigentümer zu römisch-rechtlichem Eigentum, die gezwungen sind, Gesinde zu halten, weil die von ihnen zu bewirtschaftende Fläche für die Kräfte der eigenen Familie zu groß ist. Und was war die Folge? Daß binnen kürzester Zeit die Dörfer zu mehr als der Hälfte ihrer Bevölkerung von polnischen Arbeiterfamilien besetzt waren, daß man gezwungen gewesen ist, in diesen Germanisierungsdörfern polnische Kirchen und polnische Schulen einzurichten, so daß der Zweck der Tätigkeit des Staates, die mit so ungeheuren Mitteln unternommen worden ist, wenigstens in diesen Dorfschaften gescheitert ist. Gegenüber dieser Macht der Tatsachen hat es nicht einmal etwas genutzt, daß der Preußische Staat sich selbst das Obereigentum vorbehalten hat, indem er die Güter nur als Rentengüter vergab, auf denen eine ewige Rente von einem Zehntel des Gutswertes stehenbleibt, so daß der Staat bei jedem Besitzwechsel das Recht hat, einzugreifen und den Ubergang des Eigentums an einen Polen zu verhindern. Die Eigentümer dieser großen Bauerngüter werden auf diese Weise Deutsche bleiben: aber das Land wird polonisiert werden.
Kolonisation durch selbstarbeitende Bauern und staatliches Obereigentumsrecht Man hat infolgedessen aus diesen Erfahrungen gelernt und siedelt jetzt zum allergrößten Teile kleinere Mittelbauern an, die im regelmäßigen Betriebe keine fremden Arbeiter brauchen, sondern mit ihrer Familienwirtschaft fertig werden·, und diese Dörfer werden Bollwerke des Deutschtums in dem polnischen Ozean bleiben. Auch hier hat sich übrigens der Staat in Gestalt des Rentengutsrechts sein Obereigentum durchaus vorbehalten, wie er denn auch in der sogenannten Besitzfestigung für bedrohte deutsche Bauerngüter und größere Güter, für die eine große Anzahl von Millionen zur Verfügung gestellt worden sind, sich das Obereigentum über das früher unbeschränkte Privateigentum durch eine Hilfsaktion gekauft hat; er reguliert die Hypotheken, gibt sie zu billigerem Zinsfuße, setzt die wankenden Besitzer wieder fest in den Sattel: aber er behält sich dafür als Gegenleistung die Statuierung seines Obereigentums vor; werden die Güter in Rentengüter verwandelt, so muß überall in das Grundbuch die Bestimmung eingetragen werden, daß der Besitzer nicht das Recht hat, an einen nichtdeutschen Besitzer weiter zu verkaufen.
Folgen des Privateigentums in Palästina Daß wir einer solchen nationalen Besitzsicherung auch in Palästina dringend bedürfen, ist heute allgemein anerkannt. Im ganzen Süden des Landes, in den großen Distrikten des Weinbaues, der Orangen- und Mandelkultur, sind weite Strecken mit dem Gelde des Baron Rothschild gekauft und an jüdische Eigentümer zu vollem Eigentum übertragen worden. Aber wer arbeitet in PetachTikwa, in Rechoboth und in Chedera und all den anderen judäischen Kolonien? Fast ausschließlich arabische Arbeiter; und es würden ausschließlich arabische Arbeiter dort vorhanden sein, dieses ganze mit jüdischem Gelde und jüdischer Mühe so mühselig erworbene Land würde vollkommen arabisiert werden, wenn nicht ein Zufall es gefügt hätte, daß wir in den jemenitischen Arbeitern
Gemeineigentum
und Privateigentum
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Menschen von fast der gleichen Anspruchslosigkeit und Leistungsfähigkeit erhalten haben, wie sie die eingeborenen Araber selbst darstellen. Trotzdem wird man den größten Teil dieser Kolonien immerhin noch auf nationales Verlustkonto buchen müssen. Hier kann nur eins auf die Dauer den nationalen Besitz wirklich schützen, und das ist die Einführung und ewige Statuierung des Obereigentums der Gemeinschaft über den Grund und Boden. Wenn der einzelne Besitzer eben nur als Nutzbesitzer zu meinetwegen ewigem Rechte oder auf sehr lange und unter bestimmten Bedingungen immer wieder zu verlängernde Pacht sitzt, dann kann man in seinen Erbbauvertrag jede Bedingung einsetzen, die für die Zwecke der Gesamtheit erforderlich scheint; man kann ihn wirksam daran verhindern, eben durch die Verträge, die im Erbbaurecht mit ihm geschlossen werden, andere als jüdische Arbeiter anzustellen oder gar an Nichtjuden zu verkaufen, eine Eventualität, die durchaus im Bereiche der Möglichkeit liegt, und die natürlich die jüdischen Dorfschaften noch ganz anders zerklüften würde, die noch ganz andere Keime der Zwietracht hineintragen würde, als bloß die Anwesenheit einer Unterklasse fremdnationaler und fremdsprachiger niederer Arbeiter. In national bedrohten Gegenden dem einzelnen Ansiedler das freie Verkaufsrecht und Verfügungsrecht in unbeschränkter Weise zu überlassen, das bedeutet, das Band lösen, das das Bündel Pfeile zusammenhält und unzerbrechlich macht. In solchen national bedrohten Gegenden, namentlich in neuen Siedlungsgebieten, die erst erworben werden müssen, ist irgendeine Statuierung des Obereigentums der Gesamtheit unbedingt erforderlich, und geschähe sie auch nur, was das allermildeste und einfachste ist, nach dem Ulmer System, wonach während einer sehr langen Zeit, 100-200 Jahre, die Gemeinde bei jedem Besitzwechsel das Rückkaufsrecht hat, gegen eine Entschädigung, die im einzelnen Falle durch ein Schiedsgericht nach den Statuten zu bestimmen ist. Die allerbeste Form der Statuierung des Obereigentums bleibt aber immer das genossenschaftliche Eigentum der Gesamtheit am Grund und Boden, von dem das einzelne Besitzrecht des einzelnen Erbpächters erst abgeleitet ist, dem es dauernd unterworfen bleibt, das immer zurückgezogen werden kann, wenn die Absicht bestehen sollte, gegen das nationale Interesse der Gesamtheit zu handeln. Man erobert ein Land für eine Nationalität weder mit dem Schwerte, noch mit dem Golde, sondern lediglich mit dem Pfluge. Das ist heute eine Weisheit, die man überall wieder schmerzlich gelernt hat. Man lese das prächtige Buch „Das deutsche Leid" von Bartsch; hier wird geklagt, daß in der südlichen Steiermark das Slowenentum unaufhaltsam vordringt; aber zum Schluß des von Schmerz durchbebten Buches wird das Heilmittel angegeben, das endlich gefunden worden ist: der Auskauf der slowenischen Großbesitzer und die Ansiedlung deutscher Kleinbauern auf ihrem ehemaligen Grundbesitz, solcher Bauern, die slowenischer Arbeiter nicht bedürfen. Das ist das eine große Bedenken des uneingeschränkten Eigentumsrechtes für Palästina, wie für die ganze Welt. Das zweite große Bedenken ist das der Uberschuldung.
Konkurrenzfähigkeit des ländlichen Kleinbesitzes Es ist weithin bekannt, daß von allen eigentlichen Mittelständen während der kapitalistischen Entwicklung sich nur der freie Bauer aufwärts entwickelt hat. Während die Handwerker der Städte unter der Konkurrenz des kapitalistischen Großbetriebes einer nach dem anderen niedergebrochen, ins Proletariat herabgesunken sind, hat der Bauer in allen Ländern der Welt, wo nur eine halbwegs vernünftige Gesetzgebung und Verwaltung existiert, in den letzten Dezennien fortwährend an Terrain gewonnen, nicht nur in größtem Maßstabe in Deutschland, sondern auch in den Vereinigten Staaten und in Neuseeland, wo die Riesenbesitze der alten Zeit fortwährend durch innere Kolo-
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Wirtschaftspolitik
nisation in Bauernhände übergehen. Die Ursachen sind bekannt; es besteht zwischen Bauern und Großgrundbesitzern keine Konkurrenz in dem Sinne derjenigen, wie sie zwischen dem Fabrikanten und dem Handwerker besteht; und der Bauer bedarf nicht jenes außerordentlich kostspieligen und immer mehr entschwindenden Hilfsmittels der fremden Arbeit des Lohnarbeiters, sondern er ist in der Lage, mit seinem familienhaften Betriebe seine Scholle vollkommen allein zu bestellen und zu versorgen. Da er außerdem an Intelligenz und Tatkraft immer weiter vorwärts kommt, da er fernerhin durch die von ihm ausgebildeten glorreichen Genossenschaftsbildungen von allen Seiten gestärkt und gestützt wird, so gedeiht er immer fröhlicher. Namentlich in Deutschland ist der Bauernstand außerordentlich in die Höhe gekommen, der Mittelbauernstand hat auf Kosten des Großgrundeigentums, der Großbauern und des Parzellenbesitzes seine Position außerordentlich gestärkt.
Kaufverschuldung und Erbverschuldung der Bodeneigentümer Aber es geht dennoch hier und da einmal ein Bauer zugrunde. In einigen Fällen, die niemals zu vermeiden sein werden, ist es persönliche Verschuldung, Lässigkeit, absolute Unzulänglichkeit der Intelligenz und der Anspannung, häufiger wohl auch Trunk und Spiel. Wo aber, und das ist in seltenen Fällen auch in Deutschland vorgekommen, ein Bauer zugrunde geht, der seine Sache versteht, der fleißig, intelligent und nüchtern ist, da ist er regelmäßig zugrunde gegangen an nichts anderem als an der Verschuldung. Und zwar gehen die sogenannten „Neubauern", d. h. diejenigen, die sich irgendwo auf früher noch nicht bäuerlichem Gelände angesetzt oder Bauernstellen käuflich erworben haben, häufig genug zugrunde an der ^«/Verschuldung; sie haben mit zu kleinen Mitteln häufig überteuer bezahlt und brechen dann bei dem ersten Rückschlag der Konjunktur an ihrer Schuldenlast zusammen. Aber das ist ein relativ seltener Fall gegenüber der furchtbareren ¿^¿Verschuldung. Solange ein Bauerngut in freiem Eigentum des Bauern steht, haben nach unseren Erbgesetzen, abgesehen von den Fällen der Eintragung in die Höferolle oder des Anerbenrechtes, wo der „bleibende Erbe" bestimmte bedeutende Vorteile vor seinen „weichenden" Geschwistern hat, haben, sage ich, alle Kinder des Bauern das gleiche Recht an der Erbschaft. Und in diese Erbschaft geht der relativ sehr hohe Wert des nackten Grund und Bodens als der stärkste Posten mit ein. Wenn also nicht sehr bedeutende Barmittel neben dem Bauernhofe hinterlassen werden, aus denen es möglich ist, die weichenden Geschwister abzufinden, so ist der junge Bauer gezwungen, seinen Geschwistern Hypotheken eintragen zu lassen; und er ist dann in vielen Fällen nichts anderes als der Hypothekenverwalter seiner Geschwister, die irgendwo in der Stadt als Lehrer, als Advokaten, als kleine Händler usw. wohnen und arbeiten und von dem Ertrage des Bauerngutes mit partizipieren, für dessen Existenz sie keine Verantwortung tragen, an dessen Arbeit sie nicht beteiligt sind. Wer diese Dinge nicht kennt, der lese des verstorbenen Dichters Wilhelm von Polenz großartige Bauerntragödie „Der Büttnerbauer". Hier geht ein schlesischer Großbauer, fleißig, tüchtig, nüchtern, trotz aller ungeheuren, fast übermenschlichen Anspannung rettungslos an der Hypothekenverschuldung zugrunde, die er hat auf sich nehmen müssen, um seine Geschwister abzufinden.
Gemeineigentum und Privateigentum an Grund und Boden
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Vermeidung der Überschuldung bei Erbpacht Diese Verschuldung, sowohl die ^«/Verschuldung des Neubauern, wie die £V¿>Verschuldung des altansässigen Bauern ist nichts anderes als die Folge des römisch-rechtlichen Eigentums an Grund und Boden. Wo dieses römisch-rechtliche Eigentum nicht besteht, sondern wo an dessen Stelle das einfache Besitzrecht unter dem Obereigentum der Gesamtheit besteht, wo namentlich der Bauer der Erbpächter seiner eigenen Genossenschaft oder seiner eigenen Gemeinde ist, da kann eine derartig hohe Verschuldung niemals vorkommen. Der Neubauer, der sich irgendwo niederlassen will, nimmt von der Gesamtheit oder Genossenschaft das Land, das er braucht, nicht in Eigentum, sondern nur in Besitz; er hat es nicht zu bezahlen, er hat infolgedessen daraufhin keine Schulden auf sich zu nehmen, sondern nur einen gewissen jährlichen Pachtzins (Kanon) dafür zu entrichten. Dasselbe aber gilt für den ansässigen Bauern: auch seine Erbverschuldung kann sich nur in den mäßigsten Grenzen halten, denn bei der Erbteilung geht der Wert des nackten Grund und Bodens nicht mit in die Erbschaftsberechnung ein, sondern nur das Gehöft und Inventar, und dessen Wert kann niemals so groß sein, daß der bleibende Erbe dadurch sehr stark belastet werden könnte. U n d hier ist dennoch der Gerechtigkeit Genüge getan; denn die weichenden Erben können unter diesen Umständen, wo auch sie jeden Augenblick Erbpächter einer Genossenschaft werden können, mit dem ihnen ausgezahlten Vermögen ihrer Erbschaft eine gerade so große Bauernstelle erpachten, als sie sie unter den heutigen Verhältnissen durch Kauf mit der größeren Erbschaft erwerben könnten. N u r , wenn sie in die Städte ziehen, sind sie im Verhältnis zu dem heutigen Zustand geschädigt; aber damit ist dann auch die Landwirtschaft der Blutegel ledig geworden, die ihr heute immer wieder das gesamte Lebensblut abzapfen.
Verhinderung der Spekulation Wer nicht das Wohlsein, nicht die Reichtumsvermehrung des einen momentanen Gutsbesitzers oder Bauerngutsbesitzers im Auge hat, sondern den dauernden Wohlstand der landwirtschaftlichen Bevölkerung, mag ihr Personenbestand wechseln wie immer, der wird sich entschließen müssen, das unbeschränkte Recht des römischen Eigentums zu beschränken und dafür das Obereigentum einzuführen, wie gesagt immer am besten in der F o r m des genossenschaftlichen Eigentums. Dafür ist charakteristisch, daß der in zionistischen Kreisen wohlbekannte deutsche Landwirt Hubert Auhagen durch praktische Erfahrungen zu demselben Resultat gelangt ist. Er hat es ausgesprochen, daß das Recht des freien Eigentums zu nichts anderem führt als zu spekulativen Verkäufen und zur Belastung der Landwirtschaft, betrachtet als eines dauernden Standes. Er erzählte z. B., daß es ihm einmal gelungen sei, unter Verzicht auf alle persönlichen Vorteile ein schönes Bauerngut, das unter Brüdern seine 16.000 Mark wert gewesen sei, bei einer großen Parzellierung dem Reflektanten für 12.000 Mark insgesamt abzugeben. Und was geschah? Binnen wenigen Wochen hatte der neue Besitzer das Objekt für 16.000 Mark an einen anderen verkauft und zog mit dem Gelde in die Stadt, um dort einen Kramhandel zu beginnen; der neue Besitzer aber war nicht im mindesten besser gestellt als der erste gewesen wäre, wenn die gemeinnützige Parzellierungsbank sich den Gewinn selbst in die Tasche geleitet hätte. Wenn man solche Dinge vermeiden will, wenn man eine wirklich auf die Dauer bodenständige, nicht spekulationslüsterne Bevölkerung auf dem Lande erhalten wissen will, dann muß man ihr die Möglichkeit zu spekulativen Verkäufen nehmen; und erst dann werden sie mit voller Hingabe sich ihrem schönen Berufe widmen; denn heute warten sie in allen
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Dorfschaften, wo irgendwie ein möglicher Spekulationsgewinn am Horizont auftaucht, auf den goldenen Regen, der ihnen durchs Dach tropfen soll, und vernachlässigen natürlich dabei die Pflege ihres Bodens und ihrer Ernte.
Erfahrungen mit genossenschaftlicher Dauerpacht in England Man kann sagen, daß diese Frage heute theoretisch völlig gereift ist, und daß jede kolonisierende Behörde unverantwortlich handelt, die noch immer das Bodeneigentum dem vollkommen unbeschränkten Besitz ausliefert; wenn man nicht die Absicht hat, unmittelbar Spekulanten hervorzuziehen und reiche Leute zu züchten, unter denen Sklavenscharen frohnden müssen, dann muß man aus ökonomischen, nationalen und humanitären Gründen die Form suchen, die das Besitzrecht unter dem Obereigentum der Gesamtheit statuiert und festhält, jene Form, die alle dem kleinen Eigentum nachgerühmten Vorteile verbindet mit allen Vorteilen des Obereigentums der Gesamtheit. Und diese Form ist nicht nur theoretisch bereits gefunden, im Eigentum der großen staatlichen Korporationen oder der Genossenschaften, sondern sie ist bereits praktisch erprobt. Im heutigen England, wo die Bewegung zur Rückgewinnung des Bodens für das Volk in vollem Gange ist, wo der Minister Lloyd George mit Anklagen gegen das Privateigentum an Grund und Boden und mit Vorschlägen zu seiner Beschränkung vorgeht, wie sie so radikal seit Jahrtausenden in der Welt nicht mehr erhört worden sind, hat sich diese Form bereits ausgebildet und aufs höchste bewährt. Es sind die sogenannten small holding societies, die Genossenschaften kleiner Landwirte, die sich zu einer Genossenschaft zusammentun; die Genossenschaft als Ganzes pachtet dann von einer Grafschaft eine Fläche Landes zu gemeinsamem Besitzrecht und verteilt unter die einzelnen Mitglieder das Land zu regelmäßigem dauernden Besitz. Es handelt sich also um eine Produzentengenossenschaft, die kein Eigentum an Grund und Boden hat, sondern nur Untereigentum unter dem Obereigentum einer staatlichen Behörde. Diese Form hat sich in England durchaus bewährt. Das Besitzrecht gibt den kleinen Leuten vollkommen das Gefühl der Dauer, ja der Ewigkeit, mindestens so stark wie das vollkommen unbeschränkte Eigentumsrecht; jede Spekulation mit dem Grund und Boden ist ausgeschlossen, und aus diesen beiden Gründen werden diese kleinen Besitztümer ausgezeichnet bebaut und werfen den Kleinbesitzern erhebliche Erträge ab, schaffen eine zufriedene und mit dem Boden verwurzelte Bevölkerung; und es ist gar keine Frage, daß diese außerordentlich brauchbare Form der Kolonisation sich in England schnell weiter ausdehnen wird, wenn erst die Widerstände, die noch die Selbstverwaltung (die auch dort in den Händen der großen Grundbesitzer und der Aristokratie ist) ihr entgegenstellt, überwunden sein werden.
Vorteile der Erbpacht für kapitalschwache Elemente Außerdem hat diese Form der Besiedelung noch einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: sie ist leichter einführbar als die Aufteilung in Eigenbesitz. Und zwar aus zwei Gründen: erstens richtet sie sich an eine Bevölkerungsschicht, von der nur ein geringeres Eigenvermögen verlangt werden muß, und d. h. natürlich an eine bedeutend breitere Bevölkerungsschicht. Wer den Boden käuflich erwerben soll, muß eine beträchtlich größere Summe baren Geldes in der Hand haben, als derjenige, der den Boden nur in Erbpacht erwerben soll. Wer nur ein kleines Vermögen hat, würde durch den Ankauf, durch Auszahlung des Bodens sich des Betriebskapitals vollkommen entäußern und
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von vornherein kränkeln müssen. Wenn er aber das gesamte kleine Kapital, das er in der Hand hat, in den Betrieb hineinstecken kann, weil er den Boden nicht hat auszahlen müssen, sondern gegen einen jährlich zu zahlenden billigen Kanon erhalten hat, so ist er von vornherein in den Sattel gesetzt und kann reiten. Der zweite Grund aber, und der fällt für Palästina und die jüdische Kolonisation noch viel schwerer ins Gewicht, liegt darin, daß es möglich ist, diese Form ganz allmählich aus dem Großbetriebe heraus zu entwickeln.
Erbpacht und Genossenschaft Wir haben in Palästina leider nicht mit geübten qualifizierten Landarbeitern zu tun, sondern in der Regel mit Städtern, die man erst durch einen intelligent geleiteten Betrieb hindurch passieren lassen muß, um sie anzulernen. Wir können unsere Leute nicht ohne weiteres auf Eigenstellen setzen und wirtschaften lassen; sie würden gar zuviel Fehler machen, und ihr Gedeihen wäre sehr in Frage gestellt. Wir müssen sie erst durch die Presse, sozusagen durch das Landerziehungsheim eines genossenschaftlichen Großbetriebes passieren lassen, damit sie die Qualitäten erlangen, die ein Bauer besitzen muß, um zu florieren. Hier bietet sich die Möglichkeit dar, aus solchem zunächst herrschaftlich geleiteten, von einem geeigneten Administrator geführten Großbetriebe allmählich überzuführen in den Privatbesitz unter dem Obereigentum der Gesamtheit. Die Skala, die ich in dieser Beziehung vorgeschlagen habe, und die ich augenblicklich in Merchawja in einem ersten Beispiel zu verwirklichen im Begriffe bin, ist ja bekannt. Wir haben zuerst den Großbetrieb unter Leitung eines fähigen Administrators mit den Ansiedlern als fest bezahlten Arbeitern, die aber nebenbei eine hohe Gewinnbeteiligung erhalten. Hier werden sie trainiert und können bei gutem Glück Ersparnisse machen. Wenn sie diese Ersparnisse gemacht haben, können sie nach einer Reihe von Jahren die mit ihnen vereinbarte Anzahlung leisten, und dann können sie das Gut „zur gesamten Hand" für sich erwerben. Und dann bleibt es ihnen überlassen, ob sie sich in eine Produzentengenossenschaft verwandeln wollen, d. h. unter Ausscheidung einer genügend großen Allmende für Gemeindezwecke das ganze Gut in kleine Einzelbesitze von Erbpächtern verwandeln wollen, denen natürlich die für nationale Besitzsicherungszwecke nötigen Beschränkungen auferlegt werden, und die sich, wie eben angeführt, unmöglich in verderblicher Weise verschulden können; - oder ob sie eine wahre Arbeiterproduktivgenossenschaft bilden wollen, d. h. den Hauptteil des Landes in gemeinsamen Betriebe weiter bestellen und ihren einzelnen Mitgliedern nur Teile des Grund und Bodens, kleinere Stellen zur Heimstätte mit etwas Acker, anweisen wollen, eine Kombination von Produktiv- und Produzentengenossenschaft. Uberall aber ist hier die Genossenschaft der Eigentümer, und der einzelne, sei er nun gewinnbeteiligter Genösse oder sei er selbständiger Erbpächter, wird überall nur das Untereigentum am Grund und Boden haben.
Der Zionismus und das Gemeineigentum am Boden So steht die Frage heute, wissenschaftlich völlig reif, bis in ihre letzten Konsequenzen völlig geklärt. Die moderne jüdische Bewegung muß sich an diese Gedanken gewöhnen. Sie muß es lernen, sich von den angeborenen und anerzogenen Vorstellungen über Eigentum, Spekulationsmöglichkeiten usw. loszulösen, und muß das große Ziel ins Auge fassen, das wir zu
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erreichen haben. Wenn die jüdische Kolonisation in Palästina gelingen soll, so muß sie nicht nur das Maximum dessen erreichen, was heute in Westeuropa besteht, sondern sie muß mehr erreichen. Sie muß sozial das fortgeschrittenste leisten, was im Momente erreichbar ist. Und darum muß sie die Fehler der früheren Siedlungsversuche auf das strengste vermeiden. Die Auslieferung des Grund und Bodens des heiligen Landes an einzelne Privatsubjekte muß auf die Dauer die nationalen Zwekke des Werkes auf das allerschwerste schädigen. Die moderne Entwicklung des Genossenschaftswesens hat uns das Mittel in die Hand gegeben, nach dem unsere Urväter in der schweren Zersetzung des Heiligen Landes vergeblich gesucht haben; was die Bestimmungen über das Jobeljahr, über den Rückfall an die Familie bezweckten, das läßt sich heute ohne weiteres erreichen durch das Mittel des genossenschaftlichen Gemeineigentums und des Unterbesitzes der einzelnen Erbpächter. Was der Nationalfonds heute tut, indem er den Boden als sein ewig unveräußerliches Eigentum erwirbt, das er nur zu produktiven Zwecken gegen seine Selbstkosten an Nationalgenossen weitergibt, das ist dem Sinne nach die exakte Ausführung der alten Vorschriften des biblischen Bodenrechtes; es knüpft an das fröhliche Ende der fröhliche Anfang sich an; nur so kann das Heilige Land wieder das Land werden, wo Milch und Honig fließt, und wo jeder, man bedenke wohl, jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum abends mit Weib und Kind ausruhen mag. Die Absicht dieser großen Volksbewegung kann nicht sein, den Boden des kleinen Landes an einige oder einige Tausend wohlhabender Menschen auszuliefern und den ganzen Rest der erlösungsbedürftigen Hunderttausende ihnen als proletarische Arbeiter zur beliebigen Ausbeutung hinzuwerfen, sondern der Zweck muß der sein, die alte genossenschaftliche Gleichheit des Volkes, mit der es in Palästina einwanderte, und die es durch Jahrhunderte bewahrt hat, auf dauernden Grundlagen wieder aufzurichten. Wir wollen den Fluch der heutigen kapitalistischen Zersetzung, wir wollen den Klassenhaß nicht einführen in das Heilige Land; wir haben mit dem Rassengegensatz zwischen uns und den Arabern und Türken noch genügend zu tun. Was das alte biblische Gesetz uns vorschreibt, was das heilige unverlierbare Gesetz in unserer inneren Brust uns befiehlt, die Brüderlichkeit, die vernünftige Gleichheit, das haben wir im Heiligen Lande wieder aufzurichten, wenn wir überhaupt das gewaltig ferne und hohe Ziel erreichen wollen, das unsere Kühnheit sich gesteckt hat. Wir müssen uns hüten, zu den fremden Götzen zu beten und um das goldene Kalb zu tanzen, damit uns der Fluch Gottes nicht wieder auf unabsehbare Zeit auf die Wüstenwanderung schicke. Das römische Eigentumsrecht ist die Schöpfung des blutigsten Kriegervolkes der Weltgeschichte, so scharf und spitzig zugeschliffen, wie der Stahl seiner welterobernden Speere. Es heißt das private Eigentumsrecht, wohl auch das privative, und d. h., wörtlich übersetzt, das beraubende Eigentumsrecht. Es heißt auch das „quiritische" Eigentumsrecht, und quires heißt der Bürger, und ursprünglich der Speerträger, der waffenfähige Mann. Es ist ein Recht der Eroberung mit dem Speere. Unter diesem Eroberungsrechte des Speeres hat niemand so schwer gelitten, wie das jüdische Volk, das der römische Speer über alle Welt zerstreut hat. Nicht das Recht des Speeres wird ihm sein Reich und Land wiederschaffen, sondern nur das friedliche, süße und sanfte Recht des Pfluges. Nicht die Herrschaft haben wir in Palästina wieder einzuführen, sondern ihr ewiges weltgeschichtliches Gegenspiel, die Genossenschaft. In diesem Zeichen werden wir siegen, in jedem anderen Zeichen werden wir untergehen.
Kriegswirtschaft
[1914]1
Der Krieg hat den Nationalökonomen eine ganze Anzahl von Überraschungen gebracht. So z u m Beispiel hat sich die v o m Standpunkt der Friedensökonomie aus unpraktische Erfüllung der Kapillaren unserer Volkswirtschaft mit G o l d als eine überaus starke Stütze unserer Währung erwiesen; ferner hat sich die v o m rein banktechnischen Standpunkt aus bedenkliche Organisation unserer Banken ebenfalls als ein Segen erwiesen: weil sie gleichzeitig Emissions- und Depositenbanken sind, waren sie im eigenen Interesse gezwungen, ihre Kunden über Wasser zu halten und dadurch die gesamte deutsche Wirtschaft vor schweren Erschütterungen zu bewahren. Auch über die einst so brennende Frage des Agrarschutzes dürfte mancher liberale Volkswirt heute anders denken wie vor dem 1. August 1914. Dagegen hat sich die Wirtschaftskrisis,
die uns der Krieg beschert hat, wohl
ihrer Ursache nach, aber nicht wesentlich ihrem Verlaufe nach von den gewöhnlichen Friedenskrisen unterschieden. Sie entstammte nicht den tiefen Widersprüchen der kapitalistischen Wirtschaft, sondern einer plötzlichen politischen Verwicklung; aber ihr Verlauf war zwar sehr viel sanfter, als die ersten erschreckenden Symptome vermuten ließen, zeigte aber dennoch das gesamte Symptomenbild einer regulären Krise; nur daß infolge des Goldausfuhrverbotes die an und für sich nicht allzu bedeutsame Erscheinung des sogenannten external drain, des Goldabflusses ins Ausland, zwar nicht ganz fehlte, aber sich doch in sehr bescheidenen Grenzen hielt. Eine Krisis ist die Desorganisation der volkswirtschaftlichen Arbeitsteilung und -Vereinigung durch eine große und weitverbreitete Absatzstockung und Preisverschiebung, die dasjenige unterbricht, was ich den „Kreditgeldverkehr" genannt habe. Die Volkswirtschaft ist nichts anderes als Kooperation: Arbeitsteilung und -Vereinigung. Ihre Mitglieder stellen durch ihre Arbeit entweder unmittelbar Dienste oder mittelbar Güter her, die dazu bestimmt sind, andere Mitglieder zu versorgen, und empfangen in Tausch dafür diejenigen Güter und Dienste, die sie selbst brauchen. Auf diese Weise ist immer einer auf den anderen angewiesen, und zwar in doppelter Hinsicht: jeder kann als Konsument nur versorgt werden, wenn alle anderen produzieren, und jeder kann als Produzent nur dann bestehen, wenn alle anderen gleichzeitig produzieren: denn sonst fehlen die Objekte, gegen die er seine eigenen Produkte vertauschen kann, und wenn sie fehlen, kann er selbst nicht mehr produzieren. Dieser Tausch erfolgt auf der niedersten Stufe unmittelbar: Ware gegen Ware; er erfolgt auf höherer Stufe mittelbar: Ware wird gegen Geld verkauft und für das Geld andere Ware eingekauft; er erfolgt auf höchster Stufe in der weitaus größten Zahl der Fälle wieder unmittelbar: Ware gegen Ware. Hier wird das Geld nur noch als Wertmaßstab benutzt, tritt aber nicht mehr materiell in den Tauschverkehr ein, sondern ein bestimmtes Q u a n t u m einer Ware wird unmittelbar getauscht gegen ein bestimmtes Q u a n t u m einer anderen Ware, nachdem beide durch „Messung an der Geldelle" als
1
Vortrag von Dr. Franz Oppenheimer, Privatdozent der Staatswissenschaften an der Universität Berlin, gehalten am 11. Dezember 1914. [Erstmals veröffentlicht in: Blätter für vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. 10 (1914/15), S. 249-261; A.d.R.]
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Erster Teil: Nationalökonomie
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Wirtschaftspolitik
gleichwertig befunden worden sind. Juristisch formal vollzieht sich dieser unmittelbare Tausch durch das „Kreditgeld": Wechsel, Konnossemente, Schecks, Umbuchungen im Bank- und ClearingVerkehr. Es handelt sich hier um einen in dem Kreise unzähliger Produzenten - die gleichzeitig Konsumenten sind - umlaufenden Warentausch, der in normalen Zeiten vollständig glatt und ungestört abläuft und seiner Natur nach auch ablaufen muß, und zwar aus folgendem Grund: Sehen wir von den übrigen Arten des Kreditgeldes ab, unterstellen wir der Einfachheit halber, daß nur Wechsel als Kreditgeld fungieren, so zeigt sich klar, daß jeder später ausgestellte Wechsel durchschnittlich auf einen höheren Betrag lauten muß als jeder früher ausgestellte, weil jeder Produzent auf seine Selbstkosten seinen normalen Gewinn aufzuschlagen hat. Ein Beispiel: Der Müller kauft auf Dreimonatswechsel von einem Landmann für 10.000 Mark Roggen, vermahlt ihn und verkauft Mehl und Kleie. Der Preis dieser seiner Produkte schließt nicht nur seine Selbstkosten ein, d. h. den Preis für den Rohstoff und die Aufwendungen für seine Verarbeitung, sondern auch seinen eigenen Gewinn, den Aufschlag, den jeder einzelne Produzent auf seine Selbstkosten machen muß, um diejenigen Dinge kaufen zu können, die er als Konsument braucht. Nehmen wir an, die Wechsel, die er auf die Brotfabrik und den Kleiehändler zieht, betragen zusammen 13.000 Mark. Die Brotfabrik ihrerseits, die dem Müller 10.000 Mark schuldig geworden sein mag, verbäckt das Mehl und zieht auf ihre Abnehmer, eine Anzahl von Brothändlern, zusammen Wechsel im Betrage von sage 12.000 Mark, ein Aufschlag von 2.000 Mark, der die gesamten General- und Spezialkosten der Verbackung und wieder jene Gewinne einschließt. In genau derselben Weise geht der Prozeß weiter im Kreise. Die Gewinne werden konsumiert und setzen das große Schwungrad der Produktion immer wieder in Bewegung. Jeder später ausgestellte Kundenwechsel muß also in normalen Zeiten durchschnittlich höher sein als jeder früher ausgestellte, und stellt daher ein absolut sicheres Papier dar. Der Teilnehmer an diesem Kreisverkehr ist immer in der Lage, aus dem von ihm gezogenen Wechsel auf seinen Nachmann den auf ihn gezogenen Wechsel seines Vormannes zu saldieren, bevor die Verfallsfrist abgelaufen ist. Und diese Gesamtsaldierung vollzieht sich, ohne daß irgendwelches öffentliches Geld in den Verkehr eintritt, lediglich durch das Kreditgeld. Das gilt aber nur für normale Zeiten! Sobald auf einem wichtigen Teilmarkt die Preise empfindlich fallen, ist die Voraussetzung des glatten Ablaufes dieses Verkehrs geschwunden. Der Wechsel, den irgendein Produzent des betroffenen Kreises auf seine Nachmänner ziehen kann, erreicht dank dem Preissturz einen geringeren Betrag als in normalen Zeiten. Selbst in dem Falle, daß der Betrag noch mehr als ausreicht, um seine Selbstkosten zu decken, bleibt ihm ein geringerer Gewinn, und er muß infolgedessen als Konsument seine Nachfrage einschränken; infolgedessen fällt der Preis seiner Konsumgüter, und die Produzenten dieser Güter kommen in die gleiche Lage wie er selbst. Im schlimmeren Falle aber reicht der Betrag, den er auf seinen Nachmann, seinen Kunden ziehen kann, nicht einmal mehr aus, um seine Selbstkosten zu decken, d. h. die Beträge auszugleichen, die er an seine Vormänner, seine Lieferanten, schuldig geworden ist, und dann wird der Wechsel notleidend, wenn der Schuldner nicht aus eigenem Vermögen oder eigentlichem Kredit das Defizit zu decken imstande ist. In diesem Falle wird natürlich die Rückwirkung, die die Verminderung seines persönlichen Konsums auf andere Zweige der Produktion ausübt, noch viel stärker. Schon dadurch wird der Kreditgeldverkehr empfindlich gestört, unter Umständen bereits unterbrochen. Aber diese Verheerung wird in wirklichen kritischen Fällen gesteigert durch einen Einfluß, der aus der Rechtsnatur des Kreditpapiers folgt. Der Wechsel enthält nämlich juristisch formal die Verpflichtung für den Bezogenen, am Verfallstage in öffentlichem Gelde zu bezahlen. Diese Verpflichtung ist, solange die Dinge normal verlaufen, d. h. solange das Preisniveau nirgends wesentlich erschüttert ist, eine reine Formalität. Niemandem fällt es ein, die Einlösung in öffentlichem Gelde zu beanspruchen. Sobald aber irgendwo ein Preissturz eintritt, wird die formale Verpflich-
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tung materielle Forderung. Der aus dem Wechsel Berechtigte besteht auf seinem Schein, verlangt Auszahlung in öffentlichem Gelde, lehnt es ab, neu entstandenes Kreditgeld dafür anzunehmen. Und das löst einen Prozeß aus, in dem fatalerweise alle Warenmärkte verheert werden müssen, auch diejenigen, die von der ursprünglichen Störung gar nicht betroffen wurden. Weil die Forderung auf Rechengeld (Kreditgeld) in eine solche auf Warengeld (öffentliches Geld, namentlich Hartgeld) umgeschlagen ist, wird es viel stärker begehrt als in normalen Zeiten; stark begehrte Waren steigen im Preise: folglich steigt Geld im Preise (nicht im Werte!!) - und d. h. nichts anderes, als daß alle anderen Waren im Preise fallen. Dann entfällt für alle, auch die bisher unbeteiligten Kreise des Kreditgeldverkehrs, die Voraussetzung, auf der allein er möglich ist, das normale Preisniveau, in dem das Halbfabrikat entsprechend höher steht als der Rohstoff, das Fertigfabrikat höher als das Halbfabrikat. Uberall wird die Annahme von Kreditgeld verweigert, die Leistung von öffentlichem Geld gefordert, dessen Preis infolgedessen immer höher steigt, so daß die Warenpreise immer tiefer fallen, ein circulus vitiosus, in dem die Wirkung immer wieder zur Ursache einer verstärkten Wirkung wird, bis schließlich der ganze Kreditgeldverkehr mit einem „Krach" auseinanderbirst. Und d. h. mit anderen Worten, daß die Kooperation, und das ist die Volkswirtschaft selbst, von ihrem „Lebensknoten" aus gelähmt wird. Dieser fehlerhafte Zirkel erfaßt nun auch noch den eigentlichen Kreditverkehr, den wirklichen Darlehnsverkehr. Schon der Aufschlag der Risikoprämie wird unter solchen Umständen so viel höher, daß eine beträchtliche Erhöhung des Gesamtzinsfußes die Folge sein muß; aber auch der eigentliche Diskont, der nackte Zinsfuß, steigt sprungweise durch einen Mechanismus, den ich entdeckt zu haben glaube: Wo so viele öffentliches Geld brauchen und ihre Waren bei fallendem Preise anbieten, um es zu erlangen, bieten viele auch Kapitalanlagen mit fester Verzinsung zum Verkauf aus, zum Beispiel Hypotheken, Obligationen, Anteile an Staatsanleihen. Der Kurs, d. h. der Preis dieser Papiere sinkt infolgedessen, und d. h., daß die Kapitalrente, die sie abwerfen, im Verhältnis zu ihrem Geldwerte steigt. Wer einen dreiprozentigen Konsol zu 75 kauft, hat 4 Prozent Zins. Da aber der Ertrag festverzinslicher Anlagen immer in bestimmtem Verhältnis zu dem allgemeinen Diskont steht, muß auch der Diskont steigen, und unter Umständen auf wahnsinnige Höhe steigen, wie es im Panikstadium amerikanischer Krisen beobachtet werden konnte. Wo aber der Kredit sich derart verteuert und zusammenschrumpft, muß die Produktion sich ebenfalls zusammenziehen; niemand kann bei steigenden Kosten und sinkenden Preisen seine Erzeugung lange fortführen. Wenn aber in dem Kreise der Kooperation Μ, Ν, O und Ρ aufhören müssen, in dem bisherigen Umfange Produkte zu erzeugen, so können auch A bis L und Q bis Ζ nicht weiterarbeiten, weil ihnen der Absatz fehlt. Daß dieser ganze Komplex noch durch sozusagen akzidentelle Dinge verschlimmert wird, braucht hier nur angedeutet zu werden. Die ersten Bankerotte bringen die Panik und die Runs auf Banken und Sparkassen, um öffentliches Geld zu erlangen, da man die Kapitalansprüche gefährdet glaubt. Das zwingt unter Umständen die Banken und Sparkassen ihrerseits zu verfrühter Kündigung von ausgegebenen Krediten und treibt den Diskont noch höher. Ferner sind in sozusagen normalen Krisen die verwandten Erscheinungen des „internal" und „external drain" sehr regelmäßig zu beobachten. Der „internal drain" ist der unterirdische Abfluß des öffentlichen Geldes aus der Zirkulation; es verkriecht sich in Schubladen, Strümpfen, Geldschränken und Stahlkammern oder wird als ungeheuer vermehrte „Portemonnaie-Reserve" herumgeschleppt. Der „external drain" ist der oberirdische Abfluß des Geldes, und zwar des Hartgeldes, vor allem des Goldes, ins Ausland, das Effekten gegen bar verkauft, Guthaben und „Pensionen" kündigt und zurückzieht und Finanzwechsel unterzubringen sucht. Der „internal drain" wirkt durch die katastrophale Verminderung der in der Zirkulation „sichtbaren" Geldmenge erhöhend auf den Preis des Geldes und erniedrigend auf den der Ware, und dadurch mittelbar erhöhend auf den Diskont, während der „external
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drain" unmittelbar auf den Diskont einwirkt, weil die Zentralbank des von der Krisis befallenen Landes, um ihre Valuta zu schützen, gezwungen ist, den offiziellen Bankzinsfuß sprung- und prozentweise heraufzusetzen, das einzige Mittel, um fremdes Geld festzuhalten und schnell anzulokken, und fremde Kreditwünsche auf den eigenen Vorrat abzudämpfen. Das Zentrum des Wirtschaftsbebens, das uns der Weltkrieg brachte, waren die beiden Gebiete der Exportindustrie und des auswärtigen Handels, Ein- und Ausfuhr samt ihren Hilfsgewerben einerseits, und der Luxusgewerbe andererseits. Die See wurde uns mit einem einzigen Schlage vollkommen gesperrt, zuerst auch die Ostsee; auch über unsere Landgrenzen war lange kaum ein Handel möglich, weil unsere größten Grenznachbarn, Frankreich und Rußland, dazu Belgien, mit uns im Kriege lagen, weil unsere verbündeten und neutralen Nachbarn alle Hände voll zu tun hatten, um sich selbst zu versorgen, und weil unsere eigenen Transportwege für Kriegszwecke vollkommen verlegt waren. Ein ungeheurer Handel, der allein an Gütern während des Jahres 1913 für fast 22.000 Millionen Mark herüber und hinüber bewegt hatte, stockte katastrophal; alle die Produzenten der Güter für diesen Außenhandel waren plötzlich ohne jeden Absatz, ebenso alle die unzähligen Produzenten, die für diesen gleichen Verkehr Dienste als Reeder, Spediteure, Makler, Bankiers, Schiffbauer, Stauer, Kreditgeber und -vermittler usw. geleistet hatten: und viele von ihnen erlitten noch über diesen Schaden hinaus schwere Schädigungen dadurch, daß ihre Schiffe oder ihre auf deutschen und anderen Schiffen schwimmenden Waren nicht mehr in den Hafen gelangten, und daß Rimessen in Geld oder Wechseln nicht eingingen, sei es, weil die feindlichen Regierungen ihren Untertanen Zahlungen an Deutsche verboten, sei es, weil überall, außer in Deutschland selbst, Moratorien eingeführt wurden. Das zweite große Gebiet, auf dem die Preise nicht nur sanken, sondern geradezu in den Abgrund stürzten, weil der Absatz völlig unterbrochen wurde, war die im reichen Deutschland sehr ausgedehnte Luxusindustrie, die für den heimischen Markt arbeitet. Namentlich litten alle Zweige der Textilindustrie und alle diejenigen Produzenten, die Luxusdienste leisteten: Dienstboten, Schauspieler, Artisten, Vortragskünstler, Privatlehrer usw. Das bedingte namentlich anfangs eine ungeheure Arbeitslosigkeit unter den weiblichen Arbeitern fast aller Qualifikationsstufen. Unter diesen Umständen mußte der regelmäßige Symptomenkomplex einer schweren Krisis ausbrechen. Der Kreditgeldverkehr drohte vollkommen zusammenzubrechen. Kein Vormann wollte mehr gegen Wechsel usw. an seine Nachmänner liefern, und jeder Vormann verlangte von seinen wechselverpflichteten Nachmännern öffentliches Geld, wie sein formelles Recht war. Eine ganze Anzahl von Konventionen usw. beschlossen sofort, daß ihre Mitglieder fortan nur noch gegen bare Kasse, d. h. öffentliches Geld, verkaufen dürften, und auch bei Banken und Sparkassen fing ein starker Run an, sich bemerkbar zu machen. Wie stark das Verlangen nach öffentlichem Gelde war, läßt sich sehr einfach zeigen: offenbar war während der ersten Kriegswochen der Gesamtumsatz im deutschen Inlandverkehr nur ein winziger Bruchteil des normalen; wenn sich sonst nichts geändert hätte, hätte demnach der in Zirkulation befindliche Vorrat an öffentlichem Gelde über und über ausreichen müssen: statt dessen bestand ein solcher Mangel, daß zeitweilig „Privatgeld" von einzelnen Städten ausgegeben werden mußte, um die nötigen Umsatzmittel zu beschaffen; und die Druckpressen der Reichsbank haben monatelang Tag und Nacht Banknoten und Darlehnskassenscheine herstellen müssen, ehe der Bedarf an öffentlichem Gelde gedeckt war obgleich inzwischen die Krisis schon beseitigt, der Kreditgeldverkehr weithin schon wieder hergestellt war. Es hatte eine Zeit hindurch also öffentliches Geld hohen Preis, und mithin hatten Waren aller Art, auch Kapitalstücke, niederen Preis; darum sank der Kurs festverzinslicher Anleihen, und stieg der Diskont. Auch die übrigen typischen Erscheinungen waren gegeben, vor allem der „internal drain", während der „external drain", wie gesagt, kaum stattfinden konnte. Aber im Inland verkroch sich das öffentliche Geld, namentlich das Gold, in Strümpfen, Schubladen und Stahlfächern;
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und fast jeder schleppte eine kolossale „Portemonnaie-Reserve" mit sich herum. Wieviel Hartgeld auf diese Weise versteckt wurde, läßt sich daraus erkennen, daß der Reichsbank in dem verflossenen Halbjahr rund 3A Milliarden Goldgeld aus dem freien Verkehr zugeflossen sind, ohne daß dieser Strom schon zu versiegen droht. Noch im Januar führte er an dreißig Millionen Gold in einer Woche in ihre Kassen. Eine Friedenskrisis, die auf einer gleich gewaltigen Preisverschiebung und Absatzstockung beruht hätte, hätte unsere ganze Volkswirtschaft verwüstet. Diese Kriegskrisis hat sie kaum erschüttert. Und das danken wir zuerst den Siegen unserer Braven an der Front, ohne die selbst die musterhafte Vorbereitung unseres Geldwesens durch den „Generalgeldmarschall" Havenstein ihre Erfolge nicht hätte erreichen können; und zweitens dem Umstände, daß der Staat in einem bisher noch niemals erhörten Maße für Beschäftigung gesorgt hat. Um den abgerissenen Kreditgeldverkehr und die gesellschaftliche Kooperation wieder herzustellen, war eine ökonomische Person erforderlich, die mit einer ungeheuren kaufkräftigen Nachfrage nach Gütern und Diensten als „letzter Konsument" auftrat, der all das unmittelbar für seine eigenen Bedürfnisse verwendet, nichts zur Weiterproduktion für den Markt beschafft. Nur unter dieser Bedingung konnten so viele Α, Β und C an die Arbeit gestellt werden, daß die D bis 2 wieder Absatz fanden und die Produktion neu aufnehmen konnten. Als dieser Märchenkunde trat der Staat auf. Er übte zunächst eine unerhörte Nachfrage nach „Diensten" aus, indem er etwa sechs Millionen Männer zur Kriegsarbeit aufrief und besoldete, so besoldete, daß auch die Angehörigen existieren konnten. Er übte ferner eine ebenso unerhörte Nachfrage nach „Gütern" der Kriegsführung aus, nicht nur nach Waffen aller Art, vom Seitengewehr und der Patrone bis zum neuen Kriegsschiff, sondern auch nach Automobilen, Pneumatiks, Telephonapparaten, Uniformtuch, Konserven, Verbandzeug, Arzneimitteln usw. und versorgte dadurch neue Millionen mit Arbeit. Und zwar mit gutbezahlter Arbeit! Denn dieser Märchenkunde übt eine „wirksame" kaufkräftige Nachfrage aus. Er hat so viel „Geld", wie er irgend braucht, denn er macht es selbst, in Reichsbanknoten und Reichskassenscheinen, und hat außerdem so viel „Kapital", wie er irgend braucht, besitzt also das Mittel, um eine Überfüllung des Verkehrs mit Noten zu vermeiden, die ihre Entwertung zu Assignaten zur Folge hätte. Er kann, solange er noch irgend Kredit hat, seine Noten gegen seine Konsols eintauschen und so der Zirkulation das Ubermaß von Papier entziehen. „Kapital" ist ein Rechtstitel auf ein jährliches, festes oder unbestimmtes Einkommen, d. h. auf Zins oder Dividende. Jeder kann „Kapital bilden", der es in seiner Macht hat, eine Machtposition abzutreten oder neu zu schaffen, die ein Einkommen abwirft oder abzuwerfen verspricht. Wenn ich einen Teil des regelmäßigen Ertrages abtrete, den mir das Eigentum eines Mietshauses oder Landgutes abwirft, d. h. eine Hypothek aufnehme, so trete ich einen Teil einer schon bestehenden Machtposition ab. Als die Berliner Polizeibehörde den numerus clausus der Automobildroschken einführte, schaffte sie eine neue Machtposition, die alle Charakteristika des Kapitals aufwies. Der glückliche Inhaber einer Nummer hatte ein stattliches Extraeinkommen und war jeden Augenblick in der Lage, diesen rentablen Eigentumstitel für den „Kapitalisierungswert" von 8.000-12.000 Mark zu verkaufen. Nun ist der Staat kraft seiner Hoheit berechtigt, neue Machtpositionen zu bilden, indem er Teile aus dem Erträgnis seiner künftigen Finanzgebarung verkauft. Er verkauft eine jährliche Rente und empfängt dafür Geld oder geldwerte Güter und Dienste, deren er für seine Gegenwartszwecke bedarf. Dagegen ist eingewendet worden, daß der Staat zwar so viel Kapital anbieten kann, wie er will, daß er aber nur im beschränktem Maße darauf rechnen kann, auch Abnehmer dafür zu finden, die den Gegenwert besitzen, d. h. Ersparnisse. Und das ist auch cum grano salis ganz richtig. Nur darf man nicht annehmen, daß die gesellschaftliche Gesamtersparnis eine starre, feste Größe ist. Der
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Staat kann dafür sorgen, daß sie sehr stark wächst, indem er den Diminuendus, die Gesamtproduktion, vermehrt, und den Subtrahendus, den Gesamtkonsum, einschränkt. Das letztere tut er, wenn er seine Anleihen mit hohem Zinsfuß und guten Gewinnchancen herausbringt: dann wird erstens mehr an Konsumgütern gespart, und zweitens sinkt auch der „produktive Konsum" an Werkgütern; mit anderen Worten der Staat lockt die ersparten Mittel, die sonst in allen möglichen anderen Anlagen festgelegt worden wären, zu sich herüber, weil er den Sparern bessere Bedingungen bietet. Vor allem aber kann der Minuendus, die Gesamtproduktion, durch den Staat enorm vermehrt werden, wenn er durch seine Aufträge für den eigentlichen und den „produktiven Verkehr" in Krisenzeiten den abgerissenen Kreditgeldverkehr wieder zusammenfügt und womöglich alle produktiven Kräfte der Volkswirtschaft, Menschen und Werkzeuge, zu voller Leistimg anspannt, vielleicht sogar durch bessere Ausstattung mit wirksameren Werkzeugen zu höherer Gesamtleistung befähigt. Dann wächst die Gesamterzeugung von Gütern (und Diensten) so sehr, daß selbst ein kolossaler Staatsbedarf Befriedigung finden kann, ohne daß der eigentliche und der produktive Konsum überhaupt leiden müssen. Man muß sich doch klar machen, daß der Staat kein „Geld" braucht, um Krieg zu führen, sondern Güter und Dienste, und daß, trotz noch so stark vermehrter Bedürfnisse der Staatswirtschzh, dennoch die Vo/fewirtschaft die bedurften Wertdinge im gewohnten Ausmaß erlangen kann, wenn es eben nur erreichbar ist, die Gesamterzeugung um den vom Staat bedurften Betrag zu steigern. Das ist im vorliegenden Falle nicht ganz erreicht worden, aber es ist doch fast ganz erreicht worden. Der Staat ist für den eigentlichen letzten Konsum an Kriegsmitteln aller Art mit einer so kolossalen wirksamen Nachfrage auf dem Markt erschienen, daß unzählige produktive Kräfte von Mensch und Maschine zur letzten Anspannung beschäftigt wurden, daß die Gesamterzeugung auf breiten Gebieten der Produktion ungeheuer gesteigert wurde. Einen Teil dieses Plus hat der Staat gegen Hergabe seiner Kriegsanleihe an sich gezogen, einen anderen Teil kann und wird er als Steuer unentgolten einziehen, der Rest ist groß genug, um den Produzenten die Lebenshaltung fast im gewohnten Ausmaß zu ermöglichen. Gleichzeitig aber hat die Anregimg der Produktion auf einigen großen Gebieten die gesellschaftliche Kooperation in ihrer Totalität wieder zusammengeknüpft, hat die Volkswirtschaft im ganzen „angekurbelt" - und so hatte das ganze Volk, auch die nicht unmittelbar an Kriegslieferungen Beschäftigten, den Segen davon, wie auch der Staat selbst, der dadurch überall potente Steuerzahler und „Sparer" geschaffen hat, fähig, seine Anleihen aufzunehmen. Diese segensreiche Einwirkung hat aber der Staat noch vielfach dadurch gesteigert, daß er nicht nur den „letzten", sondern auch den „produktiven Konsum" gewaltig angeregt hat. Er hat ungeheuere Summen, wenigstens zwei bis drei Milliarden Mark, für alle möglichen Friedenszwecke zur Verfügung gestellt, um die Grundlage der volkswirtschaftlichen Produktion zu erweitern und zu befestigen: für Landeskultur und Meliorationen im größten Stil, namentlich für Moor- und Heidekultur, für Eisenbahn- und Kanalbauten, für Beschaffung von rollendem Material, für Hochbauten, für Kartoffeltrocknungsmaschinen usw., und hat dadurch weitere ungeheure produktive Kräfte von Mensch und Maschine zur höchsten Leistung angespornt, neue sekundäre Nachfrage auf allen möglichen anderen Gebieten der Produktion geschaffen und hier wieder die produktiven Kräfte ans Werk gestellt. Vielleicht darf sich der Verfasser ein bescheidenes Verdienst daran zuschreiben, daß diese überaus segensreiche Einwirkung des Staates, die der deutschen Volkswirtschaft geholfen hat, über die Krisis fortzukommen, sehr früh erfolgt ist. Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges überreichte ich dem Reichsamt des Innern eine Denkschrift „Organisierung der Wirtschaft", in der ich großartige Aufträge für Friedenszwecke als das Mittel zur Heilung der Krisis vorschlug. Es heißt darin:
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„Hunderttausende, vielleicht Millionen von Arbeitern kann der Staat mit seinen Untergliedern sofort unmittelbar an die Arbeit stellen, oder mittelbar durch seine Aufträge beschäftigen. Und das bedeutet für weitere Millionen von Staatsbürgern Arbeit, Verdienst, Erlösung aus der Not der Zeit. Wo die große Masse in Arbeit und Lohn steht, haben alle Gewerbe zu tun, die ihre Lebensbedürfnisse erzeugen, nicht nur Bäcker, Schlächter, Brauer und Müller, sondern auch die Textilindustrie, die Lederindustrie und unzählige andere. Was der Staat an Nachfrage schafft, vervielfältigt sich nach den Gesetzen der volkswirtschaftlichen Arbeitsteilung, wie ein Schall in einem Gewölbe unendlich widerhallt, wie ein Lichtstrahl aus unzähligen Spiegeln unzählige Male zurückgeworfen wird. Die staatliche Nachfrage schafft private Nachfrage im vielfachen Ausmaß ihrer selbst, und das bedeutet das Wiedererwachen der Produktion und des Tauschverkehrs, auch in bescheidenen Grenzen des Kreditgeldverkehrs; die gelähmte Wirtschaft gewinnt den Gebrauch ihrer Kräfte zurück! Sie wird mit halber, vielleicht mit Viertelkraft arbeiten, aber sie wird arbeiten. [...] Das ist mein Vorschlag. Wem er allzu paradox erscheint, der denke an die paradoxe Tatsache, daß man ein wankendes Gewölbe am sichersten dadurch festigt, daß man es belastet! [...] Das Ziel sollte sein, unmittelbar und mittelbar so viel Arbeitsgelegenheit zu schaffen, daß womöglich alle arbeitsfähigen Nicht-Wehrpflichtigen beider Geschlechter ins Brot kommen. Dieses Ziel wird wahrscheinlich nicht ganz erreichbar sein - aber man kann ihm nahe kommen, die Wohltätigkeit ungeheuer entlasten, die heute schon zusammenzubrechen droht, Zufriedenheit verbreiten und vielleicht gefährliche Spannungen vermeiden, die deutsche Volkswirtschaft bis zum Frieden wenigstens über Wasser halten. Wir stehen im Kampf mit aller Welt wie zur Zeit des Siebenjährigen Krieges. Da sollten wir uns freudig erinnern, daß Friedrich der Einzige nicht nur ein Kriegsfürst sondergleichen war, sondern auch ein Organisator seiner Volkswirtschaft von unerhörter Kraft und Weisheit. Wir hoffen, im Felde nach friderizianischer Weise zu siegen - es wird der höchste Ruhm des Siegers sein, wenn er zugleich in der Heimat nach friderizianischer Weise gebaut und geschafft hat, wenn er mitten im Kriege den Frieden vorbereitet hat." So paradox es klingen mag, die Anpassung an den Kriegszustand würde noch vollkommener sein, wenn nicht die Aussicht auf einen mindestens relativ nahen Frieden bestände. Wo es sich nämlich um endgültige Umwälzungen der Produktion handelt, da führt die „Selbststeuerung der Volkswirtschaft" durch die Preisbildung sehr schnell dahin, daß Arbeit und Kapital aus denjenigen Zweigen der Produktion abströmt, deren Erzeugnisse weniger wichtig sind, und in diejenigen einströmt, deren Erzeugnisse wichtiger sind. Wo es sich aber um einen vorübergehenden Zustand handelt, hat man auf der einen Seite keine Veranlassung, radikale Abschreibungen zu machen und das gerettete Kapital entschlossen auf ein günstigeres Feld anzuwenden - und hat auf der anderen Seite nicht den Mut, auf günstigem Felde starke Investitionen zu machen, die bei Wiederkehr der alten Verhältnisse gefährdet oder verloren wären. Darum werden z. B. die Exportindustrie und ihre Hilfsgewerbe nach Möglichkeit weiter gehalten, während der Landwirtschaft nicht die Mittel zuströmen, die die augenblickliche Preisstellung ihrer Produkte rechtfertigen würde, wenn man sie als dauernd ansehen könnte. Dennoch hat sich die Anpassung in staunenswerter Weise vollzogen, und zwar, außer durch die Selbststeuerung durch den Preis, durch unmittelbare Einwirkung des Staates mit seinen administrativen Untergliedern und all die großen Organisationen des Kapitals und der Arbeit. Sie sämtlich treiben „Volkswirtschaftspolitik" im Sinne meiner Definition, d. h. Arbeit nicht im Sinne des Privatinteresses oder des fiskalischen Interesses, sondern des allgemeinen Nutzens, tatkräftig unterstützt von den nur diesem Zwecke dienenden „privaten Organisationen des gemeinen Nutzens", vom Roten Kreuz und dem Vaterländischen Frauenverein an bis zu den Vereinen gegen Verarmung und den Suppenküchen.
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Die Eingriffe des Staates in das freie Spiel der Kräfte waren nicht immer glücklich, wie man weiß. Die Einführung von Höchstpreisen ohne gleichzeitige Beschlagnahme des Bestandes an Brotfrüchten und Futtermitteln war ein Fehler, vor dem die Theorie von jeher gewarnt hat. Man mußte sofort mit ganzen Maßnahmen eingreifen, wie es jetzt geschehen ist, oder gar nicht, um „durch die Teuerung die Hungersnot zu verhüten". Dann hätte nie die Sorge auftauchen können, ob eine Volkswirtschaft den Krieg durchhalten kann, die im Jahre 1913: 95,2 % ihres Brotkornbedarfes und ungefähr ebensoviel ihres sehr starken Fleischkonsums aus eigener Produktion decken konnte, letzteren allerdings nur dank einer enormen Einfuhr von Futtermitteln. Dennoch kann kein Zweifel bestehen, daß wir dieses Defizit und das ebenfalls beträchtliche Defizit an Fett viel leichter hätten decken können, als wir es jetzt tun können, - glücken wird es ja nach allem was wir hören, auch jetzt noch - wenn von Anfang an nicht die wohlgemeinte Mahnung, sondern der Zwang zur sparsamen Wirtschaft bestanden hätte, wäre es nun der Zwang sehr hoher Preise oder der Verteilung von Amts wegen gewesen. Auf Einzelheiten, namentlich der künftigen Nahrungsversorgung, einzugehen, fehlt mir hier der Raum. Aber wir dürfen mit gutem Gewissen sagen, daß die Ko/fawirtschaft einen Krieg auch von sehr langer Dauer ungebrochen wird durchhalten können, - viel besser als unsere Gegner, mit vielleicht der einzigen Ausnahme Englands. Namentlich Rußland, das fast allen Kriegsbedarf vom Auslande kaufen muß, wo seine Noten keinen Kurs haben, und seine Anleihen kaum einen Markt finden werden, kann kaum noch lange aushalten, während wir fast alles, was der Krieg braucht, im Inlande herstellen. Anders steht es mit der Stoatswirtschaft, dem Fiskus. Dieser Märchenkunde verschuldet sich ungeheuer, mit 10-12 Milliarden jährlich in jedem Kriegsjahr, ohne den Invalidenfonds, der auch auf viele Milliarden geschätzt werden muß - und Verzinsung und Tilgung dieser Riesenschuld werden einmal auf die Volkswirtschaft zurückfallen. Darum wäre zu erwägen, ob man nicht sehr bald einen Teil der Kriegskosten durch Steuern statt durch Anleihen decken sollte, durch eine progressive Einkommensteuer und namentlich durch eine stark progressive Wertzuwachssteuer,
die die Gewin-
ne der Kriegslieferanten zum Teil wenigstens dem Reiche wieder zuführt. Es hat heute niemand ein moralisches Recht auf starke Bereicherung. Auf diese Weise läßt sich erreichen, daß die Verschuldung des Reiches keinen allzu gefährlichen Grad ersteigt. Wir müssen uns ein für alle Male klar machen, daß ein Kriegszustand von jeher eine mehr oder weniger kommunistische Wirtschaft bedingt hat - wie denn auch fast aller praktische Kommunismus der Geschichte immer nur die Ordnung eines Kriegslagers gewesen ist. Wir haben auch hier eine Anpassung, dieses Mal seelischer Art, zu vollziehen, indem wir den uns in Friedenszeiten beherrschenden Individualismus und Egoismus zum Teil wenigstens aufgeben. Das berauschende Gemeinschaftsgefühl, das wir in uns und um uns erleben, und das alle die Traurigkeiten dieses Weltbrandes und Weltgemetzels weit überwiegt, muß uns wieder lehren, das auch in wirtschaftlichen Dingen das „einer für alle und alle für einen", zu gelten hat. Derart vorbereitet, brauchen wir die ganze Welt nicht zu fürchten.
Weltwirtschaft und Nationalwirtschaft
[1915]
Inhalt
Erstes Kapitel: Krisis
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Zweites Kapitel: Anpassung
95
[Erstmals erschienen als eigenständige Publikation im G. Fischer Verlag, Berlin 1915; A.d.R.]
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Erster Teil: Nationalökonomie
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Erstes Kapitel: Krisis Alle Bemühung um die nationalökonomische Theorie hat zur stillschweigenden Voraussetzung den Friedenszustand, ja sogar den friedlichen Völkerbund. Man kann die Gesetze der Wirtschaft kaum an einem anderen Objekt als an dem „Isolierten Staat", jener genialen Konstruktion des deutschen Volkswirtes Johann Heinrich von Thiinen, dem Staate des auf unendlichem Landbesitz angesessenen, durch keine politischen Grenzen eingeschnürten nachbarlosen Volkes. Alle politische Einwirkung, alle „außerökonomische Gewalt", um mit Marx zu sprechen, ist in der Rechnung des Nationalökonomen lediglich eine „Störung" der rein-wirtschaftlichen Kräfte. Das ist gut und richtig - solange es in seinen Grenzen bleibt, d. h. als Vorarbeit, als Orientierung. Muß doch auch der Arzt die normale Anatomie und Physiologie genau kennen, ehe er versuchen kann, die Pathologie zu verstehen. Alle Krankheit ist nichts als „der Prozeß des Lebens unter veränderten Verhältnissen", man muß in der Volkswirtschaft wie in der Heilkunde den normalen Lebensprozeß kennen, um den krankhaften zu verstehen und zu beherrschen - aber man muß nicht glauben, damit allein auslangen zu können. Dieser Gefahr der Einseitigkeit sind die nationalökonomischen Theoretiker nicht immer entgangen. Schon der große Quesnay mußte sich von einem geistreichen Merkantilisten seiner Zeit die spöttische Frage gefallen lassen: „Wo liegt dieses Königreich und wo sind seine Grenzen?" Und unser Friedrich List hat die volle Schale seines Hohnes auf die „Schule" ergossen, die eine „Volkswirtschaft an sich", ein blutloses Abstraktum anstatt einer konkreten realen „Nationalwirtschaft", zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machte. Wir wollen nicht fragen, ob sich die Gegner der klassischen Schule nicht ähnlicher und ebenso gefährlicher Einseitigkeiten schuldig gemacht haben. Wir wollen nur zugeben, daß auch uns heute noch der Weltkrieg eine ganze Anzahl von Überraschungen gebracht hat, indem er uns zeigte, daß viele Dinge vom Standpunkt der „nationalen Ökonomie" aus ganz anders beurteilt werden wollen als von dem des Isolierten Staates. Einige davon mögen angeführt werden. Die Erfüllung der deutschen Zirkulation mit Hartgeld und namentlich mit Gold ist vom Standpunkte der reinen Ökonomie aus ein Unfug gewesen. Wenn es gelang, den Bargeldverkehr so weit durch den Scheckverkehr zu ersetzen, wie das in Großbritannien der Fall ist, konnte die deutsche Volkswirtschaft eine ungeheure Menge Goldes, zwischen einer und zwei Milliarden Mark, exportieren und dafür entweder fremde Waren oder fremdes „Kapital" erwerben, d. h. vom Ausland um fünfzig bis hundert Millionen Mark jährlich mehr Tribut erlangen, als es schon heute erhält. Sicherlich eine sinn- und nutzlose Vergeudung! Das deutsche Volk handelte wie ein Mann, der viel mehr Kasse hält als er nötig hat, also Zinsen einbüßt. - Jetzt aber zeigt sich im Kriege, daß diese „barbarische Rückständigkeit" ein Segen war. Unsere Reichsbank hat aus dem Verkehr große Goldmassen an sich ziehen können und wird noch mehr an sich ziehen: sie hat heute einen größeren Goldschatz als je, und ihre Noten sind zu mehr als einem Drittel mit Gold gedeckt, trotzdem es ein öffentliches Geheimnis ist, daß sehr große Goldmengen als Subsidien für eine befreundete Macht außer Landes gegangen sind. Wenn unsere Valuta den Stoß so gut vertragen hat, so danken wir das neben den Siegen unserer Braven am Feinde der Goldplethora unserer „rückständigen" Zirkulation. Ein anderes Beispiel: vom Standpunkt der reinen Ökonomie aus liegt in der Organisation unserer Großbanken eine gewiß nicht geringe Gefahr für den Kredit. Sie sind im Gegensatz zu den englischen Banken, wo die Funktionen kraft Gesetzes streng getrennt sind, gleichzeitig Depositenund Emissionsbanken. Im Frieden könnte diese Verquickung theoretisch einmal sehr böse Folgen haben: einem allgemeinen „Run" wäre keine noch so solide deutsche Bank gewachsen. Im Kriege
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hat sich gezeigt, daß gerade diese scheinbare Schwäche unseres Bankwesens seine Stärke war. Die Banken waren im eigensten Interesse ihres Fortbestandes gezwungen, die einmal gewährten Kredite durchzuhalten und derart die Industrie und den Handel zu stützen. In Großbritannien aber, wo alles mit „Eigenkapital" arbeitet, fand niemand in der Krisis Kredit, und die Dinge lagen viel schwerer als bei uns. Und weiter: es erweist sich als ein sehr starker Posten in unserer Bilanz gegenüber Großbritannien, daß wir unsere Landwirtschaft leistungsfähig genug erhalten haben, um 95 Prozent unseres - pro Kopf verhältnismäßig sehr starken - Bedarfs sowohl an Brotkorn wie an Fleisch zu erzeugen. Wir haben das mit ungeheuren Opfern in 36 Friedensjahren erkauft, haben nicht nur die Nahrung der großen Masse sehr verteuert, sondern auch den Bodenwert auf ungesunde Höhe steigen lassen Dinge, die vom Standpunkt der reinen Ökonomie widersinnig waren. Jetzt zahlen sie sich aus. Es zeigt sich, daß unsere weit- und militärpolitische Situation uns zwang, dem Geiste der reinen Ökonomie entgegen zu handeln, solange es uns nicht möglich war, die Bodenbesitzverteilung Ostdeutschlands entscheidend zu verändern. Denn nur ein Land des Großgrundbesitzes braucht Schutzzölle, um seine Landwirtschaft zu erhalten und zu entwickeln: ein Bauernland entwickelt sich unter Freihandel eher noch glorreicher, wie Dänemark beweist. Es kann sich eben auf die Viehzucht umlegen und das Veredelungsgewerbe ausbilden, das das billige fremde Korn in teure heimische Milch, Butter, Fleisch und Schmalz verwandelt. Da wir aber noch kein reines Bauernland sind, so mußten wir unsere Landwirtschaft mit den größten Opfern schützen, um im Kriege zu bestehen. Um so mehr, als sich zeigt, daß wir doch auch die Möglichkeiten der Zuschußversorgung über neutrale Länder im Kriegsfalle überschätzt haben. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Drohung der absoluten Absperrung Deutschlands vom Welthandel undurchführbar ist und bleibt. Je höher die Preise der Dinge, deren wir dringend bedürfen, im Inlande steigen, um so stärker wird der Druck, mit dem die im Ausland befindlichen Warenmassen auf die Sperre pressen, und um so gewisser finden sie die Poren in dem Wall, der uns einschnürt. Ganz sicher werden wir, wenn Rumänien noch eine Zeitlang neutral bleibt, sogar russisches Getreide erhalten, und ganz sicher werden es sich die Neutralen, unter denen sich die starke amerikanische Union befindet, auf die Dauer nicht gefallen lassen, daß man ihnen den Absatz ihrer Stapelprodukte verbietet. Dennoch war im Anfang des Krieges die Sperre für alle billigeren Massengüter eine fast vollkommene, schon aus dem Grunde, weil unsere neutralen Nachbarn und sogar das uns verbündete Österreich-Ungarn alle Hände voll zu tun hatten, um sich selbst erst einmal für alle Möglichkeiten zu versorgen, d. h. Vorräte anzulegen, wie sie in solcher Größe in Friedenszeiten unnötig sind. „Das Kollateral-Netz" des Welthandels wird sich ja ausbilden, aber sicherlich nicht so schnell und wahrscheinlich nicht zu solcher Leistungsfähigkeit, wie man vom Standpunkte der reinen Friedensökonomie angenommen hatte. So sind wir in vielen und praktisch gewiß bedeutungsvollen Punkten eines Besseren belehrt worden. Im großen und ganzen aber hat der Verlauf der Volkswirtschaft während des Krieges die Theorie nur bestätigt; ja es zeigt sich, daß viele Dinge nur vom Standpunkt der fortgeschrittensten theoretischen Auffassung aus verstanden werden können. Wir werden den Komplex der Erscheinungen in seiner natürlichen Gliederung betrachten, zuerst die Krisis, die die Kriegserklärung brachte, und dann das Stadium, in dem wir uns jetzt befinden, das der Anpassung an den neuen Zustand. Die Wirtschaftskrise, die der Krieg brachte, hat sich wohl quantitativ, aber kaum qualitativ wesenhaft von jeder anderen allgemeinen Krisis unterschieden. Eine Krisis ist die Desorganisation der volkswirtschaftlichen Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung durch eine große und verbreitete Absatzstockung und Preisverschiebung, die den von mir so genannten „Kredit-Geld-Verkehr" unterbricht.
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Wenn wir es verstehen, durch den Schleier der Maja hindurchzublicken, der uns alles wirkliche volkswirtschaftliche Geschehen fast unsichtbar macht, durch den Geldschleier, so erkennen wir, daß die Volkswirtschaft nichts ist als Kooperation: Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung. Die große Mehrzahl aller Mitglieder einer Wirtschaftsgesellschaft arbeitet und stellt durch ihre Arbeit entweder unmittelbar „Dienste" oder mittelbar „Güter" her, die dazu bestimmt sind, andere Mitglieder der Gesellschaft, die andere Dienste oder Güter herstellen, mit denjenigen Wertdingen zu versorgen, die sie brauchen. Alle diese Wertdinge werden, „an der Geldelle", ihrem Werte nach, gemessen und dementsprechend ausgetauscht. In Parenthese: wir dürfen bei dieser Betrachtung davon absehen, daß in unserer kapitalistischen Volkswirtschaft gewisse Monopole bestehen, deren Nutzungen, namentlich Kapital- und Bodennutzungen, aber auch andere, weniger bedeutsame Dinge, ganz wie Arbeitsprodukte auf dem Markt erscheinen, nach eigentümlichen Gesetzen an der Geldelle bewertet werden und sich gegen Arbeitsprodukte austauschen, so daß die Inhaber der Monopole mit solchen versorgt werden, ganz als leisteten sie selbst Beiträge zu dem allgemeinen Schatz von verbrauchbaren Diensten und Gütern, während sie in der Tat nichts leisten. Sehen wir von diesen Dingen ab, die uns hier nichts helfen, uns aber sehr verwirren könnten, so zeigt sich zunächst, daß in einer hochentwickelten Volkswirtschaft jeder nur arbeiten und verbrauchen kann, weil alle anderen ebenfalls arbeiten und verbrauchen. Daß A arbeitet, ist die Bedingung nicht nur dafür, daß B, C, und Ζ die Produkte verbrauchen können, die A herstellt, sondern auch dafür, daß B, C und 2 die Produkte herstellen können, die A, F und X verbrauchen: denn niemand kann längere Zeit hindurch erzeugen, ohne verkaufen zu können. Es handelt sich um einen Warenaustausch im Kreise, in einem Kreise, der an keiner Stelle unterbrochen werden kann, ohne daß er an allen Stellen stockt oder ganz stillsteht. Auf primitiven Stufen ist dieser Warenaustausch von Gütern und Diensten noch ganz unverschleiert, da kein „Geld" dazwischentritt. Ware tauscht sich unmittelbar gegen Ware. Das ist auch noch auf einer höheren Stufe der Fall, wenn eine besonders bevorzugte Ware zum „Gelde" geworden ist: dann tauscht sich ζ. B. ein Schwert gegen einen Ochsen, und der Ochs gegen eine ärztliche Konsultation. Immerhin legt sich hier schon der Majaschleier des Geldes, wenn auch noch leicht durchschaubar, um den eigentlichen Sachverhalt; man muß schon scharf hinschauen, um zu erkennen, daß hier im Grunde ein Schwert gegen einen ärztlichen Dienst getauscht worden ist, daß der Ochse nur das Mittel des Austausches war. Aber immerhin: der Ochse ist als Zug- und Schlachttier unmittelbar brauchbar, also Ware im strengen Sinne. Das gilt nicht mehr vom Gelde im strengeren Sinne, dem gemünzten Edelmetall, das auf einer höheren Stufe zum Mittel des Tausches wird. Als Münze ist es nicht unmittelbar verbrauchbar, und so wird der Charakter des Tausches noch viel schwerer durchschaubar. Alle Ware muß sich erst in Geld verwandeln, und dann verwandelt sich das Geld in eine andere Ware. Bei jedem Tausch wechselt wirkliches Geld, Hartgeld, den Besitzer. Das geht aber nur so lange, wie nur fertige und gegenwärtige Waren gegeneinander getauscht werden, und das ist nur in verhältnismäßig kleinen Wirtschaftskreisen von verhältnismäßig geringer Entwicklung möglich. Werden die Kreise größer, so muß oft der Tausch von solchen fertigen Waren gegeneinander stattfinden, die im Moment des Tausches weit voneinander entfernt sind, ζ. B. von argentinischem Weizen gegen deutsche Farbwaren: der Tauschverkehr muß sich über den Raum spannen. - Und ferner, wenn die Wirtschaft sich höher staffelt, muß oft der Tausch von fertigen Waren stattfinden gegen solche, die erst in einiger Zeit fertig sein werden: der Tauschverkehr muß sich über die Zeit spannen. Denn A muß sein Produkt, ζ. B. Eisenerz oder Kautschuk, heute schon zu Markte bringen, damit Β sein Produkt, ζ. B. Schienen oder Pneumatiks, in drei Monaten an den Verbraucher liefern kann. Β hat aber heute noch kein Geld, tun A zu bezahlen, da er das Geld erst von seinen Abnehmern erhalten wird, und so begnügt sich A mit dem Versprechen
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B's, zu zahlen, wenn sein Abnehmer ihn bezahlt haben wird. Oder mit anderen Worten: der Tauschverkehr vollzieht sich durch die Vermittlung von „Kreditgeld", wie ich es - im Gegensatz zu dem „Kredit", dem eigentlichen Darlehen - genannt habe. Als Kreditgeld fungieren Wechsel, Schecke, Konnossemente, Umbuchungen im Bank- und Clearingverkehr. Wenn es uns gelingt, durch den Geldschleier hindurchzuschauen, so erkennen wir, daß wir auf dieser Stufe wieder den unmittelbaren Warentauschverkehr haben wie auf der primitiven Stufe. Wie dort tritt kein Geld eigentlichen Sinnes in den Tauschverkehr ein. Die Ware verwandelt sich nicht zuerst in Geld, damit das Geld sich in eine andere Ware verwandeln kann, sondern Ware tauscht sich unmittelbar gegen Ware, ein an der Geldelle gemessenes bestimmtes Quantum gegen ein anderes, ebenfalls an der Geldelle gemessenes und als wertgleich befundenes Quantum. War das Geld auf der vorigen Stufe zweierlei: Ware und Wertmesser, so ist es auf dieser Stufe in normaler Zeit nur noch eins: Wertmesser! Es tritt so wenig in den Tauschverkehr ein wie der Meterstab des Schnittwarenhändlers in seinen Verkehr mit den Kunden. Praktisch verlaufen die Dinge auf dieser Stufe folgendermaßen: Produzent A verkauft sein Produkt an die Produzenten B, C usw. gegen Wechsel zu einem Preise, der außer seinen Selbstkosten einen Gewinn für ihn einschließt, groß genug, um dafür die Güter und Dienste zu kaufen, die er als Konsument für seinen Haushalt braucht. Der Wechsel ist nichts anderes als eine Anweisung auf ein wertgleiches Quantum des gesamten, in jedem Augenblick vorhandenen gesellschaftlichen Vorrats an Gütern und Diensten; A kann sich dieser Anweisung bedienen, um zu konsumieren und weiter zu produzieren. B, C usw. erzeugen nun ihr Produkt aus den von A gekauften Stoffen, verkaufen es an D, E und F wieder auf Wechsel gegen einen Betrag, der außer ihren Selbstkosten ihren Gewinn einschließt, und sehen sich derart in der Lage, von A dessen neue Produkte zu erwerben und ihrerseits weiter zu produzieren. Und so geht es weiter bis zu Y und 2, die die letzten Abnehmer von U und X und gleichzeitig die ersten Lieferanten für A und Β sind. Damit ist der Kreis geschlossen: Jeder hat als Produzent seinen Teil zum Gesamtvorrat geleistet, jeder als Konsument seinen Teil aus dem Gesamtvorrat entnommen, alle gegenseitigen Verpflichtungen des ersten Kreislaufs sind „saldiert", während der nächste Kreislauf schon wieder in voller Bewegung ist. Es ist nicht nötig, diese Dinge noch genauer darzustellen, namentlich zu zeigen, wie das Kreditgeld der Großproduktion, der Wechsel, und das Kreditgeld der Kleinproduzenten und des „letzten Konsums", der Scheck, einander ergänzen. Das Schema genügt vollkommen, um sich zu orientieren. Wir haben einen ungeheuren Kreis von Wirtschaftssubjekten, die miteinander in Arbeitsteilung verbunden sind. Sie tauschen unmittelbar durch wertbestimmte Anweisungen auf das gemeinsame Erzeugnis, durch das „Kreditgeld". „Öffentliches Geld", d. h. Banknoten und Hartgeld, dient auf höchster Entwicklungsstufe innerhalb der Nationalwirtschaft nur noch dem Kleinverkehr dort, wo es sich nicht lohnt, oder mangels persönlicher Beziehungen nicht möglich ist, Schecke auszustellen; - und im internationalen Verkehr dient Hartgeld nur noch zur Saldierung der „Spitzen". Und diese Spitzen sind sicherlich viel kleiner, als die Statistik im allgemeinen annimmt. Denn das Edelmetall, das hin und her geht, wird im allgemeinen nicht als Zahlungsmittel, sondern als Rohstoff, Gold zum Beispiel für das Juweliergewerbe, gehandelt, ist also gar nicht „Geld", sondern Ware, ganz wie etwa Kupfer. Dieser Kreditgeldverkehr hat international in Großbritannien seinen Höhepunkt erreicht, verkörpert durch den enormen Clearing-Verkehr. Wenigstens fünfundneunzig Prozent aller gegenseitigen Zahlungsverpflichtungen, so schätzt man, werden durch ihn ausgeglichen; und ganz analog steht es um den internationalen Warentausch. Das ist der wirtschaftliche Inhalt der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und ihrer Vermittlung durch den Kreditgeldverkehr. Nun muß sich aber bekanntlich jeder wirtschaftliche Inhalt in eine juristische Form kleiden. Diese juristische Form ist das Versprechen, binnen bestimmter Frist in
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gesetzlicher Valuta oder Gold zu zahlen. Durch diese juristische Verpflichtung werden alle Beteiligten gleichzeitig Gläubiger und Schuldner, Zahlungsverpflichtete an ihre unmittelbaren Vordermänner, Zahlungsberechtigte gegenüber ihren unmittelbaren Hintermännern. Diese juristische Form bleibt leere bedeutungslose Form, solange die Wirtschaft in normaler Weise funktioniert, d. h. solange das Preisniveau im großen und ganzen, trotz mancher Schwankungen im kleinen und einzelnen, das gleiche bleibt. Da jeder später ausgestellte Wechsel oder Scheck durchschnittlich höher ist als jeder früher ausgestellte, weil er ja nicht nur die Selbstkosten des Produzenten, sondern auch seinen Gewinn deckt, macht die Schlußausgleichung keine Schwierigkeiten. Alle früher ausgestellten Wechsel werden durch die später ausgestellten bedeckt und sozusagen aufgehoben. Da aber die später ausgestellten auf immer größere Wertbeträge lauten, ist jedem Produzenten ein Betrag übriggeblieben, aus dem er im Wege des Scheck- oder Bargeldverkehrs diejenigen Dinge erwerben konnte, die er als Konsument für seinen Haushalt brauchte. Auf diese Weise hat jeder für sich, und haben alle zusammen das Schwungrad der Gesamterzeugung, den Konsum „letzter" Güter und Dienste, in Bewegung erhalten. Sobald aber durch irgendeine Störung die normale Funktion der Volkswirtschaft leidet, sobald das allgemeine Preisniveau eine schwere Erschütterung erfährt, füllt sich die juristische Form mit sehr realem und überaus gefährlichem Inhalt. Wenn die Preise allgemein sinken, entfällt die Voraussetzung des gesamten Kreditgeldverkehrs, daß jedes später ausgestellte Kreditpapier durchschnittlich auf höheren Wert lautet als jedes früher ausgestellte, weil der Gewinn von A bei Β als Element seiner Selbstkosten erscheint. Wenn Β im Preise seiner Produkte diese seine Selbstkosten zuzüglich eines Gewinnes nicht mehr erhält, so muß er seinen persönlichen Konsum einschränken, und dann haben alle anderen Produzenten verminderten Absatz, sinkende Preise und ihrerseits verringerte Kaufkraft; und er kann im schlimmsten Fall trotzdem aus dem Preise, den er erhält, A nicht bezahlen, was er ihm unter anderer Voraussetzung schuldig geworden war. Oder, um von aller juristischen Form abzusehen: das Quantum von Produkten, auf das Β jetzt seine Anweisung erhält, ist, an der Geldelle gemessen, kleiner als das Quantum von Produkten, auf das er selbst früher die Anweisung an A erteilt haue. Und damit bricht der gesamte Kreditgeldverkehr auseinander, weil seine Grundvoraussetzung fortgefallen ist. Fortan sträubt sich jeder Produzent, gegen Kreditgeld zu verkaufen. Der Kundenwechsel ist im normalen Verlauf der Dinge ein sicheres Papier, auch wenn der Kunde kein beträchtliches Privatvermögen besitzt, weil es auf einen höheren Betrag lauten muß, als die Verpflichtungen seines Ausstellers reichen: jetzt wird er mißtrauisch angeschaut und nur noch genommen, wenn eins der Giri an sich „gut", d. h. durch ein Privatvermögen, das außerhalb des Warentauschverkehrs besteht, gedeckt ist. Mit anderen Worten: der Kreditge/i/verkehr nimmt, wo er überhaupt noch der Form nach fortbesteht, den Inhalt des Kreditverkehrs, des wirklichen Darlehens an und kann ihn ohne weiteres annehmen, weil Kundenwechsel und Finanzwechsel die gleiche ununterscheidbare Rechtsform haben. Wo aber keine eigentliche Kreditbasis vorhanden ist, wird Privatpapier überhaupt nicht mehr genommen, sondern der Produzent verlangt öffentliches Geld. Das ist schon schlimm genug, denn nun kann der vermögensschwache Produzent, wenn überhaupt, nur noch auf geringerer Stufe produzieren. Aber schlimmer noch ist, daß unter solchen Umständen für diejenigen Wechsel, die schon vor dem Zeitpunkt der Krisis ausgestellt waren, nicht andere Wechsel angenommen werden. Der Berechtigte besteht plötzlich notgedrungen auf seinem Schein, wonach ihm Befriedigung in gesetzlicher Valuta zusteht. Rechengeld ist in Warengeld umgeschlagen. Die Form wird zum Inhalt. Und das setzt nun einen circulus vitiosus in Bewegung, der bei irgendwelcher größeren Ausdehnung des Preissturzes die Entwertung des gesamten Warenvorrates, den Zusammenbruch des ganzen Preisgebäudes nach sich ziehen muß:
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Weil jeder in öffentlichem Geld zahlen soll und muß, in viel höherem Maße, als das in normalen Zeiten vorkommt und durch Kassehaltung vorgesehen ist, ist öffentliches Geld viel stärker nachgefragt als in normaler Zeit. Weil jeder es notgedrungen aufspeichert, um im Notfall zur Einlösung seiner Passiv-Wechsel gerüstet zu sein, wenn seine Aktiv-Wechsel nicht honoriert werden sollten, ist es in viel geringerem Maße angeboten als in normaler Zeit. Umgekehrt steht es mit der Ware. Weil jeder öffentliches Geld braucht, bietet er die Ware leidenschaftlich an; weil keiner öffentliches Geld herausgibt, fragt er keine Ware nach. Bei solcher Konstellation muß der Preis des öffentlichen Geldes stark steigen, der der Ware stark sinken, und der Preis der Ware, ausgedrückt in Geld, doppelt stark sinken. Und zwar aller Ware, auch derjenigen, die bis dahin ihren Preis gehalten hatte. Damit ergreift die Verheerung den ganzen Markt und verschlimmert sich im Zirkel, weil jede Folge wieder zur Ursache einer Erschwerung ihrer eigenen Ursache wird, bis die gesamte gesellschaftliche Kooperation mit einem „Krach" auseinanderbricht. Je teurer das öffentliche Geld wird, um so billiger wird die Ware, um so mehr wird sie angeboten, um so weniger gefragt, um so leidenschaftlicher reißt jeder das Geld an sich und entwertet eben dadurch den allgemeinen Warenvorrat wieder, und so fort im Hexenkreise. Dieser fehlerhafte Zirkel erfaßt nun auch noch den eigentlichen Kreditverkehr, den wirklichen Darlehensverkehr. Schon der Aufschlag der Risikoprämie wird unter solchen Umständen so viel höher, daß eine beträchtliche Erhöhung des Gesamtzinsfußes die Folge sein muß; aber auch der eigentliche Diskont, der nackte Zinsfuß, steigt sprungweise durch einen Mechanismus, den ich entdeckt zu haben glaube: Wo so viele öffentliches Geld brauchen und ihre Waren bei fallendem Preise anbieten, um es zu erlangen, bieten viele auch Kapitalanlagen mit fester Verzinsung zum Verkauf aus, ζ. B. Hypotheken, Obligationen, Anteile an Staatsanleihen. Der Kurs, d. h. der Preis dieser Papiere sinkt infolgedessen, und das bedeutet, daß die Kapitalrente, die sie abwerfen, im Verhältnis zu ihrem Geldwerte steigt. Wer einen dreiprozentigen Konsol zu 75 kauft, hat 4 Prozent Zins. Da aber der Ertrag selbstverzinslicher Anlagen immer in bestimmtem Verhältnis zu dem allgemeinen Diskont steht, muß auch der Diskont steigen und unter Umständen auf wahnsinnige Höhe steigen, wie es im Panikstadium amerikanischer Krisen beobachtet werden konnte. Wo aber der Kredit sich derart verteuert und zusammenschrumpft, muß die Produktion sich ebenfalls zusammenziehen; niemand kann bei steigenden Kosten und sinkenden Preisen seine Erzeugung lange fortführen. Wenn aber in dem Kreise der Kooperation Μ, Ν, O und Ρ aufhören müssen, in dem bisherigen Umfang Produkte zu erzeugen, so können auch A bis L und Q bis Ζ nicht weiterarbeiten, weil ihnen der Absatz fehlt. Daß dieser ganze Komplex noch durch sozusagen akzidentelle Dinge verschlimmert wird, braucht hier nur angedeutet zu werden. Die ersten Bankrotte bringen die Panik und die Runs auf Banken und Sparkassen, um öffentliches Geld zu erlangen, da man die Kapitalansprüche gefährdet glaubt. Das zwingt unter Umständen die Banken und Sparkassen ihrerseits zu verfrühter Kündigung von ausgegebenen Krediten und treibt den Diskont noch höher. Ferner sind in sozusagen normalen Krisen die verwandten Erscheinungen des „internal" und „external drain" sehr regelmäßig zu beobachten. Der „internal drain" ist der unterirdische Abfluß des öffentlichen Geldes aus der Zirkulation; es verkriecht sich in Schubladen, Strümpfen, Geldschränken und Stahlkammern oder wird als ungeheuer vermehrte „Portemonnaie-Reserve" herumgeschleppt. Der „external drain" ist der oberirdische Abfluß des Geldes, und zwar des Hartgeldes, vor allem des Goldes, ins Ausland, das Effekten gegen bar verkauft, Guthaben und „Pensionen" kündigt und zurückzieht und Finanzwechsel unterzubringen sucht. Der „internal drain" wirkt durch die katastrophale Verminderung der in der Zirkulation „sichtbaren" Geldmenge erhöhend auf den Preis des Geldes und erniedrigend auf den der Ware, und dadurch mittelbar erhöhend auf den Diskont, während der „external
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drain" unmittelbar auf den Diskont einwirkt, weil die Zentralbank des von der Krisis befallenen Landes, um ihre Valuta zu schützen, gezwungen ist, den offiziellen Bankzinsfuß sprung- und prozentweise heraufzusetzen: das einzige Mittel, um fremdes Geld festzuhalten und schnell anzulocken und fremde Kreditwünsche auf den eigenen Vorrat abzudämpfen. Das ist im Rohen und Ganzen der Symptomenkomplex und der Mechanismus jeder Wirtschaftskrisis. Die Kriegskrisis, die wir erlebt haben, unterschied sich nur wenig von jeder anderen. Sie war unterschieden durch ihre Ursache: der Preissturz, der sie auslöste, kam diesmal nicht aus den Tiefen der kapitalistischen Widersprüche, sondern aus den Verwicklungen der Außenpolitik. Im Mechanismus fehlte ferner der „external drain", weil die Ausfuhr von Gold nur in geringem Maße möglich war. Und schließlich erreichte die Arbeitslosigkeit keinen Augenblick die Höhe, die eine Krisis von gleicher Furchtbarkeit in Friedenszeiten - wenn sie möglich ist! - mit sich gebracht hätte, und zwar, weil der Staat sofort Millionen von Männern aus dem Arbeitsmarkte nahm und ernährte und besoldete, die nun mit ihrem Produkt, ihren „Diensten", nicht mehr das Angebot beschwerten. Das sind bedeutsame Unterschiede namentlich des Ausmaßes; aber die Hauptzüge waren die bekannten: Den Ausgangspunkt bildete ein kolossaler Preissturz namentlich auf zwei gewaltigen Gebieten der Volkswirtschaft, demjenigen des Außenhandels und der Ausfuhrgewerbe, - und demjenigen der Luxusindustrie. Deutschland hatte 1913 über zwanzigtausend Millionen Mark Gesamtaußenhandel gehabt, davon ungefähr zehntausend Millionen Ausfuhrhandel. Diese riesenhafte Produktion von Gütern wurde mit einem einzigen Schlage fast völlig abgeschnitten, und zwar nicht nur die gesamte Ausfuhr über See (zuerst war auch der Ostseehandel stillgelegt), sondern auch ein großer Teil der Ausfuhr über die Landgrenzen. Lagen doch unsere beiden stärksten Anrainer und Abnehmer, Rußland und Frankreich, mit uns im Kriege, zu denen sofort Belgien trat. Österreich-Ungarn hatte mit sich selbst zu tun und brauchte namentlich seine Eisenbahnen für die Zwecke der Mobilisierung, und ähnlich stand es um die wenigen angrenzenden Neutralen: Dänemark, Holland, die Schweiz. Außerdem lähmte die überall sofort gleichzeitig mit eher noch größerer Gewalt einsetzende Krisis und Panik den Rest der Kaufkraft und Kauflust dieser an sich verhältnismäßig schon kleinen und schwachen Kunden des deutschen Gewerbes. Damit war aber des Unheils nicht genug! Es ist bekannt, daß die Güterbilanz der Handelsstatistik nur einen Teil des Außenhandelsverkehrs aufzeichnet, denjenigen Tausch, der in materiellen Gütern erfolgt. Sie zeichnet nicht auf den Austausch von Diensten gegen Güter und Dienste und ebensowenig den Austausch von Kapitalien und Kapitalrenten untereinander und wieder gegen Güter und Dienste. Auch dieser ungeheuer große Verkehr stockte im gleichen Moment fast völlig, und das bedeutete für Deutschland einen weiteren sehr schmerzlichen Ausfall. Denn unser Land leistete im Frieden dem Ausland, namentlich als Verfrachter, Makler und Reeder, große und hochwertige Dienste, die mit Gütern bezahlt wurden; und außerdem ist Deutschland eines der größten Gläubigerländer des Planeten, dem von überall her Güter aller Art als Zins und Dividende seiner Kapitalanlagen zuflössen. Das zweite große Gebiet, auf dem der Absatz augenblicks fast ganz aufhörte und die Preise in den Abgrund stürzten, war das Luxusgewerbe, das in einem so reichen Lande wie Deutschland einen verhältnismäßig sehr großen Raum einnahm. Hier litt vor allem die Textilindustrie, und litt um so schwerer, weil ihre Arbeiter und Angestellten zum überwiegenden Teile Frauen sind, die der Staat nicht für seine Heerzwecke einzog; hier preßte daher die ganze ungeheure Masse der Produzenten von Diensten auf den Arbeitsmarkt, noch verstärkt durch den Zustrom vieler Tausende von anderen Frauen (Dienstboten usw.), die aus anderen Gewerben abgestoßen worden waren und sich nun um die wenigen offenen Stellen der Textilbranche drängten. Daher war die Arbeitslosigkeit der Frauen im Kriegsanfang die bedrohlichste aller Erscheinungen und ist es noch heute.
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Schon dadurch wurde der Ring der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung gesprengt. Wo so viele A und Β keinen Absatz mehr fanden, mußten entsprechend viele C und D aufhören zu produzieren. Aber es kamen noch andere Dinge hinzu, um das Übel zu verstärken, Dinge, die ebenfalls in einer Friedenskrisis nicht vorkommen. Eine ganze Anzahl von Produzenten mußte die Arbeit niederlegen oder einschränken, nicht weil ihr Absatz eingeschrumpft war, sondern trotzdem die Nachfrage die alte blieb, ja sogar noch kräftig stieg, und zwar aus Gründen, die durch den Kriegszustand gegeben waren. Hier waren unentbehrliche Arbeitsleiter und Arbeiter zum Heere eingezogen; - dort konnten die notwendigen Roh- und Hilfsstoffe nicht herangezogen werden, weil das gesamte Bahnnetz durch die Mobilisierung belegt war; - dort fehlten notwendige Materialien, die der Handel nicht mehr heranschaffen konnte. Und so viele E und F aufhören mußten, so viele G und //anderer Zweige wurden absatzlos. Andere Zweige wieder litten unter der Panik, die den Kreditverkehr ergriff, zum Teil lahmte, zum Teil so verteuerte, daß die Produktion nicht fortgesetzt werden konnte. Unter diesen Umständen mußte der Kreditgeldverkehr zusammenbrechen und brach zusammen. Niemand wollte mehr auf Wechsel verkaufen, jeder verlangte Kasse. Der Run auf das öffentliche Geld begann bei den privaten und öffentlichen Schuldnern, bei Sparkassen und Banken. Mehrere Konventionen beschlossen sofort, daß nur noch gegen Kasse verkauft werden dürfe; damit setzte jener circulus vitiosus ein, in dem öffentliches Geld immer teurer und Waren aller Art, auch „Kapital", immer billiger werden, so daß der Warenpreis und der Effektenkurs sanken und der Diskont stieg. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der gesamte deutsche Austausch in den ersten Kriegswochen auf einen sehr geringen Bruchteil des normalen eingeschrumpft war. Dennoch wollte der Vorrat an öffentlichem Gelde, der dem viel höheren Friedensumsatz durchaus genügt hatte, durchaus nicht reichen, und die Pressen der Reichsdruckerei hatten Wochen und Wochen hindurch Tag und Nacht Banknoten, Reichskassenscheine und Darlehnskassenscheine zu drucken, bis der Bedarf an öffentlichem Gelde, namentlich an Noten kleinen Betrages, endlich befriedigt war und die aus diesem sozusagen mechanischen Grunde erfolgte Preissenkung der Waren ihr Ende erreicht hatte. Eine Preissenkung, die übrigens ungeheuer viel größer gewesen wäre, wenn nicht sofort bei Kriegsausbruch das öffentliche Geld ganz und gar von seiner Goldbasis abgelöst worden wäre. Es ist sehr tröstlich für uns, daß wir bisher unsere Banknoten noch mit weit mehr als einem Drittel durch Gold bedeckt haben und alle Aussicht haben, diese günstige Situation durchzuhalten: aber faktisch leben wir in diesem Augenblick in der reinen Papierwährung, ohne eine andere reale Basis als den festen Glauben an die unerschütterliche Kraft und Ehrlichkeit des Deutschen Reiches. Hätten unsere Waren heute Goldpreise, so würden wir erst erkennen, wie tief sie gesunken sind: so aber drückt sich ihr Preis in einem Gelde aus, das selbst im Goldpreise recht niedrig stehen würde, und deshalb ist der Sturz der Warenpreise nicht so auffallend. Der kolossale Bedarf an öffentlichem Gelde wurde übrigens im Anfang durch einen „internal drain" von großer Kraft noch vermehrt. Fast alle deutschen Wirtschaften schätzten öffentliches Geld und womöglich etwas „gerettetes" Hartgeld auf, um „für alle Fälle" - man machte sich nicht klar, für welche! - gerüstet zu sein. Die Portemonnaie-Reserve schwoll enorm an. Wir ersehen aus dem regelmäßigen Zufluß von neuem Gold an unsere Reichsbankkassen, welche kolossalen Mengen des gelben Metalls sich zu Anfang des Krieges in der Zirkulation verborgen hielten, und dürfen annehmen, daß immer noch bedeutende Mengen vorhanden sind, von denen ein Teil noch allmählich zum Vorschein kommen dürfte. Wenn diese furchtbare Krisis verhältnismäßig schnell zu einem den Umständen entsprechend erstaunlich guten Zustande der Volkswirtschaft, statt zum totalen Zusammenbruch führte - wir haben heute weniger Arbeitslose als vor einem Jahre - so danken wir das zwei Tatsachen vor allem:
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Erstens den Erfolgen unserer Waffen in Ost und West; wir hatten das Glück, daß gerade der erste Kriegsmonat uns berauschende Erfolge brachte. Das verwandelte die doch anfangs mit etwas Bangen gemischte Zuversicht des Volkes in eine triumphierende Siegesgewißheit, und das kam der Volkswirtschaft als Vertrauen in die Zukunft zugute. „Kredit" heißt ja „Vertrauen". Unsere Siege hoben den Kredit, brachten den Kreditgeldverkehr und den eigentlichen Kreditverkehr wieder einigermaßen in Gang, halfen den Motor der Volkswirtschaft anzukurbeln. Ohne unsere Siege hätte selbst die musterhafte, der Vorbereitung der militärischen Kriegsbereitschaft durch unseren prächtigen Generalstab ebenbürtige, Vorbereitung der finanziellen Kriegsbereitschaft durch den „GeneralGeldmarschall" Havenstein und seine Paladine nur einen kleinen Teil ihrer Erfolge erreichen können, trotz aller wundervollen Zucht und Opferfreude, die unser Volk auch hier bewährt hat. Man kann deutsches Blut nicht nach Gold schätzen wie britisches Söldnerblut: aber das ist klar, daß jeder unserer Braven, die bei Lüttich, Namur und Sankt Quentin ihr Blut verspritzten, dem deutschen Vaterlande Hunderttausende von Mark gerettet hat, die sonst verloren gewesen wären. Und dabei denken wir nicht einmal an die „richesse fictive" des deutschen Kapitalvermögens, dessen Wert bei sieglosem Kampfe um Dutzende von Milliarden eingeschrumpft wäre, und im schlimmen Fall sogar auf die Dauer eingeschrumpft wäre, - sondern lediglich an den Wert der Güter, die in diesem Falle nicht hätten entstehen können, weil der Kredit, das Vertrauen, und darum Absatz und Arbeitsgelegenheit gefehlt hätten. Der zweite Grund, warum diese Kriegskrisis nicht die letzten Schrecken entfaltet hat, die man nach Analogie einer ähnlich schwer auftretenden Friedenskrisis hätte erwarten können, ist der Umstand, daß der Staat in einem bisher in aller Geschichte unerhörten Maße als Arbeitgeber aufgetreten ist. Er hat den abgerissenen Kreditverkehr der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und -Vereinigung wieder angeknüpft, indem er Millionen von A und Β mit Arbeit versorgte und dadurch befähigte, für andere Millionen von C bis Ζ als Abnehmer und Arbeitgeber auf dem Markte zu erscheinen. Nur der Staat konnte das in großem Maßstabe tun. Denn um den Kreditverkehr zu beleben, den stockenden Motor der gesellschaftlichen Kooperation anzukurbeln, war eine ökonomische Person erforderlich, die als „letzter Konsument" mit ungeheurer Nachfrage auf dem Markte auftrat, und zwar mit „wirksamer" Nachfrage; d. h., sie mußte die erforderlichen Gegenwerte in Geld oder unbeschränktem Kredit zur Verfügung haben. All das trifft für den Staat zu. Er ist „letzter Konsument" in einem Maßstabe, wie das in aller Weltgeschichte noch niemals auch nur annähernd vorgekommen ist. Er nimmt die gigantischen Mengen von Gütern und Diensten nicht aus dem Markte, um sie zur weiteren Produktion oder zum Wiederverkauf zu verwenden: wäre das der Fall gewesen, so hätte er der Volkswirtschaft nicht helfen können, denn ihm hätte, wie jedem Privaten, der Abnehmer gefehlt. Sondern er verbraucht all das für seine eigenen letzten Zwecke, für den, rein wirtschaftlich gesehen, unproduktiven Konsum, für die „rentable Destruktion" (Effertz) der Kriegsausgaben. Nicht nur, daß er etwa sechs Millionen Männer angestellt hat, um sie durch Marschieren, Schanzen, Schießen und Verwundetenpflege „Dienste" leisten zu lassen, für die er sie kleidet, ernährt und besoldet: er beschäftigt außerdem noch andere Millionen daheim für die Herstellung des kolossalen Kriegsbedarfs an Nahrung, Kleidung, Waffen, Munitionen, Zelten, Verbandzeug, Arzneistoff, Transportmitteln, wie Bahnmaterial, Schienen, Automobile, Pneumatiks usw. usw. Diesen gewaltigen „letzten Verzehr" übte der Staat aus in einem Augenblicke, wo der letzte Verzehr der Privatleute, das eigentliche Schwungrad der gesellschaftlichen Gütererzeugung und Kooperation, stark eingeschrumpft war, weil fast jeder gezwungen war, „sich einzuschränken"; die meisten aus materiellen Gründen, weil sie „kein Geld hatten", d. h. weil ihr Einkommen gesunken war und sie sich gezwungen sahen, für weiter hinaus vorzusorgen, also ihr kleineres Einkommen auf längere Zeit hinaus zu verteilen; und alle aus ideellen Gründen, weil niemandem der Kopf nach
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Luxus und Vergnügen steht. Der Staat aber hat in solchen Notzeiten, wo es um die ganze Existenz der Nation geht, so viel Geld wie er irgend braucht, und ist nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, seine wirtschaftliche Voraussicht auf eine kürzere als die normale Zeit zu spannen, d. h. sein Einkommen auf kürzere Zeit hinaus zu verteilen. Er kann die Bedürfnisse der schweren Gegenwart bedecken, indem er die Zukunft belastet. Der Staat hat so viel Geld wie er braucht. Denn er macht es! Er kann unmittelbar so viel Reichskassenscheine drucken lassen und kann mittelbar von der Reichsbank so viel von ihren Noten - die der Staat selbst als öffentliches Geld erklärt hat, das jeder seiner Bürger anzunehmen verpflichtet ist, - erhalten, wie er braucht. Seitdem die Verpflichtung der Reichsbank aufgehoben worden ist, ihre Noten jederzeit mit Gold einzulösen, und seitdem ihr gestattet worden ist, auch Darlehnskassenscheine und Reichswechsel für die Dritteldeckung ihrer Noten zu verwenden, existiert keine gesetzliche Grenze mehr für die Ausgabe von Reichsbanknoten. Freilich existiert eine ökonomische Grenze, die selbst die Staatsallmacht nicht ungestraft überschreitet. Wenn die Zirkulation mit Noten gesättigt ist und kein Ventil mehr offensteht, durch das der Uberschuß abströmen kann, muß das Papier sich entwerten, und der Preis aller anderen Waren steigen. Die Banknote wird zum Assignaten und erhält das kolossalste Goldagio, wenn ihr Tausch gegen Gold überhaupt noch möglich ist. Das kann aber nur einem Staat geschehen, der keine Steuerkraft und keinen Kredit mehr hat und darum kein Kapital mehr bilden kann. Der Staat hat drei Wege, um die Güter und Dienste zu erlangen, die er in der Gegenwart braucht. Er kann erstens selbst als Unternehmer auftreten und aus dem Reinertrage seiner Unternehmungen, zum Beispiel von Monopolen, erwerben, was er braucht. Diesen Weg beschreitet der Staat durch Fortführung seiner friedlichen Unternehmungen und im Falle des Sieges durch die Auflage von Kriegskontributionen und Kriegsentschädigungen, die man als den Ertrag der kriegerischen Unternehmung auffassen kann. Wir wollen dabei bemerken, daß Deutschland und namentlich Preußen in Kriegszeiten bei dem Posten der Friedensunternehmungen sehr schlecht abschneiden; vor allem der Ertrag des Preußischen Eisenbahnmonopols muß um kolossale Summen gesunken sein, obgleich das Reich Preußen für seine Leistungen entschädigt. Von diesen Einnahmen ist es nicht nötig, des breiteren zu handeln. Dagegen ist wichtig das zweite Einkommen des Staates aus Steuern, Gebühren und Zöllen usw. Kraft seiner Steuerhoheit entzieht er dem Einkommen seiner Bürger bestimmte Anteile, um sie für seine Staatszwecke auszugeben. Durchschauen wir auch hier den Majaschleier der Geldform, so erkennen wir, daß alle Bürger dem Staate einen Teil ihrer Arbeit unentgolten abtreten, die einen unmittelbar als Dienste, die anderen mittelbar als Güter. Hier ist ein erstes Ventil, durch das der Überfluß des in die Zirkulation hineingepumpten Papiergeldes ungefährlich entweichen kann. Der Staat hat den Produzenten, deren Produkte er erwirbt, den Kaufpreis mit seinen Noten bezahlt; diese selben Noten zahlen ihm die sämtlichen Produzenten als Steuer zurück, und er entzieht sie der Zirkulation. Was sich hier vollzogen hat, ist vollkommen klar: der Tausch einer Nutzung aus einer politischen Machtposition (der Steuerhoheit) unmittelbar gegen Güter und Dienste, vermittelt durch Geld, beides als gleichwertig gemessen an der Geldelle. Nun hat auch die unmittelbare Belastung der Gegenwart mit den Ausgaben der Gegenwart ihre Grenzen. Die äußerste Grenze ist dort gelegen, wo der Staat das Einkommen seiner Bürger nicht mehr verringern kann, ohne ihre Lebenshaltung geradezu zu bedrohen. Aber bis an diese äußerste Grenze wird kein Staat gehen, solange er nicht dazu durchaus gezwungen ist. Und er ist dazu nicht gezwungen, solange er noch Kredit hat, d. h. Kapital bilden kann. Wenn er das tut, beschreitet er den dritten Weg: er entnimmt nicht mehr der Gegenwart, sondern der Zukunft, was der Gegenwart dienen soll. Er verkauft einen Teil seiner künftigen Einnah-
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men, mögen sie nun aus dieser oder jener Quelle stammen, um in der Gegenwart diejenigen Güter und Dienste zu erhalten, deren er für seinen Daseinskampf bedarf. Wir sind hier an einen Punkt gelangt, wo das Verständnis schwieriger sein dürfte. Es liegt nicht an den Dingen, die an sich klar und einfach sind, sondern an den Meinungen der Menschen über die Dinge. Es gibt kaum einen Begriff des täglichen Lebens, über den so viele Verwirrung besteht, wie über den des Kapitals. Und davon haben wir jetzt zu sprechen. Was Kapital ist, war im Anfang durchaus klar und einfach. Kapital ist ein Eigentum, das ein jährliches, festes oder unbestimmtes Einkommen, einen Zins oder eine Dividende, in wissenschaftlicher Zusammenfassung einen „Profit" abwirft. Dieser klare Sachverhalt wurde erst verschleiert, als man es versuchte, den Profit nicht nur zu erklären, sondern als Gegenleistung einer Leistung zu rechtfertigen. Da kam man auf die unglückliche Idee, Kapital zu identifizieren mit einer bestimmten Summe Geldes oder mit einem bestimmten, wertbestimmten Quantum von „produzierten Produktionsmitteln". Seitdem ist der Nebel noch tiefer geworden, weil man klar erkannt hat, daß diese Definition nicht paßt, und, wie üblich, die Wahrheit irgendwo auf der mittleren Linie gesucht hat. Kombiniert mit den oft grotesken Anschauungen über Wesen und Natur des Geldes ergab das Vorstellungskomplexe von äußerster Verschlungenheit, voller Fallstricke und schwedischer Reiter. Wie weit die Verwirrung geht, läßt sich am einfachsten daran erkennen, daß in der kaufmännischen Praxis und der Wissenschaft derjenige, der Kapital bildet und anbietet, regelmäßig als einer erscheint, der Kapital nachfragt; - und umgekehrt derjenige, der Kapital nachfragt, als einer erscheint, der es anbietet. Wenn ein Fabrikant, um sein Geschäft zu vergrößern, eine Hypothek aufnimmt oder Obligationen ausgibt, oder wenn eine Gesellschaft neue Aktien emittiert, so sagt man, sie fragen Kapital nach. In der Tat aber bieten sie rentable Eigentumstitel, d. h. Kapital an, um dafür öffentliches Geld oder Güter nachzufragen. Und umgekehrt, wenn ein glücklicher oder fleißiger Mann eine Summe Geldes zurückgelegt hat oder in der Lage ist, statt baren Geldes für eine Warenlieferung eine Beteiligung anzunehmen, so sagt man, er habe „Kapital gebildet", das er jetzt anbiete, während er in der Tat Kapital, nämlich rentable Eigentumstitel, nachfragt und Geld oder Güter dafür anbietet. Das muß man sich aufs sorgfältigste klarmachen und vor allem eines nie aus den Augen verlieren, daß Geld niemals „Kapital" ist. Geld ist „im privatwirtschaftlichen Sinne" nicht Kapital, d. h. rentabler Eigentumstitel: denn alle Goldschätze Alaskas bringen ihrem Besitzer keinen Pfennig Profit, solange er sie nicht ausgibt oder ausleiht. Und Geld ist ebensowenig „im volkswirtschaftlichen Sinne" Kapital, denn es ist kein „produziertes Produktionsmittel", an dem man Arbeiter beschäftigen kann. Man kann für Geld alles kaufen, auch Produktionsmittel und rentable Eigentumstitel, aber dann hat man das Geld nicht mehr, sondern das hat dann der Verkäufer. Erst wenn man das genau verstanden hat, kann man erkennen, daß jeder „Kapital bilden kann", der es in seiner Macht hat, irgendeine Machtposition abzutreten oder neu zu schaffen, die ein regelmäßiges Einkommen abwirft. Wenn ich einen Teil des regelmäßigen Ertrages abtrete, den mir das Eigentum eines Mietshauses oder Landgutes abwirft, d. h. eine Hypothek aufnehme, so trete ich einen Teil einer schon bestehenden Machtposition ab. Als die Berliner Polizeibehörde den numerus clausus der Automobildroschken einführte, schaffte sie eine neue Machtposition, die alle Charakteristika des Kapitals aufwies. Der glückliche Inhaber einer Nummer hatte ein stattliches Extraeinkommen und war jeden Augenblick in der Lage, diesen rentablen Eigentumstitel für den „Kapitalisierungswert" von 8.000-12.000 Mark zu verkaufen. Hier zeigt sich besonders klar, daß Kapital nichts anderes ist als ein „kapitalisierter Ertrag", das irgendwie bestimmte Vielfache des Ertrages eines rentablen Eigentumstitels. Vor der einen Tatsache muß alle die phantastische Apologetik verstummen, die alles Kapital zu rechtfertigen versucht als das Ergebnis „sittlicher Enthaltsamkeit". Kein Zweifel, daß einige Male das Geld, für das Kapital erworben wurde, unter Entbehrungen erspart worden ist: aber Kapital selbst wird niemals erspart.
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Nun ist der Staat kraft seiner Hoheit berechtigt, neue Machtpositionen zu schaffen, d. h. neues Kapital zu bilden. Er hat zu dem Zwecke weiter nichts zu tun, als aus den künftigen Erträgen seiner Finanzgebarung einen Teil zu verkaufen. Er gibt rentable Eigentumstitel aus, verkauft eine jährliche Rente, und empfängt dafür Geld oder geldwerte Güter und Dienste, deren er für seine gegenwärtigen Zwecke bedarf. Das ist das zweite Ventil, durch das der Uberfluß der in die Zirkulation gepreßten Banknoten harmlos abströmen kann. Der Staat hat die Produzenten, deren Güter und Dienste er gekauft hat, mit seinen Noten bezahlt; diese selben Noten zahlen ihm die Produzenten als Kaufpreis des rentablen Eigentumstitels zurück, den er ihnen in Gestalt seiner Anleihescheine usw. aushändigt, und er zieht sie aus der Zirkulation zurück. Was sich hier vollzogen hat, ist wieder vollkommen klar: der Tausch einer Nutzung aus einer politischen Machtposition (der Finanzhoheit des Staates) unmittelbar gegen Güter und Dienste, vermittelt durch Geld, d. h., nachdem beide durch Messung an der Geldelle als gleichwertig befunden sind. Der Staat hat also auch „Kapital", soviel wie er braucht, denn er bildet es durch seine Finanzhoheit, ganz wie er Geld hat, soviel er braucht, weil er es dank seiner Münzhoheit drucken und aus beliebigem Stoff prägen lassen kann. Natürlich hat auch diese Belastung der Zukunft mit den Ausgaben für die Gegenwart ihre Grenzen. Die äußerste Grenze ist dort gelegen, wo der Staat an Steuern und Schuldzinsen so viel vom Einkommen seiner Bürger für sich beansprucht, daß eine weitere Steigerung seiner Ansprüche ihre Lebenshaltung bedroht. Weiter kann man auf die Dauer nicht gehen. Rußland freilich ist zeitweilig weiter gegangen; in einem Raubbau sondergleichen hat es im Dienste eines für das unentwickelte Reich viel zu kostspieligen Imperialismus, den die Raffsucht seiner herrschenden Klasse noch verböserte, geradezu das Stammkapital seiner Kraft, den physischen Bestand seiner Bevölkerung, schwer angegriffen und wird das furchtbar zu büßen haben. Aber bis an diese Grenze wird ein in seiner Existenz bedrohter Staat im Notfall gehen und gehen müssen. Was er durch Steuern nicht erlangen kann, muß er auf dem Wege der Anleihe erlangen. Es ist wichtig, diese Dinge zu verstehen, weil die Meinung weit verbreitet ist, der Staat könne niemals mehr Kapital bilden, als seine Bevölkerung „ersparen" könne, soweit er nicht etwa aus den „Ersparnissen" von Ausländern „Kapital erhalten kann". Wir wollen nicht bemängeln, daß sich hier jene merkwürdige Umkehrung des Sachverhaltes ausdrückt, die wir vorhin klargestellt haben. Was gemeint ist, ist, wenn wir uns korrekt ausdrükken, folgendes: der Staat kann in Gestalt von rentablen Titeln so viel Kapital anbieten wie er will; aber es gehört der Kontrahent dazu, der es auch nachfragt, damit das Geschäft zustande komme. Niemand aber kann mehr an Geld oder Gütern respektive Diensten als Gegenwert anbieten, als er von seinem Einkommen ersparen, d. h. dem wirklichen letzten Verzehr entziehen kann. Wenn denn schon nicht das Angebot, so sei doch die Nachfrage des Kapitals durchaus begrenzt durch den Umfang der gesellschaftlichen Gesamtersparnis. Das ist, cum grano salis, auch ganz richtig. Nur darf man dabei nicht übersehen, daß diese gesellschaftliche Gesamtersparnis erstens durchaus keine feste Größe ist. Sie ist immer Gesamtertrag minus Gesamtverzehr; aber der Staat kann dazu helfen, daß der Gesamtertrag sehr stark wächst, indem er versiegte produktive Kräfte neu erweckt oder neue ins Leben ruft - und er kann auf der anderen Seite seine Bürger dazu bringen oder zwingen, ihren Verzehr sehr stark einzuschränken, so daß die resultierende Gesamtersparnis und die Möglichkeit, das von ihm angebotene Kapital abzusetzen, von beiden Seiten her sich stark gegen die Norm oder Vorperiode vermehrt. Und zweitens kann der Staat seine Bürger dahin bringen und im Notfall dazu zwingen, daß sie ihre Ersparnisse gerade gegen das von ihm angebotene Kapital eintauschen statt gegen andere sonst zur Anlage von Ersparnissen verwendete Dinge. Zwingen kann der Staat zu beidem, zur Einschränkung der Lebenshaltung und zum Ankauf seines Kapitals, durch das heroische Mittel der Zwangsanleihe. Wendet er dieses Mittel an, so muß
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jeder Bürger entweder seine Lebenshaltung einschränken oder andere Anlagen verkaufen oder verpfänden, um den auf ihn fallenden Betrag der Anleihe aufnehmen zu können. Dieses letzte sehr wenig beliebte und ratsame Mittel kann ein Staat, der noch Kredit hat, dadurch vermeiden, daß er die Sparer durch hohen Zinsfuß und Gewinnaussichten lockt oder, um ganz korrekt zu sein, daß er eine Rente von bestimmter Höhe zu einem ungewöhnlich niederen Preise verkauft, so daß der Erwerber sein „Geld" nicht nur hoch verzinst erhält, sondern auch noch die Aussicht hat, seinen Anspruch gegen den Staat in besseren Zeiten an einen anderen mit Gewinn wieder zu verkaufen. Dadurch wirkt der Staat, wenn auch nicht so kräftig, genau wie durch eine Zwangsanleihe. Der Privatmann schränkt seinen Verbrauch ein und legt seine größere Ersparnis weder als Hort (in Bargeld, Schmuck, Seltenheiten) noch in anderem, von Privaten ausgebotenen Kapital an. Dadurch zwingt er anderen Sparsamkeit auf in ihrer Lebenshaltung, weil sie bei teuerem Kredit weniger verdienen, und auch in ihren produktiven Anlagen, weil sie aus Mangel an Kredit ihre Gebäude und Maschinerien usw. nicht so ausgestalten können, wie sie es sonst vielleicht tun würden. Wenn der Staat sehr hohe Zinsen zahlt, wird manches Haus nicht gebaut, weil keine Baugelder zu haben sind, und die Bevölkerung wird notgedrungen schlechter und enger wohnen als bei flüssigem Geldstande; und dann wird auch manche Fabrik nicht gebaut oder erweitert, manches Landgut nicht melioriert werden, und die Bevölkerung wird sich mit der geringeren Menge und Qualität der Güter zu behelfen haben. Das ist gewiß zu beklagen, und gewiß liegt hier eine noch nähere Grenze für die Kapitalbildung durch den Staat als die äußerste Grenze, die wir oben bezeichnet haben, eine nähere Grenze, die der Staat nicht ungestraft lange und weit wird überschreiten dürfen. Aber nicht davon ist hier die Rede, sondern davon, daß die Kapitalbildung durch den Staat doch ungeheuer viel weiter gesteckte Grenzen hat, als diejenigen annehmen, die die „gesellschaftliche Ersparnis" als eine fest bestimmte, ein für alle Male gegebene Größe betrachten. Der Staat kann den Verzehr einschränken und die Nachfrage nach Kapital in seinem Sinne beeinflussen und auf beide Weisen sehr große Mengen von dem von ihm geschaffenen Kapital unterbringen. V o r allem aber kann er namentlich in Zeiten der Krise den Minuendus des Exempels, den Gesamtertrag an Produkten, ungeheuer stark vermehren, so daß nach Abzug des Subtrahendus, des Verzehrs, eine viel größere „Gesamtersparnis" übrigbleibt. Wenn er den plötzlich abgerissenen Kreis des Kreditgeldverkehrs durch seine Aufträge wieder zusammenknüpft, wenn es ihm gelingt, womöglich alle Arbeitskräfte ans Werk zu stellen und womöglich alle Arbeitsbehelfe zu ihrer höchsten Leistungsfähigkeit anzuspannen, dann fließt der Gesellschaft ein riesenhaftes Einkommen an Gütern und Diensten zu, das nie entstanden wäre, wenn die Menschen gefeiert und die Maschinen geruht hätten - und aus diesem, durch ihn erst geschaffenen Einkommen kann der Staat einen Teil als Steuer und einen anderen Teil als Kaufpreis für sein Kapital für sich beanspruchen, ohne daß der Verzehr der Volksmasse unter die kritische Grenze sinkt, ja, ohne daß er überhaupt sinkt und ohne daß die Kapitalbildung der Privaten für produktive Zwecke in gefährlicher Weise vermindert werden muß. „Ersparnis!" Nehmen wir an, das Reineinkommen der Inhaber der Firma Krupp vermehre sich durch die Aufträge des Staates für Kriegszwecke um χ Millionen Mark, und das Einkommen ihrer Angestellten und Arbeiter, die in äußerster Anspannung von Mensch und Maschinerie tätig sind, um ebensoviel. Sie brauchen ihren persönlichen Verzehr nicht im mindesten einzuschränken und können dennoch dem Staate als Steuer und auf Kriegsanleihe die vollen zwei χ Millionen Mark zur Verfügung stellen. Was ist - ohne Majaschleier - geschehen? Produktive Kräfte, die sonst nicht in diesem Maße tätig gewesen wären, haben mehr Güter hervorgebracht als sonst in gleicher Zeit. V o n diesen Gütern haben die Produzenten einen Teil unentgolten als Steuer, einen anderen Teil entgolten als Gegenwert eingetauschten Kapitals an den Staat geliefert, alles gemessen an der Geldelle und vermittelt durch das Papiergeld, mit dem der Staat sie, und dann sie den
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Staat bezahlt haben, der nun fähig war, überflüssiges Papiergeld aus der Zirkulation zurückzuziehen. Jetzt wird man, um das einzuschalten, den guten Sinn des Anleiheverfahrens verstehen, das - der Finanzteil vieler Tagesblätter hat es bewiesen - sogar einigen Finanzfachmännern gänzlich unklar geblieben ist, und das den Laien vielfach als eine Art von Schwindel oder Schiebung erschienen ist: die Beleihung von Effekten durch die Kriegsdarlehnskassen zum Zwecke der Zeichnung von Kriegsanleihen. Herr X will aus Patriotismus 10.000 Mark Kriegsanleihe zeichnen, hat aber keine baren Mittel und keinen freien Kredit. Er besitzt aber 20.000 Mark nominal einer guten Aktie. Das ist ein „Kapital", nämlich der kapitalisierte Anspruch auf die jährliche Dividende gegen die Aktiengesellschaft. Er verpfändet die Aktien bei der Kriegsdarlehnskasse, d. h., er tritt einen Teil seines Kapitalanspruchs an diese staatliche Kasse ab und erhält als Gegenwert neugebildetes Kapital des Staates. Er hat im ganzen einmal Kapital nachgefragt und einmal angeboten, sein Gesamtvermögen ist dadurch weder größer noch kleiner geworden, aber für den Staat ist es ein glattes und reelles Geschäft, während Herr X alles Risiko trägt. Der Staat besitzt ein ausreichendes Pfand dafür, daß sein Pfandschuldner der Verpflichtung nachkommen wird, gegen Zahlung der Valuta endgültig sein Gläubiger zu werden. Der Zweck der Operation ist durchaus erreicht, die unfundierte Schuld von 10.000 Mark in Banknoten, die zu Assignaten hätten werden können, in eine fundierte Schuld zu verwandeln. Denn zwar zirkulieren die 10.000 Mark noch weiter, aber jetzt voll gedeckt durch die in den Pfandbesitz des Staates übergegangenen, sehr vorsichtig beliehenen lombardierten Effekten. Und auf ganz dasselbe läuft die auf den ersten Blick noch viel verdächtigere Operation hinaus, Staatsanleihen älterer Emission zu lombardieren, um mit dem Erlöse Kriegsanleihen desselben Staates zu erwerben. Auch hier haftet das Pfand dem Staate dafür, daß der Zeichner binnen der Frist Zahlung leistet oder, wenn auch unter Verlust, einen anderen Zahler stellt (indem er das Effekt veräußert); auch hier ist die unfundierte Banknotenschuld in eine fundierte Schuld verwandelt, und die Zirkulation entlastet. Es ist übrigens, um auf den Streitfall noch einmal kurz zurückzukommen, durchaus nicht erforderlich, daß die Vorschüsse des Staates auf Effekten aus den „Ersparnissen" der nächsten Wirtschaftsperiode allein zurückgezahlt werden. Es kann das auch aus älteren Ersparnissen, aus Vermögensbeständen also, geschehen, die nur jetzt nicht erreichbar sind. Deutschland als Gläubigerland hat im Auslande große Guthaben an fälligen Zinsen und Dividenden, auch wohl an fälligen Kaufgeldern (Rimessen), die es jetzt infolge der Absperrung nicht hereinbekommen kann. Es hat ferner Kapitalguthaben im Auslande, die es mit Vorteil an Ausländer verkaufen könnte, um dafür Kriegsanleihe zu erwerben. Sobald die See wieder frei sein wird, werden diese großen Summen eingehen und zur Ablösung der Pfandverpflichtung benutzt werden. Vor allem aber werden viele zwar aus den „Ersparnissen" der nächsten Monate ihre Einzahlungen auf diese Anleihe machen, aber sie werden es nur können, weil der Staat durch seine Aufträge ihnen überhaupt erst die Möglichkeit zu einem Einkommen gegeben hat, sei es, daß er sie unmittelbar beschäftigt, sei es, daß er ihre Kunden mit Arbeit und Einkommen versorgt, für die sie nun ihrerseits lohnende Arbeit leisten konnten. Das also, daß der Staat als Arbeitgeber größten Stils aufgetreten ist, das ist neben den Siegen unserer Braven an der Front die Hauptursache dafür, daß die Krisis dieses furchtbarsten aller Kriege der Weltgeschichte soviel kürzer und soviel sanfter gewesen ist, als selbst Optimisten, geschweige denn Pessimisten angenommen hatten. Man denke nur an den verstorbenen Pazifisten von Bloch, den Inspirator des „Friedenszaren" Nikolaus, und seine furchtbare Prognose des finanziellen Zusammenbruchs infolge der ungeheuren Kriegskosten. Auch er vermochte noch nicht durch den Schleier der Maja zu sehen. Er sah nur, was der Krieg an Werten verschlingt: was er dagegen schafft und erspart, sah er nicht, und auch nicht, daß ein kräftiger Staat recht lange von „vorgegessenem Brote" leben kann.
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Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik Wie Rußland den Krieg soll durchhalten können, wenn ihm nicht seine Verbündeten weit über
ihre eigenen Kräfte hinaus finanzielle Hilfe leisten, ist nicht abzusehen. Denn das unentwickelte geknebelte Land muß ja fast allen Kriegsbedarf vom Ausland kaufen, und da gilt weder seine Finanz· noch seine Steuerhoheit; da gibt es wohl kaum für den überschuldeten brüchigen Riesen noch Kredit, muß also alles mit hartem Gold bezahlt werden. Länder aber von so hoher Entwicklung wie Deutschland und England können fast unbegrenzte Zeit durchhalten, da sie allen Kriegsbedarf im Inland herstellen können, und da hat es der Staat kraft seiner Hoheit in der Hand, durch Steuer- und Kreditmaßnahmen so viele Arbeitskräfte für die Kriegszwecke - unmittelbare und mittelbare - abzukommandieren, wie er braucht - wenn nur noch genug übrigbleiben, um die unentbehrlichen Friedensbedürfnisse hervorzubringen. Das aber ist selbst bei 3 0 - 4 0 Millionen Mark täglichen Kriegskosten ein leichtes Spiel, wenn nur dafür gesorgt wird, daß alle produktiven
Kräfte
des
Landes voll tätig sind und daß womöglich neue Quellen produktiver Kraft angeschlagen werden. Dieses Ziel zu erreichen, dazu hat der Staat notgedrungen und ohne Bewußtsein davon schon durch seinen Kriegsbedarf Ungeheures geleistet, wie wir dargestellt haben. Ein moderner Krieg ist ein so fein verzweigtes, mit so unendlich viel technisch hochentwickelten Behelfen betriebenes, man ist fast versucht zu sagen: technisch hochkapitalistisches Unternehmen, daß er außer der ungeheuren Anzahl unmittelbar beteiligter Krieger die Arbeiter der verschiedensten Zweige der Produktion in Tätigkeit setzt, und zwar vielfach in gesteigerte und - zum Beispiel durch Fortfall von Reklamekosten - verbilligte Tätigkeit, unter verstärkter Ausnutzung der vorhandenen produktiven Kräfte. Dadurch sind so viele A und Β an die Arbeit gestellt worden, daß die meisten aus der Reihe von C bis Ζ gleichfalls wieder arbeiten und kaufen konnten. Der Motor der Volkswirtschaft war angekurbelt und rotierte, wenn auch mit Knacken und Knirschen und noch nicht mit voller Kraft. Aber das Mittel war gewiesen, um, wenn auch nicht alles, so doch viel mehr noch zu erreichen. Warum sollte der Staat nicht noch mehr tun können? Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges überreichte ich dem Reichsamt des Innern eine Denkschrift: „Organisierung der Wirtschaft". Sie wurde erst von den nationalökonomischen Autoritäten der Berliner Universität und dann von einem Gremium unserer ersten Finanzmänner und Industriellen geprüft und genehmigt. Vielleicht hat sie ein wenig dazu mitgewirkt, daß der Staat, d. h. das Reich, die Einzelstaaten, Kommunen usw. sich dazu entschlossen haben, durch großartige Aufträge für Friedenszwecke auch diejenigen produktiven Kräfte von Mensch und Maschine in Tätigkeit zu setzen, die die Aufträge für Kriegszwecke noch hatten brach liegen lassen. Man weiß, welche ungeheuren Summen seitdem vor allem Preußen, aber auch die übrigen Staaten, nicht nur aus alten Krediten für die eher noch beschleunigte Fortführung schon beschlossener Anlagen und Bauten bereitgestellt, sondern auch aus neuen Krediten für neue Zwecke angefordert und erhalten haben. Alles in allem werden zwischen zwei und drei Milliarden Mark für solche Zwecke heute zur Verfügung stehen. Es heißt in der Denkschrift: „Mag der Krieg auch sehr lange dauern, was das Schicksal verhüten möge; es kommt doch einmal wieder Frieden! Und dann wird die vornehmste Staatsaufgabe sein, die Wunden zu heilen, die der Krieg geschlagen. J e breiter und sicherer das Fundament der Wirtschaft dann liegt, um so schneller wird die Erholung sich vollziehen. Dieses Fundament
soll jetzt verbreitert
und
gesichert
werden. Wir haben im Frieden den Krieg vorbereitet; jetzt haben wir die Aufgabe, im Kriege den Frieden vorzubereiten. U m so mehr, als uns diese Vorbereitung dazu helfen kann, die Lasten des Krieges unvergleichlich leichter zu ertragen, die Volkswirtschaft tragfähiger und den Staat widerstandsfähiger zu machen. Sollte der Krieg sich lange hinziehen, so wird der Staat der Sieger sein, der seine Wirtschaft
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am kräftigsten erhalten hat und deshalb mit unerschüttertem Kredit dasteht, wenn die anderen sich finanziell verblutet haben. Heute ist ja alles umgekehrt, was bisher galt. Und darum gilt in dieser schweren Stunde das Wort: qui vult bellum, para pacem! Was wir jetzt brauchen, was wir leider hastig improvisieren müssen, was aber in jeder künftigen Friedenszeit gleichberechtigt neben dem militärischen Generalstab zur Organisation der Kriegsarbeit stehen wird, ist ein volkswirtschaftlicher Generalstab zur Organisierung der Friedensarbeit im Kriege! Wir können unseren Produktionsmechanismus, solange der Krieg währt, durch keine Nachfrage seitens der privaten Kundschaft in Gang setzen. Das aber bedeutet ungeheure Verluste am Volkswohlstand. Denn jeder Arbeiter, der feiert, jede Maschine, die stillsteht, jeder Hochofen, der ausgeblasen wird, jedes Bergwerk, das ruht, hört auf, Wert zu erzeugen, aber sie fahren fort, zu kosten. Auch arbeitslose Arbeiter müssen essen und wohnen, auch in stillstehenden Bergwerken muß die Wasserhaltung fortgehen usw. Wie sollen wir dieses ungeheure lucrum cessans neben dem ebenso ungeheuren damnum emergens, den unmittelbaren, wirtschaftlich doch unproduktiven Kriegskosten, tragen? So stark vermehrte Ausgaben bei so stark verminderten Einnahmen, das ist auf die Dauer der Ruin, und d. h. die Niederlage, wenn der Gegner es nur ein wenig länger aushalten kann als wir selbst. Darum: Staatsaufträge für Friedenszwecke! In den technischen Büros unserer Reichsämter und Staatsministerien, in den Amtsstuben der Provinzen, Kreise und Kommunen liegen große Pläne zur Ausführung fertig vorbereitet. Chausseen sind geplant, Kanäle, Talsperren, Hauptstrecken und Sekundärbahnen, städtische Straßenbahnen, Kanalisationsanlagen, Gas- und Elektrizitätswerke, Hochbauten aller Art, Rathäuser und Bahnhöfe, Kraftwerke und Erschließung neuer Schachte. Auf den Staatsdomänen sind Meliorationen geplant, Dränage und Bewässerung; Sumpfstrecken sind trockenzulegen, die deutschen Moore sind in Kultur zu bringen. Heraus mit den Plänen, heran an die Arbeit! Das bedeutet Arbeit und Lohn für Hunderttausende von Männern, die nicht im Felde stehen und heute der Not ins Auge blicken müssen, das bedeutet Aufträge für Ziegeleien, Betonfabriken, Steinbrüche, Eisenwerke, Maschinenfabriken, Schienenwerke, Röhrenwerke, Elektrizitätswerke, bedeutet Arbeit und Brot für neue Zehntausende, Hunderttausende von Arbeitern und Angestellten. Weiter: unsere Staatsbahnverwaltung hat einen jährlichen Neubedarf von Zehntausenden von Güter- und Personenwagen, von Tausenden von Lokomotiven, von ungeheuren Massen von Schienen und Schwellen, Schrauben und Laschen usw. Warum damit warten, bis der Frieden kommt, der ausgehungerte Verkehr mit kataraktartiger Gewalt einsetzt, und dann achselzuckend eingestehen, daß man nicht genügend rollendes Material habe? Heraus mit den Aufträgen an die Waggon-, an die Lokomotivfabriken, an die Schienenwerke, an die Schraubenfabriken! Den Bedarf der Großkonjunktur voraussehen und vorausdecken, die der Frieden bringen wird, bringen muß, wenn die Kulturwelt nicht ganz in eine Wüste verwandelt ist - und dann mögen auch diese Werte noch mit in den Abgrund sinken. Dann ist ohnehin alles gleich! Aber das darf und wird nicht geschehen. Wie wir heute fechten, als wenn wir gar nicht anders als siegen können, so müssen wir heute die Wirtschaft organisieren, als wenn wir der Zeit des größten Wohlstandes mit aller Sicherheit entgegengehen! Hunderttausende, vielleicht Millionen von Arbeitern kann der Staat mit seinen Untergliedern sofort unmittelbar an die Arbeit stellen oder mittelbar durch seine Aufträge beschäftigen. Und das bedeutet für weitere Millionen von Staatsbürgern Arbeit, Verdienst, Erlösung aus der Not der Zeit. Wo die große Masse in Arbeit und Lohn steht, haben alle Gewerbe zu tun, die ihre Lebensbedürfnisse erzeugen, nicht nur Bäcker, Schlächter, Brauer und Müller, sondern auch die Textilindustrie, die Lederindustrie und unzählige andere. Was der Staat an Nachfrage schafft, vervielfältigt sich nach den Gesetzen der volkswirtschaftlichen Arbeitsteilung, wie ein Schall in einem Gewölbe unendlich widerhallt, wie ein Lichtstrahl aus unzähligen Spiegeln unzählige Ma-
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Enter Teil: Nationalökonomie
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le zurückgeworfen wird. Die staatliche Nachfrage schafft private Nachfrage im vielfachen Ausmaß ihrer selbst, und das bedeutet das Wiedererwachen der Produktion und des Tauschverkehrs, auch in bescheidenen Grenzen des Kreditgeldverkehrs; die gelähmte Wirtschaft gewinnt den Gebrauch ihrer Kräfte zurück! Sie wird mit halber, vielleicht mit Viertelkraft arbeiten, aber sie wird arbeiten. [...] Das ist mein Vorschlag. Wem er allzu paradox erscheint, der denke an die paradoxe Tatsache, daß man ein wankendes Gewölbe am sichersten dadurch festigt, daßman es belastet! [...] Die Arbeit wäre sofort mit aller Kraft, an allen Stellen zugleich, soweit die Verhältnisse der Zufuhr das gestatten, mit soviel Arbeitern wie irgend beschäftigt werden können, in Angriff zu nehmen. Kanäle z. B. - wir denken an den bereits begonnen Nord-Süd-Kanal, die Fortsetzung des Großschiffahrtsweges Stettin-Berlin, und vielleicht an den Mittelland-Kanal, wenn dessen Pläne vorliegen - sofort, wenn möglich, an allen Abschnitten; Hochbauten auf allen Flügeln, die Moorkultur in größter möglicher Ausdehnung, ebenso das Kraftwerk des Walchensees, die Elektrisierung der bayerischen Staatsbahn und der Berliner Stadtbahn; der Bahnhof Friedrichstraße sollte mit aller Macht gefördert werden; wenn das Projekt der Zusammenlegung von Potsdamer und Anhalter Bahnhof hinter den Landwehrkanal reif ist, sollte es in Angriff genommen werden, das Sekundärbahnnetz ausgebaut werden usw. usw. Das Ziel sollte sein, unmittelbar und mittelbar so viel Arbeitsgelegenheit zu schaffen, daß womöglich alle arbeitsfähigen Nicht-Wehrpflichtigen beider Geschlechter ins Brot kommen. Dieses Ziel wird wahrscheinlich nicht ganz erreichbar sein - aber man kann ihm nahekommen, die Wohltätigkeit ungeheuer entlasten, die heute schon zusammenzubrechen droht, Zufriedenheit verbreiten und vielleicht gefährliche Spannungen vermeiden, die deutsche Volkswirtschaft bis zum Frieden wenigstens über Wasser halten. Wir stehen im Kampf mit aller Welt wie zur Zeit des Siebenjährigen Krieges. Da sollten wir uns freudig erinnern, daß Friedrich der Einzige nicht nur ein Kriegsfürst sondergleichen war, sondern auch ein Organisator seiner Volkswirtschaft von unerhörter Kraft und Weisheit. Wir hoffen, im Felde nach friderizianischer Weise zu siegen - es wird der höchste Ruhm des Siegers sein, wenn er zugleich in der Heimat nach friderizianischer Weise gebaut und geschafft hat, wenn er mitten im Kriege den Frieden vorbereitet hat." Ernste Einwände sind gegen den Vorschlag nicht erhoben worden. Hier und da wurde das Bedenken geäußert, das Reich werde in eine Assignatenwirtschaft hineintreiben; aber man mußte zugeben, daß diese Gefahr auch schon bestehe, wenn es sich ganz auf die Ausgaben für Kriegszwecke beschränke und daß mäßige Aufwendungen für Friedenszwecke die Gefahr eher mildern als verstärken würden. Ein jüngerer Fachmann bemängelte ferner in einem Aufsatz meine Auffassung, daß das Reich so viel Kapital bilden könne wie es brauche. Er ging von der verkehrten Ersparnistheorie aus - meine Antwort ist oben gegeben. Jedenfalls haben Reich und Einzelstaaten wie Kommunen sich durch diese schwachen Einwände nicht beirren lassen, den Weg zu beschreiten, den das richtige Verständnis der volkswirtschaftlichen Zusammenhänge ihnen empfahl. Vielleicht hätten sie hier und da ihren gutberatenen Willen noch schneller und kraftvoller in die Tat umsetzten können; was aber geschehen ist, hat stark dazu geholfen, die Krisis zu sänftigen und das Stadium der Anpassung, der „Kompensation" herbeizuführen, in dem wir uns in diesem Augenblick befinden.
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Zweites Kapitel: Anpassung Es gibt eine gewisse Schule von Pseudo-Malthusianern, die die schwersten Erscheinungen einer „Uberbevölkerung" für den Fall befürchten, daß ein großes Industrieland plötzlich infolge politischer Verwicklungen einen bedeutenden Teil seines Außenhandels einbüßt. Als ich mein Buch über die verschiedenen Bevölkerungstheorien schrieb, hatte ich mich auch mit dieser Abart abzufinden und versuchte, sie durch ein Gedankenexperiment zu widerlegen. Ich wählte dasjenige Land aus, das durch ein solches Ereignis am schwersten betroffen werden müßte: Großbritannien, ein Land, das nicht nur in der industriellen Entwicklung am weitesten fortgeschritten ist, sondern das sich überdies viel waghalsiger auf die Basis des Export-Industrialismus gestellt hat als irgend ein anderes. Es hat bekanntlich von allen Westländern die böseste Agrarverfassung, ein Großgrundeigentum von verderblicher Ausdehnung im ganzen und Massenhaftigkeit im einzelnen, hat ihm zuliebe seine Landwirtschaft schwer verfallen lassen und ist infolgedessen gezwungen, fast alles Brotkorn und den größten Teil der Fleischnahrung einzuführen, die seine Bevölkerung verzehrt, - in sehr ungünstigem Gegensatz zu unserem Deutschland, das, dank einer besseren Agrarverfassung mit überwiegendem Bauernbesitz, seine Landwirtschaft fast ebenso schnell entfaltet hat wie sein Gewerbe und darum heute noch imstande ist, seine Bevölkerung, wenn auch nur notdürftig, ohne Importe von Nahrungsmitteln zu ernähren. Diese in verderblicher Einseitigkeit entwickelte Volkswirtschaft untersuchte ich in dem Gedankenexperiment eines extremen Grenzfalls. Ich nahm an, eine Phäakenmauer erhebe sich auf das Geheiß des erzürnten Poseidon aus dem Meere und sperre das Inselreich hermetisch von aller Welt ab, so daß es in einer einzigen Nacht und noch dazu zur ungünstigen Zeit des Jahres, kurz vor der Ernte, seinen gesamten Außenhandel, Export wie Import, alle seine Außenstände im Auslande und seine gesamte Vermittlungstätigkeit im Waren-, Fracht-, Geld- und Kapitalhandel unwiederbringlich verliere. Trotzdem würde, so versuchte ich zu zeigen, selbst eine so ungeheure Katastrophe nicht notwendig eine Hungersnot und das Aussterben großer Teile der Bevölkerung nach sich ziehen müssen. Die Anpassung des Wirtschaftskörpers an die neue Lage werde sofort einsetzen. Plötzlich aus seiner Stellung als Organ, und zwar als „Stadt" des Weltwirtschaftskreises herausgeschleudert, werde das Land sich sofort zu einer „autarkischen", sich selbst genügenden Volkswirtschaft umwandeln. Zunächst werde das Volk von seinen großen Reserven an Fleisch (Pferde, Rinder, Wild usw.) und Fischen leben können, und die öffentliche Gewalt werde selbstverständlich gegenüber einer solchen allgemeinen Notlage dafür sorgen, daß die vorhandenen Rationen gleichmäßig genug verteilt würden, um alle über Wasser zu halten. Und dann werde binnen kürzester Zeit die gewaltige „Selbststeuerung der Wirtschaft", der Preis, dafür sorgen, daß die Produktion von Lebensmitteln ungeheuer wachse. Denn diese ständen hoch im Preise und versprächen, lange Zeit hoch zustehen, während Gewerbeprodukte tief ständen oder unverkäuflich seien: unter solchen Umständen werde sich Arbeit und Kapital auf die Urproduktion stürzen, sie mit allen Hilfsmitteln der Technik befruchten, und nach kurzer Zeit schon werde das neue Gleichgewicht erreicht sein. Als ich das schrieb, glaubte ich nicht, jemals meine theoretische Rechnung durch die Erfahrung bestätigt zu sehen. Und doch haben wir ganz das gleiche in den letzten Monaten erlebt. Deutschland, ein Industrie- und Exportgebiet allerersten Ranges, ist tatsächlich in einer einzigen Nacht völlig vom Seehandel und fast völlig vom Außenhandel abgesperrt worden; es ist tatsächlich gezwungen gewesen, sich ruckhaft aus der „Stadt" einer Weltwirtschaft in eine autarkische Volkswirtschaft umzuwandeln: und es hat diese Anpassung in kürzester Zeit vollzogen.
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Allerdings befand es sich dabei nicht ganz in der schlimmen Situation wie Großbritannien in jenem Gedankenexperiment, weil es sich eben um ein Land mit zum Glück hoch entfalteter Landwirtschaft handelt, dessen Bedarf an Brotkorn und Fleisch noch zu zirka 95 Prozent durch seine eigene heimische Erzeugung gedeckt war, freilich die Fleischerzeugung in diesem Umfang nur unter der Voraussetzung eines kolossalen Importes von Futtermitteln (1913 belief er sich auf fast eine Milliarde Mark); aber selbst dieses Defizit ist offenbar leichter durch Mehrerzeugung zu decken als das riesenhafte britische Defizit des Gedankenexperiments. Dafür liegen die Dinge aber für die deutsche Volkswirtschaft der Wirklichkeit von 1914 aus zwei Gründen ungünstiger als für die britische Volkswirtschaft der theoretischen Rechnung von 1900. Erstens hat Deutschland außer der Anpassung an seine Isolierung auch noch die Anpassung an den Kriegszustand zu leisten. Das heißt: Es hat nicht nur seine gesamte Produktion und Distribution so umzudisponieren, daß alle durch den Verlust der Exportgewerbe, des Exporthandels und der Luxusgewerbe freigesetzten Arbeitskräfte und Kapitale in solchen Zweigen beschäftigt werden, die die jetzt fehlenden Güter des früheren Imports erzeugen oder ersetzen, sondern es hat auch noch außerdem eine ungeheure Zahl von Männern für die unmittelbaren Kriegszwecke als Soldaten und Hilfspersonal, - und kaum weniger Arbeitskräfte für mittelbare Kriegszwecke, für den Bedarf des Heeres an Waffen, Munition, Kleidung usw. abzukommandieren, hat also die Anpassung an den neuen Zustand mit stark vermindertem Bestände an Menschen und Produktionsmitteln zu vollziehen. Der zweite Grund, warum das Deutschland der Wirklichkeit es schwerer hat als das Großbritannien der Phantasie, ist der, daß hier der Zustand als ein dauernder, unwiderruflicher angenommen wurde, während es sich bei uns um einen Ausnahmezustand handelt, dessen Dauer unbestimmbar ist, aber unmöglich sehr hoch geschätzt werden kann. Dieser an sich glückliche und hoffnungsvolle Umstand lähmt natürlich mehr oder weniger den Faktor, auf den jene Selbststeuerung der Marktwirtschaft, der Preis, zunächst einwirken muß, um die Umlagerung der Produktion zu erreichen. Solche Umlagerung im großen Stil fordert starke Kapitalinvestitionen. Aber auf der einen Seite können sich die Exportinteressenten und ihre Schicksalsgenossen nicht entschließen, ihr Kapital aus ihrem bisherigen Verwendungsgebiet herauszuziehen, weil sie von jedem Augenblick die Lösung der Sperre erwarten - und auf der anderen Seite können sich die heute durch sehr hohe Preise begünstigten Produzenten, ζ. B. die Landwirte, nicht entschließen, große Kapitalanlagen zu wagen, weil sie fürchten müssen, daß mit dem Friedensschlüsse der Import wieder einsetzt und die Preise wieder sinken, ehe das neue Kapital Zeit gehabt hat, sich lohnend zu verzinsen und gleichzeitig zu amortisieren. Hierin, weil alle privatwirtschaftliche Aktion in der Unsicherheit der politischen und strategischen Lage dieser Zeit ein Element waghalsiger Spekulation einschließt, erblicke ich die Hauptursache dafür, daß die Anpassung noch nicht vollkommen geglückt ist und wohl auch nicht vollkommen glücken wird. Trotzdem ist in kürzester Zeit Erstaunliches geleistet worden, jedenfalls so viel, daß die Volkswirtschaft ihre neuen Aufgaben leidlich erfüllen wird, solange der Krieg auch dauern möge. Niemand wird hungern müssen; die öffentliche Wohltätigkeit wird sich vor keiner unerfüllbaren Aufgabe sehen - natürlich immer unter der Voraussetzung, daß der Krieg nicht große Teile unseres eigenen Landes ergreift. Aber diese Voraussetzung ist uns heute ja wohl erlaubt. Die Anpassung hat sich vollzogen erstens unter dem Einfluß der Selbststeuerung durch den Preis. Wo der Preis sank, wurde die Produktion nach Möglichkeit eingeengt - soweit nicht die Hoffnung auf baldige Wiederbelebung gegenwirkte - , wo der Preis stieg oder sich auch nur hielt, wurde die Produktion aufrechterhalten und nach Möglichkeit ausgedehnt. Wirkt hier der gesellschaftliche Kollektivwille sozusagen automatisch, durch Druck auf die wirtschaftliche Entschließung aller einzelnen, so geht nebenher die wirtschaftliche Handlung durch den
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organisierten Kollektivwillen; und zwar konkurrieren hier der „Staat", d. h. bei uns Reich, Einzelstaaten, Provinzen, Kreise, Amts- und Gutsbezirke und Gemeinden, die öffentlich-rechtlichen Organisationen des gemeinen Nutzens, mit den privaten Organisationen aller Art, mit den Kapitalverbänden, Kapitalistenvereinigungen, Gewerkschaften und Genossenschaften, und den unmittelbar dem gemeinen Nutzen dienenden privaten Organisationen, vom Roten Kreuz bis zum Vaterländischen Frauenverein, von den Vereinen für private Fürsorge bis zu den Vereinen gegen Verarmung und Bettelei. Der „Staat" hat sehr kräftig, vielleicht hier und da zu kräftig, und hier und da nicht kräftig genug, in das Getriebe der automatischen Selbststeuerung eingegriffen, mit Gesetzen und Verordnungen aller Art, mit Aufträgen und Unterstützungen; und was die privaten Organisationen geleistet haben, wird einmal in der geschichtlichen Darstellung dieses Riesenkrieges ein besonders reizvolles und glorreiches Kapitel ausmachen. Ohne unsere Unternehmerverbände, die ihre Mitglieder durch Rat und Tat zu schnellster Umdisposition und Anpassung veranlaßt haben, ohne unsere Gewerkschaften mit ihren stattlichen Reserven, die im Moment der Krisis die ärgsten Spitzen der Arbeitslosigkeit abstumpfen konnten, ohne unsere soziale Fürsorge sähe es schlimmer aus im Lande. Machen wir uns nun klar, welche Aufgaben der deutschen Volkswirtschaft während des Krieges gestellt sind, wie sie sie schon gelöst hat und weiterhin lösen wird. U m uns nicht durch den Majaschleier blenden zu lassen, die Geldausdrücke, die alle Täusche begleiten, werden wir uns wieder überall der „Naturalbetrachtung" der Wirtschaft bedienen. Zwei Aufgaben hat jede Volkswirtschaft, die der Produktion und die der Distribution. Sie hat die Güter und Dienste herzustellen, deren alle einzelnen bedürfen, und hat diesen Vorrat so zu verteilen, daß jeder entsprechend seiner Leistung Gegenleistung erhält, und zwar in denjenigen Wertdingen, deren er bedarf, um seine Bedürfnisse möglichst vollkommen zu bedecken. Die Aufgabe der Produktion erschöpft sich in zwei großen Teilaufgaben: es müssen erstens alle „letzten" Güter und Dienste produziert werden, die dem wirklichen Verzehr verfallen, und zweitens alle diejenigen Produkte, die der Herstellung dieser letzten Güter dienen, die Werkgüter: Rohstoffe, Hilfsstoffe und Werkzeuge (Maschinen), das sogenannte „volkswirtschaftliche Kapital". Und zwar muß eine Volkswirtschaft grundsätzlich so funktionieren, daß ihre Vorräte an Werkgütern aller Art immer mindestens durch Ersatz allen Verschleißes auf ihrem Bestände erhalten werden; sonst treibt sie Raubbau, lebt vom Kapital und muß das zuletzt an der Versorgung mit letzten Gütern büßen. In schweren Kriegszeiten liegen hier sehr starke Reserven. Im allerschlimmsten Falle kann eine Nation auch einmal vom Kapital leben - einige Zeit lang. Was die Güter und Dienste des letzten Verzehres anlangt, so braucht die Anpassung im Notfall nicht weiter zu gehen als bis zur Sicherung der Befriedigungsmittel der Notdurft, während die des Komforts und gar des Luxus stark eingeschränkt werden können, ohne daß anderer Schaden geschieht, als daß die Produzenten dieser Produkte leiden. Man muß sie auf anderen Erwerb abschieben oder schlimmstenfalls ernähren. Von den drei Hauptbedürfnissen der Notdurft: Nahrung, Kleidung und Behausung samt Beleuchtung und Beheizung ist nur das erste ernsthaftes Problem. Unser Volk ist durchschnittlich so ausreichend mit Kleidung, Wäsche und Schuhzeug versorgt, daß es einige Zeit hindurch auch ohne viel Beschaffung von neuen Stücken auslangen kann. Auch die Behausung ist ausreichend - wir sprechen hier nur von Gütern der Notdurft, nicht des Behagens, und es steht hier nicht in Frage, ob nicht vom Standpunkt des Behagens aus eine beträchtliche Besserung der durchschnittlichen Versorgung mit Wohnung und Kleidung wünschenswert ist. Heizmaterial
produziert
Deutschland in Fülle, Holz, Torf, Braun- und Steinkohlen; in der Beleuchtungsfrage leiden wir in unerfreulicher Weise an dem Petroleummangel: aber die Anpassung durch Einführung von Gas, elektrischem Licht usw. schreitet schnell voran und würde keinerlei Schwierigkeiten machen, wenn nicht alle Welt auf die Wiedereinfuhr von Petroleum wartete. Spiritus als Ersatzmittel kann vorläu-
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fig, solange Kartoffeln sehr teuer und als Nahrung kaum entbehrlich sind, kaum in Betracht kommen. Was nun die Nahrung anlangt, so hat Deutschland, wie bereits erwähnt, in dem letzten Jahre zirka 95 Prozent sowohl des von ihm verbrauchten Brotkorns, wie auch seiner Fleischnahrung selbst erzeugt. Aber ein Teil dieser Produktion war „Veredelungsgewerbe", vor allem unsere enorme Schweinezucht; ein Viertel bis ein Drittel unseres Schweinefleisches ist aus importierten Futtermitteln angemästet. Ferner beruht ein kolossaler Teil unserer Erzeugnisse an Milch und Milchprodukten auf der Zufuhr fremdländischer, namentlich fetthaltiger Futterstoffe, unter denen das Baumwollsaatmehl eine große Rolle spielt. Veredelungsgewerbe ist auch ein Teil unseres Ackerbaus; unsere Durchschnittsernte an Körnerfrüchten, Kartoffeln usw. wäre wesentlich geringer ohne die reichliche Verwendung auswärtiger Düngestoffe, vor allem des Chilisalpeters, aber auch gewisser Phosphate. Ferner importieren wir sehr große Mengen von Fetten für menschliche Nahrung (Schweineschmalz, Butter und Butterschmalz usw.), von Eiern, Geflügel und Obst und tropischen Produkten: Reis, Kaffee, Tee, Kakao usw. Wenn wir ohne alle diese Importe und ohne Veränderung unserer Wirtschaftsrichtung längere Zeit sollten auslangen müssen, würden wir in Verlegenheit kommen können. Das wird nicht, sicher nicht in bedrohlichem Maße nötig sein. Davon sofort. Aber jedenfalls sind wir gezwungen, sofort eine Anpassung in unseren Verzehrgewohnheiten vorzunehmen. Wir haben ein starkes Defizit an Weizen, einen beträchtlichen Ausfuhrüberschuß von Roggen. Wir müssen daher auf einen Teil des Weizenbrotes, namentlich des ganz feinen, aus Auszugmehl hergestellten, verzichten und dafür mehr Mischbrot und reines Roggenbrot essen. Die Selbststeuerung durch die Preisbildung hätte wahrscheinlich schnell und kräftig genug die notwendige Anpassung vollzogen; aber die Behörden haben leider, allzu nachgiebig gegen eine populäre Strömung, durch die Einführung von Höchstpreisen die Selbststeuerung gelähmt, trotz aller Erfahrungen der Wirtschaftsgeschichte und aller Warnungen der Theorie seit Adam Smith. Man hat zwar versucht, durch eindringende Aufklärung die Bevölkerung zu allgemeiner Sparsamkeit zu bewegen, und hat durch viele Befehle und Verbote diese Sparsamkeit zu erzwingen versucht: Befehle über das Mindestmaß der Ausmahlung von Brotkorn, über die „Streckung" von Weizenmehl durch Roggenmehl, und von Roggenmehl durch Kartoffelmehl, Verbote, Roggenschrot an das Vieh zu verfüttern, Weizenbrötchen nachts zu backen usw. Aber alle diese halben Maßregeln haben keinen durchgreifenden Erfolg gehabt und hätten ihn auch dann nicht gehabt, wenn sie im einzelnen zweckmäßiger gewesen wären, als sie vielfach in der Tat waren. Hier waren nur ganze Maßnahmen gestattet, und deren gab es nur zwei: entweder völlige Freigabe der Preisbildung, um „durch die Teuerung der Hungersnot vorzubeugen", oder das Getreideund Mehlmonopol. Die erste Alternative hätte leicht spekulative Ausschreitungen und starke Erregung bringen können, und so ist es nur zu billigen, daß die Regierung sich zur zweiten Alternative entschloß, obgleich auch diese nur ein kleineres Übel ist, das große technische Schwierigkeiten und ökonomische Unzuträglichkeiten mit sich bringt. Die Verordnung kam reichlich spät. Das deutsche Volk hat während des ersten Kriegshalbjahres wie ein reicher Mann sorglos gelebt und wird daher im zweiten den Schmachtriemen etwas enger schnallen müssen. Aber sie kam doch noch nicht zu spät! Wir werden auslangen, obgleich die Ernte an Brotkorn und Kartoffeln geringer ist als die des Vorjahres. Wir werden weniger Brot und mehr Kartoffeln verzehren, werden mehr Gerste in Gestalt von Gerstenmehl und Graupen essen als sonst, werden weniger Gerste in Bier und weniger Korn und Kartoffeln in Branntwein verwandeln 1 , und vor allem haben wir in unserem bisherigen
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W i r haben 1912 rund eine Million Tonnen Gerste verbraut und 1912/13 rund 2.730.000 Tonnen Kartoffeln und 360.000 Tonnen Getreide zu Branntwein verbrannt.
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Zuckerüberschuß eine gewaltige Reserve. Wir haben etwa fünf Viertelmillionen Tonnen Reinzukker jährlich exportiert, das Äquivalent an Nährwert von 625.000 Tonnen (12Ά Millionen Zentner!) guter Butter. Dauert der Krieg nicht allzulange, so haben wir eine zweite kolossale Reserve in unserem Vieh, namentlich in unserem Schweinebestand, der sich seit dem Vorjahr um nicht weniger als ein Sechstel vermehrt hat. Da wir das Defizit an Futtermitteln unmöglich so schnell decken können, müssen wir denjenigen Teil einschlachten, der das Erzeugnis jenes „Veredelungsgewerbes" ist. Das würde uns außer dem Fleisch große Mengen von Fett liefern, das wir ganz besonders gut gebrauchen können. Die Reduktion des Schweinebestandes um ein Viertel bis ein Drittel würde einen Minderverbrauch an Futter von zweieinhalb bis dreieinhalb Millionen Tonnen Korn-Äquivalent ermöglichen, und damit wäre das Futterdefizit zum allergrößten Teile beseitigt. Da das Rind im Gegensatz zu dem mit Kartoffeln und Schrot gemästeten Schwein im allgemeinen nur solche Pflanzen erhält, die für menschliche Ernährung nicht in Betracht kommen, könnten wir unseren Rinderbestand einigermaßen durchhalten, freilich unter sehr empfindlichem Rückgang der Milchproduktion mangels fetthaltiger Futtermittel. Da der Konsum von Frischmilch kaum stark eingeschränkt werden kann, werden wir mit einer Butternot zu rechnen haben - wenn uns nicht dänische und holländische Einfuhr zu Hilfe kommen. Wenn wir den Ubervorrat an Schweinefleisch zum großen Teile in Dauerware verwandeln, sind wir nicht nur für das laufende, sondern auch für das nächste Jahr mit Fleisch ausreichend versorgt übrigens ist eine Herabminderung dieses Konsums, der in Deutschland sehr stark ist, physiologisch unbedenklich, vielleicht sogar wünschenswert. Sollte der Krieg und die Absperrung freilich länger als zwei Jahre dauern, dann würden wir vom dritten Jahre an mit einer empfindlichen Verminderung unserer Fleischversorgung zu rechnen haben - unter der Voraussetzung, daß bis dahin die Anpassung nicht so weit gediehen wäre, um unsere eigene Futtererzeugung entsprechend zu vermehren, was durchaus und unschwer möglich ist. Selbst in jenem schlimmsten Falle wäre aber das Ergebnis für die Volksernährung durchaus nicht so schlimm wie es aussieht. Es gehen nämlich bei der Umwandlung von Pflanzen in Schweinefleisch wenigstens fünfzig Prozent der Nährwerteinheiten verloren: diese enorme Masse wird uns jedenfalls gerettet sein. N u n ist aber erstens nicht zu erwarten, daß der Krieg in dieser Ausdehnung viele Jahre lang dauern wird. Die Staaten würden sich derart mit Schulden belasten, daß sie nicht mehr aufrecht stehen könnten. Ferner ist es sehr unwahrscheinlich, daß man Deutschland auf die Dauer von allen Zufuhren absperren kann. Man müßte auch die an uns grenzenden Neutralen absperren, und das ruiniert auf die Dauer unsere Gegner selbst - Ägypten ζ. B. geht zugrunde, wenn es seine Baumwolle und sein Baumwollensaatmehl nicht verkaufen kann, und Rußland wird sein Korn verkaufen müssen, wenn es Waffen und Verbandstoffe soll kaufen können - ; und ferner werden es sich die Neutralen nicht lange gefallen lassen. Man darf nicht vergessen, daß zu ihnen die Vereinigten Staaten gehören, die furchtbar leiden, wenn sie ihre Baumwolle und Saatmehle, ihr Kupfer und Schmalz, ihren Mais und Weizen nicht loswerden können. Selbst billige Massenprodukte werden wieder zu uns gelangen, wenn auch auf verteuernden Umwegen - und keineswegs wird man uns die hochwertigen Produkte wie Kupfer, Zinn, Kautschuk usw. lange sperren können. Die Lockung hoher Preise ist stärker als jede Blockade. V o r allem aber sind Anpassungen von größter Wirkung nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich. Zunächst wird die Selbststeuerung durch den Preis vieles erreichen. Da Weizen an sich teurer ist als Roggen und durch die Festsetzung der behördlichen Höchstpreise stark bevorzugt ist, wird sich das Weizenareal auf Kosten des Roggengebietes beträchtlich ausdehnen. Wahrscheinlich wird das mit Zuckerrüben bebaute Feld einigermaßen einschrumpfen, und dafür werden Futterrüben und Kartoffeln angebaut werden; das Kartoffelland wird im ganzen auf Kosten des Kornlandes wachsen, weil es höher rentiert, und das wird für die Volksernährung sehr günstig sein, weil selbst bei der
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vorsichtigsten Schätzung Kartoffelland um zirka ein Viertel mehr Nährwerteinheiten liefert als Kornland. Ferner wird ganz im allgemeinen unter der Lockung hoher Preise die Intensität des Anbaues stark zunehmen. Dazu steht die Handarbeit sicher zur Verfügung. Hat nämlich auch die Mobilmachung die jungen Männer gerade der Landwirtschaft massenhaft entzogen, so haben wir doch die ganze große Schar russischer Landarbeiter, die wir sonst gegen Ende des Jahres in die Heimat zu entlassen pflegen, im Lande behalten, angeblich zirka 450.000 Köpfe, Männer und Frauen; und haben schon jetzt über dreiviertel Million Kriegsgefangene, offenbar größtenteils Bauern und Landarbeiter, die uns helfen müssen. Außerdem wird bei der doch immerhin nicht glänzenden Lage des Marktes der städtischen Ungelernten sicherlich die sonst ungeheuer starke binnenländische Abwanderung vom Plattlande in die Städte sich wenigstens stark vermindern. Ist somit eine höhere Arbeitsintensität der Landwirtschaft wahrscheinlich gesichert, so ist die höhere Kapitalintensität wohl möglich, aber durch zwei Dinge gefährdet. Erstens durch den Mangel an stickstoffhaltigem Dünger, da dessen Hauptrepräsentant, der Chilisalpeter, nicht hereinkommt. Daß es möglich ist, dieses Defizit technisch abzudecken, ist sicher, und zwar durch Ammoniaksalze, die aus den Gaswässern gewonnen werden, durch Kalkstickstoff und vielleicht Luftstickstoff nach einem, wie man behauptet, jetzt gerade reif gewordenen neuen Verfahren: aber ob diese technische Möglichkeit auch eine ökonomische Möglichkeit ist, d. h. ob die Ersatzmittel in genügender Menge und vor allem zu genügend niederem Preise produziert werden können, steht heute noch dahin. Wäre es absolut sicher, daß kein Chilisalpeter während mehrerer Jahre ins Land kommen kann, dann ist nicht daran zu zweifeln, daß der Mangel sehr bald durch neue Düngerfabriken behoben werden würde. Aber das ist die zweite Schwierigkeit, die Unsicherheit der wirtschaftspolitischen Situation. Das Kapital hält sich mit neuen Anlagen zurück, und die Landwirtschaft wagt es nicht, mit der vollen Kraft größerer Ausgaben an die Intensivierung der Betriebe heranzugehen. Dennoch kann sehr viel erreicht werden. Zweckmäßige Gründüngung, für die wir keines importierten Materials bedürfen, kann gerade den Stickstoffdünger weithin ersetzen; ferner leistet eine besonders zweckmäßige Behandlung der Ackerkrume, die durch fortwährende Zerstörung ihrer Kapillarität das Wasser im Untergrunde vor Verdunstung bewahrt und aufspart, Ungeahntes für den Aufschluß neuer, auch stickstoffhaltiger Pflanzennährstoffe; behaupten doch die Anhänger des in den Halbsteppenländern Amerikas ausgebildeten Dry farming, daß man bei geeigneter Bearbeitung des Bodens überhaupt ohne Düngung auskommen könne; statt die Statik des Bodens nach Liebig in kostspieligen Verfahren zu erhalten solle man seine Dynamik in Gang setzen; er sei keine Retorte voller fertiger Chemikalien, sondern ein Laboratorium, das fortwährend neue Nährstoffe aus dem toten Mineral bilden könne. Mag das übertrieben sein, jedenfalls läßt sich der Ertrag des Bodens einige Jahre hindurch auch ohne so viel künstlichen Stickstoffdünger durch Gründüngung und gute Bearbeitung der Felder auf dem bisherigen Stande erhalten, ja, durchschnittlich sogar wahrscheinlich steigern. Denn das bleibt wahr, trotz der sehr bedeutenden und hoch erfreulichen Steigerung der deutschen Durchschnittsernten in dem letzten Jahrzehnt bleibt selbst dieser vermehrte Durchschnitt noch beschämend tief hinter dem Ertrage der besten Güter auf Mittelboden zurück. Wenn hier überall die Anpassung sich durch die Preisbildung mit Unterstützung der privaten Organisationen vollziehen wird, der Landwirtschaftskammern und der landwirtschaftlichen Vereine, die ihre Mitglieder und Wähler durch Rat und Tat und sanften Zwang dahin bringen werden, das gleichzeitig allgemein Notwendige und privatwirtschaftlich Nützliche zu tun, so hat der Staat zu helfen, damit die letzte große Anpassung sich schnell genug vollziehe, die Gewinnung neuen Nutzlandes im großen Stile. Es sind in Deutschland noch ganze Provinzen im Frieden zu erobern. Fast genau zehn Prozent der Gesamtfläche, mehr als ein Sechstel der Nutzfläche wird bei uns von Unland eingenommen. Davon ist ein ungeheurer Teil der Kultur zu gewinnen. Heideland kann durch Rigolen und Düngung in kürzester Zeit in das beste Obst- und Gemüseland verwandelt werden; davon sind
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wenigstens zweieinhalb Millionen Hektar vorhanden. Und von den dreieinhalb Millionen Hektar umfassenden deutschen Mooren sind zweieinhalb Millionen Hektar kultivierbar; sie ergeben Wiesländereien von sehr hohem Ertrage: da Heu das beste, nährwertigste Futtermittel ist, und da auf einem Hektar in guten Jahren fünf Tonnen Heu geerntet werden, läßt sich ermessen, was hier bei gutem Willen und gehöriger Energie in kürzester Zeit für die Versorgung des deutschen Viehstandes und dadurch der Bevölkerung mit Fleisch geschehen kann. Auch durch Ausdehnung der Fischzucht und des Obstbaues (Beerenobst trägt schon im ersten Jahr) läßt sich sehr Großes schnell erreichen. Der Ernährung wegen brauchen wir mithin keine ernsten Sorgen zu haben. Wie steht es mit den Werkgütern? Die wichtigsten Rohstoffe und Hilfsstoffe erzeugen wir in jeder erwünschten Menge im eigenen Lande: Holz, Steine und Ziegel, Eisen und Kohle. Von den übrigen Metallen erzeugen wir Zink im größten Maßstabe, auch Blei genügend, sind dagegen auf die Einfuhr von Kupfer und Zinn angewiesen. Kupfer könnten wir allerdings im Notfall durch Verhüttung der armen Mansfelder Kupferschiefer in beliebiger Menge erlangen. Außerdem sind nach neueren Untersuchungen sehr große Mengen von Kupfer in Gestalt von Leitungsdrähten, Kesseln und anderen Geräten vorhanden, genug, um unseren Bedarf für mindestens ein Jahr zu decken. Zinn erhalten wir fast ganz über See aus Bolivien und Hinterindien (Banka-Zinn). Von wichtigen Hilfsstoffen führen wir der Regel nach sehr starke Mengen von Schmieröl ein (1913 Mehreinfuhr mineralischer Schmieröle 211.000 Tonnen gegenüber einer Eigenproduktion von 136.500 Tonnen; ferner importierten wir Tran und Fischfette ungefähr 48.000 Tonnen). Das Defizit muß im Notfall durch tierische Fette ersetzt werden: allerdings gegenüber unserem Manko an diesen Nahrungsmitteln recht schmerzlich! Von dem Defizit an Chilisalpeter und Viehfuttermitteln und ihrer Ersatzmöglichkeit haben wir ausführlich gehandelt. Von weiteren wichtigen Rohstoffen fehlen uns namentlich diejenigen der Textilindustrie. Wir haben im letzten Jahre für über eine Milliarde Mark Baumwolle und Wolle importiert. Wenn wir auch in Antwerpen, Verviers und Lodz große Vorräte namentlich von Wolle gefunden haben, können sie doch das Defizit nicht decken. Vielleicht stellt uns ein Sieg der türkischen Waffen am Nil in absehbarer Zeit ägyptische Baumwolle in größerer Menge zur Verfügung; vielleicht setzen die Vereinigten Staaten, die im letzten Jahre für fast zweieinhalb Milliarden Mark Baumwolle exportiert haben, die Freiheit ihres Baumwollhandels mit unseren neutralen Grenznachbarn durch, so daß wir auf dem Umwege hereinbekommen, was wir brauchen, - um so mehr, da Baumwolle auch nicht einmal relative Kriegskonterbande ist: im schlimmsten Falle müssen wir uns mit geringen Mengen behelfen. Das dadurch entstehende Problem ist allerdings mehr ein solches der Distribution als der Produktion. Denn wir können wohl eine Zeitlang mit unserem Vorrat an Kleidung und Wäsche auslangen: aber es ist nicht leicht, für die ungeheure Bevölkerung unserer Textilindustrie, Spinnerei, Weberei, Schneiderei und Wäschekonfektion, andere lohnende Arbeitsgelegenheit zu beschaffen, um so mehr, als auch Seide, Flachs und Jute vorwiegend oder ganz zu uns eingeführt wurden. Was nun schließlich die Werkzeuge anlangt, so ist unsere gewaltige Maschinenindustrie jedem Anspruch gewachsen; hier können wir uns, solange die Materialien ausreichen und die Arbeitskräfte vorhanden sind, von ausländischen Zufuhren völlig emanzipieren. Was wir bisher, dank der internationalen Arbeitsteilung, vom Auslande erhielten, weil es dort aus irgendwelchen Gründen vorteilhafter hergestellt werden konnte, können wir ohne Schwierigkeit selbst erzeugen. Alles in allem dürfte die Frage der Produktion kaum allzu große Schwierigkeiten bereiten. Die Güterversorgung des Volks braucht nicht allzusehr herabzugehen; wenn die vorhandenen produktiven Kräfte, Menschen und Maschinen, zu ihrer vollen Leistungsfähigkeit ausgenutzt werden, und die Maschinerie vielleicht noch verstärkt werden kann, kann die technisch hochentwickelte und
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darum besonders anpassungsfähige Nation neben dem Kriegsbedarf doch ungefähr die alte Menge von Gütern und Diensten des letzten Verzehrs herstellen; einige Einschränkung und einige Unbequemlichkeiten infolge erzwungener Bedarfsverschiebung werden ja unvermeidlich sein. Die Voraussetzung einer so glücklichen Entwicklung ist aber, daß für diese gesteigerte Produktion auch Absatz, Kaufkraft vorhanden ist. Damit gelangen wir zu dem Problem der Distribution. Wir können die erzeugten Wertdinge nicht unmittelbar, von Behörden wegen, an die Bedürftigen verteilen, wenigstens nicht über den engen Rahmen der öffentlichen Fürsorge hinaus. Sondern wir müssen das Problem der Verteilung mittelbar, auf dem Wege der Arbeitsbeschaffung, d. h. der Beschaffung von entlohnter Arbeit, lösen. Das ist die Hauptaufgabe. Die Besitzlosen haben weiter kein Angebot, das als wirksame Nachfrage nach Gütern auf den Markt gelangen kann, als das ihrer „Dienste". Es muß dafür gesorgt werden, daß diese Ware flotten, augenblicklichen und regelmäßigen Absatz findet: denn sie verschwindet mit jedem Tage unwiederbringlich, und jeder verlorene Arbeitstag des A bedeutet entgehenden Absatz und verlorene Arbeitszeit für B-2. Neben dieser Hauptaufgabe besteht die geringere Aufgabe, die Kaufkraft der Besitzenden liquid zu machen, d. h., ihnen dazu zu helfen, daß sie ihre Vermögensstücke ohne viel Beschwerde und Verluste „zu Geld machen können". Das ist - nach einem schon 1870 erprobten Verfahren - sehr glücklich durch die Darlehnskassen und ähnliche Einrichtungen geleistet worden, die Effekten und Waren aller Art beliehen und den Darlehnsbetrag in ihren Noten ausbezahlt haben. Die Sparkassen haben durch Erleichterung ihrer Auszahlungsbedingungen - vielfach gleichfalls aufgrund von Verpfändungen bei Darlehnskassen - in gleichem Sinne gewirkt, und auch die privaten Banken haben das Mögliche getan, wenigstens nach Uberwindung des ersten Schrecks, um die Liquidität und Kaufkraft ihrer Kunden und Klienten zu fördern. Unterstützt, ja wohl hier und da gedrängt von der Reichsbank, die ihrerseits sie selbst wieder gestützt hat, haben sie nicht nur als Schuldner mehr als ihre strikte Verpflichtung erfüllt - während ζ. B. die französischen Banken die Guthaben ihrer Kontokorrentgläubiger nur zögernd und nur zum Teil ausgezahlt haben - sondern haben auch als Gläubiger die einmal gewährten Kredite nach Kräften durchgehalten. Dadurch konnten die Produktion und der Kreditgeldverkehr weithin aufrechterhalten werden, und die Arbeitslosigkeit der Massen erreichte keinen bedrohlichen Grad. Damit sind wir bereits auf die eine Methode gekommen, durch die den Arbeitern Gelegenheit zum Lohnverdienst zugeführt wurde, die Kredithilfe für die Unternehmer mit ihrem „produktiven Konsum"; daneben verschwindet die durch die Darlehnskassen usw. vermittelte Kredithilfe für den eigentlichen Konsum der letzten Konsumenten. Denn bisher hat die deutsche Bevölkerung augenscheinlich nur in Ausnahmefällen von ihrem Vermögen zehren müssen. Die zweite Methode haben wir im ersten Abschnitt ausführlich behandelt, die Arbeitsbeschaffung durch den Staat, nicht nur für militärische, sondern auch für Friedenszwecke. Darüber ist nichts mehr zu sagen, sondern nur der Wunsch auszusprechen, daß der Staat sich dieser Methode so entschlossen wie möglich mit der Absicht bediene, womöglich für alle Arbeitslosen lohnende Arbeitsgelegenheit zu erschließen. Die Möglichkeit dazu ist gegeben. Wo diese beiden Mittel versagen, hat die unmittelbare unentgoltene Versorgung, die Caritas, einzusetzen. Reich und Kommune haben in bezug auf die Familien der Kriegsteilnehmer die öffentliche Verpflichtung dazu anerkannt und zahlen ihnen Unterstützungen, mit denen sie ihre notwendigen Bedürfnisbefriedigungsmittel erwerben können. Diese Verpflichtung sollte auch den übrigen Arbeitslosen gegenüber anerkannt werden; die Solidarität aller hat in einer solchen Katastrophe für jeden einzustehen, der ihr Opfer wurde, einer Katastrophe, die nicht weniger elementar ist als ein Erdbeben oder eine Feuersbrunst. Meiner Empfindung nach hätte in solchem Falle der Staat der privaten Caritas nicht mehr zu überlassen als die Füllung der in Staatsaktionen unvermeidlichen Lücken; da wir nicht so weit sind, sollte er wenigstens ohne Knauserei überall da einspringen, wo
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die unabhängige Organisation, ζ. B. der Gewerkschaften und der privaten Liebestätigkeit, versagt. Aber ungleich wichtiger als Almosen ist Arbeitsgelegenheit, nicht nur, weil Almosen erniedrigt und Arbeit adelt, sondern auch weil der Almosenempfänger zu dem Gütervorrat der Nation, dem er täglich entnimmt, nichts beisteuert. Als eine Maßnahme zur Regelung der Verteilung waren auch die schon in einem anderen Zusammenhang gewürdigten Höchstpreise gedacht. Sie waren namentlich dazu bestimmt, den gegebenen „Nominallohn" der Arbeiter zu einem möglichst hohen „Reallohn" auszurecken, d. h., dem Arbeiter die Möglichkeit zu geben, mit seinem Lohngeld möglichst viel von jenen unentbehrlichen Waren zu kaufen. Diese ihre Zweckbestimmung haben die Höchstpreise bisher ja auch erfüllt - aber leider auf Kosten des Reallohnes der künftigen Monate bis zur Ernte, der empfindlich hätte sinken müssen - vielleicht trotz dem Getreidemonopol empfindlich sinken wird - wenn der Preis stark gestiegen wäre, oder heraufgesetzt werden muß, um Vorrat und Bedarf einander anzupassen. Das wird nun getragen werden müssen und kann wahrscheinlich dadurch stark gemildert werden, daß die „KriegsGetreide-Gesellschaft" und die Kommunalverbände ihren „Gewinn", die Spannung zwischen dem Einkaufspreise zum behördlichen Höchstpreise und dem höheren Verkaufspreise, unter die bedürftige Bevölkerung verteilen: jedenfalls aber sollte die Regierung nicht nur dem Reallohn, sondern dem Nominallohn ihre volle Aufmerksamkeit schenken; sie könnte überall dort, wo sie unmittelbar oder mittelbar als Arbeitgeber oder - bei Amtern - als Aufsichtsbehörde Einfluß auf die Arbeitsbedingungen hat, und das ist ja heute in noch nicht dagewesenem Maße der Fall, dafür Sorge tragen, daß im Interesse nicht nur der Arbeiter, sondern ebenso der Gesamtheit, das von der Kaufkraft der Arbeiter abhängig ist, die „anständigen Löhne" der Gewerkschaftsbedingungen gezahlt werden. Wir gönnen den Kriegslieferanten schließlich selbst hohe Gewinne: aber dann sollen sie von der Marktlage, die sie begünstigt, nicht auch noch nach unten hin, gegen die Arbeiter, mißbräuchlichen Vorteil ziehen dürfen. Das kann und soll der Staat verhindern, soweit sein Einfluß reicht. Und auch die öffentliche Meinung täte gut, einmal diese Seite der Dinge, die niederen Preise der Lohnarbeit, mit ebensoviel Aufmerksamkeit zu betrachten, wie die hohen Preise der Nahrungsmittel. Wenn alle diese Wege mit der nötigen Energie beschritten werden, wenn also die Verwaltung eines so großen Gebietes wie Deutschland nicht fatalerweise zu schwerfällig sein muß, um trotz der Reibungen der Ressorts aneinander die Umlagerung und Anpassung schnell genug zu vollziehen und wenigstens dort nicht zu hindern, wo die Selbststeuerung des Marktes wirken will, - dann ist es durchaus möglich, daß die deutsche Volkswirtschaft auch unter einer langen Kriegszeit durchaus genügend funktioniert, d. h., daß eine eigentliche Kriegsnot weder aus Gründen der Produktion auftritt, weil ein Mangel an Unterhalts- oder Produktionsmitteln sich einstellt, noch aus Gründen der Distribution, weil mehr Volksgenossen, als die öffentliche und private Hilfstätigkeit versorgen kann, ohne Existenzmittel sind. All das natürlich immer unter der Voraussetzung, daß uns auch in Zukunft schwere strategische Rückschläge erspart bleiben. Wenn aber auch die Ko/fawirtschaft gut genug gesichert scheint, so gilt nicht das gleiche für die Staafswirtschaft. Hier bestehen sehr ernste Bedenken. Bisher hat das Reich die Kriegsausgaben vorwiegend auf dem Wege der Anleihe aufgebracht. Fährt es auf diesem Wege fort, und kommt es vielleicht doch nicht zum vollen Ersatz der aufgewendeten Kosten durch die Kriegsentschädigungen, dann bleibt eine furchtbare Verschuldung zurück. Da der Krieg täglich etwa 30-40 Millionen Mark unmittelbare Kosten verursachen soll, ist der Jahresbedarf mit wenigstens zehn Milliarden zu veranschlagen. W i r würden daher unter Einrechnung der jetzt schon bestehenden Reichsschulden nach nur zweijähriger Kriegsdauer mit einer Reichsschuld von 25-30 Milliarden Mark und einem Zinsendienst von, je nach dem Zinsfuß, jährlich einer bis anderthalb Milliarden zu rechnen haben.
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Dazu käme dann noch ein Invalidenfonds, der unter der Voraussetzung zweijähriger Kriegsdauer auf kaum weniger, eher mehr, als zwanzig Milliarden geschätzt werden muß. Schon das wäre enorm, wenn auch nicht gerade unmöglich. Aber bei noch längerer Dauer des Krieges kämen wir in der Tat zu unmöglichen Verhältnissen, unter denen die Kulturaufgaben der endlich eintretenden Friedenszeit sehr schwer leiden müßten. Nun konnte das Reich bis jetzt kaum anders vorgehen. Während der Panik der ersten Wochen und der Unsicherheit der ersten Monate war fast alles Einkommen so sehr geschrumpft und das meiste Vermögen so tief entwertet, daß eine neue Steuerbelastung unter Umständen das eine Reiskorn hätte sein könne, das das überlastete Kamel der Volkswirtschaft niedergeworfen hätte. Jetzt aber, nachdem die Anpassung an den neuen Zustand sich doch einigermaßen durchgesetzt hat, sollte das Reich mit Entschlossenheit daran gehen, anstatt der Zukunft soweit wie möglich die Gegenwart für die Bedürfnisse der Gegenwart zu belasten, und d. h.: die Kriegskosten soviel wie möglich aus Steuern, statt aus Anleihen zu bestreiten. Daß das möglich ist, kann, glaube ich, nicht wohl bestritten werden. Man hat den Betrag der jährlichen Ersparnis des deutschen Volkes schon vor Jahren auf fünf bis sechs Milliarden Mark jährlich geschätzt. Diese Ersparnis kann, das kann man in so schwerer Zeit fordern, durch eine allgemeine Einschränkung der Lebenshaltung noch bedeutend gesteigert werden; und wenn alle produktiven Kräfte voll entfesselt werden, kann auch das Gesamtprodukt noch gesteigert werden, so daß auch von dieser Seite her die Ersparnis wächst. Und einen sehr großen Teil dieser Ersparnis kann das Reich in seiner N o t für sich anfordern, ohne daß ein Bürger sich beschweren dürfte: wo jeder sein Blut bedingungslos einzusetzen hat, hat er auch sein Gut herzugeben, und nun gar eine Bereicherung in solcher Zeit darf niemand fordern. Darum sollte das Reich rücksichtslos mit einer stark progressiven Einkommenssteuer vorangehen, um die Lebenshaltung vor allem derjenigen Kreise einzuschränken, die solche Einschränkung
am besten vertragen können, und sollte noch viel rücksichtsloser eine sehr starke progressive Wertzuwachssteuer
eintreiben.
Wessen Geschäft heute blüht, der dankt es unmittelbar als Kriegslieferant
oder mittelbar als Produzent des Privatbedarfs der durch Kriegslieferungen Beschäftigten dem Reiche; und jeder von uns dankt es dem Heere des Reiches, daß er nicht alles oder das meiste verloren hat. Stünden die feindlichen Heere heute auf deutschem Boden, so wäre die „richesse fictive" des deutschen Kapitalvermögens heute um schätzungsweise 100 bis 150 Milliarden Mark weniger wert, und es bestände keine Sicherheit, daß es jemals wieder den alten Wert erreichen würde. Für solche Leistungen kann das Reich jede Gegenleistung verlangen und darf namentlich in F o r m einer Wertzuwachssteuer einen großen Teil der Gewinne zurücknehmen, die zu machen es seinen Bürgern ermöglicht hat. Auf diese Weise läßt sich erreichen, daß die Verschuldung des Reiches keinen allzu gefährlichen Grad ersteigt. Wir müssen uns ein für alle Male klar machen, daß ein Kriegszustand von jeher eine mehr oder wenigei kommunistische Wirtschaft bedingt hat - wie denn auch fast aller praktische Kommunismus der Geschichte immer nur die Ordnung eines Kriegslagers gewesen ist. Wir haben auch hier eine Anpassung, dieses Mal seelischer Art, zu vollziehen, indem wir den uns in Friedenszeiten beherrschenden Individualismus und Egoismus zum Teil wenigstens aufgeben. Das berauschende Gemeinschaftsgefühl, das wir in uns und um uns erleben und das alle die Traurigkeiten dieses Weltbrandes und Weltgemetzels weit überwiegt, muß uns wieder lehren, daß auch in wirtschaftlichen Dingen das „Einer für alle und alle für einen" zu gelten hat. Derart vorbereitet, brauchen wir die ganze Welt nicht zu fürchten.
Das Bodenmonopol1 [1917/18]2
Schumpeter hat in seinem in der Überschrift bezeichneten Aufsatz u. a. auch mein System gestreift. 3 Es sei mir gestattet, in kurzen Worten einiges zu den hier behandelten Problemen beizusteuern. Ich will vorausschicken, daß ich im Grundsätzlichen durchaus zustimme, aber angebrachtermaßen in einem entscheidenden Punkte zu widersprechen habe. Was zunächst die grundsätzliche Ubereinstimmung anlangt, so halte ich Schumpeters Feststellung für unzweifelhaft richtig, daß der Hinweis auf primitive Gewalt, soziale Ubermacht, historische Rechte und dergleichen nicht vermag, das Problem der ökonomischen Verteilung zu lösen. Dieser Hinweis ist günstigstenfalls als ökonomisch-theoretischer Rohstoff zu bewerten. Als solcher hat er freilich in der Geschichte unserer Wissenschaft Epoche gemacht. Die ersten Systematiker nämlich, die Physiokraten und Adam Smith, hielten alle drei Einkommensarten: Arbeitslohn, Kapitalprofit und Grundrente, für immanente Kategorien einer Gesellschaftswirtschaft, in deren Entstehung, Entwicklung und Ablauf „außerökonomische Gewalt" nicht eingegriffen hatte. Mit anderen Worten: sie studierten an der Konstruktion einer aus „reinökonomischen" Kräften gebildeten, von rein ökonomischen Kräften beherrschten Wirtschaft, jener Konstruktion, die Quesnay als „ordre naturel", Dühring als „Normalität", ich selbst und andere als „reine Ökonomie" bezeichnet haben. Aus ihr bemühten sie sich, die Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtproduktes, seine Spaltung in die drei Anteile des Lohnes, des Profits und der Rente abzuleiten. Diese Ableitung stieß bekanntlich sofort auf starken Widerspruch, der sich immer mehr verstärkte und zuletzt dahin führte, daß wenigstens eine der klassischen Abteilungen, die LohnfondsTheorie des Profits, völlig aufgegeben werden mußte, womit dann die ganze Verteilungslehre ins Wanken geriet, da Profit und Lohn offenbar nur aus einem gemeinsamen Obersatze genügend erklärt werden können. (Von der Grundrente dürfen wir hier absehen.) In den Schwierigkeiten, die sich der Überwindung des Problems entgegentürmten, war es ohne Zweifel ein fruchtbarer Gedanke, als - wohl als erster - Saint-Simon auf die Rolle hinwies, die das aus historischer Gewalt entstandene Großeigentum an den Produktionsmitteln im Verteilungsprozeß spielt. Man sieht ja leicht, daß solches Eigentum im geschichtlichen Verlaufe regelmäßig ein bedeutendes arbeitsfreies Einkommen abgeworfen hat; und es erschien a priori als sehr wahrscheinlich, daß hier der Anfang des Weges gefunden sein konnte, der zur Lösung des ökonomischen Verteilungsproblems führte. Aber der Anfang des Weges ist noch nicht sein Ende, und Wahrscheinlichkeit ist noch keine Gewißheit. Daß der wegweisende Gedanke, der allenfalls bei bescheidenen Ansprüchen für eine
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[Rezension zu Joseph Schumpeters Aufsatz Das Grundprinzip der Verteilungslehre, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 42, Heft 1 (1916/17), S. 1-88; A.d.R.] [Erstmal erschienen in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 44, Heft 2 (1917/18), S. 487-494; A.d.R.] Vgl. Schumpeter, Das Grundprinzip der Verteilungslehre, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 42, Heft 1 (1916/17), S. 24f.
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
historisch-soziologische Betrachtung genügen könnte, für eine ökonomisch-theoretische Betrachtung unzureichend ist, erkennt man sofort, wenn man sich daran erinnert, daß das Problem der Verteilung in zwei Unterprobleme zerfällt: die Frage nach der Ursache und nach der Höhe der Anteile. So lange es sich um die Ursache handelte, konnte man sich allenfalls mit jenem geschichtlichen Hinweis bescheiden: aber für die Lösung der zweiten, ungleich wichtigeren Aufgabe versagte er offenbar durchaus. Was zu leisten war, war die Umformung der historischen Tatsache in einen ökonomischen Ausdruck derart, daß er als „Datum" in eine theoretisch-ökonomische Rechnung eingesetzt werden konnte. Für eine solche Rechnung kommt aber durchaus nichts anderes in Betracht als Funktionen des Preises, und - in der Statik der Gesellschaft - des Wertes. Denn ökonomisch treten die Gesellschaftsglieder einer freien Verkehrswirtschaft, um die allein es sich handelt, sich nur als Käufer und Verkäufer von Gütern, Diensten und Nutzungen gegenüber. Und die beiden Unterprobleme des Hauptproblems der Verteilung lauten daher erstens: Warum haben die Nutzungen von Kapital und Boden überhaupt Preis (und in der Statik Wert)? Und zweitens: Warum haben sie gerade diesen, uns erfahrungsgemäß gegebenen, von uns zu erklärenden Preis (und Wert)? Das war zu leisten, ist aber von den Älteren nie geleistet worden. Man braucht nur - um die Kleineren bei Seite zu lassen - zu beobachten, wie Rodbertus und Marx sich mit den Problemen abquälen. Sie sind beide a priori davon durchdrungen, daß die primitive Gewalt in Form des Großeigentums an den Produktionsmitteln eine entscheidende Rolle im Prozeß der Distribution spielt. Aber es gelingt ihnen nicht, die historische Tatsache in einen zureichenden ökonomischen Ausdruck umzuformen, sie sozusagen so umzustülpen, daß der ökonomische Inhalt äußerlich erkennbar hervortritt. Sie können infolge dessen die Daten der überkommenen theoretischen Rechnung nicht ändern und mühen sich vergeblich an dem aussichtslosen Werke, mit Hilfe namentlich der Ricardoschen Wertlehre, die aus den Daten der Normalität abgeleitet ist, Erscheinungen zu deduzieren, die sie selbst für abnormal halten. Immerhin bleiben sie wenigstens im Umkreise des reinökonomischen Denkens; und so bedeutet Tugan-Baranowskis neueste Theorie, an die Schumpeter anknüpft, methodologisch einen schweren Rückschritt hinter jene Großen, weil er den Rohstoff für Theorie, den Anfang des Weges für sein Ende hält. Ich glaube nun, daß mir jene Umformung des historischen in einen ökonomischen Ausdruck geglückt ist, der, als Datum in die rein theoretische Rechnung eingesetzt, dann die Verteilung in Übereinstimmung mit den Tatsachen ergab. Und zwar, indem ich den Nachweis antrat, daß die aus historischer Gewalt entstandenen Eigentumsrechte sich ökonomisch als Monopole darstellen und als solche auf die Austauschverhältnisse und den Preis (bzw. Wert) der Güter, Dienste und Nutzungen einwirken. Zu meiner großen Genugtuung gibt mir Schumpeter zu, daß ich dabei in methodologisch einwandfreier Weise verfahren bin. Er schreibt: „Daß wir das Machtmoment nicht zu bemühen brauchen, auch wo es recht nahe zu liegen scheint, läßt sich vielleicht am besten am System Oppenheimers demonstrieren. In diesem spielt das ,Gewalteigentum' an Grund und Boden, also ein Geschöpf der Machtverhältnisse, gewiß eine große Rolle. Dennoch erklären die Pachtverhältnisse' bei ihm höchstens dieses Gewalteigentum selbst, nur die ökonomische Theorie aber dessen Konsequenzen. Für diese ist es ganz gleichgültig, ob ,Gewalteigentum' vorliegt und wie es sich erklärt. Worauf es da ankommt, ist einfach die Tatsache des Bodenmonopols. Angenommen diese Tatsache existiere, was allerdings nicht der Fall ist, so gibt die rein ökonomische Theorie des Monopols - und nicht der Machtfaktor - die Erklärung für das ab, was Oppenheimer aus seinem Gewalteigentum folgern könnte: Weshalb wir sagen können, daß er von dem Machtmoment gar keinen anderen Gebrauch macht als jeder andere Theoretiker. Wäre sein System selbst ganz einwandfrei, so würde daraus nichts für die
Das
Bodenmonopol
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Verwendung des Machtmoments innerhalb des ökonomischen Gedankengangs zu gewinnen sein."1 Ich wiederhole: Schumpeter erkennt mein Verfahren als methodologisch einwandfrei an. Er bestreitet nur „meritorisch", daß meine Behauptung richtig sei, wonach ein Bodenmonopol besteht und durch seine Wirkung auf die Austauschverhältnisse den Kapitalnutzungen überhaupt Preis (und Wert), und zwar diesen uns erfahrungsgemäß gegebenen Preis (bzw. Wert) verleiht. Uber diesen Streitfall werden wir uns nunmehr zu unterhalten haben, denn hier beginnt, bei voller Ubereinstimmung im Grundsätzlichen, die sachliche Divergenz. Und ich darf der Hoffnung Ausdruck geben, daß es möglich sein wird, zu einer Einigung zu kommen, da ich mich zum erstenmal in meiner über zwanzigjährigen wissenschaftlichen Laufbahn einem Kritiker meiner Grundgedanken gegenüberfinde, der das theoretische Handwerkszeug mit Meisterschaft handhabt und methodologisch ganz auf gleichem Boden mit mir selbst steht. Ich will an eine Formulierung anknüpfen, die Schumpeter selbst gegeben hat und die ihm als Ausgangspunkt für weitere Schlüsse, namentlich für seine dynamische Kapitalzinstheorie gedient hat. Ich erkenne sie als richtig an, wenngleich ich den Ausdruck „Bodenleistungen" als zu gefährlich nicht wählen würde. Diese Formulierung besagt, daß es in der Statik einer Gesellschaftswirtschaft von Einkommensarten nur geben kann: erstens den Arbeitslohn als Einkommen dessen, der Arbeit zu Markte bringt, zweitens die Grundrente als Einkommen dessen, der „Bodenleistungen" zu Markte bringt, und drittens und letztens Monopolgewinne als Einkommen (bzw. Zuschlags-Einkommen) dessen, der Monopolgüter oder Monopoldienste zu Markte bringt. Aus dieser fundamentalen Feststellung folgt, daß der Kapitalprofit entweder Monopolgewinn sein muß oder in der Statik nicht vorkommen kann. Schumpeter entscheidet sich für die zweite Möglichkeit und entwickelt demgemäß seine „dynamische" Kapitalzinstheorie, derzufolge der Profit ein nur in der Dynamik entstehendes „Friktionseinkommen" ist. Ich entscheide mich im Gegenteil für die erste Möglichkeit. Hier liegt der strittige Punkt, über den jetzt zu verhandeln sein wird. Logisch liegt die Sache so, daß Schumpeter den Beweis anzutreten hat, daß der Kapitalprofit nicht Monopolgewinn ist. Denn da er selbst - vollkommen richtig - unaufhörlich feststellt, daß Monopole auch in der Statik Gewinne abwerfen, so muß er beweisen, daß der Profit kein solcher Monopolgewinn ist. Er kann seine eigene Theorie nicht verteidigen, solange ihm dieser Nachweis nicht geglückt ist. Der Nachweis scheint leicht zu erbringen, wenn man nur die nächstliegende Möglichkeit ins Auge faßt, daß der Profit der Gewinn eines Kapitalmonopols sein könnte. Kapital im gewöhnlichen Sinne sind „produzierte Produktions-" oder „Erwerbsmittel". Da diese zu den „beliebig reproduzierbaren Gütern" gehören, kann an ihnen ein Monopol nur bestehen, wenn die sämtlichen Kapitalbesitzer, mindestens die weit überwiegende Mehrzahl, sich zu einer gemeinsamen Preispolitik verabreden. Und so hat Schumpeter das Erforderliche getan, wenn er sagt: „Ein Monopolgewinn könnte er (der Kapitalprofit) wohl sein, wenn auch nur ein Monopolgewinn der Kapitalisten und nicht der Unternehmer, aber wer das behauptet, hätte den Beweis dafür anzutreten, daß ein Kapitalistenkartell besteht und immer bestanden hat."2 Ich will zu diesem Punkte nichts weiter bemerken, obgleich es klar ist, daß dieser Gegenbeweis nur eben dann schlüssig ist - natürlich gibt es kein Kapitalistenkartell - , wenn man von der landläu-
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Schumpeter, Das Grundprinzip der Verteilungslehre, [ohne Seitenangabe; A.d.R.].
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Ebenda, S. 51.
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Enter Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
figen Definition des „Kapitals" ausgeht, die sehr strittig ist. Aber lassen wir das beiseite. Ich habe andere Dinge einzuwenden. Ich behaupte, daß der Kapitalprofit, trotz Schumpeter, ein Monopolgewinn ist, aber nicht des Kapital-, sondern des Bodenmonopols. Schumpeter bestreitet diese Auffassung in seiner Arbeit im „Archiv" ohne weitere Begründung. Es läßt sich aber aus seinen früheren Schriften deutlich erkennen, welchen nach seiner Meinung durchschlagenden Grund er gegen meine Auffassung geltend macht. Bevor ich darauf eingehe, will ich meine Theorie in äußerster Kürze darstellen. Aller Grund und Boden der Erde, soweit er „wirtschaftlich verfügbar" ist, um ein Wort von Karl Menger zu brauchen, befindet sich im Eigentum eines Teiles der Menschen. Der Rest der Menschen braucht Boden sehr dringend, und zwar die Urproduzenten als Produktionsmittel, und alle übrigen als Stand- und Wohnort. Sie haben also ein überaus starkes Bedürfnis, sich das Eigentum an Bodenstücken oder wenigstens die Nutzung daran auf dem Tauschwege zu beschaffen. Auf der anderen Seite haben die Bodeneigentümer offenbar in der Regel nicht entfernt ein so starkes Bedürfnis, ihr Eigentum oder Nutzungsrecht zu veräußern: denn sie sind ja, eben als Besitzer, mit dem Unentbehrlichen ausreichend versorgt. Betrachten wir das Verhältnis in seiner Gesamtheit, so stellt sich also heraus, daß hier „einseitige Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses" besteht. Und wo eine solche besteht, da besteht eben ein Monopol. Dieses Monopol wirkt nun zunächst auf die landlosen Urproduzenten derart, daß sie gezwungen sind, einen Teil ihres Arbeitsertrages an den Bodeneigentümer abzutreten, dessen Land sie gebrauchen. Dieser Monopoltribut wird von landlosen Se/&ständigen in Form der Pacht bezahlt, den landlosen Unselbständigen, den Landarbeitern, aber als Abzug vom Lohn einbehalten. Dieser Monopolgewinn fließt den Eigentümern allen, auch des „Grenzbodens", zu und wird als Profit dem auf den Boden angelegten Kapital „zugerechnet". Als Profit, nicht etwa als Grundrente! Die Grundrente ist der Mehrertrag solcher Böden, die durch höhere Bonität oder bessere Marktlage dem Grenzboden gegenüber begünstigt sind und wird als „Bodenleistungen" dem Boden zugerechnet. Von ihr ist hier nicht zu handeln: ihr Wesen ist bereits von Ricardo erschöpfend aufgeklärt worden. Sondern hier soll nur vom Profit die Rede sein, den ich als einen Monopolgewinn auffasse, der allen, auch den ungünstigsten, den Grenzböden, als Frucht ihrer Monopolstellung zufließt. Das weitere ist dann sehr einfach. Unter der Herrschaft der freien Konkurrenz müssen auf der einen Seite auch die sämtlichen anderen „freien Arbeiter", die eigener Produktionsmittel entbehren, auf den Lohnsatz der Landarbeiter herabgedrückt werden: und auf der anderen Seite müssen infolge des Gesetzes von der Ausgleichung der Profitrate auch alle nicht in der Landwirtschaft investierten Kapitale pro rata den gleichen Gewinn einstreichen. So erklärt sich der Profit der industriellen und kommerziellen Kapitalisten. Diese Deduktion ist das, was man in der alten Logik eine suppositio vera nannte: alle älteren Autoritäten stimmen nämlich grundsätzlich zu: Turgot, Smith, Marx usw. Schumpeter bestreitet die Deduktion, die sich schon in meiner „Theorie der reinen und politischen Ökonomie" findet. Ich bin stark geneigt anzunehmen, daß er sie nicht mehr bestritten haben würde, wenn ihm bereits meine letzte Arbeit vorgelegen hätte: „Wert und Kapitalprofit, Neubegründung der objektiven Wertlehre"1, die erst im Juni d. J. herausgekommen ist. Hier habe ich seinen Einwand einer Antikritik unterzogen, die ich für gänzlich unwiderleglich halte. Was ist denn nun Schumpeters Einwand? Er sagt:
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Oppenheimer, Wert und Kapitalprofit, Neubegründung der objektiven Wertlehre, 1. Auflage, Jena 1916 [vgl. auch die 3. Auflage von 1926, im vorliegenden Band S. 231-286; A.d.R.J
Das
Bodenmonopol
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„Unter Monopolen verstehen wir die völlige Beherrschung entweder der Nachfrage nach einem, oder des Angebotes an einem Gute durch ein Individuum oder eine Kombination von solchen, wenn die letztere eine gemeinsame Preispolitik zur Folge hat und jede Konkurrenz zwischen ihren Mitgliedern ausschließt."' Und er wendet diesen Satz auf den Boden an in folgender Stelle: „Die behauptete Unvermehrbarkeit schließt aber Konkurrenz unter Eigentümern keineswegs aus, und es wurde mit Recht hervorgehoben, daß von einem Monopole nur dort die Rede sein könne, wo ein Wirtschaftssubjekt das Angebot eines Gutes vollständig beherrscht."2 Schumpeter erhebt also gegen die Herleitung des Kapitalprofits aus dem Bodenmonopol den gleichen Einwand, wie gegen seine Herleitung aus dem Kapitalmonopol. Nun zieht dieser Einwand zwar, unter gewissen Vorbehalten, wie wir zugegeben haben, für das Kapitalmonopol, aber nicht im mindesten für das Bodenmonopol. Denn dort handelt es sich um beliebig vermehrbare, hier aber um ein unvermehrbares Gut. Bei beliebig vermehrbaren Gütern ist die Kombination der Produzenten allerdings essentiell: denn hier kann das Monopol gar nicht anders zustande kommen als durch die Kombination. Bei unvermehrbaren Gütern aber besteht das Monopol auch dann, wenn das unvermeidbare, mit einseitiger Dringlichkeit bedurfte Gut sich in den Händen vieler Eigentümer befindet, die keine Kombination bilden. Unsere ganze gegenwärtige Kriegszeit ist ein einziger Beweis für diesen Satz. Fast alle Artikel des großen Bedarfs sind für die von dem Weltverkehr abgesperrten Mittelmächte zu unvermehrbaren Gütern geworden, und wir erleben die Bildung der ungeheuerlichsten Monopolgewinne, z. B. an den Nahrungsgütern, obgleich gar keine Rede davon sein kann, daß die Millionen von Produzenten und Händlern eine „Kombination" bilden. Diese Dinge spielen sich einfach so ab, daß die dringende Nachfrage der Konsumenten den Preis immer höher schraubt; die Verkäufer akzeptieren die Preisgebote der Käufer viel mehr, als daß sie sie erzwingen. Es findet sich denn auch in der gesamten Theoretik kaum ein einziger Schriftsteller von Rang, der nicht ausdrücklich feststellt, daß bei unvermehrbaren Gütern auch ohne Kombination der Verkäufer, d. h. bei voller Konkurrenz unter ihnen, unter günstigen Umständen nicht Konkurrenzpreise, sondern Monopolpreise entstehen. Ich habe in meiner letzten Arbeit3 Lexis und Zukkerkandl als Gewährsmänner zitieren können, kann mich aber auch auf eine Autorität berufen, die mein Kritiker sicherlich gelten lassen wird, nämlich auf Joseph Schumpeter, der die richtige Erkenntnis4 besitzt, daß auch im Falle beschränkter Konkurrenz ein Monopolpreis nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich ist. Somit entfällt das einzige Argument, mit dem Schumpeter bestritten hat und, soweit ich sehen kann, bestreiten kann, daß der Grund und Boden ein Monopolgut ist und als seinen Monopolgewinn den Profit abwirft. Und zwar auch in der Statik! Der Kapitalprofit ist ein statisches Einkommen! Schumpeters eigener Theorie, die recht bedenklich ist5 und von der fachmännischen Kritik, sogar von dem ihrem Verfasser so nahe verwandten v. Böhm-Bawerk, einhellig abgelehnt zu werden scheint, ist damit die logische Basis entzogen.
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Schumpeter, Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, Leipzig 1908, S. 263 Ebenda, S. 371. [Oppenheimer, Wert und Kapitalprofit, 1. Auflage, S. 84ff. (Vgl. auch die 3. Auflage, im vorliegenden Band, S. 231-286); A.d.R.] Schumpeter, Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, S. 269. Oppenheimer, Wert und Kapitalprofit, 1. Auflage, S. 206ff. [Vgl. auch die 3. Auflage, im vorliegenden Band, S. 231-286; A.d.R.]
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Enter Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Dagegen sprechen für meine eigene Auffassung außer ihrer Einfachheit und Klarheit noch verschiedene gewichtige Tatsachen. Ich kann sie hier nur flüchtig anführen und muß bitten, die ausführliche Darstellung in meiner mehrfach angeführten letzten Arbeit nachzulesen. Erstens ist es von meinen Voraussetzungen aus zum ersten Male gelungen, und zwar aus einem gemeinsamen Obersatze, den Lohn und den Profit nicht nur der Ursache, sondern auch der Höhe nach in einfacher Elementarformel abzuleiten. Zweitens ist es zum ersten Mal gelungen, auch den Wert der Substanz selbst, des Kapitals, exakt zu bestimmen. Drittens kann meine Theorie aller der zahlreichen Hilfskonstruktionen entbehren, die frühere Systeme sich schaffen mußten. Sie braucht nicht ζ. B. die folgenden Begriffe: fixes und zirkulierendes, konstantes und variables, reales und fiktives Kapital; Komplementärgüter, Produktivgüter erster und höherer Ordnung, „Güterstrom und Güterfonds", Güter von spezifischer Seltenheit und Häufigkeit usw. Sie kommt mit den einfachsten Grundbegriffen aus, wie sie sich schon in den ersten Anfängen der Systematik finden und finden müssen, da sie aus der Erfahrung übernommen worden sind - und: simplex sigillum veri! Daß der überaus einfache und klare Zusammenhang, den ich aufgedeckt zu haben hoffe, so lange verborgen gebliebcn ist, trotzdem bereits die Klassiker ihn nicht nur ahnten, sondern gelegentlich klar erkannten und aussprachen, dafür sind m. E. die folgenden Ursachen verantwortlich zu machen. Erstens ist es in der Tat außerordentlich verführerisch, die Trias der Einkommensarten mit der Trias der sogenannten „Produktionsfaktoren" oder „Produktionsagenten" in die bekannte Beziehung zu setzen, wonach der Lohn der Arbeit, der Profit dem Kapital, und die Grundrente dem Boden zufällt. Daß der Profit dem Bodenmonopol seine Entstehung verdankt, dem Kapital aber nur „zugerechnet" wird, ist eine Erkenntnis, die nicht ohne weiteres zutage trat. Zweitens ist der Begriff des Monopols in der bisherigen Literatur besonders stiefmütterlich behandelt worden. Man braucht, um das zu erkennen, nur den Umfang der ausführlichsten älteren Abhandlung über dieses Thema, die Lexis im Handwörterbuch der Staatswissenschaften veröffentlicht hat, mit dem Umfang zu vergleichen, den die Darstellung in meiner „Theorie" und vor allem in meinem „Wert und Kapitalprofit" angenommen hat. Wenn ein so ausgezeichneter Kenner der Theorie wie Schumpeter dem elementaren Irrtum verfallen konnte, den wir soeben aufgedeckt haben, so liegt das nur an dieser Vernachlässigung des wichtigen Gegenstandes in der Theoretik. Drittens mußte zuerst das entscheidende Problem gelöst werden, wie sich die „Zurechnung" bei Monopolen überhaupt vollzieht. Das ist mir völlig erst in meiner letzten Arbeit geglückt. Erst die Erkenntnis, daß der Monopolgewinn in durchaus keinem festen Verhältnis zum Werte des „sachlichen Substrates" steht, das dem gesellschaftlichen Monopolverhältnis als „Hebelpunkt" dient, sondern daß er nur von der relativen Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses abhängt: diese Erkenntnis erst löst auch den Spezialfall desjenigen Monopols, das im Bodeneigentum wurzelt, dessen „sachliches Substrat" aber das produzierte Produktionsmittel, das „Kapital" ist. Auf Näheres will und kann ich mich hier nicht einlassen. Ich erwarte Schumpeters Erwiderung. Es wird mir immer eine Freude und Ehre sein, mit ihm den Degen zu kreuzen.
Freier Handel und Genossenschaftswesen [1918]1
I.
Freie oder gebundene Wirtschaft?
Der Kampf gegen die freie Konkurrenz ist über zweitausend Jahre alt. Er dankt seine Entstehung der schweren sozialen Zersetzung, die die griechischen Stadtstaaten vom fünften vorchristlichen Jahrhundert an verheerte. Wir wissen heute mit voller Sicherheit, daß jene Zersetzung lediglich darauf beruhte, daß die gesamte Volkswirtschaft damals auf unfreier Arbeit, auf der Sklaverei, aufgebaut war. Nichtsdestoweniger ließen sich die Zeitgenossen (damals so gut wie heute) dazu verleiten, die äußere Form der Geschichte für ihren wesentlichen Inhalt zu halten, d. h. alle Übel der Geldwirtschaft und der freien Konkurrenz zuzuschreiben; und selbst ein Mann von dem gewaltigen Geiste eines Piaton predigte in seiner Politela die gebundene Wirtschaft in ihrer schroffsten Form als Staatskommunismus. Seine Anschauungen sind dann über seinen größten Schüler Aristoteles in die katholisch-kanonische Staats- und Wirtschaftsphilosophie des Mittelalters eingegangen und haben die praktische Politik der Stadt- und Territorialwirtschaft des Mittelalters und der ersten Jahrhunderte der Neuzeit sehr stark beeinflußt, nach der Richtung zwar nicht des voll entwickelten Staatskommunismus, wohl aber der sogenannten „gebundenen Geldwirtschaft", wie sie der Merkantilismus noch bis tief in die Neuzeit hinein theoretisch lehrte, und wie sie der „Colbertismus", so genannt nach seinem größten und erfolgreichsten Vertreter, dem Minister Ludwigs XIV., Colbert, praktisch handhabte. Dieses System zielte darauf hin, jeden Bürger bei seiner „Nahrung" zu erhalten, ihn vor Eingriffen anderer zu schützen und von Ubergriffen gegen andere zurückzuhalten. Es war ein voll durchgeführtes System staatlich vorgeschriebener Preise für Waren, deren Qualität selbstverständlich zum Zwecke solcher Preisfestsetzung scharf überwacht werden mußte, und staatlich vorgeschriebener Löhne und Taxen für alle möglichen Leistungen. Dazu kommen Bestrebungen, durch Schutzzölle und Ausfuhrprämien das heimische Gewerbe gegen ausländischen Wettbewerb zu schützen und zu fördern, und das Ganze gipfelt in einem lückenlosen Aufbau von unzähligen, behördlich verliehenen Monopolen: im zünftlerischen System, das alle Konkurrenz ausschloß oder wenigstens auf das äußerste einengte. Selbstverständlich konnte die Volkswirtschaft, in solche spanische Stiefel eingeschnürt, nicht marschieren. Das Gedächtnis der Völker ist leider sehr kurz, sonst wäre es nicht möglich, daß z. B. das deutsche Volk nach wenig mehr als einem Jahrhundert seit Einführung der Gewerbefreiheit, und noch nicht einem Jahrhundert seit Einführung des Zollverbandes, so vollkommen vergessen hat, wie bitterlich arm es damals war und wie, im Verhältnis dazu, unendlich reich es seither geworden ist, und zwar nicht nur durchschnittlich, sondern auch in seinen tiefsten Schichten. Es soll
1
[Erstmals erschienen in: Der Großhandel und die deutsche Volkswirtschaft, hrsg. vom Zentralverband des Deutschen Großhandels, Heft 4 (1918). Originalquelle des vorliegenden Textes: Oppenheimer, Wege zur Gemeinschaft. Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. 1, München 1924, S. 330-352; A.d.R.]
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Enter Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
durchaus nicht bestritten werden, daß die oberen Klassen den Löwenanteil des durch die Wirtschaft des sogenannten freien Wettbewerbs neugeschaffenen Reichtums gewonnen haben. Aber dabei soll man doch nicht verkennen, erstens, daß diese oberen Klassen heute unendlich viel stärker besetzt sind als vor einem Jahrhundert, und zwar durch den Eintritt tüchtiger oder glücklicher Elemente aus der früheren Unterklasse; und soll zweitens vor allem nicht vergessen, daß auch der Landarbeiter und der städtische Arbeiter heute viel weniger hart und lange zu arbeiten haben und doch einen sehr wesentlich höheren „Reallohn" beziehen, d. h.: für ihren Geldlohn viel mehr Güter erwerben können als in jener heute wieder so hoch gepriesenen Zeit der zünftlerischen, gebundenen Wirtschaft. Gewiß ist ein Teil des Handwerks und des Kleinhandels heute kaum besser, ein kleiner Teil sogar wirklich schlechter daran als damals; es gibt eine Reihe von Zweigen, die gegen die Konkurrenz der Maschine nicht haben bestehen können, wie ζ. B. die Weber, die Schuhmacher, die Seiler, die Seifensieder usw. Aber - uns interessiert nicht so sehr das „Handwerk" wie die „Handwerker", und es unterliegt keinem Zweifel, daß ein großer Teil derjenigen Handwerker, die bei Einführung der Gewerbefreiheit vorhanden waren, oder daß doch ihre Nachkommen in die Oberklasse aufgestiegen sind. Vor allem aber: was besagt ein Verlust im einzelnen gegenüber dem ungeheuren Gewinn im ganzen, was ein vereinzelter Rückgang gegen den enormen Fortschritt? Jede technische Verbesserung bringt für einzelne Schaden; das ist der Schatten, der nirgends fehlt, wo starkes Licht leuchtet. Und verwirft man vielleicht die Eisenbahnen, weil einzelne Posthalter zugrunde gegangen sind? Wenn man uns heute wieder die gebundene Wirtschaft, die Zünftlerei, als die Panazee aller ökonomischen Leiden anempfiehlt, so sollen wir an die Armut, die für uns heute unvorstellbare Armut, jenes angeblich „goldenen Zeitalters" erinnern. Und wenn dieses Argument allein nicht ausreichen sollte, sollen wir sagen, daß ein System, das auf dem kleinen Räume einer fast noch rein agrarischen Stadt- oder Territorialwirtschaft zwar schlecht funktionierte, aber doch schließlich noch möglich war, heute auf dem weiten Räume einer überwiegend industriellen, in die Weltwirtschaft unlösbar verflochtenen Vo/fowirtschaft ganz und gar unmöglich geworden ist. Und sollen als Beweis auf die unerhörten Verhältnisse verweisen, in die uns die gebundene Wirtschaft dieser Kriegsjahre gestürzt hat: Zersplitterung des Reiches in unzählige Wirtschaftskreise, die sich ängstlich voneinander absperren, mangelhafte Verteilung der vorhandenen Waren, chronische Hungersnot in den großen Zentren, Hamsterei, Schleichhandel und Demoralisation der bisher gesetzestreuesten Bevölkerung der Erde, Verschwendung, Bürokratismus und Verbitterung ohne Ende. So sehen die Segnungen aus, mit denen uns die Platoniker und Kanoniker von heute, die Jaffé, Möllendorff, Rathenau und ihre Gesinnungsgenossen voll des besten Glaubens zu beglücken denken. Wenn sie ihre Absichten durchzusetzen imstande sind, dann freilich wird das Deutsche Reich, in seinen ungeheuren Kräften durch neue Zünftlerei gefesselt, unter der Last der Kriegsschulden und -steuern zusammenbrechen müssen.
II. Der Sozialismus Mit diesen konservativ-platonischen Staatssozialisten verbündet sich heute der demokratische Sozialismus der Arbeiterschaft zu waffenbrüderlicher Vereinigung im Kampfe gegen die „freie" Konkurrenz. Ihm gebührt ein besonderes Kapitel. Die städtische Unterklasse hat von jeher, im Banne der gleichen Täuschung, die die Symptome für die Krankheit, die äußere Erscheinung für das Wesen der Dinge nahm, gleich den Piatonikern der Oberklasse die freie Konkurrenz für die Wurzel aller Übel gehalten und die „marktlose Wirtschaft", den „Zukunftsstaat", als ihr Ideal aufgestellt. Markt und Geld sind abgeschafft, jedermann
Freier Handel und
Genossenschaftswesen
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ist Angestellter der Gemeinschaft und erhält seine Arbeit und seinen Lebensbedarf („in natura") zugewiesen. Solange das als Ideal oder politische Forderung auftrat, war es nach der größten Autorität des proletarischen Sozialismus, nach Karl Marx selbst, pure „Utopie". Es war ihm zufolge - und das kann den jetzigen Sozialisten gar nicht oft und stark genug gesagt werden - ein müßiges Spiel der Phantasie, „die künftige Ordnung der Dinge aus dem Kopf zu erfinden"; das kann zu keinem wissenschaftlich gesicherten und praktisch brauchbaren Ergebnis führen. Vielmehr ist die Aufgabe klar gestellt: man hat diese künftige Ordnung „mittels des Kopfes in den Tendenzen der kapitalistischen Gesellschaft selbst zu entdecken". Nur wenn er das leistet, macht der Sozialismus den unerläßlichen Fortschritt „von der Utopie zur Wissenschaft". Diese richtig gestellte Aufgabe hat Karl Marx mit titanischer Kraft zu lösen versucht. Aber er hat die Tendenz der kapitalistischen Entwicklung mindestens in zwei Hauptbeziehungen falsch gedeutet, erstens in bezug auf ihre Geschwindigkeit und zweitens in bezug auf die Landwirtschaft. Er hat drittens die Tendenz der Industrie mindestens insofern falsch gedeutet, als er eine durchaus einheitliche Entwicklung annahm, von der gar keine Rede sein kann; und er hat infolgedessen sicherlich die Gesamttendenz falsch gedeutet. Die Prämissen seiner großartigen Ableitung waren also falsch. Und damit entfällt der aus ihnen gezogene Schluß! Es mag immer noch wahr bleiben, daß die soziale Frage nur durch die Entstehung einer marktlosen Volkswirtschaft gelöst werden kann. Wer uns aber davon überzeugen will, dem liegt die Verpflichtung ob, nach dem allgemeinen Grundsatz, den Marx aufgestellt hat, zu beweisen, daß diese Form das Endergebnis unserer wirtschaftlichen Entwicklung sein muß. Bis dieser Beweis geführt ist, ist kein wissenschaftlicher Kopf gehalten, an die Prophezeiung zu glauben; und bis dieser Beweis geführt ist, hat kein wissenschaftlicher Kopf das Recht, sie als erwiesen zu behaupten. Wenn er es dennoch tut, „erfindet er die künftige Ordnung aus dem Kopfe", ist also nach Marx' Autorität nichts besseres als ein Utopist. Genau das aber tut heute die große Mehrzahl aller Sozialisten, nämlich alle diejenigen, die nicht mehr an die Marxschen Prämissen glauben. Wenn der große Kopf Marx „den Schritt von der Utopie zur Wissenschaft" gemacht hat, so sind sie sämtlich, ohne es zu merken, „von der Wissenschaft zur Utopie" zurückgekehrt. Daß diese Politiker dennoch immer noch sich so benehmen, als stünde die gesamte Logik und Wissenschaft in voller Rüstung hinter ihnen, wird niemanden wundernehmen, der die Menschen kennt. Wir dürfen aber trotz alledem behaupten, daß es nicht weniger wissenschaftlich ist, anzunehmen, daß, auch in alle Zukunft hinein, jede Volkswirtschaft der Erde um einen Markt gruppiert sein wird, auf dem die Konkurrenz die Preise und Löhne reguliert. Ja, wir dürfen sogar behaupten, daß diese Annahme wissenschaftlicher ist als die zum Utopismus zurückgekehrte sozialistische Doktrin. Denn die Wirtschaft des Marktes und der freien Konkurrenz kennen wir seit Jahrtausenden und wissen, daß sie doch wenigstens einigermaßen, und zwar beträchtlich besser funktioniert hat als die gebundene Wirtschaft. Und wir glauben sogar zu wissen, welche Reformen nötig sind, um sie noch viel besser, um sie in vollkommener Weise funktionieren zu lassen. Die marktlose Wirtschaft aber kennen wir nicht1: jeder Versuch im kleinen Kreise, der übrigens nichts beweisen
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Der Theoretiker der „Münchner Post" hat mich kürzlich, als ich diese Gedanken andeutete, als „SchulzeDelitzsch' seligen Erben" bezeichnet. Der Scherz trifft mich um so verwundender, als ich grundsätzlich von niemandem schärfer angegriffen worden bin als von dem wirklichen und legitimen Erben des Patrimonialrichters und Genossenschaftsanwalts, von seinem zweiten Nachfolger, Professor Crüger. Die Herren könnten wirklich endlich wissen, daß man Gegner der sozialistischen Utopie sein kann, ohne „Manchestermann" zu sein. Aber ich bin in der Tat neugierig, was mein Kritiker zu erwidern finden würde, wenn ich den Scherz zurückgäbe und ihn und seine Gesinnungsgenossen als „Owen und Cabets selige Erben" bezeichnete. Denn
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Wirtschaftspolitik
würde, ist gescheitert, und jede entfernte Annäherung daran - man denke an diese Kriegswirtschaft - hat nur Verschwendung, Verwirrung und Unheil gebracht.
III. Die volkswirtschaftliche Funktion des Kaufmanns und des Handels Wenn uns demzufolge der heutige Zustand der national-ökonomischen Wissenschaft nicht nur erlaubt, sondern fast gebietet, uns die Zukunft unter dem Bilde einer grundsätzlich unveränderten, wenn auch hoffentlich in mancher Beziehung stark verbesserten freien Verkehrswirtschaft vorzustellen, so bedarf diese Wissenschaft freilich eines Ausbaues, um der Stellung des Kaufmanns im Getriebe gerecht zu werden. Er hat merkwürdigerweise in dem System der klassischen Nationalökonomie und ihrer gesamten Nachfolgerschaft keine Stelle gefunden. Man hat ihn kaum in den Kreis der Betrachtung einbezogen; wo es geschah, erschien er günstigstenfalls als ein notwendiges Übel: als ein für den Augenblick noch unentbehrliches Zwischenglied zwischen dem Erzeuger und dem Verbraucher, der davon leben müsse, daß er dem Erzeuger weniger zahle und dem Verbraucher mehr abnehme, als es bei unmittelbarem Verkehr zwischen den beiden geschehen würde. U n d von diesem Standpunkt aus gab es nur einen logischen Schluß, nämlich den, daß dieser „parasitäre Zwischenhandel" so bald wie möglich zu verschwinden habe. Es hat sogar einen berühmten und einflußreichen Theoretiker gegeben, den Amerikaner Carey, der alle sozialen Übel auf den Händler als den einzigen Urheber zurückführte und von seiner Beseitigung durch den unmittelbaren Verkehr zwischen Erzeuger und Verbraucher das goldene Zeitalter prophezeite; und die Genossenschaftssozialisten haben in der Tat versucht, diesen Weg der Praxis zu beschreiten. Diese feindselige Stellung gegen den Handel wächst psychologisch aus jenen platonischkanonischen Wurzeln, die wir oben dargestellt haben. Wie zwischen dem Weibe und der Schlange, so besteht auch zwischen dem Krieger und dem Kaufmann seit Anbeginn Feindschaft. Hier klafft ein entscheidender soziologischer Gegensatz, von dem an dieser Stelle nicht mehr gesagt werden kann, als daß alle feudale Herrschaft vor nichts anderem zurückweicht und erliegt als vor dem freien Verkehr: Stadtrecht bricht Feudalrecht! Kaufmannsrecht bricht Ritterrecht! Ihre logische Wurzel aber hat diese Feindschaft gegen den Handel in zwei mangelhaften Begriffsbestimmungen der älteren Wissenschaft, die bis heute nicht verbessert worden sind. Die eine betrifft die Worte: „produzieren" und „produktiv". Man hat sie von jeher als Synonyma des Wortes „erzeugen" und seiner Ableitungen verwendet. Da nun der Kaufmann Güter nicht erzeugt, sondern nur von einem Raum- und Zeitpunkte, wo sie weniger dringend gebraucht und deshalb geringer bezahlt werden, an einen Raum- und Zeitpunkt bringt, wo sie dringender gebraucht und deshalb höher bezahlt werden, hat man ihn für „unproduktiv" erklärt. Diese Begriffsbestimmung ist schlechthin falsch. Niemand, auch der Gewerbetreibende nicht, „erzeugt" etwas. N u r die Natur erzeugt! Der Mensch bringt immer nur naturgegebene Erzeugnisse an einen andern Ort oder in eine andere Gestalt oder Verbindung oder bewahrt sie für einen späteren Zeitpunkt auf. Niemand hat bisher z. B. den Bergwerksbetrieb für „unproduktiv" gehalten: und doch bringt der Bergmann Erz, Salz oder Kohle auch nur von einem Ort zum andern; dasselbe tut der Transporteur und ist doch niemals für unproduktiv gehalten worden. Warum soll denn der Kaufmann, der das gleiche tut, unproduktiv sein?! Nicht einmal das unterscheidet ihn vom Berg-
mit dem großen Ökonomisten Marx haben diese blanken Utopisten nichts mehr gemein als den Jargon: „Wie er sich räuspert und wie er spuckt, das habt ihr ihm glücklich abgeguckt. Doch sein Genie ...!"
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mann oder Transporteur, daß er vom Empfänger mehr nimmt, als ihn die Arbeit kostet: denn das gleiche tun jene auch; der Bergherr läßt sich für seine Kohle selbstverständlich mehr bezahlen, als ihn Schachtanlage, Löhne, Gezähe, Lampen und Ol kosten, und der Frachtfuhrmann oder die Eisenbahnverwaltung auch mehr als Gehälter, Pferdefutter, Lokomotivkohle und Abnutzung der Geräte kosten. Auch der eigentliche Gewerbetreibende erzeugt nichts. Er bringt nur naturgegebene Stoffe in neue Form und Verbindung. Aber das tut der Kaufmann auch. Wenn er Kaffee aus Säcken nimmt, röstet und in Papiertüten füllt und auswiegt, so tut er nichts anderes als der Sägemüller, der Baumstämme in Bretter zerlegt oder der Hüttenmann, der Erze röstet. Und auch die lassen sich mehr bezahlen als ihre Selbstkosten. Der Kaufmann ist also gerade so viel und so wenig „produktiv" wie jeder andere. Produzieren heißt gar nicht „erzeugen", sondern „zu Markte bringen"; und wer immer Dinge zu Markte bringt, die begehrt werden, ist produktiv; wer aber solche Dinge zu Markte bringt, die nicht begehrt werden, der ist unproduktiv, und mag auch noch so viel industrielle Arbeit in den Dingen stecken. Wer Säulen nach Athen bringt oder wer, um mit v. Böhm-Bawerk zu sprechen, Uhren anbietet, die nicht gehen, oder Schiffe, die nicht schwimmen, der ist unproduktiv. Das war die eine falsche Definition. Die andere ist die mangelhafte Begriffsbestimmung des Wortes „wirtschaften". Nach der bisherigen Theorie heißt wirtschaften: Güter mit dem kleinsten Aufwande beschaffen. Und das ist auch richtig; denn wer Güter mit unnötigem Aufwande beschafft, handelt unwirtschaftlich. Aber es reicht nicht aus. Denn unwirtschaftlich handelt auch der, der solche Güter, die er auf wirtschaftliche Weise beschafft hat, ohne Not verliert oder verkommen und verderben läßt. Darum muß die vollständige Begriffsbestimmung folgendermaßen lauten: Wirtschaften heißt, Güter mit dem geringsten Aufwande beschaffen und so verwalten, d. h. vor Verlust und Verderb bewahren, daß der größte Erfolg der Bedürfnissättigung herauskommt. Das ist eine Selbstverständlichkeit, die niemand bestreiten kann und wird. Und dennoch hat die gängige Theorie bis zum Erscheinen meines Lehrbuchs diesen Begriff der „Verwaltung" nicht besessen. Für unsere Erörterung ist er von entscheidender Bedeutung. Denn der Kaufmann ist vor allem Verwalter. Der Ort der Verwaltung ist das Lager und der Speicher, ohne die der Kaufmann undenkbar ist. Die Inventur, die der Kaufmann alljährlich anstellt, ist nichts als die Probe darauf, ob er seine volkswirtschaftliche Hauptfunktion, die Verwaltung der Güter, zum höchsten Befriedigungserfolge der Gesamtheit richtig erfüllt hat oder nicht; und sein Reingewinn ist vor allem der Lohn für die Erfüllung dieser volkswirtschaftlichen Funktion. Hat er schlecht verwaltet, dann büßt er es an Einkommen und Vermögen. Es ist klar, daß eine Volkswirtschaftslehre, die diesen wichtigen Begriff gar nicht besaß, die Rolle des Kaufmanns in der Volkswirtschaft zu verstehen nicht imstande war, und daß sie von hier aus bestenfalls zu jener oben gekennzeichneten mürrischen Neutralität gelangen konnte, die den Handel zwar für ein unvermeidliches Übel, aber doch für ein Übel hielt, das am besten ganz zu beseitigen wäre. Diese Funktion der Lagerhaltung und Lagerverwaltung wird aber erstens von Tag zu Tag nicht weniger, sondern immer mehr notwendig; deshalb werden wir, je mehr die Volkswirtschaft sich entwickelt, immer mehr und nicht weniger Handel nötig haben. Und zweitens: dieser durchaus unentbehrliche Handel kann in volkswirtschaftlich völlig befriedigender Weise noch viel weniger von Behörden und Beamten vollzogen werden als Landwirtschaft, Industrie und Transportgewerbe. Diese beiden Behauptungen sollen im folgenden bewiesen werden. Erste These: Eine sich entfaltende Volkswirtschaft braucht immer mehr Handel. Das Wesen der Volkswirtschaft ist Kooperation, d. h. Arbeitsteilung und Vereinigung. Und die Entwicklung einer Volkswirtschaft zeigt sich in wachsender Kooperation. Wenn die Bevölkerung
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wächst, kann der wachsende Markt immer mehr Spezialisten beschäftigen, die sich mit immer besserer geistiger Ausbildung und immer zweckmäßigeren Werkzeugen ihrer Spezialität widmen und infolgedessen nicht nur Besseres, sondern auch mehr erzeugen. Wenn aber alle mehr erzeugen, so wird durchschnittlich jeder reicher und ist dabei in der Lage, seinerseits mehr Produkte verschiedenster Art für seinen Verbrauch zu kaufen. Kurz gefaßt: die Produktion spezialisiert, - und der Konsum differenziert sich immer mehr. Dadurch wird aber der unmittelbare Verkehr zwischen dem ersten Erzeuger1 und dem letzten Verbraucher immer mehr zur Unmöglichkeit. Denn, selbst wenn der Verbraucher nicht mehr und andere Erzeugnisse haben müßte als früher, so müßte er sich dennoch schon mit viel mehr Erzeugern in Verbindung setzen. Um ein Beispiel zu brauchen: wer zur Großvaterzeit eine Möbeleinrichtung haben wollte, wendete sich an einen Tischlermeister, der jedes Stück aus dem Rohstoff persönlich mit seinen Gehilfen anfertigte. Heute müßte er sich an eine ganze Reihe von Spezialisten wenden, an Stuhltischler, Schranktischler usw., ja, wenn er konsequent sein wollte, müßte er sich an den Holzbearbeitungs- und Fournierfabrikanten, an den Hersteller von Beschlägen usw. wenden, um seine Tischlermeister nicht in bezug auf diese Dinge zum Händlertum zu verführen. Nun besteht aber, da die Preise der meisten Waren seit 100 Jahren stark gefallen sind, und da die durchschnittliche Kaufkraft und die Ansprüche jedes einzelnen Konsumenten seither stark gestiegen sind, heute eine Hauseinrichtung aus viel mehr Stücken verschiedenster Herkunft als damals. Ein junges Paar, das darauf bestünde, nur bei den Erzeugern unmittelbar zu kaufen, würde sein silbernes Verlobungsfest feiern können, ehe es überall die beste Quelle entdeckt und Stück für Stück seine Wahl getroffen hätte. Und es würde dann finden, daß es für seine Einrichtung per saldo ungeheuer viel mehr bezahlt haben würde, als wenn es seinen Bedarf bei einem oder wenigen Spezialgeschäften eingekauft hätte. Denn, nimm selbst an, es besitze die universalste Warenkenntnis und finde überall den besten und billigsten Lieferanten (eine Annahme, die nicht gerade sehr wahrscheinlich ist), so ist doch für die meisten Menschen Zeit gleich Geld, und unser Paar wird eine ungeheure Zeit und Mühe auf die Auswahl und Kosten auf Schreibpapier, Porti und Reisen verwendet haben. Aber auch dann, wenn dieser große Posten gänzlich vernachlässigt werden kann, wird die reine Geldrechnung ein sehr schmerzliches Plus an Kosten ergeben. Denn jedes Stück, das unmittelbar vom Erzeuger in die neu gemietete Wohnung gelangt, kostet eigene Verpackung und verursacht eigene Transportkosten. Und diese kleinen Posten addieren sich zu gewaltigen Schlußsummen. Hier liegt eine der großen volkswirtschaftlichen Ersparnisse, die der Handel dem Konsumenten ermöglicht, und an denen er ihn beteiligt: der Kaufmann transportiert große Mengen gleichartiger Waren von den verschiedenartigsten Erzeugern in Großverpackung und Großladungen auf sein Lager und erspart dadurch der Volkswirtschaft, sich selbst, und schließlich dem Konsumenten eine gewaltige Masse „toter Spesen". Wir haben hier absichtlich ein verhältnismäßig unbedeutendes Beispiel gewählt, um schon hier zu zeigen, was die volkswirtschaftliche Funktion des Handels ist, hier des Detaillisten, der unmittelbar mit dem Publikum verkehrt. Aber noch viel unentbehrlicher ist der Handel dem Erzeuger. Die Zeiten sind längst vorbei, wo ein Erzeuger mit einem oder wenigen Roh- und Hilfsstoffen auslangte, die, wie seine Werkzeuge, von Erzeugern der nächsten Nachbarschaft leicht zu beschaffen waren. Heute ist es ganz anders. Je höher die Kooperation sich staffelt, je mehr der Kreis der Wirtschaftsgesellschaft sich von der Stadt- zur Territorial-, zur Volkswirtschaft und schließlich zur International-, zur „Weltwirtschaft" verbreitert hat, um so mehr Roh- und Hilfsstoffe verschiedenster Art und Herkunft braucht der Erzeuger, und um so mehr ist er auf Spezialwerkzeuge und Spezialmaschinen verschiedenster Art angewiesen, die gewiß nicht sämtlich an seinem Wohnsitz hergestellt werden. Nun mögen ganz große Unternehmungen,
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Hier [ge]brauche ich das W o r t „Erzeuger" im sprachüblichen Sinne für den Warenhersteller, Landwirt, Gewerbetreibenden usw.
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die von jedem Stoff und jedem Werkzeug große Quantitäten brauchen, vielleicht in der Lage sein, den größten Teil ihres unmittelbaren Bedarfes von den Spezialisten zu beziehen: aber mittlere und kleine Unternehmer würden gerade wie unser junges Brautpaar maßlos viel Zeit und Geld dafür verschwenden. Sie können mit anderen Worten den Handel gar nicht entbehren, den HandelsSpezialisten, der gerade wie sie selbst das Ergebnis der volkswirtschaftlichen Arbeitsteilung ist, der kraft seiner Ausbildung die besten und billigsten Quellen für einen ganzen Warenmarkt kennt, der, weil er Hunderte und vielleicht Tausende von Kunden zu bedienen hat, von jedem Stoff und jedem Werkzeug viel mehr braucht als selbst der größte Unternehmer, der infolgedessen noch viel billiger einkauft und noch viel billiger auf sein Lager transportiert. Zu diesem Spezialistenhändler geht der Spezialisterzeuger, findet schlechthin alles, was er für seinen Betrieb gebraucht, wählt aus, und es wird selbst dann, wenn er von jedem Einzelding nur wenig braucht, eine stattliche Sendung, die viel weniger Packmaterial und Transportkosten verursacht, als wenn er sie durch 20 Boten oder 20 Postpakete erhalten hätte. Natürlich verdient der Händler am Preise: aber sein Verdienst beträgt nur einen geringen Bruchteil der dem Erzeuger ersparten Kosten. Es sind aber nicht nur Transport- und Verpackungskosten, die dem Erzeuger erspart werden. Viel wichtiger ist, daß ihm eigene größere Lagerhaltung erspart wird. Wäre der Händler nicht, so müßte jener, um nicht durch Transport- und Verpackungskosten ganz ruiniert zu werden, sich bei jedem Einkauf auf längere Zeit eindecken. Für den Zweck müßte er aber ein viel größeres Kapital besitzen, und das würde in den meisten Fällen jüngere strebsame Leute daran verhindern, sich selbständig zu machen. Man macht sich selten klar, wieviel im wirklichsten Sinne mittelständische Existenzen, selbständige Existenzen, nur durch die Kredite geschaffen worden sind, die der kapitalkräftige Handel ihnen einräumen kann. Unser Freund spart aber nicht nur Kapital und Zinsen, sondern auch Miete, Beleuchtung, Heizung und Steuer, die der Lagerraum kosten würde. Er spart ferner die selbst bei der größten Sorgfalt unvermeidlichen Verluste, die bei vielen Waren durch Schwund und Verderb eintreten. Er bezieht, was er braucht, gebrauchsfertig, verarbeitet es sofort und hat aus diesem Posten keine Verluste. Würde er das Lager selbst halten müssen, so würden aus zwei Gründen diese Verluste prozentual beträchtlich höher sein als der dafür an den Händler gezahlte Aufschlag. Erstens weil er sich nur selten Lagerräume von gleicher Vollkommenheit halten kann, wie der Händler für seinen sehr viel größeren Vorrat, und zweitens, weil er in der Regel kein Spezialist der „Verwaltungskunst" sein wird. Auch diese will gelernt sein! Aber gehen w i r weiter! Nicht nur der Erzeuger, nein, auch der Händler kann des Händlers nicht entraten, und zwar aus den gleichen Gründen, die wir schon genannt haben. Man denke nur an die ungeheuren Massen von Rohstoffen, die namentlich nach der Ernte bei den Produktenhändlern zusammenströmen, und an die unvorstellbaren Mengen, die der Einfuhrhandel hereinbringt: 1913 kamen nach Deutschland 82 Millionen Tonnen, der Inhalt von über 8 Millionen großen Güterwagen oder über 10.000 großen Ozeandampfern. Diese Massen wollen vom Ort der Erzeugung zunächst einmal zum ersten Lager transportiert, dort zweckmäßig verwaltet und dann über das Land verteilt werden. Unmöglich kann der Kleinhändler sich die unzähligen Produkte, die er regelmäßig in verhältnismäßig kleinen Mengen zu beziehen hat, unmittelbar vom Seeschiff oder dem landwirtschaftlichen oder bergbaulichen Erzeuger beschaffen: dieses Verfahren würde für Korrespondenz, Zeitaufwand, Verpackung, Transport, Lagerräume und Lagerunkosten so kolossale Aufschläge bedingen, daß der Absatz minimal sein müßte, weil nur wenige Konsumenten derart hohe Preise bezahlen könnten. U m diese toten Spesen auf ein Mindestmaß herabzudrücken, braucht es wenigstens noch eines Zwischenhandelsgliedes, des spezialisierten Großhandels, der seinerseits im großen alle diejenigen Waren bezieht und lagert, die seine Kunden im Kleinhandel bei ihm erwerben wollen. Auf diese Weise können auch sie, ohne ein kostspieliges und zinsenfressendes Lager zu unterhalten, dennoch relativ große Quanten der verschiedensten Waren relativ billig regelmäßig bezie-
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hen und genießen dabei, wenn sie ordentliche Leute sind, gleichfalls eines Kredits, der ihnen oft die Selbständigkeit erst ermöglicht und sie auch wohl einmal in schlechten Zeiten über Wasser hält. Man ersieht aus alledem - und wir könnten noch vieles hinzufügen - wie irrig und töricht die unausrottbare Vorstellung ist, der Zwischenhandel sei ein Parasit, der vom Verkäufer unter dem gerechten Preise kaufe und an den Käufer über dem gerechten Preise verkaufe. Es ist im Gegenteil sicher, daß auf die Dauer und im Durchschnitt die Konkurrenz der Händler untereinander dem Erzeuger den höchsten überhaupt erreichbaren Preis sichert; jedenfalls einen viel höheren Preis, als er jemals erreichen könnte, wenn er selbst das Lager hielte und an unzählige Privatkunden unmittelbar verkaufte; und auf der anderen Seite, daß der Käufer, der Wiederverkäufer wie der letzte Verbraucher, ihren Bedarf beim Händler durchschnittlich viel billiger decken als beim unmittelbaren Bezug von den zahllosen Erzeugern, deren Produkte sie gebrauchen. Was der Händler gewinnt, ist ein verhältnismäßig kleiner, durch innere Konkurrenz der Händler untereinander auf ein Minimum herabgedrückter Teil der volkswirtschaftlichen Ersparnis, die seiner Intervention zu danken ist, und in vielen Fällen außerdem eine geringe Prämie für Versicherung gegen Schwund und Verlust und gegen Kreditkrisen. Auch hier, wie überhaupt in der volkswirtschaftlichen Arbeitsteilung, waltet das immer gleiche Gesetz, daß der Preis des Rohprodukts immer höher und der des Fertigfabrikats immer kleiner wird, durch je mehr ineinandergreifende Hände das Produkt geht. Das alte Beispiel von Adam Smith von der ungeheuren Verbilligung der Stecknadel durch ihre Herstellung in einer Fabrik gilt uneingeschränkt auch für die Arbeitsteilung zwischen Erzeuger, Groß- und Kleinhändler und Transporteur. Bei unserer zweiten These können wir uns kürzer fassen. Sie lautet, daß keine Zwischenhandelsorganisation so große volkswirtschaftliche Ersparnisse bringt, d. h. so billig liefern kann wie der private Händler. Körperschaftlich organisierte Zwischenhandelsgebilde müssen immer durch Beamte geleitet werden. Nun besitzt der landläufige Beamte selbstverständlich niemals die Warenkenntnis und Verwaltungskunst, die der berufsmäßige Privathändler sich in langen Jahren angeeignet hat. Aber das ist noch das wenigste. Man kann ja erprobte Kaufleute an die Spitze von Handelsgenossenschaften oder Behörden stellen, und hat es oft genug getan. Aber es hat sich regelmäßig herausgestellt, daß auch die tüchtigsten Männer, sobald sie erst einmal in eine Beamtenstellung eingerückt sind, gerade diejenigen Eigenschaften größtenteils verlieren, die den privaten Kaufmann allein befähigen, seine volkswirtschaftliche Funktion vollkommen zu erfüllen. Das kommt daher, daß sie auf der einen Seite an gewisse Formalitäten gefesselt sind, an schematische Bedingungen, die bei körperschaftlicher Organisation unerläßlich sind; daß sie oft genug in Reibungen mit einem Kollegialsystem einen guten Teil ihrer Kraft verbrauchen, und daß sie, wenn sie gewissenhaft sind, vor Verantwortungen zurückschrecken, die sie in eigener Sache auf sich genommen hätten, die ihnen aber gegenüber fremdem, anvertrautem Vermögen zu schwer sind. Auf der anderen Seite stachelt den Beamten nicht mehr der Sporn des eigenen Interesses, nicht mehr, trotz aller Tantiemen, die Hoffnung starker Gewinne; - und treibt ihn nicht mehr die Besorgnis, mit seinem eigenen Vermögen für Fehlgriffe haften zu müssen, zur äußersten Vorsicht und Behutsamkeit. So ζ. B. haben große Konsumvereine in der Regel sehr schlechte Erfahrungen mit ihren Fleischereibetrieben gemacht, trotzdem die technischen Einrichtungen auf der höchsten Höhe der Zeit standen: aber es hat sich eben herausgestellt, daß selbst der als Privatmann erfolgreichste, zum leitenden Beamten erhobene Schlächtermeister oder Viehhändler das vorteilhafte Einkaufen nicht mehr verstand. Der Erfolg des Händlers setzt sich eben aus unzähligen kleinen Einzelvorteilen beim Einkauf, bei der Lagerung, beim Verkauf und Transport zusammen, winzigen Einzelvorteilen, die doch eben nur der ganz der Sache hingegebene, auf Gedeih und Verderb mit ihr verknüpfte Privatmann, die aber niemals der Beamte herausholen wird. Und deswegen werden Initiative und Wagemut, Fachkenntnis und Anpassungsfähigkeit des vom Selbstinteresse getriebenen Einzelnen den Wettbewerb
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mit beamteter Konkurrenz immer zu ertragen imstande sein, selbst wenn diese mit leichterem Gewicht läuft. U m dafür noch ein Beispiel zu erbringen, so halten sich private Hypothekenaktienbanken und private Versicherungsgesellschaften vortrefflich gegen den Wettbewerb der von den Staatsbehörden nicht nur mit allen moralischen Mitteln, sondern auch mit billigem Kapital und Zinsgarantie geförderten gemeinnützigen Anstalten, wie die Landschaften usw.
IV. Ständischer Fetischismus Aus den bisherigen Betrachtungen geht mit Klarheit hervor, erstens, daß der Handel in allen seinen Formen in jede absehbare Zukunft hinein ein immer weiteres Tätigkeitsfeld für sich bereitet finden wird. Solange die Völker wachsen, die Arbeitsteilung und der Reichtum zunehmen, und d. h.: so lange die Erzeugung sich immer mehr spezialisiert, und der Bedarf der Konsumenten sich immer mehr differenziert, so lange muß und wird der Handel stärker wachsen als die Bevölkerung im ganzen. Also eine Situation, die zu hohem Optimismus berechtigt. Natürlich wird diesen Aussichten entsprechend auch eine starke Konkurrenz sich auf das chancenreiche Gebiet werfen, wie das auch bisher regelmäßig geschehen ist, und diese Konkurrenz wird nach wie vor die Spreu vom Weizen, den Tüchtigen vom Untüchtigen sondern. Es wird die Konkurrenz sein nicht nur zahlreicher privater, von niemandem abhängiger, nur von ihrem Selbstinteresse befeuerter Kaufleute untereinander, sondern auch mit einer vielleicht wachsenden, vielleicht sogar stark wachsenden Anzahl genossenschaftlicher und behördlicher, von Beamten geleiteter Organisationen. Nun können wir verstehen, wenn namentlich solche Elemente des Kaufmannsstandes, die sich ihres unzureichenden Kapitals oder ihrer unzureichenden geschäftlichen Qualifikation bewußt sind, die Konkurrenz überhaupt fürchten und den Wunsch hegen, nach den Methoden der „gebundenen Wirtschaft" sich ein für allemal ihre „Nahrung" verbürgen zu lassen. Aber wir können in der Tat nicht verstehen, warum auch kapitalkräftige und ihrer Tüchtigkeit sich bewußte Kaufleute eine ganz bestimmte Art der Konkurrenz so ungeheuer fürchten. Es handelt sich hier um eine Verirrung, die ich als „ständischen Fetischismus" bezeichnen möchte. Wir sind ihr schon einmal begegnet, als wir von dem angeblichen Niedergang des „Handwerks" im allgemeinen sprachen. Es könnte uns vollkommen gleichgültig sein, wenn zwar das „Handwerk" im Sinne der alten Zeit vollkommen verschwände, wenn aber die sämtlichen „Handwerker" dabei in die Höhe kämen, d. h. entweder zu kleinen oder mittleren Unternehmern würden oder in besser bezahlte, sozial höher klassierte oder gegen Wechselfälle gesichertere Stellungen als technischindustrielle Beamte emporstiegen. Wäre das der Fall - es ist leider nicht der Fall - dann wäre es offenbar eine romantische Sentimentalität, dem „zugrunde gegangenen" Handwerk eine Träne nachzuweinen. Und doch wird der Prozeß der Umformung des alten städtischen Mittelstandes in der Regel derartig angesehen und dargestellt. Welcher Denkfehler ist hier gemacht? Man hat eine Summe von Menschen, die denselben Beruf ausüben, in einen Begriff zusammengefaßt. Das ist gut und korrekt. Aber dann hat man den Begriff personifiziert, hat sich das geschaffen, was die alte Philosophie eine Entität nannte, und läßt nun diese Entität menschliche Dinge erleben: Not, Verzweiflung, Niedergang, Untergang, Aussterben usw. Dieser ständische Fetischismus, der die Angehörigen eines Berufes zur Entität macht, tritt uns ganz besonders häufig dort entgegen, wo es sich um Fragen der Konkurrenz handelt. So ζ. B. hat der Kleinhandel von jeher gegen die Konsumgenossenschaften gewettert und ihre Konkurrenz als die Ursache seiner eigenen Not angeklagt; das ist aber offenbar mindestens sehr einseitig. Nehmen wir als gegeben an, daß in irgendeiner Stadt, wo das Konsumvereinswesen sich kräftig ausgedehnt hat, der kleine Handel leidet, so ist es doch ein voreiliger Schluß, die beiden Tatsachen ohne weite-
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res miteinander in Verbindung zu bringen. Er wäre nur gerechtfertigt, wenn als Mittelglied festgestellt wäre, daß der Gesamtbedarf der Stadt nicht gewachsen sei. Wenn es sich aber, wie fast immer, um eine an Zahl und noch mehr an Wohlstand wachsende Stadt handelt, dann müßte erst festgestellt werden, ob die Konsumvereine mehr als den Zuwachs der Gesamtkaufkraft befriedigt haben. Aber derartige Erwägungen und Untersuchungen werden niemals angestellt, sondern es wird frisch darauf los geschlossen und behauptet. Nicht einmal soviel tut man, daß man nachsieht, ob nicht vielleicht die Zahl der Kleinhändler an sich, und ob sie nicht vielleicht sogar stärker gewachsen ist als die Bevölkerung der Stadt, so daß ihre Notlage mindestens zum Teil auf ihre eigene innere Konkurrenz bezogen werden müßte. Statt dessen fühlt sich der Stand der Kleinhändler, trotz der wütenden Konkurrenz, die zwischen ihnen selbst besteht, plötzlich als „Entität" und sieht nichts als die von außen kommende Konkurrenz einer anderen Entität, in diesem Falle der Konsumentenorganisation, statt das einzige ins Auge zu fassen, worauf es ankommt, nämlich die gesamte Konkurrenz. Das ist nur ein Beispiel aus unzähligen, und es soll durchaus nicht etwa gesagt werden, daß nur die Kleinhändler diesem ständischen Fetischismus verfallen sind. Genau so denken die mittleren Ladenbesitzer und Inhaber von Spezialgeschäften gegenüber den Warenhäusern, die Handwerker gegenüber den Fabriken, die kleinen Müller gegenüber den Dampfmühlen, die Flußschiffer gegenüber den Schleppdampfschiffahrtsgesellschaften, die bayerische Industrie gegenüber der preußischen, die deutsche gegenüber der ausländischen usw. usw. Und überall fast würde doch eine unbefangene Prüfung der Tatsachen ergeben, daß der Markt schneller gewachsen ist als die Konkurrenz, so daß es jedem Tüchtigen unter den Beteiligten besser ergeht als zuvor. In allen diesen Dingen steckt ein ungeheures Stück Zünftlerei, vor der sich niemand so sorgfältig zu hüten hätte als der Handel; denn sein Lebenselement ist der freie Wettbewerb. Wie verzerrt im Lichte des ständischen Fetischismus die Dinge erscheinen, dafür sei ein charakteristisches Beispiel angeführt. Die Getreidehändler des preußischen Ostens beschwerten sich bitterlich über die Konkurrenz der landwirtschaftlichen Genossenschaften. Demgegenüber konnte der Nachweis erbracht werden, daß die in der Tat zu immer höherer Blüte gelangten Genossenschaften trotzdem nur wenige Prozent des geernteten Getreides in ihren Handel einbezogen hatten, und das in einer Zeit, in der die geerntete Menge im ganzen sich in unerhörtem Maße vermehrt hatte. Daraus lassen sich nur zwei Schlüsse ziehen: entweder hatte der Getreidehandel überhaupt keinen Grund zu Klage oder er litt, wenn er litt, lediglich durch seine eigene innere Konkurrenz, d. h. durch die übermäßige Vermehrung der mit dem Getreidehandel beschäftigten privaten Personen. Von diesem Standpunkt aus muß der Handel die neu entstehende Konkurrenz genossenschaftlicher und anderer Korporationen ansehen lernen, der Kleinhandel die der Konsumvereine, der Großhandel die der Einkaufsvereinigungen usw. Wo ein solcher neuer Konkurrent auftritt, da ist es eben ein neuer Konkurrent, und es kann den schon früher auf diesem Marktgebiet tätigen Firmen grundsätzlich sehr gleichgültig sein, ob dieser neue Konkurrent eine kapitalkräftige und sachkundige Einzelperson oder eine Körperschaft ist. Grundsätzlich kann es ihnen gleichgültig sein: angebrachtermaßen aber sollte ihnen der Eintritt einer Einzelperson in den Wettbewerb noch viel weniger erfreulich sein als der einer Genossenschaft usw. Denn die Einzelperson ist aus den vorhin angeführten Gründen wesentlich leistungsfähiger und deshalb gefährlicher.
V. Handel und Genossenschaft Damit soll nun aber durchaus nicht etwa gesagt sein, daß es kein Gebiet gibt, auf dem der Handel völlig davor gesichert wäre, von den Genossenschaften bedrängt und vielleicht sogar gänzlich ver-
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drängt zu werden. Solche Gebiete mag es geben, wenn wir sie auch für relativ sehr klein halten. Wenn es sie gibt, und so weit sie reichen, bleibt dem Handel nichts anderes übrig als fechtend schrittweise zurückzuweichen. Er erfüllt damit nur eine seiner volkswirtschaftlichen Funktionen, diejenige, die sich auf die Kinetik, die Entwicklung der Gesellschaft bezieht. Seine statische Funktion kennen wir bereits: es ist die billigste Beschaffung und vor allem die zweckmäßigste Verwaltung der Waren. Die Funktion aber, die er, nicht im Beharrungszustand der Volkswirtschaft, sondern für ihre Entwicklung zu leisten hat, besteht darin, erstens immer neue Produzenten mit immer neuen Konsumenten dadurch in Verbindung zu bringen, daß er neuen Bedarf weckt; dadurch die Produktion anzuregen und zu vermehren - vielleicht seine wichtigste Funktion! - und die Bahnen zwischen den Erzeugern und den Verbrauchern immer mehr zu glätten und „einzuschleifen". Dann kommt für eine gewisse Zahl von Waren schließlich der Augenblick, wo die Ware sozusagen automatisch vom Erzeuger zum Verbraucher abfließt: und dann ist das Zwischenglied, der Zwischenhandel, zum Teil oder wohl auch gänzlich überflüssig geworden und hat aus diesem Markte zurückzutreten kann es auch ohne Schaden, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens ist das allgemeine Bedürfnis nach Leistungen des Handels inzwischen dank der zunehmenden Spezialisierung der Produktion und Differenzierung des Verbrauchs so stark gewachsen, daß er das verlorene Betätigungsgebiet vielfach ersetzt vorfindet; zweitens hat sich die Entwicklung so langsam vollzogen, daß er reichlich Zeit gehabt hat, sich dieser neuen Gebiete zu bemächtigen; und drittens ist nur der Kaufmann, der ja fast nur zirkulierendes und kaum fixes Kapital hat, in der Lage, sein Vermögen an diesen anderen Stellen ohne wesentliche Liquidierungsverluste einzusetzen, ungleich etwa dem Fabrikanten, dessen in Maschinen und Gebäuden investiertes fixes Kapital bei Verlust seines Marktes stark entwertet ist, und der außerdem noch dadurch geschädigt wird, daß er seine eigene eingearbeitete Arbeiterschaft nur langsam, wenn überhaupt, auf neuem Produktionsgebiet zur vollen Leistungsfähigkeit bringen kann. Natürlich soll der Handel, wie schon gesagt, keines seiner alten Gebiete kampflos preisgeben. Seine Waffen sind gut und stark genug. Er ist nicht nur durch die Privatinitiative seiner Leiter überlegen, er hat nicht nur die Möglichkeit viel schnellerer Anpassung an die täglich sich verschiebenden Verhältnisse des Bedarfs der Kundschaft: eine Anpassung, die die schwerfälligere, weniger interessierte und, weil abhängig, notgedrungen ängstlichere Leitung der Genossenschaft gar nicht schnell vollziehen kann; - sondern er ist auch fast allein imstande, weitherzige Kredite zu geben, dadurch jüngere Fachmänner in den Sattel zu setzen und durch den gegenseitigen Vorteil an sich zu fesseln. Außerdem wird er immer noch die Organisation gegen die Organisation ausspielen können. Er kann noch gewaltige Kräfte des Widerstandes mobil machen, wenn er die Berufsgenossen zu kampffähigen Bataillonen zusammenschließt: in Branchenverbänden, in Großeinkaufs- und Großtransportorganisationen, in Abkommen vielleicht mit Reedereien, in der gemeinschaftlichen Einrichtung vielleicht von Großlagerhäusern mit den vollkommensten Einrichtungen der „Verwaltung" usw. Das sind faire Mittel des Wettbewerbs, weil sie der Volkswirtschaft im ganzen nützlich sind: denn sie ersparen unnötige Kosten und verbilligen dem Verbraucher die Ware, ohne den Erzeuger zu schädigen oder den Zwischenhändler zu verkürzen. Auf der anderen Seite soll und darf der Handel aber auch verlangen, daß die von außen kommende Konkurrenz der Genossenschaften sich gleichfalls nur fairer Mittel bedient. Er hat zu dem Zwecke mit allen Mitteln dem törichten, wissenschaftlich unhaltbaren Vorurteil entgegenzutreten, daß der Handel ein „unproduktiver" Parasit ist, der den Erzeuger beraubt und dem Verbraucher die Ware verteuert; er hat auf das schärfste dagegen aufzutreten, daß die Staatsgewalt für die Genossenschaften Partei nimmt, sie mit ihren starken moralischen Hilfen oder gar mit Staatsgeldern unterstützt, die zum Teil, und nicht zum kleinen Teil, aus den Taschen des Handels selbst stammen. Er hat die Zünftlerei überall zu bekämpfen, vor allem die staatliche, die in übel angebrachter romantischer
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Sentimentalität „Entitäten" zu konservieren sich bemüht, an denen gar nichts gelegen ist, anstatt sich um die Menschen zu kümmern, die in ihrer Gesamtheit den Begriff des zu konservierenden „Standes" darstellen. Er hat, um es kurz zu sagen, den ständischen Fetischismus vor allem dort zu bekämpfen, wo die Staatsgewalt ihn propagiert. Er braucht es nicht zu dulden, daß die Staatsgewalt seinen Wettbewerbern aus seiner Tasche die Offiziere bezahlt und Subsidien liefert. Wenn der Handel Zünftlerei und ständischen Fetischismus überall zu bekämpfen hat, so muß er sich aber darüber klar sein, daß er selbst diesem Teufel auch nicht den kleinen Finger geben darf. Es ist vorgekommen, daß Organisationen des Handels die Staatsgewalt gegen die Genossenschaften angerufen haben. Das ist ebenso gefährlich, wie es verkehrt ist. Der Handel darf nicht für das Linsengericht eines augenblicklichen Vorteils sein Erstgeburtsrecht verkaufen, seinen Anspruch auf völlig freien Wettbewerb. Der Staat hat nichts anderes zu tun, als den Wettbewerbern gleiche und ehrliche Bedingungen zu schaffen, und dann mag der bessere Mann die Palme davontragen.
VI. Der Handel und die deutsche Zukunft Friedrich List, der größte deutsche Nationalökonom, der Schutzpatron und Abgott unserer Schutzzöllner, Platoniker und Kanoniker (die ihn im übrigen nicht verstanden haben) - Friedrich List hat erklärt, daß einem Staate, der keinen entwickelten Handel habe, ein Arm fehle. Will die Richtung zur sogenannten „Gemeinwirtschaft" hin, die Deutschland jetzt verwaltet, unseren Staat in der Tat derartig verkrüppeln? Wir wollen die Frage gar nicht erörtern, ob es technisch möglich wäre, ausreichende Nahrungsmittel überhaupt oder doch in wirtschaftlich rationeller Weise auf der engen Bodenfläche Deutschlands für die gegenwärtige und auch für die doch hoffentlich stark wachsende Bevölkerung der Zukunft zu erzeugen; wir wollen auch nicht fragen, ob es daneben noch möglich sein würde, die nötigen Bekleidungsstoffe hervorzubringen, und ob es zweckmäßig wäre, unsere gewaltige Textilindustrie und unsere übrige Exportindustrie, samt Handel und Reederei, jenem gar nicht schönen Traume des Staatssozialismus oder Staatsbürokratismus zu opfern. Die Frage stellen, heißt sie für jeden beantworten, der auch nur eine entfernte Vorstellung von den technischen und wirtschaftlichen Existenzbedingungen unseres Landes hat. Und es scheint ja sogar zum Glück, daß die begeisterten Rhapsoden der Platoniker und Gemeinwirtschaftler jetzt bereits mit beträchtlich mehr Kritik aufgenommen werden, dank der vielfach recht unerfreulichen Erfahrungen, die uns die Kriegswirtschaft gebracht hat. (Von diesem Standpunkt aus könnte es fast als ein Glück für uns erscheinen, daß diese Wirtschaft lange genug gedauert hat, um sich selbst ad absurdum zu führen.) Schon hat sich die Landwirtschaft durch den Mund ihrer berufenen Vertreter einhellig für die Wiedereinsetzung des Handels in seine alte Stellung ausgesprochen, und auch die Schwerindustrie beginnt ihr zuzustimmen. So ist kürzlich in einer Versammlung des Bundes der Industriellen erklärt worden, die Gruben zögen im allgemeinen die Belieferung des Händlers vor, weil dieser erfahrungsgemäß der beste und prompteste Zahler sei, der durch seine bedeutenden Bezüge einen gewinnbringenden großen Betrieb gewährleiste. Aber Philosophen und Fanatiker pflegen unbelehrbar zu sein, und so werden sie uns vielleicht antworten, daß sie durchaus bereit seien, auch schwere wirtschaftliche Schädigungen in Kauf zu nehmen, wenn nur ihr ideales Ziel erreicht werde, die Vertreibung des kapitalistischen Geistes, dessen Wurzel sie - irrigerweise, aber das kann hier nur angedeutet werden - gleich den sozialistischen Utopisten im freien Wettbewerb des Marktes erblicken. Dann wollen wir ihnen folgendes erwidern: Die Verwirklichung jenes Piatonismus und Kanonismus bedeutet nichts weniger als den Staatsbankrott Deutschlands. Wir haben oben gezeigt, wie jämmerlich arm im Verhältnis zur freien Ver-
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kehrswirtschaft eine gebundene Geldwirtschaft ist. Was uns aber dieser Krieg an neuen Lasten aufgehalst hat, das wird sogar eine sehr freie Verkehrswirtschaft nur sehr mühsam tragen können. Schon heute wird der Mehrbedarf
der öffentlichen Körperschaften Deutschlands auf insgesamt jähr-
lich 8 Milliarden, die Gesamtheit ihres Bedarfs auf 13 Milliarden geschätzt - und noch ist der Frieden im weiten Felde. Zweihundert Mark pro Kopf, tausend Mark pro Familie beträgt jetzt schon die notwendige Steuerleistung; sie verschlingt jetzt schon ein rundes Drittel des deutschen Volkseinkommens, das vor dem Kriege auf 40 Milliarden geschätzt wurde. Gegenüber dieser N o t hat man sich wahrhaftig aller Träume und Experimente zu entschlagen. Hier gibt es nur einen möglichen Weg: die deutsche Volkswirtschaft auf den möglichst großen Markt anzuweisen, den Weltmarkt: denn das ist vielleicht der einzige, von fast niemandem bestrittene Satz der Nationalökonomie,
daß
der Reichtum der Völker wächst wie das Quadrat der Marktgröße. Wir müssen also unbedingt aus ökonomischen, politischen und finanzpolitischen Gründen und aus dem stärksten aller Gründe, dem ethischen der Dankbarkeit für unsere Kämpfer an der Front, zurück zur Weltwirtschaft,
so schnell und so weit wie nur irgend möglich, nicht weniger, sondern mehr
als vor dem Kriege. Und dazu brauchen
wir den Handel,
und zwar den privaten Kaufmann mit seinem Weltinteresse,
seiner Initiative, seinem Wagemut, seiner Fachkenntnis und vor allem mit seinen persönlichen Beziehungen zum Auslande. Es ist eine geradezu groteske Vorstellung, wenn ζ. B. Wichard von Moellendorf, der edelste Träumer von der Gemeinwirtschaft, die Vorstellung hat, der Außenhandel könnte durch den Staat vollzogen werden, so etwa wie König Salomo oder Friedrich Π. für sein Erbland Sizilien das Handelsmonopol besaßen. Damals betraf der Handel winzige Mengen hochwertiger Luxusprodukte, heute bewegt er unvorstellbare Massen der notwendigsten Lebensbedürfnisse: Nahrungs- und Futtermittel, Bekleidungsstoffe und die enormen Mengen von Rohstoffen, die ein industrielles Volk einführt, um sie als „veredelte" Fertigfabrikate zur Abgeltung seiner Einfuhr wieder zu exportieren. Einen solchen Handel aber durch Behörden betreiben zu wollen, ist, wir wiederholen es, eine groteske
Vorstellung! Wir sehen den Bürokraten vor uns, der im Gelbfiebernest
oder der Polarsteppe „von 9 bis 2" den deutschen Handel vollzieht, und wir hören den zweckmäßigen T o n , in dem er seine Lieferanten und Kunden behandelt, den berühmten „preußischen Beamtenton". Nein, was uns, den Spätgekommenen, unsere vielbeneidete Stellung auf dem Weltmarkt geschaffen, was uns namentlich den Sieg über das bereits hochmütig erstarrte Britentum gesichert hatte, das war das rastlose Selbstinteresse des deutschen Kaufmanns, der in seinem eigenen Dienste stand, und der darum die ganze unnachahmliche Einfühlung in die Bedürfnisse und Wünsche des Ausländers besaß, die ihm die Aufträge sicherte; der die Landessprache beherrschte und sich den Landessitten anbequemte. Und dieser Kaufmann, der ein höheres Ziel hat als die in sehr bescheidener Höhe endende Amtslaufbahn, nur der freie Kaufmann kann die zerrissenen Fäden wieder anknüpfen - wenn einer es kann! W i r werden also sofort nach Schluß des Krieges den deutschen Handel für die deutsche Zukunft bitter nötig haben. Das kann nur ein T o r bezweifeln. Darum aber sollte man sich schwer hüten, ihn jetzt abzuwürgen oder durch Verachtung und Schikane so zu vergrämen, daß er nach dem Kriege sein Kapital und seine Arbeitskraft in Staaten einsetzt, die nicht von sentimentalen Romantikern gelenkt werden. Sondern man sollte, was nach den Schlägen dieses Krieges, die ihn vor allem getroffen haben, von ihm noch übrig ist, auf das pfleglichste behandeln, schützen und fördern, damit nach dem Kriege die deutsche Volkswirtschaft sich nicht auf einen zerbrochenen Stab zu stützen braucht. Tut man das nicht, so mag das böse Scherzwort Wahrheit werden, daß die Ubergangswirtschaft für Deutschland zur Untergangswirtschaft werden wird.
Die neue Wirtschaft [1918]1
Wenn Walther Rathenau spricht, horcht man immer auf. Auch wer mit seinen philosophischen Gedanken nicht ganz mitgehen kann, fühlt doch, daß ein bis ins Tiefste kultivierter Mensch zu ihm von Dingen redet, die der Mühe wert sind. Wenn er aber über volkswirtschaftliche Probleme spricht, wird der Fachmann sehr aufmerksam. Ist er doch einer der größten Industriefürsten der Welt, ein praktischer Volkswirt, auf dessen Nacken die Verantwortung für Werke und Betriebe ruht, die viele Hunderte von Millionen Wert haben, die Hunderttausende von Arbeitern und Angestellten beschäftigen. Von seinen Entschlüssen und Erfolgen wird das Wohl Unzähliger, der Aktionäre, der Arbeiter und Angestellten, der Lieferanten bis zum Rohstoffproduzenten und der Kunden bis zum letzten Konsumenten fühlbar mit betroffen. Ein solcher Mann, der seit früher Jugend auf einer der höchsten Aussichtswarten des Wirtschaftslebens der Welt steht, hat fortwährend Einblikke und Tiefblicke, die andere sich nur selten schaffen können; schon ein reiner Empiriker müßte unter so günstigen Bedingungen zu weitreichenden Ergebnissen gelangen: um wie viel mehr noch ein Denkender von diesem Einheitsbedürfnis, von dieser vollkommenen Kultur, der seine Erfahrungen restlos in ein Weltbild einzuordnen bemüht ist, das nach anderen Maßstäben konstruiert ist als nach Mark und Pfennig, nach Kalorie und Kilowatt, nach dem Verhältnis von Lohn und Profit. Wenn er von Dingen der Wirtschaft spricht, so spricht ein Praktiker, aber ein Volkswirt, der sich durch Studium und Nachdenken auf die Höhe der zeitgenössischen Theorie erhoben hat und dabei nicht stehen geblieben ist; er ist weiterwandernd und weitersinnend zu jenem Doppelgipfel aufgestiegen, der außer auf das Tiefland der Wirtschaft auf noch viele andere Täler herabschaut: zur Soziologie, die verstehen will, und zur Sozialphilosophie, die das Verstandene an den Maßstäben der großen menschlichen Werte mißt. Von dieser beherrschenden Höhe aus zieht Rathenau in seinem neuen Buche „Die neue Wirtschaft,q die Bilanz dieses Krieges, stellt die Notwendigkeiten der kommenden Friedenswirtschaft fest und entwirft ihre neue Ordnung gemäß den Tendenzen der Entwicklung, die er am Werke sieht, einer Entwicklung, die er von ungeheuren psychologischen Umwälzungen der Menschheit, von der Veränderung ihrer Wertvorstellungen mehr als von der wirtschaftlichen Not erwartet. Damit wendet er sich scharf gegen die materialistische Geschichtsauffassung und zum Teil auch gegen die, über diese engste und darum falsche Fassung tatsächlicher geschichtlicher Zusammenhänge hinausgehende, moderne Soziologie, die die Wertungen der Gruppe als ideologische Reflexe ihrer Interessen auffaßt; aber er wird zustimmen können, wenn wir als das stärkste und dauerhafteste aller Gruppeninteressen das sittliche Gesetz der Reziprozität, den kategorischen Imperativ, bezeichnen, den unentbehrlichen Kitt jeder Gesellschaft, ohne den sie in Atome zerstieben müßte. Hier wölbt sich die Synthese zwischen der ökonomistischen und der idealistischen Auffassung der
1 2
[Erstmals erschienen in: Wirtschaftszeitung der Zentralmächte, 3. Jg., Nr. 5 (1918), S. 1-3. Außerdem abgedruckt in: Oppenheimer, Wege zur Gemeinschaft. Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. 1, München 1924.] Rathenau, Die neue Wirtschaft, Berlin 1917.
Die neue
Wirtschaft
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Welt und der Geschichte. Das ungefähr ist wohl auch Rathenaus Stellung. Ich habe selten Sätze eines so echten wahrhaft prophetischen Pathos gelesen, das durch seine Beherrschtheit noch stärker mitreißt, wie den Schluß dieses Büchleins: „Was ist das Ereignis, das uns umbrandet? Wir nennen es Krieg, weil es die Formen des Völkerkrieges trägt, weil in Erde, Wasser, Luft und Feuer sichtbar und scheinbar die verkrampften Nationen ringen. Die Kommenden werden es erkennen: was wir erleben, ist die Revolution der Welt, die vulkanische Aufwälzung der übermächtigen, glühenden Unterschichten der menschlichen Veste. Sie vollzieht sich nicht, wie ihre altväterischen Verkünder meinten, in den ungeregelten Formen des Massenaufstandes mit Pike und Sense, das wäre gering und hätte die Anker und Angeln der Welt nicht gesprengt. Von ihren inneren Spannungen betäubt und rasend, von den beiden letzten und höchsten Destillaten der alten Ordnung berauscht, von Nationalismus und Imperialismus erzitternd, müssen sich Nationen auf Nationen stürzen, im Glanz und in der Zucht ihrer Staats- und Kriegsordnungen, mit den vollen Rüstzeugen ihrer Wirtschaften und Wissenschaften, mit der Wut und dem Weh ihrer Geister und Herzen. [...] Dieses Gestirn, diese Menschheit hat zu tief gelitten und zu tief erlebt, als daß ein Inbegriff neuer Grenzlinien und Verfassungen, Gelder und Mächte, die Seelen loskaufe, die Toten ehre, die Lebenden versöhne. Nur aus dem Innern, aus dem tiefsten Gewissen der Welt kann Erlösung hervorbrechen, im Namen der Gerechtigkeit und Freiheit, zur Sühne der Menschheit und zur Ehre Gottes. Das Gewissen der Völker wird sich im Dunkel der Herzen regen, [...]." Es ist nicht leicht, einem so aus allen Tiefen brechenden Bekenntnis gegenüber zu argumentieren. Aber Rathenau sagt selbst: die Zeit fordere Entschlüsse, „und diese Entschlüsse fordern Ziele, und diese Ziele fordern Gedanken"1. Die kritische Aufgabe ist um so schwieriger, weil ich in Weltanschauung und Ziel durchaus, und in der volkswirtschaftlichen Auffassung weithin mit dem Verfasser übereinstimme; meine Bedenken beziehen sich nur auf den Weg zum Ziele. Der volkswirtschaftliche Ausgangspunkt bedarf keiner Auseinandersetzung. Alles ist klar: enorme Verschuldung, kolossale Steuern in Aussicht, Erschwerung des Uberganges durch Frachtraumnot, Valuta-Tiefstand, Mangel an Rohstoffen überall, Erschwerung unserer weltwirtschaftlichen Beziehungen außerdem durch den Haß der jetzigen Gegner. Wir müssen also so weit wie möglich zur Autarkie zurück, heimische Rohstoffe für den heimischen Markt verarbeiten, müssen die Luxuseinfuhr beschränken, müssen weniger ausgeben und womöglich mehr Güter herstellen als zuvor. Vor allem das letztere! Das Volk braucht nicht Geld, sondern Güter, und verbraucht nicht Geld, sondern Arbeit. Wenn wir es erreichen können, daß die gleiche Arbeit mehr Güter hervorbringt, dann kann der Staatsbedarf gedeckt, der Arbeiter höher entlohnt, und dennoch jeder andere reichlicher versorgt werden als vor dem Kriege. Hier setzt Rathenau ein. Unsere Volkswirtschaft des freien Wettbewerbs ist ungeheuer verschwenderisch mit der Arbeit umgegangen. Sie hat sie durch rückständige Methoden der Produktion, durch veraltete Betriebsformen, durch Erhaltung von Betrieben in ungünstiger geographischer Lage, durch kohlenverschwendende und leistungsschwache Maschinen vergeudet, hat unzählige Volkskräfte im Dienste des Wettbewerbs unproduktiv, als Reisende, Agenten, Reklamebedienstete, und schwach-produktiv, in unnötig zersplittertem Kleinverkauf, beschäftigt und besoldet, die, statt ihrer nur privatwirtschaftlich nützlichen Dienste, volkswirtschaftlich nützliche Güter hätten herstellen können; und hat außerdem noch zahlreiche Vollarbeiter als Bediente und Luxusproduzenten von müßigen Reichen der Gütererzeugung entziehen lassen. Verschwendung von Arbeit und arbeitkostenden Materialien bedeutet auch unsere
1
Rathenau, Die neue Wirtschaft, S. 83.
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Handelsorganisation, die jedes Roh- und Zwischenprodukt zu einem eigenen Handelsgute in eigener Hand machte, und sie ohne Rücksicht auf das volkswirtschaftliche Rendement transportierte, speicherte, verwaltete und wieder transportierte, statt alles nach einem großzügigen Plan auf dem billigsten Wege zu beziehen, zu lagern und zu versenden und dadurch wieder unmittelbare Arbeit und durch Materialersparnis mittelbare Arbeit zu ersparen. Wenn wir die Volkswirtschaft nach einheitlichem Plan organisieren, alle Betriebe auf Spezialitäten setzen, alle an den besten Produktionsort verlegen, den Bedarf typisieren, auf Normalien stellen, Zu- und Abfuhr großzügig disponieren, überflüssige Produktion und sonstige Menschenverschwendung verhindern, dann können wir, sagt Rathenau, die Güterproduktion leicht verdoppeln. Es ist gar nicht zweifelhaft, daß das wahr ist, und sogar wahrscheinlich, daß es bei weitem unterschätzt ist. Schon zu Zeiten, wo die erzeugenden Kräfte fast unmeßbar schwächer waren als heute, sind Sachverständige zu viel höheren Schätzungen gelangt. Alle sozialistischen Konstruktionen vom Heiligen Chrysostomus über Saint-Simon, Fourier zu Bebel und Bellamy zogen aus solchen Erwägungen ihre Hauptgründe. Und Hertzka hat schon vor mehr als zwanzig Jahren für das damals noch überaus schwach entwickelte Osterreich berechnet, daß allein die Arbeit der Männer zwischen zwanzig und vierzig Jahren genügen würde, um die Erzeugungsmenge zu vervielfachen, wenn alle mit den damals produktivsten Arbeitsinstrumenten ausgestattet wären. Kein Zweifel, daß hier die Rettung liegt und das Ziel unseres Strebens sein muß. Fragt sich nur, welcher Weg zum Ziele führt. Rathenau geht den eines modern gefärbten Staatssozialismus, der dem Saint-Simonschen „Industrialismus" so ähnlich ist, wie es denkbar ist, wenn man in Rechnung stellt, wie ungeheuer viel weiter wir in den einundeinviertel Jahrhunderten technisch und ökonomisch gekommen sind. Alle Branchenverbände werden zu Zwangssyndikaten mit den weitestgehenden Vollmachten unter Staatsaufsicht ausgestaltet, d. h. zu wahren Trusts auf die Dauer umgewandelt; die Gewinne werden gerecht auf Kapital, Staat, Arbeiter, Werkleiter und - durch Verbilligung des Produkts - die Konsumenten verteilt; schlecht rentierende, veraltete Werke werden still gelegt, alles typisiert und spezialisiert, Zufuhr, Abfuhr und Absatz von einem Punkte aus geregelt. Die Berufsverbände werden zu Gewerbeverbänden zusammengefaßt, die parlamentarisch über gemeinsame Dinge beraten und entscheiden. Ahnlich wird Kleingewerbe und Kleinhandel den Kommunen zur Regelung und Aufsicht überwiesen. Leider verbietet es der Raum, die Einzelheiten des Planes aufzuführen und kritisch zu beleuchten; sie sind sehr interessant, namentlich die Maßnahmen, die den monopolistischen Ausschluß aller Konkurrenz und den sonstigen Mißbrauch der verliehenen Allmacht verhindern wollen. Alles in allem kann man sagen, liegt hier wohl der reifeste Plan staatssozialistischer „Utopie" - das Wort hat für mich nicht im mindesten einen verächtlichen Klang - vor, der bisher erdacht worden ist: ein Staatssozialismus, der unter Ausnützung des modernen Systems der gemischtwirtschaftlichen Unternehmung sich wenigstens bemüht, so viel von dem Geist der Selbstverantwortung aus der freien Verkehrswirtschaft zu übernehmen wie möglich ist. Ich wage es sogar weiterzugehen und zu sagen, daß der Plan wahrscheinlich ausführbar ist, und daß er, wenn er ausführbar ist, ein dem heutigen überlegenes System der volkswirtschaftlichen Produktion und Verteilung darstellen würde. Er könnte schon sehr viele Menschenkräfte verbrauchen, ehe er so viele verbrauchte, als er ersparen würde, und die Oberklassen könnten sehr viel Staatszwang auszuhalten haben (ζ. B. den Konzessionszwang für Dienstboten, den R. einführen will), ehe das dem Druck und Zwang gleich käme, den eine anständige Verwaltung der Trusts oder Syndikate und eine anständige Verteilung der erzeugten Güter der Unterklasse ersparen würden. Ich stehe ganz wie John Stuart Mill zu diesen Problemen: Wenn es keinen anderen Weg gibt, um aus dem heutigen Zustand herauszukommen, als den Weg über die Leitung der Wirtschaft von einer Stelle aus, dann in Gottes Namen gehen wir diesen Weg, so unerfreulich alle Bevormundung und Staatsomnipotenz an sich, absolut genommen, ist, und trotz aller Erfahrungen sogar, die wir mit
Die neue Wirtschaft
127
der „Kriegswirtschaft" gemacht haben. Es fragt sich nur, ob es keinen anderen Weg gibt, der Ordnung, Sparsamkeit, d. h. R e i c h t u m und Freiheit
zusammenbringen kann. D i e bisherige Wissenschaft
kennt i m m e r n o c h nur die Antithese, vor der schon Mill und vor ihm Sismondi und Piaton standen; sie weiß nichts oder will nichts wissen von der Synthese, die mir, wie ich hoffe, gelungen ist. U n d so ist Rathenau kein V o r w u r f daraus zu machen, daß er sie nicht kennt. W e n n ich recht sehe, hat dieser Weltbrand uns der Lösung jenes uralten Konfliktes der Auffassungen sehr viel näher geführt, so nahe, daß wir keiner künstlichen Mittel mehr bedürfen, um unsere Zukunft zu ordnen. Sie ordnet sich selbst, auch ohne Zwangssyndikate. A b e r diese Zeichen der Zeit kann niemand deuten, der auf dem Boden der alten Theorie steht. Rathenau klagt, wie fast alle Sozialisten, die freie Konkurrenz als Übeltäter an. Sie ist aber niemals frei gewesen!
noch
I m m e r haben starke M o n o p o l e die Produktion abgelenkt und die Verteilung
verzerrt. Das weiß Rathenau genau genug. E r spricht v o m „Unrecht der gesellschaftlichen Schichtung" 1 und nennt die „Monopole des großen Landbesitzes und der Bodenschätze" die „zwei Säulen der alten Ordnung, die aus der Brandstätte ragen werden". 2 Aber ich sage: „Auch diese, schon geborsten, werden stürzen über N a c h t . " In Rußland, Landbesitz
aufgehoben
d. h. vier Fünfteln von Europa, ist der
und keine Regierung der Zukunft kann auch nur daran denken,
herzustellen. D a m i t hat aber auch der deutsche
große
ihn wieder-
agrarische Großbesitz seine Existenzbasis verloren:
denn er hat ein Drittel seiner heimatlichen Arbeiterschaft im Kriege eingebüßt und zudem keine Aussicht, seine U n z a h l von Saisonarbeitern aus den Slawenländern jemals wieder zu erhalten. D a n n aber m u ß der L o h n der deutschen
Landarbeiter
mit einem Schlage gewaltig in die H ö h e
springen, u m 25, u m 50, vielleicht um 100 Prozent. Kein Gedanke daran, sie schnell und in großer Zahl durch Maschinen zu ersetzen. Auch kein Gedanke daran, zu extensiveren Betriebsformen mit geringerem Arbeitsbedarf überzugehen. D a z u ist der Bodenpreis und die Verschuldung zu hoch, und dazu werden auch zunächst, bis die Weltwirtschaft voll wiederhergestellt sein wird, die Preise der Agrarprodukte zu hoch stehen. W e n n aber der Landarbeiterlohn steigt, so steigt auch der L o h n der Industriearbeiter; die beiden Lohnniveaus stehen in offener K o m m u n i k a t i o n und gleichen sich notwendigerweise einander an. A u f Jahre hinaus ist v o m Lande keine Abwanderung in die Industrie zu erwarten, eher eine schwache Rückwanderung. Man sage nicht, es werde der deutschen Industrie zuerst an Absatz mangeln, und aus diesem Grunde würden die Industrielöhne den Landlöhnen nicht folgen; es besteht ein so ungeheurer Bedarf nach gewerblichen Produkten aller Art, daß die Textilindustrie sogar ganz auf längere Zeit ausfallen könnte, ohne daß Arbeitslosigkeit bestände; Schiffbau, H o c h - und Tiefbau, Lokomotiven-, Waggon- und Schienen-Fabrikation, das Rétablissement der Heeresausrüstung werden gewaltige Arbeiterheere beschäftigen; allein für die Wiederherstellung des Oberbaues unserer Eisenbahnen können nach sachverständiger Schätzung eine Million M ä n n e r auf M o n a t e hinaus beschäftigt werden. Aber auch die Textilindustrie wird nicht ganz ausfallen; wir haben uns stark auf einheimische Rohstoffe (Papier, Nessel, verstärkte Woll- und Flachserzeugung) eingestellt und werden auch ausländische Rohstoffe in bescheidenem Maße hereinbek o m m e n , weil es technisch
unmöglich
ist, Exportzölle
zu differenzieren,
die D r o h u n g mit der Absper-
rung unserer jetzigen Feinde also nicht zu fürchten ist. M a n kann die Ware allenfalls zu U m w e g e n über neutrale Länder zwingen, und dann wird sie noch teurer als sonst auch. Das aber wird den Absatz der Industrie nicht ernstlich hindern können. D e n n der deutsche Binnenmarkt wird um viele Milliarden kaufkräftiger sein als vor dem Kriege, wenn der L o h n der fast 20 Millionen Lohnarbeiter so stark steigt, wie wir annehmen müssen. Schätzen wir niedrig, daß der N o m i n a l l o h n 1913 sich auf 800 M a r k pro K o p f durchschnittlich belief, so war der Gesamtlohn
1 2
Rathenau, Die neue Wirtschaft, S. 80. Ebenda, S. 84.
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
16 Milliarden. Wenn die Kaufkraft, der Reallohn - nicht etwa nur der Geldlohn - auch nur um 25 Prozent steigt, und das ist sicher unterschätzt, dann können die deutschen Produzenten Waren, die 1917 vier Milliarden Mark gekostet hätten, mehr an den deutschen Arbeiter verkaufen, und diese neue Nachfrage wird vorwiegend den Gewerben zuwachsen. Diese Revolution des Marktes wird nun automatisch einen großen Teil jener segensreichen Umformung unserer Volkswirtschaft herbeiführen, die Rathenau mit Recht fordert. Wenn die Löhne steigen, so sind veraltete Betriebseinrichtungen und Maschinen ruinös; da die Maschine, vom Unternehmerstandpunkt aus gesehen, Löhne spart, so ist es geboten, um so wirksamere Maschinen aufzustellen, je höher die Löhne sind, und die gestiegenen Mehrkosten der Produktion auch sonst durch Abstellung aller unnütz faux frais zu kompensieren. Der enorme Neubedarf an zeitgemäßer Maschinerie wird die Nachfrage nach Arbeitern übrigens noch einmal entsprechend steigern. Verbesserte und vermehrte Maschinerie bedeutet aber eo ipso vermehrte Gütererzeugung. Damit ist auch dieses Postulat für die neue Wirtschaft erfüllt. Und wo die Gehälter von Reisenden, Agenten usw. in gleichem Verhältnis wie die Löhne gestiegen sein werden, und ein so gewaltiger Warenhunger besteht, daß es einer Vermittlung zwischen Produzenten und Verbrauchern kaum bedarf, wird auch diese unproduktive Verwendung von Arbeit stark einschrumpfen, ebenso wie die Luxusverschwendung durch müßige Reiche, die unter dem Steuerdruck und den steigenden Lohnforderungen der Bedienten ihre Ansprüche stark werden einschränken müssen. Das gilt für die Ubergangszeit. Wenn sie vorüber ist, sind weitere Entwicklungen zu erwarten, die dem Ziele Rathenaus noch näher führen werden. In einigen Jahren werden die Preise der Landwirtschaftserzeugnisse wieder sinken, wenn die überseeische und russische Einfuhr, gestachelt durch die hohen Preise der Ubergangszeit, wieder exportfähig und der Weltschiffsraum, entwickelt durch die überhohen Frachten, wieder vorhanden sein wird. Und dann droht jenem „Monopol des Großlandbesitzes" die Vernichtung. Zwischen den beiden Mühlsteinen, hohen Löhnen und hohen Schuldzinsen, wird es zerrieben, und das Land muß größtenteils an Bauern und Bauerngenossenschaften fallen. Der Landarbeiter wird selbständiger Bauer. Eine neue ungeheure Nachfrage nach Baumaterialien und Ackergeräten ist die erste, eine erneute Steigerung der Industrielöhne die zweite, ein erneutes Wachstum des Binnenmarktes die dritte Folge. Da vom Lande her auf Jahrhunderte hinaus keine Massenzuwanderung in die Gewerbe mehr stattfinden kann, steht der Lohn der Industriearbeiter auf der Höhe des Einkommens des freien Bauern, und steigt ständig mit ihm. Und die Konkurrenz verwandelt sich aus dem „feindlichen Wettkampf" mit seinen häßlichen und gefährlichen Erscheinungen in den „friedlichen Wettbewerb", der eine reine Kraft des Segens ist, weil er alle Kräfte spannt, ohne daß Unterdrückung des Schwächeren durch den Stärkeren möglich wäre. Diese Zeichen der Zeit, die für den Wissenden mit Feuerzungen reden, hat auch Walther Rathenau nicht deuten können, weil er als Theoretiker noch auf dem Boden der alten Auffassung steht. Er steht dicht an der Schwelle der Wahrheit, wenn er sagt, daß das große Landeigentum ein Monopol ist; er braucht sich nur noch des unbestrittenen Satzes zu erinnern, daß dort, wo ein Monopol besteht, keine freie Konkurrenz besteht, - und er erkennt, daß er zu Unrecht der freien Konkurrenz aufs Schuldenkonto bucht, was in der Tat der unfreien, durch Monopole verzerrten Konkurrenz zu Last geschrieben werden muß. Wenn die Absichten der Staatssozialisten in Deutschland verwirklicht werden, droht ihm eine furchtbare Gefahr. Die angelsächsischen Länder werden das Experiment gewiß nicht mitmachen, und dann werden sie, für die die Rohstoffrage nicht wie für uns ein drohendes Problem ist, und bei denen ebenfalls eine ungeheure Nachfrage nach Arbeit und Arbeitern bestehen wird, die deutschen Facharbeiter zu Hunderttausenden absaugen. Der Lohn reguliert sich international! Und Deutschland wird an Wehr- und Wirtschaftskraft ungeheuerlich, vielleicht bis zur Vernichtung geschwächt werden.
Die neue Wirtschaft
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Ich fasse zusammen: Rathenaus Ziel, die starke Vermehrung der Gütererzeugung, die materielle Hebung der Arbeiterschaft, die Kürzung der Monopole kommen, die Rationalisierung der Volkswirtschaft, die Beseitigung der Arbeitsvergeudung, die Ethisierung des Wettbewerbes - alles das kann erreicht werden ohne Zwangssyndikate, Konzessionszwang, Staatsallmacht und Lähmung der persönlichen Tatkraft und Verantwortung, kann mit größerer Sicherheit bei unendlich viel mehr Freiheit und wahrscheinlich mit viel größerer Vollkommenheit erreicht werden als nach seinen Ideen. Und darum soll man nicht ein zweifelhaftes Mittel zum Ziele machen, soll keine Experimente am Körper der Volkswirtschaft anstellen, für die kein Vorbild vorliegt; denn die innere Ordnung des größten Trusts verhält sich zu Rathenaus Konstruktion doch nur, wie ein Laboratoriumsversuch zur Fabrikation im Großen. Wir wollen nicht vergessen, daß jedem Großbetrieb die Grenze dort gesteckt ist, wo die Übersichtlichkeit aufhört. Eine Volkswirtschaft ist ein gewaltiger Organismus, der fehllos funktioniert, wenn keine Monopole ihn krank machen. Der furchtbare Krieg hat die großen Monopole des Boden- und Kapitaleigentums dadurch in ihren Fundamenten unterhöhlt, daß er die Arbeiterschaft der Welt um ungezählte Millionen verminderte. Läßt man den Organismus jetzt ungeschoren, so kann und wird er sich gänzlich heilen. Führt man aber aus falsch beratenem Idealismus neue Monopole ein, so kann man ihn zerstören. Meine Stimme ist leider schwach. Aber das entbindet mich nicht von der Pflicht, sie warnend zu erheben: Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Bewegungsfreiheit des Einzelnen, um unser Deutschland zum Hafen zu steuern.
Die Krisis der theoretischen Nationalökonomie
[1919]1
Die wissenschaftliche Nationalökonomie ist todkrank - schon vor Jahren hat man mit Recht davon gesprochen, daß sie sich in einer „Krisis" befindet, und die Arzte sind fleißig am Werke, ihr aufzuhelfen. Wir erleben nach langer Stagnation seit etwa einem Jahrzehnt geradezu eine Hochflut theoretischer Bemühung, und nicht bloß um die Lösung einzelner Teilprobleme, sondern, und das ist grundsätzlich richtig, um die Aufstellung des ganzen Systems. Denn nur im System kann eine Theorie sich selber finden. Jede Schule - und in Deutschland stellt so ziemlich jeder Professor, der sich mit Theorie beschäftigt, seine eigene „Schule" vor, „tot capita, tot sensus", beteiligt sich an dem Wettbewerb um diesen höchsten aller Kränze. U m von minder anspruchsvollen Darbietungen zu schweigen, hat in dem letzten Jahrfünft v. Wieser als das derzeitige Haupt der österreichischen Grenznutzenschule seine Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft2 herausgebracht, und jetzt treten gleich zwei Freiburger Professoren, der Ordinarius Diehl und sein Antipode, der Extraordinarius Liefmann, fast gleichzeitig auf den Plan, beide mit dem ersten Bande eines großangelegten Systems, der die „Einleitung" bzw. die „Grundlagen" enthält. Es ist von allgemeinerem theoretischen Interesse, beide Arbeiten in einem Zuge darzustellen und kritisch zu beleuchten, weil die beiden Gelehrten eben Antipoden sind, beide mit gleicher Einseitigkeit auf je eines der beiden großen Hauptgebiete der Sozialökonomik hypnotisiert, Diehl auf die Marktwirtschaft, Liefmann auf die Personalwirtschaft, und weil sie beide vielfach von den gleichen - falschen - Prämissen ausgehen. Darum wird die Kritik der beiden Systeme den ganzen Umkreis der strittigen Probleme abschreiten. Dem Leser zur Kenntnis voraus, daß Karl Diehl 3 sich mit mir in einer allerdings einseitigen wissenschaftlichen Fehde befindet. Ich versuchte 1909 in meinem „Ricardo" 4 den Nachweis, daß Diehl die Grundrententheorie des Briten in zwei nicht ganz unwichtigen Punkten mißverstanden hatte. Daran knüpfte sich eine Polemik, bei der Diehl nach dem Urteil einiger nicht durchaus Recht behalten haben dürfte. Seitdem ist er regelmäßig mein erster und strengster Kritiker, der alsbald jede meiner Arbeiten, wie man zu sagen pflegt, „in der Luft zerreißt". Ich habe bisher keine Veranlassung gesehen, mich darauf einzulassen, und werde es wahrscheinlich auch in Zukunft nicht tun, obgleich auch in diesem Buch wieder eine Darstellung meiner Gesamtauffassung enthalten ist, die das denkbare Höchstmaß von Verständnislosigkeit erreicht - an Böswilligkeit glaube ich nicht. Wer mich nicht kennt, dem steht es frei, die Tatsache, daß ich Diehls Theorie im wesentlichen ablehnen werde, als Akt der Wiedervergeltung zu betrachten wer mich und meine lange Laufbahn als Kritiker kennt, weiß, daß der geschilderte Umstand mir noch mehr als sonst die strengste Sachlichkeit der Wiedergabe und Kritik zur sittlichen Pflicht macht. Das Buch führt sich ein als der erste Band eines auf nicht weniger als vier Teile berechneten Systems der theoretischen Ökonomie. Er bildet die „Einleitung" und behandelt vorwiegend Fragen
1 2 3 4
[Erstmals erschienen in: Zeitschrift für Politik, Bd. 11 (1919), S. 475-506; A. d. R.] v. Wieser, Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft, Tübingen 1914. Diehl, Theoretische Nationalökonomie, I. Bd.: Einleitung in die Nationalökonomie, Jena 1916. [Oppenheimer, David Ricardos Grundrententheorie, in: derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. I, S. 469-613.]
Die Krisis der theoretischen
Nationalökonomie
131
der Methodik; die folgenden Bände sollen die Lehren von der Produktion, der Zirkulation und der Distribution bringen. Es ist die alte Einteilung, die den Stoff in ungeschicktester Weise auseinanderreißt; zum Glück fehlt wenigstens die Lehre von der Konsumption, die sonst den Schluß zu bilden pflegt. 1 Es wird abzuwarten sein, wie die späteren Bände der durch dieses Einteilungssystem entstehenden Schwierigkeiten Herr werden. Der vorliegende Band spiegelt mit größter Deutlichkeit den wahrhaft verzweifelten Zustand unserer Wissenschaft, und zwar in zwiefacher Weise. Erstens, weil der Verfasser sich mit einer Unzahl von „Richtungen" kritisch auseinandersetzt: mit der „naturgesetzlichen" und der „naturrechtlichen", mit der „historischen" Richtung und der Reaktion gegen sie, die von der Grenzwertschule eingeleitet worden ist; mit der „evolutionistischen", der „religiösen", der „ethischen" Richtung, denen allen er seine an Stammler orientierte, aber auch ihm kritisch gegenüberstehende „sozialrechtliche Richtung" gegenüberstellt. Die furchtbare, beschämende Zersplitterung der Disziplin, deren berufene Träger positiv in nichts einig sind, weder in der grundlegenden methodologischen Auffassung, noch in den grundlegenden Begriffsbestimmungen, noch in der sachlichen Abgrenzung des einschlägigen Stoffes, geschweige denn in wichtigeren Teiltheorien - dieser theoretisch furchtbare und leider - wie die „Kriegswirtschaft" beweist - auch praktisch lebensgefährliche Zustand tritt auf das klarste in der Vielheit der kritisch abgehandelten Richtungen und Autoren (es gibt in jeder Richtung noch zahlreiche sekundäre Differenzen der Anschauung) zutage. Man bekommt ein fast so klares Bild von dieser Splitterung in Atome, als wenn man Böhm-Bawerks prächtige „Geschichte der Kapitalzinstheorien" studiert; nur daß sich der große Wiener Dogmatiker mehr mit den Problemen selbst, der Freiburger aber fast ausschließlich mit den Meinungen von Professoren über die Probleme befaßt, was nicht durchaus das gleiche ist. Diehl, der seit langer Zeit eine umfangreiche kritische Tätigkeit ausübt, hat hier sozusagen eine Sammlung seiner Kritiken veranstaltet, und daher kommen viele Autoren, die allenfalls ein Tagesinteresse haben oder sogar nur einmal kurze Zeit hatten, in die Gesellschaft der wirklichen Forscher und Denker. Die Kritik ist oft glücklich, zuweilen schlagend, aber nur soweit sie negativ ist: der an guten Vorbildern geschulte, außerordentlich belesene, überall redlich bemühte gebildete Volkswirt verleugnet sich nicht. Dem, was er ζ. B. über Ehrenbergs angeblich Thünensche Methode, über die psychologische Methode der Grenznutzenlehre, über Schumpeters statische Theorie (warum kennt und nennt er seine „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" nicht?), über Liefmann u. a. sagt, kann ich vielfach zustimmen. Wo aber die Kritik positiv werden will, wo sie falsch Gesehenes durch richtig Gesehenes ersetzen oder Verschobenes zurechtrücken will, da ist sie nach meiner Überzeugung durchaus ungenügend. Und zwar zum Hauptteil aus dem gleichen Grunde, den ich schon soeben zu beklagen hatte: aus dem unerhörten Zustande unserer „Wissenschaft" heraus, die in Wahrheit keine ist. Wo es keinen Zollbreit gesicherten und vor allem gemeinsamen Bodens gibt, fehlt der archimedische Punkt, an dem die Kritik ihren Hebel ansetzen könnte. U m ein solches Chaos einigermaßen in Ordnung zu bringen, dazu gehört ein Kopf von spezifischen, theoretischer Begabung, der die hochentwickelte Fähigkeit der feinsten Abstraktion mit einer starken Dosis schöpferischer Phantasie vereint: ein Mann also etwa vom Schlage eines Gossen, Rodbertus, Marx. Zu diesen Köpfen gehört Diehl nun einmal nicht. Seine ganze wissenschaftliche Vergangenheit beweist, daß er, bei aller hohen Anerkennung seiner sonstigen Qualitäten, doch nur ein mäßiger deduktiver Kopf ist. Der ganze Aufbau seines Ricardo-Kommentars zeigt das bereits, auch wenn man von einer Reihe elementarer Verständnisfehler im einzelnen absehen will: das gehäufte empirische Material gehört wirklich nicht zur Sache. Auch die bekannte Polemik mit Dietzel in der Frage „Konträr- oder Paralleltheorie" zeigte ihn dem scharfsinnigen Bonner Meister der Deduktion nicht im entferntesten gewachsen: und dieser Einleitungsband zeigt wieder die alten Schwächen, obgleich 1
S. 83 wird sie aber doch wieder als der vierte und letzte Teil der „theoretischen Nationalökonomie" bezeichnet.
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kaum viel Gelegenheit ist, sie zu zeigen. So ζ. B. begeht er mehrfach den elementaren Fehler, mit Argumenten aus der Dynamik des Marktes Sätze der Statik widerlegen zu wollen. 1 Dieser fundamentale Mangel kann nicht ersetzt werden durch eine gewisse Forsche des Ausdrucks, die Entscheidungen nicht auf logische Weise erzwingt, sondern sozusagen ex cathedra superiore dekretiert. Hier waltet ein circulus vitiosus. Diehl hat sich in eine, in seine „Richtung" verbissen, weil er die Gedankengänge der großen Meister unserer Wissenschaft nicht vollkommen zu verstehen und darum nicht dort zu Ende zu denken vermochte, wo sie Lücken gelassen hatten oder vom richtigen Wege abgeirrt waren. Und weil er sich einmal in seine Richtung verbissen hatte, war er fortan unfähig, diejenigen neueren Leistungen richtig zu bewerten, die jenen ihm verschlossenen Weg betraten. Ich verzichte darauf, mich auf Einzelheiten einzulassen, obgleich ich in der Lage wäre, nicht nur meine Anerkennung zu mancher feinen Bemerkung, sondern auch meinen Widerspruch zu vielen anderen zu begründen. Sondern ich folge der Pflicht des kritischen Richters, wie ich sie verstehe, wenn ich die Grundauffassung untersuche, die in den einleitenden Kapiteln und noch einmal im Schlußabsatz (12. Kapitel: Die sozialrechtliche Richtung) enthalten ist und selbstverständlich überall als Grundlage der kritischen Stellungnahme dient. Wir beginnen mit der grundlegenden Definition: „Was ist das Kriterium der wirtschaftlichen Erscheinungen im Gegensatz zu anderen Erscheinungen des menschlichen Lebens? Wir antworten: Es ist die Sorge um die Güter, die die Menschen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse gebrauchen. Auf einen kurzen Ausdruck gebracht, würde als Gegenstand der national-ökonomischen Forschung zu bezeichnen sein: Die auf Befriedigung ihrer Bedürfnisse gerichtete Tätigkeit der Menschen."2 An dieser Definition kann ich nichts anderes anerkennen, als daß in ihr nicht, wie üblich, von der Befriedigung „wirtschaftlicher Bedürfnisse" die Rede ist. Diesen Fortschritt darf ich wohl auf meine Rechnung buchen: ich habe m. W. zuerst gezeigt, daß es kein „wirtschaftliches Bedürfnis" gibt, wenigstens keines, das mit den echten finalen Bedürfnissen, z. B. den physiologischen, in eine Klasse gehört. Es gibt nur einen modalen wirtschaftlichen Trieb, der dahin geht, mit kostenden Dingen nach dem ökonomischen Prinzip zu verfahren. Sonst aber ist alles durchaus schief und sogar geradezu falsch. Die Definition paßt zunächst vollkommen auf die Technik, die doch wohl mit Recht als die Auswirkung der „Sorge um die Güter" bezeichnet werden kann, „die die Menschen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse brauchen" - und die man kaum besser beschreiben kann als mit den Worten: „Die auf Befriedigung ihrer Bedürfnisse gerichtete Tätigkeit der Menschen." 3 Und doch stimmt Diehl Liefmann ausdrücklich zu, der mit aller erdenklichen Energie darauf besteht, daß Ökonomie und Technik zwei toto coelo verschiedene Dinge seien (und darin Recht hat; er ist nur im Irrtum, wenn er glaubt, damit eine ganz neue Wahrheit entdeckt zu haben). Diehl hält es für „das Hauptverdienst der Liefmannschen Arbeiten, daß sie die Notwendigkeit der scharfen Trennung wirtschaftlicher und technischer Betrachtung
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Vgl. Diehl, Theoretische Nationalökonomie, z. B. S. 327-329. Ebenda, S. 2. Diehl gibt ausdrücklich zu (ebenda, 4. Kapitel: „Technik und Wirtschaft", S. 68), daß seine Definition auch auf die Technik passe. Statt sie zu ändern, bis sie nicht mehr auf sie paßt, erklärt er ganz mit Recht, Technik sei angewandte Naturwissenschaft, Nationalökonomie ein Teil der Sozialwissenschaft (S. 70) und erläutert das in einer für seine Methode sehr kennzeichnenden Form an vielen Beispielen. Damit hilft er aber der kranken Definition nicht auf die Beine, sondern überzeugt seine Leser nur immer mehr, daß Technik und Ökonomik zwei ganz verschiedene Dinge sind, die doch um so mehr durch eine zureichende Begriffsbestimmung auseinandergehalten werden können.
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immer wieder betonen"1. Daß Diehl selbst diese scharfe Trennung in seiner grundlegenden Definition geglückt sei, vermag ich nicht zu erkennen. Sie paßt durchaus auf die Technik., auch wenn man das „formale" Kriterium hinzuzieht, das Diehl dem soeben zitierten „sachlichen" beigibt, demzufolge nur die „soziale" Betätigung der Menschen (also nicht die Betätigung des einzelnen vorgestellten Menschen) zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse den Gegenstand unserer Wissenschaft bildet. Denn die Technik ist unbestreitbar eine im höchsten Maße soziale, außerhalb der Gesellschaft undenkbare Betätigung: auch ein Robinson hat nur die Technik, die er aus der Gesellschaft mitgebracht hat.2 Die Definition ist also zu weit, sie deckt Erscheinungen des menschlichen Gemeinlebens, die ausdrücklich als ausgeschlossen gelten sollen. Und zwar nicht nur die Technik! Auch auf den Raubzug eines Hirtenstammes z. B. paßt sie wie angegossen. Alle Kriterien der Definition treffen zu: die soziale Betätigung, die Sorge um Güter, und der Zweck: die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen dieser Gemeinschaft. Und doch glaube ich nicht, daß Diehl den Raubzug als Gegenstand der volkswirtschaftlichen Forschung gelten lassen wird, wie ich das von meinem Standpunkte aus in einem bestimmten Sinn tue: es würde mit seiner „sozialrechtlichen" Richtung offenbar schmerzlich kollidieren. Warum ist die Definition so weit, daß sie so heterogene Dinge mit einschließt? Weil Diehl den einzigen Begriff - nicht etwa aus Versehen ausläßt, sondern - mit voller Absicht ausschließt, der den Oberbegriff „Wirtschaft" und daher den Artbegriff „Volkswirtschaft" konstituieren kann: das „ökonomische Prinzip des kleinsten Mittels zum größten Erfolge". „Ich möchte betonen, daß das ökonomische Prinzip in keiner Weise als Ausgangspunkt für volkswirtschaftliche Betrachtungen genommen werden darf."3 Hier weicht Diehl von fast allen seinen Vorgängern ab, auch von Männern, die er sonst als Autoritäten hoch bewertet, ζ. B. von Adolph Wagner. Wie kommt er dazu und infolgedessen zu seiner unhaltbaren Definition? Er muß einen Grund dazu haben, und den gilt es aufzufinden und darzustellen, wenn wir eine Kritik geben sollen, „die nicht bloß die Fenster von außen einschlägt". Ich will meinem gestrengen Richter einmal vormachen, wie eine zureichende Kritik vorzugehen hat. Der Grund ist an sich gut. Diehl ist mit Marx, den er mit Recht als den bewußten Schöpfer dieser entscheidenden Auffassung bezeichnet, der Überzeugung, daß die Nationalökonomie nur mit den vergesellschafteten Menschen zu tun hat, daß sie eine Spezialwissenschaft ist und keine Naturwissenschaft.4 Durchaus einverstanden, und ich wüßte kaum jemanden, der gegen diese nicht allzu tief verborgene Wahrheit ernstlich streiten möchte. Diehl kämpft allerdings mit großem Eifer und Feuer gegen eine Anzahl von vermeintlichen Gegnern dieser selbstverständlichen Wahrheit, aber nur, weil er den Marxschen Kernsatz einseitig überschätzt und deshalb gründlich mißversteht. Seine Prämisse ist untadelig: „[D]er einzelne Mensch mit seinen rein physischen Bedürfnissen und Trieben interessiert den Nationalökonomen nicht; das Einzelindividuum mit seinen körperlichen Bedürfnissen ist ein Objekt für die naturwissenschaftliche und medizinische Forschung, aber niemals für die Volkswirtschaftslehre. Für unsere Wissenschaft sind nur die in Gemeinschaft lebenden Individuen von Bedeutung."5
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Diehl, Theoretische Nationalökonomie, S. 325. Vgl. dazu Diehl selbst, ebenda, S. 322. Ebenda, S. 8. Ebenda, S. 22. Ebenda, S. 3.
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Ganz richtig! Aber dennoch ist der Schluß falsch: „Nie als Individuum hat der Mensch für uns Bedeutung". Doch! Zwar nicht als Individuum an sich, wohl aber, wie Diehl selbst sagt, als „in Gemeinschaft lebendes, als vergesellschaftetes Individuum". Diehl will nicht sehen, daß schon der allgemeine Begriff „Gesellschaft" den der Teile einschließt, und daß ebenso sehr das Vorhandensein mehrerer Glieder, wie das sie zur Gesellschaft zusammenknüpfende Band zu ihren konstituierenden M e r k m a l e n gehört. U n d daher kommt er zu der folgenden unhaltbaren Auffassung: „Nichts ist daher so irreführend als der Gedanke, daß die Privatwirtschaft oder die Einzelwirtschaft die Grundlage der Volkswirtschaft sei, und k a u m hat es ein schieferes Bild gegeben, als w e n n man davon gesprochen hat, daß die Privatwirtschaft die ,Zelle' der ganzen Volkswirtschaft wäre. Gerade umgekehrt liegt der Fall. Die Einzelwirtschaft oder die Privatwirtschaft ist nur ein dienendes Glied in der sozialen Gesamtorganisation, die w i r Volkswirtschaft nennen, und erst durch die volkswirtschaftliche Gesamtorganisation wird den einzelnen Privatwirtschaften Art, M a ß und Tempo ihrer Betätigung vorgeschrieben." 1 N e h m e n w i r selbst an, diese letzte Behauptung sei richtig - was sie nicht ist - geht daraus hervor, daß die Einzelwirtschaft nicht „die Grundlage der Volkswirtschaft" sein könne? Ich vermag das nicht einzusehen. Es möchte ihr in der Tat ri, Maß und Tempo ihrer Betätigung vorgeschrieben" werden; hängt darum ihre Existenz selbst, hängt darum die Essenz ihres Wesens, ihr „Sein an sich", von der Gesamtorganisation ab? Das wäre offenbar ein ungerechtfertigter Schluß. Aber die Behauptung selbst ist unrichtig. Sie verkennt das Wesen einer Gesellschaft durchaus. Hier herrscht Reziprozität der Funktionen oder, wenn Diehl durchaus will, der „Dienste". Das Ganze dient ebenso seinen Teilen, wie die Teile dem Ganzen dienen. Jedes Mitglied einer Gesellschaft sucht in ihr und durch sie Befriedigung bestimmter Bedürfnisse, die es nur, oder in diesem Ausmaß nur, durch sie und in ihr sättigen kann; und zu dem Zwecke richtet es seine Handlungen und Unterlassungen derart ein, daß seine Gesellschaft möglichst leistungsfähig sei; und umgekehrt kann die Gesellschaft ihre Gemeinschaftsbedürfnisse nur völlig befriedigen, w e n n ihre Mitglieder treu und opferwillig zu ihr stehen: sie richtet daher ihre Handlungen und Unterlassungen derart ein, daß ihre Mitglieder möglichst vollkommen befriedigt werden. W o diese Reziprozität nicht besteht, da ist, u m mit Simmel zu reden, so wenig von Gesellschaft „die Rede, wie zwischen dem Tischler und seiner Hobelbank". Darum gehört z. B. der Sklave nicht zur Gesellschaft. U m diese allgemeinen Sätze auf die Wirtschaftsgesellschaft anzuwenden, so besteht auch hier die volle Reziprozität der Funktionen. Der einzelne vergesellschaftete Wirt, die „ökonomische Person" Wagners, sucht in der Volkswirtschaft die möglichst vollkommene Befriedigung derjenigen seiner Bedürfnisse, die nur durch „kostende Objekte" 2 befriedigt werden können, und handelt zu diesem Zwecke derart, daß die Gesellschaft möglichst leistungsfähig sei - und die Gesellschaft ihrerseits richtet sich so ein, daß sie diesem Streben der Privatwirtschaften möglichst vollkommen entspreche, d. h. sie schafft sich die entsprechende Verfassung. (Davon wird sofort noch mehr zu sprechen sein.) Trotz Diehl; die Analogie zwischen der Wirtschaftsgesellschaft und ihren „Privatwirtschaften" einerseits, und dem Organismus und seinen „Zellen" andrerseits, ist nicht i m mindesten „irreführend"; beide Male waltet durchaus die gleiche Reziprozität der Funktion, und man kann ebensowenig sagen, daß der Organismus „nur" seinen Zellen, wie daß die Zellen „nur" ihrem Organismus dienen. Sie bilden eine funktionale Einheit! Ich möchte das an dem gleichen Beispiel beweisen, das Diehl als Beweis für seine Grundauffassung anführt: an der Zunftordnung. Er sagt, es „war die ganze Ordnung von dem Grundsatz beherrscht, daß die Kleinbetriebe erhalten werden sollen, und daß die Ausdehnung z u m Großbetrieb 1 2
Diehl, Theoretische Nationalökonomie, S. 9. Das sind nicht bloß Güter, wie Diehl meint, sondern auch „Dienste" und „Rechte und Verhältnisse".
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möglichst unterdrückt werden soll" 1 . Ich will diese Charakteristik, die ich als falsch nachzuweisen mich bemüht habe 2 einmal per inconcessum als richtig gelten lassen: ist es dann nicht klar, daß die Zunftordnung dem privatwirtschaftlichen Bedürfnisse der Zunftmeister „diente", ihnen eine übermächtige Konkurrenz v o m Halse zu halten? Wenn dem aber so ist, dann hat nicht nur die Gesellschaft als Totalität, sondern dann haben auch die vergesellschafteten Individuen „für uns Bedeutung". U n d die Ö k o n o m i e hat die Aufgabe, sich auch mit der Einzelwirtschaft als einem konstituierenden Teile der Gesellschaft zu befassen. Aber freilich nicht i m ungeregelten Durcheinander, wie das im allgemeinen geschieht, sondern in strenger systematischer Scheidung. Die Wissenschaft hat gerade hier das Prinzip der grundsätzlichen Disposition ihres Stoffes zu finden. N a c h meiner Definition, die v. Wieser in seiner „Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft" bereits akzeptiert hat, und die kaum jemand bestreiten wird, auch Diehl wohl nicht, da sie den sozialen Gesichtspunkt auf das Schärfste betont, ist die Ö k o n o m i k „die Lehre von der Gesellschaftswirtschaft einer Wirtschaftsgesellschaft" und zerfällt daher naturgemäß in die beiden Hauptteile der Theorie der Wirtschaftsgesellschaft (societas oeconomica) und der Gesellschaftswirtschaft (oeconomia socialis) 3 ; und diese letztere zerfällt wieder naturgemäß erstens in die Lehre von der vergesellschafteten Einzelwirtschaft, die ich „Personalökonomik" nenne, weil der Terminus „Privatökonomik" längst für die entsprechende Kunstlehre
in Anspruch genommen
ist, und zweitens in die Lehre von der Gemeinwirtschaft, der Marktwirtschaft",
die ich als
„ N a t i o n a l ö k o n o m i k " bezeichne. Wenn man diese Einteilung wählt, die der Stoff selbst gebieterisch fordert, anstatt der unglücklichen Sayschen Disposition, der Diehl folgen will, dann kann man (und muß man) in der Personalökonomik dem hier herrschenden „ökonomischen Prinzip" sein volles Recht einräumen, braucht aber dann in der Darstellung der Nationalökonomik überhaupt nicht mehr davon zu sprechen, weil die Grundlagen bereits gelegt sind. E s zeigt sich also, daß Diehl hier von einem ganz richtigen Gefühl geleitet worden ist. In die Lehre von der Marktwirtschaft gehört das ökonomische Prinzip in der Tat nicht hinein. Aber die Lehre von der Marktwirtschaft, die auch ich als Nationalökonomik bezeichne, ist nur ein Teil eines Teiles der Ö k o n o m i k . Diehl aber hält sie, ähnlich wie Amonn, auf den er sich billigend bezieht, 4 für das Ganze, und k o m m t dadurch völlig auf den falschen Weg. Denn nun will er „Volkswirtschaft" definieren, kann aber den Oberbegriff dieses Artbegriffes, den Begriff „Wirtschaft", überhaupt nicht mehr abgrenzen. Seine Definition mußte darum mehrfach zu weit werden - weil ihr das konstituierende Unterscheidungsmerkmal fehlte, das das Wirtschaftliche v o m /l«y?erwirtschaftllchen, ζ. B. der Technik, v o m Mc/>¿wirtschaftlichen, ζ. B. der religiösen oder rein geselligen, keiner Güter bedürfenden sozialen Tätigkeit, und vom ¿/«wirtschaftlichen, der Bedürfnisbefriedigung entgegen dem ökonomischen Prinzip, unterscheidet, wobei ich nicht noch einmal urgieren will, daß auch die widerrechtliche oder rechtlose soziale Bedürfnisbefriedigung, sicherlich gegen Diehls Absicht, unter seine Definition fällt: der Raubzug, der Eroberungskrieg, die gewaltsame Unterwerfung zu Sklaverei, Hörigkeit usw. Dieser Grundfehler der Auffassung hat aber weiter greifende Folgen. Wenn es nicht das ökonomische Prinzip sein soll, das die Wirtschaftsgesellschaft zusammenhält, wenn sie nicht für ihre Glieder „das kleinste Mittel z u m größten Erfolge" der sämtlichen Befriedigungen sein soll, die kostender Objekte bedürfen, - dann muß ein anderes verbindendes Prinzip aufgefunden werden:
1 Diehl, Theoretische Nationalökonomie, S. 9. 2 Siehe Oppenheimer, Großgrundeigentum und soziale Frage [in: derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995; A.d.R.]. 3 Nicht „oeconomica", wie Diehl (S. 474) fälschlich zitiert. 4 Diehl, Theoretische Nationalökonomie, S. 406f.
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und das kann kein anderes sein, als das Recht. So kommt Diehl von seinem falschen Ausgangspunkt aus mit zwingender Logik zu seiner „sozialrechtlichen" Auffassung. Er sagt: „Welches ist die gemeinschaftbildende Kraft, welche diesen Zusammenhalt schafft und die bewirkt, daß aus dem natürlichen Zusammenleben ein gesellschaftliches Zusammenwirken entsteht? Diese gemeinschaftsbildende Kraft ist die Rechtsordnung, welche die Menschen zusammenhält, welche durch äußeren Zwang feste Regeln und Normen des Zusammenlebens gibt und dadurch erst ein geregeltes und geordnetes Gemeinschaftsleben und damit ein wirtschaftliches Kulturleben möglich macht. Wirtschaftliche Erscheinungen sind erst dann vorhanden, wenn das ,Wirtschaften' der Menschen auf irgendeine Weise geordnet ist, und wenn dadurch das natürliche Triebleben der Menschen zu einem rationellen, gesellschaftlichen Leben sich erhebt."1 Hic haeret! Zunächst stellen wir erinnernd fest, daß dieser Grundpfeilersatz, weil aus einer falschen Prämisse abgeleitet, für uns keine zwingende Kraft hat. Trotzdem könnte er wahr sein. Lassen wir das vorläufig dahingestellt, und betrachten wir, wohin Diehl von diesem Standpunkte aus weiter gelangt. Da er die Rechtsordnung als das primum movens betrachtet (er fragt, soviel ich sehen kann, nirgend, aus welchen Wurzeln sie selber stamme), gibt es selbstverständlich für ihn so viele Wirtschafts- wie Rechtsordnungen.2 Und daraus folgt ein Schluß, der eigentlich den Autor hätte zwingen sollen, die Feder niederzulegen: es gibt keine Gesetze! „Nicht nur die Ndtwrgesetzlichkeit des sozialen Lebens ist abzulehnen, sondern jede Gesetzlichkeit, auch im Sinn des Telos."3 „Ich kann die Existenz volkswirtschaftlicher Gesetze selbst in dieser verklausulierten Weise nicht zugeben4: da wir die wirtschaftlichen Vorgänge nicht aus einem Wirtschaften der Menschen überhaupt, sondern aus einer bestimmten Rechtsordnung erklären, und da diese Rechtsordnung zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern ganz verschieden ist, kann es auch keine allgemeinen wirtschaftlichen Gesetze geben."5 Für jemanden, der vorwiegend Theoretiker ist und sich soeben anschickt, ein Lehrbuch der Theorie zu schreiben, das zum wenigsten in bezug auf den Umfang alles Vorangegangene in den Schatten stellen will, in der Tat ein niederschmetterndes Ergebnis! Denn wie soll man wohl vom Gesetzlosen eine Theorie, und das heißt doch „ein System der Gesetzmäßigkeiten" verfassen?! Wir haben demnach entweder gar keine Theorie zu erwarten, oder eine ganze Reihe von Theorien der verschiedenen Wirtschaftsperioden, etwa für „die agrarökonomische, die feudalistische, die zünftige und die kapitalistische"6. Und das würde ja den Umfang des Planes zur Genüge erklären. Was ist dazu zu sagen? Nun, einfach, daß Diehl den Wald buchstäblich vor lauter Bäumen nicht sieht. Seine Aufgabe wäre, dasjenige als das essentiell Volkswirtschaftsmäßige auszuscheiden, was in allen noch so verschiedenen Wirtschaftsperioden vorhanden ist und daher wohl von den verschiedenen Rechtsordnungen unabhängig sein muß. Dazu reicht seine Abstraktionskraft nicht hin. Er weiß zwar, daß man für dieses Allgemeine seit Jahren die Kooperation, die gesellschaftliche Arbeitsteilung und Vereinigung, gehalten hat: aber dieser Begriff erscheint ihm als allzu leer, um darauf eine Theorie zu bauen: „Was sollen wir uns unter .Arbeitsteilung' denken, wenn wir nicht wissen,
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Diehl, Theoretische Nationalökonomie, S. 5. Ebenda, z. B. S. 10 und S. 255. Ebenda, S. 19. Dies gegen Stammler, dem ich seine Verteidigung nicht vorwegzunehmen beabsichtige. Dies gegen Scbmoller. Diehl, Theoretische Nationalökonomie, S. 233, vgl. auch S. 235 und auch sonst vielfach passim. Ebenda, S. 255.
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nach welchen Normen diese Arbeitsteilung geregelt ist? Ohne Angabe der Wirtschaftsverfassung, von der die Arbeitsteilung nur ein Stück bildet, ist die Bezeichnung leer und bedeutungslos."1 Hier liegt der Hauptfehler. Das Prinzip der Kooperation ist durchaus nicht so „leer und bedeutungslos", wie Diehl annimmt. Es verhält sich ungefähr wie daß Prinzip der Gravitation, aus dem Newton und Kepler doch eine ganz gewaltige Wissenschaft heraus entwickelt haben. Man kann schon an der noch unentfalteten, noch nicht um einen Markt zentrierten Gesellschaftswirtschaft eine ganze Reihe wichtiger Gesetze erkennen, die von der Kooperation abhängen, wie ζ. B. die Vermehrung der Leistungsfähigkeit und des Reichtums der Gemeinschaft, die Vorteile der Spezialisierung usw. Vollends aber an der entfalteten, um einen Markt zentrierten Gesellschaftswirtschaft läßt sich ein ganzes und volles System aus dem einen Prinzip entwickeln, groß genug, um, wenn nicht vier, so doch einen starken Band darüber zu schreiben und eine Kunstlehre, eine Volkswirtschaftspolitik, solide zu unterbauen. Warum sieht Diehl das nicht? Ich glaube, aus zwei Gründen. Erstens, weil er als Gegenstand der nationalökonomischen Forschung nicht nur die Wirtschaftsordnungen betrachtet, die uns die Geschichte darstellt, sondern auch die Konstruktionen, die soziale Denker und Träumer aus dem Kopfe erfunden haben, ζ. B. den Anarchismus und Kommunismus, der eine marktlose Wirtschaft zusammenphantasiert. Das ist der erste Grund, aus dem heraus er dazu kommt, daß der Markt mit seinen Erscheinungen nicht essentiell zum Begriff einer höheren „Volkswirtschaft" gehört. Der Schluß ist nicht zwingend; als argumentum ad hominem wäre anzuführen, daß Diehl selbst einmal, und von seinem allgemeinen Standpunkte aus mit Recht, die Ökonomie für eine, im gewissen Sinne „historische" Disziplin erklärt, was doch wohl nicht anders zu verstehen ist, als daß ihr Gegenstand nur solche Wirtschaftsordnungen sind, die in der Wirklichkeit zu beobachten waren oder sind, und nicht Konstruktionen einer individuellen Phantasie, die nur nach der Meinung ihrer Verfasser dazu berufen sind, in Zukunft einmal historische Wirklichkeit zu werden. Man sollte doch wenigstens einmal genau hinsehen, ob diese sozialen homunculi außerhalb ihrer Retorte lebensfähig sein könnten. Aber freilich, das kann Diehl nach seiner eigenen Erklärung nicht leisten, denn dazu gehört der Besitz einer - Theorie, d. h. eines Systems von Gesetzen oder doch Gesetzmäßigkeiten. Der zweite Grund scheint mir ein persönlicher zu sein. Diehl besitzt die Abstraktionsfähigkeit nicht, um zu sehen, daß in allen historischen Wirtschaftsperioden die Gesellschaftswirtschaft jeder höheren Wirtschaftsgesellschaft ohne Ausnahme um einen Markt zentriert ist, daß es sich also wohl um Dinge handeln muß, die von der wechselnden Rechtsordnung unabhängig sind. Er hat den Blick für die Verschiedenheiten, aber nicht den für das Gleiche, den der Theoretiker braucht, den Blick für den roten Faden, der sich durch das Ganze der Entwicklung zieht. Hätte er diesen Blick, so hätte ihm nicht entgehen können, daß sogar in den zu Ende gedachten Konstruktionen der Kommunisten der vorn offiziell hinausgeworfene Markt durch die Hintertür heimlich wieder hereingelassen wird: Kautsky z. B. in seinem „Am Tage nach der sozialen Revolution" bietet den Arbeitern unangenehmerer Zweige kürzere Arbeitszeit und sogar höheren Lohn! Jedes ernste Durchdenken der Probleme muß aber zu der Erkenntnis führen, daß der Markt mit seiner Konkurrenz durch die Rechtsordnung mehr oder weniger eingeschränkt werden, aber niemals ganz ausgeschaltet werden kann: Wir erleben gerade jetzt in Hamsterei und Schleichhandel wieder einmal, was der Staat und das Recht gegen die Gesetze der Volkswirtschaft vermögen. Naturam expellas furca ... Und weil die großen Köpfe, die unsere Wissenschaft begründet haben, das sehr genau erkannt hatten, deshalb hielten sie die um ihren Markt zentrierte Gesellschaftswirtschaft für die „natürliche", für den „ordre naturel" - und hatten nach meiner bescheidenen Meinung Recht damit. Diehl beruft sich, wie so viele andere vor ihm, immer wieder darauf, daß aus der Prämisse dieser Voraussetzung viele Theoretiker der Vergangenheit durchaus falsche „Gesetze" abgeleitet haben. 1
Diehl, Theoretische Nationalökonomie, S. 200. Der erste Satz in buchstäblicher Wiederholung S. 260.
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Niemand leugnet das! Aber die formale Logik allein hätte Diehl belehren können, daß diese beklagenswerten Irrtümer aus zwei ganz verschiedenen Ursachen herstammen können: aus der falschen Prämisse einer „naturgesetzlichen" Auffassung, oder aus einem fehlerhaften Schlußverfahren, trotz richtiger Prämisse. Aber er ist so sehr Fanatiker seiner Auffassung, daß er mir offenbar nichts so übel genommen hat, als daß ich durch ein verändertes Schlußverfahren aus der von ihm verworfenen Prämisse und Methode heraus zu Ergebnissen gelangt bin, die die gegebene Wirklichkeit vollkommen ableiten und eben dadurch vollkommen erklären, d. h. Probleme lösen, die bisher noch nicht einmal gestellt werden konnten, wie ζ. B. das der Höhe des Kapitalprofits, oder des Zusammenhanges zwischen privatem und volkswirtschaftlichem Kapital. Diese Ergebnisse sind allerdings für Diehls Theorie sehr schmerzlich, die implicite dadurch widerlegt wird; aber dafür kann ich doch wahrlich nichts. Ich denke an Emile Dubois-Reymond, der einmal zornig zu seinem Schüler Bernstein sagte: „Ein Knabe hat es gewagt, meine Theorie zu vereinfachen" - die „Vereinfachung" war freilich eine Widerlegung gewesen. Es gibt also immanente Notwendigkeiten des Gesellschaftslebens, die von einer gewissen Volksdichtigkeit und Kulturstufe aufwärts die Entstehung eines Marktes mit seinem Getriebe von Konkurrenz und Arbeitsteilung erzwingen und bei wachsender Dichtigkeit und Kultur ihre Schöpfungen in ganz bestimmter Richtung entfalten. (Diehl spricht denn auch selbst oft von der „Entfaltung" oder „Entwicklung des Wirtschaftslebens".1) Das geschieht völlig unabhängig von jeder äußeren Staats- und Rechtsordnung; das ist die Essenz der Gesellschaftswirtschaft oder „Volkswirtschaft", ihr „Sein an sich". Und diese Organisation bedarf ihrer eigenen Verfassung, ihres eigenen Rechtes. Das kann die Gewalt brechen, der Staat verkrüppeln, oder aus ihm wichtigeren Gründen einschränken oder umbiegen: aber aufheben kann er es nicht, sonst sägt er den Ast ab, auf dem er sitzt. Kurz, er kann dieses „natürliche Recht" der Wirtschaftsgesellschaft ändern, aber er schafft es nicht: im Gegenteil; er hat sich ihm anzupassen, hat sein eigenes Recht damit in eine solche Übereinstimmung zu bringen, das die Gesellschaftswirtschaft wenigstens notdürftig vegetieren kann - sonst stirbt er mit ihr wie eine bösartige Geschwulst mit dem Körper, auf dem sie schmarotzt. Und daraus ergibt sich die Aufgabe der „reinen" Ökonomie, die Diehl leugnet. Sie hat die Verfassung, das Recht und die innere Ordnung der vom Staate nicht verkrüppelten oder veränderten oder nach fremden Gesichtspunkten umgebogenen Gesellschaftswirtschaft aus der Aufgabe der Gesellschaftswirtschaft abzuleiten, den kooperierenden Menschen als das kleinste Mittel zur Befriedigung ihrer sämtlichen Bedürfnisse zu dienen, die nur durch kostende Objekte gesättigt werden können. Diese Aufgabe haben ein Quesnay, ein Adam Smith, ein Saint-Simon, ein Dühring verstanden und teilweise gelöst; ich bin auf ihrem Wege ein Stück weitergegangen: es gibt keinen anderen Weg, um unsere Wissenschaft aufzubauen, die heute nur ein wüstes Trümmerfeld ist. Und nun zum Schlüsse noch ein grundsätzlich überaus Wichtiges. Diehl faßt das Recht auf als etwas durchaus Willkürliches, als die Schöpfung von Menschen, die zufällige Zwecke verfolgen; er betont überall, daß in allem Sozialen der menschliche Willen den Gang der Dinge bestimme. Schön! Aber wir weigern uns, hier stehenzubleiben, sondern fragen weiter rückwärts: Was bestimmt den menschlichen Willen? Wir sind ja doch wohl alle „Deterministen"? Die klassische Volkswirtschaftslehre hat uns den Anfang des Weges gezeigt, der zu diesem höchsten aller Ziele aller Geisteswissenschaft führt: sie erkannte, daß gewisse Gegebenheiten der menschlichen Psyche (ökonomisches Prinzip) zusammen mit den Gegebenheiten der natürlich-geographischen Grundlage des Gesellschaftslebens eine gewisse Ordnung und Verfassung der „Volkswirtschaft" unter allen Umständen erzwingen und gegen alle Widerstände aufrechterhalten, d. h.
1 Diehl, Theoretische Nationalökonomie, z. B. S. 47.
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also doch wohl, daß sie den Willen aller Beteiligten in einer bestimmten Art „determinieren". Hier weiterzugehen ist die Aufgabe der Wissenschaft - und Diehl stellt sich mit dem Flammenschwert des kritischen Cherub ihr in den Weg! Er schreibt einen ganzen Abschnitt über „Soziologie" und weiß doch nicht, daß ihr gerade diese Aufgabe gestellt ist: die Gesetze der sozialen Determination des menschlichen Willens und daher der menschlichen Gruppenhandlung zu studieren und soweit wie möglich festzustellen, trotzdem sich gerade das aus der jahrzehntelangen Gärung der jungen Disziplin endlich herausgeklärt hat. Sie ist weder ein Sammelname für die Summe der sozialen Geisteswissenschaften, noch eine Spezialdisziplin, die sich mit den „Formen der Gesellschaft" beschäftigt (Simmel selbst hat diesen Gedanken neuerdings fallenlassen; diese Spezialdisziplin gilt ihm heute nur noch als „reine Soziologie", als der Kern eines größeren Ganzen), sondern sie ist eine neue Universalwissenschaft, ist die „Erkenntnistheorie" der Geisteswissenschaften: und ihre Aufgabe ist, wie gesagt, vor allem die Feststellung des gesetzlichen - es tut mir leid, das verpönte Wort anwenden zu müssen - Mechanismus, der den Willen der Gruppen und dadurch den der einzelnen determiniert. Mit die besten Vorarbeiten auf diesem Felde danken wir Durkheim - und gerade diesem Denker muß es geschehen, daß Diehl sich für seine grundsätzlich abweichende Auffassung auf ihr beruft!1 So kann ich denn nur zu einer runden und unzweideutigen Ablehnung dieser ganzen „sozialrechtlichen" Richtung kommen, die Diehl uns aufzuzwingen versucht. Das Buch ist als Ganzes völlig verfehlt, trotz mancher guten Einzelheit namentlich in der Kritik. Es ist verfehlt der allgemeinen Auffassung nach, aber auch der Anlage nach - wenn es nicht etwa nur für das „Bäckerdutzend" theoretischer Fachmänner Deutschlands geschrieben ist. Den Studenten kann es theoretisch nur auf falsche Wege leiten, und zu der Kritik Diehls im einzelnen an seinen Vorgängern und Mitbewerbern kann der Student unmöglich selbständig Stellung nehmen, ehe er nicht wenigstens Diehls eigene Theorie aufgenommen hat, die ihm einen festen Standpunkt gegenüber den Einzelproblemen zu geben hätte. Darum hätte nach meiner Meinung diese ganze ausführliche Ubersicht und Kritik der diversen „Richtungen" nicht in die Einleitung des Systems gehört, sondern als kritische Sicherung der positiven Theoretik an ihren Schluß. Dem Fachmann freilich mag die überaus fleißige, von großer Belesenheit zeugende Arbeit manches bieten - vor allem freilich Grund zu eigenem produktiven Widerspruch. Wenden wir uns nun dem zweiten System zu, das gleichfalls mit einem Einleitungsband auf den Plan tritt. Es ist, um es zu wiederholen, von genau entgegengesetztem Standpunkt genau so einseitig und darum als Ganzes ebenso falsch. Wir sprechen von Liefmanns „Grundsätzen"2. Man sah dem Erscheinen dieses Buches seit mehreren Jahren mit einer gewissen Spannung entgegen, denn der Verfasser hatte alles Erdenkliche getan, um in immer wiederholten, kleinen Publikationen die wissenschaftliche Welt auf diese unerhörte Leistung aufmerksam zu machen und würdig vorzubereiten. Immer wieder hörten wir, es werde ein Buch erscheinen, das alles bisher Dagewesene nicht nur verdunkeln, sondern geradezu erschlagen, auslöschen werde. Alles, was bisher über Nationalökonomie gedacht und geschrieben war, war danach bestenfalls, in seinen erlauchtesten Werken, schüchterner Ansatz zur ersten Morgendämmerung der Wahrheit; alles andere war plumper Irrtum, unbegreifliche Torheit, Verblendung, Verranntheit. Nun liegt die Leistung vor, und man muß bedauernd sagen, daß sie den ungünstigen Eindruck, den man durch all das erhalten hatte, nur bestätigt, ja vertieft. Liefmann ist zweifellos ein Mann von einer nicht verächtlichen Begabung zum theoretischen und sogar systematischen Denken, mit ei-
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Diehl, Theoretische Nationalökonomie, S. 34. Liefmann, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, I. Bd.: Grundlage der Wirtschaft, Stuttgart/Berlin 1917.
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nem starken Bedürfnis zur logischen Einheit und daher zur Einordnung aller Teiltheorien in ein geschlossenes Gedankengebäude. Solche Köpfe, selbst geringeren Ranges, sind heutzutage so selten, namentlich in unserer deutschen Nationalökonomie, daß ich nur mit Widerstreben hart gegen einen Denker bin, der doch schließlich mit mir einen Kampf kämpft gegen die theoretisch Bedürfnislosen und ihre Gewaltherrschaft. Aber es hilft nichts. Die Wahrheit muß gesagt werden, wie ich sie sehe, und da muß eben ausgesprochen werden, daß alle ursprüngliche Begabung des Mannes nicht aufkommen kann gegen sein unglückliches Temperament. Daß er sich selbst über alles Maß hoch einschätzt - er erklärt sich an tausend Stellen für den Anfang und das Ende aller eigentlichen ökonomischen Wissenschaft - das wirkt in der durch keine Hemmung gezügelten Naivität des Selbstbekenntnisses nur lächerlich; es hat aber in seiner negativen Auswirkung die Folge, daß Liefmann völlig außerstande ist, seine Vorgänger - nicht etwa zu würdigen, nein, auch nur zu verstehen. Natürlich ist Liefmann von der Kritik schlecht behandelt worden; auch ein viel besserer Theoretiker wäre im Deutschland der Schmollerschule schlecht behandelt worden, aber das ist doch kein Grund, um die Haltung zu verlieren. Wenn man Recht hat, beißt man sich schon durch, und zwar um so später, je mehr man Recht hat. Liefmann aber hat die Haltung völlig verloren, und das macht sein Buch zu einem der peinlichsten, die je geschrieben wurden. Hunderte von Seiten sind der Polemik nicht nur gegen Männer von Rang und Bedeutung, sondern auch gegen Hinz und Kunz gewidmet, die niemanden interessieren als sich selbst. Und diese Polemik ist fast überall zänkisch, ja keifend. Es gehört ein starker Magen und ein noch stärkeres Pflichtgefühl im kritischen Richteramt dazu, um sich durch dieses Gezeter hindurch zu arbeiten, bis endlich, endlich nicht mehr ausschließlich von der Person des Autors, sondern von seiner Sache die Rede ist. Auf Seite 223 (!) (und dazu sind noch 24 Seiten des Vorwortes zu zählen) erklärt er, zur Sache kommen zu wollen: aber erst Seite 241 fängt die eigentliche Darstellung wirklich an. Und auch dann noch wird fast Seite auf Seite weiter polemisiert und gezankt. Aus dieser Veranlagung folgt, daß das ganze Buch so mangelhaft disponiert ist, wie die eben gemachten Angaben über den Anfang bereits dartun. Die gegebene Anordnung des Stoffes war selbstverständlich die, daß der Autor seinen Lesern zuerst einmal in geschlossener Darstellung seine eigene Auffassung entwickelte; dann, wenn man wußte, was er, und aus welchen Gründen er es für wahr hält, konnte die Polemik einsetzen und zur Entscheidung geführt werden. Statt dessen macht die Polemik den Anfang, ehe man noch weiß, wohinaus der Autor will und jedenfalls, ehe man seine guten oder schlechten Gründe hat prüfen können. Er wirtschaftet auch hier durchaus auf Kredit, indem er dem Leser zumutet, seine Formeln vorläufig einmal als der Weisheit letzten Schluß anzunehmen: die Phrase „wie wir später zeigen werden" wiederholt sich fortwährend. Es ist aber niemand geneigt, unbekannte Banknoten in Zahlung zu nehmen, besonders wenn der Ausgeber ohne Ende behauptet, alle anderen Noten seien völlig wertlos. Und das wiederholt sich bis zum Schluß. Fortwährend wird auf den zweiten Band verwiesen, der alle Rätsel lösen werde. Das ist ein unmögliches Verfahren, namentlich wenn uns unter den gröbsten Beschimpfungen und Drohungen mit dem Urteil der Totenrichter immer wieder zugemutet wird, alles zu verfluchen, was wir bisher angebetet haben, und nur noch den neuen Gott zu verehren. Es sei nun versucht, Ordnung und Folge in das Chaos zu bringen und zugleich eine zureichende Kritik zu geben. Ganz kann das nicht gelingen, weil man dann ein ebenso dickes Buch darüber schreiben müßte - und mir scheint, als habe man besseres zu tun. Der Ausgangspunkt des Liefmannschen Denkens ist untadelhaft: es ist der schon geschilderte, jedem Fachmann sattsam bekannte Zustand unserer theoretischen Ökonomik, die man sehr höflich als einen Trümmerhaufen charakterisiert hat. Zuerst hat der Sozialismus durch Saint-Simon, Sismondi, Rodbertus, Marx, Proudhon usw. das alte klassische Lehrgebäude, das zur reinen Apologe-
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tik, zur Klassenadvokatie der Bourgeoiswirtschaft, entartet war, in die Luft gesprengt, dann hat der Historismus der Schmollerschule alle theoretische Bemühung, in Deutschland wenigstens, mit Bann und Interdikt belegt, und schließlich hat die österreichische Schule mit ihren Annexen vorwiegend Psychologie - und zwar eine ziemlich wilde - und neuerdings gar Methodologie betrieben und kecklich behauptet, das sei Ökonomik. Das Ergebnis war bei guten Köpfen, wie ζ. B. Amonn und Schumpeter, eine bis zur Verzweiflung gehende Resignation, und bei den weniger guten eine fürchterliche Konfusion. Davon legt das erste als solches angelegte System der Theorie der Österreicher - vorher gab es nur Einzeluntersuchungen - das v. Wiesers, schreckliches Zeugnis ab. Es ist der Bankrott! Liefmann ist nun der Meinung, daß diese Verwirrung nur daher stamme, daß die bisherige Theorie fortwährend Wirtschaft und Technik miteinander verwirrt habe. Sie sei immer, und ohne eine andere Ausnahme als Gossen, „technisch-materialistisch" gewesen. Die Anschauung ist nicht ohne Grund, wenn sie auch übertrieben und aufgebauscht wird.1 In der Tat beginnt alle große Verwirrung in der Theorie bereits vor Adam Smith mit dem groben Schnitzer der bekannten Kapitaltheorie. Das Problem war, wie ein rentierender Eigentumstitel (jetzt genannt „Kapital in privatwirtschaftlichem Sinne") zu dem Einkommen des Profits kommt: und die Klassik antwortete durch die logische Volte, die produzierten Produktionsmittel (jetzt genannt „Kapital in volkswirtschaftlichem Sinne") gleichfalls „Kapital" zu nennen, und nunmehr den Profit des ersten auf die Produktionsvermehrung des zweiten zu beziehen. Ans dieser Wurzel stammen in der Tat fast alle Irrungen und Wirrungen der Lehre von der Verteilung. Dann hat - und namentlich diesen Punkt hebt Liefmann mit Kraft und Geschick glücklich heraus, wie er denn überhaupt in der Kritik häufig seine angeborene theoretische Stärke zeigt - dann hat die Grenznutzenschule einen ganz ähnlichen grundsätzlichen Fehler begangen, und zwar vor allem in ihrer ebenso berühmten wie verzwickten Lehre von der „Zurechnung". Hier wird der angeblich ausscheidbare „produktive Beitrag" jedes der beteiligten „Produktionsfaktoren" für die Anteile verantwortlich gemacht, die die Eigentümer des Bodens, des „Kapitals" und der „Arbeitskraft" an dem gemeinsamen Produkt erhalten, als „Wert" ihrer Leistung. Liefmann hat durchaus Recht, wenn er gegen diese Theorie zu Felde zieht, die in der Tat bereits prima vista, ganz abgesehen von ihren inneren Widersprüchen, eine logische Unmöglichkeit ist. Unzweifelhaft - auch das ist wahr - ist diese ganze Theorie der Zurechnung nichts anderes als eine Modernisierung der alten falschen Lehre von den „produktiven Diensten" der „Produktionsagenten", wie sie schon Say und namentlich Bastiat vorgetragen haben, und wie sie vor allem Ricardo in seiner genialen Differential-Theorie für die Grundrente aufgebaut hat. Auf das Kapital angewendet, hat sie dann zu den verschiedenen, heute wohl allgemein als durchaus unhaltbar anerkannten Theorien von der „Wertproduktivität" des volkswirtschaftlichen Kapitals geführt. Schon hier war der logische Fehler grob: die Vorstellung, daß Boden und produzierte Produktionsmittel ein Einkommen haben können. Aber er wird noch gröber in der grenznutzlerischen Variante: denn sie will bekanntlich alle Erscheinungen der Wirtschaft auf psychische Wertschätzungen zurückführen - und da fehlt vollends das logische Bindeglied zwischen einem materiellen Anteil am technischen Erzeugnis auf der einen - und der inneren Wertschätzung dieses Anteils durch das Individuum, das das Erzeugnis begehrt, auf der anderen Seite. Diesen logischen Widerspruch hat Liefmann auf das Stärkste empfunden, und wie gesagt, sehr hübsch und treffend nachgewiesen. Und nun ergab sich ihm die Aufgabe, das als falsch erkannte System durch ein richtiges zu ersetzen, und zwar durch ein einheitliches, in sich geschlossenes. Bis hierher ist, abgesehen von den unerträglichen Unarten der Darstellung, nichts zu bemängeln. 1
Die Alten haben die Grenze nicht beachtet, aber es ist falsch zu behaupten, daß sie Wirtschaft und Technik verwechselt
haben (Liefmann, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, z. B. S. 5).
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Auch noch nicht beim nächsten Schritte! Es war mit Recht erkannt worden, daß mindestens der Hauptteil der Fehler der älteren Theoretik auf der Verwirrung von Wirtschaft und Technik beruhte. Die Aufgabe war also, die Grenzlinie zwischen beiden genau festzulegen und auf das Sorgfältigste zu respektieren. Und hier beginnt nun der Weg abzuzweigen, der, wenigstens nach meiner unmaßgeblichen Uberzeugung, Liefmann völlig in die Irre geführt hat. Er nennt die ältere Auffassung „technisch-materialistisch". Schon aus der Wortwahl geht hervor, daß er alles in ihr für technologisch hält, was sich auf materielle Dinge, Güter also, bezieht. Und das ist der Grundfehler. Ich will versuchen, mich in möglichstes Kürze verständlich zu machen. Unsere Wissenschaft baut sich in drei Stockwerken auf, deren unterstes eigentlich einer eigenen selbständigen Nachbarwissenschaft zugehört, der Psychologie. Da diese aber leider, wie Liefmann wieder mit Recht - allerdings längst nicht als erster - feststellt, die nötige Arbeit bisher nicht geleistet hat, so hat die Ökonomik sie wohl oder übel selbst in Angriff nehmen müssen; und zahlt denn auch heute noch das Lehrgeld des Dilettanten. Hier ist zu untersuchen, welche Motive den Menschen überhaupt zum „Wirtschaften" veranlassen, welche Erwägungen ihn in jedem Augenblicke leiten usw., und hier ist die Begriffsbestimmung der „Wirtschaft" zu finden, die dem Betrieb der Ökonomik selbst bereits zugrunde liegen muß. Jede Wissenschaft muß ja ihre grundlegenden Definitionen und Axiome einer anderen entnehmen, außer der Logik und ihrer Anwendung, der Mathematik. Die eigentliche Ökonomik zerfällt nun wieder in mehrere Stockwerke. Sie ist die Lehre von der Gesellschaftswirtschaft einer Wirtschaftsgesellschaft.1 Und darum hat die Ökonomik folgenden naturgemäßen Aufbau: zuerst die Lehre von der Wirtschaftsgesellschaft, namentlich der uns vor allem interessierenden: der um einen Markt zentrierten, entfalteten: ihre Entwicklung aus der noch unentfalteten, noch marktlosen, zu immer höheren Stufen der Kooperation, und ihre typische Zusammensetzung, typisch, insofern man hier von allen temporären und nationalen Besonderheiten abstrahiert. Das ist in meiner Terminologie die „ökonomische Soziologie". Dann hat als zweiter Hauptteil die Lehre von der Gesellschaftswirtschaft, die „Sozialökonomik", zu folgen. Da nun eine Gesellschaft regelmäßig aus einzelnen besteht, die - wir haben es schon gegen Diehl bemerkt - regelmäßig ihre Sonderzwecke durch die Vergesellschaftung zu erreichen streben, Zwecke, die sie isoliert entweder gar nicht oder doch nur in geringerem Maße erreichen könnten, so zerfällt dieser zweite Hauptteil wieder naturgemäß in zwei Unterteile: erstens die Lehre von der Einzelwirtschaft, die ich als „Personalökonomik"2 bezeichnet habe, weil es sich um die Wirtschaft „ökonomischer Personen" (Adolph Wagner) handelt; - und zweitens die Lehre von der Marktwirtschaft (meine „Nationalökonomik"). Es ist klar, daß man ohne genügendes Verständnis der psychologischen Grundlagen die personalökonomischen Probleme nicht befriedigend stellen und lösen kann, und daß man wieder ohne genügendes Verständnis der Personalökonomik die Lehre von der Marktgesellschaft und ihrer Wirtschaft nicht voll ausbauen kann. Das ist Liefmanns richtiges Empfinden, und von diesem läßt er sich leiten. Aber er macht sofort beim ersten Schritt einen verhängnisvollen Fehler. Weil im untersten Stockwerk psychologische, 1
2
So sage ich, um den Ausdruck „Volkswirtschaft" zu vermeiden, der für mich allerdings ungefähr ein „politisch-wirtschaftlicher" Begriff ist (Liefmann, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, S. 123), und den ich für die Stufenfolge (Dorf-, Stadt-, Territorial-, Volks-, Weltwirtschaft) aufzubewahren wünsche. Wir dürfen aber, wenn wir uns dieser strengeren Ausdrucksweise bedienen, nicht vergessen, daß die älteren Autoren sehr oft „Volkswirtschaft" als synonym mit „Gesellschaftswirtschaft" (leider auch mit „Wirtschaftsgesellschaft") gebraucht haben, ohne jeden politischen Nebenklang. Das sieht Liefmann selbst (z. B. S. 130f.). Ungefähr das gleiche nennt man neuerdings öfter „Privatökonomie". Der Name ist schlecht, weil er bereits für die Kunstlehre der Einzelwirtschaft in Gebrauch ist; freilich gehen diesen Autoren Theorie und Kunstlehre regelmäßig durcheinander.
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nur psychologische Kräfte wirken (und selbstverständlich per definitionem keine anderen wirken können), schließt er, daß auch bis ins oberste Stockwerk der Marktwirtschaft hinein keine anderen wirksam sein können. U n d k o m m t so zu den Vorstellungen, die seiner Lehre den N a m e n gaben, zu der „psychischen Theorie" der Wirtschaft. D a s ist das πρώτον πσεΰδος! So löblich es nämlich ist, daß Liefmann die Einheit der Kraft mit allem Nachdruck betont, die in allen drei Stockwerken das Getriebe der Wirtschaft in G a n g hält, so falsch ist es, daß er dabei der Transformation
der Kraft in verschiedene Erscheinungsformen nicht
gerecht wird. Wenn ein Beispiel aus anderem Gebiete - es ist vielleicht nicht einmal ein sehr fremdes - zur Illustration herangezogen werden darf, so ist sicher alle Energie auf diesem Planeten Sonnenwärme, gegenwärtige oder in Kohle usw. oder in gehobenem Wasser aufgespeicherte. Aber was gewinnen wir an spezieller Erkenntnis, wenn wir immer nur - und mit Recht - behaupten, daß die mechanische Energie, die ζ. B. den Motor dreht, und die elektrische, die in Glühlampen und Werkmaschinen Arbeit leistet, daß die chemische Energie in der Pflanze, die Willensenergie in Ganglion und N e r v , die die Handlung richtet, und die Muskelenergie, die in der Bewegung zutage tritt, Sonnenwärme ist?! Es ist gut, das zu wissen, vielleicht notwendig, es zu wissen, aber dann beginnt doch wohl für Elektrotechnik, Physiologie, Psychologie und Soziologie erst ihre eigentliche, ihre Sonderaufgabe?! Liefmann wird nicht müde, zu wiederholen, daß im ganzen U m f a n g der Ö k o n o m i e bis zuletzt von nichts anderem die Rede sein darf, als von „psychischen Erwägungen", von „Nutzen- und Kostenvergleichen". Daß kann uns nicht bis ans Ende führen. Tatsächlich liegen die Dinge so, daß in der Personalökonomie
diese Erwägungen als Motive der
Handlungen eine sehr starke Rolle spielen. Aber sie werden schon sozusagen objektiviert an äußeren Objekten, unter denen materielle
Objekte, die sog. „Güter", besonders auffallen. A n diese Ob-
jekte fixiert sich die Erfahrung, daß sie die Fähigkeit haben, gewisse Bedürfnisse zu befriedigen, als ihr „subjektiver", - und fixiert sich ebenfalls die Erfahrung, daß zu ihrer Erlangung gewisse Widerstände überwunden, gewisse „Kosten" aufgewendet werden müssen, als ihr „objektiver Wert"; und es ist der aus beidem, aus N u t z e n und Kosten „kombinierte Wertmaßstab", der die Handlungen des Einzelwirtes, der einzelnen „ökonomischen Person" bestimmt. 1 Sobald wir aber z u m obersten, zum dritten Stockwerk, dem der Marktwirtschaft kommen, hat sich die ursprünglich rein psychische Energie bis zur Unkenntlichkeit in eine ganz andere F o r m transformiert. Liefmann spricht selbst, ganz richtig, an unzähligen Stellen von dem „tauschwirtschaftlichen Mechanismus"; und das ist er in der Tat: ein Mechanismus,
der nur durch eine ein-
zige Kraft bewegt wird: durch Angebot und Nachfrage, die auf die Dauer und im Durchschnitt, d. h. in dem Gedankenbilde der Statik, den Preis aller „kostenden Objekte" auf ihren „Wert" im Sinne der alten Theorie, auf ihren „natürlichen Preis", den „statischen Preis" der Neueren, zu fixieren tendiert und dadurch, durch Attraktion und Repulsion, das Ausmaß der Produktion und gleichzeitig die „Distribution" reguliert. 2 Die psychischen Kräfte haben sich hier vollkommen in quantitativ meßbare, aneinander wägbare, wenn Liefmann will, materialistische Kräfte verwandelt, und nur vor dieser, ihrer neuen F o r m ist hier noch die Rede, darf hier noch die Rede sein.
1
Liefmann behauptet, auch diesen Gedanken zuerst entwickelt zu haben. Gegen die Grenznutzler hat der Recht. Mir kann er die Priorität nicht wohl bestreiten (vgl. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, 1. Auflage, Berlin 1910, S. 341f.). Er ist nur viel ausführlicher als ich, aber erstlich ist der Grundgedanke des Nutzen- und Kostenvergleichs bei mir völlig klar dargestellt, und zweitens sind mir seine Einzelausführungen sehr bedenklich. Davon später.
2
Es scheint, als ob wir damit für Liefmann lauter Sakrilegien begingen. Wir können es nicht genau wissen, da der zweite Band noch nicht vorliegt. Aber für ihn „sind die Preise niemals das Maß irgendeines Güterwertes" (Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, S. 9); er will von der „statischen Auffassung durchaus nichts wissen" (S. 8, Anm.; S. 29f., S. 447). Den Verteilungsgedanken nennt er eine „Fiktion" (S. 166).
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Dieser Mechanismus ist es, der die Klassiker vor allem interessiert hat, und er bietet denn auch in der Tat die nationalökonomisch vor allem interessanten Probleme dar. 1 Daher kommt ihre „quantitativ-materialistische" Stellungnahme, die Liefmann mit Recht angreift, w o sie Technologisches, dem Gebiet der Erzeugung der Güter Angehörendes, in die wirtschaftlichen Erörterungen eingeschmuggelt haben; die er aber zu Unrecht angreift, wenn er ihre grundsätzliche Methode bemängelt. Daß man mit ihrer Methode, richtig angewendet zu einem, von allem Technologischen freien System gelangen kann, glaube ich dargetan zu haben; ich spreche in der Nationalökonomik nur noch vom „Produzieren" und seinen Ableitungen i m Sinne von „zu Markte bringen"; v o m „Erzeugen" usw. ist durchaus nicht mehr die Rede, ebenso wenig von „Zurechnung", außer einmal, u m zu zeigen, daß die allgemeine Uberzeugung fälschlich dem Kapital in volkswirtschaftlichen Sinne den Profit zurechnet, der in der Tat der Monopolgewinn des Klassenmonopols an Grund und Boden ist; ich gebrauche das Wort „Kapital" ex professo nur für das Privatkapital, den „rentierenden Eigentumstitel", und nenne das produzierte Produktionsmittel „gesellschaftliches Beschaffungsgut"; ich erkläre mehrfach, daß die Mitglieder der Wirtschaftsgesellschaft auf dem Markte, streng gesehen, auch dann nur immaterielle Leistungen, „Dienste", tauschen, wenn sie Güter tauschen, weil der Stoff, an den die Leistung fixiert ist, an sich keinen Wert hat, und darum nicht Gegenstand der Wirtschaft sein kann. U n d ich erkläre weiter, daß es zwischen den Marktbesuchern nur zwei Arten der Beziehung gibt: als Kontrahenten eines Tauschgeschäfts, und als Konkurrenten u m ein Tauschgeschäft; daß alle „Erzeugung" (in Liefmanns Terminologie „Produktion") nur in die Personalwirtschaft gehört und keinem anderen Zwecke dient, als der Versorgung des Erzeugers selbst (nicht etwa seiner Abnehmer) mit den Mitteln seiner Bedarfsbefriedigung, sei es unmittelbar in der Selbstversorgung, sei es mittelbar durch Tausch des Erzeugten gegen das von anderen besessene Bedurfte. Ich fordere Liefmann auf, mir auch nur eine einzige Stelle meiner Bücher zu zeigen, w o ich die Grenze z u m Technologischen hin überschritten habe. Dadurch ist der Beweis erbracht, daß man mit der - richtig angewandten - Methode der Klassik sich sehr wohl im Gebiete des eigentlich Wirtschaftlichen halten kann. W e n n Liefmann das nicht sieht, so liegt das an der schon dargestellten Verwechslung zwischen dem Technologischen und dem quantitativ Bestimmten dieser klassischen Methode. Hier ist er, wie auch sonst vielfach, durchaus in den Gedankenkreis der Schule verstrickt, die er fast am leidenschaftlichsten bekämpft, der Grenznutzentheoretiker. Er nimmt ihr verwerfendes Urteil über die klassische Auffassung, die nicht mit subjektiven (Intensitäts-), sondern mit objektiven (Extensitäts-) Größen rechnet, unbesehen an. Er charakterisiert den Standpunkt der „Arbeitswerttheorie" folgendermaßen: „Alle Güter kosten im letzten Grunde nur Arbeit, daher ist ihr Wert auch entsprechend der in ihnen verkörperten Arbeit." 2 Diese Charakteristik ist falsch! Sie gilt nur für den einen Teil der Güter, nämlich für die Klasse der „beliebig reproduzierbaren" Güter, aber ausdrücklich nicht für die Monopolgüter! Daß die Klassiker selbst bei der Anwendung ihrer Methode die Monopolgüter völlig vernachlässigt haben, war ihr schwerer Fehler; war der einzige Grund dafür, daß sie nicht erklären konnten, w a r u m „der Wert mancher Güter enorm über der in ihnen verkörperten Arbeit steht"; w a r u m „Wert der Güter und Arbeit keinesfalls proportional sind", und w a r u m „es doch auch Güter gibt, die gar nicht produziert werden können und dennoch einen ,Wert' haben und einen Preis
1
2
Aus diesen Gründen, dem dogmenhistorischen und dem des Interesses, habe ich denn auch diesen zweiten Teil der Sozialökonomik als „Nationalökonomik" bezeichnet. Er deckt sich fast völlig mit dem von den Klassikern behandelten Problemkreis. Liefmann, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, S. 518.
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erzielen". 1 Diese Abweichungen von der Regel lassen sich ohne weiteres erklären, wenn man den Monopolbegriff richtig heranzieht. 2 Hier ist Liefmann den Grenznutziern blind gefolgt, was schon daraus hervorgeht, daß wir soeben die einzige Stelle in dem ganzen starken Bande zitiert haben, wo von diesen wichtigen Dingen überhaupt die Rede ist. Und das ist ein schlimmes Zeichen für jemanden, der so hohe Ansprüche an seine Kritiker stellt, sie also auch wohl an sich stellen müßte. Er führt öfter meine Arbeiten an, fast immer strikt ablehnend, einmal sogar mit einer Form der Kritik, die ich, wenn ich milde sein will, nur als Ungezogenheit kennzeichnen kann 3 - ich komme darauf zurück - ; und erwähnt doch nirgends, daß ich die Gründe billige, aus denen die Grenznutzentheoretiker die klassische Wertlehre aufgegeben haben - sie dreht sich in der Tat im Zirkel - , daß ich aber eine Formel für den Tauschwert gefunden zu haben glaube, die diesen logischen Fehler vermeidet. 4 Damit ist das Wiederaufnahmeverfahren vor dem Forum der Wissenschaft gesichert: denn die objektive Werttheorie ist nur wegen dieses einen genau bezeichneten Fehlers aufgegeben worden; wenn dieser Fehler ihr nicht essentiell, sondern nur akzidentell ist, wie ich behaupte und nachgewiesen zu haben glaube, dann steht sie wieder vollberechtigt auf dem Kampfplatz, um so mehr, als inzwischen der Bankerott der Grenznutzler erklärt ist. Liefmann aber, der irrtümlicherweise den Rückweg zur objektiven Theorie der Marktwirtschaft ungangbar glaubt, wählt nun den einzigen Weg, der ihm noch offen zu sein scheint, den Weg der konsequenten, subjektiven, psychischen, ausschließlich psychischen Erklärung. Auch in der Marktwirtschaft, überhaupt im ganzen Gebiet der Wirtschaft, soll keine andere Kraft wirksam sein, als das „Nutzen- und Kostenvergleichen". Zu dem Zwecke muß er alle naturgegebenen Grenzlinien zwischen der Psychologie und der Wirtschaft, und hier zwischen der Personalwirtschaft und der Marktwirtschaft nach Möglichkeit verwischen. Das erste gelingt ihm durch ein erstaunliches Quidproquo. Zwar nennt er selbst die individuellen Zwecke (in Ubereinstimmung mit mir, dem Motiv und Zweck als ebenso „außerwirtschaftlich" gelten wie der Konsum) gelegentlich „vorwirtschaftlich" 5 ; aber dann identifiziert er dieses Vorwirtschaftliche dennoch mit dem rein Wirtschaftlichen, und zwar zunächst dem Personalwirtschaftlichen meiner Auffassung. [Auf] Seite 288 findet sich die folgende Stelle: „Nutzen und Kosten, Lust- und Unlustgefühle vergleichen nach dem ökonomischen Prinzip, oder möglichst großen Nutzen oder Genuß mit möglichst geringen Kosten zu erlangen suchen, das ist wirtschaftliches Handeln." Also vergleichen ist handeln? Damit ist die Grenzlinie verletzt, die das Psychologische vom Wirtschaftlichen trennt. Vergleichen ist ein Psychisches, Handeln ist erst seine Folge, ist etwas auf materielle Dinge Gerichtetes, ist Ausgabe von Körperenergie zu Zwecken, ist nichts Psychisches mehr, sondern nur noch (selbstverständlich, denn wir sprechen ja von bewußten menschlichen Zweckhandlungen) etwas psychisch Verursachtes
- wie der Gedanke etwas durch Sonnenenergie Verur-
sachtes ist, etwas völlig Transformiertes und gerade nur in dieser neuen Gestalt Interessantes. 6
1
Liefmann, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, S. 518.
2
Richtig, d. h. nicht nach Liefmanns Methode. E r hat die Terminologie verdorben und nicht erkannt, daß „beschränkte Konkurrenz" im Sinne der Klassiker doch auch M o n o p o l ist. Vgl. dazu Oppenheimer, Wert und Kapitalprofit, 1. Auflage, Jena 1916, S. 81ff. [Vgl. den Abdruck der dritten, veränderten Auflage von 1926, im vorliegenden Band, S. 2 3 1 - 2 8 6 ; A.d.R.]
3 4
Liefmann, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, S. 553. Vgl. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ö k o n o m i e , S. 354ff. und derselbe, Wert und Kapitalprofit, passim, ζ. Β . S. 54.
5
Vgl. Liefmann, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, ζ. B. S. 13. D e r Zweck wird als gegeben vorausgesetzt (ebenda, S. 141).
6
J e d e Tätigkeit [...] ist nur Mittel, wir kommen auf etwas Psychisches; Wirtschaften ist das Disponieren, Erwägungen anstellen, wie die aufzuwendenden Mittel, nicht materialistisch, sondern im Sinne der L o g i k ß )
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Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
Die Dinge liegen so, daß natürlich - unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Kraft - jeder Wirtschafter in den Wertdingen', die er begehrt, gewisse Lustwerte erstrebt, die sie ihm erfahrungsgemäß bereiten, oder die er durch sie zu erlangen glaubt; und daß er auf der anderen Seite in den Wertdingen, die er auf ihre Beschaffung verwendet, sei das nun Arbeit oder sonst ein Wertding, gewisse Lustwerte als „Kosten" opfert, oder gewisse Unlust (an Arbeitsmühe ζ. B.) auf sich nimmt. Aber das sind für die wirtschaftliche Betrachtung gegebene Größen und Voraussetzungen: was uns in der Personalökonomie allein noch interessiert, ist, daß der Mensch in seiner Wirtschaft gewisse Dinge begehrt, und bereit ist, dafür gewisse andere Dinge aufzuwenden, und zwar nach dem Prinzip des kleinsten Mittels. Damit ist der Schritt vom Subjektiven zum Objektiven, von der Psychologie zur Ökonomik, von der vorwirtschaftlichen Erwägung zur wirtschaftlichen Handlung getan. Und diese Handlungen der zur Wirtschaftsgesellschaft verbundenen Einzelwirte sind nun wieder die „gegebenen Größen" der Afor&twirtschaft und die Voraussetzung der Nationalökonomik. Lust und Unlust, Begehren und Opfer erscheinen auf dem Markte als „materielle" Quantitäten, als Angebot von Wertdingen, das gleichzeitig Nachfrage nach anderen Wertdingen ist, und als nichts anderes. Dem Identitätsprinzip der Wissenschaft ist durchaus Genüge getan, das Kompliment vor der „Einheit der Kraft" ist gemacht, wenn man ein Mal für alle Male konstatiert hat, daß die Marktwirtschaft als tauschwirtschaftlicher Mechanismus das kleinste Mittel zum größten Erfolge aller Einzelwirte, aller Personalwirtschaften ist. Und dann beginnt die Aufgabe, die wieder völlig transformierte Kraft in dem Einzigen zu untersuchen, was interessant ist, in den Erscheinungen und Auswirkungen ihrer neuen Gestalt. Diesen offenen Weg zu gehen wird Liefmann durch mehrere Dinge verhindert: Erstens durch sein allbeherrschendes Dogma, das der Einheit der Kraft, dem „Identitätsprinzip", nur gerecht werden zu können wähnt, wenn er die verschiedenen Erscheinungsformen der Kraft, ihre Transformationen, schlankweg leugnet; und dann durch seine soziologisch unzureichenden Vorstellungen vom Begriff einer „Gesellschaft". Er sagt - namentlich gegen Diehl, und macht den gleichen Fehler wie dieser, nur mit umgekehrtem Vorzeichen: „für die ökonomische Theorie gibt es keine .Gesamtwirtschaft', [...] sondern es gibt nur Einzelwirtschaften und deren Beziehungen" 2 . Der letzte Satz ist richtig und steht auch in meiner „Theorie" 3 . Aber nichtsdestoweniger ist der erste Satz falsch: es gibt schon eine Gesamtwirtschaft, eine Gesellschaftswirtschaft. Wenn Diehl im Walde die Bäume nicht sieht, so sieht Liefmann vor Bäumen den Wald nicht. Ob diese Gesamtwirtschaft ein Organismus ist oder nicht, ist eine müßige Frage, bei der nichts herauskommt; 4 daß sie aber eine Einheit ist, gibt Liefmann selbst zu, wenn er von „tauschwirtschaftlichen Mechanismus" spricht. 5 Er bildet, das ist Liefmann zugegeben, keine rechtlich geschaffene Einheit, sondern eine, aus den natürlichen Trieben der Menschen, aus dem Prinzip des kleinsten Mittels, erwachsene Einheit, aber doch eine Einheit, ein funktionierendes Ganzes. Und ihr „Zweck" 6 ist Kooperation als das kleinste Mittel des einzelnen.
1 2 3 4 5 6
aufgefaßt, also Anstrengungen, Opfer, Unlustgefiihle, das Maximum an Genuß ergeben" (S. 432). Danach wäre der vollkommene Wirt der Pläneschmied, der Grübler, der niemals etwas ausführt! Ein für alle Male: Wertdinge nenne ich alle kostenden Objekte: Güter, Dienste (immaterielle Leistungen) und „Rechte und Verhältnisse". Liefmann, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, S. 52. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 163. Übrigens sind Liefmanns Vorstellungen vom Wesen eines Organismus überaus - selbständig (S. 53). Es ist kein Raum, um darauf einzugehen. Ebenda, S. 53. Ebenda, S. 128.
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Das will Liefmann grundsätzlich nicht zugeben (wenn er es auch angebrachtermaßen fortwährend anerkennen muß). Und darum besteht die scharfe Grenze, die wir zwischen der Personalwirtschaft und der Marktwirtschaft ziehen, für ihn nicht. Die weitere Folge ist, daß in diesem ungeschiedenen Ganzen nur eine Kraft wirkt und das Getriebe reguliert: die „rein psychische" Nutzen- und Kostenvergleichung. Und damit ist denn das Identitätsprinzip der Wissenschaft gerettet - wie Liefmann es versteht. Nun ist aber die natürliche Trennung in Einzelwirtschaft und Gesamtwirtschaft so gebieterisch, daß Liefmann ihr nicht ganz ausweichen kann. Er versucht, sie zu ersetzen durch seine Scheidung zwischen „Konsumwirtschaft" und „Erwerbswirtschaft". Diese Scheidung ist nicht nur künstlich, sondern geradezu gewaltsam. Jede normale Personalwirtschaft ist gleichzeitig „Konsum-"1 und „Erwerbswirtschaft", erstrebt Lustgefühle für das Opfer von Unlustgefühlen. Die Unterscheidung wird denn auch nur gemacht, um die verpönte Gesamtwirtschaft unter der Maske von besonders entfalteten, betriebsmäßig von ihren Komsumwirtschaften getrennten „Erwerbswirtschaften" einzuschmuggeln. Und das wieder ist nur möglich durch Prokrustes-Künste an den Begriffen. Wir sollen verstehen, „daß die Unterscheidung von Konsumwirtschaften und Erwerbswirtschaften nur möglich ist in der Geldwirtschaft, im Tauschverkehr"2. Wir können es aber nicht verstehen! Hat der Naturalbauer, hat Robinson keine Erwerbswirtschaft, die man von seiner Konsumwirtschaft begrifflich gerade so gut oder so schlecht unterscheiden kann, wie in der gesamten Personalwirtschaft irgend eines Zeitgenossen, wenn er nicht etwa „abhängig" ist, wie ein Hauskind oder ein Stiftsinsasse?3 Nein, sagt Liefmann, denn der Naturalbauer und Robinson haben kein Einkommen. „Einkommen können, wenn man den tauschwirtschaftlichen Mechanismus erklären will, nun einmal unter keinen Umständen als Gütermengen aufgefaßt werden, obgleich das doch manchmal ausdrücklich erklärt wurde (Oppenheimer, Schumpeter), sondern sie sind Geldsummen, die den Wirtschafter aus ihrer Erwerbstätigkeit zufließen, und die Grundlage für ihre Konsumwirtschaft bilden."4 Ipse dixit! Wenn er Recht hat, bin ich übel dran, denn die einzige Möglichkeit, den Wert auf objektive Weise ohne Zirkelschluß abzuleiten, ist gegeben, wenn das Einkommen als eine Gütermenge aufgefaßt werden darf5: Diese Möglichkeit verriegelt Liefmann mit seinem Machtspruch - und dann gibt es freilich nur noch eine mögliche Theorie -, wenn es überhaupt noch eine geben kann, nämlich seine eigene. Also entschieden ein „starker Zug". Zum Glück entscheidet in der Wissenschaft nicht die Sicherheit des Auftretens, sondern die Güte der Gründe. Und diese Gründe sprechen einhellig gegen Liefmanns Auffassung. Selbstverständlich ist das Einkommen eine Gütermenge! Hunderttausende von Jahren vor Erfindung des Geldes haben die Menschen gearbeitet und aus ihrer Arbeit ein Einkommen bezogen; das Einkommen des Robinson6, des Naturalbauers, bestand in Gütern, nicht in Geld, und war doch ein unzweifelhaftes
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Übrigens ist der Ausdruck auch noch sehr ungeschickt. Der Konsum ist gerade so außerwirtschaftlich, „nachwirtschaftlich", wie das Motiv und der Zweck, die „vorwirtschaftlich" sind. Wirtschaft umfaßt nur die Abschnitte der Beschaffung und der Verwaltung, von der Liefmann niemals spricht, und reicht nur bis zum Beginn der „Verwendung", meinethalben des Konsums. Liefmann, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, S. 363. Ebenda, S. 367. Ebenda, S. 84. Vgl. Oppenheimer, Wert und Kapitalprofit, S. 46. Den Liefmann kaum als Vertreter einer Wirtschaft gelten läßt, vgl. z. B. S. 170, 196, 362.
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Einkommen; es war, gerade wie das Geldeinkommen, um so größer, je fleißiger, glücklicher und besser ausgerüstet der Wirt war. Und noch heute, mitten in der Geldwirtschaft, gibt es unzählige Existenzen, die ihr Einkommen nicht in Geld, sondern ganz oder zum Teil in Gütern erhalten: Deputat-Arbeiter, häusliches Personal usw. Und der Staat ist „technisch-materialistisch" genug, um auch dieses Naturaleinkommen gerade so zu versteuern, wie das reine Geldeinkommen. Liefmann sagt: „Wohl könnte der Staat allen Tauschverkehr verbieten, und man könnte die Unterhaltsmittel, die eine Naturalwirtschaft gewinnt, schließlich auch Einkommen nennen. Aber dieser Begriff und die Probleme, die sich an ihn knüpfen, sind nur aus dem Tauschverkehr entstanden und mit seiner Beseitigung fallen auch sie hinweg." 1 Ich möchte wirklich wissen, wie man jene Unterhaltsmittel anders nennen könnte? Es mag in der Tat wahr sein, daß der Begriff Einkommen erst mit der Geldwirtschaft entstand, obgleich auch des mir zweifelhaft ist: die Begriffe „reich" und „arm" (die großes bzw. kleines Vermögen 2 und Einkommen bedeuten) finden sich bereits jedenfalls überall auf den Stufen der höheren Fischer und der Hirten. Aber es geht mit vielen Begriffen nicht anders, daß sie erst entstehen, lange nachdem die zugehörige Erscheinung bestand. Die Begriffe Gravitation, Elektrizität, Verdauung, Stoffwechsel usw. sind viel jünger als die zugehörigen Fakten, und auch Herr Jourdain erfuhr eines Tages zu seiner großen Überraschung, daß er Prosa spreche. Man sieht die aller Logik widersprechende Künstelei. Die Aufgabe der Theorie ist überall, den Oberbegriff festzustellen und ihm die Unterbegriffe unterzuordnen. Offenbar ist der Oberbegriff von Einkommen der Zufluß von Wertdingen aller Art in eine Personalwirtschaft, und einer seiner Unterbegriffe ist der Zufluß von Geld, barem oder Rechengeld, das nun natürlich nichts anderes ist, als der Repräsentant einer Menge von Wertdingen, als eine „Anweisung" auf den Vorrat des Marktes. Aber diese klare, durch Sprachgebrauch, Rechtspraxis und Wirtschaftsgeschichte vorgeschriebene Definition widerstreitet der „psychischen" Theorie, und darum fällt, nicht etwa die dadurch als unbrauchbar erwiesene Theorie, sondern die Logik und der Zusammenhang der Dinge. Das ist Liefmanns Methode! Er hat sich einmal in den Kopf gesetzt, daß die Wirtschaft nur mit psychischen Erwägungen, aber nicht im mindesten mit materiellen Dingen zu tun habe, und so wird denn jede entgegenstehende Tatsache auf den beiden Betten des Prokuristen entweder zerhackt oder aus den Gelenken gerenkt. Aber es handelt sich bei alledem nicht nur um den Ausgangspunkt der ganzen Theoretik, an dem ihr Erfinder mit solcher Hartnäckigkeit festhält, sondern auch um den Endpunkt der gesamten Erörterung, um das „thema probandum", das ihm vor der Untersuchung feststand. 3 Und das ist die Lösung des Problems von Kapital und Profit. Die Lösung wird sorgfältig vorbereitet, und zwar durch den überaus wortreichen Ausbau der neuen Lehre vom „Konsumertrag". An und für sich ist nur das Wort neu: denn von jeher hat man gewußt, daß der Zweck der Wirtschaft in nichts anderem besteht als in einem möglichst großen Überschuß des Genusses über die Aufwendungen. Liefmann selbst zitiert Quesnay als ersten Ver-
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Liefmann, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, S. 539. Auch „Vermögen" ist für Liefmann ein lediglich der Geldwirtschaft angehörendes Phänomen! Was dazu wohl die Hintersassen der vorgeldwirtschaftlichen Feudalherren sagen würden? (Vgl. ebenda, S. 621.) Hierin liegt für meine Auffassung kein Vorwurf, und am wenigsten ein sittlicher. Es ist nach meiner Meinung überall die erste Aufgabe, festzustellen, worauf ein A u t o r nach seiner sozialen Lagerung hinaus will; das ist der psychologische Schlüssel zum Verständnis seines logischen Verfahrens. [Vgl. ζ. B. die Einleitung zu: Oppenheimer, David Ricardos Grundrententheorie, in der vorliegenden Edition, Bd. I, Berlin 1995, S. 479ff.]
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treter dieser Auffassung.1 Dann hat die psychologische Schule von Gossen abwärts diese Dinge immer feiner herausgearbeitet; ihr großes, aber auch ihr einziges Verdienst! Sie hat gezeigt, daß das wirtschaftliche Streben dahin geht, bei der Befriedigung sämtlicher Bedürfnisse den gleichen Grenznutzen zu erreichen; nur so ist offenbar die Gesamtbefriedigung am größten. Schumpeter sagt sehr hübsch, das Individuum stelle im Zentrum eines Kreises von Gleichungen, die sämtlich den gleichen Grenznutzen ergeben. Diese Formel genügt Liefmann nicht. Er will nicht zugeben, daß die Grenznutzen ausgeglichen werden, sondern die Grenzerträge, d. h. die psychischen Schätzungen der Differenz zwischen Nutzen und Kosten. Das Beweis verfahren, dessen er sich zu dem Zwecke bedient, ist aus mehreren Gründen verdächtig. Zunächst der allgemeinen Methode halber. Sie ist im übelsten Sinne grenznutzlerisch. Sie rechnet mit Intensitätsgrößen wie mit Extensitätsgrößen und kommt durch diesen mathematischen Nonsens natürlich zu ebenso unmöglichen Folgerungen wie die Grenznutzler selbst. Wie diese sich z. B. in lächerlicher Weise darüber streiten, ob der „Gesamtnutzen" durch Multiplikation der Zahl der vorrätigen „konkreten Gütereinheiten" mit dem Grenznutzen, oder durch Addition oder durch Integration der einzeln betrachteten, nacheinander festgestellten Grenznutzen berechnet werden muß, so weiß Liefmann nicht, ob er die Differenz oder die Relation von Nutzen und Kosten als Grenzertrag zu bezeichnen hat, und entscheidet sich ohne genügenden Grund für die Relation, weil doch einmal entschieden werden muß. Ferner scheint es mir, als wenn er sich des gleichen Fehlers schuldig mache, den er den Grenznutziern vorwirft: seine Berechnungen ohne Berücksichtigung der Gesamtwirtschaft des Wirtes an ein paar willkürlich herausgegriffenen Beispielen anzustellen: ein argumentum ad hominem! Vor allem aber beruht seine Polemik gegen die Grenznutzenschule hier, soviel ich sehe, auf einem starken Mißverständnis. Er behauptet, sie ginge von einer „gegebenen" Kostenmenge aus, und das eben sei falsch. Denn für die wirtschaftlichen Erwägungen stehe die aufzuwendende Kostenmenge ebenso wenig von vornherein fest, wie die zu beschaffenden Nutzen. Sie beständen gerade darin, daß der Wirt sich überlege, wieviel Kosten, z. B. Arbeit, er aufwenden wolle, um so und soviel Nutzen zu erlangen. Und das ist auch vollkommen richtig. Aber es beweist nicht das, was Liefmann gern beweisen will. Hier rächt sich die ungenügende Unterscheidung zwischen dem vorwirtschaftlich Psychischen, den Erwägungen, und dem eigentlich Wirtschaftlichen, der Handlung. Wenn die Handlung beginnt, ist die Erwägung abgeschlossen, und dann handelt der Wirt eben mit „gegebenen", für seine Handlung jetzt fest gegebenen „Kosten". Hier ist Liefmann durch einen Analogieschluß zu seinem Irrtum gelangt: in der Tat ist der Hauptfehler der Grenznutzentheorie der, daß sie immer von einem „gegebenen Vorrat" ausgeht, ohne der Kosten zu gedenken, die seine Beschaffung gemacht hat oder seine Wiederbeschaffung machen wird. Das ist von jeher, auch von mir2 betont worden und bleibt bestehen. Hier aber handelt es sich um ein „Gegebensein" von ganz anderer Bedeutung, nicht um ein Vorhanden-, Gegenwärtig-, Verfügbarsein, sondern um ein Gegebensein im arithmetischen Sinne als „Datum" einer Rechnung. Der Wirt hat sich überlegt, wie lange er arbeiten, oder wieviel Geld er ausgeben will oder kann: damit ist das „Ist-Budget" seiner Wirtschaft „gegeben" (gleichgültig, ob die Kostenmittel
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A b e r nicht einmal diesem alten A u t o r kann er das Verdienst lassen. Quesnay beschreibt als Ziel der Wirtschaft: „d'obtenir la plus grande augmentation possible des jouissances par la plus grande diminution des dépenses." Liefmann sagt (S. 263) dazu und zu einer anderen Stelle aus Senior: „Beide stellen also als Ziel die Vermehrung des ,Reichtums' hin." W i e man das aus dem Quesnay herauslesen kann, ist mir schlechtweg unverständlich. Er spricht ganz unzweideutig v o n „Genuß" (jouissances).
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Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ö k o n o m i e , S. 3 3 1 f f .
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schon zu seiner Verfügung sind oder nur mit Sicherheit erwartet werden), und dann richtet er sich nach Möglichkeit so ein, daß überall gleicher Grenznutzen herausspringt. 1 Aber immerhin, - hier mag Liefmann meinethalben gegen die Grenznutzentheoretiker Recht behalten; er mag es mit ihnen selbst ausfechten: mir fehlt dazu die Kompetenz als Psychologe. O b diese Finesse eine Verbesserung oder Verschlimmerung der „vorwirtschaftlichen" Grundlage unserer Wissenschaft bedeutet: ihr Betrieb selbst wird dadurch nicht berührt; schon für die Personalökonomik, geschweige denn die Nationalökonomik macht es keinen Unterschied, ob der einzelne auf Ausgleichung der Grenz nutzen oder der Grenz ertrage hinstrebt. Das Ergebnis ist denn auch für Liefmann nicht an sich von ausschlaggebendem Interesse, sondern vor allem der Schlußfolgerungen halber, die er daran knüpft. Er findet volle Identität zwischen dem psychischen Unterstock und dem erwerbswirtschaftlichen Oberstock: auch auf dem Markte gilt das Gesetz des Ausgleichs aller Grenzerträge, das Liefmann gleichfalls entdeckt zu haben glaubt. Da es erst im zweiten Bande dargestellt und entwickelt werden soll, kann ich nicht wissen, wie weit es mit dem von mir entwickelten gleichnamigen Gesetze übereinstimmt. 2 Diese Parallelisierung war das thema probandum: das war das Ziel, auf das der Autor von vornherein unentwegt zusteuerte. Soweit man nach dem vorliegenden Bande urteilen kann, handelt es sich lediglich um eine grobe logische Erschleichung. Der Gleichklang des absichtlich so gewählten Wortes „Grenzertrag" wird mißbraucht, um eine Identität des Wesens vorzutäuschen. (Selbstverständlich geschieht das optima fide; ich polemisiere nur mit logischen, nicht mit ethischen Argumenten.) Ich kann auch nicht glauben, daß es dem Autor gelingen wird, diese Identifizierung im zweiten Bande sachlich zu unterbauen. Denn es handelt sich um schlechthin inkomparable Dinge, um Intensitätsgrößen in der Schätzung eines individuellen Subjekts dort, um Extensitätsgrößen in der Preisbestimmung eines gesellschaftlichen Zusammenhangs hier. Hier kann nur von dem für unseren engeren Wissenschaftsbetrieb gleichgültigen, weil völlig unfruchtbarem Gesichtspunkt der Einheit aller Kräfte Identität konstatiert werden; aber jede Anwendung des Satzes auf Sonderprobleme bedeutet eine grobe Erschleichung, und daran kann kein zweiter und kein hundertster Band etwas ändern. Liefmann aber „konstatiert" die angebliche Identität gerade zu dem Zwecke, u m ein wichtiges Sonderproblem zu lösen, das des Kapitels und des Profits, wie wir schon sagten. Das ist jetzt außerordentlich einfach! Alle Wirtschaft ist das psychische Erwägen, wie ein möglichst großer Gesamtgrenzertrag erzielt werden kann. Das gilt für jeden Wirt, also auch für den Geldleiher und den Unternehmer; und da psychischer Gesamtgrenzertrag und Geldgrenzertrag dem Wesen nach identisch sind, so ist damit der Profit auf das Uberzeugenste abgeleitet! Er ist überhaupt nur für die „technisch-materialistische" Auffassung ein Problem: für die psychische eine platte Selbstverständlichkeit. „Man konnte vom Standpunkt der technisch-materialistischen Auffassung der Wirtschaft nicht erkennen, daß alle Gelderträge nicht das Resultat einer Produktivität der Produktionsfaktoren sind, sondern, einerlei, womit sie erzielt sind, aus den Nutzenschätzungen der Konsumenten stammen1, aus dem Umstand, daß man jede Wirtschaftstätigkeit nur vornimmt, wenn man einen Uberschuß von Nutzen über die Kosten, einen Ertrag zu erzielen erwartet." 4
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Diese Wortverwechslung hat Liefmann zu der besonders scharfen Polemik gegen Meyn geführt (S. 322). Liefmann meint gegeben als vorhanden, Meyn als mathematisches Datum. Vgl. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 466f. [Vom Verfasser kursiv gesetzt; A.d.R.] Liefmann, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, S. 99.
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Hier ist die Konfusion wundervoll deutlich. Also: alle Gelderträge stammen aus den Nutzenschätzungen der Konsumenten, so etwa, wie die Rosen des berühmten Blumenmediums aus der vierten Dimension. Danach könnte Liefmann allerdings die soziale Frage sehr einfach lösen. Jeder Konsument hat ganz einfach Nutzenschätzungen vorzunehmen: dann müssen die erforderlichen Gelderträge sich einstellen! Es ist hart, solchen hellen Unsinn lesen und kritisieren zu müssen. Liefmann fährt fort: „Man konnte daher nicht erkennen, daß, wenn jemand [...] Geld gebraucht, der Schuldner dem Darleiher für den Gebrauch des Geldes ebensogut einen Zins zahlen kann und wird, wie wenn er sich eine Axt oder Maschine leiht." Da haben wir den alten ehrlichen Bastiat in seiner vollen Glorie, von den Toten, aber nicht zum Ruhme erweckt, denn der Ruhm auch dieser funkelnagelneuen Weisheit gebührt dem großem Liefmann. Muß man heute noch Bastiat widerlegen? Die Frage wieder aufwerfen, weshalb sich Guillaume den Hobel nicht kauft, für seinen ersten Uberschuß an Brettern kauft, statt Jacques in alle Ewigkeit den Hobelzins zu bezahlen? Muß man wirklich noch einmal feststellen, daß der Leihzins des Geldkapitalisten nur eine sekundäre Abzweigung von dem primären Profit des Unternehmers ist? Und die Frage aufwerfen, woher es denn kommt, daß Wenige alles Geld oder Kapital in Liefmanns Sinne haben, und die Vielen nichts? Wahrlich, ich habe keine Neigung, Elementarunterricht zu erteilen; und ich kann Liefmann nur den wohlgemeinten Rat geben, erst einmal das Problem des Kapitals und des Kapitalismus zu erfassen, ehe er einem an Jahren älteren Gelehrten, der non sine laude gearbeitet hat, den schließlich doch ein Adolph Wagner für würdig gehalten hat, ihm auf seinen Lehrstuhl zu folgen, Insolenzen sagt, wie die schon einmal erwähnte. 1 Ich schrieb in meinem Wert- und Kapitalprofit: „Kapital ist nach unserer Definition ein nutzbarer Anteil am Klassenmonopolverhältnis." 2 Dazu bemerkt Liefmann: „Ich glaube, eine Kritik ist überflüssig. Bei solchen herrlichen Kapitalsdefinitionen sind wir also heute glücklich angelangt. So tief ist unsere Wissenschaft durch ihre Verquickung mit der Soziologie [...] gesunken, daß man solche soziologischen Phrasen als ökonomische Theorie ausgeben darf!" Habe ich etwa gesagt, Kapital sei ein blauer Affe?! Oder es sei „die Veranschlagung der Kostengüter in Geld als Mittel zur Feststellung eines Geldertrages", wie Liefmann tiefsinnig definiert, 3 ohne zu merken, daß er damit allenfalls eine Umschreibung des Sprachgebrauchs, aber nicht im mindesten eine wissenschaftliche Definition oder gar Erklärung gibt?! Da ich Geldeinkommen weder aus Einzelschätzungen noch aus der vierten Dimension abzuleiten imstande bin - ich beklage meine Unbegabtheit, aber ich kann mir nicht helfen - so muß ich sie anders ableiten. Nun ist der Profit offenbar ein „Mehrwert", ein „Kostenüberschuß" (Schumpeter) über die sämtlichen Kosten der Produktion hinaus, den Gewinn des Produzenten, soweit sein eigener Arbeitswert in Frage kommt, zu den Kosten gerechnet. Ein solcher Kostenüberschuß kann nach der „technisch-materialistischen" Theorie, der ich unglücklicherweise verfallen bin, und von der selbst Liefmann mich nicht zu erlösen imstande ist, nur zustande kommen, wenn die unbeschränkte Konkurrenz nicht wirkt, d. h. wenn ein Monopol besteht. Nun ist sicher, daß ein Monopolverhältnis, nicht nur zwischen einzelnen, sondern auch zwischen Vielheiten bestehen kann: warum also nicht zwischen Klassen?! Daß ein solches Klassenmonopolverhältnis besteht, und zwar in Gestalt der Bodensperrung, habe ich nachgewiesen. 4 Ich konstatiere nicht nur wie Liefmann, daß
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Liefmann, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, S. 553. Oppenheimer, Wert und Kapitalprofit, S. 140. Liefmann, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, S. 563. U n d ich befinde mich dabei in Übereinstimmung mit keinem Geringeren als mit Adam Smith, der ausdrücklich erklärt, daß von der „Aneignung des Bodens" kein Profit entstehen kann, und mit Marx, der ebenso aus-
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heute Boden ein „Kostengut" ist,1 sondern ich bin frech genug zu fragen, warum es ein solches ist, obgleich es keine Arbeitsmühe gekostet hat. Ist das ein solcher Unsinn, daß mir ein Liefmann derartige Insolenzen sagen darf? Seine eigene Auffassung ruht wahrlich nicht auf so festen Grundlagen, daß er sich derartiges leisten dürfte. Was ist nun das Ergebnis dieser mehr als 700 Seiten großen Formats? Die Berge kreisten ...! Zuerst eine Definition der Wirtschaft, die sich durchaus im Vorwirtschaftlichen, rein Psychologischen hält. Wenn man sehr milde sein will, kann man sie, ihrer Absicht nach wenigstens (wenn auch nicht in dieser Formulierung) als einen Fortschritt gegenüber der älteren Theorie, sogar gegenüber Dietzel anerkennen. Aber gegenüber meiner eigenen Formel bedeutet sie meiner Meinung nach einen Rückschritt. Darnach heißt Wirtschaften: „mit kostenden Dingen nach dem Prinzip des kleinsten Mittels verfahren" und das heißt: „sie für einen je nach Zeit und Umständen ausreichenden Zeitraum nach einem die Dignitätsskala der Bedürfnisse wahrenden Wirtschaftsplane mit dem geringsten Aufwande zu beschaffen und so zu verwalten, daß der höchste Erfolg der Bedürfnissättigung erzielt wird." Das ist bereits formai richtig, weil es nicht die - vorwirtschaftlichen - Erwägungen, sondern die wirtschaftliche Handlung beschreibt und abgrenzt; und es ist materiell reicher an Inhalt, weil es außer der Beschaffung die bis jetzt sehr vernachlässigte Verwaltung der Wertdinge einbezieht. Liefmann möge versuchen, diese Formel als falsch zu erweisen, die ihre Richtigkeit schon dadurch beweist, daß sie ohne weiteres gestattet, das /I«/Serwirtschaftliche (Motiv, „Erwägung", Zweck und Konsum), das Mc^îwirtschaftliche (ζ. Β. Sport, Verwendung freier Güter) und das t/n wir tschaft liehe (Geiz und Verschwendung) vom Wirtschaftlichen abzugrenzen. Und ebenso gestattet die Definition ohne weiteres die Abgrenzung von der Technik. Technik im weitesten Sinne heißt: Kunstgerechtes Verfahren, und im engeren Sinne: Kunstgerechtes Verfahren mit stofflichen Dingen. Im weiteren Sinne kann man von Atemtechnik, Bergsteigertechnik, Schwimmtechnik sprechen. Im engeren Sinne ist sie Gegenstand der Technologie. Nichtwirtschaftlich ist die Technik, wenn sie mit nichtskostenden Dingen, ζ. B. der Luft, oder absichtlich nicht nach dem Prinzip der kleinsten Mittel verfährt, ζ. B. im wirtschaftlichen Laboratorium, wo der Erfolg kein „Gewinn", sondern Erkenntnis ist. Unwirtschaftlich ist sie, wenn der Techniker unabsichtlich nicht nach dem Prinzip des kleinsten Mittels verfährt: dann haben wir die schlechte Technik eines schlechten Technikers; und wirtschaftlich ist Technik, wenn der Techniker mit ihrer Hilfe, durch ihre Anwendung, wirtschaftet, d. h. kunstgerecht und zugleich nach dem Prinzip des kleinsten Mittels verfährt. Dann ist er nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv, an einem äußeren festen Maßstab gemessen, ein „Wirt", ist er ein homo oeconomicus technicus. Das ist alles überaus einfach. Das zweite Ergebnis ist günstigstenfalls (?) ein rein vorwirtschaftliches, rein psychologisches Resultat, die Ersetzung des Gteaznutzen durch den Grenz ertrag-, darüber habe ich mich zur Genüge geäußert. Das dritte Ergebnis ist eine angebliche Kapitaltheorie und -definition, die den Gipfel der Naivität und Verständnislosigkeit für das eigentliche Problem darstellt. Und schließlich hier und da einmal eine gute kritische Anmerkung! Das ist alles, was ich, nach bestem Wissen und Gewissen, aus diesem ungeheuren Bande habe herausfischen können. Und dafür Jahre und Jahre der Vorschußlorbeeren. „Nascetur ridiculus mus"! ...
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drücklich erklärt, daß in einer „freien Kolonie", wo das Land noch Volkseigentum ist, Produktionsmittel nicht „Kapital" sind, weil das „gesellschaftliche Klassenverhältnis" hier nicht besteht, das er „Kapitalverhältnis" nennt (vgl. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. I, 4. Auflage, Hamburg 1890, Kap. 25). Liefmann, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, S. 470, 492.
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Liefmann gibt uns fast gleichzeitig zwei andere Schriften und damit die Gelegenheit, zu erkennen, was seine Theorie von Problemen der Praxis leistet. Die erste dieser Schriften trägt den Titel „Geld und Gold" 1 . Es ist ganz des gleichen Geistes, wie das Lehrbuch. Sein Verfasser wiederholt hier in unerträglicher Breite seine Grundauffassung und ihre Verhimmelung als funkelnagelneue Weisheit und Wahrheit. Zu den neuen Entdeckungen, die er glaubt gemacht zu haben, gehört auch die, daß wir heute schon nur noch in Ausnahmefällen mit realem „Gelde", in der Regel aber mit einer „Rechnungseinheit" zu zahlen pflegen. Diese Selbsteinschätzung beweist nur, daß ihr Autor die bessere Literatur nicht kennt oder nicht verstanden hat. Schon die „Naturalauffassung" von Smith läuft auf die Erkenntnis hinaus, daß der Geldschleier nur den unmittelbaren Tausch von Wertdingen gegen Wertdinge verdeckt, daß der gegenseitige Wert der ausgetauschten Wertdinge nur „an der Geldelle gemessen wird". Und wenn Marx davon spricht, daß in Krisenzeiten „Rechengeld in Warengeld umschlägt", so fußt er auf der gleichen Erkenntnis. Mein eigenes Lehrbuch vollends stellt die Dinge ganz so dar, wie Liefmann; ich betone überall, daß reales Geld nur noch eine winzige Rolle spielt aber ich habe nie gemeint, damit eine Entdeckung, und nun gar eine epochale zu machen. Liefmanns Selbsteinschätzung in diesem Punkt ist ebenso unbegreiflich, wie seine geradezu unqualifizierbare Behauptung, niemand vor ihm habe den Zusammenhang aller Preise erkannt. Auch das steht als uralte Wahrheit schon deutlich in meinem von ihm so hart beurteilten Lehrbuch - wie auch sehr viele andere Dinge, die er angeblich als erster entdeckt hat, die aber längst nicht mehr entdeckt zu werden brauchten. Was nun die Theorie des Geldes und des Geldwertes anlangt, so kann Liefmann von seinem theoretischen Standpunkte niemals zu einer Lösung der Probleme gelangen. Wer sie verstehen will, muß erstens wissen, daß das Edelmetall in der Statik den objektiven Tauschwert besitzt, den ihm die darauf verwendete Arbeit des Grenzproduzenten nach ihrer Dauer und ihrer Qualifikation verleiht. Liefmann ist aber ein entschlossener Gegner der objektiven Wertlehre, die er nicht versteht. Wenn er sie verstanden hätte, so hätte er sich nicht den folgenden unglaublichen Satz leisten können: „Kommt der Wert des Geldes im Sinne der objektiven Wertlehre von den Produktionskosten, so erhebt sich [...] die Frage, warum nicht noch mehr Geld produziert wird." 2 Diese Frage würde die objektive Wertlehre sehr einfach dahin beantworten, daß der Grenzproduzent von Gold derjenige ist (wie für alle andere Waren), der 100-d Mark in Geld (Rechengeld oder Goldgeld) aufwenden muß, um 100 Mark in Rohgold zu erzeugen. Wer ärmere Minen oder Fundstellen bearbeitet, setzt dabei zu und hört infolgedessen auf, so daß in der „Statik" dit Grenzbeschaffungskosten und damit der objektive Tauschwert des Goldes genau so bestimmt ist, wie bei jeder beliebig reproduzierbaren anderen Ware. Aber Liefmann verwirft auch die Konstruktion der Statik, ebenfalls, weil er sie nicht versteht, weil er nicht sieht, daß sie nichts anderes ist als eine unentbehrliche Hilfskonstruktion, nämlich der in der Realität nie erreichte Gleichgewichtszustand, auf den hin die „Dynamik" ohne Ende tendiert, und den wir theoretisch errechnen müssen, um daran die Erscheinungen zu verstehen und vor allem zu messen. Wer aber die Statik nicht anerkennt, der kann auch nicht sehen, daß wir beim Golde wie bei jeder anderen Ware vier verschiedene Arten des Preises zu unterscheiden haben: den statischen Konkurrenzpreis, den statischen Monopolpreis, den laufenden Konkurrenzpreis und den laufenden Monopolpreis; und daß es, mit diesem theoretischen Rüstzeug in der Hand, gar keine Schwierigkeit
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Liefmann, Geld und Gold. Ökonomische Theorie des Geldes, Stuttgart/Berlin 1916. Ebenda, S. 126.
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mehr macht, alle, auch die paradoxesten Erscheinungen der Geldgeschichte zu erklären. Wo freie Goldausprägung besteht, ist das Goldgeld dem Barrengold selbstverständlich wertgleich, und sein Preis ist laufender Konkurrenzpreis wie der jeder beliebig reproduzierbaren Ware; und das heißt: jeder Ware, die in jedem Ausmaße produziert worden kann, wie der Markt sie aufzunehmen „beliebt", indem er dem jeweils letzten (Grenz-)Produzenten seine Selbstkosten und seinen Gewinn bezahlt. Wo aber der Staat als Monopolist die Geldausgabe beherrscht, da kann er auch an sich wertloses Geld auf dem Nominalwerte halten und sogar darüber treiben, weil Geld in gewisser Mindestmenge ein unentbehrliches Gut, ein Werkzeug, ein „Beschaffungsgut" ist, das man erwerben muß, um eine Reihe von Tauschakten vollziehen zu können. Darum zahlt unter Umständen der ausgehungerte Verkehr auch für Scheidemünzen oder Papier ein Aufgeld, gerade so wie Straßenbahngesellschaften für die Nickelmünzen ein Aufgeld zahlen, die sie ihren Schaffnern auf die Fahrt als Wechselgeld mitgeben müssen. Darin liegt gar nichts Geheimnisvolles. Und auf der anderen Seite kann selbstverständlich der Monopolist Staat auch durch Ausgabe von zu viel Papiergeld seinen Kurs drücken, ihm ein Abgeld aufzwingen, wenn er den Verkehr übersättigt. Was die Geister verwirrt, ist folgendes: in einer statischen Gesellschaft, ja sogar in einer dynamischen, die aber als von politischen und wirtschaftlichen Krisen verschont gedacht ist, braucht man in letzter theoretischen Analyse überhaupt kein Geld. Wo jeder kreditfähig ist, und wo man sogar ein Glas Bier oder eine Straßenbahnfahrt mit einem Scheck bezahlt, kann der gesamte Tauschverkehr durch Rechengeld, durch „Clearing", vollkommen ausgeglichen werden. Und hier ist es durchaus gleichgültig, welche Recheneinheit der Staat festsetzt und vielleicht der Ausgabe von wünschenswerter Scheidemünze für den Kleinverkehr zugrunde legt. Die Produzenten tauschen eine Stunde oder einen Tag durchschnittlicher gesellschaftlicher Arbeit gegen eine Stunde oder einen Tag, und es ist für sie so gleichgültig, ob sie den Wert ihrer Ware an einer langen oder einer kurzen Geldelle messen, wie es gleichgültig ist, ob wir die Größe zweier Länder auf einem großen oder einem kleinen Globus vergleichen. Das Ergebnis ist beide Male dasselbe. Aber wir brauchen das Hartgeld als Urmaß für Krisenzeiten, wenn die Geldelle selbst plötzlich stark zusammenschrumpft oder sich ausdehnt, d. h. wenn das Geld oder die Ware plötzlich Monopolpreise erhält. Dann muß man nach Ablauf der Krise in der Lage sein, neues objektives Maß des Wertes aufzufinden, und das kann nichts anderes sein als selbst eine Ware, ein Wertding. Und aus bekannten Gründen ist das Edelmetall, speziell das Gold, das zwar nicht vollkommene, aber doch beste in Betracht kommende Wertding: denn der auf dem Markt befindliche Vorrat ist so groß, daß auch starke Veränderungen der jährlichen Produktionsziffer keine schnellen und starken Schwankungen seinem laufenden Preises herbeiführen können. Kurz, wir brauchen das Gold nicht als Zahlungsmittel - das ist in der Tat nur eine juristische, nicht aber eine ökonomische Kategorie; und wir brauchen es auch nicht als Tauschmittel, aber wir brauchen es als Wert-Stabilisator nach Krisenzeiten, um ein objektives Maß der Tauschwerte zu haben, an dem die tauschenden Grenzproduzenten den Wert ihrer eigenen und der fremden Ware mit einiger Genauigkeit sofort wieder ablesen können. Ein Gleichnis: Stellen wir uns vor, der Meter sei, wie die älteren Maße, eine ganz willkürlich gewählte Länge, und es gingen durch eine Katastrophe alle Metermaße der Welt verloren, oder veränderten sich in unberechenbarer Weise. Dann würde das im geodätischen Institut in Paris aufbewahrte Urmeter eine große Wichtigkeit haben. So steht es nach Krisenzeiten mit dem Gelde. Jedes Exemplar der Geldelle ist in anderer Weise verändert, das eine länger, das andere kürzer geworden, und zwar in unberechenbarem Maße. Die Gesellschaft ist aber viel zu groß und kompliziert geworden, als daß die Produzenten ihre Arbeitszeit und ihren Arbeitswert sogleich wieder unmittelbar miteinander vergleichen könnten. Da tut die Herstellung einer für alle gleichen Geldelle bitter not, und das geschieht durch Rückgriff auf die besonders preisbeständige Ware Edelmetall, speziell Gold.
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Freilich: das ist alles objektive Wertlehre, und Liefmann hat ein „groß Publikum", wenn er die volle Schale seines Hohnes über diese abgetane Theorie ergießt. Aber es schien schon manches abgetan, das doch wieder zur Geltung kam, und nach dem vollkommenen Bankbruch der subjektiven Schule, den die letzten Jahre festgestellt haben, dürfte jene ältere Lehre in der von mir gegebenen, den alten Einwänden nicht mehr ausgesetzten Gestalt doch wohl wieder Aussicht auf neue Geltung erlangen. Freilich: auf Liefmanns Mitarbeit bei diesem Wiederaufnahmeverfahren hege ich keine Hoffnung. Dazu ist er zu sehr in seine Gedanken verliebt. Mehr als diese kurzen Andeutungen zu einer m. E. richtigen Geldtheorie kann ich hier nicht geben. Wer meine Anschauungen näher kennenzulernen wünscht, möge sich an meine Kritik von J . Fishers „Kaufkraft des Geldes" im Weltwirtschaftlichen Archiv' wenden. Die zweite und neueste Publikation Liefmanns ist merkwürdigerweise unvergleichlich besser und gehaltvoller.2 Natürlich finden wir auch hier die „Theorie" in ihrer unschmackhaften Aufmachung von Selbstverherrlichung; aber die praktischen Vorschläge, die hier gemacht werden, sind zum Teil durchaus gesund und gut begründet. Man bedauert ehrlich, wenn man diese Arbeit liest, daß der begabte und fleißige Verfasser durch seine überlebensgroße Eitelkeit so hoffnungslos auf den Holzweg geführt worden ist. Die Tatsache, daß aus den Prämissen einer zum großen Teile - soweit sie neu ist - durchaus falschen Theorie die Konklusionen richtiger Praxis erwachsen können, ist logisch nichts sonderlich Auffallendes: bekanntlich kann aus falschen Prämissen ein richtiger Schluß folgen. Liefmann geht aus von dem richtigen Satze, den ich in Ausgestaltung einer Nebenbemerkung von Smith wohl als erster in den Mittelpunkt der Preis- und Wertlehre gestellt habe, daß der Preis ein bestimmter Einkommensteil ist. Dieser Satz hat, nebenbei gemerkt, Bedeutung für die Theorie nur dann, wenn man erkannt hat, daß die Höhe des Einkommens eines jeden Wirtschafters in der Statik grundsätzlich bestimmbar ist.3 Man erhält dann aus der Formel des Einkommens ohne weiteres die des statischen Preises, des objektiven Tauschwertes der Klassiker. Liefmann kann nach seiner ganzen Stellung diese Anwendung des Grundsatzes nicht mitmachen. Aber er benützt meinen Satz - den er natürlich selbständig und selbstverständlich als erster, wenn nicht einziger gefunden zu haben behauptet - doch hier zu ganz netter Anwendungen auf das spezielle, dynamische Problem der Kriegsfinanzen und der Kriegspreise. Der Staat hat durch Bewilligung sehr hoher Preise für Kriegsmaterial und durch Schaffung künstlicher Kaufkraft auf dem Wege der äußersten Anspannung seines Kredits sehr viel höhere Einkommen geschaffen, und das mußte die Preise treiben, weil Preise Einkommensteile sind. Das ist ganz richtig und es ist auch theoretisch einwandfrei, dynamische Schwankungserscheinungen des Preisniveaus auf personalökonomische „Nutzen- und Kostenvergleichungen" zurückzuführen, wie ich mehrfach festgestellt habe.4 Allerdings halte ich daran fest, daß zuvor die Statik genau durchgearbeitet sein muß, weil sonst jeder feste Beziehungspunkt fehlt. Nur muß man sagen, daß es auch möglich ist, von der rein „nationalökonomischen" Auffassung der Klassiker aus zu dem gleichen Ergebnis zu kommen. Wenn der Staat massenhaft neues Geld schafft, sei es durch die Notenpresse, sei es durch Schatzwechsel oder sonstige von ihm ausgegebene wie Geld zirkulierende „Kapitalstücke", ζ. B. Giroguthaben, dann wird „Geld" vermehrt angeboten
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Oppenheimer, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 10, Heft 2 (1917).
2
Liefmann, Die Geldvermehrung im Weltkriege und die Beseitigung ihrer Folgen, Stuttgart/Berlin 1918.
3
Vgl. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 355f. sowie derselbe, W e n und Kapitalprofit, S. 45ff.
4
Vgl. derselbe, Wert und Kapitalprofit, S. 227f.
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und muß im Preise fallen, d. h. die damit gekauften Dinge müssen im Preise steigen, um so mehr, wenn sie aus anderen Gründen auch noch knapp werden, also Monopolcharakter annehmen. Immerhin: Die Liefmannsche Formel ist eleganter und führt dem psychologischen Verständnis näher als jene richtige aber rohere „Quantitätstheorie". Und so will ich nicht weiter urgieren, daß auch die praktischen Folgerungen Liefmanns aus jener klassischen Auffassung abgeleitet werden können, ja müssen: starke Vermögenssteuer, noch stärkere Kriegsgewinnsteuer, Verhinderung der Luxuseinfuhr, Forzierung der Rohmaterialieneinfuhr, womöglich durch Festsetzung in den Friedenstraktaten. All das haben andere und z. B. ich selbst von meinem theoretisch sehr abweichenden Standpunkt bereits vorgeschlagen und z. B. ebensowenig wie Liefmann ein Unglück darin erblickt, wenn Deutschland nach Friedensschluß einen großen Teil seines nutzlosen Goldschatzes für Rohstoffe ausführt. Wenn ich es für wünschenswert erklärt habe, unseren Feinden eine „Goldanleihe" von ca. 10 Milliarden abzuverlangen, so habe ich dabei ausdrücklich betont, daß diese Guthaben nur als Mittel der Rohstoffeinfuhr und Valutahebung, nicht aber etwa der Goldeinfuhr wünschenswert sind. Liefmann glaubt, daß seine Vorschläge nur auf Grund seiner Theorie möglich waren. Darin irrt er wie in so vielem anderem, wie Figura zeigt. Er hat nur bewiesen, daß ein gescheiter Mensch in praktischen Dingen trotz der abstrusesten Theorie etwas leisten kann. Der Leser wolle bedenken, daß es in Deutschland kaum ein Dutzend akademischer Gelehrter gibt, die sich hauptberuflich mit theoretischer Nationalökonomie beschäftigen. Dazu kommen ein paar marxistische Gelehrte ohne akademische Stellung, die mehr sind als bloße Theologen und Apologeten. Drei Männer von jenem Dutzend hat er über ihren Gegenstand reden hören, die beiden Antipoden Diehl und Liefmann und ihren gemeinsamen Antipoden, den ergebenst Unterzeichneten. Den Dreien ist nichts gemeinsam, als daß sie jede Gemeinsamkeit mit jedem der anderen höchstens neun Theoretiker durchaus ablehnen. Wenn ich das dritte der neueren oben erwähnten Lehrbücher, das von v. Wieser, hier auch noch ausführlich hätte kritisch würdigen können, so hätte der Leser noch eine vierte, wieder völlig verschiedene Nationalökonomie kennengelernt, und in meiner Analyse und Beleuchtung keinesfalls als der Weisheit letzten Schluß angesehen. Das ist der Zustand, in dem wir uns befinden! Und auf solcher Grundlage bauen wir Staats- und Geldpolitik, Kriegswirtschaft und Übergangswirtschaft usw. auf, pröbeln wir wie Kinder mit den gefährlichsten sozialen Explosivstoffen herum, bis uns eines Tages das Dach über dem Kopfe fortgeblasen werden wird. Ist weiter ein Wort erforderlich? Muß man erst aussprechen, daß dieser Zustand ein öffentlicher Skandal und eine öffentliche Gefahr ist? Und daß es kein anderes Mittel dagegen gibt, als daß die öffentliche Meinung uns Theoretikern scharf auf die Finger sieht? Bisher hat jede Partei nur darauf geachtet, ob das Buch ihre Interessen und Ziele wahrte oder nicht: die Folge davon ist das Chaos, in dem wir blind umhertasten zwischen lauter Abgründen, in denen all unsere Wohlfahrt zerschellen kann. Es ist hohe Zeit, daß das anders wird. Helfen kann nur die gute Presse, - denn der Staat soll gefälligst seine Finger von der Freiheit der Wissenschaft und Lehre lassen, auch wenn Fanatiker, Enge und Narren Wissenschaft treiben. Aber die Presse soll von ihren Kritikern streng fordern, daß sie zureichende Kritiken verfassen, anstatt willkürliche Zensuren auszustellen. Der Kritiker soll sich als geschworener Richter fühlen und halten: er soll den Tatbestand gewissenhaft aufnehmen, d. h. den Gedankeninhalt des Buches nach bestem Vermögen geradezu liebevoll darstellen, und danach sein Urteil nicht nur sprechen, sondern begründen, und zwar nicht nach seinem persönlichen Gesetzbuch, sondern nach dem allgemeinen Codex der Logik. Und für solche Arbeit sollte die gute Presse die besten Männer wählen, als Richter verpflichten und entsprechend honorieren, damit sie genügend Zeit und Kraft darauf verwenden können. Ich sehe keinen andern Weg der Heilung des Unerträglichen.
Gemeinwirtschaft
[1924]1
In den ersten Wochen und Monaten dieses ungeheuren Krieges erlebten die europäischen Völker und namentlich unser Deutschland - ein Gewaltiges. Das Individuum wurde sich plötzlich der in langer Friedenszeit fast vergessenen Urtatsache aller Gesellschaft bewußt, daß es nur ein Blatt am Baume sei, und daß es viel weniger auf das Blatt als auf das eigentlich Lebendige ankomme, auf den Baum, den ewigen Erneuerer. Die tiefste Weisheit des an sein Werk, und d. h. ja an das Ganze, hingegebenen Denkers und Künstlers, daß er nur ein Mittel sei für höhere Zwecke seines Ganzen: diese tiefste Weisheit wurde zugleich mit dem ihr untrennbar verbundenen tiefen Glück für einige Zeit Besitz aller. Die kleine kurzsichtige Pfiffigkeit des alltäglichen Daseins: „Jeder für sich und Gott für uns alle" wich dem Grundsatz, der wahrlich die Welt im innersten zusammenhält: „Einer für alle und alle für einen." Diese Stimmung, die heute noch an unserer Front und leider sehr abgeschwächt im Hinterlande fortbesteht, hat unfaßbares, unbegriffenes Glück in Millionen Herzen getragen, die sonst in ihrer Dumpfheit niemals dieses Höchste erlebt hätten. Es war in Wahrheit eine große Zeit, deren Welle auch die Kleinen zur Höhe des sittlichen Genies hob. Aus jener Stimmung heraus wuchs neben anderen Wünschen auf eine neue Ordnung der Gesellschaft auch das Streben, an Stelle der heutigen Wirtschaft der ungebundenen freien Konkurrenz die Gemeinwirtschaft zu setzen. Man wollte die starke Strömung jener Tage des Kriegsanfanges dazu nutzbar machen, um auch für die kommenden Jahre des Friedens, womöglich für immer, in den wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen der Menschen zueinander die Solidarität an die Stelle der Zersplitterung, das Miteinanderarbeiten an die Stelle des Gegeneinanderarbeitens zu setzen. Die Träger dieses Gedankens gehören zu den trefflichsten Männern unserer Zeit. Ihre Gedanken und Forderungen entspringen aus den edelsten Beweggründen, aus reinem selbstlosen Triebe zum Ganzen, zu höherer Ordnung, zu höherem Glück der Menschheit. Schon darum ist es eine schwere Aufgabe, öffentlich gegen sie zu streiten, und sie ist für mich persönlich um so schwieriger, weil ich die Welt ganz und gar von dem gleichen Standpunkt aus sehe und ganz dem gleichen Ziele mit aller Kraft meiner Seele zustrebe. Und dennoch zwingt mich das Gewissen dazu. Denn ich halte ihren Weg zum Ziele für vielleicht völlig ungangbar, jedenfalls für außerordentlich schwierig und gefährlich und ich glaube, einen besseren und sichereren Weg zu kennen. Der Streitfall, über den ich mich heute im Geiste der höchsten Achtung mit meinen Gesinnungsgenossen und doch leider Gegnern auseinanderzusetzen beabsichtige, ist uralt. Seit Jahrtausenden suchen die Besten nach einer Lösung, die, wie es scheint, nicht gefunden werden kann. Wo immer in einer menschlichen Gesellschaft sich die Wirtschaft höher staffelt und der Reichtum vermehrt, da sieht sich die Gesellschaft vor dem gleichen Dilemma. Denn überall, oder doch fast überall, führt die freie Konkurrenz zu schweren Ungleichheiten des Vermögens und Einkommens
1
Vortrag, gehalten vor der Dresdener Ortsgruppe des Zentralverbandes des deutschen Großhandels. [Erstmals erschienen in: Oppenheimer, Wege zur Gemeinschaft. Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. 1, München 1924, S. 288-297; A.d.R.]
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Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
und damit der sozialen Klasse. Die Ungleichheit aber führt je länger je mehr zu schwerer sozialer Zwietracht und Zerrüttung, zu gesellschaftlicher Unordnung.
Das ist ein arges, unter Umständen
ein tödliches Übel. Wenn man aber dieser Skylla ausweichen will, so steuert man die Gesellschaft in die Charybdis eines kaum minder großen, vielleicht sogar ärgeren Übels: in die Unfreiheit
hinein.
Und so scheint es, als könne die Menschheit niemals die beiden großen Güter der Ordnung oder, was dasselbe ist, der rationellen Gleichheit - denn nur bei rationeller Gleichheit kann eine Gesellschaft in ihrer Statik schwingen - und der Freiheit zugleich genießen. „Die volle Freiheit eines jeden kann nur bei voller Gleichheit mit jedem anderen statthaben", sagt Simmel, fügt aber hinzu, daß eben bei voller Freiheit die Gleichheit zerstört werden müsse. Er zitiert Goethe: „Gesetzgeber oder Revolutionäre, die Freiheit und Gleichheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Scharlatans." Von diesem Konflikte ist die Gesellschaftswissenschaft seit ihren ersten Anfängen ausgegangen. Kein Geringerer als Auguste Comte setzt der von ihm geschaffenen Soziologie das Ziel, Ordnung und Fortschritt, und Fortschritt heißt Freiheit, in neuer Synthese zu versöhnen. Ihm bedeutet die Ordnung das Prinzip des Beharrens, des Konservatismus, das leitende Gesetz des theologischen, der Fortschritt das Prinzip des metaphysischen Zeitalters - und die positive Ära, die er einzuleiten hofft, soll die Synthese bringen, soll sie bringen durch die Soziologie, durch die Wissenschaft, in der sich die Menschheit ihrer inneren Entwicklung und ihrer Gesetze und Tendenzen bewußt wird, durch die sie, um marxisch zu sprechen, hinter ihre eigenen Gesetze kommt, die Wissenschaft, die, wie Müller-Lyer sagt, die Menschheit lehren soll, den letzten wichtigsten Elementarprozeß zu beherrschen, denjenigen ihrer eigenen Entwicklung. Wenn sich die Menschheit seit etwa 100 Jahren in steigendem Maße dieses Dilemmas bewußt geworden ist, so ist doch damit nicht gesagt, daß sie es nicht schon viel früher gefühlt hat. Aus jeder N o t wächst eine Sehnsucht, und die Sehnsucht, die dieser N o t entwachsen ist, ist der
Sozialismus.
Sobald in irgendeiner Gesellschaft die kapitalistische Zersetzung beginnt, entsteht als ihr Gegenspiel die sozialistische Doktrin. Der Begriff des Sozialismus schwankt im Sprachgebrauch und leider auch in der wissenschaftlichen Literatur in verwirrender Weise. Fast immer wird das Ziel mit den Mitteln zum Ziele verwechselt. Das Ziel ist die Gleichheit,
wobei verstanden werden muß, daß die verschiedenen Auffas-
sungen verschiedene Begriffe von Gleichheit haben. Der Sozialismus von oben, der Ausdruck des Widerwillens der Bluts- und Geistesaristokratie gegen übles Parvenutum und seine Kulturlosigkeit, der Ausdruck ihrer Sorge um den durch die kapitalistische Zersetzung schwer bedrohten Staat: dieser Sozialismus von oben denkt nur an wirtschaftliche Ausgleichung, aber nicht an Gleichheit der politischen Rechte. Piaton, sein größter Vertreter, läßt seinen Staat durch die „Philosophen" lenken und durch die „Wächter" verwalten und schützen: die Volksmasse ist nur das Objekt ihrer Tätigkeit. Ahnlich konstruierte Thomas Morus seine Utopia und Campanella seinen Sonnenstaat; nach dem gleichen Muster verwalteten die Jesuiten ihren Indianerstaat in Paraguay, und ähnliche Konzeptionen hat auch der moderne Sozialismus von oben, sowohl in seiner christlichen, namentlich seiner katholischen Ausgestaltung, wo die Priester die Rolle der platonischen Philosophen spielen, wie in seiner industrialistischen Ausgestaltung. Bei Saint-Simon, ihrem ersten Begründer, und in unserer Zeit z. B. bei Wichard von Moellendorff und Walther Rathenau ist den Captains of industry diese Rolle zugewiesen. Es hängt damit zusammen, daß man in unserer Zeit mehr und mehr, und mit Recht, den Unterschied, ja Gegensatz zwischen den reinen Kapitalisten und den Unternehmern betont, so stark betont, daß bei Schumpeter nicht mehr der Proletarier, sondern der Unternehmer als derjenige erscheint, der vom Kapital ausgebeutet wird. In der Tat ist das Kapital, an sich betrachtet, ein Monopol, eine passive gesellschaftliche Machtposition mit dem Erfolge arbeitsloser Bereicherung ihres Besitzers, während der große Unternehmer eine aktive Kraft des wirtschaftlichen Fortschritts darstellt; und dem entspricht denn auch die Tatsache, daß der wirkliche Unternehmer viel mehr von einem der edelsten Triebe des Menschen, dem instinct of
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workmanship, dem Schöpfertriebe, gelenkt wird als von dem gemeinen Erwerbstrieb. Hier liegt die Scheide zwischen Handelsmann und Kaufmann oder, wenn man will, zwischen „Helden und Händler". Selbstverständlich erstrebt der Sozialismus von unten, die Klassentheorie der in der kapitalistischen Verteilung benachteiligten großen Masse derjenigen, die der passiven Machtposition des Kapitals den Tribut des Profits abzutreten haben, auch die Gleichheit der politischen Rechte; er ist gerade so demokratisch wie der Sozialismus von oben aristokratisch. Aber beide Abarten des Sozialismus erstreben wirtschaftliche Gleichheit, bald Gleichheit im strengsten mechanischen Sinne: das ist der Kommunismus der Arbeit und des Genusses, wie ihn von oben her z. B. Piaton, von unten ζ. B. Babeuf, forderte; bald in der gemilderten Form des Kollektivismus, der nur noch den Gemeinbesitz an den Produktionsmitteln, aber Privateigentum an den Konsumgütern vorsieht; so ζ. B. und vor allem Marx und Engels. Bald denkt man nur an eine rationelle Ausgleichung der Vermögen und Einkommen unter Verzicht auf alle mechanische Egalisierung; hier steht der christliche Sozialismus des Mittelalters und der Neuzeit voran, wie ihn heute wieder Plenge-Münster vertritt, mit der Forderung an den Reichen, sein Eigentum als von Gott verliehenes Amt im Interesse der Gesamtheit zu verwalten: eine Abschwächung des Liebeskommunismus der alten apostolischen Gemeinden. Und noch mehr abgeschwächt zeigt sich diese Auffassung im Staats- oder Kathedersozialismus eines Sismondi, Rodbertus und Adolph Wagner, der eigentlich kein Sozialismus, sondern konservativ-bürgerliche Theorie ist; und er will sich resigniert damit begnügen, durch einen starken Staat die schärfsten Spitzen der kapitalistischen Entwicklung abzustumpfen; er will, um mit Boisguillebert zu sprechen, „das verbrecherische Geld mit der Spitze des Degens in Schach halten". In seiner wirtschaftlichen Tendenz zielt, um diese verschiedenen Auffassungen unter einen Begriff zu bringen, aller wirkliche Sozialismus auf Gleichheit in dem Sinne hin, daß eine Gesellschaft ohne wesentliches und vor allem - das ist das Entscheidende - klassenbildendes arbeitsloses Einkommen, ohne Mehrwert, erstrebt wird. Die von Mehrwert erlöste Gesellschaft, deren Gleichheit nicht mehr in gefährlicher Weise erschüttert werden kann, ist das Ziel alles rechten Sozialismus, ist auch das meinige. Aber: welcher Weg führt zu diesem Ziele? Hier scheiden sich die Geister noch viel entschiedener und grundsätzlicher als ζ. B. in bezug auf das politische Ziel. Hier hängt alles von der theoretischen Auffassung des einzelnen ab. Wenn ein Bild gestattet ist: unzweifelhaft ist der Kapitalismus eine schwere Krankheit der Gesellschaft. Die Sozialisten sind die konsultierenden Arzte an ihrem Siechenbett, und der Heilplan, den jeder einzelne vorschlägt, hängt selbstverständlich ab von der Auffassung der speziellen Pathologie des Falls, d. h. von der Auffassung des einzelnen Arztes, was die Causa morbi, die Ursache der Krankheit, und die Sedes mali, der Sitz des Übels, das erkrankte Organ, ist. Darüber besteht leider nicht einmal der Anfang einer Einigung. Die nationalökonomische Theorie, sowohl von der Physiologie wie der Pathologie der Gesellschaft, ist nach dem Ausdruck eines ihrer bekanntesten Vertreter nichts Besseres als ein Trümmerhaufen. Und besonders die für uns hier entscheidende Frage, was Kapital sei, und wie der Profit sich bilde, ist in einer geradezu ridikülen Weise strittig. Es tut mir als Fachmann weh, dies vor Laien eingestehen zu müssen, aber es liegt leider so. Wir haben etwa ein halbes Hundert Kapitalstheorien, und fast jede ist endgültig als falsch erwiesen, wird aber nach wie vor vorgetragen. Unter solchen Umständen ist der kranke Organismus der Gesellschaft so übel daran wie ein kranker Mensch in der Zeit der philosophierenden Arzte, wo Humoral- und Neuropathologen usw. stritten. Jeder Heilplan sieht anders aus. Um mit den bürgerlichen Halbsozialisten zu beginnen, so verordnen sie Beruhigungspülverchen und Stärkungsmittel, um den Kranken, an dessen Genesung sie verzweifeln, solange wie möglich über Wasser zu halten. Die ihnen sehr nahe verwandten christlichen Sozialisten lassen sich zwanglos mit den Gesundbetern vergleichen.
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Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
Was nun die eigentlichen Sozialisten anlangt, so wollen die allermeisten auf die Symptome loskurieren. Die fehlerhafte Verteilung des volkswirtschaftlichen Gesamtertrages, die die Krankheit darstellt, hat offenbar als ihre nächste Ursache die Konkurrenz, die den einen bereichert, den anderen entblößt und beraubt. Die wissenschaftliche Aufgabe wäre, weiter zurückzufragen, was die Ursache dieser Verzerrung der Konkurrenz und dadurch die letzte Ursache der fehlerhaften Verteilung ist. Aber die Frage wird nicht gestellt, sondern diese Schule von Ärzten will die Konkurrenz ausrotten. Sie will an die Stelle der uns bekannten, fehlerhaft funktionierenden Wirtschaft eine ganz neue Konstruktion setzen, die marktlose Wirtschaft·, die Gütererzeugung und Güterverteilung von Gesellschafts wegen, d. h. durch behördliche Leitung. Diese Theoretiker sind Chirurgen zu vergleichen, die den Kranken durch eine Operation von einem entarteten Organ zu befreien vorschlagen, das durch einen Mechanismus ersetzt werden soll. Solche Operationen sind möglich, wenn es sich um weniger lebenswichtige Organe handelt: man kann ein krankes Bein durch eine Prothese und kranke Zähne durch ein künstliches Gebiß zur Zufriedenheit ersetzen. Es fragt sich nur, ob der Markt, der herausgeschnitten werden soll, ein derartiges minder lebenswichtiges Organ ist. Wer ihn, wie ζ. B. meine Wenigkeit, für das Herz der Volkswirtschaft hält, wird gegen eine derartige Gewaltkur à la Doktor Eisenbarth bis zum letzten Augenblick, noch wenn der Patient bereits in der Narkose liegt, den verzweifeltsten Protest einlegen. Unter diesen Operateuren der Wirtschaft befinden sich Sozialisten von oben wie von unten. Marx hat sie als Utopisten bezeichnet. Nach ihm ist es Utopismus, die künftige Gesellschaft „aus dem Kopfe" erfinden zu wollen, und er nahm für sich, und mit Recht, in Anspruch, den Schritt von der Utopie zur Wissenschaft getan zu haben, indem er von jedem Sozialismus forderte, die Zukunftsgesellschaft „mittels des Kopfes" aus den Entwicklungstendenzen der Gesellschaft selbst abzuleiten. Seine Auffassung der Krankheit ist ausgesprochenermaßen die, daß es sich um eine Schwangerschaft handle, deren natürliches Ende in Geduld abgewartet werden müsse. Im Schöße der kapitalistischen Gesellschaft selbst reife die sozialistische heran und werde zu ihrer Zeit, vielleicht mit etwas Nachhilfe der Geburtshelferin Gewalt, ans Licht treten, und zwar als eine fertige, marktlose Gesellschaft mit der Produktion durch und für die ganze Gesellschaft. Seine Lehre, die jeder Gebildete heute in ihren Hauptzügen kennen muß, ist nämlich die folgende: im Kampfe der Konkurrenz frißt immer der Größere den Kleineren. Zuerst verschwinden die historischen Mittelstände: Handwerker, Kleinhändler und Kleinbauern, dann die kleinen Kapitalisten, dann die Mittelgroßen, und zuletzt bleiben am einen Pole der gesellschaftlichen Stufenleiter ein paar Riesenkapitalisten im Besitze der gesamten Produktionsmittel übrig, denen am anderen Pole die gesamte Volksmasse gegenübersteht, verwandelt in besitzlose Proletarier. In diesem Stadium ist die marktlose Gesellschaft bereits fix und fertig, sie steckt nur noch in ihren kapitalistischen Eihäuten: denn es ist sowohl die Gütererzeugung völlig durchorganisiert und rationalisiert, wie auch die Verteilung für die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung egalisiert. Diese fertige marktlose Wirtschaft übernimmt nunmehr das Proletariat, indem es die Expropriateure expropriiert. Es bleibt alles beim alten, nur daß die „Mehrarbeit" eingeschränkt und der „Mehrwert", der noch bleibt, den Zwecken der Gesamtheit nutzbar gemacht wird. Man muß zugeben, daß der Schlußfolgerung nicht mehr ausgewichen werden kann, sobald man die Voraussetzungen zugeben muß. Nur besteht heute kein Zweifel mehr daran, daß die Voraussetzungen falsch sind. Marx hat das Tempo der Entwicklung ungeheuerlich überschätzt, das spätestens bei der übernächsten Krise, also ungefähr 1870, zur Geburt des heiligen Kindes führen sollte: es ist aber auch nicht wahr, daß die Mittelstände ausnahmslos verschwinden. Vor allem hat sich der landliche Mittelstand, die Bauernschaft, überall als in der Konkurrenz eher überlegen erwiesen und nimmt freudig zu; und auch der kommerzielle und industrielle Mittelstand bildet immer neue selbständige, und in den Angestellten und Beamten noch viel mehr unselbständige Elemente heran, die
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nicht im mindesten proletarische Existenzen sind. - Alles in allem kann von jener grandiosen und radikalen Simplifizierung und Unifizierung der Wirtschaft, die Marx erwartete, gar keine Rede sein. Die Folge davon, daß dieser erste Versuch des wissenschaftlichen Sozialismus gescheitert ist, war die Spaltung der Sozialdemokratie in Orthodoxie und Revisionismus, und war mindestens für die Revisionisten die reuige Rückkehr von der Wissenschaft zur Utopie. Sie sind wieder lustig dabei, die Zukunftswirtschaft „aus dem Kopfe zu erfinden" und treffen sich bei diesem Unternehmen mit den Sozialisten von oben, die immer Utopisten geblieben sind. Sie wollen die marktlose Wirtschaft konstruieren, organisieren: darin trifft sich der proletarische Sozialist Scheidemann mit dem christlichen Sozialisten Plenge, dem Platoniker Moellendorff und dem Saint-Simonisten Rathenau. Wenn man das Gemeinsame an der Auffassung dieser ausgezeichneten, in sonst allen Punkten divergierenden Männer mit einem kurzen Worte bezeichnen sollte, so müßte man sagen, daß ihnen unversehens das Mittel zum Ziele geworden ist. Ihnen sämtlich bedeutet der Sozialismus die marktlose Wirtschaft, die Gemeinwirtschaft; sie haben vergessen, daß diese Gemeinwirtschaft ihnen ja doch nur das Mittel zu einem ferneren Ziel sein sollte, zu der vom Mehrwert erlösten Gesellschaft der rationellen Gleichheit von Einkommen und Vermögen. Und infolgedessen vergessen sie ganz und gar zu fragen, ob ihr letztes Ziel nicht vielleicht auf einem anderen Wege erreichbar, durch ein anderes Mittel realisierbar ist. Diese Verwirrung ist zum großen Teile darauf zurückzuführen, daß, wie schon einleitend gesagt, der landläufige und leider auch der wissenschaftliche Begriff des Sozialismus Ziel und Mittel zu identifizieren pflegt: er versteht unter Sozialismus das Streben auf die marktlose Gemeinwirtschaft. Nun hat es aber von jeher unzweifelhafte Sozialisten gegeben, die der Meinung waren, das Ziel der rationellen Gleichheit sei erreichbar, ja, sei sogar nur erreichbar in einer Gesellschaft, die von der unserigen uns vertrauten grundsätzlich nicht verschieden sei, in der namentlich also der Markt mit seinem Spiel von Angebot und Nachfrage und seiner Konkurrenz fortbestehe. Es handelt sich hier um solche Denker oder, um in unserem Bilde zu bleiben, Arzte der Gesellschaft, die von der nächsten Ursache der fehlerhaften Verteilung, der Konkurrenz, weiter zurück nach der letzten Ursache forschen, d. h. nach der Ursache, warum die Konkurrenz selbst krankhaft entartet ist. Ihnen stellt sich die Aufgabe, nicht: den Markt und die Konkurrenz auszurotten, sie wegzuoperieren wie eine bösartige Geschwulst, sondern, ihre Störungen zu beseitigen. Wenn die Anhänger der Gemeinwirtschaft Mechanikern vergleichbar sind, die eine schlechtgehende Uhr dadurch in Ordnung bringen wollen, daß sie die Feder herausnehmen und durch irgendeinen neuen, aus dem Kopfe erfundenen, noch nicht erprobten Mechanismus ersetzen: so gleichen diese anderen, die liberalen Sozialisten, einem Uhrmacher, der das verschmutzte Werk reinigt, hemmende Fremdkörper entfernt und die Teile ihrer Bestimmung nach wieder zusammensetzt. Diese liberalen Sozialisten hat es zu jeder Zeit gegeben. Aber sie sind durch die Brüder von der anderen Farbe so sehr überstrahlt und zum Teil derart rücksichtslos niedergeknüppelt worden, daß sie der heutigen Öffentlichkeit kaum bekannt sind. Sie stimmen sämtlich, wie schon angedeutet, darin überein, daß die Funktion des volkswirtschaftlichen Organismus durch außerökonomische Einflüsse der Eroberung, der staatlichen Privilegien und der durch beide geschaffenen heutigen Eigentumsordnung gestört wird, wie der Gang einer Uhr durch einen hineingeratenen Fremdkörper; - und daß nichts weiter zu tun ist als die Störung zu beseitigen und dann den Rest vertrauensvoll der Selbstheilungskraft der Natur zu überlassen. Um in unserem Bilde zu bleiben: diese Arzte der kranken Gesellschaft stellen die Diagnose, sie werde durch die Gegenwart eines Fremdkörpers krank gehalten, so wie etwa ein Mensch krank ist, der fast bis zum Ersticken stranguliert ist, oder wie man an den schwersten Krämpfen leiden kann, wenn einem ein Stahlsplitter ins Gehirn oder sogar nur in einen Finger eingedrungen ist. Und auf diese Diagnose gründet sich auf das einfachste der Heilplan: man muß den strangulierenden Strick durchschneiden oder den Stahlsplitter herausnehmen. Das andere macht dann schon die Natur aus eigenen Kräften.
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Der erste Denker dieser Richtung war der Graf Saint-Simon, ein Zeitgenosse der französischen Revolution. Er erkannte, daß die erobernde Gewalt, die den Feudalstaat geschaffen hatte, das Eigentum sehr ungleichmäßig verteilt hatte; und daß daraus ohne weiteres eine entsprechende Verteilung der Einkommen folgen mußte, die er eine von den den „Industriellen" geleitete „Organisation der Wirtschaft" und durch eine großartige Reform der Erbschaftssteuer zu reformieren gedachte. Der nächste berühmte Name in der Reihe ist Proudhon, ein erbitterter Feind der Gemeinwirtschaftler, der vom Bankwesen her, durch unentgeltlichen Kredit, dem Kapitalismus zu Leibe wollte. Andere Denker dachten den Drachen Kapital durch Organisation des Konsums oder durch die Verbreitung der Gewerkschaften zu töten: das sind die Assozialisten, wie Schäffle sie nannte. Weitaus am berühmtesten geworden von den liberalen Sozialisten ist aber Henry George, der die Störung der freien Konkurrenz und der gerechten Verteilung im Grundeigentum erkannte und vorschlug, durch Wegsteuerung der Grundrente vermittelst seiner „einzigen Steuer" die Gesellschaft zu heilen: das ist die Bodenreform, eine Abart des liberalen Sozialismus, die übrigens zahlreiche Vorläufer hat. Ein liberaler Sozialist ist auch Eugen Dühring, der heute noch als uralter Mann in Nowawes lebt, 1 einer der größten Köpfe und Gelehrten unserer Zeit, den aber sowohl die bürgerliche wie die sozialdemokratische Wissenschaft in der erfolgreichsten Weise totgeschwiegen hat, so daß er nur einem kleinen Kreise bekannt ist. Er ist im wesentlichen Saint-Simonist. Seine Auffassung ist, daß nur ein Teil unseres heutigen Eigentums auf wirtschaftliche Leistung zurückführt; ein anderer Teil aber entstammt ursprünglich außerökonomischer Gewalt, nämlich der Eroberung usw.; und dieses „Gewalteigentum" fordert und erhält seinen „Gewaltanteil", den Mehrwert. Fällt es, so fällt der Mehrwert mit ihm, und die von ihrer Hemmung erlöste Wirtschaft funktioniert fortan in voller Gesundheit: die freie Konkurrenz des Marktes teilt an jeden den Gegenwert seiner Leistung aus, nicht mehr und nicht weniger. Dühring und Henry George gehören zu meinen eigenen Meistern. Durch die Kombination ihrer Lehre mit der Staatslehre von Karl Rodbertus und der Kapitalslehre von Karl Marx unter Zufügung einiger bescheidenen eigenen Funde glaube ich, heute weit genug gekommen zu sein, um die wissenschaftliche Diagnose des Kapitalismus durchaus und widerspruchsfrei aufstellen und den Heilplan entwerfen zu können.
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E u g e n D ü h r i n g ist inzwischen gestorben.
Pseudoprobleme der Wirtschaftspolitik
[1925]1
Der Streitfall scheint theoretisch endgültig entschieden - die Gesellschaftswirtschaft ist eine Maschine, und zwar eine elend gebaute und arbeitende Maschine, die nicht nur geputzt und geschmiert, sondern auch fortwährend umgebaut und repariert werden muß. Da aber alle Praxis aus theoretischen Vordersätzen folgt, so ergibt sich daraus, daß alle praktischen Probleme nur im folgenden bestehen können: Wo ist einzugreifen? Was ist zu verbessern? Wie weit kann man eingreifen, ohne die Maschine, die doch keinen Augenblick ganz stillstehen darf, wenn die Völker nicht zugrunde gehen sollen, zum Stillstand zu bringen oder gar ganz zu zerstören? Das ist die gemeinsame Grundlage und der gemeinsame Kern der Problematik, vom radikalsten Kommunismus an, der die ganze alte schlechte Maschine zerschmeißen und eine vollkommen neue, wirksamere mit viel besserem Rendement konstruieren will, über die kühneren und zahmeren Pläne der „Sozialisierung" und über Walther Rathenaus Neo-Saint-Simonismus und Wichard von Moellendorffs „Planwirtschaft" bis zum resigniertesten Interventionismus herab, der ein bißchen weiße Salbe auf die Schwären schmieren will, um sie wenigstens zuzudecken, - das ist die gemeinsame Problematik, mit der sich unsere „beiden Nationalökonomien", die sich sonst mit so großer Verachtung gegenseitig als Pseudowissenschaft behandeln, heute beschäftigen und quälen. Und da sie hier allein einig sind, scheint in der Tat res judicata zu sein. Nichts ist undankbarer, als in einer rechtsgültig entschiedenen Sache die Revision des Urteils zu fordern. Das fällt den Richtern auf die Nerven, ruft alle Instinkte der Abwehr wach, soll man doch zuwider dem Gesetze der Trägheit, längst erledigt Geglaubtes noch einmal durchdenken, und soll man doch unter Umständen gezwungen sein, einen Irrtum einzugestehen! Wer das verlangt, ist ein „Störer" und hat wenig Sympathie zu erwarten. Dennoch gebietet das Gewissen, die undankbare Rolle zu übernehmen, wenn wir zu der Uberzeugung gekommen sind, daß ein Fehlspruch gefallen ist. In dieser peinlichen Lage befinde ich mich, und darum: dicam et salvabo animam meam. Wie, wenn die Wirtschaftsgesellschaft gar keine Maschine, sondern ein Organismus wäre?! Wenn es sich nicht um eine fehlerhafte Konstruktion, sondern um eine Krankheit handelte, vielleicht sogar um eine durch eine äußere Störung verursachte Krankheit?! Wäre nicht in diesem zunächst hypothetischen Falle die praktische Aufgabe eine ganz andere? Denn ein Organismus, das ist bekanntlich ein lebendiges Ding, dessen Wesen gerade darin beruht, daß es den „notwendigen Konsensus" besitzt, wie Auguste Comte sagt, jenes Zusammenspiel der Organe und Funktionen, die man als „Normalität" oder „Gesundheit" bezeichnet. „Concordia est sanitas", sagt Hobbes in den einleitenden Sätzen seines „Leviathan" und meint damit nichts anderes als dieses Zusammenspiel der Organe und Funktionen seines künstlichen Riesen, Leviathans, des Staates oder der Gesellschaft.
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[Erstmals erschienen in: Wirtschaftswissenschaft nach dem Krieg. Festgabe für Lujo Brentano, hrsg. von M. J. Bonn und M. Palyi, Bd. 1, München/Leipzig 1925, S. 323-347; A.d.R.]
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Wenn es ein Organismus und keine Maschine ist, mit dem wir als zur Abhilfe berufene Fachmänner zu tun haben, wenn es sich nicht um Konstruktionsfehler, sondern um eine Krankheit handelt, dann haben wir uns nicht als Ingenieure, sondern als Arzte zu verhalten, die äußersten Falles als Chirurgen ein brandiges, das Leben des Ganzen bedrohendes Glied absetzen, aber die Hauptsache der „Vis medicatrix naturae" zu überlassen haben. Ich wurde einmal als Arzt zu einem Selbstmörder gerufen: Sprung aus dem vierten Stock. Ich fand bei ihm zwei junge Kandidaten der Medizin, die mir sehr stolz einen kunstgerechten Verband zeigten, den sie um einen zerschmetterten Unterschenkel gelegt hatten. Der Verband war sehr schön: aber sie hatten in ihrem Eifer nicht bemerkt, daß ihr Patient inzwischen gestorben war. Ich fürchte manchmal, daß wir so lange an dem Patienten herumflicken und verbinden werden, bis er uns unversehens mit Tode abgeht. Wir müssen also wieder zu dem praktischsten Dinge auf der Welt, zur Theorie zurück. Wir müssen ein Stockwerk tiefer gehen, als wir seit langer Zeit gewöhnt sind, wir müssen die prinzipielle Frage wieder einmal stellen: Ist die Gesellschaft eine Maschine oder ein Organismus? Die Antwort darauf wird unser praktisches Handeln bestimmen. Ohne die Frage und die Antwort auf die Frage sind wir nichts Besseres als rohe Empiriker, wenn nicht - Kurpfuscher. Gibt es denn eine Antwort auf die entscheidende Frage? Oder gilt hier das Won von Hobbes: „Harum rerum non est Demonstratio"? Ich will versuchen, zu beweisen, daß es eine Demonstratio gibt. Die ganze Grundlage allen Interventionismus von Piaton bis Plenge liegt beschlossen in einem einzigen Satze Jean-Jacques Rousseaus: „C'est précisément parce que la force des choses tend toujours à détruire l'égalité, que la force de la législation doit toujours tendre à la maintenir." 1 Weil Platon daran glaubte, daß die sich selbst überlassene Gesellschaftswirtschaft zur krassen, klassenbildenden Ungleichheit der Einkommen und Vermögen und eben dadurch zur „Discordia", zur Zerstörung des Konsensus, zur tödlichen Krankheit des Staates führen müsse, zur Zerspaltung des einen Volkes in jene zwei Völker, „die sich gegenseitig feindlich nach dem Leben trachten" - nur aus diesem Grunde ersann er den Kommunismus seiner „Politeia" und gab damit den kommenden Jahrtausenden das Stichwort. Die ganze kanonische Wirtschaftsphilosophie des Mittelalters ist beherrscht von der Angst vor der freien Konkurrenz in der Geldwirtschaft, die zur krassen Ungleichheit führen und die einen so reich machen müsse, daß sie andere kaufen können, und andere so arm, daß sie gezwungen sind, sich zu verkaufen, wie Rousseau an der gleichen Stelle sagt. Diese durch ihr Alter und ihre großen Vertreter geheiligte Lehrmeinung heißt wissenschaftlich seit Adam Smith das „Gesetz der ursprünglichen Akkumulation". Ist es wahr? Das ist unser Problem. Es gab eine kurze Zeit, da war der Glauben an dieses Gesetz stark erschüttert. Das geschah unter dem Einfluß Bernard de Mandevilles, der, ein philosophisch geschulter Arzt, die Dinge vom Standpunkt der organischen Auffassung aus, d. h. von der Präsumption des „notwendigen Konsensus" aus, sah und die Entdeckung machte, daß die einzelnen Egoismen der Gesellschaftsglieder, ganz wie die der einzelnen Zellen und Organe, sich gegenseitig ausbalancieren und eben dadurch die Harmonie, die concordia sive sanitas, herbeiführen. Hier ist die Quelle des starken Optimismus, der, wie die ganze Philosophie, so auch die Ökonomik des folgenden Jahrhunderts beseelt. Von dieser ersten Erkenntnis dessen, was Hegel später die „List der Idee" nannte, die gerade durch die „Heterogenität der partikulären Zwecke", gerade durch die Eigensucht der Teile, die „Harmonie" des Ganzen herbeiführt, gingen Quesnay und Adam Smith weiter und zu Ende und entwickelten die Lehre von der „Harmonie aller Interessen". Ihre Herrschaft war nur kurz und nie ganz unbestritten. Die Völker glaubten, das rettende Rezept ausgeführt zu haben, das ihnen diese philosophischen Arzte am Lager der sterbenskranken
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[Rousseau, Du contrat social, Paris 1896, 2. Buch, Punkt 2; A.d.R.]
Pseudoprobleme der Wirtschaftspolitik
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Gesellschaft verordnet hatten: Herstellung der freien Konkurrenz durch Beseitigung der sie lähmenden, ihre Segnungen vernichtenden, mindestens unerträglich aufhaltenden Hemmungen, der Monopole. Aber ihre Hoffnung auf schnelle und glorreiche Genesung wurde bitter enttäuscht; die „Pleonexie" wütete ärger als je zuvor, die Kluft zwischen den Klassen verengte sich nicht, sondern wurde immer tiefer und breiter, ihr Gegensatz und Kampf immer verbitterter und gefährlicher. Und so gab man schmerzlich die Hoffnung auf die Harmonie auf, verlor den schönen Optimismus der Anfangszeit und wandelte die Ökonomik in Carlyles „dismal science" um, während gleichzeitig in der Philosophie der Pessimismus Schopenhauers, von Hartmanns und Nietzsches den Optimismus der Herder, Kant, Fichte und Schelling verdrängte. Das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation galt wieder unbezweifelt, außer von einigen verachteten Außenseitern: einem Carey, Proudhon, Dühring. Damit haben wir das Problem vollkommen bestimmt: Wir haben zwei Theoreme, die in kontradiktorischem Gegensatz zueinander stehen. Das eine, die Harmonielehre, behauptet, die freie Konkurrenz, d. h. das durch nichts gehemmte natürliche Leben der Wirtschaftsgesellschaft führe zur Harmonie, d. h. zur vernunftgemäßen Gleichheit, der „Isotes" Piatons, zur Abstufung des Einkommens nach nichts anderem als der gesellschaftlichen Leistung. Die andere, die Lehre von der ursprünglichen Akkumulation, behauptet umgekehrt, die Konkurrenz führe naturnotwendig zur Ungleichheit mit allen ihren furchtbaren Folgen für das Leben der Einzelnen und der Gesamtheiten. Daraus ergeben sich folgende Unterprobleme: I. Ist die Harmonielehre wahr ? a) War die Diagnose grundsätzlich richtig? b) War sie vollkommen richtig? c) War der Heilplan richtig und ist er in der Tat ausgeführt worden? Π. Ist die Lehre von der ursprünglichen Akkumulation wahr? Von dem ersten Hauptproblem und seinen Unterproblemen soll hier dieses Mal nicht die Rede sein. Ich habe eine Lebensarbeit daran gesetzt, zu beweisen, daß die Diagnose grundsätzlich richtig ist, d. h. daß die wirklich freie, wirklich von allen künstlichen Monopolen befreite Konkurrenz in der Tat die Gleichheit und die Harmonie aller Interessen bringen würde; daß die Diagnose unvollständig war, weil die großen Meister unserer Wissenschaft das stärkste und gefährlichste aller Monopole nicht als solches erkannt haben: das Monopol der Bodensperre, in der Rechtsform des massenhaften großen, ausschließenden Grundeigentums; - daß daher der Heilplan unvollständig war (übrigens hat Adam Smith die Aufhebung der Fideikommisse ausdrücklich mit der Begründung gefordert, daß dann „das Monopol nicht aufrecht bleiben könnte"); - daß es also noch niemals freie Konkurrenz gegeben hat: denn bei Anwesenheit eines Monopols gibt es per definitionem keine freie Konkurrenz! Und daß daher alle Anklagen gegen diese, nach dem Ausweise der Wirtschaftsgeschichte natürliche, immanente Gesamtfunktion der Gesellschaft hinfällig sind; daß, mit anderen Worten, die Schäden, an denen wir leiden und vielleicht zugrunde gehen müssen, wenn wir weiter an Symptomen herumkurieren (Unterschenkel verbinden), anstatt den Kranken als lebendige Totalität aufzufassen, daß diese Schäden nicht sind die Folge der freien, sondern der durch mächtige Monopole verzerrten, „beschränkten Konkurrenz", die selbst eine Unterart der Klasse „Monopole" ist.1
1
Vgl. Oppenheimers Debatte mit Joseph Schumpeter, abgedruckt in: derselbe, Wege zur Gemeinschaft. Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. 1, München 1924, S. 411ff., [siehe im vorliegenden Band, S. 105-110; A.d.R.].
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Von alledem soll hier nicht die Rede sein. Sondern ich will das entgegengesetzte Theorem, das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation, in seinen geisteswissenschaftlichen Wurzeln aufzudecken und jede einzelne auszugraben und, als die Köpfe einer sich immer wieder in verdoppelter Kraft aufrichtenden Hydra, auch auszubrennen versuchen, zu Ehren und im Geiste eines Meisters der geistesgeschichtlichen Forschung, eines Mannes, der im tiefsten Grunde der liberalen Grundlehre, deren Rehabilitation ich hier unternehme, immer treu geblieben ist, der von der freien Einung der unter unserer „Ordnung" Leidenden immer viel mehr erwartet hat als von allem Interventionismus, der im Grunde nur so weit Interventionist war und ist, wie auch ich das bin: für die Gegenwart, um den Patienten zunächst einmal „über Wasser zu halten", bis die vis medicatrix naturae ihr Werk tun kann. 1 Das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation ist die Theorie von der Entstehung der wirtschaftlichen Ungleichheit und, aus ihr folgend, der sozialen Rangklassen aus rein inneren, immanenten Kräften der entwickelten Gesellschaft, ohne Einwirkung „außerökonomischer Gewalt" in irgendeiner Gestalt. Es stellt also schon prima facie an uns eine sehr starke Zumutung: anzunehmen, daß es bisher keine Geschichte mit aller ihrer Eroberung, Unterwerfung, Verknechtung, ihrer Usurpation aller Naturschätze, vor allem des Bodens, durch privilegierte Klassen oder Einzelne, gegeben habe; oder wenigstens, daß alle Geschichte auf die heutige Lagerung der Menschheit, auf ihre Eigentumsverhältnisse und ihre Klassenschichtung, nicht gewirkt habe. Wir drängen unser natürliches Mißtrauen gegen eine derartig kecke Annahme zurück und fragen nur, wie sie entstanden ist, und wie sie zu der Geltung gelangt ist, die sie heute besitzt, wo sie buchstäblich das Grundaxiom aller bürgerlichen und proletarischen Soziologie, nicht bloß der Ökonomik, sondern auch der Staats- und Rechtslehre und der Historik, ist. Ihre tiefsten Wurzeln reichen bis ins hellenische Altertum zurück. Drei klassische Philosopheme sind in sie eingegangen: die Lehre des Aristoteles, die der Stoa und die des Epikureismus. Sie sind von Hause aus so verschieden wie nur möglich. Der Stagirit ist, im modernen Ausdruck, Universalist; er geht vom Ganzen der Gesellschaft zu ihren Teilen, den Individuen vor, denkt historisch, organisch, während die beiden anderen Lehren, schon Produkte der Zersetzung der alten Gesellschaft, rationalistisch-individualistisch von den Einzelnen aus zum Ganzen gehen. Unter sich unterscheiden sie sich auf das schärfste insofern, als die Stoa, die eine die Welt durchwaltende, zum Kosmos strebende göttliche Vernunft als den Urgrund aller Dinge begreift, ein Fünklein dieser Vernunft als auch in der Seele der Menschen vorhanden annimmt und daher an ihren eingeborenen Willen zur Gemeinschaft und Ordnung glaubt; ihr ist der Mensch von Natur aus gesellig, und so ist auch seine Gesellschaft oder sein Staat - die Antike hat keine Veranlassung, die beiden Begriffe zu trennen - „von Natur aus gegeben, ist „physei". Der Epikureismus aber ist materialistisch-atomistisch begründet. Wie die Atome, so werden auch die Menschen nur von außen her zu Gebilden geordnet. Sie sind ungesellig, ihr Staat ist „durch Satzung" „nomo", durch Vertrag, der dem nätürlichen Kriege aller gegen alle ein Ende macht. Die stoische Lehre ist so optimistisch für den Anfang, daß sie die Entwicklung nur pessimistisch schildern kann: eine Verderbnis hat den Staat befallen, hat das goldene in das eherne Alter umgewandelt. Umgekehrt ist der Epikureismus in seinem Anfang so pessimistisch, daß er den Fortgang
1
Das folgende ist ein kurzer Auszug aus einem sehr umfangreichen Kapitel der Grundlegung zu einem zweiten Bande meines Systems der Soziologie der den Titel führt „Der Staat". Das Buch wird in kurzer Zeit erscheinen; ich m u ß für alle Belege auf die ausführliche Darstellung verweisen. [Vgl. auch Oppenheimer, Gesammelte Schriften, Bd. Π: Politische Schriften, Berlin 1996, S. 309-385, die dortige Fassung entstammt der 1. Aufl. von 1907; A.d.R.]
Pseudoprobleme
der
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nur optimistisch als einen Fortschritt sehen kann. Bei ihm gibt es nur positives Recht, bei der Stoa aber muß, nachdem der Ungehorsam gegen das natürliche Gesetz den Staat in Verderbnis gestürzt hat, das positive Gesetz als Beißzaum eingeführt werden. Diese beiden Systeme stimmen bei aller inneren Verschiedenheit dennoch in mehreren Punkten überein. Erstens, wie schon gesagt, in ihrer „aufklärerischen" Gesamthaltung: sie sind beide individualistisch-rationalistisch. Zweitens darin, daß sie beide rein philosophischer Natur sind, Systeme einer weltanschauungsmäßigen Selbstbesinnung, die vorwiegend theoretisch und nur insoweit „praktisch" sind, wie sie aufgrund der Erkenntnis des Seienden auch das Gesollte in Sittlichkeit und Recht - auch Staatsrecht - zu unterbauen suchen. Aber sie sind, was uns hier besonders interessiert, nicht im mindesten praktisch in jenem anderen Sinne, daß sie etwa als Kampflehre einer Partei oder Klasse oder sonstigen Gruppe dienen wollen. Sie sind im Gegenteil beide weltflüchtig-quietistisch, der rechte Ausdruck ihrer verzweifelten, weltmüden Zeit. - Der dritte gemeinsame Zug ist der, daß sie beide Staat und Gesellschaft, die ihnen das gleiche bedeuten, aus einem Ur- oder Naturzustande hervorgehen lassen, in dem lauter freie Menschen von gleichem Recht und anfänglich auch gleicher wirtschaftlicher Lage nebeneinander stehen, und daß sie beide aus diesem Urzustand durch die Wirkung rein innerer, rein immanenter Kräfte, ohne Einwirkung äußerer Gewalt, den heutigen Zustand der Klassengesellschaft ableiten. Bei beiden ist das durchaus als methodische „Fiktion", durchaus nicht als Darstellung eines wirklich geschichtlichen Verlaufs gedacht. Im Mittelalter beherrscht zuerst die Lehre des nahezu kanonisierten Aristoteles in der ihr namentlich von Augustin und Thomas gegebenen Gestalt die Geister, der Zeit angemessen durch seinen Universalismus und durch den starken Zug eines gegenrevolutionären Konservatismus, der ihn wie Piaton auszeichnet. Er herrscht unbestritten, bis zum ersten Male in der Geschichte der nord- und westeuropäischen Völker der Staat als solcher, nicht eine einzelne Regierung, sondern eben „der" Staat zum Problem wird. Das geschieht, als er zuerst mit einer anderen gesellschaftlichen Macht in Konflikt gerät, der katholischen Kirche. Vom Investiturstreit an ist das Mittelalter erfüllt von dem Kampfe des zur Welthegemonie strebenden Papsttums gegen die nationalen Fürsten, den Kaiser und die Könige von England, Frankreich usw.: Philipp den Schönen, Ludwig XI., Wilhelm II. von England. Jetzt tauchen die Gedanken des heiligen Augustin von der civitas dei et diaboli wieder auf. Die Päpste rufen namentlich gegen den Kaiser das „absolute Naturrecht" in die Schranken; hier ist eine der Wurzeln „Widerstandsrechte"; Gregor VII. gibt den späteren Kämpfen zwischen Kirche und weltlicher Gewalt in der Reformationszeit, und denen der Landesfürsten mit den Ständen das Stichwort. Aber schon in den Schriften des kühnen Marsilius von Padua mischt sich der Ton einer neuen Macht in das Diapason der Stimmen, nämlich der im geldwirtschaftlich früher entfalteten Italien aufkommenden Bourgeoisie, eine Stimme, die dann in den Schriften der hugenottischen „Monarchomachen" lauter erklingt, in Hotmans „Franco-Gallia" und Morney du Plessis' (Junius Brutus') „Vindiciae contra tyrannos", dem Ausdruck der vom französischen Königtum unterdrückten evangelischen Bourgeoisie, die sich den hugenottischen, zum Landesfürstentum strebenden, gegen den emporkommenden Absolutismus kämpfenden Magnaten verbündet hatte. Diese neue Gegnerschaft gegen die Mächte des Feudalstaates stützt sich nicht mehr auf Aristoteles, sondern auf die Stoa und den Epikureismus, weil erstens der Stagirit die große Autorität der Kirche ist, die man bekämpft, weil zweitens die Zeit der der antiken sozialen Zersetzung mit ihrer vordringenden Herrschaft des geldstarken Großbürgertums, immer ähnlicher wird, und weil drittens und letztens diese Lehren eher geeignet waren, in eine politische oder verfassungsrechtliche Kampflehre umgebogen zu werden. Zu dem Zwecke hatte man nichts weiter zu tun, als die schon von der römischen Rechtsphilosophie angebahnte Gleichsetzung des im Naturzustande herrschenden Rechts mit dem „jus gentium" auszugestalten. Das Naturrecht tritt auf den Kampfplatz, und die Waffe der verschiedenen streitenden Parteien wird die Formulierung und Auslegung des „Gesell•
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schaftsvertrages", den, wie Jellinek feststellt, das Mittelalter nicht kannte: in ihm ist immer nur vom Subjektionsvertrage, dem Pakt zwischen Volk und Herrscher, aber niemals von dem „Unionsvertrage" die Rede, der den Staat erschafft. Die großen Probleme tauchen auf, ob das Volk dem Fürsten seine Macht unwiderruflich oder widerruflich gegeben hat, ob die Souveränität beim Volk oder dem Regenten ruht. Für diese Kampfzwecke sind die beiden Philosopheme des Altertums gleich geeignet; und, da ihr weltanschauungsmäßiger Gehalt nicht mehr interessiert, werden sie, zwar nicht synthetisch, aber doch synkretistisch vereinigt, zu einer Lehre vom Naturzustande und Naturrecht. Solchen Synkretismus hatte schon im Altertum der Sophismus, im Protagoras, mit theologischen Mitteln versucht; das gleiche geschieht jetzt auch hier: man versucht den optimistischen Ausgangspunkt der Stoa mit der optimistischen Entwicklungslinie des Epikur zu vereinen, und zwar mit biblischen Reminiszenzen, dem Sündenfall, dem Turmbau zu Babel usw. Vorher Unschuld und goldenes Zeitalter, nachher Sünde, Krieg aller gegen alle und Staatsvertrag zur Rettung der Gesellschaft. Der Vertrag Jahves mit Israel tritt in den Vorstellungskomplex ein, der besonders von den Reformatoren voll ausgestattet wurde. Dabei wird aber allmählich dennoch die ganze Lehre von ihrer theologischen Basis abgelöst; das Naturrecht erscheint nicht mehr als das göttliche, sondern als ein aus der Natur des Menschen selbst hervorgehendes Recht, und die nach diesem Rechte begründete und gelenkte Gesellschaft oder der Staat erscheint als eine zugleich naturnotwendige und gerechte Institution. Diese Säkularisierung der Naturlehre ist der erste Charakterzug des neuzeitlichen Naturrechts gegenüber dem mittelalterlichen. Der zweite ist die Umformung der philosophischen N a t u r a r e der Antike in das politische Naturrecte es ist dem Altertum nie eingefallen, daß staatsbindende Tatsachen Rechtstatsachen sein könnten (Jellinek). Es wird zu einem Kodex, nach dessen richtig auszulegenden Paragraphen die großen Verfassungskämpfe entschieden werden sollen, die, für uns „Realpolitiker" kaum noch verständlich, von ihren Verfechtern ganz rechtsanwaltsmäßig-juristisch vertreten werden, wie vor einem obersten Gerichtshofe. Der dritte Charakterzug ist dann die schon erwähnte Synthese der beiden im Grunde so verschiedenen Philosopheme. Zuerst wird dieses Recht als Waffe nur in den politischen Verfassungskämpfen angewendet und erhält seine nähere Ausgestaltung danach, welche Interessen der Autor vertritt - oder zu vertreten hat. Hobbes paßt es den Bedürfnissen des von ihm vertretenen Absolutismus dadurch an, daß er den harmlosen Satz „pacta sunt servanda" oder „praebenda" vom bürgerlichen ins öffentliche Recht übernimmt, um dem Subjektionsvertrag ewige Dauer zu geben, und daß er zweitens den ebenso harmlos klingenden Satz des bürgerlichen Rechts auf das ihm fremde Gebiet überträgt „volenti non fit injuria"; da er kein anderes unveräußerliches Recht anerkennt als das der Abwehr von Todesgefahr, so kann er auf diese Weise, unter der Fiktion eines Vertrages zwischen Fürst und Volk, alle noch so krassen Eingriffe in Freiheit, Leben und Eigentum rechtfertigen. Was uns hier interessiert, ist, daß in diesem Stadium die Lehre vom Naturzustand und seinem Recht noch nicht im mindesten historisch gemeint ist: sie ist nichts als eine juristische Konstruktion, um den Staat und sein Recht widerspruchsfrei denken zu können. Das ist freilich, wie heute feststeht, nicht gelungen, da die Frage nach der Entstehung des Staates eben keine Rechtsfrage ist. Das ändert sich allmählich, in dem Maße, wie die Klasse, die der Hauptträger der Lehre ist, das Großbürgertum, sich emporarbeitet und zuletzt den Staat erobert. Das ist zuerst in Holland und England der Fall. Damit macht die Lehre eine neue Häutung durch: sie wird ökonomische Kampflehre und zugleich ins Historische gewandelt. Anstatt des Rechtsstaates steht zuletzt der Wirtschaftsstaat auf der Bühne. Schon bei Hobbes finden wir die Elemente solcher ökonomischen Theorie: das Recht der ersten Besitzergreifung und der Erstgeburt sind zwar noch nicht jus, wohl aber lex naturae, gehören zu den notwendigen Gesetzen des positiven Rechtes, das erst im Staate entstehen kann. Aber schon bei
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Grotius und seinen Nachfolgern wird das Recht der ersten Okkupation als schon im Naturzustande selbst gültig anerkannt, und Thomasius unterscheidet bereits zwischen dem Rechte der Okkupation an verbrauchlichen und fruchttragenden Sachen, also Produktionsmitteln. Aber erst bei Locke, dem Anwalt der siegreichen englischen Bourgeoisie nach der „glorious revolution", dem Pensionär Williams I., wie Hobbes der der Stuarts gewesen, erreicht die Umwandlung ihre volle Reife und die nötige Ausbildung, um nach oben hin als Rechtfertigung der neuen Vorrechte des Bürgertums, und nach unten hin als scharfe Waffe im Klassenkampfe gegen die „Enterbten" zu dienen. Nach oben hin, gegen die immer noch mächtigen und gefährlichen, depossedierten Stände des alten Regime muß man sich auf Leistungen,
auf Tugenden berufen können, und das sind selbstver-
ständlich die Tugenden des Kaufmanns: Fleiß, Nüchternheit, Ehrlichkeit, Pünktlichkeit, Enthaltsamkeit, Voraussicht, Tugenden, die durch die eigentümliche Verquickung der Calvinschen Prädestinationslehre mit dem aufkommenden Kapitalismus noch mehr betont werden, weil sie dem erfolgreichen Geschäftsmann ein Zeichen dafür sind, daß Gott ihn zur Seligkeit auserlesen hat. Diese Tugenden und die aus ihnen entstehenden Leistungen für die Gesamtheit geben ein besseres Recht auf die Leitung des Staates als die militärische Tapferkeit des Adels. Nach unten hin aber hat man sich gegen die gefährlichen Aufstände des „Pöbel", der von dem Humanismus immer tief verachteten ungebildeten großen Masse, zu schützen. Durch alle diese Schriften, von Bodin an, geht das Grauen vor dem Kommunismus
, wie er schon im 14. Jahrhundert
in der englischen Lollhardenbewegung und dann vor allem in den Deutschen Bauernkriegen und der Münsterschen Wiedertäuferrevolution zutage getreten war. Aus diesem Grunde wird jetzt noch kräftiger als früher betont, daß der Naturzustand kommunistisch war, daß aber diese Wirtschaftsordnung Vorstellung auf, daß der Kommunismus rung und sehr primitiver
sich nicht halten konnte.
Schon bei Grotius taucht die
nur bei einer gewissen sehr geringen Dichtigkeit
der
Bevölke-
möglich sei, dann aber aufgegeben werden müsse, weil
Wirtschaftsverfassung
die Produktion allzu gering sei, und daß von da an unter dem Einfluß jener „wirtschaftlichen den" sich die Einkommen
in der Konkurrenz
differenzieren,
bis aus den wirtschaftlichen
Tugen-
Schichten
sozia-
le Klassen geworden sind. Dieser Ubergang wird bei den älteren Naturrechtslehrern noch immer üblicherweise als durch einen Vertrag geschehen dargestellt; das ist bei Locke nahezu eingeschrumpft auf den Vertrag, der das Geld und mit ihm die differenzierende Geldwirtschaft erschafft. Sobald diese letzte Eierschale abgestreift ist, ist das Gesetz der ursprünglichen seinen Bestandteilen fertig,
Akkumulation
in allen
so wie es zuerst in der wissenschaftlichen Ö k o n o m i k Turgot in seinen
„Réflexions" ausführlich dargestellt hat. Es kann dann nur noch ein einziger Schritt geschehen, derjenige, den Malthus macht, indem er das Gesetz statt nur auf die Vergangenheit auch auf die Zukunft anwendet, aus ihm die nach jeder Neuverteilung des Eigentums mit Naturnotwendigkeit alsbald wieder auftretende Klassenscheidung voraussagt und derart das Gesetz durch sich selbst beweist. Für unsere Betrachtung von entscheidender Wichtigkeit ist, was wir schon sagten, aber jetzt noch einmal scharf zu betonen haben, daß bei dieser Wandlung aus dem Juristischen ins Ökonomische die Lehre zum ersten Male als historische Schilderung der philosophischen sche Theorie
Fiktion
und der juristischen
Konstruktion
eines wirklichen Verlaufs erscheint. Aus ist eine historische,
eine
wirtschaftshistori-
geworden!
Das ist die großbürgerliche
Lehre von der ursprünglichen Akkumulation, die als ein wesentliches
Element in die moderne Gesellschaftswissenschaft eingegangen ist. Von ihr unterscheidet sich die kleinbürgerliche
Lehre von der Entstehung der Klassen und des Staa-
tes politisch durch ihren Demokratismus, während jene bis zur Revolution in Frankreich und bis auf Hegel in Deutschland absolutistisch gestimmt bleibt, den „aufgeklärten Despoten" auf den Schild erhebt. Aber ökonomisch-historisch ist die kleinbürgerliche Lehre vollkommen die der Großbürger, nur daß sie überall dort den negativen Wertakzent hinlegt, wo die andere positiv wertet.
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Rousseau, der Klassiker dieser Lehre, ist der Wortführer der durch den Kapitalismus im Bunde mit dem Absolutismus ausgebeuteten Klassen, des Vierten Standes verarmter Bauern, heruntergekommener Handwerker und Krämer und des im Entstehen begriffenen Proletariats. Alle Elemente des Akkumulationsgesetzes sind bei ihm vorhanden: der Naturzustand isolierter Individuen, der freilich viel idyllischer geschildert wird als bei den Großbürgern, da er ja als Folie der durch die Zivilisation herbeigeführten schweren Verderbnis zu dienen hat; solange die Dichte der Bevölkerung klein und die Technik primitiv ist, geht alles ohne viel Konflikt ab. Aber das Gewerbe entfaltet sich, die Steinaxt schafft das erste Haus, und damit tritt das Eigentum in die Welt, und bald auch Arbeitsteilung, Kapitalbildung: erste Ungleichheit, die durch den Tauschhandel verstärkt wird. Noch beruht die Ungleichheit nur auf den Unterschieden der „Talente", sie ist noch „natürlich". Wenn aber das Land voll besetzt ist, weil „die Hufen, sich sämtlich berührend, das ganze Land bedecken", haben die Uberzähligen nur die Wahl, ob sie als Abhängige das Brot der Reichen essen oder zu Räubern werden wollen. Die Sklaverei entsteht und wird die Quelle weiterer Ungleichheit, da die Reichen, mit Hilfe ihrer Sklavenscharen, immer neues Land nehmen und urbaren. Jetzt herrscht der Krieg aller gegen alle, und jetzt ersinnen die Reichen den schlauen Plan, durch einen Gesellschaftsvertrag sich ihr bisher nur faktisches, täglich bedrohtes Eigentum vom Volke garantieren zu lassen. So entstand der Staat und das positive Recht, das Eigentum und die krasse Ungleichheit der Klassen nur in ihrer ersten schwachen Wurzel aus der Überlegenheit der Begabung, im Fortgang aber durch das Gegenteil von Tugendhaftigkeit: durch Ausbeutung und Knechtseligkeit gegenüber den Fürsten; was heute die Klassen scheidet, ist nicht mehr die „natürliche", sondern durchaus die „politische" oder „moralische" Ungleichheit. Derart ist, als geschichtliche Wahrheit, die Entstehung der Klassen im „Discours sur les origines de l'inégalité parmi les hommes" geschildert. Trotz des umgekehrten Wertakzentes ist der Hauptinhalt ökonomisch der gleiche wie im Großbürgertum: aus einem Anfangszustande der Gleichheit und Freiheit hat sich, rein durch innere Kräfte, ohne Einwirkung äußerer Gewalt, die Klassenscheidung entwickelt. Das sind die beiden nahe verwandten, aus dem Naturrecht stammenden Wurzeln des heutigen Axioms der Soziologie. Dazu kommt eine wichtige Doppelwurzel aus der geistigen Gegenrevolution, eine aus dem „Legitimismus", der Klassentheorie des depossedierten oder in seiner Stellung bereits gefährdeten Adels, und eine aus der bürgerlichen Romantik. Die legitimistische Lehre, vertreten vor allem durch von Haller, kehrt zu dem geistesverwandten Aristoteles zurück, wie denn alle Gegenrevolution, schon aus Gegensatz gegen die Aufklärung, wieder organisch-universalistisch ist. Da die Berufung auf das Recht des Schwertes ein gefährliches Argument geworden ist, seit die größere Stärke auf seiten der Gegner liegt, muß auch diese Lehre die friedliche Entstehung der Klassen aus rein inneren Kräften nachzuweisen suchen. Das gelingt durch Anlehnung an des Aristoteles Lehre, daß der Staat eine Erweiterung des „Hauses" sei, und zwar durch ein lächerliches Mißverständnis. Aristoteles braucht das Wort „Oikos" gleich Familie im antiken Sinne, als Begriff der patriarchalischen Großwirtschaft, die durchaus auf Sklavenarbeit beruht. Die Gewinnung von Sklaven setzt aber gerade bei Aristoteles, der die Barbaren für „Sklaven von Natur" erklärt, bestimmt, dem Edelvolke der Hellenen zu dienen, Krieg und äußere Gewalt als ihren Ursprung voraus. Die Neueren aber setzen dafür den Begriff der modernen Ehefamilie, die nur aus dem Manne mit seiner Frau und beider Kindern besteht, in der es keine Sklaven mehr gibt, und lassen nun von dieser natürlichen Bildung aus durch friedliche Differenzierung aus rein inneren Kräften, ohne Einwirkung äußerer Gewalt, den Staat mit seiner Ungleichheit entstehen, wobei sie sich naiv auf die Argumente der sonst so tief verachteten, aufklärerischen, atomistischen Ökonomik der Engländer und Franzosen stützen. Die eigentliche Romantik bringt ein neues Element hinzu, das die Grundauffassung von der friedlichen Entstehung der Klassen noch verstärkt. Ihr ist jeder Staat, wie alles geschichtlich Ge-
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wordene, ein Gegenstand der Verehrung, ein aus göttlichen Kräften Erwachsenes, ein Ding von eigener Würde, ein „Organismus". Der Begriff, wie ihn Schelling zuerst verwendet, ist nicht im mindesten naturwissenschaftlich exakt gemeint: er spricht von dem Staat als einem „absoluten Organismus" nur in dem Sinne, daß er nicht als Mittel zu einem fremden Zwecke, sondern eben, wie alles Eigenwüchsige, als Selbstzweck aufgefaßt werden müsse. Aber der Klang eines Wortes wirkt bekanntlich weiter und tiefer als sein Sinn. Unter dem Einfluß der siegreich vordringenden Naturwissenschaft der Zeit, namentlich der Biologie, die sich schon zur Evolutionstheorie durcharbeitet, nimmt der Begriff „Natur" im allgemeinen, und der Begriff „Organismus"im besonderen mehr und mehr naturwissenschaftliche Färbung an. Die bisher göttlich verehrte Natur, Comtes „Entität der Entitäten", wird ganz entgöttert: hier zweigt eine Nebenlinie ab, die von Heinrich Leos „Naturlehre des Staates" über Konstantin Frantz und Post zu Schäffle fährt: hier wirkt freilich schon der Positivismus mit, der von Saint-Simon unmittelbar zu Lorenz Stein und Marx führt und mittelbar über Comte und Spencer, auch John Stuart Mill, auf die europäische Gesellschaftswissenschaft seinen Einfluß übt. Um nach dieser Abschweifung zur Hauptlinie zurückzukehren, so nehmen die sämtlichen Richtungen der Romantik wie überhaupt der geistigen Gegenrevolution gemeinsam an, daß sich der Staat, wie er heute ist, aus einem natürlich gewachsenen Urverband (Horde oder Familie im modernen, nicht-aristotelischen Sinne) rein durch immanente Kräfte allmählich friedlich entwickelt. Also in der entscheidenden Hauptsache die vollkommene Ubereinstimmung mit den aufklärerischen Theorien! Um das aber tun zu können, muß der Staat mit der Gesellschaft identifiziert werden. Indem man alle Attribute der gewachsenen „Gemeinschaft" im Sinne von Ferdinand Tönnies auf den Staat häuft, alles Schöne und Gute, was von Verwandtschaft, Freundschaft, Nachbarschaft, Genossenschaft zu sagen ist, heiligt man den Staat, macht ihn zur Manifestation des Göttlichen in der Welt, und bahnt damit der Staatsvergötterung der Romantik und etwas später der Staatsvergötzung Hegels den Weg. Damit haben wir die Wurzeln, aus denen die bürgerliche Lehre von der ursprünglichen Akkumulation erwachsen ist, sämtlich aufgewiesen. Ehe wir an die Ausrodung gehen, die wir zugesagt haben, müssen wir uns daran erinnern, daß auch die proletarische Lehre vom Staate und den Klassen im Kerne die gleiche ist, und auch ihre Wurzeln bloßlegen. Wir erkennen drei Doppelwurzeln, von denen das erste Paar aus der jungen Soziologie, das zweite aus der Aufklärung, das dritte aus der Romantik und Nachromantik, nämlich aus Hegel, stammt. Die beiden soziologischen Wurzeln stammen, die eine unmittelbar von Saint-Simon und den Saint-Simonisten, vielleicht vermittelt durch Lorenz Stein, die andere ebenfalls von Hegel. Von hier erwächst der Zug, der die proletarische Staatsidee am schärfsten von der bürgerlichen trennt: die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft. Uber das Verhältnis dieser Begriffe zueinander lassen sich drei verschiedene Aussagen machen. Die erste, noch vorwissenschaftliche, ist rein klassifikatorisch. Sie ordnet den Staat als Exemplar dem weiteren Begriffe Gesellschaft unter. Die zweite Aussage ist methodologisch: je nach dem vorwiegenden Interesse bildet sich der Staatsforscher aus dem gemeinsamen Erfahrungsobjekt entweder das juristische oder das soziologisch-historische Erkenntnisobjekt, wovon das erste sich mit der rechtlichen Form, das zweite mit dem geschichtlichen Inhalt „des" Staates (nicht der Staaten, das ist das Objekt der politischen Geschichte) beschäftigt. Hier erscheint der Staat als das Subjekt allen Rechtes, als der „Staat" kat exochen, dem nun der Inbegriff der übrigen gesellschaftlichen Beziehungen als die „Gesellschaft" gegenübersteht. Die dritte Art der Aussagen nenne ich die „praktische", weil sie den Staat, wie er ist, vergleicht mit dem Staat, wie er sein sollte. Das eine heißt dann in der Regel „Staat", das andere „Gesellschaft", und zwar wird der Philosoph das ideale Gebilde der Ver-
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nunft, der Historiker und Ökonomist den historischen Staat „Staat" nennen, und jener den verderbten, dieser den gesollten Zustand als „Gesellschaft" bezeichnen. Nur von dieser letzten Gegensetzung soll hier jetzt die Rede sein. Sie tritt, wie wir wissen, jedesmal auf, wenn der Staat der Wirklichkeit mit anderen gesellschaftlichen Mächten in Konflikt gerät, zuerst bei Augustin in seiner Gegensetzung der civitas dei und diaboli, dann in den Kämpfen zwischen Papst und Nationalfürsten, dann zwischen Landesfürsten und Ständen, und schließlich zwischen absolutem Feudalstaat und Drittem Stande. Locke unterscheidet schon zwischen Gesellschaft und Regierung, aber noch die Physiokraten nur zwischen dem vollkommenen, natürlichen, und dem verdorbenen positiven „ordre": der erste, der terminologisch und damit mit vollem Bewußtsein Staat und Gesellschaft unterscheidet, ist Rousseau. Und zwar dient ihm dazu der Begriff der „partikulären Interessen ". Hier fließt ein neuer Gedankenstrom in das alte Bett des Naturrechts, der bis dahin, zu gleicher Zeit aus gleichen Umständen entsprungen, neben ihm geflossen war, wobei freilich die stärkste „Influenz" vom einen zum anderen sich bemerkbar machte. Es ist die Lehre von der Staatsräson. Geboren zugleich mit Morus' Utopia, im Jahre von Luthers erstem Auftreten (Oncken), in dem berühmten und berüchtigten „Principe" von Machiavelli, hat sie sich allmählich zu einer wissenschaftlichen Theorie von der Individualität der einzelnen Staaten, zu einer Lehre nicht von dem, sondern von den Staaten ausgewachsen, zu der „Interessenlehre", der Literatur der „Arcana". Sie ist in diesem Werdegang immer milder und sozusagen anständig-bürgerlicher geworden in dem Maße, wie der sich immer mehr festigende absolute Staat der drastischen Mittel der Borghiazeit nicht mehr oder nicht mehr so oft bedurfte, und sie hat sich, wie ihr Geschwister, die Naturrechtslehre von dem Staat, unter dem Druck der gleichen Umstände immer mehr ökonomisiert. Stand zuerst nur das Interesse des Staates, noch in seiner ursprünglichen Bedeutung als Machtapparat des zum Fürsten gewordenen Kondottiere, als öffentliches Interesse gegen das partikuläre Interesse der großen gefährlichen Magnaten, der would-be Landesfürsten, so richtet sich die Aufmerksamkeit immer mehr auf die militärisch-finanziellen Kraftquellen der Staaten, wie sie in der Bevölkerung und der Wirtschaft beruhen. Sie müssen pfleglich behandelt werden, haben sich aber selbstverständlich ebenfalls der Staatsräson, dem öffentlichen Interesse, unbedingt zu unterwerfen. In dieser entwickelten Gestalt nimmt Rousseau die Lehre auf und verschmelzt sie mit dem Naturrecht in großartiger Synthese. Sie ist der Inhalt des „Contrat social", der nur von hier aus vollkommen verstanden werden kann. Über die Tatsache kann kein Zweifel bestehen: Rousseau zitiert fortwährend Machiavelli, den er sehr hoch schätzt und, wie später Hegel, warm verteidigt; er bedient sich durchaus der von der Interessenlehre ausgebildeten Terminologie, spricht ausdrücklich von Staatsräson und spitzt seine ganze Darlegung auf den Unterschied und Gegensatz von öffentlichem und partikulärem Interesse zu. Man kann das Thema, das er sich stellt, ohne weiteres folgendermaßen formulieren: Ein Staat ist zu konstruieren, dessen Räson das Recht und die Gerechtigkeit im höchsten philosophischen Wertsinne sei. Und er löst dieses Problem dadurch, daß er eine Gesellschaft ersinnt, in der es kein partikuläres Interesse geben kann, irgend stark genug, um auch nur den Versuch einer Auflehnung gegen das öffentliche Interesse zu machen. Diese Unterscheidung zwischen den allgemeinen und den partikulären Interessen wird nun auch (in der Arbeit „sur l'Economie politique" für die Enzyklopädie) terminologisch festgelegt. Jene sind der Inbegriff des Staates, diese der Gesellschaft. Und der Ausdruck des allgemeinen Interesses ist die „volonté général", die ganz etwas anderes ist als die volonté de tous; sie ist, auf die Dauer wenigstens, unfehlbar, allweise, allgütig, sozusagen ein Gottersatz. Indem der Bürger, den seine partikulären Interessen nach anderer Richtung hin bestimmen möchten, sich diesem erleuchteten Willen unterwirft, erlangt er erst so recht seine „Freiheit", die ja nur darin bestehen kann, nach gehöriger „Abwägung" in besonnenem, nicht impulsivem Entschluß das wahre Interesse der Gesamtheit, und damit eben auch das eigene zu verfolgen.
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Wie weit diese Argumentation im Praktischen und Theoretischen gewirkt hat, ist bekannt. Praktisch ist von hier die von der französischen Bourgeoisie begierig angenommene Forderung des Abbé Sieyès ausgegangen, alle Arbeiterkoalition zu verbieten, weil sie „partikuläre Interessen" vertreten würde; ferner nimmt, wie Carl Schmitt neuerdings gezeigt hat, hier der Terrorismus der Schrekkenszeit und nicht minder des modernen Bolschewismus seinen Ausgang. Im verderbten Staat der Wirklichkeit ist es nämlich möglich, daß eine Minderheit, ja, sogar ein einzelner „tugendhafter" Bürger (hier mischt sich Machiavellis „virtù" mit Montesquieus „vertu", dem Grundprinzip seiner Republik) den wahren allgemeinen Willen besitzt, und dann hat sie oder er auch das Recht, ihn gegen den partikulären Willen der widerstrebenden Mehrheit mit Gewalt durchzusetzen, gerade, um deren wahren Willen und damit ihre eigentliche Freiheit gegen ihren eigenen Unverstand zum Siege zu führen. So weit ging Rousseau selbst noch nicht: er bestimmte den Wissenden, den Vertreter des allgemeinen Interesses und Willens, nur zum Gesetzgeber, der, wie Schmitt treffend sagt, „im Recht, aber nicht im Staat steht". Und er läßt, nach römischem Vorbilde und im Geiste der Interessenpolitik der Staatsräson, bei großer Gefahr des Gemeinwesens einen Diktator zu, der sich über das positive Recht fortzusetzen befugt ist, der also „im Staat, aber nicht im Recht steht". Wenn nun, was Rousseau auf das entschiedenste ablehnte, gesetzgebende und diktatoriale Gewalt sich verbinden, im pouvoir constituant, dann sind einem „tugendhaften" Diktator, wie etwa Robespierre, keinerlei Schranken mehr gesetzt. Es ist die „souveräne Diktatur". Theoretisch hat die Konstruktion bekanntlich ungeheuer stark auf Kant gewirkt, dessen „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" die Rousseauschen Kerngedanken zum Teil wörtlich enthält, und über ihn hinaus auf Hegel, der gerade von hier aus zu seiner Vergötzung des geschichtlichen Staates kommt; er identifiziert ihn geradezu mit dem überhistorischen Philosophenstaat, freilich nicht mit dem überhaupt, absolut besten, wohl aber mit dem zur Zeit möglichen, also relativ besten Staat. Der historische Staat ist, weil er ist, vernünftig, d. h. er hat diejenige Stufe erreicht, die das dialektische Denken des in diesem Volksgeiste wirkenden Weltgeistes bisher ersteigen konnte. Um diese sehr bedenkliche Konstruktion zu stützen, übernimmt Hegel von der Romantik ihre Gleichsetzung von Staat und gewachsener Gemeinschaft insofern, als er alle die herrlichen Eigenschaften der letztgenannten auf den Staat überträgt, nachdem schon vor ihm Fichte den dürren Rechtsstaat seiner Vorgänger zum Kulturstaat erweitert und erhöht hatte. Und diesem Staate als dem „System der Sittlichkeit" wird nun die Gesellschaft als das „System der Bedürfnisse" gegenübergestellt. Damit ist eine andere Synthese der beiden Richtungen der Staatswissenschaft, der Interessenlehre von der Staatsräson und der Lehre vom überhistorischen Philosophenstaat, geschaffen. So kam diese Unterscheidung auch von hier aus in den Marxismus hinein. Der zweite Stamm der soziologischen Doppelwurzel kommt von Saint-Simon und den SaintSimonisten, und zwar sehr wahrscheinlich, wie Struve gezeigt hat, vermittelt durch Lorenz Stein. Jene hatten dem verderbten Staate der Gegenwart die „Gesellschaft" als das ideale, vollkommene Gebilde gegenübergesetzt: eine Gesellschaft, die sie schon fast durchaus als Wirtschaftsgesellschaft auffassen. Stein nimmt ihre Erklärung an, bleibt aber bei seines Meisters Hegel Terminologie. Er erkennt schmerzlich, daß der Staat seine große Aufgabe der Gerechtigkeit nicht erfüllen kann, weil er durch die partikulären Interessen, deren Inbegriff ihm, wie Hegel, die Gesellschaft ist, gelähmt und gefesselt ist. Der Sozialismus übernahm die Gegensetzung, folgte aber terminologisch Saint-Simon. Er nennt „Staat" das Positive, das verbessert, und „Gesellschaft" das Ideal, das erreicht werden soll oder wird. Aber er hat einen doppelten Begriff der Gesellschaft, die schlechte, die kapitalistische, deren Scherge und Büttel der Staat ist, und die gute, die sozialistische Gesellschaft der Zukunft, die auch wohl als ein „Staat" bezeichnet wird, wenn weniger der wirtschaftliche Inhalt als die rechtlich-politische Form ins Auge gefaßt wird.
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Die zweite Doppelwurzel kommt der sozialistischen Lehre von der Entstehung der Klassen und des Staates aus der Aufklärung, und zwar die dem Groß- wie dem Kleinbürgertum gemeinsame Vorstellung, daß der Klassenstaat und die Klassenordnung sich von einem natürlich gewachsenen Urzustand aus rein durch immanente, (hier schon rein ökonomische) Kräfte ohne Eingriffe äußerer Gewalt allmählich friedlich entwickelt hat. Aus dieser Wurzel stammt, erstens, zwar nicht der Kommunismus selbst, - der ist nichts als „imitation par opposition", das photographische Negativ des kapitalistisch-liberalen Credo - , wohl aber seine einzige theoretische Begründung. Wenn die Konkurrenz zwangsläufig zur Klassenscheidung mit allen ihren furchtbaren Folgen führen muß, so muß man sie eben abschaffen oder hoffen (womöglich beweisen), daß sie von selbst absterben wird. Das ist der großbürgerliche Stamm der aufklärerischen Doppelwurzel. Aus dem kleinbürgerlichen wurde übernommen die Umkehrung des Wertakzents: die Entwicklung erwächst nicht aus Tugenden, sondern aus dem Gegenteil. Das ist Rousseau, aber in merkwürdiger Weise „gedämpft". Nach der offiziellen Theorie, wie sie namentlich Friedrich Engels vortrug, würde sich die Klassenbildung genau so vollzogen haben, „selbst wenn wir alle Möglichkeiten alles Raubes, aller Gewalt und aller Prellerei ausschließen, wenn wir annehmen, daß alles Privateigentum ursprünglich auf eigener Arbeit des Besitzers beruht, und daß im ganzen ferneren Verlauf nur gleiche Werte gegen gleiche Werte ausgetauscht werden". Das hat die Präzision eines Dementi und soll ja auch die entgegengesetzte Lehre des Saint-Simonisten Dühring widerlegen. Unzweifelhaft ist dies das bürgerliche Gesetz der ursprünglichen Akkumulation, das Marx als eine „Kinderfibel" verhöhnte, und dem er sein Gesetz der kapitalistischen Akkumulation entgegenstellt, wonach das „Kapitalverhältnis" durch außerökonomische Gewalt geschaffen, „produziert" worden ist. Einmal geschaffen, soll es sich dann freilich, ohne weitere Einwirkung solcher Gewalt, automatisch für immer „reproduzieren". Hier weicht Engels entschieden von Marx ab; übrigens kann er den Gedanken nicht reinlich durchführen: so vorsichtig er sich ausdrückt, wird es doch klar, daß die von der Gesellschaft eingesetzten Beamten - eine Notwendigkeit der Arbeitsteilung ihre Stellung zum eigenen Vorteil mißbrauchen und derart aus dem Rechtsstaat den Klassenstaat schaffen. Wie ist diese doppelte Inkonsequenz und überhaupt die eigentümliche Tatsache zu erklären, daß der kämpfende Sozialismus sich das gewaltige Argument nicht zu eigen machte, der Staat und die Klassenordnung sei aus rechtloser Gewalt entsprossen? Hier wirkt die dritte Doppelwurzel, die aus der Romantik und Nachromantik stammt. Daß Marx ein Romantiker war, ist unzweifelhaft: Benedetto Croce hat es ihm ausdrücklich bescheinigt. Er übernimmt die Vorstellung, daß der Staat oder die Gesellschaft ein Organismus ist. Das aber ist ein erster Schritt, der die folgenden zwangsläufig nach sich zieht. Denn ein höherer Individualorganismus, und mit dem setzte man immer die Gesellschaft gleich, wie das schon Piaton, Menenius Agrippa und Hobbes getan hatten, ist „geprägte Form, die lebend sich entwickelt": man kann ihr Wachstum aufhalten, kann sie verkrüppeln, auch töten, aber nicht grundsätzlich verändern. Keine „äußere Gewalt" kann aus einem Hunde eine Katze oder aus einer Eiche eine Kiefer machen! Diese Zwangsläufigkeit der Gedankenrichtung wird nun noch verstärkt durch ein aus Hegel stammendes anderes Element. Marx und Engels hatten das von Hegel „auf den Kopf gestellte" Verhältnis des ideologischen Oberbaus zum geschichtlich-materiellen Unterbau „auf die Füße gestellt": die materialistische Geschichtsauffassung. Und sie hatten die im Kerne richtige Lehre dahin überspitzt, daß es lediglich die Bedingungen der Produktion (des „unmittelbaren Lebens") sein sollten, die die Vorstellungen über Staat, Gesellschaft, Religion, Recht usw. bestimmen. Dadurch aber wird der Blick noch viel stärker auf die inneren Verhältnisse der betrachteten Gesellschaft gebannt als durch die Vorstellung vom Organismus: denn wie sollte es wohl möglich sein, daß die Technik, die
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Wirtschaft, die Produktionsverhältnisse einer Gesellschaft auf die andere umformend, grundsätzlich ändernd einwirken könnten?! Das ist der letzte Grund, warum die proletarische Theorie von der Entstehung der Massen und des Staates mit der bürgerlichen grundsätzlich vollkommen übereinstimmt: Staat und Klassen sind, ohne Einwirkung äußerer Gewalt, rein aus inneren, rein ökonomischen Kräften, allmählich friedlich erwachsen. Dieser gemeinsamen Staatsidee des Groß- und Kleinbürgertums, des Legitimismus und schließlich des Proletariats stellt die „soziologische Staatsidee" die Behauptung gegenüber, daß der Staat und die Klassenordnung durch außerökonomische Gewalt, nämlich durch Eroberung und Unterwerfung, mit einem Schlage gesetzt worden sind als ein System des Rechts, den Besiegten von den Siegern mit der ursprünglich einzigen Absicht auferlegt, sie so hoch und so dauernd wie möglich zu besteuern. Daß der historische Staat derart entstanden ist, unterliegt keinem Zweifel und wird auch von nahezu allen Vertretern der juristischen und der philosophischen Staatslehre unumwunden zugegeben, wenn sie uns einmal „historisch kommen". Aber rationelle Schlüsse sind, wenn sie auch falsch sind, bekanntlich viel stärker als alle Tatsachen. Man muß die Trugschlüsse auflösen. Damit kommen wir zur Kritik. Zunächst eine kurze Zusammenfassung unserer geistesgeschichtlichen Untersuchung: Das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation, wie es heute als ihr Axiom aller bürgerlichen und proletarischen Gesellschaftswissenschaft zugrunde liegt, ist ein Gemisch aus den disparatesten Bestandteilen: Seine naturrechtliche Wurzel ist entsprossen aus zwei ausgesprochen dogmatisch-metaphysischen antiken Philosophemen, die einander schnurstracks widersprechen, und die man notdürftig mit eingestandenen oder verhohlenen theologischen Mitteln zusammengeleimt hatte: der Stoa und dem Epikuräismus. Aus diesen rein philosophisch gemeinten Staatslehren wurde in erster Häutung eine polemische Staatsrechtslehre, die sich zum Zwecke durch Hereinnahme zweier nicht hierhergehöriger Rechtssätze (pacta sunt servanda, volenti non fit injuria) ergänzte. In einer zweiten Häutung wurde aus dieser schematisch juristischen, ausgesprochenermaßen nicht historisch gemeinten Konstruktion oder Rechtsfiktion eine historisch-soziologische Theorie. Der Legitimismus fügt hinzu ein lächerliches Mißverständnis des aristotelischen Begriffs „Oikos", indem er seinen modernen Begriff der sklavenlosen Kleinfamilie dem der antiken, sklavenhaltenden Großfamilie gleichsetzt. Die Romantik gibt in das Gebräu die Gleichsetzung von Staat und gewachsener Gemeinschaft und den, wie sich zeigen wird, unglücklichen, unverstandenen Begriff des „Organismus". Die proletarische Staatsidee verstärkt diese letzte Irrung noch durch ihre einseitige „produktionistische" Zuspitzung der richtigen Lehre von der „sozialpsychologischen Determination". Das sind die Wurzeln, die Häupter der Hydra. Wir gehen jetzt daran, sie einzeln abzubauen und auszubrennen. Den Ausgangspunkt der Lehre, den „Naturzustand" akzeptieren wir mit gewissen Einschränkungen. In der Tat hat die Völkerkunde völlig bewiesen, daß die primitiven Jäger und Hackbauern in einer Gemeinschaft leben, die trotz aller gelegentlichen Roheit den „Sinn" solcher Gemeinschaft: Brüderlichkeit der Gesinnung, Genossenschaftlichkeit der Handlung, Gleichheit der Rechte und der Wirtschaftslage durchaus erfüllt. Auch nach außen hin ist von Hobbes' Krieg aller gegen alle und Ratzenhofers „absoluter Feindseligkeit" keine Rede. Das alles sind erst Errungenschaften einer viel höheren Stufe. Es gibt keine Andeutung einer Herrschaft, nur Andeutungen einer Führerschaft, aber keinen Ansatz zu ihrem Mißbrauch, d. h. zu ihrer Verwandlung in dauernde Herrschaft. Hier herrschen nur die „Gesetze der Natur", die Gerechtigkeit der Gleichheit; der ideale Rechtsstaat ist hier nahezu verwirklicht, naiv und ohne Bewußtsein davon, als das Leben der Gemeinschaft selbst.
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Hierin stimmen wir also mit den Vertretern der von uns bekämpften Lehre überein. Wir unterscheiden uns von ihnen durch die Behauptung, daß aus den inneren Kräften dieser Gemeinschaft nie der Staat und die Klassenordnung geworden sind noch auch werden konnten. Beginnen wir mit dem romantischen Haupt der Hydra. Der romantische Begriff des „Organismus" Staat oder Gesellschaft ist eine Ungeheuerlichkeit. Es ist nicht erlaubt, die Substanz mit dem Modus, das seinem Begriffe nach ewig lebende Kollektivum mit dem zum Tode bestimmten Individuum zu vergleichen. Man kann die Gesellschaft oder den Staat nur mit anderen Kollektiven, ζ. B. einem Walde, in Parallele setzen. Dann aber hört jede Möglichkeit auf, die Schlüsse der Romantik zu ziehen. Sie beruhten darauf, daß jeder Einzelorganismus seine „Entelechie" hat, um mit Hans Driesch zu sprechen, die ihn zwangsläufig fortbildet „nach dem Gesetz, nach dem er angetreten". Man kann ihn hemmen, stören und sogar zerstören, aber nicht in eine grundsätzlich andere Form verwandeln. Aus einem vierfach geteilten Seeigelei wachsen vier ausgebildete Seeigel, wenn überhaupt etwas wächst. Ein Kollektivum aber hat keine Entelechie. Die ganze Evolutionslehre beruht darauf, daß aus ihm etwas ganz anderes werden kann und muß, sobald sich sein Milieu entscheidend ändert. Ein Wald z. B. kann allmählich zum Sumpf, zur Steppe werden, ohne einen Augenblick aufgehört zu haben, ein Kollektivorganismus zu sein; man darf freilich nicht glauben, daß ein Wald nur aus Bäumen besteht: Unterholz, Wild und Insekten, die Bakterienflora des Untergrundes usw. gehörten essentiell zum Begriff, denn jeder Teil reguliert sich und alle anderen in der Wechselwirkung der Kräfte. Damit ist das romantische Haupt vernichtet: sie bestand, genau betrachtet, in nichts als einem mißverstandenen Wort, wo „Begriffe fehlten". Kommen wir nun zu den aufklärerischen Häuptern. Die Aufklärung hat das Problem grundsätzlich richtig gestellt: wie hat sich aus der Gegen- und Wechselwirkung der inneren Kräfte der Gruppe einerseits und der Angriffe oder Widerstände der Außenwelt andererseits der Staat und die Klassenordnung entwickelt? Aber sie hat die Antwort sofort verfehlt, weil sie einen allzu engen Begriff der „Außenwelt" hatte. Sie dachte nur an die äußere Natur als den Inbegriff der elementaren, nichtmenschlichen Kräfte und vergaß, daß zu ihr auch die menschlichen Nachbargruppen, gleichfalls elementare Kräfte, und gewiß die stärksten von allen, gehören. Ihr Hauptargument ist die angeborene Ungleichheit der menschlichen Begabung. Da sich diese nicht wohl leugnen läßt, so scheint sie ihr Spiel gewonnen zu haben. Aber das ist nur ein leerer Schein: denn sie behauptet und muß ja, scharf gesehen, behaupten, daß die Verschiedenheit der sozialen Lage der der Begabung proportional sei. Da nun die Verschiedenheit der sozialen Lage ganz ungeheure Unterschiede aufweist, so ist sie gezwungen, ebenso große Unterschiede der Begabung zu supponieren, dreht sich also offenbar hilflos im Kreise. Oder: ihre „Ungleichheit" ist gar nicht die beobachtete, sondern nichts als eine „qualitas occulta". Die Verschiedenheit der geistigen Begabung läßt sich nicht exakt messen, aber es ist sehr wahrscheinlich, daß auch sie, wie die körperliche und die moralische, dem „Gesetz der großen Zahlen" unterliegt. Nun ist der größte Mann nur höchstens doppelt so groß wie der kleinste, wenn man extreme Fälle ausgesprochener Monstrosität ausschließt. Es ist also zu vermuten, daß auch die geistige Höchstbegabung nicht in dem ungeheuren Maße die durchschnittliche übersteigt, das sie haben müßte, um die Klassenverschiedenheiten zu erklären. Aber wir brauchen uns darüber nicht den Kopf zu zerbrechen. Selbst wenn wir per inconcessum zugeben, daß solche ungeheuerlichen Unterschiede der Begabung existieren, als wenn in der gleichen Gesellschaft neben Riesen aus Brobdingnag auch Leutchen aus Liliput lebten: selbst dann läßt sich die naturrechtliche Kinderfibel aus ihren eigenen Voraussetzungen vollkommen widerlegen. Alle ihre Anhänger, auch Marx, sind sich nämlich darüber einig, daß die Verschiedenheit der Begabung erst von dem Augenblick an klassenbildend wirken kann, wo jene kritische Dichte der Bevölkerung erreicht ist. Nun ergibt jede Nachrechnung, daß sowohl auf der Erde im ganzen wie in
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jedem einzelnen normalen Lande auch heut noch viel mehr Boden vorhanden ist, als die Hufen beanspruchen würden, „wenn sie, sich gegenseitig sämtlich berührend, das ganze Land bedecken würden". Es wird, in primitiven wie in heutigen Verhältnissen, notorisch nur etwa durchschnittlich ein Hektar pro Kopf der Agrarbevölkerung gebraucht - und es ist viel mehr Nutzland vorhanden. Wenn sich also die Besiedelung nach jenem naturrechtlichen Schema vollzogen hätte, so hätte, trotz der angenommenen riesenhaften Unterschiede der Begabung, die Differenzierung noch nicht einmal beginnen können. Nun schließt aber die Naturrechtsschule anders: weil es seit Jahrtausenden schon Klassen gibt, muß der Boden schon ebenso lange ökonomisch besetzt sein. Und wieder ist es nur ein leerer Schein, wieder genau der gleiche Kreisschluß, den wir soeben festgestellt haben. Man geht aus von der Existenz einer Arbeiterklasse, erkennt deutlich, daß eine solche nicht entstehen kann, ehe nicht aller Boden besetzt ist, lehnt wieder, völlig dogmatisch, jede andere Erklärung als die, in einer Gesellschaft freier Menschen, naturrechtlich allein mögliche, ab, ist also gezwungen, anzunehmen, daß eine kleine Hufe sich an die andere legte - und kann nun wieder auf seinem Steckenpferde Karussell fahren! Die volle Besetzung des Bodens und die daraus folgende Tatsache, daß es heute eine vermögenslose und daher abhängige Klasse freier Arbeiter gibt, ist nicht nach dem naturrechtlichen, sondern nach dem gewaltrechtlichen Schema zu erklären. Jede spekulative Sperrung des Bodens in der freien Urgesellschaft der Gleichen ist nicht nur psychologisch unmöglich, weil gerade der spekulative Kopf sofort erkennen mußte, daß auf diese Weise in ungezählten Jahrhunderten kein „Geschäft" zu machen wäre, sondern sie ist auch rechtlich unmöglich, widerspricht nicht nur dem Sinne, sondern auch der Realität der prähistorischen Gemeinschaft. Das Okkupationsrecht gilt nur für den wirklich bearbeiteten Boden und erlischt bei Nichtbearbeitung fast sofort. Damit hoffen wir auch dieses Haupt ausgebrannt zu haben und wenden uns zu dem letzten, dem legitimistischen, der Staatstheorie des depossedierten oder ernstlich bedrohten Adels, der es nicht mehr wagen darf, sich auf das Recht des Schwertes und des Brennus zu berufen. Sie besteht darin, daß zwei wohl zu unterscheidende Begriffe gleichgesetzt werden: Führerschaft und Herrschaft. Herrschaft ist seinem Begriffe nach dauernd, Führerschaft befristet; Herrschaft ist immer mit wirtschaftlichen Privilegien und sozialer Rangerhöhung verbunden, Führerschaft nicht. Am klarsten erkennt man die Verschiedenheit, wenn man die Korrelativbegriffe dagegen hält: gegen Herrschaft Untertanenschaft oder Dienerschaft, gegen Führerschaft Gefolgschaft. Der Inhaber der Herrschaft ist immer der Höhere: der Führer an sich, wenn er nicht zufällig schon vorher Herrscher war, ist immer der Primus inter pares. Selbstverständlich geht oft Führerschaft in Herrschaft über: es fragt sich nur, ob das unter den Verhältnissen des realen Naturzustandes geschehen kann. Und das ist offenbar unmöglich. Erstens fehlt hier der dauernde Kriegszustand, aus dem allein die Dauer der Kriegshäuptlingswürde erwachsen kann. Und vor allem fehlt die Schicht, auf die der Führer sich stützen kann, um zur Herrschaft aufzusteigen. Denn einer ist immer schwächer als viele, und nur Masse kann gegen Masse obsiegen. Eine solche Schichtung ist aber im realen Naturzustand nicht gegeben, kann sich auch von innen her gar nicht entwickeln (noch die Irokesen hatten die vollste Gleichheit und nur Führer im echtesten Sinne): es müßten denn die heimkehrenden siegreichen Krieger von dem „Charisma" ihres Feldherrn so berauscht sein, daß sie ihre eigenen Eltern und Geschwister ihm zur Beherrschung, d. h. zur Ausbeutung auslieferten. Schon Machiavelli hat klar ausgesprochen, daß, um eine Republik zu stürzen, große Herren mit Burgen und Kriegsgefolge aus der Masse geschaffen werden müssen. Außerdem wäre mit einer solchen Erklärung das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation preisgegeben, da ja die Differenzierung ohne Gewalt, also auch ohne Drohung mit Gewalt zustande gekommen sein soll.
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Wenn es also, wie manche einsehen, nicht ein Held des starken Armes sein kann, der zur Herrschaft kommt, so ist es vielleicht ein Held des Verstandes gewesen, nicht Achilles, sondern Ulysses. Der Rousseausche Gedanke, daß ein besonders schlauer Mensch den Staat erfunden habe, kehrt mit positiver Wertbetonung oft, ζ. B. bei Lester Ward, wieder: die Reminiszenzen an Solon und den fabelhaften Lykurg spuken hier geisterhaft. Will ja doch auch Rousseau noch die Ordnung des Staates einem weisen Legislator anvertrauen! Die Vorstellung ist in der Regel die, daß der Kampf aller gegen alle wütet, und daß ein Weiser erscheint, um ihn durch Einführung von „codes", wie Ward sagt, zu beenden. Nun gibt es im Naturzustand keinen Krieg aller gegen alle, und, selbst wenn es ihn gäbe, käme man von hier aus immer erst zur Führerschaft und niemals zur Herrschaft. Der vielgewandte Ulysses kann uns ebensowenig weiterhelfen wie der starke Achilles. Keine dieser Schwierigkeiten besteht für die soziologische Staatsidee, die außerdem den Vorzug hat, mit allen bekannten Tatsachen und - der Meinung aller Autoritäten übereinzustimmen. Ihre Erklärung beruht gänzlich auf zwischenstammlichen, nicht, wie alle bisherigen, auf innerstammlichen Beziehungen. Aus diesen kann sie leicht die beiden Bedingungen ableiten, die zusammen gegeben sein müssen, damit Herrschaft entstehen könne. Der Krieg als Dauerzustand entsteht erst, wie die Ethnologen übereinstimmend berichten, von dem Augenblicke an, wo es möglich ist, Beute und Sklaven zu gewinnen. Diese Möglichkeit besteht nicht, solange nur primitive Jägerhorden das Gebiet bewohnen: der Jäger kann dem Jäger nichts rauben und kann Sklaven nicht ausnutzen. Erst wenn sich in den Flußebenen wohlhabende Bauernschaften angesetzt und vielleicht sogar schon Städte gegründet haben, bieten sich der Gier des Primitiven Ziele von genügendem Reiz, und der Krieg wird Gewerbe, wird Dauerzustand. Und die beiden Arten von Staatsgründern, die wir in der Alten Welt kennen, die Hirten und die seeanwohnenden Schiffervölker, können Sklaven gut gebrauchen, jene als Weidesklaven, diese als Ruderknechte. Hier entsteht denn auch zuerst die dauernde Kriegshäuptlingswürde, und hier ist dann auch, nach der Eroberung, die den Staat und die Klassenscheidung erschafft, die Schichtung gegeben, die wir auffinden mußten, um die Herrschaft zu erklären; es steht Masse gegen Masse, die Erobererkrieger als geschlossener militärischer Verband gegen die Unterworfenen. Damit stehen wir am Ende unserer Untersuchung. Es hat sich herausgestellt, daß die ungeheuerliche Zumutung an unsere Gläubigkeit, die Geschichte sei nicht gewesen, oder habe doch, was auf das gleiche hinausläuft, nicht auf die heutige Verfassung der Menschheit gewirkt-, Eroberung, Unterwerfung, Versklavung, Monopolisierung der Naturschätze seien sozusagen wie Wasser an der wohlgeölten Haut der Menschheit abgelaufen; - daß diese Zumutung ebenso unbegründet wie überkühn ist. Das sogenannte Gesetz ist ein Mischmasch der verschiedensten, disparatesten Elemente, ist ein Ragout aus verschiedenen Fleischabfällen, die durch eine nicht eben appetitliche Sauce von logischen Fehlern aller Art zu einer scheinbar einheitlichen Substanz umgetauscht geworden sind. Es ist ein Pseudogesetz. Aus dieser theoretischen Wurzel entspringen unsere praktischen Problemstellungen und unsere praktischen Versuche, die von Tag zu Tage drohender werdenden Grundschäden unsrer Zeit und Gesellschaft zu heilen. Ob uns der Patient nicht am Ende unter den Händen sterben wird?! Ob aus dem Pseudogesetz nicht etwa eitel Pseudoprobleme erwachsen?!
Der Arbeitslohn [1926]
Inhalt
I. Die Probleme Π. Die klassischen Theorien
183 185
ΠΙ. Heinrich Dietzels Produktivitätstheorie
190
IV. Die Monopollohntheorie
204
V. Heinrich von Thünen
210
VI. Der „letzte Arbeiter" und die Lohntheorie der Grenznutzler
216
VII. Kritische Nachlese
221
[Erstmals erschienen als eigenständige Publikation, Jena 1926; A.d.R.]
Vorwort
Soeben ist mein Wert und Kapitalprofit in dritter Auflage völlig neu bearbeitet erschienen. Jetzt, wo ich diese Arbeit in Druck gebe, fügt es der Zufall, daß auch mein „Grundgesetz der Marxschen Gesellschaftslehre" und mein „David Ricardos Grundrententheorie" in neuer Auflage erscheinen. Diese vier Bändchen1 enthalten alles, was ich negativ-kritisch und positiv-aufbauend zu dem großen Zentralproblem unserer Wissenschaft, dem der Distribution, zu sagen habe. Hochblauen, Pfingstmontag 1926 Franz Oppenheimer
1
[Neben dem hier Abgedruckten siehe auch: Oppenheimer, Wert und Kapitalprofit, im vorliegenden Band, S. 2 3 1 - 2 8 6 ; derselbe, Das Grundgesetz der Marxschen Gesellschaftslehre, in der vorliegenden Edition: Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 385-467; derselbe, David Ricardos Grundrententheorie, ebenda, S. 469-613; A.d.R.]
Der A rbeitslohn
183
I. Die Probleme Eine vollständige Lohntheorie hat aus mehreren verschiedenen Teilen zu bestehen. Zuerst, als allgemeinste Grundlage, eine Theorie von der Ursache der Verschiedenheit der Arbeitseinkommen·. In jeder Gesellschaft, in der Konkurrenz besteht, stufen sich die Einkommen nach der „Qualifikation" der Arbeitskraft derart ab, daß die Stufen sich auf die Dauer und im Durchschnitt, d. h. in der Statik, in ihrer „natürlichen Distanz" voneinander befinden, entsprechend der „Seltenheit der persönlichen Vorbedingungen"; und daß in der Kinetik, nach jeder Störung, die Tendenz besteht, diese natürliche Distanz durch Berufswechsel der Erwachsenen und Berufswahl der Jüngeren wiederherzustellen. Die Statik läßt sich graphisch darstellen entweder in Gestalt der „Lohnpyramide" oder einer „binomialen Kurve". Bei der Lohnpyramide bildet die Qualifikationsstufe der geringsten Seltenheit die Basis, über der sich die Stufen der größeren Seltenheit in immer kleineren Schichten aufbauen, bis die wenigen oder vereinzelten Fälle der größten Seltenheit, der genialen Begabung von Körper, Geist und Wille, die Spitze bilden. Eine ähnliche Stufung stellt sich dar, wenn man auch die unternormalen Qualifikationen mit in Rechnung zieht. Dann ergibt sich das Bild einer Doppelpyramide, deren gemeinschaftliche Basis die Stufe der geringsten Seltenheit ist, deren untere Spitze von den Arbeitseinkommen der nur ganz wenig arbeitsfähigen Krüppel, Kranken, Alten, Kinder, Idioten usw. gebildet wird. 1 Noch klarer stellen sich die Dinge dar, wenn man auf der Abszisse eines Koordinatenkreuzes die Einkommen ihrer Höhe nach, und in der Koordinate die Anzahl der Fälle jeder Einkommensstufe einträgt. Hier ergibt sich nach dem Gesetz der großen Zahlen eine „binomiale Kurve", die vom fast Null der geringsten Qualifikation und des entsprechenden kleinsten Einkommens allmählich aufsteigt, bei dem Einkommen der „durchschnittlichen Qualifikation" ihren Höhepunkt und damit ihren „Medianwert" erreicht, und nach der anderen Seite ebenso allmählich absinkt, um bei den Einkommen der höchsten Qualifikation wieder fast auf Null zu sinken. Diese Gesetze des Arbeitseinkommens gelten, um es noch einmal scharf zu betonen, für jede Gesellschaft der Konkurrenz. Sie beziehen sich auf alle Einkommen, die als Entgelt für geleistete Arbeit bezogen werden. Und d. h. zunächst: für alle Einkommen aus Dienstleistungen, seien es nun Dienste ungelernter oder gelernter Handarbeiter, oder seien es Dienste von akademisch oder nicht akademisch ausgebildeten Geistesarbeitern; seien es ferner Dienste von Unselbständigen, die im Auftrage und auf Rechnung und Gefahr eines Unternehmers, oder von Selbständigen, die auf eigene Kosten und Gefahr ihre Dienste zu Markte bringen. Aber man kann weitergehen und aussprechen, daß die gleichen Gesetze auch für alle diejenigen gelten, die selbständig beliebig reproduzierbare Waren zu Markte bringen. Da nämlich der Naturstoff nichts kostet, er sei denn Gegenstand eines Monopols, so werden alle nichtmonopolisierten, und das sind eben die beliebig reproduzierbaren Waren, nur nach der in ihnen inkorporierten Arbeit, also nach dem von dem Produzenten der Gesellschaft geleisteten Dienste bewertet und bezahlt. Die Menschen tauschen, scharf gesehen, nichts als Dienste untereinander.2 Schon hieraus geht hervor, daß diese allgemeinste Theorie des Arbeitseinkommens noch nicht ausreicht, um das Problem des eigentlichen Arbeitslohnes im engeren Sinne aufzuklären.
1 2
Vgl. Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. ΙΠ: Theorie der reinen und politischen Ökonomie, 5. Auflage, 2. Teilbd., Jena 1924, S. 630 [im folgenden nur: Theorie der reinen und politischen Ökonomie; A.d.R.]. Vgl. derselbe, Wert und Kapitalprofit, 3. Auflage, Jena 1926, S. lOff. u. 51ff. [im vorliegenden Band, S. 240ff. u. 268; A.d.R.].
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Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
Karl Marx hat einmal in der „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie" das prachtvolle Wort geprägt: „Arbeitslohn ist die unter einer anderen Rubrik betrachtete Lohnarbeit." 1 Wer aber Lohnarbeit sagt, sagt „Klassengesellschaft" und insbesondere - die Vorstufen interessieren uns hier jetzt nicht - kapitalistische Klassengesellschaft. Und diese kapitalistische Gesellschaft hat ihre eigenen Lohnprobleme. Und zwar gibt es deren zwei, mit einer Anzahl von Unterproblemen. Das erste ist die Frage nach der Ursache und das zweite ist die Frage nach der Höhe des Lohnes. Die Aufgabe ist, diese beiden Probleme, die offenbar eng zusammenhängen, aus einer Wurzel zu lösen.2 Die Frage nach der Ursache des Arbeitslohnes ist, wie wir mit Marx sagen, die Frage nach der Ursache der Lohnarbeit. Warum gibt es überhaupt eine Klasse von Lohnarbeitern? Ein Lohnarbeiter nämlich ist nicht etwa bloß ein Mensch, der arbeitet, um ein Einkommen zu erzielen, sondern sein Begriff ist viel enger begrenzt: er ist ein Mensch, der der eigenen Produktionsmittel entbehrt, der weder Land noch Werkgüter (Werkzeuge und Rohstoffe) zu eigen hat, und der daher gezwungen ist, als unselbständiger Arbeitender, daß heißt eigentlicher „Arbeiter", solchen Menschen bezahlte Dienste zu leisten, die sich im Besitz von Produktionsmitteln befinden, sei das nun Land, oder seien es Werkgüter. Kurz, das System der Lohnarbeit bedeutet den Arbeitslohn „freier Arbeiter" in dem bekannten Marx sehen Doppelsinn, daß der Arbeiter erstens politisch frei und in der Lage ist, sich im freien Arbeitsvertrage sich zu verdingen (daß er also kein Sklave ist); - daß er aber ferner auch ökonomisch „frei" ist, d. h. nackt und bloß, „los und ledig von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen". Es besteht also eine differentia specifica, durch deren Hinzutritt aus dem Oberbegriff: Arbeitender mit Arbeitseinkommen der Unterbegriff wird: Lohnarbeiter mit Arbeitslohn*. Das zweite der spezifisch kapitalistischen Lohnprobleme ist die Frage nach der Höhe des Arbeitslohns. Nimmt man die Klassenscheidung einmal als gegeben an, so stellen sich drei neue Probleme entsprechend der dreifachen Betrachtungsweise, der wir sämtliche Funktionen der Gesellschaftswirtschaft zu unterwerfen haben. Wir fragen erstens statisch: wie sich der Lohn seiner Höhe nach auf die Dauer und im Durchschnitt bestimmt; - zweitens kinetisch: wie er und in welchen Grenzen er im Wechsel von Angebot und Nachfrage und etwa mit dem Preise der Nahrungsmittel schwankt; - und drittens und schließlich komparativ-statisch, welche Tendenz der Entwicklung besteht, oder mit anderen Worten, wie der Anteil sich zu gestalten tendiert, den der Arbeitslohn der Lohnarbeiterklasse aus dem Gesamterzeugnis der Gesellschaftswirtschaft an sich zu ziehen imstande ist; ob er wächst oder sinkt, weil der Anteil, den die Besitzer der Produktionsmittel in der Gestalt von Grundrente und Kapitalprofit an sich ziehen können, im ganzen sinkt oder wächst.
1 2
Marx, Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, hrsg. v. Karl Kautsky, Stuttgart 1907, S. XXVIII. Man wird mir vielleicht einwenden, daß ich die Grenznutzler angegriffen habe, weil sie genau dieses Postulat in bezug auf den „Wert" stellen. Aber bei ihnen handelt es sich um nichts als eine quaternio terminorum: die Gleichsetzung von subjektivem Wert und objektivem statischen Preis. Das sind zwei ganz verschiedene Phänomene, die ganz verschiedenen Wissenschaften angehören, das erste der Psychologie, und nur das zweite der Ökonomik. Die sie betreffenden Probleme brauchen daher nicht aus einer Wurzel gelöst werden - und können auch nicht aus einer Wurzel gelöst werden. Beim Lohnproblem aber handelt es sich in der Tat um ein einheitliches Grundproblem, das nur der Ökonomik allein angehört, und hier gilt jene methodologische Forderung unbedingt.
3
So unterscheidet bereits Adam Smith. Nachdem er im Anfang des Kapitels VIH des ersten Buchs [Natur und Ursachen des Volkswohlstandes, Berlin 1879. Im folgenden nur: Volkswohlstand; A.d.R.] den Begriff „Arbeitslohn" im weiteren Sinne als Arbeitsertrag eines Arbeitenden gebraucht hat, schreibt er wenig weiter unten: „Unter Arbeitslohn versteht man auch überall das, was er gewöhnlich ist, wenn der Arbeiter und der ihn beschäftigende Kapitalbesitzer zwei verschiedene Personen sind."
Der
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II. Die klassischen Theorien Die Physiokraten standen dem Hauptproblem noch ganz naiv gegenüber. Uber die Ursachen der Existenz einer kapitallosen Arbeiterklasse dachten sie nicht nach. Sie war eben da, und alles, was die Klassengesellschaft als solche konstituierte, erschien diesen Köpfen als etwas „Natürliches", dem „ordre naturel" Angehöriges. Es war etwas Natürliches, daß die Arbeiter als Klasse da waren, und es war weiter etwas Natürliches, daß sie sich gegenseitig den Lohn herunterkonkurrieren, weil ihrem Angebot keine entsprechende oder überwiegende Nachfrage seitens der Käufer ihrer Dienste gegenübersteht. Am bekanntesten ist die Darstellung von Turgot: „Der Lohn des Arbeiters ist infolge der Konkurrenz der Arbeiter untereinander auf seinen notwendigen Lebensunterhalt beschränkt. Er fristet gerade sein Dasein. Dem einfachen Arbeiter, der nur seine Arme und seine Geschicklichkeit hat, bleibt nichts übrig, als seine Arbeitskraft an andere zu verkaufen. Er verkauft sie mehr oder weniger teuer. Aber dieser mehr oder weniger hohe Preis hängt nicht von ihm allein ab: er ergibt sich aus dem Vertrage, den er mit dem schließt, der seine Arbeit bezahlt. Dieser bezahlt ihm so wenig wie möglich. Und da er die Wahl zwischen einer großen Anzahl von Arbeitern hat, zieht er den vor, der am billigsten arbeitet. Die Arbeiter sind also genötigt, den Preis um die Wette zu drücken. Bei jeder Arbeit muß es demnach dahin kommen und kommt es in der Tat dahin, daß der Lohn des Arbeiters sich auf das beschränkt, was zu seiner Erhaltung unbedingt notwendig ist."1 Um noch eine weniger bekannte Stelle anzuführen, so sagt Mercier de la Rivière: „Ihre verschiedenen Berufe sind gewöhnlich so leicht erlernbar, daß sie von Vielen ausgeübt werden können und zwar von Solchen, die ohne irgendwelchen Güterbesitz zur Welt gekommen sind. Darum hält die große Konkurrenz dieser Arbeiter, die sich sofort und ohne Kosten bilden (forment), natumotwendigerweise ihre Löhne auf dem niedrigsten möglichen Satze, d. h. auf einem Satze, unterhalb dessen man nur Dürftigkeit und Elend findet, die vernichtenden Übel der Gesellschaftsklassen, deren gewöhnlichen Zustand sie darstellen."2 Die Folge davon ist, daß die Arbeiter „durchaus nicht im Verhältnis zu dem Nutzen bezahlt werden, der aus ihrer Arbeit erwächst"'. Modern ausgedrückt (die Physiokraten waren noch weit von diesen Erkenntnissen) würde das heißen, daß die Arbeiter, weil sie einem Monopol gegenüberstehen, weniger als den Wert ihrer Arbeit erhalten, d. h. ausgebeutet werden. Und zwar werden sie „nécessairement" auf das soziale oder gar das physiologische Existenzminimum herabgedrückt: das eherne Lohngesetz der späteren Zeit! Adam Smith hat die beiden Probleme, die hier in naivster Weise übersehen worden sind, gestellt und zu beantworten gesucht: erstens die Ursache der Existenz einer Klasse freier Arbeiter und zweitens die Ursache dafür, daß in der bisherigen Geschichte ihr Angebot von Arbeit die Nachfrage danach weit genug übertraf, um den Lohn sehr tief zu halten. Was das erste Problem anlangt, so erkennt er und spricht es ungeschminkt aus, daß das Verhältnis zwischen dem Arbeiter und seinem Anwender ein Monopolverhältnis ist. Im 8. Kapitel des ersten Buches: „Vom Arbeitslohn" heißt es zu Anfang:
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Turgot, Betrachtungen über die Bildung und die Verteilung des Reichtums, Jena 1903, § 6, S. 5. Daire, Physiocrates, Paris 1846, S. 499f. Ebenda.
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„Das Produkt der Arbeit bildet ihre natürliche Belohnung oder der Arbeitslohn. In jenem ursprünglichen Zustand der Dinge, welcher weder Landerwerb noch Kapitalansammlung kannte, gehörte das ganze Produkt der Arbeit dem Arbeiter allein. Er hatte weder Gutsbesitzer noch Arbeitgeber, mit denen er zu teilen brauchte. Hätte dieser Zustand angehalten, so würde der Arbeitslohn um all jene Steigerung in den erzeugenden Kräften der Arbeit zugenommen haben, zu welchen die Arbeitsteilung den Anlaß gab."1 In diesem primitiven Zustand, wo es noch keine Lohnarbeiter und keinen Arbeitslohn im engeren Sinne gab, sondern nur Arbeitende und Arbeitsertrag, entsprach also nach Smith der „Lohn" durchaus der Produktivität der Arbeit. Hier galt also die „Produktivitätstheorie" des Lohnes, mit der w i r uns im nächsten Abschnitt ausführlich zu beschäftigen haben werden. Aber Smith fährt fort: „Aber dieser ursprüngliche Zustand der Dinge, in welchem der Arbeiter das gesamte Erzeugnis seiner Arbeit allein genoß, konnte nicht über das erste Auftauchen des Grunderwerbes und der Kapitalansammlung hinaus andauern [...] Sobald der Grund und Boden Privateigentum wird, fordert der Gutsbesitzer einen Teil fast all der Erzeugnisse, welche der Arbeiter auf seinem Boden entweder hervorbringt oder einsammeln kann; diese seine Rente bildet den ersten Abzug von dem Erzeugnisse der auf dem Boden verwendeten Arbeit." Ein zweiter Abzug wird ihm von den Pächter gemacht, dem Kapitalisten, „der kein Interesse daran hätte, ihn anzustellen, wenn er nicht einen Anteil an dem Erzeugnisse seiner Arbeit bekäme, d. h., wenn sein Kapital nicht zuzüglich eines Gewinnes zu ihm zurückkehrte. Dieser Gewinn stellt den zweiten Abzug von dem Produkt der auf den Boden verwendeten Arbeit dar. Das Produkt fast jeder anderen Arbeit ist demselben Gewinnabzug unterworfen." Nur solche Arbeiter, die eigenes genügendes Kapital besitzen, können sich diesem Zwang entziehen, aber „solche Fälle sind nicht besonders häufig". Hier ist uns die Ursache für die Existenz einer Arbeiterklasse gegeben. Der Grund und Boden ist Privateigentum geworden. Die Zuspätgekommenen, die „Enterbten", müssen einen Tribut dafür abtreten, daß man ihnen die Produktionsmittel zur Verfügung stellt, deren sie selbst entbehren, und ohne die sie doch ihre Arbeit überhaupt nicht „verwirklichen" können. Smith hält diese Entwicklung für „natürlich". Im Banne des Gesetzes von der ursprünglichen Akkumulation nimmt er an, daß der Boden für die herangewachsene Bevölkerung in irgendeinem Zeitpunkt bereits ferner Vergangenheit, „lange Zeit vor dem Auftreten der bedeutendsten Verbesserungen in den erzeugenden Kräften der Arbeit", schon voll besetzt war, und daß sich schon damals die Klasse besitzloser Arbeiter bilden mußte, die vom Arbeitslohn im eigentlichen Sinne leben. 2 Dieses Verhältnis des Arbeiters zu seinem Arbeitgeber beschreibt Smith nun unzweideutig als ein Monopolverhältnis und nennt es auch gelegentlich so: „Es ist nicht schwer vorauszusehen, welcher der beiden Teile gewöhnlich das Ubergewicht dabei behält und den anderen zur Erfüllung seiner Bedingung zwingt." Nicht nur steht die Staatsgewalt in der Regel auf Seiten der Arbeitgeber,
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[Smith, Volkswohlstand, 1. Buch, Kap. 8, ebenso die folgenden Zitate; A.d.R.] Smith ist hier, wie so oft, nicht konsequent. Es finden sich Stellen, in denen das Monopol als ein rechtliches, künstliches, unzweideutig bezeichnet wird: es ist die Bodensperrung durch das Großgrundeigentum in Gestalt der Fideikommisse, durch die dem Markte „soviel Land entzogen wird, daß stets mehr Kapitalien zum Kaufe da sind, als Land zum Verkaufe, und letzteres mithin stets zu einem Monopolpreise verkauft wird [...] ohne das käme soviel Boden auf den Markt, daß er den Monopolpreis nicht länger behaupten könnte" (ebenda, S. 432f.).
Der Arbeitslohn
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sondern „der größte Teil der Arbeiter ist genötigt, um der Existenz willen sich zu unterwerfen". Hier ist das Monopolverhältnis nur beschrieben.
An anderer Stelle aber heißt es ausdrücklich:
„Die Bodenrente [...] ist somit naturgemäß ein Monopolpreis. Sie steht in gar keinem Verhältnisse zu dem, was der Besitzer für den Anbau des Landes ausgelegt haben mag, oder zu dem, womit er sich billig begnügen könnte, sondern einzig und allein zu dem, was der Pächter zu bezahlen imstande ist." 1 Hier ist vom Verhältnis des Grundbesitzers zum kapitalistischen Pächter die Rede: aber nach dem oben Angeführten gilt der Begriff ebenso für das Verhältnis des kapitalistischen Pächters und des Kapitalisten überhaupt zu seinen Arbeitern. Wenn Adam
Smith diese Konsequenz nicht ausdrücklich gezogen hat, so hat das seine Gründe
wahrscheinlich im folgenden: er sieht, auch hierin weit über die Physiokraten hinausgeschritten, auch das zweite der von ihnen in naiver Weise übersehenen Probleme: wie kommt es, daß der einseitige Besitz der Produktionsmittel ihren Eigentümern ein Monopol bisher verliehen hat? Das ist nämlich ein eigenes Problem. Das Eigentum an irgendwelcher Sache mag noch so ausschließlich sein: es wird zu einem wirtschaftlichen Monopol erst dadurch, daß die Nachfrage auf die Dauer das Angebot überwiegt. Dann steigt der Preis über den „natürlichen Preis" (statischen Konkurrenzpreis) auf einen Monopolpreis. N u n weiß Smith, daß nicht nur die Arbeiter um die Arbeitsstellen konkurrieren, sondern auch die Arbeitgeber um die Arbeiter. Aber er wußte auch, was heute die Theoretiker in der Regel nicht mehr wissen (wir werden unten einen derartigen Fall darzustellen haben), daß sich unter solchen Umständen ein Monopolpreis trotz der Konkurrenz dann bilden kann, wenn „einfache Konkurrenz" besteht, wie Adam Smith' großer, von ihm überstrahlter Vorgänger Sir James Steuart es nannte. E r schreibt im Kapitel 7 des 2. Buches seiner „Untersuchung über die Volkswirtschaftslehre" in dem Kapitel „Von der doppelten Konkurrenz" folgendes: „Wenn die Konkurrenz auf der einen Seite des Vertrages viel stärker ist als auf der anderen, so nenne ich sie einfach [...] dies ist die Art der Konkurrenz, die der Ausdruck starke Nachfrage schließt, oder wenn man sagt, daß die Nachfrage die Preise steigert. Eine doppelte Konkurrenz
einist es,
wenn sie bis zu einem gewissen Grade auf beiden Seiten des Vertrages zugleich stattfindet, oder abwechselnd von einer zur anderen schwankt. Das ist es, was die Preise auf den adäquaten Wert der Ware einschränkt." 2 Von dieser Erkenntnis aus mußte Smith versuchen, das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkte näher zu bestimmen. Das geschah durch die unglückselige Lohnbruchtheorie, wie ich sie zur Unterscheidung von ihrem späteren Abkömmling, der sogenannten Lohnfondstheorie, zu nennen vorgeschlagen habe. Er stellt in den Zähler des Bruchs das gesellschaftliche „Kapital", in seinen Nenner die Zahl der Arbeiter: der Divisor ist der durchschnittliche Lohn, der sich nun auf die einzelnen Mitglieder der Arbeiterklasse je nach der „Seltenheit der Vorbedingungen" verteilt, wie wir das im Eingang dargestellt haben. N u n ist heute darüber kein Wort mehr zu verlieren, daß die Lohnbruchtheorie gerade so falsch und unhaltbar ist, wie die Lohnfondstheorie. Darüber sind die Akten endgültig geschlossen, und kaum der kleinste Klassenrabulist wagt es noch, diese rostige und zerbrochene Waffe zu schwenken. Aber das interessiert uns hier nicht. Wir haben hier nur zu betrachten, welche Schlüsse Smith aus seiner Prämisse zog. Es sind die folgenden: wenn der Staat sich nicht einmischt, wenn er nicht
1 Smith, Volkswohlstand, S. 157. 2 Steuart, Untersuchung über die Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, 2. Bd., Jena 1913, S. 270.
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durch die Privilegien und Monopole die freie Konkurrenz hindert, ihre Segnungen voll zu entfalten, dann wird jede Gesellschaft eine „fortschreitende" sein, in der der Zähler jenes Lohnbruchs wesentlich stärker wächst als der Nenner. Der Lohn muß also in einer solchen Gesellschaft steigen: „Wenn in einem Lande die Nachfrage nach denjenigen, welche vom Arbeitslohne leben, nach Arbeitern, Tagelöhnern und Dienenden aller Art, beständig steigt, wenn jedes Jahr eine größere Anzahl derselben Beschäftigung findet, als das vorhergegangene, so brauchen die Arbeiter keine Vereinigung, um den Arbeitslohn in die Höhe zu treiben. Der Mangel an Händen erzeugt eine Konkurrenz unter den Arbeitgebern, welche einander überbieten, um Arbeiter zu bekommen. [...] Die Nachfrage nach den vom Arbeitslohn lebenden Personen kann augenscheinlich nur im Verhältnis zu dem Wachsen der Fonds steigen, welche für die Bezahlung der Arbeitslöhne bestimmt sind."1 Diese Fonds aber müssen überall dort, so nimmt Smith an, wo keine Eingriffe in den natürlichen Ablauf der Konkurrenz stattfinden, schneller wachsen als die Zahl der Arbeiter. Infolgedessen muß der Lohn im ungefähren Verhältnis zu der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit wachsen; und die Produktivität hängt, wo keine Eingriffe stattfinden und keine Monopole geschaffen werden, von nichts ab, als von der Höhe der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Vereinigung. Demnach gilt also nach Smith die Produktivitätstheorie des Lohnes auch in der entfalteten „fortschreitenden" Gesellschaft nach der Vollbesetzung des Bodens. Aber die Entwicklung strafte die Theorie Lügen. Kein Zweifel, daß in dem Menschenalter, das seit Smith' Auftreten vergangen war, das gesellschaftliche Kapital in einem geradezu ungeheuerlich stärkeren Maße gewachsen war als die Zahl der Arbeiter, selbst wenn man, unter Außerachtlassung der Landarbeiter, nur die durch Zuwanderung in die Städte weit über ihre Geburtenrate hinaus angeschwollene Industriearbeiterschaft ins Auge faßte. Mochte man als Kapital betrachten, was man wollte, das sogenannte „volkswirtschaftliche" in Gestalt von Fabrikanlagen usw. mit ihren Maschinen und Rohstoffen und den dazu gehörigen Landstraßen, Häfen, Seeschiffen usw. usw.; - oder das „privatwirtschaftliche" in Gestalt des in den Händen der Kapitalistenklasse befindlichen Vermögens: der Zähler des Lohnbruchs war unzweifelhaft viel stärker gewachsen als der Nenner, und so hätte nach der Produktivitätstheorie der Lohn steigen müssen. Aber er war gesunken·, allenfalls hätte der kühnste Optimismus behaupten können, daß er, als Reallohn, auf seinem alten Stande geblieben sei. Das Elend der britischen Arbeiterschaft schrie, nein stank zum Himmel. Wir können uns die Tatsachen ersparen, sie sind geschichtsnotorisch. Und so war die Theorie in ihrer alten Form nicht mehr haltbar. Es gab nur drei mögliche Auswege aus diesem theoretischen Dilemma. Entweder gab man die Lohnbruchtheorie vollkommen auf; dann aber hätte man mit ihr entweder auch die Konkurrenzlehre gänzlich fallen lassen müssen: das aber hätte bedeutet, die Tafel der Theorie völlig leer zu wischen, war also unmöglich. Oder: man mußte sich entschließen, einzugestehen, daß hier irgendwo ein gewaltiges Monopol wirke, das trotz der gewaltigen Steigerung der Produktivität es verhinderte, daß die Segnungen der wachsenden volkswirtschaftlichen Kooperation sich einigermaßen gleichmäßig auf alle Klassen der Bevölkerung verteilten. Damit aber hätte die bürgerliche Ökonomik dem Sozialismus ein entscheidendes, ja sogar für sie vernichtendes Zugeständnis gemacht. Denn es war von jeher das große Argument der sozialistischen Doktrinen, daß Kapital und Grundeigentum Monopole, und Grundrente und Profit Monopolgewinne seien. Freilich handelt es sich hier mehr um Schlagworte als um ausgebaute ökonomische Theorien.
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Smith, Volkswohlstand, S. 73.
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Aus diesem Grunde war (und ist noch heute) der Monopolbegriff für die bürgerlichen Ökonomisten ein „heißes Eisen", das man, wenn überhaupt, nur vorsichtig mit einer sehr langen Zange aufgreift, um es in irgendeiner Ecke zu verstecken, wo es keinen gefährlichen Brand anstiften kann. Man weiß, wie ζ. B. Ricardo mit einer lässigen Handbewegung den Begriff beiseite geschoben hat. U n d so blieb nur die dritte Möglichkeit: die Lohnbruchtheorie so umzugestalten, daß sie formal noch genügte. Den Nenner konnte man nicht verändern, und so machte man sich an den Zähler. An die Stelle des gesellschaftlichen Gesamtkapitals trat hier der „Subsistenzfonds" der Arbeiterklasse, und zwar eingeengt auf ihre Nahrungsmittel. 1 Malthus „bewies", daß die Arbeiterschaft die Tendenz habe, immer schneller zu wachsen als ihr Subsistenzfonds; und damit war das physiokratische Lohngesetz, das dort noch ganz naiv postuliert war, in argumentierter Gestalt wieder zum Leben erweckt, und an die Stelle des Smithschen Optimismus in bezug auf die Entwicklung des Lohnes war der Pessimismus, an die Stelle der Produktivitätstheorie das eherne Lohngesetz getreten. Uber das Malthussche Bevölkerungsgesetz des breiteren zu handeln, ist hier nicht der Ort. Vor allem braucht hier nicht dargestellt zu werden, daß es durch die Entwicklung des tatsächlichen Verhältnisses zwischen Nahrungsmittelproduktion und Volkszahl und durch das relative Wachstum der städtischen Bevölkerung im Verhältnis zur ländlichen vollkommen widerlegt ist. Wir befinden uns hier im Reiche der reinen theoretischen Deduktion, und da genügt es zu sagen, daß der Malthussche Beweis rettungslos widerlegt ist. Dessen eine Prämisse ist nämlich das „Gesetz der sinkenden Erträge"; und dieses Gesetz hat er in einer falschen Formel zugrunde gelegt. Es gilt nur unter der Voraussetzung, daß „die landwirtschaftliche Geschicklichkeit die gleiche bleibt", und Malthus hat übersehen, daß bei wachsender Volkszahl und wachsender Kooperation die landwirtschaftliche Technik unter ungestörten Verhältnissen die Tendenz haben muß, eine höhere Entwicklungsstufe zu ersteigen; und daß sie in der Tat sich regelmäßig (in politisch einigermaßen verwalteten Ländern) schneller entfaltet hat, als sich die Bevölkerung vermehrte. Nun, jedenfalls hat nicht einmal Ricardo diesen entscheidenden Fehler bemerkt. Er nahm das Malthussche Bevölkerungsgesetz unter die grundlegenden Prämissen seiner Deduktion auf und verfeinerte die höchst krude Argumentation vor allem dadurch, daß er den „natürlichen Arbeitslohn" neu bestimmte. Das geschah dadurch, daß er die Arbeit zu einer beliebig reproduzierbaren Ware gleich allen anderen Waren, „wie Kaliko und Schuhbürsten", machte und deduzierte, daß ihr natürlicher Preis dementsprechend gleich ihren Reproduktionskosten sei.2 Auch diese Theorie ist unhaltbar. Der natürliche Preis (statischer Preis) irgendeines Produktes hat seinem Produzenten über seine Selbstkosten hinaus einen Gewinn zu bringen, der ihm zu leben gestattet: ein Gewinn, der sich darstellt und rechtfertigt als die Vergütung für seine den Arbeitsstoffen zugesetzte „additional labour", entsprechend ihrer Qualifikation. Das muß natürlich auch für den Arbeiter gelten. Er bringt gar nicht seine Arbeitskraft zu Markte, sondern „Dienste"·, sein Arbeitslohn muß ihm bringen erstens die Selbstkosten des Zumarktebringens, also z. B. Verschleiß eigenen Werkgeräts und eigener Werkkleidung und besondere Auslagen für Fahrten zur Arbeitsstätte; - und zweitens jenen Gewinn. Dieser Gewinn fällt in der Ricardoschen Theorie vollkommen unter den Tisch. Also ist, ich wiederhole es, auch diese Theorie unhaltbar. Ich habe das hier zu betonen, weil ich in dieser Beziehung mit Dietzel übereinstimme, wenigstens in der Folgerung: meine Begründung scheint er nicht zu kennen oder abzulehnen. 1 2
Bei Ricardo steht im Zähler vom Gesamtkapital nur noch der als „zirkulierendes Kapital" bezeichnete Teil. Ricardo knüpft hier an Adam Smith an, der geschrieben hatte: „Die Nachfrage nach Menschen bestimmt notwendig wie bei jeder anderen Ware auch die Erzeugung von Menschen" (Smith, Volkswohlstand, S. 86). Aber das bezieht sich ausschließlich auf eine „stillstehende Gesellschaft". In komparativ-statischer Betrachtung muß, wie gezeigt, ihm zufolge die Nachfrage nach Menschen immer ihr Angebot überwiegen. Bei Ricardo aber gilt das Gesetz auch für die fortschreitende Gesellschaft, und in der komparativ-statischen Betrachtung sieht er die Dinge ebenso schwarz wie Smith rosig.
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III. Heinrich Dietzels Produktivitätstheorie Dietzel ist zur Produktivitätstheorie und zu Adam Smith zurückgekehrt. Er hat bereits in einem Vortrag von 1900 „Kornzoll und Sozialreform" 1 die „Konträrtheorie" vorgetragen: „höherer Kornpreis, niedrigerer Lohn, niedrigerer Kornpreis, höherer Lohn" 2 : eine erste Annäherung an die später voll ausgebildete Produktivitätstheorie. Zum Verständnis des hier vorliegenden Streitfalls. Bei den Debatten über die Erhöhung der Kornzölle um die Jahrhundertwende gingen die Agrarier mit der Behauptung krebsen, daß der Lohn der Arbeiterschaft steigen werde, wenn die Zölle den Kornpreis erhöhen würden. Ihre Wortführer, darunter Diehl, beriefen sich auch auf Ricardo. Nun liegt die Sache so, daß Ricardo den Arbeitslohn in der Statik, im Banne der Malthusschen Bevölkerungstheorie, als das soziale Existenzminimum bestimmt hat, wie wir es soeben dargestellt haben. In der Kinetik mußte infolgedessen der Lohn mit dem Preise der Subsistenzmittel parallel schwanken: anders hätte er unter jenes Minimum sinken müssen, wenn der Kornpreis stieg. Kinetisch gilt also die Paralleltheorie. In der komparativ-statischen Betrachtung aber gilt die Konträrtheorie: die Grundrente steigt absolut und relativ, der Kapitalprofit sinkt absolut und relativ, der Nominallohn steigt, aber der Reallohn fällt, bis zuletzt das physiologische Existenzminimum erreicht ist. Dietzel beruft sich schon damals, zwar nicht auf Adam Smith selbst, wohl aber auf Buchanan, seinen Kommentator. 3 Dietzel ist dann zwei Jahre später, in einer Arbeit unter dem Titel: „Das Produzenteninteresse der Arbeiter und die Handelsfreiheit, ein Beitrag zur Theorie vom Arbeitsmarkt und vom Arbeitslohn" 4 ausführlich auf den Gegenstand zurückgekommen. Und hier beruft er sich ausdrücklich auf Adam Smith: „Wenn die Produktivität der Volkswirtschaft steigt [...], so muß die Nachfrage nach Arbeitskräften steigen, und, bei gleichbleibender Arbeiterziffer, demzufolge das Lohnniveau. Das Gesamtprodukt ist der wahre Lohnfonds. Je kräftiger es sich hebt, bei Gleichbleiben der Arbeiterziffer, desto kräftiger hebt sich das Arbeitereinkommen [...]. Das Gesamtprodukt - den Dividendus - rascher wachsen zu lassen, als die Bevölkerung - der Divisor - wächst, und so mit Smith gesprochen, die Wirtschaftsgesellschaft zu einer ständig fortschreitenden' zu machen: dahin drängt das Gesamtinteresse, mit dem das Interesse der Arbeiter, als Konsumenten wie als Produzenten, sich deckt, während das Interesse der Grund- und Kapitalrentner, deren Einkommen sinkt, wenn die Produktivität steigt, ihm entgegengesetzt ist." 5 Auch noch in seiner neuesten Arbeit, in der die Produktivitätstheorie wieder verteidigt wird, wird ausdrücklich ausgesprochen, daß sie mit der Smithschea Lehre identisch ist. Es heißt in der Abhandlung „Vom Lehrwert der Wertlehre und vom Grundfehler der Marx sehen Verteilungslehre": „Mit dem Hinweise auf den ,Abzug vom Produkt', welchen die Eigentümer von Boden und Kapital, zufolge der wirtschaftlichen Überlegenheit, die der Besitz der Arbeitsmittel ihnen gewähr-
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Dietzel, Kornzoll und Sozialreform, erschienen in: Volkswirtschaftliche Zeitfragen, Heft 177/178, Berlin 1901. Ebenda, S. 27. Vgl. ebenda, S. 33. Derselbe, Das Produzenteninteresse der Arbeiter und die Handelsfreiheit. Ein Beitrag zur Theorie v o m Arbeitsmarkt und vom Arbeitslohn, Jena 1903. Ebenda, S. 100.
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leistet, den Arbeitern aufzuerlegen vermögen, setzt die Verteilungslehre ein, die in das Produktivitätsgesetz mündet." 1 [Auf den Seiten] 27 und 31 beruft er sich noch einmal auf diesen Kronzeugen: das Produktivitätsgesetz (die Kausalformel, daß der Lohn sich bewegt parallel der Produktivität), habe „schon Smith eindeutig vorgetragen". In der Tat ist die Dietzelsche Produktivitätstheorie die Smithsche, nach ihren Prämissen und nach ihren Folgerungen. Nun haben wir aber die zwingenden Gründe kennengelernt, aus denen die auf Smith folgende Generation der Klassiker die Smithsche Theorie jener gewaltigen Korrektur unterziehen mußte. Der Lohn war eben nicht mit der Produktivität gestiegen. Das Bevölkerungsgesetz mußte entwickelt, aus der Lohnbruchtheorie mußte die Lohnfondstheorie gemacht werden, um diese Tatsache noch erklären zu können. Das weiß Dietzel natürlich. Er schreibt schon in „Kornzoll und Sozialreform": „Der Grund, weshalb Ricardo sich ihr [der Konträrtheorie; A.d.V.] oft genug nähert, sie zeitweise streift, ohne sie jemals dauernd zu packen, liegt in der Malthussàitn Bevölkerungslehre; diese ist es, welche ihn immer wieder zur Paralleltheorie zurückführt." 2 Und diese völlig richtige Darlegung wird im „Produzenteninteresse" 3 wiederholt. Nun bekennt sich aber Dietzel nicht zum Malthusianismus. Er schreibt an der zuletzt genannten Stelle, Ricardo habe das Produktivitätsgesetz nur deshalb nicht klar und scharf ausgesprochen, weil er das Moment der Reaktion der Bevölkerungsziffer auf die Bewegung des Preises gewisser Bodenprodukte, nämlich der Lebensmittel, hereinzieht (ein Moment, das - weil die Reaktion so sein kann, wie Malthus sie annimmt und mit ihm Ricardo, aber ebensogut anders sein kann - ausgeschaltet werden muß). Und wieder im „Lehrwert": „Das eherne Lohngesetz war zuerst durch eine Reihe französischer Autoren [...] auf oberflächliche Weise deduziert worden (,sie lassen aber die These vom Existenzminimum als Lohnregulator unbewiesen oder begründen sie auf oberflächliche Weise') aus dem Zuviel an Arbeitern, Zuwenig an Unternehmern. Dann zutreffend - d. h. unter der Annahme, daß die Bevölkerung in stärkerem Verhältnis steige, als die Produktivität der Bodenwirtschaft - durch Malthus aus dem Zuviel an Arbeitern, Zuwenig an means of subsistence."4 Indem Dietzel derart das Malthussche Gesetz aus den Prämissen der Lohntheorie ausschaltet, weil es, wie er richtig erkennt, nicht bewiesen (und nicht beweisbar) sei, reißt er die Lücke im Beweisgang wieder auf, die jenes Gesetz materiell unrichtig, aber doch wenigstens formell geschlossen hatte. Die gewaltigen Tatsachen, die dazu gezwungen hatten, das Gesetz als Korrektur an der Smithschea Lohnbruchtheorie einzufahren, bleiben unerklärt. Hier hilft sich nun Dietzel zunächst damit weiter, daß er die Behauptung aufstellt, die Tatsachen stimmten dennoch mit dem Produktivitätsgesetz überein: eine Behauptung, die dem Kenner der Geschichte des Frühkapitalismus geradezu den Atem verschlägt. Und zwar gelingt ihm der „Beweis" für diese erstaunliche Behauptung durch eine „Theorie mit doppeltem Boden", die sich, logisch betrachtet, als eine ungeheure petitio principii darstellt:
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Dietzel, V o m Lehrwert der Wertlehre und vom Grundfehler der Marxsdata Verteilungslehre, Leipzig/ Erlangen 1921, S. 7. Derselbe, Kornzoll und Sozialreform, S. 32. Derselbe, Das Produzenteninteresse der Arbeiter und die Handelsfreiheit, S. 98. Derselbe, V o m Lehrwert der Wertlehre und vom Grundfehler der Marxschea Verteilungslehre, S. 17f.
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Schon in „Kornzoll und Sozialreform" wird die Tatsache, daß die Arbeiter Englands höher bezahlt würden als die des Kontinents, was man für eine Folge des höheren Kornpreises Englands erklärt hatte, also nach der Paralleltheorie, in folgender Weise mit der Konträrtheorie oder Produktivitätstheorie in Ubereinstimmung gebracht: „In Wahrheit war diese Tatsache die Folge der [...] größeren Produktivität der britischen Industrie, durch welche der lohnmindernde Einfluß der geringeren Produktivität des britischen Kornbaues (die in dem, im Vergleich mit dem kontinentalen, weit höheren Kornpreise Englands reflektierte) wettgemacht wurde." 1 Diese Argumentation wird im „Produzenteninteresse" wiederholt: „Es war vielmehr die höhere Produktivität der englischen Industrie [...], welche den Lohn der englischen Fabrikarbeiter trotz höheren Brotpreises höher hielt." Bereits in der Periode der Kontinentalsperre sei, wie Torrens gezeigt habe, „die Lohnsteigerung, die damals sich vollzog, nicht eingetreten, weil der Korn- und der Brotpreis damals gewaltig emporging, sondern trotzdem - deshalb, weil die englische Industrie im höheren Grade produktiver wurde, als der englische Kornbau unproduktiver" 2 . Seite 93 heißt es: „Trotzdem in der Landwirtschaft das Gesetz des .abnehmenden Ertrages' sich geltend machte (dessen Folge das Steigen des Preises von Getreide usw. und damit der Grundrente war), ging der Lohn empor; denn die lohnmindernde Tendenz dieses Gesetzes wurde durch die lohnsteigernde Tendenz des Gesetzes des ,zunehmenden Ertrages' in der Industrie überwogen. Zog die Minderung der Produktivität der Landwirtschaft den Lohn herab, so trieb die Steigerung der Produktivität der Industrie ihn herauf." Und noch in der neuesten Publikation heißt es von der Periode 1793/1815: „Das Steigen der Produktivität der ÄdpzWwirtschaft (Industrie usw.) bewirkte, daß der Lohn weniger sank, als er anderenfalls gesunken wäre. Sondern die zunehmende Misere rührte daher, daß die Deckung des Bedarfs an Bodenerzeugnissen unter immer .ungünstigeren Verhältnissen' erfolgen mußte; daher, daß die Produktivität der iWewwirtschaft sank." 3 Man sieht, hier ist die Theorie in ausgesprochener petitio principii immer wieder durch sich selbst bewiesen. Sie stimmt immer. Wenn der Lohn sinkt, dann ist eben die Produktivität der Landwirtschaft noch stärker gefallen, als die der Industrie gestiegen; - wenn der Lohn steigt, so ist entweder die Produktivität der Landwirtschaft durch Verbesserung der „landwirtschaftlichen Geschicklichkeit" oder durch die Hereinziehung besserer Böden in den Markt gestiegen, oder es wird die gesunkene Produktivität der Landwirtschaft überwogen durch die stärkere Steigerung der Produktivität der Industrie. Es stimmt immer! Es wird denn auch gar nicht der Versuch gemacht, die Behauptung durch Gegenüberstellung systematisch erhobener Produktivitätsziffern aus Landwirtschaft und Industrie wirklich zu erhärten: die Theorie mit dem doppelten Boden, die immer paßt, die alles erklärt, genügt dem Verfasser. Aber es gibt einen logischen Satz, der ihn widerlegt: „nihil probat, qui nimis probat".
1 Dietzel, Kornzoll und Sozialreform, S. 36. 2 Derselbe, Das Produzenteninteresse der Arbeiter und die Handelsfreiheit, S. 6, Anm. 3. 3 Derselbe, Vom Lehrwert der Wertlehre und vom Grundfehler der Marxschen Verteilungslehre, S. 25f.
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Aber mehr noch: wenn Dietzel die Produktivität der Landwirtschaft wirklich untersucht hätte, so hätte er gefunden, daß sie während der kapitalistischen Periode, von einigen Rückschlägen natürlich abgesehen, stark gestiegen ist, und zwar ganz gleichgültig, ob man die Produktivität je Arbeiter oder je Ackerfläche ins Auge faßt. Gewiß ist die Produktion mit dem Fortschreiten der Bevölkerung auf immer geringere Böden gedrängt worden: aber die Fortschritte in der landwirtschaftlichen Technik waren in der gleichen Zeit so bedeutend, daß ganz unzweifelhaft auf der Flächeneinheit des heutigen Grenzbodens mehr Nahrungsmittel erzeugt werden als zu irgendeiner früheren Zeit auf der gleichen Flächeneinheit des damaligen, besseren Grenzbodens. Wir erinnern an die berühmte Feststellung Max Delbrücks, daß während des 19. Jahrhunderts die deutsche Nutzpflanzenerzeugung sich vervierfacht hat, während die Bevölkerung sich kaum verdoppelte. Nach der Produktivitätstheorie hätte sich also der Lohn schon aus dem Grunde heben müssen, weil das letzte Ackerstück und der letzte Arbeiter höhere Produktivität hatten, je mehr die Zeit vorschritt. Und diese Tendenz hätte durch die auch von Dietzel selbstverständlich zugestandene viel stärkere Vermehrung der industriellen Produktivität noch sehr kräftig gesteigert werden müssen. Da eine „Produktivitätstheorie" des Lohnes offenbar nur dann richtig sein kann, wenn die Bewegung der Lohnkurve wenigstens einigermaßen mit der Produktivitätskurve übereinstimmt, so ist sie schon durch diese Betrachtungen widerlegt. Aber wir wollen uns nicht auf Tatsachen berufen. Darüber läßt sich endlos streiten. Da niemand imstande ist, den Grenzboden, und noch weniger das „Grenzprodukt des Grenzkapitals auf Grenzboden" aufzufinden und mengenmäßig zu bestimmen, so könnte die Theorie, wenn auch kaum Auswege, so doch Ausflüchte finden. Wir befinden uns hier im Reich der reinen Deduktion: „Mit der .flachen Empirie' geht es nicht - man muß .zurück zu der klassischen Methode', wie sie von Ricardo, Thiinen, Marx geübt wurde." 1 Tatsachen dürfen uns nur als Ausgangspunkt, und dann, in der quaestio facti, zur Verifikation dienen. Damit stimme ich mit Dietzel, einem der wenigen, und einem der bedeutenderen, noch existierenden Anhänger der klassischen Methode grundsätzlich vollkommen überein. Ich glaube, daß der schöne Satz von ihm stammt, daß man die Rätsel nicht mit dem löst, was man sieht, sondern was man nicht sieht. W i r wollen also rein deduktiv vorgehen. Zunächst ist festzustellen, wie Dietzel zu der beherrschenden Vorstellung gelangt, daß im Laufe der kapitalistischen Entwicklung die Produktivität der Landwirtschaft resp. des letzten Arbeiters in der Landwirtschaft gesunken sei. Die Erklärung ist ebenso einfach wie verblüffend. Er, der das Maltbussche Bevölkerungsprinzip „ausschalten" will, hat es unvermerkterweise dennoch zur Prämisse seiner gesamten Deduktion gemacht. U m das klar darzustellen, muß etwas weiter ausgeholt werden. Ricardo hat sein Grundrentengesetz entwickelt, indem er den Anbau auf den Böden der besten Bonität und Marktlage beginnen und zu Böden von immer geringerer Bonität und ungünstigerer Marktlage vorschreiten ließ. Das war für die Geltung der Grundrentenlehre ohne Belang. Sie gilt, wenn in irgendeinem Zustande, einer „Statik", Böden verschiedener Rentierung nebeneinander bewirtschaftet werden. Sie gilt auch für den Fall, daß (komparativ-statisch) der Ertrag des geringeren Grenzbodens einer späteren Zeit größer ist als der Ertrag des besseren Grenzbodens einer früheren Zeit. Wenn nur nebeneinander Unterschiede bestehen, so besteht Rente. Der berühmte Careysche Einwand gegen Ricardo, der Gang der Bodenkultur sei nicht vom Besseren zum Schlechteren, sondern vom Schlechteren zum Besseren erfolgt, zieht also nicht, obgleich er im großen und ganzen wahr ist. Wohl aber zieht er gegen das Bevölkerungsgesetz. Dieses steht und fällt mit der doppelten Behauptung, daß der Gang der Bodenkultur vom besseren zum schlechteren
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Ein Zitat von A . Schulz [Kornzoll, Kornpreis und Arbeitslohn, [ohne Ort] 1902; A.d.R.], das Dietzel mit voller Billigung bringt (zitiert in: Das Produzenteninteresse der Arbeiter und die Handelsfreiheit, S. 114).
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Boden erfolge, und daß die Grenzproduktivität der Landwirtschaft durch die mit der Kooperation notwendig entstehenden besseren Werkzeuge und Methoden nicht vermehrt, das Gesetz der sinkenden Erträge nicht überkompensiert werde. Diese beiden Behauptungen zusammen konstituieren das Bevölkerungsgesetz. Und diese beiden Behauptungen macht sich Dietzel zu eigen. Auch hier der „doppelte Boden". Wenn die Produktivitätstheorie abgeleitet werden soll, wird das Bevölkerungsgesetz ausgeschaltet, und wenn sie mit den Tatsachen in Ubereinstimmung gebracht werden muß, wird es wieder eingeschaltet. Selbstverständlich zweifle ich nicht im mindesten daran, daß das vollkommen bona fide geschieht. Dietzel hat sich nicht klar gemacht, daß jene beiden Behauptungen bereits den vollen Malthusianismus ausmachen - abgesehen von der reservatio ecclesiastica des Briten, daß „moral restraint" der Arbeiterschaft ihre Zahl genügend vermindern könnte, um ihr Uberangebot schwinden zu machen und dadurch den Lohn zu heben. Diese Einschränkung ist offenbar nichts anderes als eine Konsequenz der falschen Beweisführung selbst, von der wir hier daher nicht weiter zu sprechen brauchen, wenn auch Dietzel
selbst auf diesen Punkt bedeutendes
Gewicht legt und legen muß, da er von hier aus (wenn er ¿««schaltet) die ihm unentbehrlichen Argumente gegen Ricardo
gewinnt, um die Paralleltheorie abzuweisen. 1 Wir brauchen uns bei die-
sen Dingen nicht aufzuhalten. Denn Dietzel hat es dankenswerter Weise unternommen, seine Produktivitätstheorie durch eine selbständige Deduktion zu erhärten. Schon in seiner ersten Schrift von 1901 schreibt er: „Denken wir uns ein Gebiet, in welchem nur Korn gebaut wird, und in welchem es nur gibt Grundherrn und Arbeiter, freie, aber landlose Arbeiter. Dann bedingt also die Bewegung der Arbeiterziffer sowohl die Bewegung der Nachfrage nach Korn wie die der Nachfrage nach Beschäftigung in der Kornproduktion. Das Land ist in diesem Gebiete, wie überall in Wirklichkeit, von verschiedener Produktivität, d. h. hier erzielt gleiches Arbeitsquantum mehr, dort weniger Korn. Zunächst, sei nun folgende Situation gegeben: Gemäß der derzeit vorhandenen Gesamtnachfrage der Arbeiter nach Korn und nach Beschäftigung stehen drei Bodenklassen in Kultur, sind gerade voll im Anspruch genommen. Nämlich Land I. Klasse, wo der Arbeiter im Durchschnitt 8 Ztr., Land Π. Klasse, wo er im Durchschnitt 7 Ztr., Land III. Klasse, wo er im Durchschnitt 6 Ztr. Korn erbringt. Land IV. Klasse - wo das Kopfprodukt an Korn nur 5 Ztr. beträgt - ist noch frei. Wie hoch wird, bei dieser Situation, sich der Lohn stellen? U m die Einsicht möglichst zu erleichtern, ist es zweckmäßig anzunehmen, daß die Arbeiter in natura, in Korn, gelohnt werden. Was die Grundherrn an Korn noch übrig haben, nachdem sie die Arbeiter gelohnt und ihren Eigenbedarf gedeckt haben, verkaufen sie ins Ausland. Der Kornlohn nun wird unter diesen Umständen, bei diesem Stande der Kornproduktion und der Produktivität des Kornbaus, zwischen 5 und 6 Ztr. Korn betragen. Er muß liegen zwischen 5 Ztr., d. h. demjenigen Kornquantum, welches auf dem noch freien, für die Arbeiter erreichbaren Lande IV. Klasse producibel wäre, und 6 Ztr., d. h. demjenigen Kornquantum, welches das Produkt des Arbeiters auf Land III. Klasse, auf dem mindestproduktiven, in Privateigentum stehenden Lande bildet. Der Lohn kann nicht unter 5 Ztr., er kann nicht über 6 Ztr. betragen. Seine Höhe ist streng determiniert. Weshalb nicht über 6 Ztr.? Weil ja kein Herr von Land III. Klasse Arbeiter anstellen würde, falls sie mehr Korn als Lohn forderten, als sie ihm produzieren.
1
Vgl. Dietzel, Vom Lehrwert der Wertlehre und vom Grundfehler der Marx sehen Verteilungslehre, S. 18.
Der A rbeitslohn
195
Dieser Lohnsatz - zwischen 5 und 6 Ztr. - wird aber natürlich auch maßgebend sein für den Kornlohn der Arbeiter auf Land II. und I. Klasse, wird den schlechthin allgemeinen Lohnsatz bilden. Können die Herren von Land ΙΠ. Klasse nicht mehr als 6 Ztr. geben, so brauchen die Herrn des bessern Landes nicht mehr zu geben; die Arbeiter müssen ihnen ja doch kommen, da sie auf Land IV. Klasse noch weniger erhielten. D e r Geldpreis des Korns (wie der Geldpreis jedes andern, nicht monopolisierten Produkts) richtet sich, laut der bekannten Ricardoschen
Formel, nach den, kurz gesagt, Maximalkosten, d. h.
nach dem Kostenquantum, das aufläuft auf dem mindestproduktiven Lande - hier: Land ΠΙ. Klasse - welches noch mitgenutzt werden muß, um den gegebenen Kornbedarf voll zu dekken. Der Kornpreis der Arbeit, der Kornlohn, richtet sich nach dem Minimalprodukt, d. h. nach dem Kornquantum, das derjenige Arbeiter erbringt, welcher auf dem mindestproduktiven Lande - hier: Land ΙΠ. Klasse - Beschäftigung sucht und deshalb suchen muß, weil alles produktivere Land bereits mit Arbeitern gesättigt ist. Das Minimalprodukt an Korn beträgt im Beispiel 6 Ztr. Der Lohn steht notwendigerweise, wie gesagt, etwas tiefer, steht unter 6, über 5 Ztr. Nehmen wir an: auf 5Vi Ztr. Korn. Die Differenz zwischen diesem, durch das Minimalprodukt regulierten Kornquantum, welches den Arbeitern als Lohn gezahlt wird, und dem höheren Kornquantum, welches sie den Grundherrn produzieren, bildet die Rente - hier Kornrente. Für das Land ΙΠ. Klasse beläuft sich die Rente auf Vi (6 - 5 Vi Ztr.), für Land Π. Klasse auf 1 Vi (7 - 5Vi), für Land I. Klasse auf 2Vi (8 - 5Vi) Ztr. Lohn und Rente stellen sich, wo Naturalwirtschaft waltet, sinnfällig als Anteile am realen Produkt dar. Wächst der Anteil jenes, so muß der Anteil dieser fallen; und umgekehrt. Supponiert man, wie in unserm Beispiel, Naturallöhnung, so ist es unmöglich, das Konträre von Lohn und Rente zu verkennen. Denken wir uns nun: die Produktivität des Kornbaus steige in diesem Gebiet. Es werden nämlich so viel Böden II. Klasse neu erschlossen, daß alle Böden ΠΙ. Klasse außer Kultur treten, alle Arbeiter, die bisher darauf beschäftigt waren, Arbeit auf Böden Π. Klasse finden können. Die Folge ist: jetzt wird das Kopfprodukt des Arbeiters auf Land II. Klasse, nämlich 7 Ztr., als jetziges Minimalprodukt, maßgebend für den Lohn; er steigt auf einen Betrag zwischen 6 und 7 Ztr., sagen wir auf 6Vi Ztr. Korn. Denn sonst würden ja die Herrn von Land ΠΙ. Klasse die Arbeiter festhalten. Der Kornlohn steigt von 5Vi auf 6Vi Ztr. Pari passu aber sinkt die Kornrente - auf Land I. Klasse von 2Vi auf 1 Vi, auf Land Π. Klasse von 1 Vi auf Vi Ztr. Die Produktivität des Kornbaus steige noch weiter. Es werden soviel Böden I. Klasse, bezüglich noch bessere Böden Ia Klasse disponibel, daß die Außerkultursetzung aller Böden II., bezüglich sogar I. Klasse erfolgen kann. Dann geht der Kornlohn weiter empor, die Kornrente weiter herab. Steigt die Produktivität, so sinkt die Kornrente, steigt der Kornlohn. Mit diesem Satze ist die Theorie Ricardos,
daß, wenn die Produktivität steige, der Preis des
Korns und mit ihm die Rente sinke, materiell durchaus identisch. Es fehlt nur bei Ricardo
die
zur Klarheit unerläßliche Betonung der Konträrbewegung von Rente und Lohn." 1 Soweit Dietzel!
Nun, es muß klar ausgesprochen werden, daß das erstens nicht Ricardo
auch nicht Thünen),
und zweitens und vor allem: daß aus diesen Prämissen
möglich folgen können.
1
Dietzel, Kornzoll und Sozialreform, S. 42-45.
ist (es ist
diese Konsequenzen
un-
196
Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Erstens: Es ist nicht Ricardo. Zunächst würde Ricardo mit der letzten Energie gegen die Behauptung protestieren, daß hier auf Grenzboden eine Rente abfalle (ein halber Zentner). Dietzel hat vergessen, daß unter den von ihm vorausgesetzten Verhältnissen die Grundherren zugleich ihre eigenen Pächter, d. h. Kapitalisten sind. Jene Differenz zwischen Arbeitsertrag und Arbeitslohn auf dem Grenzboden ist nach Ricardo Kapitalprofit, Rente fällt nicht ab. Der Gegenstand wäre ohne viel Bedeutung, da Dietzel sagen könnte, er verstehe hier unter Rente, wie es ζ. B. Rodbertus tat, Grundrente und Kapitalprofit in einem. Aber Dietzel hat in seinen späteren Veröffentlichungen diese „Rente" klar als einen Abzug vom Arbeitsertrage bezeichnet und sich damit der Monopoltheorie des Lohnes bedenklich genähert; wir kommen bei dem Thema „Monopol" noch darauf zurück. Zweitens: Es ist auch nicht Ricardo, weil hier die unabhängig Variable fehlt, von der Ricardo alles andere als abhängig Variable dependieren läßt: der Kornpreis, unter dem er, und wir werden ihm darin jetzt folgen, den Preis des Urprodukts im allgemeinen versteht. Dieser Kornpreis hängt freilich seinerseits wieder von einer außerökonomischen, rein naturgesetzlichen Variablen ab, nämlich der Bevölkerungsbewegung und ihrem Nahrungsbedarf. Aber für die Ökonomik in ihrem eigentlichen Bezirk ist das „Datum", die unabhängig Variable, nur der Marktpreis. Wenn er steigt, wird der Anbau auf geringere oder marktfernere Böden gedrängt, und steigt die Rente; - wenn er sinkt, werden bisherige Grenzböden verlassen, und sinkt die Rente. Der Lohn aber wird nach Ricardo durch alle diese Verschiebungen in der Statik durchaus nicht berührt. Es ist geradezu das thema probandum seiner ganzen Beweisführung, daß das nicht geschieht. Er will beweisen, daß das Grundeigentum kein Monopol ist. Durch seine Grundrententheorie beweist er in der Tat, daß der Kornpreis kein Monopolpreis ist: er ist immer statischer Konkurrenzpreis, im Ausdruck der Klassiker „natürlicher Preis". Damit ist die eine der beiden möglichen Anschauungen, daß das Grundeigentum ein Verkaufsmonopol besitze und die Rente als Aufschlag auf den Preis des Urprodukts zu Lasten der Konsumenten einziehe, abgewiesen. Nun bleibt noch die zweite Möglichkeit: daß das Grundeigentum ein Einkaufsmonopol besitzt, d. h., die Dienste der Arbeiter unter ihrem Werte einkaufe und die Differenz beim Verkauf des Korns zu seinem natürlichen Preise „realisiere". Gegen diesen Einwand aber ist Ricardo durch die Lohnfondstheorie geschützt. In seiner Formel, in der im Zähler des Bruches von dem gesellschaftlichen Gesamtkapital nur noch das zirkulierende Kapital steht, während der Nenner die Zahl der Arbeiter ausdrückt, steht nichts von Grundrente. Solange die „Lohnfondstheorie" galt, war eine Verteidigung der bürgerlichen Ordnung gegen die „Monopol-Zo/w-Theorie" nicht nötig. Und gegen die „Monopol-PmsTheorie" war sie durch die in dieser Beziehung unbestreitbar richtige Grundrententheorie gesichert, wie Ricardo sie so scharfsinnig aufgebaut hat. Der Preis des Getreides aber ist nach Ricardo bestimmt als dessen „Arbeitswert". Von diesem Wert erhält das Kapital als Profit einen, und der Lohn den anderen Teil, je nach Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. Der Lohn kann nur steigen wenn der Profit sinkt, nur sinken, wenn er steigt. Und dieses Verhältnis wird nach Ricardo bei Steigen des Marktpreises infolge vermehrter Bevölkerung und ihrer Nachfrage nur außerordentlich langsam (in der Betrachtung der komparativen Statik) verändert. Wenn man von dieser sehr langsamen Veränderung, wie Ricardo es selbst in der Regel tut, als einer für kürzere Zeiträume mit Recht zu vernachlässigenden Größe absieht, also davon absieht, daß der Profit langsam sinkt, und der Geldlohn der Arbeiter langsam steigt, während ihr Reallohn sinkt: dann kann man sagen, daß unter sonst gleichen Umständen das Steigen des Marktpreises für Korn den Arbeitslohn durchaus nicht beeinflußt. Den Mehrpreis nimmt die Rente, Profit und Lohn bleiben auf der alten Höhe. Drittens: Es ist schließlich nicht Ricardo, daß in der Dietzelschea Konstruktion die Gestaltung des Lohnes auch auf die Dauer und im Durchschnitt von der Zahl der Arbeiter abhängig gemacht wird. Für Ricardo ist Axiom (Konsequenz des Bevölkerungsgesetzes), daß, abgesehen von einzelnen
Der A rbeitslohn
197
kinetischen Schwankungen, immer nicht nur soviel Arbeiter vorhanden sind, wie das Kapital bei der bestehenden Marktlage zu beschäftigen wünscht, sondern mehr. Wir könnten noch eine Anzahl von weniger bedeutsamen Punkten anführen, in denen diese Deduktion völlig unricardisch, ja antiricardisch ist. Aber wir wollen von diesem Gegenstand nicht weiter handeln und uns zu dem wichtigeren Nachweise wenden, daß aus diesen Prämissen die Diet-
zelschen Konklusionen gar nicht gezogen werden können. Ja noch mehr: Aus den Dietzelschcn
Prämissen kann überhaupt keine Konklusion gezogen wer-
den. Die Daten reichen nicht aus. So wenig wie es möglich ist, ein Dreieck zu berechnen, wenn nur eine Seite und ein Winkel gegeben sind, so wenig läßt sich aus den unzureichenden Daten etwas folgern, die Dietzel gibt. Es geht nicht ohne den Marktpreis! Er ist unentbehrliches Datum des Problems. Daß Dietzel das nicht beachtet hat, verführt ihn zu den schwersten Inkonsequenzen. Er schreibt im dritten Absatz des Problems: „Gemäß der derzeit vorhandenen Gesamtnachfrage der Arbeiter nach Korn und nach Beschäftigung, stehen drei Bodenklassen in Kultur". Aber am Schluß des vierten Absatzes heißt es: „Was die Grundherren an Korn noch übrig haben, nachdem sie die Arbeiter gelohnt und ihren eigenen Bedarf gedeckt haben, verkaufen sie ins Ausland". Das ist ein offenkundiger Widerspruch: das Ausmaß des produzierten Korns wird also nicht, wie es nach Satz 1 der Fall sein müßte, bestimmt durch die Gesamtnachfrage der Arbeiter (zuzüglich des Eigenbedarfs der Grundherren), sondern durch diese Größe zuzüglich der ins Ausland exportierten Menge. Und zwar handelt es sich hier nicht um eine folgenlose Inkonsequenz. Wenn nämlich die Grundherren keinen Uberschuß zu verkaufen hätten, so hätten sie nirgends Profit für ihr Kapital und auf den Böden höherer Rentierung ferner keine Grundrente. Sie hätten nichts als einen überaus bescheidenen Mehrlohn für ihre Leiterarbeit, für dasjenige also, was Dietzels große Autorität, Thünen als „Industriebelohnung" streng von dem eigentlichen Kapitalprofit, der Risikoprämie und dem Unternehmergewinn scheidet. Unter dieser Voraussetzung aber gäbe es keine kapitalistische Wirtschaft - und gerade diese mit ihrer Verteilung der Einkommen ist ja zu deduzieren. Dietzel nimmt also selbst einen Markt an, auf den der Uberschuß an Korn seines isolierten Landes exportiert werden muß. Das aber heißt nichts anderes, als daß dort ein Marktpreis bestehen muß, der höher ist als die Selbstkosten zuzüglich der Transportkosten. Kein Kaufmann aus einem fremden Lande kann in Dietzels Problemland kommen, um dort Getreide zu kaufen, wenn er mehr an Transportkosten, zuzüglich seiner Entlohnung (und, in der kapitalistischen Gesellschaft zuzüglich seines Profits) der Risikoprämie, der Versicherung usw. aufzuwenden hat, als ihm das in seine Heimat importierte Korn zu dem dortigen Marktpreise bringen wird. Und kein Grundherr des Problemlandes kann Korn exportieren, wenn ihn der Transport mehr kostet, als ihm der Verkaufspreis einbringen wird. Wir wollen nun unsererseits dieses unentbehrliche Datum den Dietzelschen
Daten hinzufügen
und betrachten, was dann die Deduktion ergibt. Das heißt: wir wollen wirklich die Deduktion im Ricardoschea
und Thünenschen
Geiste durchführen:
Zu irgendeiner Zeit erreicht der Marktpreis des Importlandes die Höhe, die es gestattet, im Problemlande den Boden bester Klasse in Kultur zu nehmen. Hier erbringt der Arbeiter nach Dietzel 8 Ztr. Korn (wir müssen uns seiner Zahlen bedienen, obgleich wir gewünscht hätten, daß er sie vorsichtiger ausgewählt hätte. Der Bedarf einer fünfköpfigen Arbeiterfamilie an Brotkorn allein ist etwa 15 Ztr. im Jahre; dazu kommen Kartoffeln als Nahrung für Menschen und in der Regel Schweine, die verschiedensten anderen Naturalien und ein Barlohn, den Thünen für das Mecklenburg der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits mit 30 Talern Gold angab,1 und der ebenfalls in
1
v. Thünen, Der isolierter Staat, Neudruck der 2. Auflage, Jena 1921, S. 416.
198
Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
Korn umgerechnet werden müßte. Der Leser mag, wenn er künftig Zentner liest, darunter eine wesentliche höhere Gewichtseinheit verstehen). Nach Dietzels Auseinandersetzung würde der Lohn hier ungefähr 7 Vi Ztr. Korn betragen. Da der Arbeiter nach seinen weiteren Angaben auch noch bei 5 Vi Ztr. Lohn, ja, bei noch geringerem Lohn bestehen kann (sein Existenzminimum ist hier nicht angegeben), so wollen wir annehmen und dürfen wir annehmen - denn wir befinden uns hier in der reinen Deduktion, wo jede nicht in sich widersinnige Annahme erlaubt ist, wo man sozusagen in die umbenannten Zahlen der Problemlösung jede beliebige benannte Zahl einsetzen darf - daß mit 2 Ztr. Korn sein Nahrungsbedürfnis gedeckt ist. Bleiben also dem Arbeiter im ersten Stadium 5V4 Ztr. Korn für seine übrigen Bedürfnisse. Nimm an, der Zentner Korn sei 100 Geldeinheiten (G.) wert (Marktpreis abzüglich Transportkosten, also „Gutspreis" nach Thüneri), so ist der Lohn alles in allem 750 G. Davon bleiben 550 G. für Nichtnahrungsgüter. Nun steige der Marktpreis so hoch, daß Boden zweiter Klasse in Anbau genommen werden kann und muß. Wie hoch muß der Marktpreis sein? Das können wir bestimmen. Er muß nach Ricardos Gesetz, das Dietzel ausdrücklich akzeptiert hat, so hoch sein, daß auf Boden Π, wo je Arbeiter nur 7 Ztr. erzeugt werden, das Gesamteinkommen des Arbeiters plus dem Profit des Unternehmers an diesem Arbeiter so groß ist, wie vorher auf Boden I, als er noch Grenzboden war, also ebenfalls 800 G. Wir sagten ja soeben, daß Lohn und Profit von der Steigerung des Marktpreises durchaus nicht berührt werden. Der Zentner Korn steigt also auf 114,3 G. Wenn der Teilungsschlüssel zwischen dem Arbeiter und dem Kapitalisten der gleiche bleibt - und es liegt kein Grund vor, eine Änderung anzunehmen 1 - erhalten beide die gleiche Geldsumme, jener 750, dieser 50 G. Der Nominallohn ist der gleiche geblieben! Der Reallohn ist sogar gestiegen! Denn: wie Dietzel selbst annimmt, wächst ja mit zunehmender Bevölkerung die Produktivität der unter dem Gesetz der steigenden Erträge stehenden Industrie. Nimm an, sie sei um 20 % gewachsen, d. h. die Preise der Industrieprodukte seien durchschnittlich um 20 % gefallen. Nun braucht der Arbeiter 2 Ztr. für seine Nahrung - der Lohn von 7Vi Ztr. soll ja nach Dietzel einen außerordentlich hohen Standard gewähren - und so bleiben ihm im ersten Stadium 550 G., im zweiten, weil die 2 Ztr. Selbstverbrauch, 28,6 G. mehr kosten, nur 521,4 G. für den Kauf von Industriewaren. Dafür aber kauft er, berechnet auf den früheren Wert, für 625,7 G., d. h. um rund 14 % mehr Industriewaren. Sein Reallohn, seine Gesamtkaufkraft ist um ca. 14 % gestiegen. Lassen wir nun Bevölkerung und Marktpreis weitersteigen, bis der letzte, nach Ricardo überhaupt noch anbaufähige Boden dem Ertrage von 3 Ztr. in Angriff genommen werden muß. 2 Auch hier ist der Marktpreis dieser 3 Ztr. = 800 G., also 266,66 G. je Zentner; auch hier erhält der Arbeiter mindestens 750, der Kapitalist 50 G. (mindestens: denn hier sind die Gesetze in Kraft getreten, die die komparative Statik beherrschen; der Kapitalist erhält nach Ricardo einen kleineren, der Arbeiter einen größeren Anteil am Werte des Erzeugnisses. Aber davon wollen wir hier absehen). Der Arbeiter braucht nach wie vor 2 Ztr. Korn = 533,33 G. Es bleiben ihm für Industrieprodukte also 216,66 G. U m wieviel dürfen wir, ohne aus der Wahrscheinlichkeit herauszutreten, annehmen,
1
Wenn Dietzel den Anteil, dasjenige, was er „Rente" nennt, des Besitzers von Grenzboden immer auf Vi Ztr. annimmt, so stellt er, was er wohl übersehen hat, den Arbeiter immer schlechter, weil er unter dieser Voraussetzung einen immer geringeren Prozentanteil des Produktes erhält: Zuerst 15/16 = 9 3 , 7 % dann 13/14 = 92,8 % usw. Im übrigen bleibt unsere Widerlegung auch bestehen, wenn man dem Kapitalisten jedesmal seinen halben Zentner zubilligt.
2
Nach Ricardo kann Boden, der gerade nur noch den, auf das physiologische Existenzminimum gesunkenen Arbeitslohn erbringt, nicht mehr in Kultur genommen werden, weil auf ihm kein Kapital mehr, auch nicht mit dem geringsten Profit, investiert werden kann (vgl. Oppenheimer, David Ricardos Grundrententheorie, S. 73ff., namentlich S. 80 [siehe in der vorliegenden Edition, Bd. I, S. 522; A.d.R.]).
Der A rbeitslohn
199
daß die Industrieprodukte im Preise gefallen sind? Wir befinden uns unmittelbar vor der „Schlußkatastrophe", wo aller überhaupt noch anbaufähige Boden in Angriff genommen werden muß, wo also die Erdbevölkerung fast den höchsten Stand erreicht hat, den Ricardo für möglich hält. Wir wollen, überaus mäßig, annehmen, daß die Industriewaren immer noch durchschnittlich ein volles Drittel desjenigen Preises kosten, den sie zur Zeit der geringsten Bevölkerungszahl und der eben beginnenden Industrie kosteten: dann kauft jener Lohnrest für 650 G. des alten Warenwertes, ist also gegenüber dem Anfangssachlohn um rund 18 % gestiegen. Auf diese Weise ist also die wirkliche Bewegung des Lohnes nicht zu erklären. Sie ist formell nur zu deduzieren, wenn man das „ausgeschaltete" Maltbussche Bevölkerungsgesetz wieder einschaltet. Das haben wir in unserer soeben beendeten Deduktion zu einem Teil bereits getan und damit bewußterweise auf ein sehr starkes Argument verzichtet. Wir haben mit Ricardo und Dietzel angenommen, daß „die landwirtschaftliche Technik die gleiche bleibt", daß also trotz dem Fortschreiten der Bevölkerung und der Arbeitsteilung die auf Böden geringerer natürlicher Güte gedrängte Landeskultur je Flächeneinheit weniger Korn erzeugen müsse, als vorher auf Böden besserer Bonität. Diese Annahme ist samt ihrer Voraussetzung unhaltbar. Trotzdem ergibt sich sogar aus diesem falschen Ansatz nicht eine Senkung, sondern eine Steigerung des realen Lohnes. U m die Deduktion mit der Tatsache der geschichtlichen Lohnkurve in Einklang zu bringen, muß man eben den Malthusianismus in seiner vollen Ausgestaltung unter die Prämissen aufnehmen, d. h., muß außerdem noch annehmen, daß immer mehr Arbeiter vorhanden sind, als bei der Gesamtlage der Gesellschaftswirtschaft gebraucht werden. Da Dietzel diese Voraussetzung ex professo „ausgeschaltet" hat, kann er sein Beweisziel niemals erreichen. Was Dietzel vorgetragen hat, ist nichts als die alte Ricardosche Grundrententheorie: das nie bestrittene Gesetz, daß der Arbeiter und der Kapitalist zusammen, je mehr die Bevölkerung vorschreitet, von den besseren Böden einen immer geringeren Anteil des dort erzeugten Rohproduktes erhalten, dessen Rest an den Grundherren fällt. Aber damit hat er für die Theorie des Lohnes auch nicht das Mindeste geleistet. Denn trotz alledem hätte unter diesen Verhältnissen der Lohn des Arbeiters von Anfang an sehr hoch stehen und dauernd, als Sachlohn, stark steigen können. Das Problem der kapitalistischen Lohnbewegung aber besteht gerade darin, zu erklären, warum der Lohn von Anfang an sehr niedrig stand und nicht dauernd und stark gestiegen ist. Es dient bekanntlich der vollkommenen Widerlegung sehr, wenn man den Quellpunkt des gegnerischen Irrtums aufdeckt. Uns will scheinen, als sei Dietzel hier den Assoziationen zum Opfer gefallen, die sich mit dem Worte „Kornlohn" verbinden. Wir brauchen diesen Begriff, wenn wir in vergleichenden lohnstatistischen Untersuchungen feststellen wollen, wie die Schwankungen des Geldlohns, die wir unmittelbar erfassen können, die Gesamtlage des Arbeiters beeinflußt haben, da ja bei steigendem Geldlohn der Reallohn fallen kann und umgekehrt. Hier rechnen wir also den Geldlohn in Korn oder, wie es Gustav Steffen in seiner meisterhaften Untersuchung „Studien zur Geschichte der englischen Lohnarbeiter" 1 getan hat, in den durchschnittlichen Nahrungsmittelbedarf einer Arbeiterfamilie um. Umgekehrt muß aber auch naturaler Kornlohn in Geld umgerechnet werden·, anders läßt sich gar nichts damit anfangen, wie Figura zeigt. 2 Das hat Dietzel versäumt und
1 2
Steffen, Studien zur Geschichte der englischen Lohnarbeiter, Stuttgart 1904. Dietzel schreibt freilich (Kornzoll und Sozialreform, S. 47): „Ob, wie in unserem Beispiel angenommen, Kornlohn oder, wie in Wirklichkeit Geldlohn gezahlt wird, ändert an dem Verlauf der Renten- und Lohnbewegung nicht das Mindeste. Auch wenn in Form von Geld einkassiert, bleiben Rente und Lohn doch immer Quoten des Erlöses des realen Produkts; auch dann muß jener fallen, wenn dieser steige und umgekehrt." Die Bemerkung zeigt, daß Dietzel das Problem eben nicht durchgedacht hat. Es ist für den Lohn ohne Belang, ob „die Arbeiter als Lohn eine Geldsumme erhalten, die größeren Kornwert darstellt (d. h. eine Summe, die ihnen, wenn sie sie ganz für Korn verausgabten, gestatten würde, mehr Korn zu kaufen als früher)". Die
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Enter Teil: Nationalökonomie
und Wirtschaftspolitik
darum fehlt in den Daten seines Problems ein unentbehrliches Glied. Hier ist das Isolierverfahren unerlaubt übertrieben worden: die Abstraktion darf nur von zufälligen, aber nie von essentiellen Bedingungen des Geschehens abstrahieren. Wie ist denn nun in Wirklichkeit unser Problem zu lösen? Aus welchen Ursachen hat die Lohnkurve der kapitalistischen Gesellschaft ihre, uns als Problem aufgegebene Gestalt erhalten? Wir werden dem Problem noch näherkommen, wenn wir die Argumente betrachten, die Dietzel in seiner letzten Schrift [Vom Lehrwert der Wertlehre und vom Grundfehler der Marx sehen Verteilungslehre; A.d.R.] über den Gegenstand beigebracht hat: „Supponiert man mit ihm (Thünen), [...] daß die Arbeiter von den Bodeneigentümern entlohnt werden in natura, mit einer Quote ihres realen Arbeitsprodukts, so erhellt um vieles deutlicher als aus dem Kapitel Π, bzw. Kapitel V der Principles (von Ricardo), daß der Exploitationsgrad genau variiert mit der Produktivität der Bodenwirtschaft [...] Allmählich besiedele sich ein Land; eine Kolonie eines europäischen Staates. Das Existenzminimum der Arbeiter, die dahin wandern, betrage acht Einheiten Bodenerzeugnisse (Korn usw.). Die Böden seien von verschiedener Produktivität; auf Primaböden liefere der Arbeiter ein Produkt von 15 Einheiten, auf Sekundaböden von 14 usw. Alle besseren Böden seien in Privateigentum übergegangen; es bestehe ,Bodensperre', mit Oppenheimer gesprochen. Nur solche Böden seien noch frei, wo die Arbeiter - wenn sie der Lohnsklaverei entgehen wollten - nur ein so kleines Produkt gewinnen würden, daß sie nicht einmal das Existenzminimum zu decken vermöchten; die daher für sie, wirtschaftlich, nicht in Betracht kommen. Wie bewegt sich der Lohn? Wird ,der Wert der Ware Arbeitskraft, wie der jeder anderen Ware' bestimmt durch die Reproduktionskosten? Solange das Angebot von Arbeitern noch so tief steht, daß es insgesamt resorbiert wird durch die Nachfrage der Herren der Primaböden, wo der Arbeiter ein Produkt von 15 liefert, fällt der Produktabzug minimal aus. Die Arbeiter bekommen zwar nicht das ,volle Produkt' von 15; sie nehmen einen Abzug hin, weil sie im Falle der Verwertung der ,Ware Arbeitskraft' bei den Herren der Sekundaböden, wo der Arbeiter nur 14 liefert, noch weniger erhielten, erhalten könnten·. das Produkt bildet ja die Obergrenze des Lohns, wie das Existenzminimum die Untergrenze. Aber die Konkurrenz der Herren der Primaböden, die von der ,zu kurzen Decke' von Arbeitskraft ein möglichst großes Stück zu erraffen streben, einerseits; die Konkurrenz der Herren der Sekundaböden, die, wenn möglich, gleichfalls ihren Bedarf nach Händen befriedigen würden und in der Lage wären, bis zu 14 - höchstens - zu zahlen, andererseits bewirkt, daß der Lohn sich auf etwa 14 stellt. Vom Produkt von 15 bekommen die auf Primaböden tätigen Arbeiter, bei dieser Bevölkerung und Produktivitätskonjunktur, 14 Einheiten; der Eigentümer 1 Einheit, welche die Bodenrente ausmacht: hier nicht vom Konsumenten beim Verkauf der Bodenerzeugnisse eingezogen, sondern dem Arbeiter abgezogen. Der Lohn steht weit über den Reproduktionskosten der ,Ware Arbeitskraft'; betrüge das Existenzminimum nicht acht, wie angenommen, sondern nur vier, würde er gleich hochstehen. ,Ausbeutung' ist da: die Herren der Primaböden bereichern sich einfach deshalb, weil sie diese besten Böden besitzen, durch Aneignung unbezahlter Arbeit', doch der ,Exploitationsgrad' ist ein ganz geringer. Steigt nun die Bevölkerung, zufolge weiterer Einwanderung oder Eigenvermehrung der .Rasse eigentümlicher Warenbesitzer' (d. h. ,der Arbeiter') bis zu dem Punkte, daß die weiter um Einstellung nachsuchenden Arbeiter sich an die Herren von Sekundaböden, wo der Arbeiter ein Produkt von 14 liefert, zu wenden haben - doch nur an diese, da ihr Angebot so steht, daß es
Arbeiter verausgaben ihren Geldlohn eben nicht ganz in Korn! Und er ist gesunken, nicht aber gestiegen, wenn sie nach Deckung ihres Kornbedarfs mit dem Rest weniger Waren kaufen können als vorher.
Der
Arbeitslohn
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durch die Nachfrage der Herren der Primaböden plus der Nachfrage der Herren der Sekundaböden insgesamt resorbiert sind - so fällt der Produktabzug etwas höher aus. Nunmehr bekommen die weiter um Einstellung nachsuchenden Arbeiter nur noch etwa 13. Und bekommen alle Arbeiter nur noch soviel; auch diejenigen auf Primaböden, mit Produkt von 15. Denn: die Herren der Sekundaböden können nicht mehr zahlen als 14, müssen jedoch 13 zahlen, um die Konkurrenz der Herren der Tertiaböden, wo das Produkt 13 ist, abzuwehren; vom Produkt von 14 bekommen jetzt die Arbeiter auf Sekundaböden 13, der Bodeneigentümer 1; auch hier ist jetzt Bodenrente entstanden. Die Herren der Primaböden könnten zwar noch 14 zahlen, brauchen aber, da ein Teil der Arbeiter auf Sekundaböden zu dienen gezwungen ist, wo sie mit 13 sich zu bescheiden haben, auch nicht mehr zu zahlen als 13; von ihrem Produkt von 15 bekommen jetzt die Arbeiter auf Primaböden nur noch 13 statt 14, der Bodeneigentümer 2 statt 1; die Bodenrente ist gestiegen, der Lohn gesunken; der ,Exploitationsgrad' ein etwas höherer geworden. Das Produkt des ,letzten Arbeiters', nach Thiinens Ausdrucksweise, determiniert den Lohn aller Arbeiter; für die Ware Arbeitskraft kann, wie für jede andere Ware, nur ein Preis auf dem gleichen Markt sein. Das Produkt des ,letzten Arbeiters', früher 15, beträgt jetzt 14; entsprechende Baisse hat das allgemeine Lohnniveau erfahren. Steigt die Bevölkerung noch mehr, sehen die weiter um Einstellung nachsuchenden Arbeiter sich genötigt, auch an die Herren von Tertiaböden, Quartaböden, Quintaböden zu appellieren; sinkt das Produkt des ,letzten Arbeiters' auf 13, 12, 11, so geht das allgemeine Lohnniveau auf 12, 11, 10 herab, fällt der Produktabzug immer größer aus, wird der ,Exploitationsgrad' ein immer höherer, d. h. steigt die Bodenrente der ,Monopolisten' der produktiveren Böden immer mehr. Schließlich, nachdem die Bevölkerung derart gewachsen, daß das Produkt des letzten Arbeiters auf 9 zusammenschrumpft, wird der Lohn aller Arbeiter herabgedrückt auf 8 [...] jetzt deckt die der Arbeiterklasse zufallende Produktquote nur noch das Existenzminimum."1 Soweit die neueste Dietzelsche Deduktion. Sie unterscheidet sich von der ersten in mehreren nicht unwichtigen Beziehungen: Erstens handelt es sich nicht mehr um ein beliebiges Gebiet, und nicht mehr um ein solches, in dem es nur Grundherren und Arbeiter gibt, sondern es handelt sich um die sich allmählich besiedelnde Kolonie eines europäischen Staates, in die Arbeiter aus dem Mutterlande einwandern. Zweitens ist uns das Existenzminimum der Arbeiter mit 8 angegeben. Und drittens ist hier angenommen, daß der noch nicht in Kultur genommene, überhaupt noch anbaufähige Boden, also bis herab zu solchem, der mehr als 8 Einheiten abwirft, gesperrt ist. Hier wird ausdrücklich unter Namennennung gegen mich polemisiert, der ich bekanntlich das Vorhandensein des Lohnsystems als Ganzes auf die Bodensperre zurückführe, durch die überhaupt erst die Arbeiterschaft als Klasse entstanden sei. Dieser Zusatz war nötig geworden, seit ich zeigen konnte, daß sich die ganze Ricardosche Deduktion auflösen läßt, wenn man mit ihm annimmt, daß der ungenützte Boden noch herrenlos ist. Dann würden sich selbstverständlich viele Arbeiter an der bisherigen Kulturgrenze als selbständige Bauern ansetzen, der Lohn der übrigen würde steigen, und der Profit sinken und vielleicht gänzlich verschwinden.2 Hier ist nun erstens zu sagen, daß Dietzels Deduktion alle die Grundfehler wieder enthält, die wir soeben an der älteren Fassung haben nachweisen können. Auch hier ist die Grundrente nicht vom Profit geschieden, ist das Fortschreiten der Agrikultur auf geringere Böden nicht aus ihrer essentiellen Bedingung, der Steigerung des Getreidepreises, abgeleitet; auch hier ist der Kornlohn nicht in Geld- und Reallohn umgerechnet worden: und so mußte es auch hier zu den gleichen Trug-
1 2
Dietzel, V o m Lehrwert der Wertlehre und vom Grundfehler der Aforxschen Verteilungslehre, S. 22-24. Vgl. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 745ff.
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Schlüssen kommen. Aber die neue Deduktion bietet noch mehr Angriffspunkte. Dietzel bezeichnet sein Problemland dieses Mal ausdrücklich als die Kolonie eines europäischen Staates, aus dem Arbeiter einwandern. Aller überhaupt bebaubare Boden bis zur absoluten Anbaugrenze ist gesperrt. Denken wir das Problem durch: Export nach dem Mutterlande ist erst möglich, wenn dort der Kornpreis so hoch gestiegen ist, daß er in der Kolonie bezahlt: erstens mindestens den Kapitalprofit, der im Mutterlande gewonnen wird. Da der Grundherr persönlich und wirtschaftlich größeres Risiko läuft und eine weit weniger angenehme Existenz in der Wildnis hat als im Mutterlande, wird der Profit sogar höher sein.1 Zweitens muß der Marktpreis vergüten den in der Kolonie zu zahlenden Arbeitslohn und drittens die Transportkosten bis zum Mutterlande. Nehmen wir als Ausgangspunkt einen Marktpreis im Mutterlande an, der den Import dorthin nicht einmal unter der Voraussetzung erlaubt, daß der Lohn in der Kolonie nicht höher stehe, als dort. Dann ist überhaupt kein geldwirtschaftlicher Gutsbetrieb möglich. Und nur von solchem, aber nicht von feudalen Fronhöfen soll doch wohl die Rede sein? Die Grundherren, die das ganze Land bis auf die Anbaugrenze spekulativ gesperrt haben, persönlich, oder wahrscheinlich nur die von ihnen eingesetzten Aufsichtsbeamten könnten allenfalls als Sammler und Jäger oder als Kleinbauern, die nur ihre eigene Nahrung erzeugen, notdürftig existieren. Nun wachse der Marktpreis allmählich auf den Stand, der es gestattet, den Primaboden mit dem Ertrage 15 in Angriff zu nehmen, unter der Voraussetzung, daß in der Kolonie kein höherer Arbeitslohn gezahlt werden muß als im Mutterlande. Wie steht es damit? Die Antwort wird zuerst Erstaunen hervorrufen: Es gibt keinen Arbeitslohn, weil es keine Arbeiter gibt! Es gibt ja überhaupt - außer jenen Aufsichtsbeamten - noch keine Bevölkerung hier. Wovon sollte sie leben? Wenn nicht aller brauchbare Boden gesperrt wäre, so könnte es wenigstens Bauern mit Naturalwirtschaft, Squatters geben, und zwischen ihnen könnten sich allmählich Städte, könnte sich Geldwirtschaft mit eigenem, unabhängigem Marktpreis bilden. Aber der Boden ist gesperrt, und gar Arbeiter konnten bisher keine Beschäftigung finden, also auch nicht einwandern. Das ist erst möglich, wenn in der Kolonie ein höherer Lohn gezahlt werden kann als im Mutterlande. Ohne das haben sie keine Veranlassung, ihre Heimat zu verlassen. Um hier weiterzukommen, müßte uns also außer dem Marktpreise im Mutterlande auch noch der Lohn daselbst gegeben sein, gleichfalls als unentbehrliches Datum des Problems. Dietzel gibt es uns nicht. Nehmen wir an, er stehe über dem absoluten Minimum, das er mit 8 angibt, also etwa auf 10 Korneinheiten (KE). Dann werden Arbeiter erst einwandern, wenn ihnen in der Kolonie, sage 11 KE geboten werden. Der mutterländische Marktpreis des Korns muß also über den Stand unserer letzten Annahme noch um eine KE hinauswachsen, ehe die Herren von Primaböden den Betrieb beginnen können. Sie müssen ja im Mutterlande Arbeiter werben, die sie unter 11 KE nicht bekommen (ganz streng genommen werden sie sogar erst bei einem noch etwas höheren Marktpreis beginnen können, da sie für die Werbung und den Transport der Arbeiter Kosten aufwenden müssen. Aber davon können wir hier absehen). Der Arbeiter erhält also nicht 14 KE, wie Dietzel deduziert, sondern nur 11. Mehr kann der Primaboden nicht bezahlen, sonst bringt ihm sein Erzeugnis bei dem bestehenden Preise weniger als den ihm zustehenden Profit oder gar baren Verlust. Sekundaboden kann in diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht in Angriff genommen werden. Denn noch ist der Primaboden der Kolonie Grenzboden des Gesamtmarktes, der nur Lohn und Profit, aber keine Grundrente abwirft. Bei diesem Preisstande und Lohnstande kann also Sekundaboden den Durchschnittsprofit nicht erbringen, mithin auch nicht angebaut werden und nicht um die Arbeiter konkurrieren.
1
Vgl. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 655.
Der Arbeitslohn
203
Nun aber bestimmt Dietzel die Untergrenze, auf die die Grundherren von Primaboden den Arbeitslohn drücken können, durch die Konkurrenz der Herren von Sekundaböden. Hier erzeuge der Arbeiter 14, könne 13 erhalten, und tiefer könne ihn der Herr vom Primaböden nicht drücken. Unsere Betrachtung zeigt uns, daß diese Konkurrenz,
mit der Dietzels gesamte Deduktion
steht und
fällt, überhaupt nicht existiert! Sekundaboden kann erst Arbeiter nachfragen, nachdem der Kornpreis entsprechend weiter gestiegen ist. Denn dann erst kann er in Kultur genommen werden. Dann wird er seinerseits Grenzboden, und der Primaboden erhält Grundrente. Dann geschieht, was an der ersten Problemstellung ausführlich dargestellt wurde: unter der Voraussetzung, daß keine Entwicklung der landwirtschaftlichen Technik inzwischen den Ertrag des Grenzbodens gesteigert hat, erhält der Arbeiter freilich geringeren Kornlohn. Aber damit ist, wie nachgewiesen, nicht gesagt, daß nicht dennoch sein Reallohn kräftig gestiegen sein könnte. Wenn die Absaugung von Arbeitern in die Kolonie hinein stark genug ist, um ihr Angebot im Mutterlande genügend zu verringern, wird hier, und in der Folge natürlich auch in der Kolonie, der Lohn steigen. Das aber beeinflußt nach Ricardo
und Thünen nicht den Marktpreis und die Grund-
rente (in der Statik), sondern geschieht nur auf Kosten des Profits hier wie dort. Nur in dem Falle, daß der neu erschlossene Boden trotz der höheren Transportkosten billiger auf den Markt liefert, als die bisherigen Grenzböden im Mutterlande, sinkt der Preis, mit ihm die Grundrente, und unter Umständen auch der Reallohn. Aber das brauchen wir hier nicht weiter auszurechnen. Was wir bisher gefunden haben, genügt vollkommen, um Dietzel durchaus zu widerlegen: Er hat erstens das eine Hauptproblem völlig unbeantwortet gelassen: das von der Ursache des Lohnsystems. Er setzt es voraus und begeht damit den Fehler, den sein bewunderter Meister Thünen wie folgt kennzeichnet: „Eine Aufklärung, in welcher durch eine Begriffsverwechslung das Faktische für eine Erklärung, das, was geschieht, für den Grund der Erscheinung genommen wird." 1 Dietzel läßt kapitallose „freie" Arbeiter aus dem Mutterlande einwandern, und fragt nicht, was ihm zu fragen vor allem aufgegeben ist, warum es dort kapitallose freie Arbeiter überhaupt gibt. Und zweitens vergißt er auch noch, daß Mutterland und Kolonie einen einzigen Markt bilden, und daß, wie er selbst sagt, „für die Ware Arbeitskraft wie für jede andere Ware nur ein Preis auf dem gleichen Markte sein kann" 2 . Er hat also, wie das erste Problem von der Ursache des Arbeitslohnes, auch das zweite von seiner Höhe nicht gelöst. Seine eigene Erklärung ist vollkommen unhaltbar. Hätte er aber die Frage im Geiste von Thünen und Ricardo so beantwortet, wie wir es soeben getan haben, daß der Lohn in der Kolonie unmittelbar von dem des Mutterlandes dependiere, so hätte er es nicht beantwortet, sondern nur verschoben.
Denn dann fragt sich natürlich, wovon der Lohn im
Mutterlande seiner Höhe nach bestimmt wird. Da wir darin einig sind, daß auch die Ricardosche
und die von Ricardo
abhängende Marxrsche
Theorie des Arbeitslohnes (wonach der Preis der Ware Arbeit gleich ihren Reproduktionskosten ist) völlig widerlegt ist, so gibt es nur noch zwei Lösungsversuche, die betrachtet werden müssen: den der Grenznutzenschule, und meine eigene Monopollohntheorie. Wir fassen zunächst diese ins Auge.
1 v. Thünen, Der isolierte Staat, Π. Teil, 1. Abschnitt, § 1. 2 Dietzel, Vom Lehrwert der Wertlehre und vom Grundfehler der Manschen Verteilungslehre, S. 24.
204
Erster Teil: Nationalökonomie
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Wirtschaftspolitik
IV. Die Monopollohntheorie Meine Lösung entspricht zunächst einmal als die einzige dem unausweichbaren methodologischen Postulat, daß die beiden Probleme von der Ursache und der Höhe des Lohnes aus einer Wurzel erklärt werden müssen; und zwar erkläre ich beide aus dem Eingriff außerökonomischer Gewalt, des politischen Mittels, in den Ablauf der Gesellschaftswirtschaft. Alle bürgerliche Theorie, und leider auch die Marx sehe1 geht aus von dem Axiom, daß bisher keine Geschichte gewesen ist; oder, um es weniger paradox auszudrücken, daß sie nicht gewirkt hat. Man muß natürlich zugeben, daß erobernde und geistliche Gewalt unendlich oft und tief in das Geschick der Völker eingegriffen hat, daß es Eroberung, Unterwerfung, Leibeigenschaft und Sklaverei, Wucher und staatlich geschütztes Unrecht usw. immer gegeben hat: aber wir sollen ohne weiteres glauben, daß das alles auf die wesentliche Struktur der heutigen Gesellschaft nicht im mindesten eingewirkt hat. Man mutet uns zu, ohne Beweis gläubig hinzunehmen, daß unsere Gesellschaft, wenn kein Eingriff von außerökonomischer Gewalt in ihre Entstehung und Entwicklung geschehen wäre, sich dennoch zu genau der gleichen Struktur ausgestaltet hätte, die wir heute um uns herum beobachten: mit Klassenscheidung und Klassenherrschaft, mit Großgrund- und Großkapitaleigentum, und mit der Verteilung des gesellschaftlichen Gesamterzeugnisses der Art und der Größe nach, die das Hauptproblem unserer Wissenschaft ist. Oder mit anderen Worten; wir sollen axiomatisch annehmen, es sei die Wirkung „rein ökonomischer Gesetze", daß Grundrente, Kapitalprofit und Arbeitslohn sich überhaupt, und daß sie sich gerade in diesem, uns gegebenen Verhältnis in das Gesamtprodukt teilen. Das ist jenes „Gesetz der ursprünglichen Akkumulation", dem wir schon mehrfach begegnet sind: das Grundaxiom aller klassischen und nachklassischen Ökonomik, die Marxische einbegriffen. Dieses Gesetz existiert nicht! Die heutige kapitalistische Gesellschaft und ihre Verteilung hat sich nicht nur nicht „rein ökonomisch" entwickelt, sondern konnte sich derart nicht entwickeln. Das habe ich mehrfach, zuletzt in meinem „Staat", auf das ausführlichste bewiesen; ich habe dort auch in breitspannender geistesgeschichtlicher Darstellung gezeigt, wie dieses unglückselige Axiom entstanden ist. Es war zuerst ein nicht im mindesten geschichtlich gemeintes Philosophem
der
Antike, wurde dann im Dienste politischer Kämpfe bewußt zu einer ebensowenig historisch gemeinten Rechtsfiktion
umgebogen, und erst in der Neuzeit, etwa von Locke an, wurde es zu einer
historischen und ökonomischen Konstruktion, die die Ansprüche der Bourgeoisie rechtfertigen wollte. Die Wahrheit ist, daß sämtliche historischen Staaten gegründet worden sind als
Klassenstaaten,
durch gewaltsame Unterwerfung eines Volkes unter ein anderes zum Zwecke ökonomischer Ausbeutung der Unterworfenen. Die Eroberung setzt überall sofort zwei große Institutionen: die Klassen, zunächst in ihrer Gestalt als Stände, und das Großeigentum an Grund und Boden, das Eigentum der Oberklasse, des „Adels": Adel (Odal) heißt gar nichts anderes, als Großgrundeigentum. Die bürgerliche Revolution hat die Stände beseitigt, aber das Großgrundeigentum
hat sie grund-
sätzlich, auch in Frankreich, bestehen lassen. Und damit hat sie die alte Ständescheidung, die sie nach ihrer politischen
Form ausgerottet hatte, in ihrem ökonomischen
Inhalt, als Klassenscheidung,
aufrecht erhalten. Denn nach wie vor ist der gesamte Grund und Boden, angebauter und unangebauter, bis unter die Grenze der Nutzbarkeit herunter im Eigentum einer Minderheit, zumeist einer kleinen Minderheit. Die Mehrheit ist von dieser ursprünglichen Bedingung aller Selbständigkeit, von dem natür-
1
Vgl. Oppenheimer, Der Staat, in: System der Soziologie, Bd. II, S. 155ff.; derselbe, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 206ff.
Der A rbeitslohn
205
liehen Produktionsmittel, ausgesperrt. Das ist die „Bodensperre". Nicht, weil das Land zu eng ist, wie das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation behauptet; - nicht, weil „Hufe sich neben Hufe legte, bis sie, einander sämtlich berührend, das ganze Land bedeckten", wie Rousseau es formulierte, sondern, obgleich jedes Kulturland noch viel zu weit für seine Bevölkerung ist, weil aber wenige in der Rechtsform des großen Grundeigentums soviel von der Gesamtfläche für sich nehmen durften, daß der Mehrheit nichts übrig blieb, gibt es überall eine Klasse „freier landloser Arbeiter". Das ist meine Antwort auf das erste Problem des kapitalistischen Arbeitslohnes, die Frage nach seiner Ursache. Und sofort ergibt sich aus dieser Voraussetzung die Antwort auf die zweite Frage: nach seiner Höhe. Die Bodensperre konstituiert zwischen der Klasse der Besitzer von Produktionsmitteln und der Arbeiterklasse ein Monopolverhältnis; und zwar handelt es sich um ein Einkaufsmonopol. Wo kein Monopolverhältnis besteht, d. h. unter uneingeschränkter, „freier" Konkurrenz (denn Monopol und freie Konkurrenz sind einander ausschließende Begriffe) tauschen sich in der Statik gleiche Aufwände gleich qualifizierter Arbeit, gleiche „Werte" aller Waren. Wo aber ein Monopolverhältnis besteht, tauschen sich ungleiche Werte. Der Monopolist erhält mehr Wert, als er gibt, streicht einen Monopolgewinn ein, sein Kontrahent erhält weniger Wert, als er gibt, tritt den Monopoltribut ab. Nur auf diese, auf keine andere Weise entsteht „Mehrwert". Wo ein Verkaufsmonopol besteht, erhält der Monopolist mehr Geld für sein Tauschgut, als es bei freier Konkurrenz bringen würde; wo ein Einkaufsmonopol besteht, gibt er weniger Geld für das Tauschgut, als es bei freier Konkurrenz kosten würde. Die Großgrundbesitzer haben ihren Arbeitern gegenüber ein Einkaufsmonopol. Das ist schlechthin evident. Ihre Nachfrage nach den von den Arbeitern zu Markt gebrachten Diensten ist entfernt nicht so dringlich wie deren Nachfrage nach dem Lohngelde. Es besteht also „einseitige Dringlichkeit der Nachfrage", das, was Steuart „einfache Konkurrenz" nannte, nicht aber die segensreiche „doppelte Konkurrenz", die bei Abwesenheit von Monopolen besteht. Und so kaufen die Grundbesitzer die Dienste unter ihrem Werte und realisieren dann den vollen, im Produkt inkorporierten Wert bei dessen Verkauf. Da nun „für die gleiche Ware auf dem gleichen Markte nur ein Preis möglich ist", so brauchen auch die Eigentümer von produzierten Produktionsmitteln, dem sogenannten „Kapital", ihren Arbeitern nicht den vollen Wert ihrer Dienste zu zahlen, sondern gewinnen den gleichen Mehrwert. Was ist denn nun der volle Wert dieser Dienste? Adam Smith hat es uns gesagt: Das Produkt der Arbeit, d. h. ihr Wert. Wie kann dieser Wert gemessen werden? Am Einkommen eines unverschuldeten Grenzbauern von normaler Qualifikation und Ausrüstung,1 der als Grenzbauer keine Grundrente bezieht. Und wie hoch ist der Arbeitslohn? Dieser Wert, gekürzt um den Monopoltribut, den Mehrwert. Wie groß ist der Mehrwert? Wie jeder Monopolgewinn so hoch, „wie er sich irgend erpressen läßt" {Adam Smith)2, d. h.: der Lohn der Landarbeiter steht dort, wo die Freizügigkeit noch nicht erkämpft ist, wo also keine Abwanderung in fremde Agrargebiete und städtische Industriebezirke möglich ist, auf dem physiologischen Existenzminimum - oder darunter {Emst Moritz Arndt hat ζ. B. gezeigt, daß der Druck auf die Landarbeiter in Rügen stark genug war, um die Reproduktion „dieser sonderbaren Rasse von Warenbesitzern" zu hindern. Sie starben langsam aus). Nach Er-
1
Vgl. zum Begriff der „durchschnittlichen Qualifikation": Oppenheimer, Wert und Kapitalprofit, 3. Auflage, Jena 1926, S. 64f. [siehe im vorliegenden Band, S. 276f.; A.d.R.].
2
Smith, Volkswohlstand, S. 66.
206
Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
kämpfung der Freizügigkeit bildet diese Schicht der Arbeiterschaft die Basis der Lohnpyramide, und ihr Lohn bildet das Nullniveau, über dem sich alle anderen Schichtenlöhne, wie eingangs dargestellt, „nach der Seltenheit der persönlichen Vorbedingungen in der natürlichen Distanz" aufzubauen tendieren {Statik). Das geschieht auch hier durch Berufswahl und Berufswechsel: die bisher gestauten Landarbeiter wandern in ungeheurer Zahl in Uberseegebiete und Städte ab und vermehren hier das Angebot und drücken die Löhne, während sie an ihrer Geburtsstätte das Angebot vermindern und die Löhne heben. Das ist die Kinetik des Prozesses, wie sie sich nach Uberwindung der gewaltigen Störung des „natürlichen" Ablaufs in Gestalt der Freizügigkeitsbeschränkungen darstellt. Und komparativ-statisch zeigt sich, daß mit der Basis der Pyramide, dem Lohn der Landarbeiter, der dank der Abwanderung steigt, natürlich alle oberen Schichten mitsteigen müssen. Das eine wird auch der Gegner nicht leugnen können: diese Lohntheorie ist von einer Präzision, die kaum übertroffen werden kann. Sie hat ferner, um es zu wiederholen, den Vorzug, daß sie alle Teilprobleme aus einer Wurzel ableitet und aufklärt: und sie leistet schließlich darüber hinaus auch etwas, was bisher keine Lohntheorie auch nur versucht hat: die Tatsachen der Lohngeschichte im vollen Zusammenhange der Geschehnisse aufzuklären. Es ist doch eine überaus seltsame Erscheinung, daß die ganz ungeheure Massentatsache der Wanderung, die geradezu den Rahmen für die Wirtschaftsgeschichte und sogar die politische Geschichte der Gegenwart darstellt (sie hat die gewaltigste Großmacht der Gegenwart, die Vereinigten Staaten, in einem Jahrhundert geschaffen und die Psychologie, Verfassung und Wirtschaftsgestaltung Europas von Grund auf umgewälzt) - daß diese ungeheuere Massentatsache in keiner der geltenden Lohntheorien auch nur erwähnt, geschweige denn erklärt wird, obgleich doch der Lohn der Einwanderungsländer {Dietzels „Kolonie") und der Industrie durch sie offenbar auf das stärkste bestimmt, mindestens mitbestimmt wird. Der einzige Einwand, der gegen diese Theorie erhoben werden kann, ist der, daß die Bodensperre kein Monopol darstelle. Und hierum geht denn auch der Streit - soweit überhaupt in Deutschland, das in dieser Hinsicht durch den Historismus geradezu verheert worden ist, noch um theoretische Klarheit gekämpft wird, und insoweit besonders meine Arbeiten überhaupt öffentlich diskutiert werden. Das aber ist nur selten der Fall. Ich stehe unter einer Art von Tabu; Bürgerliche und Marxisten wetteifern darin, sich zu stellen, als wäre ich nicht vorhanden, so etwa, als wenn ich von Dingen schriebe, über die man in anständiger Gesellschaft nicht spricht. Und das ist ja auch ungefähr der Fall. Der Schlüsselbegriff meiner Lehre ist ja der des Monopols, von dem ich sagen darf, daß ich ihn in einer bisher nicht vorgekommenen Ausführlichkeit und hoffentlich auch Vertiefung untersucht habe. Und wir haben bereits bei Ricardo gesehen, daß der Begriff des Monopols ein heißes Eisen ist, das man nur sehr vorsichtig, wenn überhaupt, anfaßt. Einen Anhänger Marxens auf die Mensur zu bringen, ist mir bisher nicht geglückt, obgleich ich es an Herausforderungen in jeder Tonart bis zum beißendsten Hohn wahrlich nicht habe fehlen lassen. Von bürgerlicher Seite sind mir nur drei Autoren bekannt, die sich gegen meine Grundlehre gewendet haben: Oswalt, Budge und Schumpeter. Oswald ist soweit gegangen, die Existenz von Monopolen überhaupt zu leugnen; nicht einmal das berühmte „Naturmonopol" an Edelwein läßt er gelten! Und wenn es kein Monopol im allgemeinen gibt, so kann es natürlich auch kein Bodenmonopol im besonderen geben! Budge hilft sich aus dem Dilemma durch die Erfindung eines neuen Wortes: „Bodenkraft", das das eine Mal die Bodenfläche, und das andere Mal die ~&oAenerzeugnisse bedeutet!2 Durch diese Äquivokation gelingt es ihm, sein heiß ersehntes Beweisziel zu erreichen. Man hört die gemarterte Logik Zeter schreien. Der Einzige, der sich mit wissenschaftlich ernst zu
1 2
Vgl. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 537. Vgl. ebenda, S. 757.
Der
Arbeitslohn
207
nehmenden Argumenten um eine Widerlegung bemüht hat, ist Joseph Schumpeter. Die Debatte begann damit, daß er mir meine gesamte Theorie als unwiderleglich zugab, wenn es mir nur gelungen wäre, die Existenz des Bodenmonopols nachzuweisen; das sei mir aber mißlungen.1 Ich erwiderte2, er replizierte3, ich duplizierte4 - und er „gab auf". Nun muß man sagen, daß alle Angriffe auf die Grundlage der Theorie, die Lehre, daß zwischen den Besitzern der Produktionsmittel und den Lohnarbeitern ein Monopolverhältnis besteht, und zwar ein Einkaufsmonopol, kraft dessen jene von diesen den Mehrwert erhalten, völlig gegenstandslos sind. Denn dieser Zusammenhang ist schlechthin evident. Evidente Dinge aber bedürfen keines Beweises. Kein Theoretiker von irgendwelchem Rang hat denn auch die Dinge anders gedeutet. Wir haben oben5 bereits gesagt, daß die Physiokraten jenes gesellschaftliche Verhältnis als ein Monopolverhältnis unzweideutig beschrieben haben. Man lese die beiden Zitate noch einmal durch, um sich davon zu überzeugen. Dann hat Adam Smith es unzweideutig so genannt. Und Malthus und in seinem Gefolge Ricardo haben sich um nichts anderes bemüht, als um den Nachweis, daß dieses von ihnen klar gesehene und als solches wieder unzweideutig beschriebene gesellschaftliche Monopolverhältnis nicht ein rechtliches Monopol sei, das als solches beseitigt werden könnte, sondern ein natürliches, das als solches, als jeder höheren Gesellschaftswirtschaft immanent, leider nicht beseitigt werden könne. Um einige moderne Autoren anzuführen, so sagt Lexis, der einzige ältere Autor, der sich mit dem Monopolbegriff einigermaßen befaßt hat, klipp und klar, die Kapitalisten besäßen gegenüber den Arbeitern eine Art von Ankaufsmonopol in Bezug der Arbeit. 6 Goetz Briefs schreibt: „Der Arbeiter kann nicht warten, daher seine konstitutiv schlechtere Marktposition." 7 Eine „konstitutiv schlechtere Marktposition": das heißt aber durchaus nichts anderes als ein Monopol. Nun ist es leider eine Tatsache, daß die Theorie des Monopols, eben weil der Begriff als allzu gefährlich ein Noli me tangere ist, nicht nur schwer vernachlässigt, sondern allmählich sogar stark verdorben worden ist. Man hat erstens zumeist vergessen, daß es nicht nur ein Verkaufsmonopol gibt, dessen Gewinn sich als Aufschlag auf den statischen Konkurrenzpreis („natürlichen Wert") des eigenen Tauschobjektes realisiert, sondern auch ein Einkaufsmonopol, dessen Gewinn, als Abzug vom statischen Konkurrenzpreis des fremden Tauschobjektes, bei dessen Wiederverkauf realisiert wird. Dieses Ubersehen hat z. B. Budge zu höchst sonderbaren Mißverständnissen geführt.8 Und man hat zweitens den Begriff eingeengt auf solche Fälle, wo nur ein Monopolist (sei es eine Einzelperson oder eine durch Preisabrede zu einer einzigen „ökonomischen Kollektivperson" verbundene Gruppe) das Monopolgut zu Markte bringt. Nun ist aber solche Preisabrede nur dann nötig und für das Zustandekommen eines Monopols essentiell, wenn es sich um beliebig reproduzierbare Waren handelt. Wenn es sich aber um nicht beliebig produzierbare Waren handelt, ist ein Monopol (Unterart „Oligopol") auch ohne Abrede gegeben, sobald die Nachfrage danach „mit einseitiger
1 2 3 4 5 6 7 8
Schumpeter, Das Grundprinzip der Verteilungslehre, in: Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 42 (1916/17), S. 24f. Oppenheimer, Das Bodenmonopol, ebenda, Bd. 44 (1917/18), S. 487-494 [siehe im vorliegenden Band, S. 1 0 5 - 1 1 0 ; A.d.R.]. [Schumpeter, Das Bodenmonopol (Eine Entgegnung auf Dr. Oppenheimers Artikel), ebd., S. 495-502; A.d.R.] Oppenheimer, ebenda, Bd. 47 (1920/21), S. 866-875. Die ganze Diskussion ist neu abgedruckt in: Oppenheimer, Wege zur Gemeinschaft, München 1924, S. 41 Iff. [Siehe oben, S. 185 (im Original, S. 4f.); A.d.R.] Lexis, Artikel: Monopol, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 3. Aufl., Bd. 6, S. 773. Briefs, Grundriß der Sozialökonomik, Abt. IX, Teil 1, Tübingen 1926, S. 148. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 761ff.
208
Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Dringlichkeit" auftritt. Auch das ist evident und alter, früher niemals bestrittener Besitz der Theorie, schon eines Steuart: ich hatte es nicht zu entdecken, sondern nur aus dem Schutt auszugraben. Es war diese Feststellung, der gegenüber Schumpeter sich gezwungen sah, mir das Kampffeld zu überlassen. Der Boden ist nämlich ein unvermehrbares Ding, und die Bodensperre konstituiert ein Einkaufsmonopol des Eigentümers gegenüber dem bodenbedürftigen Dienstleistenden, wenn dieser nicht die Mittel hat, den Boden zu kaufen. Und in dieser Lage befindet sich eben der freie Arbeiter. Unter einen so verderbten Monopolbegriff fällt nun freilich die Bodensperre nicht. Da es aber, wie gesagt, evident ist, daß sie ein Monopol darstellt, so ist es geboten, den Begriff richtig zu stellen und die Monopoltheorie nicht nur in ihrer alten Form herzustellen, sondern auszubauen, nicht aber, die Tatsachen fortzudiskutieren oder unerklärt liegen zu lassen. Das aber tut Dietzel. Wir sagten bereits, daß sich seine Auffassung der „Monopol-Lohntheorie" sehr bedenklich nähert. Er wiederholt mehrfach in seiner ersten Deduktion, daß jener halbe Zentner, den seine Grundherren des Grenzbodens erhalten, ein Abzug vom Arbeitsertrage ist. Er spricht im „Lehrwert" sogar vom „Exploitationsgrad". Er schreibt hier ferner: „Allerdings ist die wirtschaftliche Position der Kapitalisten, trotz ihrer Abhängigkeit vom Arbeiter und dessen Arbeitskraft, trotz der Konkurrenz, welche sie einander bereiten, die günstigere."1 Und da müssen wir denn doch fragen, unter welches theoretische Rubrum er diesen „Abzug vom Arbeitsertrage", diese „Exploitation", diese „günstigere wirtschaftliche Position der Kapitalisten" bringen will, wenn nicht unter das des Monopols? Man lese die folgende Stelle: „Diese Sophistik, mittels deren die reale Macht der Grundherren, auf Grund ihres Eigentums an dem Produktionsmittel ,Boden' einen Teil des Arbeitsertrages ihrer Arbeiter an sich zu ziehen, als das ,uralte Recht' der Arbeiter auf den vollen Arbeitsertrag legitimiert wird."2 Dietzel versperrt sich den Weg dadurch, daß er den Wertbegriff aus der Ökonomik vollkommen ausschalten will. Insofern es sich um den subjektiven Wert der Grenznutzentheoretiker handelt, hat er vollkommen recht. Er gehört nicht in die Ökonomik. Er ist ein Gegenstand der Psychologie, und so habe ich ihn denn auch in meinem Lehrbuch als psychologische Grundlegung der eigentlichen Darstellung vorausgeschickt. Wenn ich eine neue Auflage noch erlebe, werde ich diese ganze Materie sogar als Anhang hinterhersenden, um vollkommen klar zu beweisen, daß die eigentliche Ökonomik ihrer nicht bedarf. Aber der objektive Beschaffungswert hat mit Psychologie nichts zu tun und ist ein unentbehrlicher Begriff der Ökonomik selbst. Gäbe es keine Monopole und namentlich keinen Kapitalprofit, so kämen wir mit dem Ausdruck „statischer Preis" (der genau das gleiche bedeutet, wie der Begriff „Tauschwert" bei den Klassikern) vollkommen aus. Aber wir müssen, um den Monopolbegriff entwickeln zu können, weiterhin unterscheiden zwischen dem statischen Konkurrenz- und dem statischen Monopolpreise; nur dort, wo die Tauschobjekte zu dem ersten ausgetauscht werden (zu dem was die Klassiker den „natürlichen Wert" nannten), besteht die objektive Äquivalenz des Austauschs, d. h., tauschen sich die Objekte nach ihrem wirklichen „Werte", oder was das gleiche heißt, tauschen sich gleiche Aufwendungen gleich qualifizierter Arbeit. Wir werden im nächsten Abschnitt einen bisher allen Dogmenhistorikern, auch mir selbst, entgangenen Satz des von Dietzel so bewunderten Thiinen zitieren, in dem diese Wahrheit mit unzweideutiger Klarheit ausgesprochen ist. Wir können also den Begriff des objektiven Wertes nicht entbehren, weil wir unsere eigentlich ökonomischen Probleme auch nicht einmal anfassen, geschweige denn lösen können, ohne zwi-
1 Dietzel, Vom Lehrwert der Wertlehre und vom Grundfehler der Aiarxschen Verteilungslehre, S. 15. 2 Derselbe, Kornzoll und Sozialreform, S. 56 [die kursiven Stellen sind im Original gesperrt].
Der
Arbeitslohn
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sehen dem äquivalenten Tausch bei freier Konkurrenz und dem nicht äquivalenten Tausch bei aufgehobener oder beschränkter Konkurrenz (d. h. bei Monopol im engeren Sinne oder bei Oligopol) zu unterscheiden. Nur von hier aus ist vor allem das Problem des Profits zu lösen. Die Sache liegt also derart, daß Dietzel die übermächtige Position sowohl der Grundherren wie der Kapitalisten anerkennt und zugibt, daß eine Kürzung des Arbeitsertrages die Folge ist. Aber er weigert sich, diesem gesellschaftlichen Verhältnis den Namen „Monopol" zu geben: „Hätten die Bodeneigentümer ein ¡Monopol', wie der wissenschaftliche Sozialismus' zu reden pflegt, konkurrierten nicht die Herren der Arbeitsmittel - der Primaböden, der Sekundaböden usw. - genau so um Hände, wie Hände um Zulassung zu den Arbeitsmitteln." [Und dann heißt es:] „Der wissenschaftliche Sozialismus' sieht - und darum sieht er alles verkehrt - nur die Konkurrenz der .Arbeit', nicht die des Kapitals."1 Nun, wie es um die Konkurrenz der Herren von Sekundaboden gegen die Herren von Primaboden bestellt ist, das haben wir ja zur Genüge festgestellt. Diese Konkurrenz existiert nicht, und man würde es einem „wissenschaftlichen Sozialisten" nicht verübeln können, wenn er seinerseits das Wort zwischen ironische Gänsefüßchen gestellt hätte. Sehen wir nun zu, aus welchen Gründen Dietzel das von ihm materiell anerkannte Monopol nicht als solches auch ausdrücklich zu bezeichnen gestattet: „Gewiß: der Arbeiter kann nicht produzieren, kann keine Lebensmittel erlangen, wenn nicht zugelassen zu den Arbeitsmitteln. Gewiß: das ist ein Glück für den Käufer von Arbeitskraft; das ist ,der Kasus der den Kapitalisten lachen macht'. Jedoch, ebensowenig wie der Arbeiter ,Arbeitsgebilde schaffen kann aus der blauen Luft', kann es der Kapitalist aus den Arbeitsmitteln. Auch er vermag sein Kapital nur zu ,verwerten ', wenn er so viel Arbeitskraft wirbt, als der Menge seines Kapitals entspricht. Und - um die Arbeiter, um die Arbeitskräfte konkurriert er mit anderen Kapitalisten, die gleichfalls ihr Kapital verwerten wollen. Es waltet gegenseitige Abhängigkeit ob; Marx, wie der ganze wissenschaftliche' Sozialismus, sieht nur die ,Hungerpeitsche', die den Arbeiter zum Kapital zwingt; nicht die .Profitgier', die das Kapital zum Arbeiter zwingt". Dazu ist zweierlei zu bemerken. Erstens allgemeintheoretisch: hier liegt derselbe, fast lächerliche Irrtum vor, mit dem Hans Oswalt gegen mich zu Felde gezogen ist, daß Konkurrenz und Monopol einander ausschließen. Was einander aber ausschließt, ist freie Konkurrenz und Monopol. Bei beschränkter Konkurrenz kann ein Monopol durchaus bestehen, wenn es sich eben um unvermehrba-
1
Es ist mir nicht klar, ob Dietzel bei seinen ironischen Ausfällen auch mich im Auge hat, der ich jeder Zeit beansprucht habe, ein im Sinne Marxens „wissenschaftlicher Sozialist" zu sein, der „die neue Ordnung der Gesellschaft nicht aus dem Kopfe erfindet, sondern mittels des Kopfes in den Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Gesellschaft selbst entdeckt". Hier geht es um das eherne Lohngesetz, das ich als völlig falsch nachgewiesen habe; hier treffen mich also Dietzels Einwände keinesfalls. Aber er versäumt auch sonst kaum eine Gelegenheit, um sich an mir zu reiben. So heißt es ζ. B. auf Seite 15 Anmerkung: „Dies leider im höchsten Maße aufpeitschende, verhetzende Beispiel - diese Annahme, daß der Arbeiter von 12 Stunden, die er schuftet, 6 für den Kapitalisten schufte - ist leider in die ganze, von Marx instruierte Lohnliteratur übergegangen. Auch Oppenheimer bedient sich seiner - läßt damit den Kapitalist 100 % auf das Lohnkapital verdienen." Dazu ist erstens zu sagen, daß das Beispiel nicht einmal bei Marx verhetzend ist. Denn die „Mehrwertrate" ist ja nicht die „Profitrate". Jene ist der Gewinn, bezogen auf das variable Kapital, diese der Gewinn, bezogen auf das Gesamtkapital. Und da bringt Marx irgendwo ein Beispiel, w o das variable Kapital 20, das konstante Kapital 80 % des Gesamtkapitals beträgt. Hier ist also die Profitrate nur 20 % - und das ist doch nicht gerade aufhetzend? Was mich aber anbetrifft, so habe ich die Marxsche Deduktion bekämpft und widerlegt, und w o ich mich seiner Ziffern bedient habe, habe ich es unter ausdrücklichem Hinweis auf sein Zahlenbeispiel getan. Im übrigen: man soll illustrativen Zahlenbeispielen gegenüber nicht allzu hart sein: sonst käme Dietzel mit seinen 5 Zentnern Korn Jahreslohn in schwere Verlegenheit.
210
Erster Teil: Nationalökonomie
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Wirtschaftspolitik
re Güter handelt. Es ist überhaupt die höchste Zeit, daß man endlich zwischen freier Konkurrenz und nicht freier Konkurrenz zu unterscheiden beginnt! Wenn man es tut, so braucht man sich nicht so hilflos in Widersprüchen zu drehen, wie Dietzel es tut. Im unmittelbaren Anschluß an die soeben zitierten Sätze steht die bereits angeführte Stelle, wonach „auch allerdings die wirtschaftliche Position der Kapitalisten, trotz der Konkurrenz, die günstigere ist"! Im ersten Satz wird die Überlegenheit bestritten, im zweiten zugegeben. Worin die Verwirrung wurzelt, geht aus dem drei Zeilen später folgenden Satz hervor: „Für Marx, wie den ganzen wissenschaftlichen Sozialismus', gilt es als ausgemachte Sache, daß die wirtschaftliche Position der Kapitalisten, - der ,Monopolisten' der Arbeitsmittel, wie man sie unter Augenverschließen wider die Konkurrenz nennt - in solchem Maße günstiger sei, daß die Arbeiter sich stets zu bescheiden haben mit den nötigen ,Lebensmitteln'." Hierzu muß gesagt werden, daß es für die Feststellung eines Monopols völlig gleichgültig ist, „in welchem Maße die wirtschaftliche Position des einen Vertragsteils günstiger ist", als die des anderen: wenn sie überhaupt auf die Dauer günstiger ist, so besteht ein Monopol. Dietzel will hier das eherne Lohngesetz widerlegen und behauptet, daß das „nur der Produktivitätslehre gelingen könne"1. Darum will er nicht zugeben, daß hier ein Monopol wirke. Aber das Gesetz läßt sich, wie wir gezeigt haben, aus der Produktivitätstheorie nicht widerlegen; dagegen hat es uns keine Mühe gemacht, es aus unserer Monopollohntheorie heraus durchaus zu widerlegen. Soviel zur Theorie, zu der mehr nicht zu sagen ist. Der Fall liegt vollkommen klar: auf Dietzels Seiten liegt eine falsche Definition des Begriffs „Monopol" zugrunde. Ich schließe diese Auseinandersetzung mit der erneuten Feststellung, daß das Monopolverhältnis zwischen den Eigentümern der Produktionsmittel und der Arbeiterschaft evident ist, und daß die alte noch unverdorbene Theorie durchaus die Kategorien enthält, in die es einzuordnen ist.
V. Heinrich von Thiinen Wie ich Dietzel den Vorwurf nicht ersparen konnte, daß er in Ricardos Lehre und Methode nicht tief genug eingedrungen ist, so muß ich ihm die gleiche Sorglosigkeit in bezug auf seine große Autorität, Heinrich von Thünen, nachweisen.2 Zunächst beruft er sich auf seinen Meister bei Einführung jenes verhängnisvollen „Kornlohns", der ihn zu so völlig unhaltbaren Schlußfolgerungen verleitet hat. Ich kann aber bei Thünen nirgends derartiges finden. Was Dietzel getäuscht hat, ist offenbar Thünens Methode, den Lohn der Landarbeiter, der zum Teil aus Geld, zum Teil aus Naturalien besteht, auf einen Generalnenner umzurechnen: ein für seine Zwecke unentbehrliches Verfahren. Aber es fällt ihm nicht ein, die Kornmenge zum Angelpunkt seiner Deduktion zu machen, wie Dietzel es tut, sondern er spricht vom Kornwert: „Den Betrag des so ermittelten Lohns, dem Wert nach auf Berliner Scheffel Roggen reduziert und in Scheffeln Roggen ausgedruckt, bezeichne ich mit A"3 und auf Seite 473 heißt es:
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Dietzel, Kornzoll und Sozialreform, S. 46. Er sagt, daß Thünens „tiefes, aber schweres Buch" allerdings weit häufiger ,erhoben, als fleißig gelesen werde (Dietzel, Das Produzenteninteresse der Arbeiter und die Handelsfreiheit, S. 97, Anm.) und wiederholt das in: V o m Lehrwert der Wertlehre und vom Grundfehler der Marx sehen Verteilungslehre, S. 27, Anm. v. Thünen, Der isolierte Staat, S. 474.
Der Arbeitslohn
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„Die für irgendein Bedürfnis, ζ. B. Schmiedearbeit ausgegebene Geldsumme, dividiert durch den Preis des Scheffels Roggen, ergibt die Zahl der Scheffel Roggen, die man zur Erlangung dieses Bedürfnisses hat hingeben müssen." Ich habe bereits oben gesagt, daß die Dietzelsche Deduktion, die beansprucht, sowohl in Ricardoschem wie in Thünenschem Geiste angestellt zu sein, ebensowenig Ricardo ist wie Thünen. Dieses unvergleichliche Genie der Deduktion, das ich fast noch über Ricardo stelle, konnte selbstverständlich niemals weder zu so verkehrter Problemstellung, noch zu so grundfalscher Problemlösung gelangen: Aber, u m von diesem Einzelfalle abzusehen, so darf ich ganz allgemein sagen: wenn eine Theorie sich auf Thünen berufen darf, so ist es die meine. Alle ihre wesentlichen Elemente finden sich bei ihm, mit nur zwei Ausnahmen: Erstens ist Thünen leider ein Gläubiger des Malthusschen Bevölkerungsgesetzes. Davon w i r d weiter unten noch zu handeln sein. U n d zweitens hat er in bezug auf das Kapital und den Kapitalprofit völlig irrige Vorstellungen. Hier ist Thünen1 leider der unglückseligen Kapitallehre seines Meisters, Adam Smith, z u m Opfer gefallen. Danach besteht das „Kapital" aus Arbeitserzeugnissen, die aus einer früheren Produktionsperiode aufgespart worden sind, u m in einer späteren Produktionsperiode als Werkgüter zu dienen. Ohne diese „Ersparnis" wäre auch bei einem Wachstum der Bevölkerung die Höherstaffelung der Kooperation nicht möglich; da die Ersparnis nicht anders als durch Private geschehen kann, so muß ihnen dafür ein Anteil am Erzeugnis als ihre Belohnung zugestanden werden: das ist der Profit. Diese ganze Theorie ist W o r t für Wort, Gedanken für Gedanken, falsch. Es ist hier nicht der Ort, den Beweis zu wiederholen. 2 Für uns genügt es hier, anzumerken, daß Smith keinen ernstlichen Versuch gemacht hat, das Verhältnis deduktiv festzustellen, nach dem sich die vergangene Arbeit, nämlich das Kapital, mit der gegenwärtigen Arbeit der Lohnarbeiter in das Produkt teilt. 3 Diese Lücke hat Ricardo auszufüllen gesucht, und zwar mit einer Deduktion, die von unglaublicher Schwäche, die geradezu kindisch ist. Es ist eine Entgleisung, deren gleichen ich nur noch einmal bei einem bedeutenden Denker gefunden habe: bei Locke in seiner Ableitung der Klassenscheidung. 4 Ricardo schreibt i m ersten Hauptstück vom Werte, dritte Sektion, i m dritten Absatz: „Alle zur Erlangung des Bibers, und Hirsches notwendigen Gerätschaften könnten auch einer einzigen Klasse von Menschen angehören, und das Geschäft der Erlegung dürfte von einer anderen versehen werden, und trotzdem würden ihre verglichenen Preise zur wirklich verwendeten Arbeit i m Verhältnis stehen, sowohl was die Bildung des Kapitals, als was die Erlegung der Tiere anbelangt. Unter verschiedenen Verhältnissen von Überfluß oder Mangel an Kapital in Vergleichung mit der Arbeit, unter verschiedenen Verhältnissen von Überfluß oder Mangel an Nahrungs- und sonstigen wesentlichen Lebensbedürfnissen dürften diejenigen, welche einen gleichen Tauschwert in Kapital für ein oder das andere Geschäft geliefert haben, die Hälfte, einen vierten oder einen achten Teil des Erzeugnisses in Beschlag nehmen, der Rest würde als Arbeitslohn an diejenigen bezahlt, welche die Arbeit geliefert haben." Ich habe dazu geschrieben:
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Vgl. v. Thünen, Der isolierte Staat, z. B. S. 423. Siehe Oppenheimer, Allgemeine Soziologie, in: System der Soziologie, Bd. I, 2. Teilbd., Jena 1923, S. 816ff.; und derselbe, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 660ff. Es bleibt immer bei der Berufung auf Angebot und Nachfrage, und d. h., wie schon Thünen mit voller Klarheit erkannte (in: Der isolierte Staat, S. 466, 470, namentlich S. 436), „Schalen statt der Kerne" zu geben, wie später Böhm-Bawerk formulierte. Vgl. Oppenheimer, Der Staat, S. 58ff. [siehe auch in der vorliegenden Edition, Bd. Π, Berlin 1996, S. 309-385].
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
„Hier ist erstens die A7^sse?zscheidung dadurch erschlichen, daß sie einer rein ökonomischen Bera/sschichtung gleichgesetzt wird. Zweitens liegt eine grobe petitio principii vor, weil das hier verstohlen eingeschmuggelte Gesetz der ursprünglichen Akkumulation verstohlen durch sich selbst, nämlich in seiner Gestalt als Malthussches Gesetz der Bevölkerung bewiesen wird (,Mangel an Nahrungs- und sonstigen wesentlichen Lebensmitteln'); und schließlich und hauptsächlich ist die ganze Auslassung mit dem grundlegenden Gesetz der bürgerlichen Ökonomie, dem der Konkurrenz, in unversöhnlichem Widerspruch. Denn die Konkurrenz tendiert dahin, zwischen den verschiedenen Berufsgruppen die Gleichheit der Einkommen herzustellen: würde die Herstellung und Vermietung von Jagdwaffen (,Kapital') einmal eine Zeit hindurch mehr Einkommen bringen als die Jagd, so würden sich mehr der Produzenten jener, weniger dieser Beschäftigung zuwenden; die Mietpreise würden dort sinken, die Wildpreise oder die Jägerlöhne' hier steigen, bis die Gleichheit wiederhergestellt wäre. So kindisch die Untersuchung der komplizierten Verhältnisse einer hoch entfalteten Marktwirtschaft an der Primitivität eines kleinen Jägerstammes ist, so kann man doch, wie man sieht, auch hier die Kinderfibel bei genügender Aufmerksamkeit widerlegen." 1 Thiinen folgt Smith in der unglücklichen Auffassung, die sich bereits aus der Robinsonwirtschaft widerlegen läßt,2 daß ohne vorherige Anhäufung von Kapital ein Fortschritt der Kultur unmöglich ist. Ja, er hat sie mit seiner eisernen Konsequenz zu Ende gedacht, und damit im Grunde bereits ad absurdum geführt. Er schreibt: „Es muß also das Kapital dem Menschen vorangehen, wenn dieser überhaupt nur subsistieren soll."' Er findet aus diesem Dilemma nur den Ausweg, daß er die erste Menschengesellschaft in den Ländern des größten Reichtums, „in der Region des Pisang und der Kokospalme", entstehen läßt, wo sozusagen die Natur das nötige, sehr geringe „Kapital" fertig liefert. Und er folgt fernerhin auch Ricardo an jener Stelle (nebenbei bemerkt der einzigen, in der dieser jemals den Versuch macht, den Profit zu deduzieren): nur daß Thünen mit unvergleichlich größerer Mühe und Sorgfalt die Dinge untersucht und zu einem befriedigenden Schluß zu gelangen trachtet: „In der Nation, die wir hier vor Augen haben, finden sich noch keine Kapitalisten, die andere für sich arbeiten lassen, sondern jeder arbeitet für sich selbst. Die Arbeiter teilen sich aber in zwei Klassen, nämlich erstens in solche, die sich mit der Kapitalerzeugung beschäftigen, und zweitens in solche, die mit einem geliehenen Kapital auf eigene Rechnung arbeiten". Das ist also ungefähr Ricardo und ganz und gar Bastiat, über dessen Entgleisung (er hat einen kinetischen Leihzins mit dem statischen Kapitalprofit verwirrt 4 ) kein Wort mehr zu verlieren ist. Thünen gelangt von hier aus denn auch zu seiner von allen Seiten als falsch abgelehnten Formel für den „natürlichen Arbeitslohn": der Stolz seines Lebens, die Inschrift seines Grabsteins:
Aber selbst hier steht er den letzten Erkenntnissen überaus nahe. So heißt es schon fast mit Marxschem Ausdruck: „Das Kapital [...] ist im engeren Sinne nur dann Kapital, wenn es produktiv angelegt wird"5; und das heißt bei ihm: wenn es eine Nutzung bringt. In allem übrigen aber ist er zu Erkenntnissen gelangt, die für jene Zeit geradezu fabelhaft sind. Er besitzt z. B. die Grundlage meiner gesamten Wertlehre: die Gleichheit der Einkommen aller Gleichqualifizierten in der Statik, wo kein Monopol einspielt:
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Oppenheimer, Allgemeine Soziologie, in: System der Soziologie, Bd. I, 2. Teilbd., S. 990. Derselbe, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 595f. v. Thünen, Der isolierte Staat, S. 509. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 687ff. v. Thünen, Der isolierte Staat, S. 483.
Der A rbeitslohn
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„Zwischen dem Preise einer Ware und den Produktionskosten derselben findet das Gleichgewicht statt, wenn das Gewerbe, wodurch diese Ware hervorgebracht wird, weder Verlust noch ungewöhnlichen Gewinn bringt. Woran - so muß man nun fragen - ist aber Gewinn und Verlust zu ermessen? Ich antworte: wenn durch den Preis der Waren die Arbeit von gleicher Qualität in allen Gewerben gleich hoch gelohnt wird, so findet das Gleichgewicht statt, und diese Durchschnittsbelohnung ist der Maßstab für die Produktionskosten wie für Gewinn und Verlust." 1 Er ist damit einen Schritt über Smith hinausgelangt, der diese Erkenntnis im allerersten Keime besaß. 2 Er hätte ohne seine unglückliche Kapitaltheorie, die sich sofort im nächsten Satze geltend macht, von hier aus noch viel weiter kommen können. Das ist die einzige mir bekannte, bisher leider von mir übersehene Stelle, wo ich nach Smith noch einen Vorläufer meiner Wertlehre finde. Es findet sich ferner der Keim meiner Städtetheorie. Hier sehe ich jetzt, daß ich dem gewaltigen Denker geradezu Unrecht getan habe. Ich habe als eine merkwürdige Tatsache bezeichnet, daß bisher niemand „die Thünensche Methode nach der anderen Seite hin ausgebaut, d. h. untersucht habe, nicht, wie sich bei gegebenem Zentralmarkt mit gegebenem Preise für das Getreide der Standort und die Betriebsart der Urproduktion gestaltet, sondern umgekehrt untersucht hat, wie sich bei gegebenem Zustande der Urproduktion der Standort und die Betriebsart der Gewerbe und des Handels, kurz der städtischen Produktion gestaltet." 3 Thünen aber hat die Frage wenigstens gestellt, freilich nicht beantwortet: „Diesem Prinzip wird entsprochen, wenn die Gewerbe und Fabriken da ihren Sitz haben, wo sie am wohlfeilsten fabrizieren und ihre Erzeugnisse zu den niedrigsten Preisen an die Konsumenten gelangen lassen können." Ferner stellt er sich das Lohnproblem, in erfreulichem Gegensatz zu Adam Smith, so, wie es gestellt werden muß: als ein statisches: „Wir haben uns die Aufgabe gestellt, die Höhe des Arbeitslohnes für den beharrenden Zustand der bürgerlichen Gesellschaft zu erforschen", wobei Angebot und Nachfrage als nichtssagend ausgeschaltet werden müssen. Vor allen Dingen aber stellt er das Gesamtproblem des Lohnes mit wundervoller Klarheit. Ihn interessiert nicht nur die Höhe, sondern auch die Ursache des Arbeitslohnes. Er fragt: „Ist die geringe Belohnung der Handarbeit in der Natur der Gewerbe und des Landbaues begründet und somit dem Willen der Vorsehung entsprechend, oder ist der jetzige Zustand durch Gewalt und Unterdrückung, der sich die arbeitende Klasse nicht wieder entziehen kann, herbeigeführt worden?" 4 „Naturgemäßer Lohn oder Usurpation?" 5 , das erkennt er als das Grundproblem; es ist ihm nicht von vornherein axiomatisch gewiß, daß die erste (bürgerliche) Erklärung richtig und die zweite (sozialistische) falsch ist. Er weiß auch, daß die „Erforschung dieses Gesetzes nicht bloß ein ökonomisches Interesse darbietet, sondern auch eine sehr ernste moralische Beziehung hat; daß es ein großes Übel ist, daß diese Frage selbst in der Wissenschaft noch nicht gelöst ist, daß keine Partei weiß, was Recht ist, und daß der aus den un-
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v. Thünen, Der isolierte Staat, S. 529. Smith, Volkswohlstand, S. 106. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 916. v. Thünen, Der isolierte Staat, S. 463. Ebenda, S. 435.
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Enter Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
lauteren Motiven des eigenen Interesses hervorgehende Kampf in der Erkenntnis der Pflicht und Wahrheit kein Gegengewicht findet." 1 Und so ist er denn auch nicht im geringsten dazu geneigt, den Sozialismus grundsätzlich aus der Wissenschaft auszuweisen: „Nichts hindert, daß die Wissenschaft das Grundprinzip des Sozialismus in sich aufnimmt und zu dem ihrigen macht [...] nach meiner Ansicht können wir nur durch Verschmelzung beider Wissenschaften [der Nationalökonomie und des Sozialismus; A.d.V.] der Erforschung der Wahrheit näherkommen." Er beruft sich hier auf (entsetzlich!) Proudhon. Und noch ein Zug von der äußersten Wichtigkeit: seine Stellung zum Bodenproblem. Er ist freilich Anhänger des Gesetzes der ursprünglichen Akkumulation, wonach der Boden durch Nebeneinandersiedlung freier Kleinbauern voll besetzt worden ist. „[Dann] mußte bei weiter steigender Bevölkerung ein Teil des Volkes sich verdingen und für Lohn arbeiten." 2 Aber er erkennt doch mit voller Klarheit, wie diese, von ihm irrtümlich als „natürlich" angesehene, Bodensperrung auf den Lohn wirkt, ja, daß sie ihn unter den von ihm errechneten „natürlichen" Lohnsatz herabdrückt. Er schreibt ζ. B.: „Ganz anders [als im isolierten Staat, wo; A.d.V.] das Land so ausgedehnt ist, daß jeder Bewohner Land umsonst in Besitz nehmen kann [...]"' „verhält sich dies in unseren europäischen Verhältnissen, wo kein herrenloses Land mehr zu finden, und dem Arbeiter die Möglichkeit genommen ist, sich dem niedrigen Lohngebot seines Lohngebers durch den Anbau eines bisher unkultivierten Stück Landes zu entziehen." 4 Das ist genau die grundlegende Erkenntnis, die wir schon bei Turgot, Smith und Marx fanden, und auf der ich mein ganzes System aufbaue. Wenn Thiinen lebte, würde es keine Schwierigkeiten machen, diesen unbefangenen Wahrheitssucher mit den einfachen Zahlen, die ich über Landgröße und Landbedarf gegeben habe, davon zu überzeugen, daß die Bodensperre nicht „natürlich", sondern künstlich, rechtlich ist, nicht „naturnotwendig" ist, sondern auf „Usurpation", auf „Gewalt und Unterdrückung beruht, der sich die arbeitende Klasse nicht wieder entziehen kann". Von hier aus kommt Thünen noch zu einer anderen Deduktion, in der ich bisher gleichfalls ohne Vorläufer zu sein glaubte. Ich habe in meiner Debatte gegen DiehP erst noch feststellen müssen, daß Ricardo, wenn er von freiem Boden spricht, niemals herrenlosen, sondern ungenutzten Acker meint. Sein thema probandum ist ja, daß das Eigentumsrecht am ungenutzten Boden auf Bildung und Höhe des Lohnes nicht den mindesten Einfluß hat. Ich habe nun zeigen können, daß man die Ricardosàie Lehre auflösen kann, wenn man mit seiner Grundvoraussetzung Ernst macht, daß der ungenützte Boden auch noch herrenlos ist.' Ganz dieselbe Deduktion hat nun bereits Thünen angestellt: „An der Grenze der kultivierten Ebene ist es in die Wahl des Arbeiters gestellt, ob er ferner für Lohn arbeiten oder mit Hilfe der angesammelten Ersparnisse ein Stück Land urbar machen, Gebäude usw. errichten und sich ein Eigentum erwerben will, auf welchem er künftig für eigene Rechnung arbeitet. Sollen die Arbeiter in dieser Gegend von der Anlegung von Kolonistenstellen oder Gütchen abgehalten und bewogen werden, noch ferner bei ihrem bisherigen Herrn für Lohn zu arbeiten, so muß dieser Lohn nebst den Zinsen, die sie durch Ausleihen für ein zur An1 2 3 4 5 6
v. Thünen, Der isolierte Staat, S. 437. Ebenda, S. 512. Ebenda, S. 598 [erste Hälfte des Zitats; A.d.R.]. Ebenda, S. 487 [zweite Hälfte des Zitats; A.d.R.]. Vgl. Oppenheimer, David Ricardos Grundrententheorie, S. 66 [siehe in der vorliegenden Edition, Bd. I, Berlin 1995, S. 514; A.d.R.]. Derselbe, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 145ff.
Der Arbeitslohn
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legung der Kolonistenstelle erforderliches Kapital beziehen, gleich sein dem Arbeitsprodukt, das sie auf der Kolonistenstelle, die von einer Arbeiterfamilie bestellt werden kann, hervorbringenkönnen." 1 Und anschließend: „Man denke sich, daß infolge eines zu geringen Lohnes nicht einzelne, sondern sehr viele Arbeiter ihre Uberschüsse auf die Anlegung neuer Güter verwenden und die kultivierte Ebene wesentlich erweitern. Da aber die Zahl der Arbeiter, unserer Voraussetzung gemäß, konstant ist, wird auf den schon bestehenden Gütern Mangel an Arbeitern eintreten, und um der ferneren Auswanderung nach der Wildnis Einhalt zu tun, werden die Besitzer den Lohn soweit erhöhen müssen, daß die Auswanderung unvorteilhaft wird." 2 Das ist im Kern vollkommen meine Theorie, daß der Lohn bestimmt wird durch die Arbeit des Selbständigen an denjenigen Produktionsmitteln, die ihm die kapitalistische „Usurpation" noch frei gelassen hat, vor allem also an dem noch herrenlosen Boden. Was mich von Tbünen, und ebenso von Henry George und Clark? hier einzig unterscheidet, ist die Erkenntnis, daß das Land jenseits der Anbaugrenze zwar noch ungenutzt (abgesehen von der Viehzucht, die aber Thünen4 selbst vernachlässigen zu können glaubt), aber durchaus nicht herrenlos ist. Es ist bis an diejenige Grenze spekulativ gesperrt, hinter der der freie Bauer allerhöchstem den Lohn eines Landproletariers erwerben könnte. Und das ist eine Tatsache, die gar nicht bestritten werden kann. Die Daten, die ich über die Bodensperre in den Kolonien zusammengetragen habe,5 müssen den ärgsten Skeptiker überzeugen. Thünen hätte das selbst herausfinden können, wenn er sich einmal die Frage vorgelegt hätte, wie in seinem „isolierten Staat" das Großgrundeigentum entstanden sein könnte, das er doch überall ganz naiv voraussetzt. Er hätte finden müssen, daß, wie es das „Gesetz der ursprünglichen Akkumulation" immer lehrte, solches hier niemals hätte entstehen können, weil es hier keine Arbeiter geben kann, mit denen man es bewirtschaften kann. Denn nach den Bestimmungen über den „isolierten Staat" ist hier noch unendlich viel ungenutztes und zugleich herrenloses Land vorhanden. Arbeiter aber können nach jenem Gesetz erst vorhanden sein, wenn kein Land mehr frei zugänglich ist. Hier hat Thünen seiner Zeit und seiner Gruppe den Zoll gezahlt. Aber, soweit ihn diese seine „persönliche Gleichung" irgend sehen ließ, soweit hat er auch gesehen und wohl erkannt, was die Bodensperre in der realen Welt bedeutet. So ζ. B. führt er, ganz wie Marx in jenem 25. Kapitel des „Kapital", und wie ich selbst, den hohen Lohnstand der Vereinigten Staaten auf die terra libera zurück: „Dort ist, wie im isolierten Staat, fruchtbarer Boden in ungemessener Menge umsonst oder für eine Kleinigkeit zu haben. Dort kann, wie im isolierten Staat, nur die Entfernung vom Marktplatz der Ausbreitung der Kultur Schranken setzen [...] dort kann also der Arbeitslohn JZJ. zur Verwirklichung gelangen und ist in der Tat dazu gelangt [...] Infolge dieses Verhältnisses zwischen Arbeitern und Kapitalisten finden wir in Nordamerika allgemeinen Wohlstand, der mit Riesenschritten wächst; dort findet keine schroffe Absonderung zwischen den verschiedenen Ständen statt, und zwischen ihnen herrscht Eintracht und Friede."
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v. Thünen, Der isolierte Staat, S. 533. Ebenda, S. 539. Vgl. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 745. v. Thünen, Der isolierte Staat, S. 533. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 540-555.
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Enter Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Und er fragt: „Ist nun ein solcher Zustand mit der Dichte der Bevölkerung unverträglich und für immer von der Erde verschwunden?" Von seiner zustimmenden Stellung zum Malthusianismus1 aus kann er diese Frage nur mit der Hoffnung beantworten, daß „die Menschheit durch höhere Ausbildung der Geisteskräfte und durch Unterordnung der Leidenschaften unter die Herrschaft der Vernunft diesen Zustand wieder zurückführen kann"2. Das aber kann der Arbeiter aus eigenen Kräften nicht erreichen. Der Staat muß helfen. Er muß mit viel besserem Schulwesen den Anstoß geben, um vielleicht durchzusetzen, daß die Bevölkerungszunahme sich verlangsamt, und als Folge davon der Lohn steigt: „Ist dies vollbracht, ist der Lohn erhöht, und haben die Arbeiter die Schulbildung erreicht, die der Gewerbsunternehmer besitzen muß: so ist die Schranke gefallen, die bisher zwischen beiden Ständen stattfand. Das Monopol der letzteren hört auf, und indem die Söhne der Arbeiter, die an mindere Bedürfnisse gewöhnt sind, mit ihnen in Konkurrenz treten, wird der Gesamtprofit vermindert."3 Hier haben wir also die klare Erkenntnis, daß zwischen den Besitzenden und den Arbeitern in der heutigen Gesellschaft ein Monopol besteht. Und es heißt noch einmal, leicht abgeschwächt: „Beim jetzigen Lohnsatz können die Arbeiter entweder gar keine oder doch nur unbedeutende Kapitale ansammeln, und die Schaffung neuer Kapitale wird dadurch fast zum Monopol der Unternehmer, Kapitalisten und Grundbesitzer."4 Ich wiederhole: wenn eine Theorie sich auf Thiinen berufen darf, so ist es die meine.
VI. Der „letzte Arbeiter" und die Lohntheorie der Grenznutzler Anstatt dieser eigentlichen Theorie seines Meisters, derzufolge der Lohn der Landarbeiter und in weiterem Zusammenhang aller Arbeiter sich bestimmt nach dem Einkommen des Bauern auf dem nächsten noch zugänglichen, freien Ackerstück, läßt ihn Dietzel eine andere Lohnlehre vortragen. Und hier begeht er wieder die ernstesten Mißverständnisse. Schon in der allgemeinen Einleitung zum zweiten Bande des „Isolierten Staat" schreibt Thünen: „Wenn auf einem Gute, wo bisher alle Arbeiten durch 20 Tagelöhnerfamilien geschafft wurden, noch eine Familie eingesetzt, und das Zugvieh zugleich verhältnismäßig vermehrt wird, so können Ernte und Saat teils in kürzerer und damit in der angemessenen Zeit beschafft, teils können die Arbeiten bei der Ernte und Saat sorgfältiger gemacht werden; es kann ferner das Korn reiner ausgedroschen, es können die Kartoffeln reiner aufgenommen werden usf. Die Vermehrung der Arbeiterfamilien muß konsequenterweise solange fortgesetzt werden, bis der durch den zuletzt angestellten Arbeiter erlangte Mehrertrag im Wert gleich dem Lohn ist, den der Arbeiter erhält."5
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v. Thünen, Der isolierte Staat, S. 441, 579f. Ebenda, S. 601f. Ebenda, S. 442f. Ebenda, S. 600. Ebenda, S. 415.
Der Arbeitslohn
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Hier ist also gesagt, daß der rationell wirtschaftende Landwirt solange neue Arbeiter einstellen wird, bis der Mehrgetóertrag (nicht etwa der Mehr&oraertrag) des letzten Arbeiters dem von ihm bezogenen Lohne gleichkommt. Der Mehrertrag wird also vom Lohne, und nicht etwa der Lohn vom Mehrertrage bestimmt. Es folgt dann im eigentlichen Text der § 19 mit der Uberschrift: „Der Arbeitslohn ist gleich dem Mehrerzeugnis, was durch den, in einem großen Betrieb, zuletzt angestellten Arbeiter hervorgebracht wird." Hier werden die eben angeführten Sätze mit größerer Ausführlichkeit erläutert. Dabei wird vollkommen klar, was Dietzel, offenbar durch die Kapitelüberschrift getäuscht, mißverstanden hat; das „Mehrerzeugnis" bedeutet den Wert, nicht die Menge des Mehrertrages: „Es folgt hieraus nun: 1. daß eine Steigerung des Arbeitslohnes bei gleichbleibendem Wert der Produkte eine Verminderung der anzustellenden Arbeiter und gleichzeitig eine Verringerung der einzusammelnden und auszudreschenden Früchte bewirkt; 2. daß eine Steigerung des Werts der Produkte bei gleichbleibendem Arbeitslohn gerade die entgegengesetzte Wirkung hat, indem alsdann mehr Arbeiter mit Vorteil angestellt, und die Früchte sorgfältiger eingesammelt und reiner ausgedroschen werden können, also einen größeren Ertrag liefern." 1 Es wird also vollkommen klar gezeigt, daß, wenn der Lohn steigt, der Ertrag sinken muß, nicht aber, daß, wenn der Ertrag sinkt, der Lohn mit ihm sinken muß. Genau aber so deutet Dietzel den Zusammenhang. Und er macht dabei noch den ungeheuren Fehler, nicht den Produktwert, sondern das Produkt des letzten Arbeiters „den Lohn aller Arbeiter determinieren" 2 zu lassen. Auf derselben Seite heißt es noch einmal: „Bestimmt wird der Wert der Ware Arbeitskraft, der Lohn, nicht durch die Reproduktionskosten, sondern durch das Produkt des letzten Arbeiters [...] Dieses Produkt, früher 15, beträgt jetzt 14, entsprechende Baisse hat das allgemeine Lohnniveau erfahren." Hier gibt es kein Ausweichen: hier wird von der Menge, und nicht vom Wert, des letzten Produkts gesprochen. 3 Nun haben wir oben ausführlich dargestellt, wie es mit der „Baisse" des Lohns steht, die aus der Verringerung des Mengenanteils des Arbeiters am Produkt gefolgert wird. Nominallohn und Reallohn können dabei eine „Hausse" erleben. Darauf wollen wir jetzt nicht zurückkommen. Aber wir wollen mit aller Energie feststellen, daß diese Deduktion nicht Thünen ist. Aber freilich: einige Seiten später schreibt Thünen·. „Wenn andererseits die Bevölkerung in den arbeitenden Klassen zunimmt, während der kultivierte Boden und das Kapital dieselbe Größe behalten: so können die hinzukommenden Arbeiter bei dem bisherigen Lohn keine Anstellung mehr erhalten. Denn da dieser Lohn schon das ganze Produkt des letztangestellten Arbeiters hinwegnimmt, und jeder weiter angestellte Arbeiter ein immer geringeres Produkt liefert, so würde die Aufnahme der hinzukommenden Arbeiter bei dem bisherigen Lohnsatz für den Unternehmer geradezu mit Verlust verbunden sein. Nur dann, wenn diese Arbeiter mit einem geringeren Lohn vorliebnehmen, können die Unternehmer sie anstellen und neue Arbeiten vollführen lassen, deren Wert dem erniedrigten Lohn entspricht. Vermehren sich nun aber die Arbeiter, trotz des sinkenden Lohnes, fort und fort, so muß auch
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v. Thünen, Der isolierte Staat, S. 572. Dietzel, V o m Lehrwert der Wertlehre und vom Grundfehler der Marxschea Verteilungslehre, S. 24. Ebenso in: derselbe, Das Produzenteninteresse der Arbeiter und die Handelsfreiheit, S. 92, vom „realen Kornprodukt des letzten Arbeiters"; vgl. auch S. 95, Anm. 1; S. 97, Anm. 1. Ebenfalls derselbe, Kornzoll und Sozialreform, S. 49.
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
der Lohn immer tiefer sinken, weil die Arbeit, die ihnen gegeben werden kann, immer weniger produktiv wird. W e n n nun mit der wachsenden Bevölkerung die Arbeit auf immer unergiebigere Objekte, auf immer schlechteren Boden ausgedehnt werden muß, w o findet sich dann eine Grenze im Sinken des Lohns? Diese Grenze findet sich erst, dann, wenn die Arbeit so wenig produktiv wird, daß das Arbeitsprodukt [...] gleich den notwendigen Subsistenzmitteln wird." Hier w i r d Dietzel sagen: N u n also! Da steht es ja! Thiinen läßt also in der Tat hier nicht das letzte Produkt v o m Lohn, sondern den Lohn vom letzten Produkt abhängen. Ganz recht! Aber das ist eine Betrachtung nicht aus der Statik, die Thünen, wie gezeigt, deduzieren will, sondern aus der komparativen Statik: hier wird die „Tendenz der Entwicklung" deduziert. U n d was ist die Voraussetzung? Das Malthussche Bevölkerungsgesetz mit allen seinen Kennzeichen: Fortgang auf Böden von immer geringerer Produktivität, und zwar ohne Kompensation durch Fortschritte der landwirtschaftlichen Technik. Diese Voraussetzung aber muß man ja, wie Dietzel erklärt, „ausschalten". Führt sie doch auch hier zu dem mit Recht verworfenen „ehernen Lohngesetz" 1 . W e n n Dietzel diese Stelle überhaupt berücksichtigt haben sollte, so hätte er eine trübe Zukunftsprognose für eine Gegenwartserklärung gehalten. Mehr ist zu diesem Gegenstande nicht zu bemerken. N u n glaubt Dietzel, seine Lohnlehre sei der der Grenznutzenschule „ganz ähnlich" 2 . Er beruft sich auf Marshall, der allerdings kein orthodoxer Grenznutzler ist, aber auch auf Clark, der es unzweifelhaft ist. Darin ist er nun i m Irrtum. Denn die Grenznutzentheoretiker sprechen immer - selbstverständlich! - vom Reinertrage der Arbeit des „letzten Arbeiters", aber nicht, wie Dietzel, vom Rohertrage. Er selbst führt Marshall an: „Der Lohn für jede Klasse von Arbeitern hat die Tendenz, sich gleich dem Reinertrage des letzt angestellten Arbeiters zu stellen." Er fügt hinzu, das sei dasselbe, was Thünen „Mehrerzeugnis" nenne: und das ist auch richtig, beweist aber nur, daß Dietzel sich des großen, für ihn verhängnisvoll gewordenen Unterschiedes nicht bewußt ist, der zwischen i h m und seinem Meister in der Deutung dieses unglücklich gewählten Wortes besteht. W o h l aber ist richtig, daß zwischen dem richtig verstandenen Thünen und den Grenznutziern eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit der Auffassung über das Lohngesetz festgestellt werden kann. Mehr als eine äußerliche Ähnlichkeit ist es nicht. Thünen spricht in diesem Zusammenhang mit seltenen Ausnahmen immer nur von der Landwirtschaft, die Grenznutzentheoretiker aber eigentlich immer nur von der Industrie. U n d das bedeutet schon von vornherein sehr starke Gegensätze. Erstens nämlich ist die Landwirtschaft, auch auf einem Großgute, ein Betrieb mit einer i m Verhältnis zu industriellen Großbetrieben sehr geringen Arbeiterzahl, so daß die Leistung jedes Einzelnen recht genau beurteilt werden kann. Hier ist es also bei großer Aufmerksamkeit des Leiters wohl möglich, festzustellen, welche Minderung des möglichen Produktes und daher des Rohgeldertrages durch die Anstellung eines weiteren Arbeiters vermieden werden kann, und den Geldertrag des dadurch erzielten Mehrerlöses mit der Mehrlohnaufwendung für den neuen Arbeiter zu vergleichen. Ferner ist die Landwirtschaft eine Betriebsform, die die Einstellung eines neuen Arbeiters sehr leicht erlaubt, da das einfache Arbeitsgerät, Hacke, Spaten usw. vorhanden ist oder ohne fühlbare Kosten beschafft werden kann. U n d drittens steht die Landwirtschaft unter dem „Gesetz der sinkenden Erträge". Das aber bedeutet, daß der Landwirt die Zahl seiner Arbeiter nicht über eine sehr nahe Grenze steigern kann, ohne Verlust zu erleiden. So bleibt der Kalkulation zwischen der mög-
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Vgl. Dietzel, Kornzoll und Sozialreform, S. 46: „Es wird gelingen, endlich aufzuräumen mit dem .ehernen Lohngesetz', welches nichts anderes ist, als das verkappte Malthussche Bevölkerungsgesetz." Ebenda, S. 45.
Der Arbeitslohn
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liehen Minimalzahl und der möglichen Maximalzahl der dauernd zu beschäftigenden Arbeiter nur ein sehr kleiner Spielraum. In der Landwirtschaft kann also das wirtschaftliche Selbstinteresse des Besitzers in der Tat dem Ziele nahekommen, jenen idealen Grenzpunkt zu erreichen, wo - mathematisch gesehen - die Differenz zwischen Mehrgeldertrag und Mehrlohnaufwand Null wird, oder, was dasselbe heißt, wo der (von ganz anderen Gründen bestimmte) Lohn das Mehrerzeugnis gerade „absorbiert". In der Industrie liegen die Dinge ganz anders. Erstens sind die in einem „großen Betriebe" angestellten Arbeiter an Zahl viel größer. Ein oder sogar wenige Arbeiter mehr stellen hier einen so geringen Prozentzuwachs dar, daß durch sie der Betrieb unmöglich zu größerer Intensität entwikkelt werden könnte. Und worin sollte diese Intensität bestehen? In der Landwirtschaft kann man, wenn die Arbeiterzahl knapp ist, gewisse Arbeiten nicht sorgfältig ausführen (Tbünen verweist auf die Bestellung des Ackers) und bereits vorhandene fertige Produkte nicht bergen (Tbünen verweist auf den Ausdrusch des Korns und das Auflesen der Kartoffeln). Solche Dinge gibt es in der Industrie grundsätzlich nicht. Alle zugehörigen Arbeiten müssen unbedingt mit der hier nötigen Sorgfalt ausgeführt werden, fertige Produkte dürfen unbedingt nicht verkommen. Während Tbünen von der Landwirtschaft sagt, daß „das Maß von Arbeit, das die Bewirtschaftung dieser Güter erfordert, keineswegs eine bestimmte Größe ist"1, ist das Maß der Arbeit, das für die Führung einer voll besetzten, richtig geleiteten Fabrik erforderlich ist, eine fast mathematisch bestimmte Größe. Das führt auf den zweiten Unterschied. Dieses Maß ist gegeben - abgesehen von Hilfsarbeitern (Packern, Ausläufern, Büropersonal) - durch die Maschinerie. Sie bedingt eine ganz bestimmte Zahl von Arbeitskräften. Diese zu vermehren, bedeutet kostspielige Neuanschaffungen und oft Neubauten. Solche Kosten aber kann man wirtschaftlich nicht für einen einzelnen oder sogar wenige Arbeiter aufwenden. Drittens und hauptsächlich: die Industrie steht unter dem Gesetz der steigenden Erträge. Vermehrung der Arbeiterzahl bedeutet hier (nicht nur bis zu einem gewissen Optimum, sondern grundsätzlich ohne Grenze, und zwar mit zunehmender Geschwindigkeit) Vermehrung des sachlichen Produktes je Arbeiter, und d. h. unter der Voraussetzung gleichbleibender Preise und Löhne Vermehrung des Unternehmergewinns. Nun ist aber in der Regel die Folge der Vermehrung des Produkts ein Sinken der Preise und ein Steigen der Löhne, weil mehr Waren angeboten und mehr Arbeiter nachgefragt werden. Und das bedeutet eine entsprechende Minderung des Gewinns des Unternehmers, die noch dadurch gesteigert werden kann, daß er für seine Roh- und Hilfsstoffe, die er stärker nachfragt, höheren Preis, und für seine Kredite höheren Zins zu bezahlen hat. Wie er es fertig bringen soll, unter diesen Umständen den „letzten Arbeiter" herauszufinden, dessen Produkt mit seinem Lohn dem Werte nach zu vergleichen ist, um auch seinerseits jenen idealen Punkt zu erreichen, wo Lohn und Ertrag gleiche Größen werden, ist nicht zu erkennen. Es gibt ja hier nicht ein ausscheidbares Einzelprodukt eines Einzelarbeiters, sondern nur das Gesamtprodukt des „Kollektivarbeiters". Nun hat Tbünen allerdings einmal gesagt, daß es „das Interesse der Unternehmer ist - diese mögen Landwirte oder Fabrikanten sein, - die Zahl ihrer Arbeiter bis zu der Grenze zu steigern, wo das Mehrerzeugnis des letzten Arbeiters durch den Lohn, den derselbe erhält, absorbiert wird"2. Hier handelt es sich offenbar um den bloßen nicht recht überlegten Analogieschluß eines Grundbesitzers, der vom Fabrikwesen nicht viel verstand. Man kann das um so weniger von ihm erwarten, weil damals in Deutschland, und nun gar in Mecklenburg, die Industrie erst noch äußerst schwach entwickelt war.
1
v. T h ü n e n , D e r isolierte Staat, S. 569.
2
Ebenda, S. 573.
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Aber sogar in dieser unhaltbaren Fassung hat die Thünensche Lehre vom letzten Arbeiter nur eine äußerliche Ähnlichkeit mit der gleichbenannten der Grenznutzentheoretiker. Böhm-Bawerk stellt diese Lohntheorie wie folgt dar: „Nach der Schulformel, die die nach der modernen Theorie des Grenznutzens orientierte Lohntheorie für die Lohnhöhe bei beiderseitiger freier und voll wirksamer Konkurrenz entwikkelt, sollte die Lohnhöhe bestimmt werden durch die .Grenzproduktivität der Arbeit' das will sagen, durch den Wert des Produktes, welches der .letzte', entbehrlichste Arbeiter der Branche seinem Unternehmer noch einbringt. Der Lohn würde nicht mehr ausmachen können, weil sonst der Unternehmer aus der Anstellung des ,letzten Arbeiters' keinen Vorteil, sondern Verlust hätte und daher vorziehen würde, seine Arbeiterzahl um einen Kopf zu verringern; der Lohn würde aber unter der Voraussetzung einer vollwirksamen beiderseitigen Konkurrenz auch nicht wesentlich niedriger sein können, weil sonst auch noch die Anstellung des letzten Arbeiters mit einem merklichen Extragewinn verknüpft wäre, und, insolange dies der Fall ist, ein Antrieb zu einer noch weiteren Ausdehnung der Unternehmungen, zur Anstellung noch weiterer Arbeiter gegeben wäre [...] Diese Momente würden, ganz rein und störungslos ausgeprägt, die Lohnhöhe nicht nur .einengen', sondern wegen der Nähe der eingrenzenden Schranken geradezu bestimmen; ζ. B. mit dem Betrag von 5 K. 50 h. für den Arbeitstag fixieren." 1 Nach dem, was wir soeben über die technischen und wirtschaftlichen Bedingungen der gewerblichen Unternehmungen ausgeführt haben, ist diese ganze mathematisierende Deduktion auf vollkommen unmöglichen praktischen Voraussetzungen aufgebaut. Friedrich von Wieser schreibt: „Der Lohn der Erwerbsarbeit erhält seine Grundlage durch den produktiven Grenzbeitrag der Arbeit, wenn nach den Gesetzen der Zurechnung bemessen wird. Er ist also ein £Vfraglohn, bestimmt durch den der Arbeit zuzurechnenden Ertragsanteil." 2 Während Böhm-Bawerk wenigstens dem Wortlaut nach noch vergleichbare Größen, nämlich Löhne und Reinerträge, miteinander vergleicht, kommt in der Ü b e r s e h e n Ausführung der geradezu vernichtende Grundfehler der Grenznutzenschule zutage. Diese ganze Theorie von der Zurechnung ist völlig unhaltbar. Ich habe in dem Abschnitt „Die Krisis der Grenznutzentheorie" in der dritten Auflage meines „Wert und Kapitalprofit" 3 gezeigt, daß Lederer gerade dieser Lehre halber zum Ketzer an seinem früheren Bekenntnis geworden ist, die, wie ich einmal spöttisch schrieb „den Besitzern der Produktionsmittel" und, wie hier, den Arbeitern „immer exakt dasjenige Einkommen zurechnet, das sie zufällig gerade erhalten. Man könnte sehr wohl von der Unzurechnungsfähigkeit' der Grenznutzenschule sprechen". Es ist nicht meine Absicht, an dieser Stelle noch einmal die Gründe darzulegen, aus denen, zwar nicht die Grenzweritheorie, wohl aber die Grenzpreis theorie vollkommen abgelehnt werden muß. Das ist an anderer Stelle zur Genüge geschehen.4 Hier will ich nur in Anwendung auf das spezielle Lohnproblem sagen, daß es sich um eine recht mechanische Anwendung der leitenden Prinzipien
1 2
3 4
Böhm-Bawerk, Macht oder ökonomisches Gesetz? Gesammelte Schriften, Wien/Leipzig 1924, S. 251. v. Wieser, Grundriß der Sozialökonomik, Bd. 1, Tübingen 1914, S. 384. Andere Belege aus namentlich amerikanischen Anhängern der Schule sind bei Arndt, Lohngesetz und Lohntarif, Frankfurt a. M. 1926, S. 139ff. und bei Dietzel, Kornzoll und Sozialreform, S. 45ff. zu finden. Oppenheimer, Wert und Kapitalprofit, S. 70 [im vorliegenden Band, S. 280; A.d.R.]. Siehe derselbe, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, 1. Teilbd., S. 119-141, 2. Teilbd., S. 779-815. Ferner derselbe, Wert und Kapitalprofit, (an der angeführten Stelle, namentlich S. 75) [im vorliegenden Band, S. 283f.; A.d.R.].
Der Arbeitslohn
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handelt, wobei die Anhänger der Schule mit dem Präfix „Grenz-" geradezu spielen, indem sie es nach ihrer ganzen Methode einmal für rein subjektiv-psychologische Phänomene („Grenznutzen"), das andere Mal für rein objektiv-ökonomische Phänomene („Grenzarbeiter, Grenzprodukt" usw.) brauchen. Daß sie im übrigen mit ihrer Leistung selbst nicht zufrieden sind, geht aus einer Äußerung von Wiesers hervor, wonach diese Lehre „ihre feste Grundlage" noch nicht erhalten hat.1 Was uns hier interessiert, ist aber nicht, ob die Lehre ganz und gar falsch oder erst noch unvollendet ist, sondern, ob sie der Thünenschen sehr ähnlich oder gar mit ihr identisch ist. Und das muß nun ganz entschieden bestritten werden: Wenn nämlich auch die Thünensche Lehre auf einem falschen Analogieschluß beruht, so hält sie sich doch erstens ganz und gar im Reich des Objektiven: es werden immer nur Geldeinnahmen und Geldausgaben miteinander verglichen. Die Grenznutzenlehre aber schwankt zwischen Objektivem und Subjektivem, zwischen Ökonomischem und Psychologischem haltlos hin und her. Ich habe zeigen können, daß hier eine fortwährende Äquivokation mit dem doppeldeutigen Worte „schätzen" begangen wird. Das eine Mal wird es angewendet für die Vergleichung innerseelischer Bewertungsakte des gleichen Individuums (das ζ. B. den subjektiven Verwendungswert von 5 Pflaumen gegen den eines Apfels abwägt), und das zweite Mal im Sinne des Wortes „taxieren", d. h. in Geld schätzen, „in Fl. Österreich. Kourant"2. - Zweitens will Thünen mit seinem Gesetz einen statischen Satz ausdrücken: er glaubt, daß, wie in der Landwirtschaft, so auch in der Industrie das Selbstinteresse des Unternehmers auf die Erreichung jenes idealen Punktes hindrängt. Die Grenznutzentheoretiker aber, die in der Regel nicht zwischen Statik und Kinetik unterscheiden, und die ohne Verstoß gegen ihr leitendes Prinzip diese Unterscheidung auch gar nicht machen können, glauben allen Ernstes, daß der faktische Lohn in der Kinetik sich genau auf diese Weise bilde! Schließlich aber und vor allem: Diese ganze Lehre setzt nun außerdem auch noch naiv voraus, daß der Unternehmer einen Arbeitsmarkt vor sich hat, der ihm jederzeit gestattet, soviel Arbeiter neu einzustellen, und zwar ohne Erhöhung des Lohnes, wie er nach der ihm zugeschriebenen unmöglichen kalkulatorischen Operation brauchen wird, um jenen idealen Grenzpunkt zu erreichen. Diese Voraussetzung ist ja in der Regel in der kapitalistischen Wirtschaft gegeben. Aber es ist ein Problem, warum sie gegeben ist, und zwar nicht ein Nebenproblem, sondern das Hauptproblem des ganzen Fragenkomplexes: wir haben gezeigt, daß die Frage nach der Höhe des Arbeitslohnes zureichend nur beantwortet werden kann, wenn die Frage nach der Ursache des Lohnsystems beantwortet ist. So will es die Methodologie! Daß diese entscheidende Frage besteht, davon hat zwar Thünen ein sehr lebhaftes Bewußtsein, wie wir oben gezeigt haben, aber es geht der Grenznutzenschule gerade so ab wie Dietzel. Und damit dürfen wir diesen Gegenstand verlassen.
VII. Kritische Nachlese Mir bleibt noch eine literarische Pflicht zu erfüllen. Paul Arndt hat mir die Ehre erwiesen, in seinem soeben zitierten Buch „Lohngesetz und Lohntarif" mich anzugreifen. Da das mit durchaus ritterlichen Waffen geschehen ist, fühle ich mich veranlaßt, zu antworten, wobei ich mich bemühen werde, ebenso suavis in modo und fortis in re zu sein, wie mein verehrter Herr Fakultätskollege.
1 2
v. Wieser, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 3. Auflage, Bd. 5, S. 61. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 803.
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Über den allgemeinen Inhalt der Schrift ist hier nicht zu handeln. Es muß anerkannt werden, daß sie mit erfreulicher Kenntnis der einschlägigen Literatur verfaßt ist; der Verfasser macht unter den zeitgenössischen Autoren keine schlechte Figur. Immerhin hätte er es sich überlegen sollen, ehe er Karl Marx bescheinigte, er sei „kein M a n n der Wissenschaft, sondern ein Mann der Tat" 1 gewesen. M a n soll doch nicht unnötigerweise Vergleiche herausfordern. Was nun die Theorie anlangt, so ist Arndt von seinem Meister Dietzel in jeder Beziehung derartig abhängig, daß mit dessen Kritik auch die seine im wesentlichen abgetan ist. Es ist ihm das U n g l ü c k geschehen, jedes Wort des mit Recht von ihm verehrten Theoretikers 2 für der Weisheit letzten Schluß zu halten. Er hat die falsche Definition des Wirtschaftsmenschen, die Dietzel von Mill übernommen hat, als eines Menschen, der „nur von dem wirtschaftlichen Motiv bestimmt wird" 3 . N u n gibt es ein solches wirtschaftliches Motiv überhaupt nicht in dem Sinne, wie Dietzel das W o r t braucht. Die Lehre von der wirtschaftlichen Bedürfnisbefriedigung ist nicht die Lehre von der Befriedigung des wirtschaftlichen Bedürfnisses, sondern von der Befriedigung von Bedürfnissen auf wirtschaftliche Weise. W o ein finales, d. h. auf einen Sättigungszustand hinstrebendes Bedürfnis nur durch die Verfügung über ein kostendes Objekt befriedigt werden kann, auf das sich daher das Begehren richtet, da w i r k t der modale, nicht auf ein Sättigungsziel, sondern auf eine bestimmte Verfahrungsweise hinstrebende wirtschaftliche Trieb des kleinsten Mittels. W e n n man das verstanden hat, so weiß man, daß von einer Kreuzung der „Motive" 4 nicht die Rede sein kann. Der wirtschaftliche Trieb tritt erst in Aktion, wenn der Entschluß gefaßt ist, ein ganz bestimmtes Wertding zu beschaffen. Finaler und modaler Trieb laufen also auf verschiedenen Ebenen und können sich unmöglich kreuzen. Im Gegenteil: der wirtschaftliche Trieb dient allen finalen Bedürfnissen auf gleiche Weise. Infolgedessen hat die Ökonomik nicht bloß von der „Mehrzahl der Menschen", sondern von allen geistig gesunden Menschen zu handeln, nicht aber von „Abstracta ,Wirtschaftsmenschen', aus deren Seele bewußt mittels der Isoliermethode alle Motive (Liebe, Barmherzigkeit, Haß, Eifersucht, Ehrgeiz usw.) außer dem wirtschaftlichen ausgeschaltet sind" 5 . Das „wirtschaftliche Motiv" aber, das Arndt wie Dietzel gegeben glaubt, „the desire to possess wealth" (Mill) kommt nur bei dem Geizirren als echtes finales Bedürfnis vor. Es bedarf keines Beweises, daß der Geizwahnsinn, die höchste Steigerung dieses sogenannten Bedürfnisses, eine extrem unwirtschaftliche Handlungsweise ist. W i e Dietzel ist Arndt ein waschechter Liberaler, und zwar mit all den Kennzeichen des älteren, noch nicht mit sozialistischem Rosa angehauchten Liberalismus. Er glaubt daran, daß unsere Gesellschaft unter freier Konkurrenz steht, 6 und ist infolgedessen orthodoxer Anhänger des Gesetzes der ursprünglichen Akkumulation: „Die Verschiedenheit der Leistungen beruht auf unabänderlichen Tatsachen."' Wie Dietzel weist er den Sozialismus aus der Wissenschaft heraus, wie Dietzel schaltet er den Malthusianismus bald aus, bald ein. Ausgeschaltet wird er Seite 46, w o ausdrücklich von dem
1 Arndt, Lohngesetz und Lohntarif, Frankfurt a. M. 1926, S. 107. 2 Er nennt ihn (S. 118) den hervorragendsten Vertreter der „klassischen" Richtung der Nationalökonomie in der Gegenwart. 3 Ebenda, S. 20. 4 Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 181. 5 Arndt, Lohngesetz und Lohntarif, S. 23. 6 Vgl. ebenda, S. 109. Gelegentlich merkt er doch, daß das nicht so absolut stimmt: Er erklärt mit Thünen gewisse enorme Verschiedenheiten des Arbeitslohns damit, daß nicht etwa die freie Konkurrenz herrschte, sondern vielmehr damit, „daß die freie Konkurrenz teilweise ausgeschaltet war, bzw. sich nicht auswirken konnte" (S. 109). 7 Arndt, Lohngesetz und Lohntarif, S. 196. Vgl. Oppenheimer, Der Staat, im 2. Abschnitt, „Die angebotene Ungleichheit", S. 214.
Der A rbeitslohn
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„falschen wirtschaftshistorischen Bevölkerungsgesetz" gesprochen wird, eingeschaltet wird er ζ. B . Seite 16 (Anmerkung), Seite 57 und 58. „Die Niedrigkeit der Löhne ist zweifellos auf die dort herrschende Übervölkerung zurückzuführen." 1 W i e Dietzel
erkennt er das M o n o p o l des Besitzenden gegenüber dem Besitzlosen an:
„Er kann unter Umständen den Besitzlosen ,ausnutzen' oder, wenn man den schärferen Ausdruck gebrauchen will, ,ausbeuten' und sich dadurch ein gewisses ,Vorzugseinkommen' (Grundrente, Zins) sichern." 2 A b e r wie Dietzel
verweigert er, dieser Machtposition ihren rechten N a m e n zu geben. Einmal aller-
dings, - und das geht gegen mich - wird das W o r t „Monopolisierung des Bodens" gebraucht, diese „so oft überschätzte und falsch verstandene Monopolisierung", die „doch nur ein M e r k m a l unserer sozialen Organisation ist, deren Wesen die wirtschaftliche Freiheit ist". W i e Dietzel
will also auch Arndt
nicht einsehen, daß man solange per definitionem von wirt-
schaftlicher Freiheit, „vollwirksamer" beiderseitiger Konkurrenz nicht sprechen darf, wie das Vorhandensein erheblicher M o n o p o l e nachgewiesen ist. (Von Lappalien wie den N a t u r m o n o p o l e n an Edelwein usw. braucht man natürlich in diesem Zusammenhang nicht zu sprechen.) W i e Dietzel
will er nichts davon wissen, daß Geschichte gewesen ist und gewirkt hat und in der
Gestalt fortwirkender Institute starke Hemmungen des freien Wettbewerbs geschaffen haben könnte. E r zitiert zwar Thiinens
grundsätzlich richtige Fragestellung (wir haben sie oben angeführt), ob
nicht vielleicht Usurpation und Gewalt eine wesentliche Rolle bei der Entstehung des Lohnsystems gespielt hätten. E r antwortet darauf begütigend in dem schönen Optimismus, der ihn überall auszeichnet: „Jedenfalls spielt die Usurpation des Bodens durch Großgrundbesitzer nur eine Nebenrolle." 3 - R o m a locuta, damit hat sich offenbar der geneigte Leser für befriedigt zu erklären! U n d so ist denn auch seine Lohntheorie durchaus die Dietzelsche, lichem Zitat und in restloser Bewunderung. Auch er deutet Thünen k o m m e n falsch, und auch er glaubt in der Thünenschen
zum großen Teil in wörtgenau wie Dietzel,
d. h. voll-
Theorie eine große Ähnlichkeit, wenn nicht
Identität, mit der Lohntheorie der Grenznutzenschule zu finden. Es fehlt nichts, auch nicht die ausdrückliche Zustimmung zu der ungeheuren grundlegenden Verwirrung, die wir Dietzel sen konnten, der Identifizierung des Dietzelschen
„Minimalprodukts" an K o r n mit dem
nachweiThünen-
schen Produkt an K o r n des „letzten Arbeiters", ausgedruckt in Geldwert. 4 Es ist ohne weiteres klar, daß er von diesem zwar völlig falschen, aber grundsätzlich doch ebenso bestimmten Standpunkt aus kaum in der Lage war, meine eigene „Monopollohntheorie" zu würdigen. Ein T e i l seiner Argumente besteht denn auch in nichts anderem, als daß er diese meine Theorie verwirft, weil sie mit der von ihm angenommenen Dietzelschtn
im Widerspruch steht. A u f diese
Argumente mich einzulassen, besteht kein Grund mehr. A b e r ich habe die Pflicht, mich auf sachliche Einwände zu äußern, die nicht wie jene logisch auf dem Schlußfehler der petitio principii beruhen, das zu Beweisende (in diesem Fall kritisch zu Sichernde) als bewiesen zu unterstellen. E r beginnt damit, die von mir dargestellte „Lohnpyramide", wie ich sie im Eingang dieses Aufsatzes entwickelt habe, als „durchaus treffende Schilderung" des organischen, elastischen und doch engen Verhältnisses der Löhne zueinander zu billigen. 5 E r stellt dann zutreffend die Gestaltung dar, die nach meiner Theorie diese Pyramide der Arbeitseinkommen in der kapitalistischen Gesellschaft erhält, weil v o m Lande her, aus den Grenzgebieten des höchsten Drucks, w o der L o h n auf dem
1 2 3 4 5
Arndt, Lohngesetz und Lohntarif, S. 127; vgl. auch S. 141. Ebenda, S. 131. Ebenda, S. 73. Ebenda, S. 121, Anm. Ebenda, S. 109.
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Wirtschaftspolitik
physiologischen Existenzminimum steht, die „Grenzkulis" in die Städte und Überseegebiete drängen und dort den Lohn in die Tiefe reißen, während er, dank der Verminderung ihres Angebots, in jenen Grenzbezirken steigt. Er nennt das irrtümlich meine geozentrische Betrachtungsweise. Es ist aber nur eine besondere Anwendung einer viel weiter umfassenden Methode, die schon die Physiokraten anwandten, und die leider dann von dem „Industriezentrismus" abgelöst wurde; „dem ganz aussichtslosen Bemühen, die Bewegung des städtischen Gewerbes und des Handels, ihr Blühen, Welken und Vergehen zu begreifen, als wären sie autonom und nicht an die Veränderung ihres Mutterbodens, der Landwirtschaft, wie mit Prometheus-Ketten geschmiedet"1. Was hat er denn nun gegen diese Ableitung einzuwenden: „Erbringt nun Oppenheimer den Beweis der Existenz der .Reservearmee'? Keineswegs. Einen Nachweis hält er wohl für überflüssig; die Autorität seines,Meisters' (Marx) scheint ihm hier zu genügen." Nun, wer meine Stellung zu Marx und die Wut seiner „Jünger" auf mich kennt, weil ich den Frevelmut besaß, mich zu ihm als „Schüler" zu verhalten, daß heißt seine Theorie unbefangen zu kritisieren und dort, wo sie fehlerhaft war, zu verbessern: der wird über diese Worte eines Mannes lächeln, der, wenigstens in dieser Arbeit, als ein echter „Jünger" seines Meisters bezeichnet werden muß, wenn man darunter einen Anhänger versteht, der unbedingt und ohne jede Kritik „in verba magistri" schwört. Was nun aber die Existenz einer Reservearmee anlangt, so braucht man sie nicht zu beweisen. Evidente Dinge braucht man nicht zu beweisen. Sie ist vor unseren Augen vorhanden, selbst wenn man nur die wirklich Unbeschäftigten ins Auge faßt, die kaum jemals auf dem Höhepunkt einer industriellen Blüteperiode für einen Augenblick verschwinden. Wenn man aber das Heer der Kurzarbeiter, der aus gelernten Berufen zeitweilig in schlechter bezahlte, Ungelernten zugängliche Stellen Gedrängten, und wenn man, wie auch Marx es jeder Zeit getan hat, die Landarbeiter hinzurechnet, die, „jeder Zeit auf dem Sprunge stehen", sich in Industrieproletarier zu verwandeln; kurz wenn man zu der manifesten auch die „latente", zu der aktuellen auch die „potentielle" Reservebevölkerung rechnet, wie man das tun muß: dann muß man blind sein, um die Reservearmee nicht zu sehen. Es hat denn auch niemand seit Adam Smith, d. h. seit dem Beginn des industriellen Kapitalismus, jemals an der Existenz dieser Reservearmee gezweifelt, deren Vorhandensein allein es erklären konnte, daß der Lohn mit der steigenden Produktivität der volkswirtschaftlichen Arbeit nicht entfernt Schritt hielt. Die ganze Theorie von Ricardo und von Malthus will ja gar nichts anderes, als diese unzweifelhafte Tatsache, „daß immer zwei Arbeiter einem Meister nachlaufen und sich unterbieten", d. h., daß eine Reservearmee besteht, erklären. In diesem Zusammenhang stellt Arndt die Frage: „Aber, wo bleibt hier die ,Reservearmee'? Warum strömen denn die Scharen der ,Grenzkulis' nicht auf den .unterführten' ländlichen Arbeitsmarkt? Einerlei warum sie es nicht tun, Tatsache ist - hier hat Oppenheimer ganz Recht - , sie tun es nicht oder wenigstens nicht in genügend großen Mengen. Dann darf man sie aber auch nicht nachher in der ,Reservearmee'-Theorie in so beängstigender Zahl aufmarschieren lassen." Meine Antwort hierauf lautet, daß nach meiner Darstellung die „Grenzkulis" massenhaft gerade auf den ländlichen Arbeitsmarkt strömen, aber nicht in ihrer Heimat, sondern mehr zentralwärts, wo er unterführt ist. Warum tun sie das wohl? Weil man ihnen dort höheren Lohn bietet! Oder mit anderen Worten, weil der soziale Druck dort niedriger ist, als in ihrer Heimat. Warum aber fließen die industriellen Proletarier samt den bereits zu solchen gewordenen Grenzkulis nicht von den Städten auf den immer noch unterführten ländlichen Arbeitsmarkt ab? Weil der Lohn dort niedri-
1 Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 305. Mir hat diese Methode z. B. auch dazu gedient, bisher unlösbar historische Probleme zu lösen.
Der
Arbeitslohn
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ger und die soziale Lage übler ist, als sie es gewöhnt sind; weil sie sich bis zum letzten dagegen wehren, unter ihr „soziales" Existenzminimum gedruckt zu werden. Mit einem kurzen Bilde: Wasser fließt immer bergab und niemals
bergauf!
Arndt unternimmt es ferner, den uns leider entrissenen Ludwig Pohle gegen einen kleinen Angriff von meiner Seite zu verteidigen. Er hatte als Tatsache festgestellt, daß eine Arbeitslosigkeit, die nicht wesentlich über 3 % hinausgehe, kein Hindernis für eine aufsteigende Bewegung der Löhne bilde. Ich hatte ihn aufgefordert, einmal einen Baumwollhändler zu fragen, ob eine ständige Unverkäuflichkeit von 3 % der zu Markte gebrachten Kalikos kein Hindernis für das Steigen der Preise bilden würde. Arndt sagt dazu: „Ich glaube, der Händler würde tatsächlich die Frage verneinen. In einer normalen Friedenswirtschaft dürften die dauernd auf Lager befindlichen, nicht verkauften und nicht verkäuflichen Warenvorräte regelmäßig sogar mehr als 3 % betragen Der Verbraucher wünscht einem gefüllten Lager gegenüber zu stehen; er will wählen können. Der Verkäufer muß so kapitalkräftig sein und ist es in normalen Zeiten auch, daß er ein großes Lager unterhalten kann, ohne sofort an Preisherabsetzungen zum Zwecke des .Räumens' denken zu müssen. Ähnlich liegen die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkte." Nun, man stelle sich vor, daß die Kalikos gleich der „Ware Arbeitskraft" bereits nach einem Tage der Unverkäuflichkeit anfingen, merklich einzuschrumpfen, nach drei Tagen kaum noch brauchbar und nach etwa einer Woche (denn wir sind ja nicht alle Hungerkünstler) verschwunden wären: ob dann wohl der Kalikohändler es sich leisten könnte, ein Lager zu halten?! Freilich fügt Arndt hinzu: „Auch hier sind glücklicherweise viele Stellensuchende auf Grund eigener Rücklagen oder mit Hilfe anderer imstande, einige Zeit zu warten, ohne sofort ihre Kollegen zu unterbieten." 1 Schön! wenn nun aber die Menschen, welche Rücklagen und freundliche Kollegen haben, durch einen bösartigen Zufall nicht stellungslos, und gerade diejenigen, die solche Hilfsmittel nicht besitzen, stellungslos sind? Und wenn eine Arbeitslosigkeit so lange dauert, daß auch bei der ersten Kategorie die Rücklagen aufgezehrt und die Freunde ausgepumpt sind? Und derartige Dinge sollen ζ. B. in Krisenzeiten doch bereits einige Male vorgekommen sein?! Vor allem aber: Wenn der Händler seinen Kaliko nicht heute verkauft, wird er ihn morgen oder übermorgen verkaufen. Wenn der Arbeiter aber seinen Dienst heute nicht verkauft, kann er diesen Dienst weder morgen noch übermorgen verkaufen. Diese „Ware" geht, noch ärger als die „Ware Arbeitskraft" 2 , in jeder Minute verloren, in der sie nicht verkauft wird! Mir will scheinen, als wenn die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkte doch nicht denen auf dem Kalikomarkte „ähnlich" liegen, wie Arndt annimmt. Nun wird ja meine Auffassung nicht als gänzlich falsch erklärt, aber sie hat einen „Hauptfehler": „Einseitigkeit und damit eng verbunden, Ubertreibung". Es wird zugegeben, daß die Zuwanderung der Grenzkulis einen „gewissen Druck" auf die Lohnhöhe ausübt: „Fast immer aber regen sich dann sofort oder später Gegenkräfte", die bei mir nicht genügend berücksichtigt worden seien. „Die Zuwanderung der fremden billigen Arbeiter wäre nur dann für die einheimischen besser bezahlten gefährlich, wenn sie in großen Massen erfolgte, und wenn die Fremden den Einheimischen gleichwertig wären. Oppenheimer
spricht einmal davon, daß die Institution des Großgrundbesitzes ganze
Bevölkerungen ,in Streusand verwandelt' und zu massenhafter Aus- und Abwanderung gezwungen habe. Das ist doch eine gewaltige Ubertreibung."
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Arndt, Lohngesetz und Lohntarif, S. 113.
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Ich habe zeigen können, daß die Marxsche Ableitung des Mehrwerts auf einer Aquivokation mit dem W o r t „Arbeitskraft" beruht. Es bedeutet das eine Mal das „Arbeitsvermögen" und das andere Mal den „Dienst". Auf diese Verwechslung wird oben angespielt.
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Jener Ausdruck stammt nicht von mir, sondern von Max Weber, dem also die gleiche „Ubertreibung" auf Schuldkonto belastet werden muß. Was nun die Ubertreibung anlangt, so muß ich sagen, daß Arndt recht anspruchsvoll ist, wenn ihm die Wanderung immer noch nicht „massenhaft" genug ist. Nach den Vereinigten Staaten sind im 19. Jahrhundert 24 Millionen Europäer ausgewandert, die inländische Abwanderung in Deutschland hat während der gleichen Zeit nicht nur den gesamten Nachwuchs der agrarischen Bevölkerung in die Städte gefegt, sondern auch noch beträchtliche Teile des Stammes, namentlich im Osten, im Großgrundbesitzbezirk. Obgleich der bäuerliche Westen die landwirtschaftliche Bevölkerung stark hat wachsen sehen, ist die agrarische Landbevölkerung Deutschlands von rund 1814 Millionen auf unter 17 Millionen gesunken! Ich glaube, daß man mir keine Ubertreibung vorwerfen kann, wenn ich das einmal als die „gewaltigste Völkerwanderung der gesamten Geschichte" bezeichnet habe. Ich muß also sagen: mir genügt die „Masse". Und ich meine, es bedürfe keiner besonderen Fähigkeit in der Anwendung des „Isolierverfahrens", um von dieser Massenhaftigkeit einmal in Gedanken zu „abstrahieren" und sich vorzustellen, wie hoch die industriellen Löhne in dieser Zeit ζ. B. in Deutschland gestiegen wären, wenn die Wanderung überall nur, wie aus den kleinen und mittelbäuerlichen Bezirken, etwa 10-14 % in die Städte geworfen hätte, wenn also hier das Angebot von Diensten auf dem Arbeitsmarkte um ein so Ungeheures geringer, und wenn gleichzeitig die Nachfrage nach industriellen Produkten von dem um soviel dichter besiedelten Lande um soviel stärker gewesen wäre. Arndt hebt ferner hervor, ein Druck auf die Löhne hätte nur stattfinden können, „wenn die Fremden den Einheimischen gleichwertig wären". Erstens ist das nicht richtig: es ist durchaus möglich, daß die Differenz zwischen Lohn und Produktwert, auf die es dem Unternehmer einzig und allein ankommt, bei einem geringerwertigen, aber auch geringerbezahlten Arbeiter höher ausfällt, als bei einem höherwertigen und höherbezahlten Arbeiter. Aber davon abgesehen: hier handelt es sich nur um die „Basis der Lohnpyramide", deren Niveau, wie Arndt ausdrücklich zugibt, alle anderen Niveaus bestimmt, und als Landarbeiter sind die „Grenzkulis" den Einheimischen technisch und wirtschaftlich vielfach geradezu überlegen, letzteres namentlich deshalb, weil sie sich jedem Druck, ζ. B. auf Verlängerung des Arbeitstages, widerspruchslos zu fügen pflegen. Schließlich gibt Arndt meinem Ausdruck „Grenzkuli" eine unzulässige Ausdehnung: ich verstehe darunter nur den Einwanderer aus dem Grenzgebiet des absolut höchsten sozialen Drucks, aber nicht jeden Abwanderer aus dem eigenen Lande. Und es kann doch wohl nicht die Rede davon sein, daß zum Beispiel ein bisher auf dem Lande tätiger Kutscher oder Pferdeknecht dem bereits in der Stadt Tätigen an technischer Ausbildung nicht gleichwertig ist. Es folgt jetzt ein sehr merkwürdiger Einwand: die fremden Einwanderer seien „meistens mit nicht geringen Schwierigkeiten im Interesse der deutschen Volkswirtschaft - nicht nur aus privatwirtschaftlichen Gründen herbeigeholt [...] worden, um ,Dienste' (grobe schwere Erdarbeit) zu leisten, die der deutsche Arbeiter nicht mehr leisten mochte, weil er seine geschulte Arbeitskraft besser verwerten konnte" 1 . Ich verbeuge mich im Vorbeigehen vor dem patriotischen Kapitalisten, der, wenn er billige Arbeitskräfte importiert, dabei auch das Interesse der ganzen Volkswirtschaft im Auge hat: aber ich kann nicht einsehen, was das zur Sache zu sagen hat. Erstlich nämlich kamen die Fremden doch offenbar nur zu uns, weil man ihnen höheren Lohn bot, als sie daheim verdienten - und ich habe niemals daran gezweifelt, daß das Wasser nicht nur deshalb bergab fließt, weil es oben höher, sondern auch, weil es unten tiefer ist. Das nennt man „Gefälle". Ob man das bezeichnen will als
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Arndt, Lohngesetz und Lohntarif, S. 114.
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Arbeitslohn
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„Herunterströmen" oder „Hinuntergezogenwerden" (halb zog sie ihn, halb sank er hin) scheint mir keinen Unterschied auszumachen. Dann aber und vor allem: hat dieses Hereinziehen der Fremden keinen Druck auf die Löhne der deutschen Erdarbeiter und Landarbeiter ausgeübt? Wären nicht ohne sie die Unternehmer gezwungen gewesen, höhere und immer höhere Löhne zu bewilligen? Freilich: Arndt ist auch hier von einem Optimismus, der sein Herz erfreuen mag, aber das meine nur beklemmen kann. Er sagt von den Fremden: „Sie rückten meistens in Arbeitsstellen ein, die deutsche Arbeiter frei gemacht hatten, weil sich ihnen eine bessere Erwerbsgelegenheit bot."' Die maßgebenden deutschen Agrarpolitiker sind anderer Meinung: sie konstatieren die ganz und gar nicht zu bezweifelnde Tatsache, daß der (in sozialpolitischer Hinsicht) geringerwertige fremde Slave den besseren deutschen Arbeiter geradeso aus dem Lande treibt, wie nach Greshams Gesetz das schlechte Geld das gute. Diese Zuwanderung hat massenhaft zur Verdrängung deutscher Landarbeiter geführt; sie ist nicht in vorher bestehende Lücken eingeflossen, wie Arndt das darstellt; und diese Verdrängung hat dann auf die städtischen Arbeitsmärkte weitergewirkt und auch hier die ohne sie unumgängliche Steigerung der Löhne auf das Empfindlichste zurückgehalten. Noch merkwürdiger ist der nächste Einwand: „Nicht der ,höchste soziale Druck' ist es, der den ,Grenzkuli' aus seiner Heimat forttreibt, der Druck war in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten ebenso stark, wahrscheinlich sogar noch stärker, und niemand rührte sich damals von der Scholle; man erduldete die Knechtschaft."2 Hier hat Arndt eine Kleinigkeit übersehen: daß man in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten dem Grenzkuli die Wanderung nicht erlaubte /Das nennt man Leibeigenschaft! Sie durften sich nicht von der Scholle rühren, sie mußten die Knechtung erdulden! Ein so genauer Kenner meiner Werke wie Arndt hätte sich hier daran erinnern müssen, daß ich den ganzen von mir geschilderten Mechanismus erst mit der Erkämpfung der Freizügigkeit einsetzen lasse. Vorher gibt es keinen industriellen Kapitalismus, weil Industriearbeiter und Landarbeiter „non competing groups" sind. Und nun kommt der „Haupteinwand": meine Theorie ist nicht die Produktivitätstheorie! Ich warte ab, ob Arndt nach meiner Analyse der Dietzelschea „Beweise" diesen Haupteinwand immer noch erheben wird. Daß er nichts ist als eine petitio principii, die das zu Beweisende als bewiesen voraussetzt, habe ich oben bereits dargestellt. Nun findet Arndt, und das ist vielleicht der allermerkwürdigste der erhobenen Einwände, daß meine Darstellung der frühkapitalistischen Lohnentwicklung die Produktivitätstheorie bestätigt. Er billigt diese Darstellung durchaus: „Die Löhne hätten steigen müssen, wenn sich nicht - das legt Oppenheimer sehr treffend ausführlich dar - , in die Städte und Industriebezirke die Massen der unglaublich tiefstehenden Ackersklaven ergossen hätten. Nun freilich riß die Hungerkonkurrenz dieser auf das äußerste denkbare Maß menschlicher Entwürdigung herabgedrückten Unglücklichen auch die Löhne der alten städtischen Arbeiter in die Tiefe. Aber ganz der gleiche Prozeß, der Hunderttausende in das tiefste Elend stürzte, erlöste andere Hunderttausende aus dem tiefsten Elend. Denn für jene feudalen Hintersassen, die dem Kerker entronnen waren, war das Elend von Manchester und Liverpool immer noch ein Emporstieg."3 Arndt stellt meine Auffassung zutreffend und billigend weiterhin folgendermaßen dar:
1 2 3
Arndt, Lohngesetz und Lohntarif, S. 114. Ebenda, S. 115. [Arndt (ebenda, ohne Seitenangabe) bezieht sich hier auf: Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 640ff.; A.d.R.]
228
Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
„Sobald die ,Ausgleichung' erfolgt war, stiegen überall unter dem belebenden, produktionsfördernden Hauch der freien Konkurrenz die Löhne. Fürwahr, das Beispiel Oppenheimers ist keine Widerlegung, sondern eine Bestätigung der Produktivitätstheorie. Die eine so segensreich wirkende lohnerhöhende Kraft wurde nur eine Zeitlang durch eine stärkere mattgesetzt."1 Zunächst eine kleine Zwischenbemerkung, die wieder auf den wahrhaft paradiesischen Optimismus meines Herrn Gegners ein scharfes Licht wirft. Er macht zu meinen Worten „der gleiche Prozeß, der Hunderttausende in das tiefste Elend stürzte", die Anmerkung: „Das dürfte wieder eine Übertreibung sein." Ich kann nur wiederholen, daß dieser in bezug auf theoretische Deduktionen so überaus bescheidene Mann in anderer Beziehung überaus anspruchsvoll ist, und daß mir, wie bisher allen ernst zu nehmenden Historikern und Ökonomisten, das Elend von Manchester und Liverpool durchaus genügt. Auch das ist „evident" und braucht niemandem bewiesen zu werden, der Augen hat, um zu sehen. Was nun aber vor allem die Behauptung anlangt, mein Beispiel sei eine Bestätigung der Produktivitätstheorie, so ist noch ein letztes entscheidendes Wort zu sagen: Arndt führt hier eine Stelle von mir an. Ich habe der Produktivitätstheorie vorgeworfen, sie verwirre Ursache und Bedingung. „Alles sonst gleichgesetzt, kann der Lohn natürlich nur steigen, wenn die Produktivität, d. h. das verteilbare gesellschaftliche Erzeugnis wächst." Und so sehen es selbstverständlich auch die Marxisten, bei denen Arndt2 Anklänge an seine geliebte Produktivitätstheorie ebenso zu bemerken wähnt, wie bei mir. Aber nicht diese Selbstverständlichkeit macht die Produktivitätstheorie aus, sondern sie kann, wenn sie Wissenschaft, d. h. quantitativ bestimmt, sein will, nur einen einzigen Sinn haben: der Lohn muß wenigstens ungefähr, von einzelnen Schwankungen natürlich abgesehen, dieselbe Kurve beschreiben, wie die Produktivität. Und zwar ist das nachzuweisen für die kapitalistische Wirtschaft. Und ausgerechnet in dieser ist, wie Arndt erklärt, die „lohnerhöhende Kraft durch eine stärkere mattgesetzt worden"! Er sieht also gar nicht, daß hier gerade das Problem liegt! Während der ganzen Zeit, deren Lohnbewegung zu erklären ihm aufgegeben ist, hat nicht jene ungefähre Parallelität bestanden, die die Produktivitätstheorie behauptet, sondern die Kurve der Produktivität ist in ungeheurer Steile emporgeschossen, während die des Lohnes sich nur sehr langsam gehoben hat, nachdem sie zuerst eine Zeitlang sogar empfindlich gefallen war, wenn man eben nur die industriellen Löhne beachtet, wie das bisher fast regelmäßig geschehen ist. Hierin nicht mehr als die eine Ausnahme zu erblicken, die die Regel bestätigt, ist wieder ein Beweis für Arndts Optimismus einerseits und seine Anspruchslosigkeit in bezug auf theoretische Deduktionen andererseits. Dabei hat er im Kern hier und da die richtige Lohnlehre: „Der Lohn der Unselbständigen (Arbeiter, Angestellten) muß sich nach dem Ertrag der Arbeit der Selbständigen (Bauern, Handwerker) richten."3 Und noch einmal: „Dieselbe Kraft, die das Arbeitseinkommen der Selbständigen hebt oder senkt, hebt oder senkt auch das Arbeitseinkommen der Unselbständigen."4 Das ist Thünen, und daher gute Theorie. Und er zieht auch hier das große Beispiel an, das Thünen wie Marx angezogen haben, Nordamerika: hier konnte man „dem ländlichen Lohnarbeiter nicht viel weniger bieten, als er erzielt haben würde, wenn er sich auf dem noch freien Neulande selbständig gemacht hätte, was nicht sehr schwer war". Aber:
1 2 3 4
Arndt, Lohngesetz und Lohntarif, S. 116. Ebenda, S. 148f. Ebenda, S. 92, A n m . Ebenda, S. 127.
Der Arbeitslohn
229
„Nur scheinen die meisten Nationalökonomen es für selbstverständlich zu halten, daß ein solcher für die Lohnarbeiter günstiger Zustand eine Ausnahme sei; denn freies Land gäbe es nur in immer geringerem Umfange, in den dicht besiedelten Kulturstaaten überhaupt nicht. [...] [Aber] man muß das in weiterem Sinne auffassen. ,Neuland' umfaßt alle neuen Arbeitsmöglichkeiten, die sich einem strebsamen, intelligenten und unternehmungslustigen Arbeiter bieten, nicht nur mit dem Pfluge, sondern auch mit allen anderen Werkzeugen, nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch im Gewerbe, Handel, Verkehr, Kunst und Wissenschaft. Zahllos sind diese Möglichkeiten überall.,Unbebautes', vielversprechendes Terrain gibt es in Fülle für den, der zu sehen und zuzupacken vermag." 1 Gesetz der ursprünglichen Akkumulation: „Die Verschiedenheit der Leistungen beruht auf unabänderlichen Tatsachen, auf der verschiedenen Begabung der einzelnen Menschen." 2 Daß zu Gewerbe, Handel, Verkehr, Kunst und Wissenschaft außer der „Begabung" auch noch Kapital gehört, scheint nicht in Betracht zu kommen. Freilich verweist Arndt3 auf die 15,7 Millionen Goldmark, die vor dem Kriege (1909) in den Sparkassen angesammelt waren. Er verweist selbst darauf, daß sie „Millionen kleiner Sparer" gehörten. Er gibt die Zahl nicht: es waren am Schluß des Jahres 1911 21,2 Millionen Sparkassenbücher vorhanden, 4 die sich auf ein Gesamtguthaben von 17,35 Millionen verteilten. Nehmen wir selbst an, was bereits Arndtscher Optimismus wäre, daß pro Kopf der deutschen Arbeiter der Durchschnitt, ca. 800 Mark, entfallen sei: so ist das doch kaum ein „Kapital", mit dem man in „Gewerbe, Handel und Verkehr" etwas anfangen oder sich die Vorbildung erwerben kann, die für „Kunst und Wissenschaft" erforderlich ist. Hic jacet! Mit welcher unübertrefflichen Gründlichkeit Arndt das Problem verfehlt, das ihm gestellt ist, geht aus einem Satz hervor, der unmittelbar an eine soeben zitierte Stelle anschließt: „Dieselbe Kraft, die das Arbeitseinkommen der Selbständigen hebt oder senkt, hebt oder senkt auch das Arbeitseinkommen der Unselbständigen. Welches ist diese Kraft? [...] Es ist in beiden Fällen die Produktivität der Arbeit. Daß das Arbeitseinkommen des Bauern, des Handwerkers, des Fabrikanten, des Kaufmanns, des Arztes, durch die Produktivität ihrer Arbeit bestimmt wird, leuchtet jedem ein. Der Bestimmungsgrund des Einkommens aus der Arbeit des Unselbständigen kann kein anderer sein. Was zu beweisen war!" 5 Was ist hier „bewiesen"? Allenfalls, daß der Lohn sich auch innerhalb der Arbeiterklasse nach der Produktivität der einzelnen Leistung abstuft. Das hat niemals jemand bestritten. Und so war es auch nicht zu beweisen. Sondern was aufzuklären ist, ist die Frage, warum der Gesamtlohn der Gesamtarbeiterschaft, der Inbegriff aller Stufen dieser gesellschaftlichen Klasse, nicht in ungefährer Parallelität mit der Produktivität der Gesamtgesellschaft gestiegen ist. Und die Erklärung für dieses Problem bleibt Arndt uns schuldig, weil er es einfach nicht sieht. Die Lösung liegt da, wo sie Thiinen grundsätzlich gefunden hat: der Gesamtlohn wird bestimmt durch dasjenige Einkommen, das sich der kapitalschwache oder kapitallose Mann als Selbständiger dadurch erwerben kann, daß er sich eines ausreichenden Produktionsmittels bemächtigt, vor allem des noch freien Bodens. Aber alle Produktionsmittel, die ihm auch nur das Geringste mehr als den Lohn eines gleich qualifizierten Industrieproletariers abwerfen könnten, sind gegen ihn gesperrt, nicht nur das Land, sondern auch die wilden Früchte des Waldes, das wild wachsende Holz, der
1 2 3 4 5
Arndt, Lohngesetz und Lohntarif, S. 133. Ebenda, S. 196. Ebenda, S. 56. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jg. 1914, S. 304. Arndt, Lohngesetz und Lohntarif, S. 137f.
Erster Teil: Nationalökonomie
230
und Wirtschaftspolitik
T o r f der M o o r e usw. usw. Ich weiß, daß es nicht so gemeint ist, aber es klingt fast wie der heute noch, trotz aller Lohnerhöhung schwer leidenden Massen, wenn Arndt, Geiste Thünens,
Verhöhnung
vermeintlich i m
schreibt:
„Die geistigen Fähigkeiten
sind gewaltige Energiequellen, die nutzbar zu machen sind. Auch wer
ohne ,Ar und H a l m ist', hat in einem Kulturstaat große Entwicklungsmöglichkeiten. D i e mächtige Kraftreserve, über welche der ,isolierte Staat' in der ihn umgebenden fruchtbaren Wildnis verfügt, ist für die dichter besiedelten Länder die immer weiter fortschreitende Entwicklung der Geisteskräfte. A n dieser kann sich, ohne daß die Wirtschaftsordnung geändert wird, jeder begabte und strebsame Mensch zum Vorteile der Gesamtheit und zu seinem eigenen beteiligen." 1 Das ist zunächst nicht Thiinen.
W e n n Thünen von der höheren „Ausbildung der Geisteskräfte" die
Lösung der sozialen Frage erhofft, so geschieht das nur, weil er, als Malthusianer, davon als erste W i r k u n g die lohnerhöhende Einschränkung der Arbeiterzahl erwartet. A b e r er weiß durchaus, daß der Arbeiter aus eigenen Kräften unter den heutigen Verhältnissen Europas nicht imstande ist, sich die nötige Bildung (und ebensowenig das nötige Kapital) zur Selbständigkeit zu erwerben. Er war kein Manchestermann, der den Arbeitern alle Schuld oder doch alle Verantwortung für ihre Lage zuschiebt. W i r haben gezeigt, daß er ausdrücklich dem Staat die Aufgabe zuweist, die Arbeiter auf die von ihm für erforderlich erachtete höhere Bildungsstufe zu erheben. Arndt7
sagt selbst, das Produktivitätsgesetz gelte nur unter gewissen Voraussetzungen, unter de-
nen er an erster Stelle die wirtschaftliche Freiheit anführt. N u n , diese wirtschaftliche Freiheit in ihrem wissenschaftlichen Verstände, als „voll wirksame Konkurrenz", besteht nicht, solange jene Sperrung aller Produktionsmittel gegen die Arbeiterklasse besteht; und das wichtigste dieser Produktionsmittel ist das Land;
in diesem primären M o n o p o l wurzeln alle anderen, wurzelt vor allem
das Kapitalmonopol.
Arndt schließt folgendermaßen: „Es gibt nur ein sicher wirksames Mittel zur Steigerung des Lohnes, nämlich
die Erhöhung
der Produktivität
der Arbeit. "3 Das ist nur die eine Seite der Sache. Die andere
Seite ist: Es gibt nur ein sicher wirksames Mittel zur Erhöhung der Produktivität der Arbeit, nämlich die Steigerung des Lohnes. Es ist hier nicht der Raum, diese Behauptung zu beweisen. Sie ist unter dem Titel „der rationelle Sozialismus: das ökonomische Erstaunen" auf Seite 1028 meiner „Theorie [der reinen und politischen Ö k o n o m i e ] " nachzulesen. Ich darf sie allen meinen Kritikern zu sorgfältiger Beachtung empfehlen. Ich habe diesen Satz nicht nur theoretisch, sondern auch historisch bewiesen. Ich habe gezeigt, daß in Deutschland von etwa 1000 bis 1400 kein Großgrundeigentum, daher keine Bodensperre bestand, daß die kapitalschwachen Elemente ungehindert auf freies Land abströmen konnten, daß es infolgedessen keine Klasse von Lohnarbeitern, kein Lohnsystem gab, und daß, wieder infolgedessen, für einen an Kaufkraft reißend wachsenden Markt, Landwirtschaft und Gewerbe sich eines Aufschwungs der Produktivität erfreuten, von dem der vorsichtige Schmoller
sagte, daß sich
ihm nicht einmal der amerikanische Aufschwung des 19. Jahrhunderts an die Seite stellen lasse. Arndt
bemerkt dazu: „Das Beispiel aus dem Zunftzeitalter dürfte wenig beweiskräftig sein und kann
hier unerörtert bleiben." 4 R o m a locuta! Res finita? Ich glaube nicht!
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Arndt, Lohngesetz und Lohntarif, S. 73. Ebenda, S. 197. Ebenda, S. 198. Ebenda, S. 116.
Wert und Kapitalprofit [1926]
Inhalt
Vorwort
231
I.
235
Das Problem
II. Der statische Preis
236
1. Die Statik
236
2. Das Einkommen
239
3. Die Daten
240
4. Die allgemeine Wertformel
243
5. Die Wertformel der beliebig reproduzierbaren Güter
249
III. Der Kapitalprofit
252
1. Die Theorien
253
2. Das Monopol
254
3. Das Bodenmonopol
256
4. Die Wertformel der kapitalistisch erzeugten beliebig reproduzierbaren Güter
. . . .
258
IV. Antikritische Nachlese
264
1. Die „Substanz" des Wertes
264
2. Die Qualifikation
268
3. „Rein analytische Sätze"
277
4. Die Krisis der Grenznutzentheorie
280
[Erstmals erschienen als eigenständige Publikation, Jena 1916. Die zweite, unveränderte Auflage erschien 1922. Als vorliegende Quelle wurde die dritte, völlig neu bearbeitete Auflage Wert und Kapitalprofit - Neubegründung der objektiven Wertlehre (Jena 1926) gewählt, da in diese die Diskussion mit Alfred Amonn (geführt in der Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik, Bd. Vj eingeflossen ist; A.d.R.]
Vorwort
„Wert und Kapitalprofit" ist 1916 zum ersten Mal herausgekommen. Da sich meine Hoffnung nicht erfüllte, daß die von mir zur Diskussion aufgeforderte Grenznutzenschule sich mit der objektivistischen Wertlehre auseinandersetzen würde, die hier in neuer, und, wie ich behauptete, keinen Einwänden mehr ausgesetzter Form vorgetragen wurde, habe ich die zweite Auflage (1922) in völlig unveränderter Form erscheinen lassen. Ich habe dann das Buch zum größten Teile in die fünfte Auflage meiner „Theorie der reinen und politischen Ökonomie" hineingearbeitet und hatte die Absicht, es nicht mehr erscheinen zu lassen. Seitdem hat sich ein Mann, der zwar kein orthodoxer Vertreter der Grenznutzenschule, aber ein ihr nahestehender angesehener Fachmann ist: Alfred Amonn, mit meiner Auffassung beschäftigt.1 Daran hat sich eine Diskussion geknüpft,2 die fortgesetzt werden wird.3 Schon jetzt hat sie zu weitgehender Einigung geführt und das Gebiet des Meinungsstreits stark eingeengt. Was mich betrifft, so habe ich daraus namentlich zweierlei gelernt: erstens, daß ich meine Theorie mit Erörterungen belastet hatte, die jedenfalls überflüssig, wenn nicht verdächtig waren; es handelt sich um die berühmten „Eierschalen", die fast jede neue Theorie noch von ihrem Werdegang her mitschleppt: um Reste veralteter Problemstellungen und überlebter Hilfskonstruktionen. Und zweitens: daß die Methode der Deduktion, wie unsere Klassiker sie übten, noch viel mehr verschüttet worden ist, als ich bisher annahm. Aus diesem Grunde habe ich mich entschlossen, unter dem alten Titel ein fast durchaus neues Buch herauszubringen. Es ist dazu bestimmt, die entsprechenden Abschnitte meiner „Theorie" zu ergänzen, die ich vorläufig keine Aussicht habe, in neuer verbesserter Auflage erscheinen zu lassen. Unter diesem Gesichtspunkt darf ich es mir versagen, die literarischen Nachweise zur Dogmengeschichte der ersten beiden Auflagen von „Wert und Kapitalprofit" hier noch einmal abzudrucken. Sie finden sich jetzt in der „Theorie". An dieser Stelle will ich in erreichbarer Kürze die Methode der deduktiven Untersuchung und die mit ihrer Hilfe von mir bearbeitete Theorie vom Wert und Kapitalprofit darstellen - und nur insoweit polemisieren, wie mir neue Angriffe auf meine Lösung dieses Problems (es ist nur eines!) - bekannt geworden sind. Frankfurt a. M., 16. Dezember 1925
1 2 3
A m o n n , Franz Oppenheimers „Neubegründung der objektiven Wertlehre", in: Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik, Neue Folge, Bd. IV (1924), S. 1-37. Oppenheimer [I], Zur Neubegründung der objektiven Wertlehre [1. Teil], in: ebenda, Bd. V (1927), S. 108-124; Amonn [I], Zu Oppenheimers „Neubegründung der objektiven Wertlehre" [1. Teil], in: ebenda, S. 125-130. Meine Duplik [Oppenheimer Π] und Amonns Antwort darauf (in Zukunft bezeichnet als Amonn II) liegen mir bereits als Korrekturfahnen vor. Ich spreche dem Verfasser wie der Redaktion dafür meinen Dank aus. [Im folgenden wird auf die beiden Veröffentlichungen (Oppenheimer Π: Zur Neubegründung der objektiven Wertlehre [2. Teil], in: ebenda, S. 556-583; Amonn Π: Zu Oppenheimers „Neubegründung der objektiven Wertlehre" [2. Teil], in: ebenda, S. 584-598) mit der entsprechenden Seitenzahl des Originals verwiesen; A.d.R.]
Wert und Kapitalprofit
I.
235
Das Problem
D i e Begriffe „Wert" oder „Tauschwert" bedeuten in der klassischen Ö k o n o m i k den Preis der beliebig reproduzierbaren Güter „auf die Dauer und im Durchschnitt", d. h. unter Abstraktion von den „zufälligen Schwankungen", die durch Änderungen im Verhältnis von Angebot und Nachfrage verursacht werden. „Preis" bedeutet immer eine Relation.
Das Problem ist, warum auf die Dauer
und im Durchschnitt eine bestimmte Menge der Ware a sich gegen eine bestimmte andere Menge der Ware b tauscht, ζ.. B. 10 kg Kupfer gegen 1 g Gold, 20 1 W e i n gegen 50 Kilowatt elektrische Energie, „20 Ellen Leinwand gegen einen R o c k " (Marx). W o Geldwirtschaft besteht - und wir werden nur geldwirtschaftlich entfaltete Märkte zu betrachten haben - erscheint das Geld, als das „allgemeine Wertäquivalent", auf der rechten Seite der Gleichung. U n t e r der Annahme, daß auch das Geld auf seinem Tauschwert verharre, oder, was das gleiche sagt, daß wir auch bei i h m von jenen „zufälligen" Schwankungen absehen, ist also jeder Geldpreis Durchschnitt ihr
einer Ware auf die Dauer und im
Geldwert.
A b e r dieses Problem ist an sich von sehr geringer Bedeutung. D e m Praktiker genügt es vollk o m m e n zu wissen, daß der Preis einer ihn interessierenden Ware im Durchschnitt so und so hoch steht: warum
er so hoch steht, ist ihm gleichgültig. U n d der Theoretiker könnte das P r o b l e m als
eine „Doktorfrage" ruhig liegen lassen, wenn es nichts anderes trüge. Das aber ist eben der Fall: es trägt das wichtigste von allen, das Zentralproblem unserer Wissenschaft, das der Distribution, und das heißt: der Klasseneinkommen,
insbesondere das des
Kapitalprofits.
Dieses P r o b l e m ist ein Wertproblem. Es lautet: W a r u m hat in unserer Gesellschaft die mit eigenen Produktionsmitteln nicht ausgerüstete Arbeit diesen,
uns empirisch gegebenen Wert? W a r u m
haben die Nutzungen von Kapital und von Bodeneigentum diesen, uns empirisch gegebenen Wert? und zwar auch hier: W e r t auf die Dauer, unter Abstraktion von allen zufälligen Schwankungen im Verhältnis von Angebot und Nachfrage, so daß das E i n k o m m e n der Arbeiterklasse aus Lohn, das der Kapitalistenklasse aus Profit, das der Grundbesitzerklasse aus Grundrente, sich ohne weiteres aus dem Wert dieser ihrer sogenannten „produktiven Beiträge" ergibt? V o n diesen drei Unterproblemen ist das der Grundrente hier nicht zu behandeln. Es kann als v o l l k o m m e n gelöst betrachtet werden. Dagegen ist noch nicht einmal der erste Anfang zu einer Einigung über die Bestimmungsgründe des Kapitalprofits erreicht worden: und vorher ist Einigung über die Bestimmungsgründe des Lohnes unmöglich. M a n sieht also: W e r t und Kapitalprofit stellen in der Tat nur ein einziges Problem
dar. D e r W e r t
hat für uns nur Interesse als das unentbehrliches Fundament, auf dem allein die Lösung des Profitproblems stehen kann. Dieses kann nicht anders gestellt werden, als wie Karl Marx es stellte: „Der Geldbesitzer muß die Waren zu ihrem Werte kaufen, zu ihrem W e r t verkaufen, und dennoch am Ende des Prozesses mehr W e r t herausziehen, als er hineinwarf [...] wie kann Kapital entstehen bei der Regelung der Preise durch den Durchschnittspreis?" 1
1
Marx, Das Kapital, Bd. I, 4. Auflage, [Hamburg] 1890, S. 129. Der Ausdruck: „Wie kann Kapital entstehen?" bedeutet bei Marx·. „Wie kann Profit entstehen?" Denn für ihn sind Produktionsmittel und Geld nur dann Kapital, wenn sie Profit abwerfen.
Erster Teil: Nationalökonomie
236
und
Wirtschaftspolitik
II. Der statische Preis 1. Die Statik Indem die Klassiker erklärten, von den zufälligen Schwankungen des Preises durch Veränderungen im Verhältnis von Angebot und Nachfrage absehen zu wollen, stellten sie das Problem des Wertes als ein solches der Statik. Die statische Betrachtung ist eine Methode zur Entdeckung der Gesetze, unter denen die Bewegung eines Systems steht. Sie dient nicht der Feststellung, sondern der Erklärung von Erscheinungen. Sie beruht regelmäßig auf folgender Erwägung a priori: Wo immer Kräfte antagonistisch gegeneinander wirken, tendieren sie auf einen Zustand hin, in dem sie sich gegenseitig „ausbalancieren", so daß unter der Voraussetzung keiner von außen kommenden Störung des Systems oder, was dasselbe besagen will, keiner „Änderung der rechnungsmäßigen Daten", die Gegenbewegung der Elemente aufhört, und je nachdem das ganze System zur vollkommenen Ruhe kommt, wie etwa eine Wasserfläche, oder sich in einer ganz bestimmten Weise als Ganzes bewegt, wie etwa unser Planetensystem. Diesen Gleichgewichtszustand nennt die Physik die StatikWobei zu bemerken ist, daß es durchaus nicht darauf ankommt, ob diese Statik realiter zu erreichen ist oder nicht. Das ist kaum jemals der Fall. Die stabilsten Gebäude „setzen sich", auch kleinere Wasserflächen, von den Ozeanen ganz zu schweigen, liegen so gut wie niemals in vollkommener Ruhe in der Horizontalen, und sogar unser Planetensystem unterliegt gewissen, von anderen Systemen herrührenden Störungen. Es kommt also nicht auf die Realisierungsmöglichkeit der Statik an, sondern nur auf ihre Berechenbarkeit als den Zustand des Gleichgewichts der antagonistischen Kräfte: die Statik ist fast immer nur eine „methodische Fiktion". Aber diese Fiktion ist der Physik vollkommen unentbehrlich: sie kann die Gesetze, die sie sucht, nur finden, wenn sie methodisch, im Isolierverfahren, alle „Störungen" ausschaltet, d. h. von allen Änderungen der Daten, die im Sinne ihrer Fragestellung „zufällig" sind, abstrahiert. Dazu hat sie zwei Methoden. Zuerst die des Experiments, wo alle Störungen, soweit wie irgend möglich, de facto ausgeschaltet werden, indem man ζ. B. im luftleeren Raum experimentiert, oder, bei elektrischen Messungen, alle „vagabundierenden Ströme" der Luft und des Bodens systematisch ableitet, oder, in chemischen Analysen, sich reiner Reagenzien und störungsfrei aufgestellter Waagen bedient. Zweitens die Abstraktion im „Gedankenexperiment": das Absehen in methodischer Fiktion von gewissen „Störungen". U m ein solches Gleichgewicht zu errechnen, ist, außer selbstverständlich der Kenntnis der anschaulichen Eigenschaften des Substrats, weiter nichts erforderlich als die durch Beobachtung gewonnene Erkenntnis von Art, Richtung und Stärke der auf das Substrat wirkenden Kräfte. Wenn ich weiß, was Wasser ist, und durch Beobachtung finde, daß, von nicht interessierenden Kleinigkeiten („Störungen") abgesehen, auf den Ozean nur wirken der Wind und die Schwerkraft einerseits der Erde, anderseits des Mondes: so ist die Statik, das Normalnull, theoretisch festgelegt als derjenige Punkt eines Pegels, der bei Windstille genau zwischen Ebbe-Tief und Flut-Hoch gemessen wird. Durch diesen Punkt wird eine Horizontale gezogen, und die durch die Horizontale gelegte Kugel-
1
Amonn
[ A m o n n II (siehe oben, S. 234, A n m . 3), S. 584f.; A . d . R . ] bestreitet das. Tatsächlich ist dieser Sprach-
gebrauch in E u r o p a unüblich. Ich habe mich der amerikanischen T e r m i n o l o g i e angeschlossen, die für unsere soziologischen Z w e c k e praktischer ist. Vgl. O p p e n h e i m e r , Allgemeine Soziologie, in: S y s t e m der Soziologie, Bd. I, S. 71. Es handelt sich hier u m eine lediglich terminologische, d. h. völlig gleichgültige D i f f e r e n z : Amonn
erklärt ausdrücklich, daß zwischen i h m und mir über den Begriff der Statik „ v o l l k o m m e n e Uberein-
s t i m m u n g " besteht.
Wert und
Kapitalprofit
237
ebene ist das dynamische Gleichgewicht des Ozeans. 1 U n d ebenso kann ein Mathematiker, dem das G e w i c h t und die gegenseitige Entfernung der Körper unseres Planetensystems bekannt sind, ihre Bewegung errechnen, weil er die auf das Substrat wirkenden Kräfte: Zentrifugal- und Zentripetalkraft, als die einzigen in Betracht kommenden kennt. Das also sind die allgemeinen Bedingungen jedes Problems einer Statik. Wenden wir unser Ergebnis auf den uns vorliegenden Fall an. D i e Methode der Klassiker stellte eine Annäherung, aber eben nur eine Annäherung an diese methodische F i k t i o n dar. Sie sahen klar, daß die Schwankungen des Preises infolge der Veränderungen i m Verhältnis von Angebot und Nachfrage nicht nur kein Problem darstellen (der Kausalzusammenhang ist völlig klar), sondern sogar das eigentliche P r o b l e m nur verwirren und verdunkeln: das P r o b l e m von den Ursachen, die das gegenseitige Verhältnis der Mittelpunkte
jener Oszillationen des
Preises, eben der „Werte" bestimmen. Sie erklärten also, von jenen Schwankungen abstrahieren zu wollen. Diese Abstraktion war identisch mit der methodischen Fiktion, daß das ganze System der Marktwirtschaft (oder was das gleiche sagt, der Konkurrenz) sich in seinem „Gleichgewichtszustande", modern ausgedrückt 2 : in seiner „Statik" befindet. D e n n nur bei Gleichgewicht des Systems kann das Gleichgewicht einer seiner Funktionen bestehen. Die Klassiker, vor allem
Ricardo,
supponieren also einen Zustand der Marktwirtschaft, in dem „die Konkurrenz ihren Ruhezustand erreicht hat" und in ihm verharrt. Schon diese Annahme gestattet eine Anzahl von wichtigen Ableitungen. Die Erwägung ist überall die folgende: in der Kinetik, d. h. der Realität des Marktes, versucht jeder jedem Anderen konkurrierend alle Vorteile abzujagen, die ihm irgend abgejagt werden können; erst wenn das geschehen ist, hat die K o n k u r r e n z ihren Ruhezustand erreicht. M a n fragt also jedes Mal: Bei welchem, uns hier gerade interessierenden Zustande kann die Konkurrenz als i m Ruhezustand befindlich gedacht werden? Das zufällige Verhältnis der einzelnen Glieder und Funktionen des Systems zueinander ist realiter, kinetisch, der „Realgrund" der Tendenz z u m Ruhezustande: aber rechnerisch, statisch, ist umgekehrt der Ruhezustand der „Erkenntnisgrund" für das statische Verhältnis aller einzelnen Glieder und Funktionen zueinander. Die deduktive Rechnung lautet: als gegeben angenommen der Ruhezustand der Gesamtfunktion, der K o n k u r r e n z : wie verhält sich das einzelne Glied („Organ") oder die einzelne F u n k t i o n des Ganzen? A u f diese Weise entwickelte ζ. B. Ricardo
seine Theorie von der Grundrente, von
Thünen
seine
Lehre von den Z o n e n im „Isolierten Staat", ich selbst das Gesetz der Wanderbewegung, sowohl in der reinen, wie in der politischen Ö k o n o m i e (das Gesetz v o m gleichmäßig, bzw. v o m einseitig sinkenden Druck), und auf die gleiche Weise kam wieder Ricardo
zu der Erkenntnis, daß der
„Grenzproduzent" in der Statik immer von normaler Qualifikation sein muß: nicht eher kann die K o n k u r r e n z zur R u h e k o m m e n , als bis überall, in jeder Produktion, die unter freier K o n k u r r e n z steht, den „Pionieren" alle Vorteile der Konjunktur, die ganzen Vorteile, und nichts als diese Vorteile, abgejagt sind, die sie lediglich ihrem kinetischen Vorsprung verdankten: alle Vorteile heißt das, die der normalen Qualifikation erreichbar sind. A b e r - es war doch eben nur eine Annäherung.
So wichtig es war, das P r o b l e m richtig zu stellen,
indem man supponierte, daß das System seinen Ruhezustand erreicht habe, so reichte das doch nicht hin. Gelöst war das P r o b l e m erst in dem Augenblick, in dem festgestellt war, w o das System seinen Ruhezustand erreicht. Das aber haben die Klassiker versäumt.
1 2
Ich weiß, daß das nicht ganz exakt ist, weil die Erdmassen der Kontinente das Wasser an- und emporziehen. Der Ausdruck ist erst von John Stuart Mill, dem Freunde und Schüler Comtes, aus der jungen Soziologie (wie von dieser aus der mathematischen Physik, Comtes Ausgangswissenschaft) in die Ökonomik übernommen worden.
Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
238
Dieses Problem ist es mir gelungen zu lösen. Zu dem Zwecke brauchte ich mich nur daran zu erinnern, daß auch die Marktwirtschaft ein System antagonistischer Kräfte ist. Sie ist, vom Standpunkt der einzelnen Wirte aus gesehen, nichts als Konkurrenz, von einem Standpunkt über dem Ganzen aus gesehen, nichts als Arbeitsteilung und -Vereinigung (ich halte die Erkenntnis dieser Identität, die mir erst in der fünften Auflage meiner Theorie geglückt ist, für eines meiner wichtigsten Ergebnisse. Ich glaube kaum, daß man es mir je bestreiten wird). Uns interessiert hier nur der eine Aspekt: die in der Konkurrenz sich auswirkenden antagonistischen Kräfte, nämlich der Inbegriff der wirtschaftlichen Handlungen der Gesellschaftsglieder, die aus dem Kampf der Verkäufer um die wirksame Nachfrage und der Käufer um das wirksame Angebot hervorgehen. Dieser Kampf ist zunächst Preiskampf.
Der Verkäufer sucht beim Käufer einen möglichst hohen,
dieser bei jenem einen möglichst niederen Preis durchzusetzen. J e nach dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage wird in diesem Kampfe bald der Käufer, bald der Verkäufer einen Vorteil haben. Dann wird im ersten Falle das Angebot auf den nächsten Märkten sinken - und der Preis steigen, im zweiten steigen - und der Preis sinken: und das ganze System würde, wenn keine „Störung" eintritt, auf jenem Preisniveau seine „Statik" erreichen, das zu finden unsere Aufgabe ist. Man sagt nun häufig, daß hier „Angebot und Nachfrage ihren Gleichgewichtszustand erreicht haben", oder, daß hier „die Preise in ihrem Gleichgewicht stehen". Das sind bequeme Abkürzungsformeln, die man sich gefallen lassen kann, solange sie nichts anderes bezeichnen wollen, als den Gleichgewichtszustand des ganzen Systems, die aber völlig inhaltlos werden, wenn man sie verabsolutiert. Denn die statischen Mengen von Angebot und Nachfrage hängen natürlich von dem statischen Preise ab; und unsere Frage nach dem statischen Preise: „Warum Menge χ
einer Ware a
kostet auf die Dauer und im Durchschnitt die
die Menge y einer Ware b ?" ist mit der Feststellung, daß die beiden
Werte sich derartig verhalten, noch nicht um den kleinsten Schritt gefördert. Warum
ist
χ • a = y • b, und nicht ζ. Β. = ζ • ¿> ? Warum kostet ein R o c k just 20, und nicht 10 oder 30 Ellen Leinwand? Warum steht das ganze System „in seinem Gleichgewichtszustand", wenn ζ. B. ein Luxusautomobil bestimmter Marke 24.000 Mark, und eine Stecknadel '/io Pfennig kostet? Was ist das für ein „Gleichgewichtszustand der Preise", wenn wie hier ein a = 24.000.000 b ist? Wenn die Wendung vom „Gleichgewicht der Preise" überhaupt einen selbständigen Sinn hat, d. h., nicht als Ausdruck dafür gebraucht wird, daß das System als Ganzes in seinem Gleichgewicht ruht, so kann sie nur bedeuten, daß nicht nur auf einem Markte, sondern im räumlich-zeitlichen Zusammenhang aller Märkte einer statischen Gesellschaft immer χ • a = y • b ist; - daß jeder R o c k just 20 Ellen Leinwand wert war, ist und sein wird. Aber mit dieser Feststellung oder besser: Fiktion ist ja das Problem nicht etwa gelöst, sondern eben nur als statisches Problem gestellt. Wir wissen immer noch nicht mehr, als daß es nur mit der Methode des Isolierverfahrens gelöst werden kann: aber das materielle Problem des Wertes, die Entdeckung der Ursache dafür, daß gerade diese statische Preisrelation (x • a = y • b und nicht ζ • b) uns gegeben ist, bleibt uns nach wie vor
aufgegeben.
W i r stehen noch am Ausgangspunkt unserer Untersuchung, zu dem wir erst in der quaestio facti zurückkehren dürfen, nachdem wir das Gesetz gefunden haben, das jede: beobachtete und nicht beobachtete, vergangene, gegenwärtige und zukünftige, statische Preisrelation beherrscht, das ihrer aller „Bestimmungsgrund" ist.1
1
Ich hoffe, mich jetzt vollkommen unmißverständlich ausgedrückt zu haben. Amonn hat einige kürzer gefaßte Sätze meiner Duplik dahin mißverstanden, daß ich eine „Unterscheidung ohne Unterschied" zwischen dem „Preise" schlechthin und dem „Preise einer Ware, ausgedrückt in einer anderen" gemacht hätte. Ich habe selbstverständlich nicht daran gedacht. Was ich in Wirklichkeit unterschieden habe, ist die Tatsache einer gegebenen Preisrelation von ihrer Erklärung
aus einem allgemeinen Wertgesetz. Ich glaube, daß zu
Amonns
Mißverständnis hier die bei seiner Ausgangsschule häufige, von mir aufgedeckte Aquivokation mit dem Worte „Bestimmen" mitgewirkt hat (siehe Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, [in: System der Soziologie, Bd. ΠΙ, 1. Teilbd., Jena 1923, S. 461; im Folgenden nur: Theorie der reinen und politi-
Wert und
Kapitalprofit
239
Offenbar kann daher der Kampf um den Preis nicht das letzte Streben der konkurrierenden Kräfte sein. Denn es liegt im Begriffe eines Systems antagonistischer Kräfte, daß sie auf ein genau bestimmbares Gleichgewicht hin tendieren 1 . Was erstreben also diese Kräfte und wo liegt ihr Gleichgewicht?
2. Das Einkommen Auf die erste Frage habe ich geantwortet: Die Konkurrenten erstreben über das Mittel des „möglichst hohen Preises" das Endziel des möglichst hohen Einkommens, und so liegt denn das Gleichgewicht der Wirtschaft dort, wo alle Einkommen aller Konkurrenten soweit ausgeglichen sind, wie es die Konkurrenz durchzusetzen vermag. Zu meiner Freude hat die Debatte auch in diesem Punkte zu einer vollkommenen Einigung zwischen Amonn und mir geführt. Er hatte in seiner ersten Erwiderung meiner These die folgende entgegengestellt: „Das Streben der Produzenten, für ihre Produkte einen möglichst hohen Preis zu erzielen, ist die die Tauschwirtschaft beherrschende Kraft." 2 Mir war sofort klar, daß es sich hier nur um ein terminologisches Mißverständnis handeln konnte, und diese Vermutung hat sich bestätigt. Amonn3 gibt nämlich jetzt seiner These die folgende Auslegung: „daß alle Produzenten nach der bestmöglichen Verwertung ihrer Leistung streben" und an anderer Stelle: „Ich behaupte, daß der Produzent für das Produkt, das er zu Markte bringt, den höchsten Preis und damit Gewinn erstrebt, den er dafür erhalten kann [...] ich behaupte, daß der Produzent ,nach dem höchsten Gesamtgewinn' für seine Leistung oder bezogen auf seine Leistung auf eine bestimmte Leistung strebt." Nun, das ist sinngetreu meine eigene These, daß „die Konkurrenten über das Mittel des möglichst hohen Preises das Endziel des möglichst hohen Einkommens erstreben". Denn „Gesamtgewinn" während einer bestimmten Periode ist eben - Einkommen. Und so ist es durchaus im Sinne meiner Auffassung, wenn Amonn schreibt: „Das Streben des Produzenten nach dem höchst erreichbaren Preis für sein Produkt kann man - mit einer gewissen Einschränkung - als die allgemein gültige und alles beherrschende Kraft gelten lassen [...] die Marktwirtschaft ist ein System antagonistischer Kräfte, die, jede für sich, den höchsten Preis für ihre Leistungen oder - allgemeiner ausgedrückt - die bestmögliche Verwertung ihrer Leistungen im Preiskampf zu erzielen sucht." 4
sehen Ö k o n o m i e ; A.d.R.]). D a s bedeutet bald: „Messen", bald: „Verursachen". Selbstverständlich ist in der Statik der Wert jeder Ware messend „bestimmt" durch den jeder anderen: aber das P r o b l e m ist das des Bestimmungsgr«rcife. Wir wollen wissen, was die gegebene Relation verursachend „bestimmt". 1
Auch das bestreitet mir Amonn als allgemeinen Satz. Offenbar glaubt er, daß ich, wenn ich v o n einem genau bestimmbaren Gleichgewicht spreche, darunter ein genau berechenbares Gleichgewicht verstehe. D a s liegt mir fern. In unserem Falle ist es übrigens, wie sich herausstellen wird, in der Tat genau berechenbar. D e n n es handelt sich u m ein „System empirischer Kräfte", deren Richtung und Kraft wir exakt zu messen imstande sind, und die ich genau genug bezeichnet habe und unten noch genauer bezeichnen werde.
2
A m o n n [I, siehe oben, S. 234, A n m . 2; A.d.R.], S. 127.
3 4
A m o n n Π, [siehe oben, Seite 234, A n m . 3; A.d.R.], S. 588. Diese Einigung wird im Augenblick noch ein wenig verdeckt durch ein Mißverständnis Amonns, das mit einem Worte zu beseitigen ist. Er glaubt, mein „Streben auf das höchste E i n k o m m e n " bedeute so etwa jenes „zügellose Gewinnstreben", das man so gern dem h o m o sapiens lombardstradarius nachsagt. Ich habe nie daran gedacht, wie mein Wortlaut zeigt.
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Enter Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Damit sind wir, ich wiederhole es, in dem entscheidenden Punkte vollkommen einig. Auch die von Amonn erwähnte Einschränkung dürfte keine Schwierigkeiten machen. Er schreibt im Anschluß an den soeben analysierten Satz, worin er das Streben der Produzenten nach dem möglichst hohen Preise ihrer Produkte als „die die Tauschwirtschaft beherrschende Kraft" bezeichnet: „Die einzige bewegende Kraft ist auch dieses Streben nicht, sondern es gibt noch andere." Offenbar denkt Amonn hier an die „nichtwirtschaftlichen" Motive, aus denen heraus Produzenten unter Umständen auf die Verfolgung des größten Vorteils im Preiskampfe verzichten, ζ. B. aus Patriotismus oder aus Mitleid oder aus Prestigebedürfnis. Es fällt mir nicht ein, solche Motive und ihre Einwirkung auf die Preisgestaltung irgendwie leugnen zu wollen: aber es ist klar, daß diese Motive und ihre Wirkungen zu jenen äußeren „Störungen" gehören, von denen unser Isolierverfahren abzusehen hat. Wir haben das Erkenntnisobjekt „Wirtschaftsgesellschaft", das wir uns durch die Auswahl der uns interessierenden Kennzeichen aus dem, allen Gesellschaftswissenschaften gleichmäßig vorliegenden, Erfahrungsobjekt „Gesellschaft" zu bilden haben. Wir haben geschrieben: „Eine Gesellschaft ist eine Wirtschaftsgesellschaft, wenn ausschließlich die wirtschaftlichen Handlungen, also Beschaffung und Verwaltung von Wertdingen nach dem Prinzip des kleinsten Mittels, ausgewählt werden, um das besondere Erkenntnisobjekt zu bilden. Diese Handlungen in ihrem Inbegriff bilden die Gesellschaftswirtschaft der Wirtschaftsgesellschaft."1 Nur in diesem Sinne war es gemeint, wenn ich von dem Streben nach dem höchsten Einkommen als der „einzig bewegenden Kraft der Wirtschaftsgesellschaft" sprach. Und in diesem Sinne wird gerade Amonn, mit dessen Kalbe ich hier gepflügt habe, den Satz unterschreiben. Ich habe diese verhältnismäßig unbedeutende Differenz, auf die Amonn selbst kein Gewicht legt, hier behandelt, weil sie auf die bedeutsameren Streitpunkte vordeutend ein Licht zu werfen geeignet ist. Es handelt sich nämlich in letzter Linie überall um das Problem, wie weit das Isolierverfahren gestattet ist, und was man wissenschaftlich davon an Ergebnissen zu erwarten berechtigt ist.
3. Die Daten Stellen wir also jetzt die „Daten" unseres Problems fest: Was ist uns empirisch gegeben? Als Erfahrungsobjekt: eine Gesellschaft. Wir bilden uns daraus, durch Auswahl der uns interessierenden Kennzeichen (der Handlungen der Beschaffung und Verwaltung kostender Objekte nach dem Prinzip des kleinsten Mittels) das Erkenntnisobjekt „Wirtschaftsgesellschaft". Aber wir dürfen dabei nie vergessen, daß das Substrat, auf das unsere antagonistischen Kräfte wirken, immer eine Gesellschaft bleibt, mit allen Eigenschaften, die essentiell zum Begriff einer solchen gehören. Diese Eigenschaften sind erstens „natürliche". Jede Gesellschaft lebt in einem realen Gebiete, das bestimmte Bodenfrüchte trägt, bestimmte Mineralschätze birgt, bestimmte Verkehrsbedingungen (Meeresküste, Flüsse, Gebirgspässe, Ebenen usw.) besitzt. Sie besteht aus einer Bevölkerung von bestimmter biopsychologischer Beschaffenheit, für die ganz allgemein das folgende gilt: wie immer sie im einzelnen beschaffen sein möge, ob es sich um eine Bevölkerung von auffällig gut oder auffällig schlecht entwickelter Körpergröße und Kraft handele (als polare Beispiele nennen wir die riesenhaften Südseeinsulaner auf der einen, die zwerghaften Kümmerrassen der Jägerstämmchen auf der anderen Seite); ob es sich fernerhin um eine Bevölkerung von ausnehmend hoher geistiger Begabung handele, als welche ζ. B. Galton die Athener anspricht, oder um eine solche von scheinbar sehr geringer durchschnittlicher Begabung, wie sie nach manchen Ethnologen ζ. B. die Neger haben sollen: immer wird
1 Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 243.
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Kapitalprofit
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sich innerhalb dieser gegebenen Bevölkerung das Bild der „binomialen Kurve" ergeben, kraft des „Gesetzes der großen Zahl". Nach diesem Gesetze sind die Fälle, die einem bestimmten arithmetischen Mittelwert am nächsten stehen, die weitaus häufigsten. Die Abweichungen werden, je größer sie werden, nach oben wie nach unten hin immer seltener, bis schließlich das Maximum der Abweichung sowohl positiv wie negativ sich nur noch in ganz wenigen oder sogar nur einzelnen Fällen vorfindet. Dieses Gesetz gilt unbestritten für die sämtlichen körperlichen und moralischen und, soweit wir sehen können, auch für die geistigen Eigenschaften. Auf diesen natürlich bedingten Eigenschaften jeder Gesellschaft, also auch jeder Wirtschaftsgesellschaft, ruhen nun soziologisch bedingte: einer bestimmten Dichte der Bevölkerung entspricht eine bestimmte Höhe der Kooperation, und dieser eine bestimmte Technik, die wieder vor allem auf den vorhandenen Rohstoffen beruht. Da ferner jedes reale Gebiet Böden verschiedener Fruchtbarkeit enthält, und die Urproduktion unter dem Gesetz der sinkenden Erträge steht, muß sich unter bestimmten Verhältnissen Grundrente bilden. Diese Verhältnisse sind für uns gegeben. Denn wir haben uns ja die Aufgabe gestellt, den Kapitalprofit aus dem Wert abzuleiten, und haben daher eine geldwirtschaftlich entfaltete kapitalistische Gesellschaft zu untersuchen. Alle ihre Kennzeichen: Lohnsystem, Kapitalprofit, Grundrente usw. usw. gehören neben den Kennzeichen jeder Wirtschaftsgesellschaft im allgemeinen zu den uns gegebenen empirischen Daten unserer Rechnung. Dazu kommt nun ferner als soziologisch bedingt, daß jede Gesellschaft einen Kodex von Normen und Wertungen besitzt. Welche Normen und Wertungen, das interessiert uns hier nicht. Wir rechnen sozusagen mit unbenannten Ziffern und brauchen nichts weiter für unsere Rechnung als das Datum, £¿*y?jede Gesellschaft ein bestimmtes Recht und eine bestimmte Sitte und für Dinge und Menschen bestimmte Wertungen besitzt. Von Recht und Sitte braucht hier nicht weiter gehandelt zu werden, dagegen interessiert uns die Bewertung von Dingen und Menschen, weil sie, in ökonomische Termini umgeformt, in unsere Rechnung eingehen: als Qualität und Qualifikation. Beide Phänomene gehören der Sphäre der Werterscheinung an, wie diese der weiteren Sphäre der Interessen. Wir haben dazu geschrieben: „Jedes Begehren in seiner Eigenschaft als Interesse verleiht seinem Gegenstande einen Wert und dieser Wert erscheint dem Bewußtsein dann als eine objektive Eigenschaft des Dinges, die ihm an sich zukommt, wie etwa die Süße dem Zucker. Es sagt nicht, ich verleihe dem Ding Wert, sondern das Ding hat Wert. Die subjektive Desirabilität erscheint als objektive Utilität, so etwa wie das Licht des Mondes uns als sein eigenes erscheint."1 Völlig wissenschaftlich korrekt ist mithin nur der Ausdruck „Wert" als Substantivierung des Zeitwortes „bewerten": als Bewertung durch den Begehrenden zu verstehen. Nicht korrekt aber ist die dem Worte im gemeinen Sprachgebrauch verliehene adjektivische Bedeutung, wo es die Eigenschaft eines Dinges bezeichnet. Hier war bisher vom subjektiven Verwendungswert die Rede: dem in die Kompetenz der Psychologie fallenden Verhältnis zwischen einer Person und dem von ihr begehrten Gute. Ganz ähnlich liegt es bei dem objektiven Beschaffungswert in seiner gesellschaftlichen Erscheinungsform als Tauschwert. Auch hier faßt der gemeine Sprachgebrauch den Begriff adjektivisch als „inneren Wert" eines Dinges: er bedeutet aber auch hier nichts anderes als, in verbalem Sinne, Bewertung, und zwar hier nicht durch eine Person, sondern durch die Gesellschaft. Er bezieht sich eben auf einen soziologischen Tatbestand, das heißt auf eine Objektivität, eine Extensitätsgröße, nicht mehr wie dort auf einen psychologischen Tatbestand, eine Subjektivität, eine Intensitätsgröße.2
1 2
Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 89. Vgl. derselbe, Allgemeine Soziologie, in: System der Soziologie, Bd. I, 2. Teilbd., S. 445ff.
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Enter Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Ganz das gleiche gilt von dem Spezialfall der Qualifikation. Das Wort wird ebenfalls in der Regel adjektivisch gebraucht: als objektive Eigenschaft einer Person oder als ein Inbegriff von objektiven Eigenschaften einer Person. Aber auch hier ist wissenschaftlich korrekt nur die verbale Bedeutung: die Qualifizierung einer Person durch die Gesellschaft, kraft gesellschaftlicher Wertung. In dieser Bedeutung wird der Begriff auch gelegentlich gebraucht. Man denke an die bekannten „Qualifikationslisten", ζ. B. der Richter und Offiziere. Die darin enthaltenen Daten besagen nicht unmittelbar, daß die Individuen die ihnen beigelegten Eigenschaften wirklich besitzen, sondern nur, daß ihre Vorgesetzten die Vorstellung haben (oder zuweilen auch zu haben vorgeben), daß sie jene Eigenschaften besitzen. Ja man findet auch wohl in jener älteren Zeit, in der der Terminus in unsere Wissenschaft eingegangen ist, die Formeln: „Dem P. P. ist die Qualifikation als Leutnant, als Assessor, als praktischer Arzt verliehen worden." Hier spricht die Gesellschaft offiziell durch ihre eingesetzten Organe: in der Regel spricht sie inoffiziell, aber nicht minder entscheidend, durch ihren Apparat von Wertungen. 1 Qualifikation in diesem verbalen Sinne heißt „Qualifizierung", bedeutet also, daß die Gesellschaft eine bestimmte Person für fähig hält, eine bestimmte soziale Stellung einzunehmen, mit der wirtschaftlich je nachdem ein bestimmtes Einkommen (Gehalt usw.) oder ein zwar unbestimmtes, aber doch nach unten und oben einigermaßen begrenztes Klasseneinkommen verknüpft ist. Mit diesen Erörterungen ist für die methodische Fiktion der Statik alles Erforderliche bereits geleistet. Es gehört zu den uns gegebenen empirischen Daten, daß die sämtlichen Produzenten mit verschiedener Qualifikationshöhe „bewertet" sind und ein dementsprechendes Einkommen beziehen. Die Qualifikation wird in der Statik unmittelbar am Einkommen gemessen. Oder, arithmetisch ausgedrückt, die Qualifikationsstufen verhalten sich wie die Einkommensverschiedenheiten. Das hat Ricardo gemeint, als er schrieb: „Die Schätzung der verschiedenen Arbeitsarten wird sich bald auf dem Markte mit hinreichender Genauigkeit festsetzen. [...] Diese Skala unterliegt, wenn sie einmal festgelegt ist, nur geringen Veränderungen." Mit diesen Bestimmungen haben wir alle empirischen Daten gewonnen, die sich auf das Substrat des von uns aufzuklärenden Prozesses beziehen. Ebenso sind uns empirisch gegeben die in dem betrachteten System wirkenden antagonistischen Kräfte: das Streben aller Individuen auf das Ziel des höchsten Einkommens durch das Mittel des Kampfes um den Preis. Daraus ergibt sich nun als logisches Datum, daß das Gleichgewicht des ganzen Systems erreicht ist, wenn alle Einkommen soweit ausgeglichen sind, wie die Konkurrenz es durchzusetzen vermag. Und daraus ergibt sich schließlich ein letztes methodologisches Datum. Wir supponieren in einer methodischen Fiktion im Sinne Vaihingers jenen Zustand des Gleichgewichts erstens als erreicht und zweitens als beharrend. Das heißt: wir schließen in Gedanken jede „Störung" des Systems, d. h. jede Änderung dieser sämtlichen Daten aus, unterstellen die Unveränderlichkeit der sämtlichen Daten. Das ist das „Isolierverfahren". Unsere Annahme lautet also folgendermaßen: Die von uns beobachtete Gesellschaft erleidet weder von Seiten der Elementarkräfte noch der Politik die geringste Änderung. Die Bevölkerung bleibt an Zahl, Zusammensetzung und biopsychologischer Beschaffenheit konstant, der Apparat von Normen und Wertungen ebenfalls; die Ernten ergeben die gleichen Mengen gleicher Früchte von gleicher Güte, neue Erfindungen werden nicht gemacht, verbesserte Maschinen und Werkzeuge nicht hergestellt, aber die alten immer wieder nach Art und Güte genau im Verhältnis ihres Verschleißes wieder erzeugt; und auch wirtschaftspolitisch
1
In der Praxis des merkantilistischen Staates, ζ. B. im alten Österreich der vorjosephinischen Zeit, wurde ganz analog auch gewissen Waren amtlich „Qualität" beigelegt.
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bleibt alles beim alten: es werden ζ. B. keine neuen Steuern erhoben, keine alten ermäßigt, und die Staatsausgaben bleiben die gleichen für die gleichen Zwecke. Und so weiter: es hat keinen Zweck, dieses Datum unseres Problems noch weiter auszumalen.
4. Die allgemeine Wertformel Damit haben wir alle Daten gewonnen, um zunächst die Formel des Wertes zu entwickeln. Wir haben oben zwei Fragen gestellt: was erstreben die konkurrierenden antagonistischen Kräfte, und wo liegt ihr Gleichgewicht? Die erste Frage haben wir beantwortet: das Streben geht auf das höchste mögliche Einkommen. Damit ist implicite auch die zweite Frage gelöst. Die Antwort lautet (schon Adam Smith besaß diese Einsicht, hat sie aber leider nicht ausgewertet): Dieses Gleichgewicht liegt dort, wo die Einkommen soweit ausgeglichen sind, wie die Konkurrenz es gegen ihre „Hemmungen" bewirken kann. Oder: soweit nicht die Konkurrenz durch ihre Hemmungen verhindert ist, diese Ausgleichung zu vollziehen. Das heißt also, um es zu wiederholen, bei einer Relation aller Preise, wo den Pionieren alle Vorteile der Konjunktur, die ganzen Vorteile, und nichts als diese Vorteile, abgejagt sind, die sie ihrem kinetischen Vorsprung verdankten. Wir brauchen jetzt nur noch unter den uns gegebenen empirischen Daten unserer Rechnung jene „Hemmungen" aufzusuchen und in unsere Rechnung einzustellen, um den „Ansatz" für die Bestimmung des Wertes und des Kapitalprofits, die Statik der Marktwirtschaft, vollkommen zu besitzen. Die Hemmungen der Konkurrenz sind, wie gleichfalls schon Adam Smith festgestellt hat, die Verschiedenheiten der Qualifikation und die Monopole, erstere, weil die ihnen korrespondierende Verschiedenheit der Einkommen zu den Daten unserer Rechnung gehört. (Man könnte das auch so ausdrücken, daß in einem Spiel antagonistischer Kräfte offenbar die soziologisch stärkere mehr erreichen muß als die schwächere; letztere, weil die Konkurrenz per definitionem nicht frei wirken kann, wo ein Monopol besteht. Monopol und freie Konkurrenz sind einander ausschließende Begriffe.) Die freie Konkurrenz besteht nach Adolph Wagners prächtiger Formel überall dort, wo Jeder, der sich an einer Produktion beteiligen will, es auch kann und darf. Wenn er es nicht kann, besteht ein natürliches, wenn er es nicht darf, ein rechtliches Monopol. Die Definition des Monopols ist also die folgende: es ist eine Machtposition im Preiskampfe, die darauf beruht, daß die Konkurrenz nicht uneingeschränkt wirken kann oder darf (man sieht, daß die Definition nicht von der Aufhebung, sondern nur von der Beschränkung der Konkurrenz spricht). Aus diesen Erwägungen ergibt sich folgendes: Da alle Einkommen nur aus den Gewinnen bestehen, die der Einkommensträger während einer Einkommensperiode am Preise seiner Produkte gemacht hat, so liegt die Statik bei derjenigen Preisrelation (statische Preisrelation), wo alle Produzenten aus ihren Gewinnen am Preise gleiches Einkommen erzielen, soweit nicht Unterschiede der Qualifikation und der Stellung zu Monopolverhältnissen Verschiedenheiten bedingen. Um von hier aus bis zum letzten Ziele wissenschaftlicher Genauigkeit, nämlich zur quantitativen Bestimmtheit zu gelangen, müssen wir offenbar das „mittlere Einkommen" des „normal Qualifizierten" feststellen, der unter keinem Monopolverhältnis produziert, um sozusagen das Normalnullniveau zu besitzen, von dem aus die Abweichungen gemessen werden können. Wer normal qualifiziert ist, wissen wir bereits: es ist der „Grenzproduzent". Ricardo sagt: „Der Tauschwert aller Güter [...] wird stets bestimmt [...] durch die größere Menge von Arbeit, welche notwendig auf deren Hervorbringung von denjenigen verwendet wird, die keine solche besondere Geschicklichkeit besitzen und mit der Hervorbringung derselben unter den ungünstigsten Verhältnissen fortfahren [...]."
244
Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
(In den Worten „notwendig" und „fortfahren" ist ausgedrückt, daß es sich um eine nur für die Statik geltende Betrachtung handelt.) Wir brauchen also nur Grenzproduzenten aufzusuchen, um das Normaleinkommen zu finden, und zwar sowohl als Real- wie als Nominaleinkommen: Das Nominaleinkommen ist das des Produzenten der „Grenzmine". N i m m an, daß ihm nach Abzug der für eingekaufte Werkgüter und -dienste verausgabten Selbstkosten 10 kg Silber als Reineinkommen übrigbleiben, und daß seine Gesellschaft, wie Frankreich, aus dem Kilogramm 200 Franken schlägt: so ist sein Geldeinkommen und mithin das aller anderen Produzenten der gleichen Qualifikation, die unter keinem Monopolverhältnis produzieren, 2.000 Franken. Das Realeinkommen aber wird bestimmt durch den Produzenten irgendeines Grenzbetriebes, der Güter der Verwendung produziert, ohne unter einem Monopolverhältnis zu stehen, ζ. B. eines Grenzbauern, der per definitionem in der Statik normale Körperkraft, Intelligenz und Willensstärke besitzt und so vielen nicht Rente tragenden Boden bebaut, wie er allein bei normaler Anspannung der Kräfte bewirtschaften kann. Sein reales Einkommen, das heißt alles, was er aus den Erzeugnissen seines Betriebes mit den Seinen verzehrt, was er aus dem Erlös an fremden Gütern und Diensten der Verwendung einkauft, und was er schließlich erspart, ist in der Statik exakt 2.000 Franken wert; und umgekehrt kann sich der Grenzminenproduzent und jeder andere Grenzproduzent mit seinen 2.000 Franken reinen Geldeinkommens exakt die gleichen Lebensannehmlichkeiten leisten wie er. Die zweite Bestimmung lautete, daß unser Produzent unter keinem Monopolverhältnis produzieren dürfe. Das heißt: er darf weder Monopolist, noch Kontrahent eines Monopolisten sein; er darf keinen Monopolgewinn machen und keinen Monopoltribut abtreten. Er darf aber auch keine „Differenzialrente" aus einem „Monopoloid" (meinem „Produktionsmonopol") einstreichen. Und das alles heißt nichts anderes, als daß er ein Grenzproduzent in dem soeben dargestellten Sinne ist. Seine Produktionskosten einschließlich seines Gewinnes bestimmen bekanntlich nach Ricardo den „Wert": unseren statischen Preis. Hier muß aber eine Abweichung gegenüber der Ricardoschen Auffassung hervorgehoben werden: Ricardo faßte als den Grenzproduzenten den „Grenzkapitalisten" auf. Das dürfen wir nicht tun. Wir werden beweisen, daß der Kapitalprofit ein Monopolgewinn ist, und zwar der Gewinn eines Einkaufsmonopols, der sich als Abzug vom Lohne der „freien Arbeiter" realisiert. Aus diesem Grunde müssen wir bei der Bestimmung des normalen Einkommens des Nichtmonopolisten alle „Besitzeinkommen" aus der Rechnung lassen; ja sogar diejenigen Arbeitseinkommen, deren Höhe nur auf der Existenz einer großen Klasse von solchen Menschen beruht, die ein starkes Besitzeinkommen haben: das Einkommen also ζ. B. von hervorragenden Künstlern, Anwälten, Ärzten usw. dürfen wir aus dem Grunde nicht mit heranziehen, weil es zu großen Teilen nur aus dem Besitzeinkommen ihrer Mäzene, Klienten und Patienten „abgeleitet" ist. Ebenso müssen wir nach unten hin alle diejenigen Arbeitseinkommen aus der Rechnung lassen, die offenbar nicht hinreichen, um ihre Träger ungefähr nach den Ansprüchen der Zeit und des Landes zu erhalten: der Alten, Kinder, Krüppel, Kranken und Minderwertigen. Ferner müssen wir aus der Rechnung lassen das Arbeitseinkommen der eigentlichen „freien Arbeiter", weil es, wie wir beweisen werden, das Einkommen von Personen ist, die unter einem Monopolverhältnis, als Kontrahenten von Monopolisten, produzieren. Wenn wir uns somit auf die selbständigen, unter keinem Monopolverhältnis produzierenden und der Definition nach normal begabten Grenzproduzenten beschränken, so können wir sicher sein, das Einkommen der mittleren Qualifikation auch im Sinne des Gesetzes der großen Zahl gewonnen zu haben. Da Qualifikation gar nichts anderes bedeutet, als die Fähigkeit, ein Einkommen von bestimmter Höhe zu erwerben, und da diese Fähigkeit in der Statik per definitionem sich in dem tatsächlichen Bezüge genau dieses Einkommens auswirkt, so muß der Träger des Normaleinkommens dem „homme général" Quételets so nahe stehen, wie es für wissenschaftliche Zwecke
Wert und
Kapitalprofit
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irgend gefordert werden kann: er besitzt die mittlere Kraft und Beweglichkeit des Körpers, Geistes und Willens und die mittlere Folgsamkeit gegenüber den Normen und Wertungen seiner Gesellschaft. Diejenigen ihrer Mitglieder, die in einer dieser Eigenschaften geringer ausgestattet sind (ökonomisch gesehen: geringer; wir wissen leider, daß Unempfindlichkeit gegenüber den Strafgesetzen und Ehrgeboten der Gesellschaft eine seltenere, und darum unter Umständen höhere wirtschaftliche Qualifikation darstellt), ohne daß dieses Minus durch ein Plus bei einer der anderen Eigenschaften kompensiert oder überkompensiert wäre, sind unter dem Durchschnitt fähig und qualifiziert; und das gleiche gilt mit umgekehrtem Vorzeichen für die höheren Stufen.1 Mit diesen Bestimmungen sind wir weit genug gediehen, um unsere Ergebnisse in arithmetischen Symbolen auszudrücken. Wir nennen das Einkommen eines normal Qualifizierten, der unter keinem Monopolverhältnis produziert, E, den Zu- oder Abschlag für höhere oder geringere als die normale Qualifikation q, und den Zu-, respektive Abschlag für die Produktion unter einem Monopolverhältnis (je nachdem der Produzent der Monopolist oder sein Kontrahent ist) m. Dann ist jedes Einkommen der Gesellschaft ausgedrückt in der Formel: e¡ - E ± q¡ ± mi Aus dieser Formel für die Statik der Einkommen ergibt sich nun als einfaches Korollar die so lang gesuchte Theorie des „Tauschwertes" der einzelnen Produkte: Jeder Preis setzt sich zusammen aus dem Gewinne des Produzenten und seinen „Selbstkosten". Der Gewinn in der Statik ist das Einkommen, dividiert durch die Zahl der in der „Einkommensperiode" verkauften Produkte. Nenne ich diese Zahl, die „Produktivitätsziffer", η , und die Selbstkosten der Einheit 5 , so läßt sich der statische Preis irgendeines Produkts ausdrucken durch das Einkommen seines Produzenten, dividiert durch die Produktivitätsziffer plus den Selbstkosten:
Wir werden zuerst den ersten Teil der Formel, den Ausdruck für den Gewinn (g), betrachten. Während in der Kinetik das Einkommen sich bestimmt als Summe der Gewinne, die während der Einkommensperiode an den sämtlichen verkauften Produkten gemacht werden (Realgrund), bestimmt sich umgekehrt in der Statik der (für alle Produkte des gleichen Produzenten gleiche) Gewinn am einzelnen Stück durch das tendenziell gleiche Einkommen aller Produzenten (Erkenntnisgrund). Um nun den zweiten Teil der Formel zu betrachten, so sind zu diesem in der Statik immer gleichen Gewinne die ebenfalls immer gleichen Selbstkosten zu addieren, das heißt die Kosten, die der Produzent aufwenden muß, um andere Produkte anderer Produzenten zum Zwecke seiner eigenen Produktion zu erwerben. Auch diese Produkte stehen selbstverständlich auf dem soeben in allgemeiner Formel entwickelten statischen Preise, das heißt: sind bestimmt als die Gewinne ihrer Produzenten zuzüglich des Zuschlages für deren Selbstkosten. Es könnte scheinen, als trieben wir hier in einen regressus infinitus hinein, weil immer wieder Selbstkosten in der Formel erscheinen. Das ist aber nicht der Fall: denn man kommt fortschreitend überall auf Produkte solcher Produzenten, deren Selbstkosten gleich Null sind, weil sie an freien Naturgütern arbeiten oder „freie Arbeiter" sind. Wir haben somit genau so viele Gleichungen wie Unbekannte und können die Größe s in jedem Falle bestimmen. Man kann das auch so ausdrücken: alle Preise lösen sich auf in die Gewinne der sämtlichen beteiligten Produzenten.
1
W i r kommen unten unter Punkt IV.2 [siehe S. 268ff.] noch einmal antikritisch auf den Gegenstand zurück.
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Erster Teil: Nationalökonomie
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Wirtschaftspolitik
Diese Elimination von S läßt sich noch auf eine andere Weise vornehmen, die vorzuziehen ist, weil wir bei der ersten Methode in einzelnen seltenen Fällen zeitlich bis in eine Periode zurückgehen müßten, die ganz andere Geldpreise als die heutigen, oder gar überhaupt noch keine Geldpreise hatte. Dieser Schönheitsfehler haftet der jetzt darzustellenden Methode nicht an. Orientieren wir uns zunächst an einem Beispiel. Hier ist ein Gut, dessen statischer Preis 90,Mark ist. Der sechste Teil (15,- Mark) sei Gewinn, V6 = 75,- Mark sind Selbstkosten des Produzenten. Dafür hat er, so nehmen wir an, von fünf anderen Produzenten Werkgüter und Werkdienste gekauft, von jedem durchschnittlich für 15,- Mark. Zwei dieser Verkäufer seien unselbständige Arbeiter, die bei der Produktion ihrer Dienste keine Selbstkosten haben (das ist für den Durchschnitt der „Produktion", die auch Urerzeugung und Handel samt Transport einschließt, sehr mäßig gerechnet). Die übrigen drei Produzenten haben ebenfalls je V¡, Gewinn, also 2,50 Mark, und % Selbstkosten, also 12,50 Mark. Der Preis hat sich also bereits im zweiten Gliede aufgelöst in 15 + 30 + 7,50 = 52,50 Mark Gewinn, und es bleiben nur 37,50 Mark Selbstkosten. Auch diese sind der Preis von Werkgütern und Werkdiensten, die unsere drei Produzenten der zweiten Reihe von ihren Produzenten der dritten Reihe eingekauft haben, jeder, wie wir annehmen, wieder von je fünf Lieferanten, von denen je zwei Arbeiter sind. Auf jeden dieser im ganzen 15 Lieferanten entfallen also 2,50 Mark. Davon sind Gewinn der ganze Lohn der 3 x 2 = 6 Arbeiter, also 15,- Mark und vom Rest von 17,50 Mark wieder Ά = rund 3,- Mark zusammen 18,- Mark. Bleiben nur rund 18,- Mark noch aufzulösende Selbstkosten. Wenn wir unter den gleichen Voraussetzungen die Reihe fortsetzen, so haben wir in der vierten Reihe 9 χ 5 = 45 Lieferanten, von denen 18 als Arbeiter keine Selbstkosten haben. Auf jeden entfallen 2Λ Mark. Davon sind reiner Gewinn die 36/5 = 7 Vi Mark, die den Arbeitern zufließen, und V6 des Restes von 10 % Mark = 1 % Mark, zusammen 9,- Mark, bleiben nur noch rund Mark 9,- aufzulösende Selbstkosten. Es läßt sich leicht sehen, daß wir bei Fortsetzung der in ihren Ansätzen absichtlich uns sehr ungünstigen Rechnung (der Gewinn wird im Durchschnitt, da ja auch die Landwirtschaft einrechnet, wahrscheinlich viel mehr als 'Λ des Preises der Güter ausmachen) schnell zu einem Reste gesamter unaufgelöster Selbstkosten aller beteiligten Produzenten gelangen, den wir vernachlässigen dürfen, weil er nur noch Bruchteile eines Pfennigs ausmacht. Oder, um ein berühmtes Beispiel zu variieren, mit dem man die weitreichende Verzweigung der Arbeitsteilung zu illustrieren liebt: wohl ist technisch die Axt unentbehrlich, die den Baum fällte, aus dem die Bretter hergestellt wurden, mit denen das Schiff gebaut wurde, das Steinkohlen aus England brachte, mit denen das Eisen geschmolzen wurde, aus dem in Deutschland der Stahl erzeugt wurde, aus dem die Spinnmaschine gebaut wurde, auf der das Garn gesponnen wurde, aus dem die Strümpfe angefertigt wurden: aber in den Preis eines Paares oder sogar Dutzends von Strumpfpaaren geht der Abnutzungskoeffizient jener ersten Axt mit einem Wertdifferential ein, das vernachlässigt werden darf. Und dasselbe gilt von allen zur technischen Erzeugung notwendig gewesenen Gütern einer so weit entfernten Reihe. Wir wollen aber das Letzte leisten und auch noch arithmetisch beweisen, daß auch auf diese Weise sich der Wert s aus jeder Preisformel eliminieren läßt. Unsere Formel lautete
Wert und Kapitalprofit
247
Wir setzen jetzt, um die Reihe der immer ferneren beteiligten Produzenten zu bezeichnen, 1 statt i, und in den folgenden Gliedern der Reihe 2, 3, usw.
*l(«2
2(g}
X
ausgerechnet: = Sl + * 1 'gl + * r * 2
gi + * 1 X2 - * 3 -gi + · · · * 1 ' * 2 · * 3 •••*n-l •(&,+*»)
Hierbei stellt χ , , χ 2 usw. die Anzahl der in den einander folgenden Reihen beteiligten Produzenten dar. W i r nennen nun weiter das Verhältnis des Gewinnes zu den Selbstkosten bei den Produzenten der ersten Reihe
— =— ,
in der zweiten Reihe:
— = —
usw.
wobei wir der Einfachheit halber die erlaubte Voraussetzung machen, daß das Verhältnis bei allen Produzenten derselben Reihe das gleiche ist. Dann ergibt sich:
i l ' U l + ' l ) · - ^ . «! + 1 + 5, = v¡ ,
und da 1 Ί 1)
«ι — • «] + 1
In der zweiten Reihe ergibt sich entsprechend:
g2+s2
«2+l
248
Erster Teil: Nationalökonomie
Da
so folgt
und
Wirtschaftspolitik
g2 + s2 = — ist,
i2 = — x1
-— oder, wenn wir den Wert der Formel 1 für « 2+1
s, einsetzen:
2)
X] « ! + 1 « 2 + 1 5,2 ·Λ *1, -= «Ί ·
. , «, + 1 « , + 1
In derselben Weise ergibt sich:
Da
folgt
g}+s
s3 =
c X2
«3+1
oder, wenn wir für s 2 den Wert von Formel 2 einsetzen: 3)
s3 =
ΤΙ
X j · X2
1J
1J _
«1+1 «2+1
S,3 - ΛΧ,[ -X, A J=1A - f!
«3+1
« «, + 1 « 2 + 1
«3+1
In allgemeiner Formel ausgedrückt 4)
sn-xl-x2...x„_l=vl
«! «2 «, + 1 « 2 + 1 « 3 + 1
«„ + 1
Lasse ich also η beliebig wachsen, so vermehrt sich in gleichem Maße die Anzahl der echten Brüche «! + 1 U2 + 1 usw., mit denen vt multipliziert wird. Die Größe der noch aufzulösenden Selbstkosten s läßt sich daher bis unter jede denkbare Größe vermindern. Da zudem JLl_
immer einen merklichen Wert darstellt, die Quotienten u «+1
Wert und
Kapitalprofit
249
also wesentlich hinter 1 zurückbleiben, vermindert sich die Größe der noch aufzulösenden Selbstkosten in den einander folgenden Reihen sogar sehr rasch. Die Wertkurve der Selbstkosten verläuft bald asymptotisch auf 0. Schon diese allgemeine Formel des statischen Preises, so unvollkommen sie noch ist, genügt durchaus für die Rehabilitation der objektiven und die Abweisung der subjektiven Preislehre. Denn sie enthält nur objektive, gesellschaftlich gegebene Daten. Kein einziges Element subjektiver Nutzenschätzung ist in sie eingegangen. Gesellschaftlich, das heißt objektiv, bestimmt ist das Grundeinkommen, das allen normal qualifizierten Produzenten, die unter keinem Monopolverhältnis produzieren, in gleicher Höhe zufließt; ebenso ist gesellschaftlich objektiv bestimmt, und zwar durch den Stand der Technik, die Produktivitätsziffer; ferner der Zu- bzw. Abschlag für die Qualifikationsdifferenzen und der Zu- bzw. Abschlag für die Produktion unter Monopolverhältnissen: denn ein solches beruht immer auf einer gesellschaftlich gegebenen „einseitigen Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses". Nun läßt sich aber unsere Formel noch sehr bedeutend vereinfachen und verbessern: Wir sind erstens berechtigt, von den unter Monopolverhältnissen produzierten Gütern und daher von dem Zu- bzw. Abschlag ± m zu abstrahieren. Schon deshalb, weil alle Rechtsmonopole nicht statisch sind, sondern der Kinetik angehören: die öffentlich-rechtlichen (Patente und dergleichen) sind befristet, und die privatrechtlich, durch Vereinbarung der Produzenten geschaffenen, Monopole sind labil, weil durch die verschiedene Entwicklung der Teilhaber und durch Außenseiter in ihrem Bestände bedroht. Die Naturmonopole aber, von denen allein die ältere Theorie immer sprach (die Edelweine, die Kunstwerke verstorbener Meister usw.) bilden in der Tat, darin muß man Ricardo Recht geben, eine so kleine und bedeutungslose Klasse, daß man sie füglich vernachlässigen darf. Wir dürfen aber vor allem aus einem anderen Grunde von den Monopolgütern und ihren Preisen abstrahieren: sie sind für das große Problem der Distribution, dem die Lösung des Wertproblems vor allem zu dienen hat, ohne Bedeutung, sie tragen nichts. Wir haben das schon oben gesagt, als wir das Problem des Kapitalprofits in Ubereinstimmung mit Karl Marx stellten. Er ist abzuleiten aus dem statischen Preise der beliebig reproduzierbaren Güter. Dessen näherer Bestimmung wenden wir uns jetzt zu.
5. Die Wertformel der beliebig reproduzierbaren Güter An dem Begriff der beliebig reproduzierbaren Güter läßt sich besonders deutlich erkennen, wie wenig die Methode der Klassiker, und wie wenig daher die Klassiker selbst heute sogar von solchen Gelehrten verstanden werden, die sich als Spezialisten mit ökonomischer Theorie beschäftigen. Ich habe den Begriff in den ersten Auflagen dieses Buches1 und in meiner „Theorie"2 ausführlich festgelegt und Diehl und von Wieser nachgewiesen, daß und wie sie ihn mißverstanden haben. Amonn folgt ihnen trotzdem.3 Auch er faßt das Wort „beliebig" auf, als bedeute es „grenzenlos", aber das soll es beileibe nicht heißen. Man muß Ricardo immer ganz lesen. Hier kommt es auf den Schluß der Definition an, die Amonn zitiert:
1
[Die Erstauflage dieses Werkes erschien 1916, Oppenheimer verweist dort auf S. 76ff. Die hier vorliegende Fassung entstammt der dritten und veränderten Auflage von 1926; A.d.R.]
2
Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 476ff.
3
A m o n n , Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie, Jena 1924, S. 18.
250
Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
„Bei weitem der größte Teil der Güter wird durch Arbeit beschafft, und diese können nicht nur in einem Lande, sondern in vielen beinahe ohne jede angebbare Beschränkung vervielfacht werden, wenn wir geneigt sind, die zu ihrer Erlangung erforderliche Arbeit aufzuwenden." Das besagt nichts anderes, als daß, wenn wir (das heißt der Markt) eine vermehrte Produktion bestimmter Güter „belieben", „wenn wir geneigt sind, die zu ihrer Erlangung nötige Arbeit" unmittelbar oder, was wichtiger ist, in Gestalt von dagegen auszutauschenden eigenen Arbeitsprodukten aufzuwenden, d. h. wenn wir geneigt sind, einen entsprechend höheren Preis zu bezahlen, - diese Produktion „beliebig" ausgedehnt werden kann. Was hier festgelegt werden sollte, ist - und so ist es von den Objektivisten früher, als man die Klassiker noch verstand, ζ. B. von Adolph Wagner, auch immer verstanden worden - die disjunctio completa zwischen solchen Produkten, bei deren Produktion die volle freie Konkurrenz besteht, und solchen, bei denen sie nicht besteht, d. h. Monopolprodukten. Diese, wie z. B. Edelweine und alte Geigen, können eben nicht „beliebig" vermehrt werden, mag man auch noch so „geneigt sein, die zu ihrer Erlangung erforderliche Arbeit aufzuwenden", d. h. höhere Preise zu bezahlen. Man muß hier verstehen, daß das „Belieben" der einzelnen Individuen und daher der ganzen Marktwirtschaft, ihre Nachfrage nach einem bestimmten Produkte zu vermehren, in die engsten Grenzen, die ihrer Kaufkraft, ihres „Istbudgets", eingeschlossen ist, aus dem außer diesen, auch bei einem höheren Preise noch nachgefragten, noch sehr viele andere Güter und Dienste beschafft werden müssen, um das „Sollbudget" zu decken. Das alles waren Dinge, die sich für einen Kopf wie Ricardo von selbst verstanden. Nach dieser notwendigen Abschweifung kehren wir zu unserem Gegenstande zurück: Es ist also der Profit aus dem statischen Preise der beliebig reproduzierbaren Güter abzuleiten und nicht etwa aus einem Monopolpreise weder der Kapitalgüter, d. h. der zur Fertigstellung von Verwendungsgütern erforderlichen Werkzeuge, Roh- und Hilfsstoffe, noch der fertigen Verwendungsgüter selbst. Denn beide sind „beliebig reproduzierbar", können also in der Statik keine Monopolgewinne über den statischen Konkurrenzpreis hinaus abwerfen. Außerdem ist ein uns gegebenes Datum der kapitalistischen Gesellschaft, daß alle Kapitalisten, die beliebig reproduzierbare Güter erzeugen, einen ihrem Kapital entsprechenden Profit einstreichen, diejenigen aber, die außerdem ein Verkaufsmonopol besitzen, über diesen sozusagen „normalen" Profit hinaus noch den Surplusgewinn eines Monopoleinkommens. Nur der normale „Profit" aber ist Problem: der Surplusgewinn des Monopols läßt sich auf das Einfachste verstehen.1 Suchen wir also die Formel für den statischen Preis der beliebig reproduzierbaren Güter. Da der Zuschlag von ± m hier fortfällt, ergibt sich zunächst ihre Wertformel in folgender Gestalt:
ni
sie läßt sich aber noch viel mehr vereinfachen: wir können auch den Zu- bzw. Abschlag q eliminieren. Und zwar, weil die höhere oder geringere Qualifikation ohne Einfluß auf den Preis der beliebig produzierbaren Güter ist. Das folgt ohne weiteres aus unserer Feststellung, daß in der Statik in jedem Zweige der Grenzproduzent normale Qualifikation besitzt. Seine Produktionskosten, zu denen wir auch den ihm zustehenden Gewinn rechnen, bestimmen den statischen Preis; da sie aber eben nur den normalen
1
Ich habe trotzdem ein übriges getan und gezeigt, daß der Zu- respektive Abschlag für Monopolgewinne, respektive -tribute zwar nicht mit absoluter, wohl aber mit genügender Genauigkeit berechnet werden kann. Dieser Gegenstand interessiert uns hier nicht.
Wert und Kapitalprofit Gewinn,
251
also während einer Einkommensperiode das normale Einkommen E
einschließen, so ist
hier überall q gleich Null. Dieser Satz bedarf einer Erläuterung, die aber keine neue Schwierigkeit bedingt: der Grenzproduzent kann nämlich „erworbene" höhere Qualifikation besitzen, d. h. eine solche, zu der ein normal Begabter durch Ausbildung erzogen werden kann. In diesem Falle ist zwar sein Einkommen um einen Zuschlag höher als das des normal begabten nicht Ausgebildeten, aber der Zuschlag läßt sich genau berechnen und ohne Fehler unter „Selbstkosten" verbuchen. Die (niemals bestrittene) Formel ist schon früher, z. B. von Marx, in etwas anderer F o r m ausgerechnet worden; sie lautet in meiner Darstellung folgendermaßen: Der betreffende Produzent hat während der Ausbildungszeit das Normaleinkommen E nicht, dessen sich der nicht in der Ausbildung Begriffene bereits erfreut. Er hat ferner Selbstkosten von bestimmter Höhe für die Ausbildung aufzuwenden. Jenes lucrum cessans und dieses damnum emergens zusammen müssen in derjenigen Anzahl von Jahren amortisiert werden, die nach der Lebenswahrscheinlichkeit der voll Ausgebildete noch vor sich hat. Diesen Tilgungsbetrag schlägt er jährlich seinen Selbstkosten zu. Wenn man so vorgeht, kann man sagen, daß das Einkommen sämtlicher Grenzproduzenten beliebig reproduzierbarer Waren, auch derjenigen mit erworbener höherer Qualifikation, in der Statik gleich groß ist, und daß daher der Zuschlag q überall gleich Null ist und aus der Formel eliminiert werden kann. Die Wertformel dieser Waren lautet also:
Das erste Glied der rechten Seite dieser Gleichung ( f - r n j ist wieder der statische Gewinn an der Wareneinheit; denn alles Einkommen setzt sich ja zusammen aus den Gewinnen ( g ), multipliziert mit der Zahl der während der Einkommensperiode verkaufter Produkte, unserer Produktivitätsziffer n. Es ist also:
Also ist
gi'»i = gk 'nk - Si '«/ =
Folglich ist
Jt gk
=
?L.uadiL ni
=
gl
HL nk
oder in Worten: die Gewinne an allen beliebig produzierbaren Produkten verhalten sieb umgekehrt wie ihre Produktivitätsziffern. N u n lösen sich auch die Selbstkosten, wie oben gezeigt, durchaus in Gewinne auf: nämlich die Gewinne der sämtlichen, an der Herstellung eines solchen Gutes unmittelbar und mittelbar beteiligten Produzenten. Folglich besteht der statische Preis aller beliebig produzierbaren Güter aus nichts als Gewinnen, nach der folgenden Formel:
Diese schon sehr einfache Formel, die nichts mehr als ein Verhältnis der verschiedenen Produktivitätsziffern enthält, läßt sich nun noch mehr vereinfachen, wenn man, was sehr leicht geschehen kann, die η in Zeiteinheiten ( t ) ausdrückt. Nach der Voraussetzung arbeiten nämlich alle Grenz-
Erster Teil: Nationalökonomie
252
und
Wirtschaftspolitik
Produzenten in der Statik, weil gleich qualifiziert, gleich lange mit gleicher Intensität.1 Folglich verhält sich ihre Produktivitätsziffer umgekehrt wie die auf jedes Produkt verwendete Arbeitszeit. Wir erhalten also folgende Formel: _ Σ1' k
v
Y^tk
_ Ά k
T
Das heißt, daß die statischen Preise der beliebig reproduzierbaren Produkte sich verhalten wie die auf sie von sämtlichen beteiligten Produzenten verwendete Gesamtarbeitszeit. Und diese stellt hier, wo keine Rechtsmonopole einspielen, das Maß der natürlich gegebenen gesellschaftlichen Widerstände dar, bedingt natürlich durch die „relative ökonomische Seltenheit" der Naturgegenstände und gesellschaftlich durch den Stand der Technik.
III. Der Kapitalprofit Was wir bis jetzt als „Gewinn" des Grenzproduzenten beliebig reproduzierbarer Güter bezeichnet haben, stellt offenbar seinen Arbeitslohn oder besser: den statischen Preis der von ihm dem Erzeugnis einverleibten „zusätzlichen Arbeit" (additional labour) dar. Auch sie ist ein während der Produktion aufgewendetes Wertding, und ihr Wert muß im Preise des Produktes Ersatz finden. Wir dürfen uns daher der eleganten Formel Joseph Schumpeters bedienen und sagen mit ihm, daß der statische Preis der beliebig reproduzierbaren Güter dem Grenzproduzenten nur seine „Kosten" vergütet; darunter verstehen wir von jetzt an die Summe seiner „Selbstkosten" an baren Auslagen plus dem statischen Preise seiner zusätzlichen Arbeit. Darüber hinaus kann der Grenzproduzent beliebig reproduzierbarer Güter nach unseren bisherigen Ergebnissen keinen „Surplusgewinn" am Preise seiner Produkte, und daher kein „Surpluseinkommen" erzielen. Dieses Ergebnis scheint mit den Tatsachen in unlöslichem Widerspruch zu stehen. Kein Zweifel, daß die kapitalistischen Grenzproduzenten (also abgesehen von allen Inhabern eines Verkaufsmonopols und allen Begünstigten eines „Produktionsmonopols", das eine Differenzialrente abwirft) über ihre Selbstkosten und ihren Unternehmerlohn für geleistete zusätzliche (in der Regel dank erworbener Qualifikation höher bewertete) Arbeit hinaus auch auf die Dauer und im Durchschnitt
1
Auch das hat mir Amonn bestritten. Wenn er, wie es eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre, mein Lehrbuch eingesehen hätte, so hätte er gefunden, daß es sich ausdrücklich um eine „abgekürzte Formel" handelt, die ich in einem für Fachmänner bestimmten Aufsatz ausführlich zu erläutern nicht für nötig hielt. Hier steht (S. 450f.) das folgende: „Selbstverständlich kann diese abgekürzte Formel nur unter unserer Voraussetzung gelten, daß beide verglichenen Arbeitsmengen oder -Zeiten der gleichen .Dimension' angehören, d. h. den gleichen Wert oder statischen Preis haben. Sobald es sich nicht mehr um gleiche Anspannung gleich qualifizierter Personen handelt, gilt die Formel in dieser Einfachheit nicht mehr. Dann müssen die Arbeitszeiten auf den gleichen Wert reduziert werden, um gleicher Dimension zu sein und in eine Gleichung eingestellt werden zu können. Das geschieht bereits in den gleichen großen Stufen der Qualifikation dadurch, daß eine kürzere Zeit schwerer, gefährlicher oder unangenehmer Arbeit einer längeren Zeit gewöhnlicher Arbeit als gleichwertig betrachtet wird." Bergmannsarbeit ζ. B. wird eben - aus guten Gründen - von der Gesellschaft höher „qualifiziert". Das drückt Marx folgendermaßen aus: „Die Arbeit, die als höhere, kompliziertere Arbeit gegenüber der gesellschaftlichen Durchschnittsarbeit gilt, ist die Äußerung einer Arbeitskraft, worin höhere Bildungskosten eingehen [...] und die daher einen höheren Wert hat, als die einfache Arbeitskraft." (Das Kapital, Bd. I, S. 160.) Sein Ausdruck „gilt" ist völlig gleichbedeutend mit dem unseren „wird qualifiziert".
Wert und Kapitalprofit
253
einen Surplusgewinn erzielen, der im genauen Verhältnis zu dem von ihnen in ihrem Betriebe angelegten Kapitale steht. 1 Dieser Surplusgewinn ist das Problem des Kapitalprofits. So hat es, wie wir sahen, Karl Marx gestellt und so müssen auch wir es stellen.
1. Die Theorien Die meisten bürgerlichen Theoretiker haben sich sehr bemüht, einen Faktor aufzufinden, der es dem Kapitalisten gestattet, einen Aufschlag auf seinen Kostenpreis zu machen. Bald soll das Kapital als Inbegriff produzierter Produktionsmittel eine eigene „Wertproduktivität" besitzen, bald soll es „Arbeit leisten" oder „fruchtbar" sein, bald soll der Faktor „Enthaltsamkeit", aus dem das Kapital angeblich als Ersparnis aus früheren Produktionsperioden entstanden sei, eine eigene Vergütung beanspruchen dürfen, bald soll die „Nutzung" des Kapitals neben seinem Verbrauch, oder die „Kapitaldisposition" einen eigenen, vergütungsberechtigten „Produktionsfaktor" darstellen. BöhmBawerk hat sich in seiner klassischen „Geschichte der Kapitalzinstheorien" mit dem ganzen Aufwande seiner überragenden kritischen Kunst darum bemüht, alle diese Theoreme durch den immanenten Gegenbeweis als falsch darzutun. Das ist ihm denn auch im wesentlichen gelungen. Aber er hätte sich die große Mühe sparen dürfen. Denn alle diese Versuche der Lösung und alle ähnlicher Art, die einige dieser Erklärungen eklektisch zusammenfassen, wie sie im unendlichen Spiel der „Kombination und Permutation" immer neu auftauchen, sind längst durch eine wenig bekannte Auslassung von Marx vollkommen erledigt: „Gesetzt nun, es sei durch irgendein unerklärliches Privilegium dem Verkäufer gegeben, die Ware über ihrem Werte zu verkaufen, zu 110, wenn sie 100 wert ist, also mit einem nominellen Preisaufschlage von 10 %. Der Verkäufer kassiert also einen Mehrwert von 10 ein. Aber nachdem er Verkäufer war, wird er Käufer. Ein dritter Warenbesitzer begegnet ihm jetzt als Verkäufer und genießt seinerseits das Privilegium, die Ware 10 % zu teuer zu verkaufen. Unser Mann hat als Verkäufer 10 gewonnen, um als Käufer 10 zu verlieren, Das Ganze kommt in der Tat darauf hinaus, daß alle Warenbesitzer ihre Waren einander 10 % über dem Wert verkaufen, was durchaus dasselbe ist, als ob sie die Waren zu ihren Werten verkaufen [...] Unterstellen wir umgekehrt, es sei das Privilegium des Käufers, die Waren unter ihrem Wert zu kaufen. Hier ist es nicht einmal nötig zu erinnern, daß der Käufer wieder Verkäufer wird. Er war Verkäufer, bevor er Käufer ward. Er hat bereits 10 % als Verkäufer verloren, bevor er 10 % als Käufer gewinnt. Alles bleibt wieder beim Alten." 2 Die Widerlegung ist schlagend. Alle diese Theoreme bleiben im Privatwirtschaftlichen stecken. Sie betrachten immer nur einen vereinzelten Kapitalisten. Da läßt sich irgendein Aufschlag auf seinen Kostenpreis schon irgendwie konstruieren, wenn auch die Tatsachen und vor allem die Logik hart dabei leiden müssen. Aber die Ökonomik ist die Lehre von einer Gesellschaftswirtschait·, sie ist eine
1
W i r sehen hier davon ab, daß es geradeso verschiedene Stufen des Profits wie des Lohnes gibt. Solche Anlagen, die von der Gesellschaft als sicherer, ehrenvoller, reicher an Zukunftschancen usw. „qualifiziert" sind (mögen sie es „objektiv" sein oder nicht), werfen selbstverständlich geringeren Profit ab, als solche, die als weniger sicher, ehrenvoll usw. qualifiziert sind. Denn selbstverständlich ist dort die Konkurrenz größer, und daher das statische Angebot im Verhältnis zur statischen Nachfrage größer, und der Preis, und somit die Gewinne am Preise, und das sich aus ihnen zusammensetzende Besitzeinkommen, der Profit, geringer. Auch das gehört zu den gegebenen „Daten" unseres Problems.
2
Marx, Das Kapital, Bd. I, S. 123f.
254
Enter Teil: Nationalökonomie
soziologische
und
Wirtschaftspolitik
Disziplin. Man muß nun einmal nicht einen, sondern alle Kapitalisten zusammen ins
Auge fassen, wenn man den Profit wirklich ableiten will. Dann aber bleibt es bei dem, was Marx sagte: „Die Bildung von Mehrwert und daher die Verwandlung von Geld in Kapital, kann also weder dadurch erklärt werden, daß die Verkäufer die Waren über ihrem Werte verkaufen, noch dadurch daß die Käufer sie unter ihrem Werte kaufen." Einige gute Köpfe haben das denn auch eingesehen. Zu ihnen gehören Walras, der meiner eigenen Lösung nähergekommen wäre, wenn er einen ausreichenden Begriff vom Monopol gehabt hätte, 1 ferner Böhm-Bawerk
selbst und Schumpeter.
Böhm hat versucht zu zeigen, daß der Kapitalist zwar
mehr Geld, aber dennoch nicht mehr „Wert" erhält, denn er strecke eine Geldsumme vor, die er erst nach Ablauf der Produktionsperiode zurückerhalte. Da aber, kraft einer „perspektivischen Verkürzung", eine gegenwärtige Geldsumme höheren subjektiven Wert habe als eine künftige, so müsse er für die Wartezeit während des „Produktionsumweges" eine Vergütung erhalten, die diese Wertdifferenz ersetze. Ganz abgesehen davon, daß auch diese Theorie aus ihren eigenen Prämissen widerlegt werden kann (der Kapitalist „wartet" gar nicht auf den Wertersatz 2 ), gilt die Marx sehe Widerlegung auch gegen sie. Wenn ein Kapitalist für die Wartezeit den Aufschlag machen darf, dürfen es alle - und dann kommt eben kein Surplusgewinn heraus. Das hat Schumpeter erkannt und den Notausgang gewählt, das Problem für falsch gestellt zu erklären, wie etwa die Aufgabe, ein rechtwinkliges und dabei gleichseitiges Dreieck zu konstruieren. In der Statik, so erklärt er ausdrücklich, kann kein Profit entstehen, wohl aber entstehe er in der Kinetik mit so großer Regelmäßigkeit, daß das Phänomen den Eindruck eines statischen mache. Auch dieser Ausweg, ein wahrer Akt der Verzweiflung, da er auf die Lösung des eigentlichen Problems verzichtet, ist verriegelt: es handelt sich in der Tat um ein rein statisches Problem. 3 Den Weg zur richtigen Lösung hat Karl Marx beschritten. Aus dem Verkehr der Kapitalisten untereinander und mit den Konsumenten kann kein Profit entstehen: wohl aber ist er zu deduzieren, wenn sich nachweisen läßt, daß die Kapitalisten chen „Arbeit" bezahlen.
ihren Arbeitern
weniger als den „ Wert" ihrer zusätzli-
Da ihm zufolge der statische Preis der kapitalistisch hergestellten beliebig
reproduzierbaren Güter ungefähr ihrem „Wert", und dieser der für ihre Erzeugung notwendigen „durchschnittlichen gesellschaftlichen Arbeit" entspricht, so müssen sowohl die Kapitalisten, insofern sie bei anderen Kapitalisten Güter der Erzeugung kaufen, wie auch die Konsumenten diesen Preis bezahlen, und damit bleibt ihren Verkäufern der „Mehrwert". Der Grundgedanke war richtig, aber seine Ausgestaltung war fehlerhaft. 4 Marx hatte vollkommen recht, wenn er das Verkaufsmonopol aus der Deduktion ausschloß: Sind doch die sogenannten Kapitalgüter selbst beliebig reproduzierbar, können also keinen Mehrwert erbringen. Aber das Verkaufsmonopol ist nicht das einzige seiner Art.
2. Das Monopol Ein Monopol besteht, wie wir wissen, überall dort, wo die Konkurrenz nicht völlig frei wirken kann, und ein statisches Monopol dort, wo sie aus dauernden Ursachen nicht völlig frei wirken kann. Dieser Zustand äußert sich regelmäßig in einer „einseitigen Dringlichkeit der Nachfrage",
1 Walras, Eléments d'Economie politique pure, 4. Auflage, Lausanne/Paris 1900, S. 435f. 2 Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 665ff. 3 Ebenda, S. 664. 4 Ebenda, S.711ff.
Wert und
Kapitalprofit
255
und die Folge ist, daß der Monopolist für das von ihm hergegebene Wertding von seinem Tauschgegner (den wir in Zukunft als seinen „Kontrahenten" bezeichnen werden) mehr, und dieser weniger von dem Preisgut erhält, als bei voller freier Konkurrenz der Fall wäre. Jener streicht einen Monopolgewinn über den statischen Konkurrenzpreis hinaus ein, den dieser als Monopoltribut, d. h. als Abzug vom statischen Preise seines in Tausch gegebenen Wertdinges abtritt. Das ist das allgemeine Gesetz. Nun unterscheiden wir aus rein praktischen Gründen der leichteren Verständigung zwischen Verkauf und Kauf, je nachdem die von uns gerade betrachtete Tauschpartei Geld empfängt oder hergibt. Logisch-theoretisch besteht hier kein Unterschied: wer kauft, verkauft Geld, wer verkauft, kauft Geld. Aber es ist praktisch nützlich, zwischen den beiden Handlungen, und entsprechend auch zwischen dem Verkaufs- und dem Einkaufsmonopol zu unterscheiden. Beim ersten erhält der Monopolist mehr an Geld, als das Wertding bei völlig freier Konkurrenz wert wäre, als einen Surplusgewinn über seine „Kosten" hinaus. Beim Einkaufsmonopol zahlt der Monopolist für das gekaufte Wertding weniger an Geld, als er zahlen müßte, wenn völlig freie Konkurrenz bestände. Wenn er Wiederverkäufer ist, kann er aber das eingekaufte Wertding zum vollen Konkurrenzpreis in seine Selbstkosten einsetzen, realisiert also, nur etwas später, den Mehrwert dennoch in Geld. Daraus geht hervor, daß der Profit seinem Ursprünge nach ohne weiteres erklärt ist, wenn sich zeigen läßt, daß die Kapitalisten den Arbeitern gegenüber ein Einkaufsmonopol beim Eintausch ihrer „Dienste" besitzen. Wenn das der Fall ist, kaufen sie ζ. B. einen Dienst, der 6 Mark wert ist, für 3 Mark und verkaufen ihn, als in das Erzeugnis inkorporierten Wert, später für volle 6 Mark, womit dann der Mehrwert realisiert - und der Profit erklärt ist. Oder, um eine von mir vorgeschlagene Terminologie einzuführen: der Profit läßt sich unmöglich aus der Monopol-/Veis-Theorie, aber sehr einfach aus der Monopol-Zo^w-Theorie deduzieren. Er entsteht nicht durch Aufschlag auf den Preis zu Lasten der Konsumenten, sondern durch Abzug vom Lohne zu Lasten der unselbständigen Produzenten, der Arbeiter. Nun kann gar kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, daß in der Tat jeder Arbeitsvertrag unter einem Monopolverhältnis abgeschlossen wird, so daß der Arbeiter den Monopoltribut abtreten muß. Wir wissen, daß überall ein statisches Monopol zugrunde liegt, wo auf die Dauer das Austauschbedürfnis von einseitiger Dringlichkeit ist. Das heißt nicht, daß nur der eine Teil überhaupt das Bedürfnis des Austauschs hat, sondern daß es dem einen Teile merklich dringlicher ist als dem anderen. Und solche Dringlichkeit besteht auf selten des Arbeiters immer, wenn er einen Lohnvertrag abschließt. Er ist seinem Begriffe nach ohne ausreichende eigene Produktionsmittel und ohne ein Besitzvermögen, das ihm erlauben könnte, längere Zeit ohne Lohnverdienst zu leben. In aller Regel kann er nur kurze Zeit, oft nur wenige Tage, ohne solchen Verdienst existieren. Dagegen ist der Kapitalist seinem Begriffe nach mit Produktionsmitteln wohl versehen, die er äußersten Falles zu Gelde machen könnte, wenn er nicht schon ohnehin mit Geld oder Kredit für längere Zeit der Stillegung seines Unternehmens versehen sein sollte. Unter solchen Umständen hat er selbstverständlich im Preiskampfe um den Lohn das Ubergewicht, und der Monopolgewinn muß sich bilden. 1 Daß also ein Monopol besteht, ist evident. Die Frage kann sich nur noch darum drehen, worin es wurzelt. Wir werden sie zu stellen haben, wenn wir nicht mehr bloß nach dem Ursprung, sondern nach der Höhe des Monopolgewinns fragen werden. Zunächst wollen wir nur feststellen, daß von Adam Smith an bis auf die neueste Zeit herauf kein Theoretiker von einigem Rang die Dinge anders gesehen hat, wenn auch kaum ein einziger das Verhältnis zwischen Kapitalisten und Arbeiter als ein
1
„Der Arbeiter kann nicht warten: daher seine konstitutiv schlechtere Marktposition" (Briefs, Grundriß der Sozialökonomik, Abt. 9, Teil 1, Tübingen 1926, S. 148.)
Erster Teil: Nationalökonomie
256
und
Wirtschaftspolitik
Monopolverhältnis vollkommen verstanden hat: genannt worden ist es so unzählige Male, aber ohne daß sich die betreffenden Autoren den Mechanismus klar gemacht hätten, kraft dessen ein solches Verhältnis regelmäßig „Mehrwert" abwirft. Die einzige Ausnahme macht vielleicht Lexis, der ausdrücklich folgendes sagt: „Der großkapitalistische Unternehmer hat seinen Arbeitern gegenüber eine Art von Ankaufsmonopol in bezug der Arbeit"1. Alle ältere bürgerliche Ökonomik hat das konstante dringliche Uberangebot der Arbeit und den daraus folgenden Druck auf die Löhne mit Malthus aus einer „Übervölkerung" abgeleitet und als Monopolwirkung zwar nicht immer bezeichnet, wohl aber verstanden; - und der Sozialismus spricht bis auf das Erfurter Programm herauf überall von der „Monopolisierung" der Produktionsmittel, freilich ebenfalls, ohne weiter als bis zum Schlagwort zu kommen. Marx insbesondere spricht häufig von der „Hungerpeitsche", die der Kapitalist über dem Arbeiter schwingt, und leitet die einseitige Dringlichkeit des Arbeitsangebots gleichfalls aus einer „Übervölkerung" ab, aber freilich nicht aus einer naturgesetzlich, sondern historisch bedingten, aus dem „spezifischen Populationsgesetz der kapitalistischen Wirtschaft", dem Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, kraft dessen sich eine für die Verwertungsbedürfnisse des Kapitals ausreichende Reservearmee unbeschäftigter Arbeiter immer automatisch reproduzieren muß, so daß die einseitige Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses dauernd besteht. Die Deduktion ist unhaltbar2: aber daß ein Monopolverhältnis besteht, hat er gesehen und mit unzweideutiger Klarheit dargestellt. Was er das „Kapitalverhältnis" nennt, ist nach allen Kennzeichen ein wohl charakterisiertes Klassenmonopolverhältnis.
3. Das Bodenmonopol Es ist also vollkommen klar, ja, es ist evident oder apodiktisch, daß ein Einkaufsmonopol der Kapitalisten gegenüber den Arbeitern besteht. Jetzt haben wir die Frage zu erörtern, worin es wurzelt. Daß es nicht primär im Besitz an den produzierten Produktionsmitteln, dem „Kapital", wurzeln kann, haben wir bereits festgestellt: denn diese sind beliebig reproduzierbar. Da es aber nirgends anders wurzeln kann, als in dem Besitz von Produktionsmitteln, so bleibt nichts anderes übrig, als seine Wurzel im Bodeneigentum aufzusuchen. Diese Erwägung wird gestützt durch gewisse großartige Tatsachenmassen soziologischer Feststellung. Alle bisherige ökonomische Theorie, auch die marxistische, geht stillschweigend von der Prämisse des Gesetzes der ursprünglichen Akkumulation aus. Dieses aber besagt, in meiner absichtlich paradoxalen Zuspitzung,3 daß die politische Geschichte nicht gewesen ist, oder wenigstens in den Institutionen der heutigen kapitalistischen Gesellschaft nicht die geringste Spur hinterlassen hat. Wir haben die psychologischen Gründe dieser überaus starken Zumutung an unsere Gläubigkeit sowohl in bezug auf die bürgerliche wie die Marxsche Doktrin in unserem „Staat", dem zweiten Bande unseres Systems der Soziologie, in ausführlicher geistesgeschichtlicher Darstellung dargelegt und müssen hier darauf verweisen. Was uns interessiert, ist folgendes: Alle originären Staaten sind entstanden durch Unterwerfung einer ethnischen Gruppe durch die andere. Dabei sind regelmäßig zwei Institutionen gesetzt worden: die Stände mit ihren positiven resp. negativen Privilegien und das Großeigentum an Grund und Boden. Die bürgerliche Revolution hat die eine dieser beiden Institutionen abgebaut: die Stände, hat aber die zweite unberührt gelassen: das Großgrundeigentum.
1 2 3
Lexis, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 6, S. 773. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 1087ff. Derselbe, Der Staat, in: System der Soziologie, Bd. Π, S. 258; [vgl. auch in der vorliegenden Edition, Bd. Π: Politische Schriften, Berlin 1996, S. 309-386 (Abdruck der 1. Auflage von 1907); A.d.R.].
Wert und
Kapitalprofit
257
Zweitens: es zeigt sich überall, was Marx zu seiner Zeit bei dem Stande der historischen Forschung noch nicht sehen konnte, daß der agrarische Kapitalismus führt und der industrielle nur sehr langsam und zögernd folgt.1 Drittens: Marx hat völlig darin Recht, daß Kapitalismus nur solange bestehen kann, wie eine Reservearmee, und durch sie der konstante Druck auf die Löhne besteht, der diese herabzieht oder wenigstens ihren Aufstieg hemmt. Aber es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Reservearmee vom Lande stammt, und zwar ausschließlich aus den Gebieten des Großgrundeigentums, und daß ihre „Freisetzung" nicht, wie Marx annahm, von der technischen Ausgestaltung des Betriebes, sondern lediglich von der juristischen Gestaltung des Besitzes abhängt 2 . Alle diese Dinge beweisen übereinstimmend mit voller Klarheit, daß die Ursache der einseitigen Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses auf Seiten der Arbeiterschaft in der Institution des massenhaften Großgrundeigentums gesucht werden muß, das in seiner Gesamtheit die „Bodensperre" konstituiert, d. h. die Unmöglichkeit für den kapitallosen freien Arbeiter, „ein Stück Land in sein individuelles Privateigentum und Produktionsmittel zu verwandeln, ohne den späteren Ansiedler an der gleichen Operation zu verhindern" 3 . W o diese Bedingung besteht, kann nach Marx selbst und Kautsky Kapitalismus nicht bestehen, sind Geld und Produktionsmittel so wenig Kapital, wie der „Zuckerpreis der Zucker ist": sie verwerten sich nicht. Marx selbst schreibt folgendes: „In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Grundeigentümer {das Monopol des Grundeigentums ist sogar die Basis des Kapitalmonopols) und der Kapitalisten." 4 U n d er weiß, daß ein „natürliches oder künstliches Monopol eine der kontrahierenden Seiten befähigt, über den Wert zu verkaufen, oder sie zwinge, unter ihm loszuschlagen"''. Das ist meine ganze Theorie! Aber w i r brauchen vorläufig gar nicht das Zugeständnis, daß es diese besondere F o r m des Grundeigentums ist, die den Monopolgewinn aller Besitzer von Produktionsmitteln verursacht. W i r brauchen die Frage nicht zu erörtern, ob es sich beim Bodeneigentum u m ein „natürliches" Monopol handelt, das auf einer naturgegebenen „Knappheit" des Bodenvorrats i m Verhältnis zum Bodenbedarf beruht, oder u m ein rechtliches „Oligopol", das auf der Sperrung des von Natur aus i m Verhältnis z u m Bedarf noch überreichen Vorrats an Boden beruht. W i r brauchen nur von der uns unmittelbar gegebenen Tatsache auszugehen, daß in allen kapitalistisch entfalteten Ländern ein Teil der Bevölkerung, in der Regel die Minderheit, und fast überall eine kleine Minderheit, sich im Besitze allen überhaupt verfügbaren Bodens, auch des noch nicht in Anbau genommenen oder zum Bau von Häusern usw. benutzten, befindet, während die Mehrheit, und zumeist die große Mehrheit, keinen Boden besitzt. N u n ist aber Boden ein unentbehrliches Gut für jeden Urproduzenten als Produktionsmittel, für jeden überhaupt als Standort seiner Wohnung und Werkstatt. Da nun die Besitzer von Boden mit dem Unentbehrlichen versorgt sind, so befinden sie sich gegenüber den Nichtbesitzenden, die ihres Bodens bedürfen, in einer Machtstellung, die im Preiskampf, gegenüber der einseitigen Dringlichkeit der Nachfrage, zum Monopolgewinn führen muß. In Parenthese: W i r sprechen hier, um es zu wiederholen, nicht von der Grundrente, die für uns kein Problem mehr darstellt, sondern lediglich von dem Kapitalprofit, den auch der kapitalistische
1 2 3 4 5
Oppenheimer, Der Staat, in: System der Soziologie, Bd. II, S. 693; [vgl. auch in der vorliegenden Edition, Bd. II: Politische Schriften, S. 309-386; A.d.R.]. Derselbe, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 1099, sowie: derselbe, Der Staat, S. 703ff. [vgl. auch in der vorliegenden Edition, ebenda]. Marx, Das Kapital, Bd. I, S. 733. Derselbe, Kritik des sozialdemokratischen Parteiprogramms, in: Neue Zeit, IX. Jg., Heft 1, S. 561ff. Derselbe, Das Kapital, Bd. III, 1. Teil, S. 156.
258
Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
Eigentümer des Grenzbodens, und natürlich jeder günstiger gestellte Eigentümer von Boden höherer Rentierung neben seiner Differentialgrundrente bezieht. Dieser Mechanismus wirkt sich zuerst auf dem Lande zwischen den agrarischen Kapitalisten und dem besitzlosen Landproletariat aus. W o nun Freizügigkeit besteht, muß die Konkurrenz der Arbeiter untereinander unvermeidlicherweise dahin führen, daß alle kapitallosen „freien" Arbeiter auf den gleichen Lohnsatz herabgedrückt werden. Das geschieht durch Vermittlung der
Wanderung
vom Lande in die Industriebezirke. Wenn das Bodenmonopol nicht bestünde, wäre das normale Nullniveau des Lohnes das Einkommen eines normal qualifizierten Bauern auf ausreichendem unverschuldetem Ackerlande: der Lohn des Landarbeiters ist dieses Einkommen abzüglich des Monopolgewinns. Und zwar läßt sich dieser Abzug exakt bestimmen. Im „Grenzgebiet des höchsten sozialen Drucks", bis zu dem die Absaugung der Landproletarier in die Industriebezirke noch nicht reicht, erhält der Arbeiter als Lohn das bare Existenzminimum: hier ist das „eherne Lohngesetz" bittere Wahrheit. Dieser Lohn besteht aus Geld und gewissen Naturalleistungen, Gütern, die ihrem statischen Preise nach durch die sofort zu entwickelnde Formel genau bestimmt sind. Die Differenz zwischen diesem Lohne und dem Einkommen E
des unverschuldeten Grenzbauern ist
der Mehrwert, der Profit, pro Kopf des Arbeiters. Es ist überflüssig, hier des Näheren auszuführen, wie und in welchem Maße dieser Normallohn des freien Arbeiters von der Peripherie aus bis zum Zentrum hin steigt. Wir brauchen diese Finessen nicht. Ebenso überflüssig ist es, hier eine andere Methode darzustellen, mit der es möglich ist, das Normalnullniveau nicht, wie eben geschehen, in internationaler, sondern in nationaler Betrachtung festzulegen. 1
4. Die Wertformel der kapitalistisch erzeugten beliebig reproduzierbaren Güter Diese Erörterungen geben uns die Möglichkeit, ein Problem zu lösen, mit dem sich die älteren Vertreter der objektivistischen Wertlehre umsonst abgequält haben: das des statischen Preises der kapitalistisch
hergestellten
beliebig reproduzierbaren Güter. Hier würde kein Problem bestehen,
wenn jeder Kapitalist von seinen eigenen Arbeitern die ganze Differenz zwischen dem statischen Preise des Produktes und demjenigen Bestandteile ihres Wertes einstreichen könnte, der der Wiederersatz des statischen Konkurrenzpreises des von ihnen zur Erzeugung beigesteuerten Dienstes ist. Das ist aber nicht der Fall, und zwar infolge der sogenannten „Ausgleichung der Profitrate". Die Konkurrenz führt (mit der oben erwähnten Einschränkung) notwendigerweise dahin, daß jeder Kapitalist einen der Größe seines Kapitals genau entsprechenden Surplusgewinn aus Profit macht. Ein Kapitalist, der z. B. 10.000.000 Mark in seinem Betriebe investiert hat, erwirbt hundertmal mehr an Profit als ein solcher, der nur 100.000 Mark investiert hat. Und zwei Kapitalisten, die gleichmäßig je 100.000 Mark investiert haben, verdienen in der Statik genau die gleiche Profitmenge: eher kann die Konkurrenz nicht zur Ruhe kommen! Nun mag aber der eine dieser beiden Kapitalisten, deren Kapital gleich groß ist, der Natur seines Betriebes nach 100, der andere nur 20 Arbeiter (und Angestellte) zu beschäftigen nötig haben. N i m m an, diese beiden Unternehmungen stellten die ganze Gesellschaft dar (es handelt sich hier nicht um eine Deduktion, sondern ganz simpel nur um eine Illustration), und der Mehrwert betrage zusammen für beide Unternehmungen 24.000 Mark, so würde das bedeuten, daß pro Kopf des
1
Oppenheimer, Wert und Kapitalprofit, 1. u. 2. Auflage, S. 132ff.; derselbe, Theorie der reinen und politischen Ö k o n o m i e , S. 634ff.
Wert und Kapitalprofit
259
Arbeiters 200 Mark Monopoltribut abgetreten werden. Bliebe dieser Tribut jedem Fabrikanten für sich, so hätte der eine 20.000 Mark, der andere nur 4.000 Mark Profiteinkommen. Das ist in der Statik unmöglich. Die Konkurrenz befindet sich erst dann in ihrem Ruhezustande, wenn der erste wie der zweite ihre Produkte zu einem Preise verkaufen, der jedem genau 12.000 Mark an Profit übrig läßt. Der erste muß also seine Waren billiger verkaufen, als ihrem Gehalt an Arbeitsmenge, bzw. Arbeitszeit ( Τ ) entspricht, der zweite teuerer. Dieser Umstand hat, wie gesagt, den Vertretern der älteren objektivistischen Lehre die größten Schwierigkeiten bereitet. Rodbertus hat gar keinen Versuch gemacht, das Problem zu lösen; Ricardo hat sich in den sechs Unterabschnitten seines ersten Kapitels vom Werte schwer damit herumgeschlagen, und wir wissen aus seinem Briefwechsel, daß er weit entfernt davon war, mit der von ihm erreichten Lösung zufrieden zu sein. Marx hat das Problem völlig klar gestellt und dahin entschieden, daß kapitalistisch hergestellte Waren nicht zu ihrem „Werte", sondern zu dem soeben von uns bestimmten „Produktionspreise" in der Statik verkauft werden. Diese geringe Abweichung war von dem Standpunkte aus, von dem er sein Problem gestellt hatte, ohne viel Bedeutung: woran ihm lag, war, entsprechend seiner überall, soziologisch, vom Ganzen der Gesellschaft ausgehenden Anschauung, festzustellen, daß alle Arbeiter zusammen, d. h. der „Gesamtarbeiter", dem „Gesamtkapitalisten" den Klassenmonopoltribut des Mehrwerts abtritt; die Verteilung auf die einzelnen Unternehmungen interessierte ihn kaum. Übrigens ist es ein Unfug zu behaupten, daß es sich hier um eine nachträgliche Erkenntnis, um einen „verschleierten Widerruf" seiner ursprünglichen Anschauung erst im dritten Bande des „Kapital" gehandelt habe. Bereits im ersten Bande steht vollkommen klar: „Weil die Durchschnittspreise nicht direkt mit den Wertgrößen der Waren zusammenfallen, wie A. Smith, Ricardo u. a. glauben."1 Immerhin bleibt hier ein kleiner Schönheitsfehler bestehen: es stellt sich doch heraus, daß die Wertrelation dieser Güter sich doch nicht genau nach der in ihnen „geronnenen", nach Zeit gemessenen durchschnittlichen Arbeit einstellt. Wir werden später noch genauer darstellen, daß unsere Wertlehre, die ja gar nicht Arbeitsmengen- oder Arbeitszeittheorie des Warenwertes ist, diesen Schwierigkeiten entgangen ist. Wir können ohne Bedenken daran gehen, die exakte Formel auch für den statischen Preis der kapitalistisch hergestellten beliebig produzierbaren Güter zu entwickeln. Sämtliche dazu erforderliche Daten sind jetzt in unserer Hand. Wir kennen den Einzelprofit pro Arbeiter. Er ist gleich unserem Durchschnittseinkommen E abzüglich des von uns bestimmten Normallohnes (l) also gleich E-l. Sämtliche Arbeiter, x an der Zahl, treten sämtlichen Kapitalisten zusammen den Klassenmonopoltribut des Profits in der Höhe von χ • {E - /) ab. U m die Rate des Profits zu gewinnen, brauchen wir diese Ziffer, deren sämtliche Komponenten uns bekannt sind, nur zu dem gesellschaftlichen Gesamtkapital in Beziehung zu setzen. Auch dafür habe ich die Formel gefunden. Ich betrachte sie als eines der schönsten Ergebnisse meiner bisherigen Arbeit, wenn ich auch bisher (das ist bei dem heutigen Zustande der Kritik in unserem Fache leider selbstverständlich) nicht die Freude gehabt habe, sie irgendwo anerkannt zu finden: Seit Beginn unserer Wissenschaft besteht das lebhafte Gefühl dafür, daß das sogenannte „Kapital im volkswirtschaftlichen Sinne" und das „im privatwirtschaftlichen Sinne" irgendwie identisch sein müssen. Selbstverständlich kann von einer Identität der Substanz nicht die Rede sein: denn Kapital im volkswirtschaftlichen Sinne besteht aus Sachen, Kapital im privatwirtschaftlichen Sinne aber aus
1
Marx, Das Kapital, Bd. IH, S. 129, A n m . 37.
260
Enter Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Rechten, die nicht einmal immer sich auf Sachen beziehen. Aber selbst davon abgesehen: unmöglich können Sachen und Rechte, die ganz verschiedenen Dimensionen angehören, substanzgleich sein. Aber sie sind wertgleich! Ich. habe geschrieben: „In der Statik muß der autogene Tauschwert (statische Preis) des Kapitals im volkswirtschaftlichen Sinne, d. h. eines Stammes von Beschaffungsgütern, und der Kapitalisierungswert eines normalen Kapitals im privatwirtschaftlichen Sinne zusammenfallen; eher kann der Konkurrenzkampf nicht zur Ruhe kommen. Würde nämlich einmal zuviel gesellschaftliches Beschaffungsgut, d. h. volkswirtschaftliches Kapital, in Unternehmungen angelegt werden, so würde sein Gesamtprodukt an Erzeugnissen den Kollektivbedarf überschreiten; ihr Preis würde sinken, und die Basis der Kapitalisierung, der Ertrag des Produktivkapitals, sich verkleinern, so daß bei gleichbleibendem Fuß der Wert des dadurch repräsentierten Privatkapitals unter den Tauschwert der Beschaffungsgüter fallen würde. Dann wendet sich die Nachfrage der Anlagebedürftigen von dem Markte der Beschaffungs- und namentlich der Werkgüter ab und dem Markte der Anleihen zu - und das hat eine doppelte Wirkung: erstens fällt der Preis der Werkgüter, und zweitens steigt der Fuß der Kapitalisierung; denn dort sinkt, und hier steigt die Nachfrage, so daß der Kurs der fest verzinslichen Anleihen steigt, und der Zinsfuß bestimmter Geldsummen fällt. Dadurch wird die Anlage von Kapital in neuen Produktivgütern wieder rentabel: denn die gleiche Geldsumme erwirbt mehr davon, oder der gleiche Stamm kostet weniger. Und auf der anderen Seite wirft er jetzt wieder ebensoviel Ertrag ab, wie das inzwischen im Ertrage gesunkene Leihkapital. Würde umgekehrt einmal zu wenig gesellschaftliches Beschaffungsgut gebildet, so wird ihr Produkt über seinen statischen Preis, und daher der kapitalisierte Betrag des dadurch geschaffenen Privatkapitals über den Wert der Beschaffungsgüter steigen. In diesem Falle würde die Nachfrage auf dem Leihemarkte und der Fuß der Kapitalisierung sinken, und die Bildung neuer volkswirtschaftlicher Kapitale' zunehmen, bis ihr Wert wieder mit dem dadurch beschaffenen ,Privatkapitale' zusammenfiele. Eher könnte der Konkurrenzkampf nicht zur Ruhe kommen."1 Wenn wir also den statischen Preis sämtlicher Beschaffungsgüter der von uns betrachteten Gesellschaft, unter Abzug des hier gleichfalls exakt bekannten, durch die Zeit bestimmten Abnützungskoeffizienten („moralischer Verschleiß" kommt in der Statik nicht vor) addieren, so erhalten wir exakt den Wert des darauf radizierten privatwirtschaftlichen Kapitals.2 Nennen wir die auf diese Weise erhaltene Geldsumme, die das gesamte, nicht begünstigte, „normale" Kapital der von uns betrachteten Gesellschaft angibt, Κ , so drückt die Formel x(E-l) Κ
1 2
Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, 1. Auflage, S. 452f.; 5. Auflage, S. 832f. Die auf diese Weise erhaltene Summe repräsentiert nicht das gesamte privatwirtschaftliche Kapital der Gesellschaft. Dazu muß gerechnet werden der kapitalisierte Wert der sämtlichen Monopolerträge, sowohl des Ertrages von Tauschmonopolen, hier lediglich Verkaufsmonopolen, aus Patenten usw., soweit man diese als statisch überhaupt einrechnen will, und aus Naturmonopolen, ζ. B. von Weingärten besonders guter Lage, wie auch der kapitalisierte Ertrag sämtlicher Differentialrenten in Landwirtschaft und Industrie. Dieser Umstand aber stört unsere Rechnung nicht im mindesten. Denn diese Renten und Surplusgewinne aus Verkaufsmonopolen sind nicht Abzüge vom Lohn der Arbeiter, sondern werden vom Konsumenten bezahlt: bei Verkaufsmonopolen als Aufschlag auf den Konkurrenzpreis, bei Differentialrenten als Gewinn des Produzenten am Konkurrenzpreis, ein Gewinn, der der Ersparung an Selbstkosten gegenüber der Konkurrenz zu verdanken ist. Der Kapitalisierungsfaktor, mit dem diese Mehrerträge zu multiplizieren sind, wird sofort im Text ausgerechnet werden.
Wert und
Kapitalprofit
261
das Verhältnis aus, in dem der den Arbeitern abgepreßte Gesamtprofit zu dem gesellschaftlichen Gesamtkapital steht. Diese Größe ist höchstwahrscheinlich ein echter Bruch, da, soweit wir sehen können, der Profit i m Durchschnitt nirgends über hundert Prozent beträgt. Wir können ihn infolgedessen in dem Bruche 1 : a ausdrücken: dann ist a der Kapitalisierungsfaktor, mit dem jeder Reinertrag aus Profit multipliziert werden muß, um dem statischen Wert eines Kapitals auszurechnen: Nehmen wir ζ. B. an, der Bruch l:a ergebe, in Geldziffern ausgerechnet, 1:5, so repräsentiert jeder Ertrag das fünffache Kapital; ζ. B. der Ertrag von 20.000 Mark ein Kapital von 100.000 Mark Dividiert man den Kapitalisierungsfaktor in 100, so erhält man den allgemeinen statischen Profitsatz: in unserem Beispiel 20 %. Danach sind wir imstande, das jedem beliebigen Grenzkapitalisten (d. h.: jedem durch Monopole und Differentialrenten nicht begünstigten Kapitalisten) zufließende Einkommen aus Profit genau zu errechnen. Wir addieren die statischen Preise seiner Beschaffungsgüter (seines „Kapitals im volkswirtschaftlichen Sinne") und erhalten auf diese Weise den statischen Preis („Wert") seines Privatkapitals, das wir als k¡ bezeichnen wollen. Dann ist sein Profit k¡ : a . Wir wollen diese Größe mit p¡ bezeichnen. Das ist die Umkehrung, die „Probe aufs Exempel", der soeben von uns angestellten Rechnung. Wenn ein Kapital den statischen Preis von 100.000 Mark hat, und der Kapitalisierungsfaktor auf 5 steht, so hat es ein Profiteinkommen von 20.000 Mark Danach ist der statische Preis kapitalistisch hergestellter beliebig reproduzierbarer Güter durch die beiden folgenden Formeln bestimmt: a) bei nicht mitarbeitenden Kapitalisten gilt:
b) beim mitarbeitenden Kapitalisten gilt:
E + Pj V• = „ + /s • ! "i Nun läßt sich aber die zweite Formel leicht in die erste, einfachere, umformen. Wir brauchen den selbst mitarbeitenden, d. h. leitenden Kapitalisten nur als einen der von ihm selbst beschäftigten Arbeiter, bzw. Angestellten zu betrachten. In der Tat muß ja der nicht leitende Kapitalist einen leitenden Beamten mit dem Unternehmerlohn einer Arbeitskraft bezahlen, deren (in der Statik erworbene) Qualifikation zur Führung des Grenzbetriebes hinreicht. Wir rechnen daher die sämtlichen mitarbeitenden Kapitalisten in die Zahl der Arbeiter und Angestellten ein. Dadurch wird der Zähler unseres Bruches
Κ um ein sehr Geringes größer, also der Kapitalisierungsfaktor um ein sehr Geringes kleiner, da die Zahl der mitarbeitenden Kapitalisten im Verhältnis zu den unselbständigen Arbeitern und Angestellten sehr gering ist. Damit wird aber auch der Profitsatz um eine entsprechend geringe Größe größer, so daß die Profitmasse ungefähr die gleiche bleibt. Sollte hier eine Differenz gegenüber Formel a) bestehen, so kann sie sich nur in einer so hohen Dezimalstelle zeigen, daß wir berechtigt sind, sie zu vernachlässigen: Wir dürfen daher Formel a) als allgemeingültig betrachten:
262
Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
ni
Sj läßt sick genau, wie wir es oben getan haben, in anderen ν ausdrücken. Auch hier löst sich der statische Preis aller beliebig reproduzierbaren Güter auf in nichts als „Gewinne", aber in kapitalistische Gewinne aus Profit, nicht mehr in die statischen Gewinne zusätzlicher Arbeit. Die entsprechenden Formeln lauten Pi - τ -
^
Folglich verhält sich
Nun aber ist
V;
vk
»k
Σ iL «,
y Pk_
p¿ = —, a
/>*= — , a
Σ also:
vk
ykk_ k
Schon diese Formel ist sehr einfach. Sie läßt sich aber arithmetisch noch stark vereinfachen, wenn wir unsere Berechnung von ν auf ein bestimmtes Einheitskapital beziehen. Das ist ohne weiteres möglich, weil ja in der Statik alle Kapitale gleicher Größe gleichen Profit abwerfen. Was immer mit solchem Einheitskapital produziert werde: es wirft immer den gleichen Profit ab. Wir gewinnen auf diese Weise auch hier eine Konstante, die, wie oben unser £, in die Proportion irgendwelchen kapitalistisch hergestellter Waren eingestellt werden kann. Wir wollen dieses Einheitskapital k nennen. Dank dieser arithmetischen Vereinfachung bleiben als verschieden in unseren Formeln nur noch die Produktivitätsziffern der ihrem Geldwert nach gleichen, aber auf verschiedene Produktionen eingestellten Kapitale. Wir müssen diesen Ziffern jetzt eine neue Bezeichnung geben, weil sie jetzt nicht mehr die Produktivität eines beliebigen Betriebes, sondern eines Stammes von Produktivgütern von bestimmtem Geldwert ( k ) bedeuten. Nennen wir sie vi, vk usw. (Zur besseren Verständigung: unser Einheitskapital betrage 1.000 Mark. Ein mit einem Kapital von k¡ = 100.000 Mark ausgestatteter Betrieb bringe n¡ Produkte heraus. Dann ist k - 1/ 100 k¡, und entsprechend vi = 1 / 100 n¡. - Ein anderer Betrieb, der andere Produkte herausbringt, sei mit einem Kapital kk = 500.000 Mark ausgestattet. Dann ist k = 1 / 500 kk und vk = 1 / 500 nk .) Allgemein verhält sich also:
k
V;
Wert und Kapitalprofit
263
oder
k_
k Π:
V;
»k
vk
und:
Wenn wir dies in die obige Formel einsetzen, so ergibt sich
kv
vi
^
k
Σ ΓV:
vk
^
yi
Vk
Auch hier ist also in der Schlußformel nichts mehr enthalten als ein einfaches Verhältnis der verschiedenen Produktivitätsziffern. Wir erhalten fast die gleiche Schlußformel wie oben. Wie diese beiden Formeln sich unterscheiden, wird aus der folgenden Betrachtung deutlich werden: wir unterstellen sowohl in der nichtkapitalistischen wie der kapitalistischen Wirtschaft je ein technisch völlig gleiches Kapital im volkswirtschaftlichen Sinne. Beide werden unter sonst gleichen Umständen die gleiche Zahl von Produkten herausbringen. Aber sie werden sich in ihrem
Geldwert,
also als Kapitale im privatwirtschaftlichen Sinne, unterscheiden, weil das zweite aus Produktivgütern besteht, die selbst bereits kapitalistisch erzeugt sind und deshalb, kraft des Gesetzes von der Ausgleichung der Profitraten, einen anderen Preis haben, als sie in der nichtkapitalistischen Wirtschaft haben würden. Infolgedessen ist das Verhältnis von Geldwert des Kapitals zu der jeweiligen Produktivitätsziffer ( k ¡ :n¡,
kk : nk usw.) in beiden Fällen ein verschiedenes, und dementspre-
chend unterscheiden sich auch die auf das Einheitskapital (k ) bezogenen Produktivitätsziffern v¿, vk usw., und daher selbstverständlich auch die statischen Preise. Aus diesem Grunde läßt sich nun diese Formel für den Wert der kapitalistisch hergestellten, beliebig produzierbaren Waren nicht mehr in der gleichen Weise weiter vereinfachen wie die der nicht kapitalistisch hergestellten. Die Umrechnung in gleiche Zeitmengen gleich qualifizierter und gleich angespannter Arbeit ist aus dem soeben angeführten Grunde nicht mehr möglich, weil die Gewinne, aus denen sich das Einkommen zusammensetzt, nicht Arbeit-, sondern Kapitalgewinne sind. Man wird nur sagen dürfen, daß die jetzt von uns errechneten „Produktionspreise" nicht sehr stark von den früher von uns errechneten „Werten" abweichen können. Die hier durch die Ausgleichung der Profitrate verursachten Abweichungen nach oben und unten heben sich selbstverständlich gegenseitig auf, wenn man, worauf es Marx ankam, den Tribut berechnen will, den der „Gesamtarbeiter" dem „Gesamtkapitalisten" abzutreten hat. Damit ist die uns gestellte Aufgabe völlig gelöst: zu bestimmen, in welchem Verhältnis sich auf die Dauer und im Durchschnitt die beliebig reproduzierbaren Güter austauschen, d. h., warum ein bestimmtes Quantum der Ware a sich tauscht gegen ein anderes bestimmtes Quantum der Ware b.
Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
264
IV. Antikritische Nachlese 1. Die „Substanz" des Wertes Unsere am Schluß des zweiten Abschnitts entwickelte Formel für den statischen Preis der nicht kapitalistisch hergestellten beliebig reproduzierbaren Güter ν-
Τ
vk
Tk
stimmt mit der „Arbeitszeittheorie des Warenwertes" durchaus überein, wie sie vor allem Marx, aber schon vor ihm Petty und Ricardo bestimmt, und ihre bürgerlichen Nachfolger bis auf John Stuart Mill angenommen hatten. Der Unterschied ist nur, daß wir diese Formel deduziert haben, die jene „postuliert" hatten. Und daraus folgt, daß sich ihnen ein unlösbares Problem stellte, das für uns schlechthin nicht existiert: das von der „Substanz" des Wertes. Da sie unseren Ausgangspunkt, die statische Ausgleichung der Einkommen, nicht besaßen, waren sie gezwungen, nach der Substanz des Wertes zu „greifen". Nun war es ja ohne weiteres klar, daß der Gehalt an Arbeit (gemessen an der Zeit) der Waren mit ihren „Werten" (ihren Preisen auf die Dauer und im Durchschnitt) eng verkoppelt ist, wenn er sie nicht allein bestimmt. Darum schrieb schon Sir William Petty in seiner Treatise of Taxes: "If a man can bring to London an ounce of Silver out of the Earth in Peru, in the same time that he can produce a bushel of Corn, then one is the natural price of the other."1 Unsere Deduktion hat denn auch ergeben, daß diese Anschauung für die beliebig reproduzierbaren Güter einer vom Klassenmonopol des Kapitalismus freien Gesellschaft durchaus richtig ist. Aber wir haben sie auch nur für eine solche deduziert, während unsere Vorgänger von ihrem postulierten Ausgangspunkte aus in die oben dargestellten Schwierigkeiten hineingeraten mußten, da, selbst von Monopolen und von der Schwierigkeit abgesehen, die die qualifizierte Arbeit doch noch bereitete, die Formel der Wertsubstanz, d. h. die Arbeitszeittheorie, für die kapitalistisch hergestellten beliebig reproduzierbaren Güter nicht genau stimmen wollte. Wir haben die Formel auch für diese entwickelt. Diese Schwierigkeit existiert also für uns nicht. Aber es hat eine gewisse Zeit gedauert, bis ich mir dessen bewußt geworden bin. Ich habe mich - das war eine der oben erwähnten „Eierschalen" - doch noch ein wenig mit diesem Problem herumgeschlagen. Ich sah zwar sofort, daß eine ganze Anzahl von Schwierigkeiten der älteren Theorien für die meinige überhaupt nicht existierten; so ζ. B., daß meine Formel ohne weiteres auf den soeben entwickelten „Produktionspreis" der beliebig reproduzierbaren Güter führte. Aber ich quälte mich doch noch insofern mit dem Substanzproblem herum, als ich mich bemühte, meiner neuen objektivistischen Theorie einen Namen zu finden, der die Substanz des Wertes bezeichnet. Ich kam freilich schon damals zu dem Ergebnis, daß das Problem „kaum ernste Bedeutung für die Lehre im ganzen hat. Denn die Frage stellt ein rein akademisches, sozusagen ästhetisches Problem. Ihre Lösung ist der goldene Knopf auf dem Kirchturm, das Zeichen der letzten Vollendung, aber sie unterbaut nichts." Seitdem habe ich erkannt, daß das ganze Problem überhaupt nur noch in einer dogmenhistorischen Betrachtung der Erwähnung wert ist.2
1 2
Petty, Treatise of Taxes, Ausg. Hull, vol. I, Cambridge 1899, S. 50. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 778, 797.
Wert und
Kapitalprofit
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Aber, wie gesagt, 1916 suchte ich noch nach einem die Wertsubstanz bezeichnenden Namen für die Theorie. Ich bezeichnete sie, schon damals mit starken Vorbehalten, als die Arbeitswerttheorie des Warenwertes, um sie der älteren Ricardoschen Arbeitsweragerctheorie und der darauf aufgebauten Marx sehen Arbeitszezrtheorie des Warenwertes einigermaßen zu kontrastieren, obgleich mir selbstverständlich klar war, daß darin kein Unterschied der grundsätzlichen Auffassung, sondern eben nur der Betonung, liegen sollte: selbstverständlich ist auch die Ricardosche sowohl wie die Marxsche Wertlehre prinzipiell eine „Arbeitswerttheorie des Warenwertes". Denn jede Werterklärung ist eine Gleichung, muß eine Gleichung sein, weil der Wert ein Maß ist, und alle Maßausdrükke nichts als Gleichungen sind. In einer Gleichung dürfen aber nur Größen „gleicher Dimension" stehen·, das ist ein Elementarsatz der Arithmetik. Man kann Längen nur mit Längen, Gewichte nur mit Gewichten usw. messen. Alle Gleichungen für den Wert, die wir bisher aufgestellt haben, haben überhaupt nur unter der einen Voraussetzung einen Sinn, daß auf beiden Seiten nichts vorkommt als Wertausdrücke. Nicht einmal das wird heutzutage von Leuten mehr verstanden, die als angebliche Fachmänner für theoretische Ökonomik das kritische Richtschwert schwingen. Das wird durch die folgende Polemik gezeigt, zu der ich einmal gezwungen wurde: In Nr. 11 des Jahrgangs VI., 1915 des „Kampf", des offiziellen wissenschaftlichen Organs der österreichischen Sozialdemokratie, ließ Herr Paul Brunner über meine Broschüre „Die soziale Frage und der Sozialismus" eine kritische Anzeige vom Stapel, die den Titel trug: „Herr Oppenheimer, der marxistische Bourgeois". Die Redaktion verweigerte mir mutvoll die Erlaubnis zur Erwiderung, der ich den Titel geben wollte: „Herr Brunner, der anti-marxistische Marxist". Ich lasse aus dem liegengebliebenen Manuskript, dessen positiver Inhalt im vorhergehenden verarbeitet worden ist, das Polemische folgen, nicht Herrn Brunner zu Ehren, sondern weil die Sache wohl einer größeren Ausführlichkeit wert ist: Ich bin Herrn Brunner dankbar, erstens, weil er sich auf meine Herausforderung gestellt hat, und zweitens weil er mich viel liebenswürdiger behandelt hat, als ich es von jener Seite gewöhnt bin. Er hat sich bemüht, meine Anschauungen und Behauptungen korrekt und vollständig wiederzugeben; und auch der Tenor seiner eigenen Ausführungen zeugt von gewisser Milde. Die althergebrachte, sozusagen rituelle ungeheure Heiterkeit über die geistigen Defekte des unglücklichen Angreifers ist ja noch zum Ausdruck gebracht (irre ich mich, wenn sie mir ein klein wenig gezwungen erscheint?): aber es fehlt ganz und gar die eigentlich doch auch zur Liturgie gehörige Entrüstung über die entsprechenden sittlichen Defekte. Und nun zur Sache: Ich habe der Marx sehen Arbeits-Zeit-Theorie des Warenwertes meine „Arbeits-Wert-Theorie" des Warenwertes entgegengestellt. Dazu bemerkt Herr Brunner·. „Schon der Name der neuen Lehre macht uns stutzig. Der Arbeitswert als Wertmaßstab? Höchst sonderbar und unlogisch klingt das!" Wirklich? Ach, Herr Brunner, als ein kritischer Richter, der nach dem Marxschea Kodex seine Urteile zu fällen hat, sollten Sie wirklich wissen, daß auch die Marx sehe Wertlehre im Grunde eine „Arbeitswerttheorie des Warenwertes" ist.1 Und wenn Sie nur ein wenig nachdenken wollten, würden Sie finden, daß es gar nicht anders sein kann. Es gibt nämlich einen Elementarsatz, - ich bitte um Verzeihung, wenn ich hier mit ABC-Weisheiten komme, aber, wenn man dazu gezwungen wird ... - der sich auf den Geltungsbereich von Gleichungen bezieht: und das werden Sie ja wohl wissen, daß alles Messen auf Gleichungen hinausläuft, und daß das Problem des Wertes ein
1
Marx sagt ausdrücklich: „Ist der Wert dieser Kraft höher, so äußert er sich aber auch in höherer Arbeit und vergegenständlicht sich daher in denselben Zeiträumen in verhältnismäßig höheren Werten."
Enter Teil: Nationalökonomie
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und
Wirtschaftspolitik
wohl wissen, daß alles Messen auf Gleichungen hinausläuft, und daß das Problem des Wertes ein Messungsproblem ist. Jener Elementarsatz lautet, daß in einer Gleichung nur „gleichdimensionale Größen" vorkommen dürfen. Das heißt: ich kann Längen (Strecken) nur mit Längeneinheiten, Gewichte nur mit Gewichtseinheiten, Volumina nur mit Volumeinheiten, Temperaturen nur mit Temperatureinheiten usw. messen. Und so kann ich Werte nur mit Werteinheiten messen. So wenig ich sagen darf: der Weg von London nach Berlin ist 99° Celsius oder 123 Kilo, oder: das Gewicht der Bavaria ist 1296 Hektoliter oder 70 Kilowatt - geradeso wenig darf ich sagen: der Wert dieser Uhr ist 23 Stunden. Das hat Karl Marx, der als Schüler Hegels in solchen Formalien stärker war als mancher seiner heutigen Adepten, sehr gut gewußt. Und darum hat er als Wertmaß selbstverständlich eine Werteinheit aufgestellt und zwar eine Arbeitswerteinheit, nämlich den Aufwand einer selbst Wert besitzenden und daher Wert bildenden Substanz während einer bestimmten Zeit, einer Stunde, eines Tages, eines Jahres. Sein Wertmaß ist eine Stunde usw. einer Arbeit von bestimmtem gesellschaftlichen Wert, nämlich eine Stunde usw. einer „gesellschaftlich nützlichen" und gleichzeitig „gesellschaftlich notwendigen" oder „gesellschaftlich durchschnittlichen" Arbeit. Nicht die Zeiteinheit als solche ist sein Wertmaßstab (was ganz unsinnig wäre); aber auch nicht die auf beliebige menschliche Arbeit verwandte Zeiteinheit. Er weiß, das menschliche Arbeit nur Wert bildet, wenn sie für die Befriedigung eines gesellschaftlichen Bedürfnisses erforderlich, d. h. „gesellschaftlich nützlich"1 ist: die Arbeit eines Bergsteigers kann noch so viele Meterkilogramm leisten, sie schafft keinen Wert. Ja, selbst solche Arbeit, die beabsichtigt, gesellschaftlich nützliche Produkte herzustellen, kann wertlos sein, wenn sie „überflüssig verausgabte Arbeitszeit"2 darstellt, weil entweder das vermutete gesellschaftliche Bedürfnis in Wirklichkeit nicht vorhanden war, oder zwar vorhanden war, aber von anderen Produzenten bereits befriedigt wurde. Das Wertmaß ist also ein Wert: wertschaffende, oder vielmehr: ihren eigenen Wert übertragende Arbeitszeit. Aber damit ist, wie Marx sehr wohl erkennt, das Wertmaß nur qualitativ, aber noch nicht quantitativ bestimmt, und das ist die Hauptsache. Wir brauchen zum Zweck des Messens überall eine quantitativ genau bestimmte Einheit des qualitativ geeigneten, weil „gleichdimensionalen" Maßobjektes. Diese Einheit versucht Marx zu gewinnen, indem er eine Arbeit von ganz bestimmtem eigenen Wert und daher ganz bestimmter Wert bildender Kraft herausgreift, nämlich die „gesellschaftlich durchschnittliche" oder „gesellschaftlich notwendige" Arbeit. Und das ist die Arbeit, die sich charakterisiert als Verausgabung einer „durchschnittlichen" und, nach dem Stande der jeweiligen Technik, „durchschnittlich", „notwendig", mit Produktionsmitteln bewaffneten „Arbeitskraft" für gesellschaftlich notwendige Zwecke. Und diese Arbeitskraft hat, wie man weiß, nach Marx selbst Wert, und zwar, wie er annimmt, den durch ihre Produktionskostenarbeit bestimmten Wert. Wenn Marx also als von seinem Wertmaß von der „Arbeitsstunde", dem „Arbeitstage" usw. spricht, so ist das ein kurzer, aus denkökonomischen Gründen terminologisch gekürzter Ausdruck für einen komplizierten Begriff, nämlich: während einer Stunde usw. verausgabte Arbeitskraft bestimmten Wertes, oder noch klarer: während einer Stunde verausgabter Wert von bestimmter Größe. Der Begriff „Arbeitsstunde" will genau so exakt verstanden werden, wie etwa der Begriff „Kilowattstunde". Das bedeutet auch nicht etwa eine Stunde, in der irgendeine elektrische Arbeit geleistet wird, sondern eine Stunde, während deren eine Arbeit von genau bestimmter Größe geleistet wird. Die „Arbeitsstunde" ist also selbst ein Wert und konnte nur darum, als „gleichdimensional", als Wertmaß benützt werden. Wer sie als „Zeit" auffaßt, imputiert Marx den plumpsten aller elementa-
1 2
Marx, Das Kapital, Bd. I, S. 70. Ebenda, S. 71.
Wert und
Kapitalprofit
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ren Fehler und sieht lächerlicherweise nicht, daß die Angabe der „Arbeitszeit", bei den „Arbeitsstunden" wie bei den Kilowattstunden, nichts weiter bedeutet als die Zählung der aufgewendeten und gemessenen Werteinheiten. Ob dieses Wertmaß brauchbar ist, ist eine Frage für sich. Jedenfalls hatte Marx, nachdem er es einmal definiert hatte, nicht mehr nötig, jedesmal ausdrücklich zu betonen, daß sein Maßstab selbst ein Wert sei, so wenig wie es uns bei Längenmessungen jeweils einfallen wird, ausdrücklich hervorzuheben, daß ein Meter ein Längenmaß und nicht ein Temperaturmaß ist. Was uns bei Längenmessungen allein noch interessiert, und was Marx bei seinen Wertmessungen ebenfalls allein noch interessierte, bestand einzig und allein darin, festzustellen, wie oft sein Maßstab in dem zu messenden Objekt enthalten war, d. h. eben zu messen. Darum spricht er nur von der Zahl der Arbeitsstunden, gerade wie der Geodät nur von der Zahl der Kilometer spricht. Aber sein Maß bleibt darum doch ein Wert, und zwar ein Arbeitswert, und seine Theorie eine Arbeitswerttheorie des Warenwertes. Nun habe ich, weil Marx nach meiner Meinung die Bedeutung der bloßen Zahl von Arbeitswertstunden stark überschätzt, d. h. der „Arbeitszeit" mehr Bedeutung beimißt als ihr zukommt, seiner Theorie als „Arbeitszeittheorie" die meine gegenübergestellt, die ich als „Arbeitswerttheorie" bezeichnet habe. Das sind Bequemlichkeitsausdrücke, kurze Bezeichnungen für komplizierte Begriffe, die rein denkökonomisch gemeint und vielleicht nicht glücklich gewählt sind 1 : und da kommt ein angeblicher Marxschüler und jedenfalls wohlbestallter marxistischer Richter und nimmt das Wort beim Worte, bildet sich ein, Marx habe in der Tat eine Arbeitszeittheorie des Wertes im strengen Sinne des Wortes vorgetragen, und befindet jede Arbeitswerttheorie an sich - nicht nur etwa die meine, sondern grundsätzlich jede! - als „höchst sonderbar und unlogisch". Ich will nicht sagen, wie ich das finde, sondern nur wiederholen, daß auch die Marx sehe Wertlehre nichts anderes ist als eine solche „höchst sonderbare und unlogische" Arbeitswerttheorie des Wertes - und daß jede andere, ζ. B. jede wörtlich gemeinte Arbeitszeittheorie, schon formal unmöglich, ein logisch-arithmetischer Nonsens wäre. 2 Nach dieser ersten Probe wird man es begreiflich finden, wenn ich auch im sachlichen, zu dem ich jetzt schreite, vom A B C beginne. Ich werde, wie mein Herr Kritiker von Marx rühmt, ihn „nach altbewährter didaktischer Methode schrittweise, gleichsam mitforschend und mitentdeckend, dem vollständigen Gesetz näher bringen". Dabei werde ich mich, so viel wie möglich, einer Sprache bedienen, die so leicht kein Mißverständnis zuläßt, und die auch Marx mit Vorliebe anwendet, der mathematischen. Bis hierher bin ich meiner damaligen Niederschrift gefolgt. Ich entwickelte dann die Formel des statischen Preises ähnlich wie oben und fuhr darauf fort: Wir haben in unserer Gleichung auf der rechten Seite nur bekannte Größen. Und zwar lassen sich alle diese bekannten Größen ohne weiteres umrechnen auf einen Generalnenner, nämlich auf Arbeitswert, gemessen an der Zeit. Es ist das ein kombinierter Maßstab, wie wir ihn oft brauchen, ähnlich wie Kilogrammmeter (bei Kraftmaschinen) oder Tonnenkilometer (bei Eisenbahnen) oder Stundentonnen (bei Wasserfällen). So können wir auch hier E und s zurückführen auf „Arbeitswertstunden". Denn hier erzeugt jede Arbeitsstunde jedes Produzenten den gleichen Wert.
1 2
Vielleicht könnte man weniger mißverständlich sagen: unvollkommene und vollkommene Arbeitswerttheorie; aber das klänge weniger bescheiden, als es gemeint ist. Es bedarf für den Kenner der älteren Theorie keines ausführlichen Beweises, daß alle „Arbeits"-Theorie des Wertes vor Marx ebenfalls schon Arbeitszeit- und Arbeitswerttheorie war. Das ist bei Smith, Ricardo usw. ausdrücklich ausgesprochen. Wenn man hier überhaupt unterscheiden will, so kann man es nur tun, weil die älteren den Ton mehr auf die Menge, Marx mehr auf die Zeit, ich mehr auf den Wert der Arbeit lege. Aber wir wollen sämtlich die Menge einer Arbeit bestimmten Wertes an der Zeit messen.
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und
Wirtschaftspolitik
Nenne ich die Arbeitswertstunde a und die Zahl der in einem Produkt insgesamt verkörperten Stunden T, so erhalte ich also die Formel: v=T-a Das ist die Marxsche Formel des absoluten Wertes. Daraus ergibt sich die Formel für den relativen Wert wie folgt:
Das ist die Mansche
vl
Txa
Tx
v2
T2a
T2
Formel für den relativen Wert, derzufolge, um Brunner zu zitieren, die „Waren
sich im Verhältnis der zu ihrer Herstellung gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit austauschen". Dieses Ergebnis wird hoffentlich bei meinem Herrn Gegner ein gewisses Vertrauen zu der Methode hervorrufen, durch die es gewonnen wurde. Wir wollen uns aber doch die Formel ein wenig genauer anschauen. T¡ und T2 bedeuten hier nichts anderes als nackte Ziffern. Jeder Rest einer Maßbezeichnung ist aus der Formel verschwunden; übrig geblieben ist nur das bloße Maßverhältnis. Wenn
z. B. 19 und T2 76 bedeutet, so sagt
die Formel nur noch, daß ich für ein Exemplar v2 vier Exemplare v¡ eintauschen kann, denn die Werte verhalten sich wie 1:4. Nach welcher Werteinheit wir gerechnet haben, ist nicht mehr erkennbar; geradesowenig, wie es erkennbar ist, nach welcher Längeneinheit, ob nach Meilen oder Metern oder Werst, wir gerechnet haben, wenn wir einmal berechnet haben, daß sich die Strecke Berlin-Leipzig zu der Strecke Berlin-Wien verhält wie 1:4. Diese Feststellung ist vielleicht nicht ohne Bedeutung. Sie erklärt wenigstens, wie es möglich ist, daß schwache Mathematiker und Logiker, die sich nur die nackte Schlußfassung anschauen, zu der „höchst sonderbaren und unlogischen" Auffassung kommen können, man könne Werte mit Zeiten messen. „Sapienti sat"!
2. Die Qualifikation Der zweite Gegenstand, der hier antikritisch gesichert werden muß, ist mein Begriff der „Qualifikation". Es ist klar, daß meine Formeln mit ihm, und namentlich mit der Möglichkeit, den „durchschnittlich qualifizierten Produzenten" aufzufinden, stehen und fallen. Hier weicht Amonns
Auffassung noch von der meinen ab, wenngleich sich auch hier erfreuli-
cherweise die Annäherung schon so weit vollzogen hat, daß ich auf eine vollkommene Einigung zu hoffen wage. Ich habe die Qualifikation definiert: „als die Fähigkeit einer ökonomischen Person, Produkte zu Markte zu bringen, die im Verhältnis zu den Produkten anderer Personen ein höheres (bzw. geringeres) Einkommen erbringen" 1 . Amonn
erklärt 2 , diese Definition nicht bestreiten zu
wollen. Er habe sich „ja schon früher auf ihren Boden gestellt". Aber er könne, sagt er, es nicht als ihre Konversion anerkennen, „daß jeder, der ein geringeres (bzw. höheres) Einkommen aus seinen Produkten erzielt als ein anderer, geringer (bzw. höher) qualifiziert ist. Das brauche ich wohl nicht zu beweisen. Es liegt offenkundig wieder eine Verwechslung der Fähigkeit mit der Ausnützung
oder Verwertung der
Fähigkeit vor. Ich bin mir vollkommen bewußt, daß ich dem Sinn, den Oppenheimer
1 Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 468. 2 Amonn II [siehe oben, S. 234, Anm. 3; A.d.R.], S. 592.
mit seiner
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Definition verbindet, nicht vollständig gerecht werde. E r gebraucht das W o r t ,Fähigkeit' offenbar in einem anderen
Sinn, als es in der gewöhnlichen Sprache üblich ist, er sagt aber niemals
klipp und klar, was er darunter versteht." N u n , ich will m i c h mit der allerdeutlichsten Klarheit ausdrücken: ich brauche „Fähigkeit" in der Bedeutung, in der die gewöhnliche Sprache ζ. B . von der „Zahlungsfähigkeit" eines Kaufmanns, der „Wettbewerbsfähigkeit" eines Fabrikanten, der „Stehfähigkeit" eines Leichtathleten spricht. All das ist nichts als der nackte Ausdruck der empirischen Tatsache,
daß der Kaufmann seine Verpflichtun-
gen erfüllt hat, daß der Fabrikant seine Produkte mit Vorteil zu dem gleichen Preise verkauft hat wie seine Konkurrenz, und daß der Athlet eine Langstrecke in guter Zeit durchlaufen hat. N u n bedeutet aber das W o r t „Fähigkeit" in der gewöhnlichen Sprache noch etwas anderes, nahe Verwandtes, nämlich einen Inbegriff von persönlichen und sachlichen Eigenschaften, kraft deren die Fähigkeit im ersten Sinne vorhanden, d. h. der ökonomischen Person die Möglichkeit
gegeben
ist, die betreffenden Produkte zu Markte oder die betreffenden Leistungen zustande zu bringen. W i r sagen ζ. B., daß die „Zahlungsfähigkeit" eines Kaufmanns durch den Bankrott eines Geschäftsfreundes erschüttert ist, daß eine Spinnerei von 1.000 Spindeln unter heutigen Verhältnissen nicht „wettbewerbsfähig" ist, daß ein berühmter Langstreckenläufer durch eine Erkrankung
seine
„Stehfähigkeit" verloren hat. 1 Ich habe den Ausdruck Fähigkeit gerade dieser Doppelbedeutung wegen mit gutem Bedacht gewählt, weil er, richtig verstanden, aus diesem Grunde auch für die kinetische Betrachtung verwertbar ist, die uns auch hier wieder den „Realgrund" für das statische Gleichgewicht zu geben hat. H i e r entscheidet nämlich nicht, wie in der Statik, nur die Tatsache,
sondern oft bereits die
Möglichkeit,
gegeben in jenem Inbegriff von persönlichen und sachlichen Eigenschaften, über Art und Produktion, weil sie über die Wahl und eventuell den Wechsel des Berufs entscheidet. H i e r setzen Amonns
Bedenken ein; er schreibt in seiner Kritik etwa das Folgende: H i e r ist ein
Mensch, der zwischen zwei Berufen zu wählen hat. F ü r beide besitzt er die volle Begabung des Körpers und Geistes, aber der eine Beruf ist schwerer, unangenehmer oder gefährlicher als der andere. E r wird ihn nur wählen, wenn ihm in Gestalt höheren Preises für seine Arbeit oder seine Erzeugnisse ein Äquivalent für das größere O p f e r gewährt wird. Folglich bestehe die von mir behauptete T e n d e n z zur Ausgleichung der E i n k o m m e n nicht einmal zwischen den gleich Qualifizierten. Darauf habe ich zunächst in meiner Replik mit Ausführungen über die „soziologische Bestimmtheit" der Qualifikation geantwortet, die oben in größerer Ausführlichkeit wiederholt worden sind. Sie schlossen folgendermaßen: F ü r uns ist nur das eine maßgebend, daß in der von uns betrachteten Gesellschaft diese Auffassungen herrschen. W o sie aber herrschen, da ist es klar, daß in der Kinetik
den als angenehmer usw. angesehenen Berufen im Verhältnis zur Nachfrage mehr, den
anderen weniger Adepten zuströmen: daß daher die Konkurrenz dort schärfer, hier weniger scharf wirkt; daß daher in der Statik dort der Preis der Arbeit geringer, hier höher sein muß. Das aber heißt schließlich nichts anderes, als daß die Angehörigen der weniger anziehenden Berufe
höher
qualifiziert sind. W e n n also, um sein Beispiel zu benützen, ein Knabe im Bergwerksbezirk vor der Berufswahl steht, so ist i h m die gesellschaftliche Tatsache gegeben, daß er als Bergmann ein bestimmtes M e h r an L o h n verdienen oder ein bestimmtes Minder an Arbeitsstunden zu leisten haben wird wie als
1
Die gleiche Doppelbedeutung findet sich auch bei Sachen. Man spricht ζ. B. von der Backfähigkeit eines Mehls und meint damit nichts anderes, als daß dieses Mehl sich leicht verbacken läßt. Aber man sagt auch hier ζ. B., daß ein aus ausschließlich deutschem Weizen hergestelltes Mehl seines großen Wassergehalts wegen nur schlechte „Backfähigkeit" besitzt.
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Handwerker. Wenn er trotzdem den angenehmeren oder weniger gefährlichen Beruf wählt, so ist er eben deshalb als minder qualifiziert gekennzeichnet: er zieht das kleinere Mittel zum kleineren Erfolge dem größeren Mittel zum größeren Erfolge vor. Darauf hat Amonn in seiner Duplik das folgende erwidert: „Da ist erstens die Voraussetzung der Ausgleichstendenz der Einkommen in der Statik. Oppenheimers Bemühungen, die Richtigkeit dieser Behauptungen zu erweisen, scheinen mir leider nicht von Erfolg gekrönt zu sein. Wenigstens ist es mir nicht möglich, mich als überzeugt zu bekennen. Daß die Anschauungen über die ,Annehmlichkeit usw.' der verschiedenen Berufe soziologisch bestimmt' sind, das will ich gewiß nicht bestreiten, aber es scheint mir nicht, daß dieser Tatsache irgendeine Relevanz für die behauptete Tendenz der Ausgleichung der Einkommen Gleichqualifizierter in der Statik zukommt. ,Denn was bedeutet Qualifikation? Es bedeutet nichts anderes als die Fähigkeit einer ökonomischen Person, Produkte (Güter oder Dienste) zu Markte zu bringen, die im Verhältnis zu den Produkten anderer Personen ein höheres als deren Einkommen erbringen.' So spricht Oppenheimer selbst. Nun, angenommen, zwei haben gleiche (Fähigkeit' in dieser Hinsicht, - Oppenheimer variiert leider mein früher als Gegeninstanz gebrachtes Beispiel so, daß das punctum saliens nicht mehr zur Geltung gelangt, - nämlich die Fähigkeit, sowohl höher als minder bezahlte Produkte (Güter oder Dienste) zu Markte zu bringen, also ,Produkte, die im Verhältnis zu den Produkten anderer Personen ein höheres als deren Einkommen erbringen' oder ein niedrigeres. Ist damit schon gegeben, daß sie sich beide dem Berufe zuwenden, in welchem sie das höhere Einkommen gewinnen können? Da steht wohl noch in Frage, ob die Differenz im Einkommen die Differenz der Annehmlichkeit, der Gefährlichkeit, der Anstrengung, nach ihrer subjektiven' Schätzung aufwiegt, die .subjektive' Schätzung mag nun rein subjektiv oder objektiv durch die gesellschaftlichen Anschauungen, Traditionen usw. bedingt sein. Auf jeden Fall ist ein derartiges Aufwiegen neben der Tatsache der .Qualifikation' oder Fähigkeit, solche höher bezahlte Produkte zu Markte zu bringen und dadurch ein höheres Einkommen zu gewinnen, notwendig. Die Fähigkeit allein ist nicht entscheidend, auch wenn man darunter nicht bloße intellektuelle ,Begabung' versteht, sondern auch .moralische' Fähigkeit. Nun scheint Oppenheimer sagen zu wollen, wenn einer ,trotzdem den angenehmeren oder weniger gefährlichen Beruf wählt', obwohl er weiß, daß damit ein geringeres Einkommen verknüpft ist oder ein gleich großes nur bei größerer Arbeitszeit, - eine Annahme, die jener, daß in der Statik alle gleich lang arbeiten, eigentlich widerspricht, ein Widerspruch, der bei Oppenheimer dafür charakteristisch ist, daß sein Denken selbst von der dieser Behauptung widersprechenden Wirklichkeit sich nicht freimachen kann1 - , so ist er eben deshalb als minder qualifiziert gekennzeichnet', so nimmt er als kennzeichnend für den Begriff der Qualifikation' nicht mehr die .Fähigkeit', sondern einfach die Tatsache einer bestimmten Wahl. Damit ist aber dann eine petitio principii gesetzt: er setzt schon voraus, daß die Qualifizierten ein höheres Einkommen beziehen, indem er eben diejenigen qualifiziert' nennt, die einen Beruf ergreifen, der ein höheres Einkommen erbringt. Natürlich setzt dies auch die .Fähigkeit' voraus, aber nicht die Fähigkeit, höher bezahlte Produkte zu erzeugen, ist dann das entscheidende, sondern erst die auf Grund dieser Fähigkeit vollzogene Wahl, die Tatsache, daß man höher bezahlte Produkte erzeugt. Logisch ausgedrückt: der Satz Oppenheimers ist nunmehr ein rein analytisches Urteil, und aus einem solchen können sich keine empirischen Erkenntnisse ergeben."2 Über den letzten Satz werden wir im nächsten Abschnitt zu sprechen haben. Hier will ich mich vorläufig nur auf den Streitpunkt: Qualifikation beschränken. Dazu das folgende: 1 [Vgl. dazu im vorliegenden Band, S. 252, Anm. 1 (im Original, S. 26, Anm. 1), A.d.R.] 2 Amonn [I, siehe oben, S. 234, Anm. 2; A.d.R.], S. 125ff.
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Kapitalprofit
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Amonn legt mich vollkommen richtig aus: nicht die Fähigkeit im zweiten Sinne, höher bezahlte Produkte zu erzeugen, ist das Entscheidende, sondern die auf Grund dieser Fähigkeit vollzogene Wahl, die Tatsache, daß die betreffende ökonomische Person höher bezahlte Produkte erzeugt (Fähigkeit im ersten Sinne). Das gilt sogar schon für die Kinetik: Wer Fähigkeit 2 hat, aber sie nicht für Fähigkeit 1 ausnützt, ist geringer qualifiziert als sein Konkurrent von gleicher Fähigkeit 2, der es tut. Es gilt aber vor allem für die Statik, die uns ja in diesen Betrachtungen fast allein interessiert. Ich nenne in der Tat diejenigen „qualifiziert", die einen Beruf ergreifen (und ausüben), der (ihnen) ein höheres Einkommen erbringt. Das ist meine Definition des Begriffes Qualifikation. Sie enthält nicht ein Gran von „Erklärung", sondern ist nichts als eine Begriffsbestimmung. Ich könnte sie jetzt, nachdem ich den Begriff „Fähigkeit" so ausführlich erläutert habe, auch mit „Einkommensfähigkeit" übersetzen. Um aber womöglich jedes weitere Mißverständnis auszuschließen, will ich den zweideutigen Ausdruck „Fähigkeit" durch einen eindeutigen ersetzen, wennschon das zu Schwerfälligkeiten führen muß, da die gewöhnliche Sprache keinen anderen mir bekannten Ausdruck für das besitzt, was hier ausgedrückt werden soll: Qualifikation ist der Ausdruck der gesellschaftlichen Bewertung von Produzenten, gemessen an ihrem Einkommen (geradeso wie „Qualität" der Ausdruck der gesellschaftlichen Bewertung von Gütern ist, gemessen an ihrem Preise). Wer für seine „zusätzliche Arbeit", werde sie nun als Gut oder als Dienst produziert, ein höheres Einkommen erzielt, ist höher qualifiziert als jemand, der ein geringeres Einkommen erzielt, und zwar - in der Statik - genau im Verhältnis zu der Verschiedenheit der Einkommen. Die Qualifikationsstufen verhalten sich wie die Einkommensverschiedenheiten·, wir können die Qualifikation verschiedener Produzenten an nichts anderem, als ihrem Einkommen messend vergleichen. Das ist meine Definition. Und ich behaupte bis zum Beweise des Gegenteils, daß es auch einem Manne von dem Scharfsinn meines Herrn Gegners nicht gelingen wird, eine andere Definition zu finden, die der logischen Forderung entspricht, sämtliche Tatsachen des Gebietes, und nur sie, zu decken. Worum handelt es sich? Um die Tatsache, daß eine Anzahl von Produzenten aus persönlichen Gründen (also abgesehen von den durch Monopole verursachten Verschiedenheiten) ein höheres (beziehungsweise geringeres) Einkommen beziehen als andere. Und diese Tatsachen sind überaus vielgestaltig und zum Teil sehr merkwürdig: ein Boxerchampion ζ. B. hat heutzutage das hundertfache Einkommen eines berühmten Gelehrten, und die allergrößten Gelehrten und Künstler haben zuweilen überhaupt kein Einkommen von den Produkten ihres Genies! Oder eine tugendhafte Näherin nagt am Hungertuche, während eine leichtfertige Schöne im Überfluß schwelgt! Unzweifelhaft korrespondieren diese Verschiedenheiten des Einkommens mit gewissen Verschiedenheiten der persönlichen „Fähigkeiten". Ich behaupte, daß nur meine Definition auch alle diese seltsamen Tatbestände deckt. Aber ich will mich tiefer einlassen. Ich bin mir vollkommen klar darüber, daß meine Definition etwas sehr Unbefriedigendes hat. Es verlangt uns, zu wissen, auf welchen Gründen jene seltsamen Tatsachen der Bewertung durch die Gesellschaft beruhen. Indem ich diesem Gegenstande nachgehe, werde ich auch noch die letzte Aufgabe zu lösen versuchen, die die Kritik sich stellen kann: nämlich den psychologischen Quellpunkt des gegnerischen Irrtums so aufzudecken, daß der Leser versteht, wie der Irrtum möglich, fast unvermeidbar gewesen ist. Da ist zuerst zu sagen, daß wir Tatsachen von ganz der gleichen Seltsamkeit auch auf dem Gebiete der Bewertung von Sachen antreffen. Warum „schmeckt" Kaviar kraft gesellschaftlicher Bewertung „besser" als Butterbrot? Warum sind Diamanten „schöner" als Rheinkiesel, von denen sie nur der Juwelier unterscheiden kann? Warum sind gar künstliche Rubine und Smaragde, die vollkommene und völlig reine Kristalle sind, weniger hoch bewertet als echte Steine der gleichen Art und Größe, die man als echt nur an ihren Fehlem erkennen kann?!
Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
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Aber mit dieser Parallele ist unsere Zweifelsfrage nur verschoben. Wenn wir erkennen, daß sie auf ein weiteres Gebiet anwendbar ist, so haben wie um so mehr eine Erklärung nötig oder wollen wenigstens den Beweis haben, daß sie unmöglich ist. Orientieren wir uns wieder an dem Wert der „Sachen". Eine Sache wird in der Regel nur aus dem Grunde begehrt, weil der Begehrende aus persönlicher Erfahrung oder aus der Erfahrung seiner Gesellschaft, die ihm als Teil ihrer Wertungen objektiv übermittelt worden ist und subjektiv als Beweggrund in ihm wirkt, weiß, daß diese Sache die objektive Nützlichkeit hat, das empfundene Bedürfnis auch wirklich zu befriedigen, wie etwa Brot, den Hunger zu stillen, oder Chinin, die Malaria zu heilen. Nun ist das freilich „für unsere Begriffsbildung" nur akzidentell und nicht essentiell. Essentiell ist als Bedingung eines Begehrens nur die Vorstellung des Bedürfenden von der Tauglichkeit des Dinges, gleichgültig, ob sie wahr oder falsch sei.1 Es werden auch Rauschgifte, Amulette und Liebestränke begehrt, trotzdem die erstgenannten objektiv schädlich, und die beiden letzten nach der Uberzeugung der Oberschichten moderner Kulturgesellschaften ohne objektive Nützlichkeit sind. Aber es gibt doch unzweifelhaft Dinge von objektiver Nützlichkeit, von denen daher die ganz allgemein verbreitete Vorstellung besteht, daß sie objektiv nützlich sind, und die deswegen von jedermann begehrt werden - wo also die objektive Nützlichkeit die Bedingung der Bedingung des Begehrens ist. Und von diesen Dingen sagt der Sprachgebrauch, von dem man wissenschaftliche Exaktheit nicht verlangen kann, sie hätten „Wert". Hier wird das Wort rein adjektivisch als Eigenschaft des Dinges gebraucht. Ganz analog liegen die Dinge nun auch beim Begriff Qualifikation. Auch hier hängt die Qualifizierung der Personen durch die Gesellschaft offenbar in den meisten Fällen mit objektiv gegebenen Eigenschaften dieser Personen irgendwie zusammen, so eng zusammen, daß wir die Ursache der Einkommensverschiedenheiten „erklärend verstehen können", um Max Webers Ausdruck anzuwenden. Aber es handelt sich für uns nicht darum, die Ursache, sondern die Höhe dieser Einkommensverschiedenheiten zu verstehen, und zwar kann, da es sich um ein quantitatives Phänomen handelt, hier natürlich nur das „rationale erklärende Verstehen" in Frage kommen, weil es sich um „intellektuell sinnhafte Handlungen" handelt. Das aber ist uns nur in einer sehr beschränkten Klasse von Qualifikationsbewertungen möglich, nämlich fast nur dann, wenn es um ungelernte Muskelkraft im Akkordlohn geht. Hier handelt es sich erstens um Leistungen der gleichen Dimension, die zweitens unmittelbar quantitativ vergleichbar sind. Selbstverständlich verdient ein starker Sackträger, der doppelt soviel Säcke vom Schiff auf den Speicher trägt wie ein schwächerer Kamerad, im Akkord auch den doppelten Lohn. Aber dieses Verstehen versagt schon dann häufig, d. h., es kann die Unterschiede des Einkommens nicht mehr vollkommen erklären, wenn es sich um Leistungen gleicher Dimension, aber um gelernte Arbeit handelt. So ζ. B. wird ein Stenograph, der 300 Silben in der Minute aufzunehmen imstande ist, viel mehr als sechsmal so hoch qualifiziert und entlohnt werden wie ein anderer, der es nur auf 50 bringt. Hier können wir immerhin noch ungefähr intellektuell die Ursachen der Einkommensverschiedenheit verstehen: aber dieses Verstehen versagt bereits vor der Tatsache, daß ein hochgewachsener Tenorist mit wohlgebildetem Antlitz wesentlich höher qualifiziert ist, als ein stimmlich und schauspielerisch gerade so begabter, aber körperlich weniger bevorzugter Kollege; und es versagt vollkommen gegenüber so wunderlichen Tatsachen, wie wir sie oben angeführt haben, wo es sich um Leistungen verschiedener
Dimension,
ζ. B. eines
Boxerchampions und eines Gelehrten handelt; hier ist nur noch ein „irrationales" erklärendes Verstehen aus irrationalen Motiven möglich.
1
Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 88.
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Kapitalprofit
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In solchen Fällen hilft sich das unausrottbare Streben des Menschen nach rationaler Erklärung mit dem typischen Trugschluß, dem wir überall in der Soziologie, ζ. B. bei der Erklärung der Geschichtsabläufe aus rassenmäßiger Anlage, begegnen. Gegeben und zu erklären ist eine bestimmte Verschiedenheit des Einkommens. Man schließt daraus auf die genau entsprechende Verschiedenheit der „natürlichen Begabung" und leitet dann wieder daraus die Verschiedenheit der Einkommen ab: die klare Setzung einer „qualitas occulta", ein typischer Zirkelschluß. Das geschieht gerne und oft namentlich dann, wenn es sich um Leistungen zwar verschiedener, aber doch verwandter Dimensionen handelt, etwa beim Vergleich der Einkommen verschiedener akademischer Berufe oder, noch weiter spannend, der verschiedenen „geistigen" Berufe von Wissenschaftlern und Künstlern. Mit anderen Worten: man faßt hier die Qualifikation durchaus adjektivisch, als objektive Begabung der betreffenden Personen auf. Offenbar hat Amonn den Begriff „Fähigkeit" in meiner Definition der Qualifikation in dieser Weise mißverstanden. Ich hatte davor gewarnt. Auf Seite 111 meiner Replik steht: „Begabung ist, was Amonn zu verkennen scheint, ökonomisch ebensowenig ohne weiteres Qualifikation', wie etwa ,Bedürfnis' wirksame Nachfrage ist." Daß Amonn mich in dieser Weise miß verstanden hat, geht nicht nur aus dem schon soeben Abgehandelten hervor, sondern noch aus manchem anderen. Er macht z. B. gegen meine grundlegende Definition der Qualifikation den folgenden Einwand, auf den er freilich kein Gewicht zu legen, von dem er „absehen" zu wollen erklärt: „Vor allem hängt nun aber die Höhe des Einkommens gar nicht allein von der Art der Produkte ab, die jemand zu Markte bringt, sondern auch von der Menge derselben, nicht ausschließlich von der qualitativen, sondern auch von der von jener unabhängigen quantitativen Leistung des Produzenten. Infolgedessen kann, streng genommen, nur von einer Fähigkeit, Produkte zu Markte zu bringen, die im Verhältnis zu den anderen Produkten (nicht zu ,den Produkten anderer Personen') einen höheren oder geringeren Preis erbringen im Verhältnis zur Leistung, die das Zumarktebringen bedeutet oder erfordert, gesprochen werden." Der Einwand würde mich nicht getroffen haben: ich habe nirgends von der „Art" der Produkte, sondern immer nur von „Produkten" schlechthin gesprochen. In den ersten Auflagen dieses Buches1 kann man finden, daß ich ausdrücklich als höher qualifiziert bezeichnet habe: erstens diejenigen, die aus höher bezahlten Einzelprodukten ein höheres Einkommen beziehen, und zweitens diejenigen, die in gleicher Zeit eine größere Menge gleich hoch bezahlter Einzelprodukte zu Markte bringen (und daraus ein höheres Einkommen gewinnen) als ihre Konkurrenten. Das heißt also: wer zwar höher bezahlte Einzelprodukte, diese aber in so geringer Zahl zu Markte bringt, daß sein Einkommen geringer ist als das eines Konkurrenten, der eine größere Zahl geringer bezahlter Produkte zu Markte bringt, ist nach meiner Definition geringer qualifiziert; und das stimmt denn auch mit dem allgemeinen Urteil überein, entspricht der „soziologischen Bewertung". Man erkennt aus diesen Sätzen, daß Amonn den Begriff Qualifikation als „Fähigkeit" im zweiten Sinne, und zwar in einer noch engeren Bedeutung auffaßt, als gewöhnlich der Fall ist. Er denkt offenbar an den „qualifizierten Handarbeiter" und den „hochqualifizierten Geistesarbeiter", die Produkte ganz anderer „Art" hervorbringen als die „Unqualifizierten". U m aber die Dinge noch vollständiger aufzuklären, wollen wir uns noch einmal zur Kinetik und zur Berufswahl zurückwenden. Ich habe in meiner Duplik auf die obigen Ausführungen zu diesem Gegenstande folgendes erwidert: Wer einen Beruf wählt, sieht sich vor der objektiven Tatsache, daß
1
Oppenheimer, W e n und Kapitalprofit, Jena 1916, S. 67.
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Erster Teil: Nationalökonomie
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von den verschiedenen Berufen, für die er nach Körperbeschaffenheit, Vorbildung und allgemeiner sozialer Lage die „Fähigkeit" und die äußere Möglichkeit besitzt, die einen ein höheres Einkommen abwerfen als die anderen. Dem höheren Einkommen auf der Habenseite stehen auf der Sollseite gegenüber: längere oder schwerere oder unangenehmere oder gefährlichere Arbeit des Körpers oder Geistes, oder geringere Aussicht auf Erfolg: er wird ζ. B. als subalterner Beamter mit großer Sicherheit regelmäßig avancieren, wird aber freilich nur ein bescheidenes Einkommen erzielen, während er als Anwalt, Arzt, Künstler, Kaufmann usw. zu sehr großem Einkommen gelangen - aber auch ganz scheitern kann; oder es steht auf der Sollseite geringere gesellschaftliche Ehre: Er wird als Bordellwirt besser leben können wie als Handwerker, Sie als Prostituierte besser wie als Arbeiterin - und die Unehre fällt bei „normalen Menschen" (von diesem Begriff wird sofort zu sprechen sein) schwer ins Gewicht. Wenn Er (oder Sie) den geringer bezahlten Beruf ergreift, so kann das verschiedene Ursache haben. Er weiß nicht, daß ein günstigerer Beruf offensteht, dann ist er gegenüber dem, der es weiß und danach wählt, minder „fähig", wenn auch vielleicht ebenso „begabt": denn auch Kenntnisse sind „Fähigkeiten". Oder: er weiß es zwar, traut sich aber die Kraft und Ausdauer nicht zu, um zum Ziele zu gelangen, oder fürchtet die Beschwerden oder Gefahren des Berufes oder glaubt nicht an sein „Glück", die wenigen großen Chancen zu nehmen. Dann ist er gegenüber demjenigen, der den Mut hat und danach wählt, minder „fähig": denn auch Mut und Selbstvertrauen sind Fähigkeiten. Oder schließlich: er schreckt vor der gesellschaftlichen Unehre zurück: wir haben das vom Standpunkt des Ethikers aus in aller Herzlichkeit zu billigen, aber von dem Standpunkt des Ökonomisten aus müssen wir sagen, es fehlt ihm eine (zum Glück) relativ seltene und eben darum relativ hochbezahlte „Fähigkeit". Amonns Antwort hierauf beweist, daß er den Begriff „Fähigkeit" nach wie vor als „Begabung" deutet. Er schreibt: „Fassen wir dieses Beispiel etwas allgemeiner, so lautet es: jemand hat die Fähigkeit, sowohl einen Beruf mit schwerer und natürlich besser bezahlter und einen anderen mit leichter und vielleicht schlechter bezahlter Arbeit zu ergreifen. Er hat auch die äußere Möglichkeit. Er weiß davon. Er ist sich auch durchaus sicher, daß er die Arbeit leisten kann. Keiner der Gründe, die Oppenheimer für die Ergreifung des leichteren Berufes in Betracht zieht, kommt in Frage. In Frage kommt lediglich, ob die Differenz im Einkommen die Differenz in der Arbeitsbeschwerde nach der subjektiven Schätzung des Produzenten' aufwiegt oder nicht. Dabei handelt es sich doch nicht mehr um eine ,Fähigkeit' im üblichen Sinne des Wortes, und wenn Oppenheimer aus der Tatsache der Wahl in der einen oder der anderen Richtung auf die .Fähigkeit' zurückschließt, so verwechselt er Können und Wollen oder Fähigkeit und Ausnützung, oder Verwertung der Fähigkeit oder eine Möglichkeit mit einer Tatsache."1 Das Mißverständnis liegt klar auf der Hand. Ich habe nichts mehr hinzuzusetzen. Wenn sein Subjekt den höher bezahlten Beruf nicht ergreift, so ist es per definitionem minderqualifiziert, weil es das kleinere Mittel zum kleineren Ziele wählt. (Man könnte immerhin auch sagen, daß ihm der Mut zu dem schwereren Berufe fehlt: und Mut ist Begabung.) Damit sind wir an den letzten Punkt gekommen, der in diesem Zusammenhang vielleicht noch behandelt zu werden verdient. Man muß sich klarmachen, daß prinzipiell die Bewertung der Qualifikation durch die Gesellschaft nach denselben Gesetzen erfolgt wie die Bewertung der Sachgüter durch die Gesellschaft, d. h. ihre Preisfeststellung. In beiden Fällen entscheidet dasjenige, was ich vorgeschlagen habe, als „relative ökonomische Seltenheit" zu bezeichnen. Je seltener eine überhaupt begehrte Eigenschaft ist, handle es sich nun um körperliche Vorzüge: ζ. B. auffällig kurze Stimm-
1
Araonn II [siehe oben, S. 234, Anm. 3; A.d.R.], S 59 If.
Wert und Kapitalprofit
275
bänder (die Bedingung des Tenoristen) oder sinnenmäßige (ζ. B . die „Weinzunge" oder in früheren Zeiten das „Indigoauge" eines Experten) oder geistige oder schließlich erfreuliche oder unerfreuliche moralische „Vorzüge" (d. h. i m Verhältnis z u m Bedarf seltene Eigenschaften): u m so höher ist die gesellschaftliche Bewertung der so ausgestatteten Personen, ist ihre Qualifikation - genau aus demselben Grunde, w a r u m Diamanten teuerer sind als Rheinkiesel, und Kaviar teuerer als Butterbrot. Es wird kaum nötig sein, hier näher auf die Verschiedenheiten sich einzulassen, die innerhalb und unterhalb dieses allgemeinen Gesetzes zwischen der Preisbildung der Sachgüter einerseits und der persönlichen angebotenen Qualifikation anderseits bestehen. D o r t nämlich kann bei der weitaus überwiegenden Menge der Güter, nämlich den „beliebig produzierbaren G ü t e r n " , das Angebot bei steigender Nachfrage „beliebig" vermehrt werden: hier aber nicht. U n d darum besitzt, was schon James
Mill und Senior
gesehen haben, die Qualifikation eine beträchtliche Ähnlichkeit mit den
Monopolstellungen; darum stellt sie mit diesen zusammen die beiden einzigen „Hemmnisse der K o n k u r r e n z " , ihrer Tendenz dar, die E i n k o m m e n völlig auszugleichen. N a c h Erledigung dieses Punktes können wir zum zweiten fortschreiten. Amonn
kann nicht ver-
stehen, daß der „Grenzproduzent" immer „durchschnittlich qualifiziert" ist; daß nach meinen W o r t e n , in der Statik „jeder Produzent in einer Grenzmine oder jeder Grenzbauer von gleicher Qualifikation ist" 1 . E r bemerkt dazu: „Wie aber, wenn es Grenzbauern von verschiedener Qualifikation gibt, und in der G r e n z m i n e Produzenten von verschiedener Qualifikation arbeiten? Sagen wir: in einer Grenzmine, die jedem offensteht, oder in mehreren solchen Grenzminen, die frei zugänglich sind, in welchen die äußeren Produktionsbedingungen überall gleich und zugleich die ungünstigsten sind, unter welchen überhaupt gearbeitet wird, produzieren mehrere Arbeiter mit verschiedener Qualifikation (verschiedener Geschicklichkeit, verschiedenem Fleiß usw.), und jeder von ihnen erarbeitet ein anderes Q u a n t u m , der eine 12 kg, der zweite 11 kg, der dritte 10 kg, der vierte 9 kg, der fünfte 8 kg, der sechste 7 kg Silber R e i n e i n k o m m e n . W e r ist nun der durchschnittlich Qualifizierte, w o beginnt die überdurchschnittliche, w o die unterdurchschnittliche Qualifikation, und welches ist das , N o r m a l e i n k o m m e n ' , E ? Die gleiche Frage läßt sich in bezug auf die Grenzbauern aufwerfen." 2 H i e r kann ich nur wiederholen: es ist vollkommen
per definitionem
ausgeschlossen,
daß es in der
Statik „Grenzbauern" von verschiedener Qualifikation geben könnte. Was nämlich versteht die T h e o r i e unter dem Grenzbauern? N i c h t etwa den Bauern, der auf der Grenze des Anbaukreises sitzt, -wie Amonn
mißzuverstehen scheint: diese Annahme ist nur unter der weiteren Voraussetzung
gestattet, daß alle Bauern völlig gleiche Qualifikation haben; dann freilich ist jeder auf der Grenze des Anbaukreises sitzende Bauer auch ein Grenzbauer. Sondern unter dem Begriff „Grenzbauern" versteht die neue T h e o r e t i k
(Ricardo hatte alle Elemente des Begriffs, aber den
Terminus
selbst noch nicht, der erst unter dem Einfluß der Grenznutzenlehre aufgekommen ist) die am ungünstigsten gestellten normalen Urproduzenten, deren Produkt der Markt noch braucht und daher zu einem Preise abnehmen muß, der ihnen über ihre Kosten hinaus (zu denen auch ihr eigener Arbeitslohn gehört) in der kapitalistischen Gesellschaft noch den Kapitalprofit, aber nicht eine Grundrente abwirft. Und der Grenzbauer
ist, wie Ricardo
ausdrücklich erklärt hat,
durchschnittlich
qualifiziert. Das geht aus den Daten der Statik wieder als ein „rein analytischer Satz" mit vollkommener Sicherheit hervor. D e n n die Statik ist charakterisiert dadurch, daß der Konkurrenzkampf in ihr sei-
1 2
Amonn [I (siehe oben, S. 234, Anm. 2), A.d.R.], S. 129. Ebenda.
276
Enter Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
nen Gleichgewichtszustand erreicht hat. Das heißt, daß wohl in der Kinetik einzelne Produzenten aus irgendwelchen Ursachen einen Vorsprung im Preiskampf - und daraus ein zeitweilig höheres Einkommen - genießen; daß aber die Konkurrenz sich sofort daran macht, ihnen diese Vorteile wieder abzujagen, und nicht eher damit aufhört, als bis ihr das vollkommen geglückt ist. Haken wir uns an unsere Sonderfälle! In der Kinetik der Volksvermehrung wächst der Getreidepreis; die bisherigen Grenzbauern, deren Kosten als gleichbleibend gesetzt werden, verdienen infolgedessen eine Zeitlang mehr als Lohn und Kapitalprofit,1 haben eine vorübergehende Grundrente. Das ruft die Konkurrenz wach; es werden marktfernere oder von Natur aus geringere Böden in Angriff genommen oder auf schon bebauten Böden neue Zusatzkapitale investiert, bis der nunmehrige Grenzbauer mit seinem Grenzkapital auf dem Grenzboden (all das hängt in der Statik untrennbar zusammen) bei dem jetzt geltenden Getreidepreis wieder nur Lohn und Profit, aber keine Grundrente erwirtschaftet. Im Lohn ist auch hier wieder einbegriffen sein eigener Arbeits- oder Unternehmerlohn, und der ist selbstverständlich per definitionem der Lohn eines durchschnittlich Qualifizierten. Denn eher hört der Konkurrenzkampf nicht auf, als bis sämtliche Vorteile im Preiskampf nivelliert sind, die den begünstigten Produzenten überhaupt abgejagt werden können; und das sind eben alle solche, die weder der höheren Qualifikation noch einer Monopolstellung verdankt sind. Wenn, wie mir Amonn entgegenhält, ein unterdurchschnittlich qualifizierter Produzent auf der Anbaugrenze sitzt, so muß er sich mit dem Preise begnügen, den die durchschnittlich qualifizierten Kollegen haben; d. h., er wird einen geringeren Arbeits- oder Unternehmerlohn erwirtschaften, weil er als unterqualifiziert weniger oder geringere Produkte zu Markte führt. Würde er etwa auf die Dauer, d. h. in der Statik, das volle Einkommen eines durchschnittlich qualifizierten Gewerbetreibenden erwerben, so würden alle anderen landwirtschaftlichen Produzenten entsprechend ihrer demgegenüber höheren Qualifikation mehr als die industriellen Gleichqualifizierten erwerben: und das widerspricht der Voraussetzung von der Gleichheit der Einkommen. Genau dasselbe gilt von den Grenzminenarbeitern. Es bleibt dabei: in der Statik ist - rein analytischer Satz! - jeder Grenzproduzent durchschnittlich qualifiziert. Er hat das Einkommen E, und alle anders qualifizierten Konkurrenten haben den ihrer Qualifikationsstufe entsprechenden Zuschlag +q oder Abschlag -q. Und es bleibt daher dabei, daß der durchschnittlich Qualifizierte ohne weiteres festgestellt werden kann, wenn man einen Grenzbetrieb feststellt. Daß das real unmöglich ist, weil die Statik nur eine methodische Fiktion und keine Realität ist, habe ich selbstverständlich immer wieder mit äußerster Schärfe ausgesprochen; aber es bedeutet nicht den geringsten Einwand gegen unsere Rechnungsmethode, die ja nicht dazu da ist, um im einzelnen Fall ein gegebenes Einkommen exakt bis auf Mark und Pfennig abzuleiten, sondern der die Aufgabe gestellt ist, das Gesetz für die uns gegebenen, quantitativ bestimmten, klassenmäßigen Verschiedenheiten des Einkommens in den großen Bevölkerungsgruppen aufzufinden. Amonn fordert von mir eine Präzision der Bestimmungen, die in mehr als hundert Jahren niemand von den Meistern der Deduktion, von einem Ricardo oder Thiinen, gefordert hat. Aber ich bin auch dafür gewappnet. Ich kann ihm die theoretische Methode angeben, durch die er in der Statik einen Grenzbetrieb im strengsten Sinne des Wortes, d. h. einen solchen auffinden kann, den ein normal qualifizierter Produzent führt. Ja, diese Methode dürfte sogar geeignet sein, auch in der Realität das Durchschnittseinkommen E mit aller der Genauigkeit festzustellen, die für unsere Zwecke erforderlich ist (es ist uns ja nicht aufgegeben, herauszufinden, warum z. B. von zwei Mau-
1
W i r drücken uns hier in den Kategorien der kapitalistischen Wirtschaft aus. L o h n und Kapitalprofit der Grenzproduzenten zusammen sind in der Statik gleich E.
Wert und Kapitalprofit
277
rergesellen, die ungefähr als normal qualifiziert erscheinen, der eine im Jahre, sage 98,75 M a r k mehr verdient als der andere, sondern es ist uns aufgegeben, die Stufen der normalen
Klassene\ids.ovnmtn
zu bestimmen). Amonn
hat bereits angefangen, einer Anzahl von Produzenten, die auf der Grenze sitzen, ihr
E i n k o m m e n abzufragen. E r hat weiter nichts zu tun, als damit fortzufahren, bis er eine Anzahl von Fällen gesammelt hat, groß genug, um nach dem Gesetz der großen Zahlen ein zuverlässiges Ergebnis zu gewährleisten: handelt es sich ja doch hier u m „typische G r ö ß e n " ! Diese Daten trage er in ein Koordinatensystem ein, dessen Abszisse die Einkommensstufen, dessen Koordinate die Zahl der für jede Stufe festgestellten Fälle angibt. E r wird eine binomiale Kurve erhalten, und deren Medianwert ist die gesuchte Zahl E . W e r mehr bzw. weniger einnimmt, ist höher bzw. geringer qualifiziert. Es kann daher keine Rede davon sein, daß mein „Begriff der Statik zu stark stilisiert ist, um für die Erkenntnis der Wirklichkeit noch etwas bedeuten zu können" 1 ; der Begriff ist nicht nur nicht zu stark stilisiert, sondern
er ist überhaupt
nicht stilisiert!
E r ergibt sich mit zwingenden Notwendig-
keit aus den Bedingungen des Problems: hier ist ein Gegenspiel antagonistischer Kräfte: in welchem Punkte oder in welchem System von Punkten würde es in Ruhe, im Gleichgewichtszustande sein?
3. „Rein analytische Sätze" D a m i t bin ich zu dem nächsten Gegenstande der Antikritik gekommen, der hier zu behandeln ist. Sie richtet sich gegen den soeben angeführten Satz Amonns,
daß mein Begriff der „Statik zu stark
stilisiert ist, um für die Erkenntnis der Wirklichkeit noch etwas bedeuten zu k ö n n e n " . Ich erstrecke meine Erwiderung auf den mit diesem Satze inhaltlich nächst verwandten anderen Satz, den ich oben zitiert habe: „Logisch ausgedrückt: der Satz Oppenheimers
ist nunmehr ein rein analytisches
U r t e i l und aus solchem können sich keine empirischen Erkenntnisse ergeben." Meine Sache liegt noch viel schlimmer, als Amonn
hier angibt. D e r Satz, um den es sich handelt,
ist noch nicht einmal „rein analytisch": er ist gar rein definitorisch.
Es ist alles „in die Definition"
geschoben. H i e r handelte es sich u m die Qualifikation, ein Gegenstand, den wir jetzt hoffen als endgültig erledigt betrachtet zu dürfen, aber auch für den Rest meiner Ausführungen muß ich Amonns lung ausdrücklich
bestätigen,
Feststel-
daß alle meine Sätze „rein analytisch" sind, so daß sich aus ihnen „keine
empirischen Erkenntnisse ergeben können". N u r daß ich die Gegenfrage stellen muß: w o findet sich denn in meinen Schriften auch nur die geringste Andeutung davon, daß ich mit meinen Erörterungen über die Statik, den W e r t und die Klasseneinkommen empirische Kenntnisse erzielen und anderen vermitteln will?! Unser Verfahren will nicht empirische Kenntnisse geben, sondern es will gegebene empirische Tatsachen aus Gesetzen
verstehen lehren. Die Tatsachen sind sein Ausgang und nach Vollendung der
Deduktion, wenn mit der Quaestio facti die Probe aufs Exempel gemacht wird, sein Prüfstein. U m an einem sehr nahe verwandten Beispiel zu orientieren: zum Zwecke einer trigonometrischen Landesaufnahme wird eine Basis möglichst genau vermessen: sie entspricht den Tatsachen, von denen eine Deduktion ausgeht. D a n n werden nur noch abstrakte Dinge gemacht, W i n k e l gemessen und Längengrößen berechnet. U n d ganz zum Schluß wird die letzte berechnete Dreieckseite wieder genau vermessen, u m die Richtigkeit des Verfahrens zu prüfen: das ist die Quaestio facti.
1
Amonn [I (siehe oben, S. 234, Anm. 2), A.d.R.], S. 128.
278
Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Amonn sagt: ,,[W]ir haben es mit einem System empirischer Kräfte zu tun, und nur aus der Untersuchung der empirischen Wirksamkeit dieser Kräfte können wir erkennen, welcherart das Gleichgewicht ist, auf das hin sie tendierten. Auch die Frage, welche Kräfte es sind, die da aufeinander wirken und zu einem Gleichgewicht hinstreben, kann nur empirisch gelöst werden. Denn wir haben es in unserer Wissenschaft mit einem Erfahrungsgegenstand zu tun, und reine Spekulation ist da nicht am Platze."1 Ich bin durchaus einverstanden. In der Tat ist, wie es weiter unten heißt, „unsere Wissenschaft eine ,empirische' oder eine .Erfahrungswissenschaft', d. h., ein System von empirischen oder von einem Erfahrungsgegenstand geltenden Erkenntnissen oder ein System von Urteilen oder Erkenntnissen über die Zusammenhänge von Erfahrungstatsachen (zum Unterschied von rein logischen Urteilen oder Erkenntnissen als Urteilen über die Zusammenhänge von bloßen Begriffen). Es handelt sich also um ,empirische Begriffe' und ,Erkenntnisse'. Solche können aber - nach Kant - niemals rein analytisch sein."2 Wie gesagt, ich bin vollkommen einverstanden. Aber ich meine, daß das alles unseren Streitfall gar nicht berührt, und zwar aus folgendem Grunde: Alle diese empirischen Erkenntnisse usw. liegen unserem Verfahren bereits zugrunde-, sie sind die „Daten" der theoretischen Probleme und als solche „gegeben", ehe die Deduktion beginnt. Wir müssen, das ist selbstverständlich, und das haben wir oben in größter Ausführlichkeit auseinandergelegt, das „Substrat" und die darauf wirkenden „Kräfte" empirisch, also aus Anschauung und synthetischer Erkenntnis, auf das genaueste kennen, um unsere Probleme überhaupt nur exakt stellen zu können. Wenn dann aber die Lösung beginnt, so handelt es sich nur noch um eine Aufgabe der „Analysis". Und zwar im streng mathematischen Sinne: nach der schulmäßigen Definition wird das Wort Algebra heute gleichbedeutend mit algebraischer Analysis gebraucht. Ihr erster Hauptteil besteht in der Auflösung von Gleichungen für eine Unbekannte und Systeme von Gleichungen für ebensoviel Unbekannte zum Zweck der Bestimmung der Unbekannten. Das ist genau das Verfahren, das wir angewendet haben. Wir sind, um an dem elementarsten aller Beispiele zu illustrieren, gerade so verfahren wie bei dem Beweise des Satzes, daß die drei Winkel des Dreiecks zusammen zwei Rechte betragen. Gegeben sind uns drei Geraden, die sich in einem Punkte schneiden, und eine, zu einer dieser Geraden parallele vierte Gerade. Bekannt, d. h. ebenfalls gegeben, ist uns das Parallelenaxiom. Dann ist evident, daß die drei Winkel an der Spitze des entstandenen Dreiecks zusammen zwei Rechte betragen, und es ergeben sich zwei Gleichungen, aus denen hervorgeht, daß jeder der Winkel an der Basis des Dreiecks einem der Winkel an der Spitze gleich ist. Und daraus ergibt sich analytisch der zu führende Beweis. Gerade so sind wir, nur an einem viel komplexeren System mit viel mehr bekannten Daten, vorgegangen, haben Gleichungen gewonnen und aufgelöst, mit dem griechischen Wort: analysiert. Aber auch nach dem geltenden Sprachgebrauch der Logik sind die von uns gewonnenen Sätze „analytisch". Im synthetischen Urteil, sagt die Schule, wird der Begriff des Subjekts um ein neues, noch nicht in ihm enthaltenes Merkmal erweitert, während das analytische Urteil nur (durch Auflösung des gegebenen, zusammengesetzten Begriffs) ein in ihr schon enthaltenes Merkmal herausstellt und zum Bewußtsein bringt. Nun, unser Verfahren (das im übrigen auch schon darum „analytisch" genannt werden könnte, weil es das Gesuchte, die Statik der Marktwirtschaft, als „gegeben" suppo-
1 Amonn II [siehe oben, S. 234, Anm. 3; A.d.R.], S. 587. 2 Ebenda, S. 593.
Wert und
Kapitalprofit
279
niert) hat dem Begriff seines Subjekts, eben der statischen Marktwirtschaft, kein neues Merkmal hinzugefügt: alle empirisch gewonnenen Erkenntnisse über dieses System galten uns als „gegeben". Wir haben nur „in ihm schon enthaltene Merkmale herausgestellt und zum Bewußtsein gebracht": die Gleichheit der Einkommen, soweit die Konkurrenz sie durchsetzen kann, die statische Preisrelation, die Ursache und Höhe des Kapitalprofits usw. Und das ist denn überhaupt das Wesen des deduktiven Verfahrens: man formt empirische, von einem Erfahrungsgegenstande geltende Erkenntnisse oder ein System von Urteilen oder Erkenntnissen über die Zusammenhänge von Erfahrungstatsachen in „Größen" um, d. h. gibt ihnen eine Form, in der sie als „Daten" in eine Rechnung eingesetzt werden können, aus der sich Gleichungen zur analytischen Bestimmung der noch unbekannten Größen gewinnen lassen. Um Beispiele anzufahren, so hat Ricardo die durch die bekannte Parlamentsenquete ans Licht gezogene Tatsache, daß Landgüter mit besserem Boden gegenüber denen mit schlechterem Boden, und daß Landgüter näher dem Markt gegenüber denen ferner vom Markte Vorteile genießen, zu Formeln ausgestaltet, aus denen die Größe der Grundrente bestimmt werden konnte. So hat ferner Malthus (freilich mit einem falschen Ansatz) die empirische Tatsache des „Gesetzes der sinkenden Erträge" zu einer Formel ausgestaltet, aus der er das Lohnsystem und den Lohn entwickelte. So hat v. Thünen aus der empirischen Tatsache der mit der Transportentfernung steigenden Kosten und der gleichfalls empirischen Tatsache des „relativen Transportwiderstandes", gleichfalls ausgedrückt in Transportkosten, jene genialen Formeln des isolierten Staates gewonnen, aus denen sich der Standort der verschiedenen Arten der Urproduktion, die Anordnung seiner „Zonen" berechnen ließ. So habe ich selbst aus der empirischen Tatsache, daß auf Großgrundbesitz die Arbeiter auf ein Fixum gesetzt sind, während alle Vorteile der steigenden gesellschaftswirtschaftlichen Kooperation (auch dieses Smitbsche Gesetz ist ein „Datum" unserer Rechnung) dem Eigentümer zufließen, das „Gesetz des einseitig sinkenden Druckes" entwickelt und die Quantitätsformel für die Wanderbewegung daraus gewonnen. So habe ich ferner die empirische Tatsache, daß außerökonomische Gewalt zwei wichtige Institutionen unserer eigenen Gesellschaft geschaffen hat: die Stände bzw. Klassen und das große Grundeigentum, umgeformt in den Begriff des Monopols und damit eine Größe gewonnen, die in unsere Rechnung eingesetzt werden konnte. Ein Kenner der Methode wie Schumpeter1 hat mir ausdrücklich zugegeben, daß logisch deduktiv nichts mehr einzuwenden wäre, wenn meine Diagnose des Großgrundeigentums als eines Monopols oder besser Klassenmonopols stichhielte. Hier überall ist nur der Ansatz der Rechnung synthetisch, aber die Ausrechnung der gewonnenen Gleichungen ist analytisch. Damit halte ich meine Terminologie für gerechtfertigt. Aber es ist mir freilich wohlbekannt, daß in Philosophie und Logik die Worte „Synthese" und „Analyse" in sehr verschiedener Bedeutung gebraucht werden, und ich will mit niemandem über rein terminologische, d. h. gleichgültige Fragen streiten. Sachlich jedoch muß ich dabei bleiben: die Zumutung an eine solche statische Betrachtung, daraus „empirische Kenntnisse"2 gewinnen zu sollen, ist völlig ungerechtfertigt. Umgekehrt ist aus empirischen Erkenntnissen das Gesetz zu finden, das jene beherrscht. Und das ist doch wohl die Aufgabe der Ökonomik, die Gesetze der Marktwirtschaft zu entdecken.
1
2
Vgl. unsere Diskussion über den Gegenstand im „Archiv für Sozialwissenschaft", Band 42, 44 [siehe im vorliegenden Band, S. 105-110; A.d.R.] und 47, abgedruckt in: Oppenheimer, Wege zur Gemeinschaft, S. 41 Iff. Schumpeter hat auf meine letzte Erwiderung nicht mehr geantwortet. Trotzdem scheint ihn Adolf Weber (in: Die Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege, Festgabe für Lujo Brentano zum 80. Geburtstag, Bd. Π, München 1925, S. 29) für den Sieger zu halten. Amonn [I, (siehe oben, S. 234, Anm. 2), A.d.R.], S. 127.
280
Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
4. Die Krisis der Grenznutzentheorie In den ersten Auflagen dieses Buches tabe ich meine Neufassung der objektivistischen Wertlehre ohne viel Polemik gegen die Grenznutzentheorie entwickelt: ich hatte keine große Neigung, mich in neue Kämpfe zu verwickeln, namentlich mit einer Schule, die mir doch wenigstens insofern nahe steht, als sie sich eben auch theoretisch bemüht. Ich hatte die schwache Hoffnung, daß sie sich dazu verstehen würde, meine den entscheidenden Einwänden nicht mehr ausgesetzte Lehre zu akzeptieren. Das wäre wohl möglich gewesen. Denn erstens stehe ich, soweit die „vorwirtschaftliche Erwägung" in Frage steht, durchaus auf dem Boden Gossens, und zweitens habe ich nie bestritten, daß diese, von der Schule übernommene, Lehre sehr wohl imstande ist, gewisse Erscheinungen besser zu erklären, als es der Klassik gelungen ist: Erscheinungen, die freilich keines der großen Probleme tragen, aber immerhin von akademischem Interesse sind, wie z. B. der laufende Preis überhaupt, ferner die Preise für Singularitäten und Novitäten u. a. m. Jene schwache Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Ja, auch zu einer ernsthaften Polemik haben sich die Führer der Schule nicht entschließen können. Nur ein paar mindere Parteigänger haben mich mit Waffen angegriffen, deren mich zu bedienen ich aus Gründen der persönlichen Würde ablehnen muß. Inzwischen bin ich in der fünften Auflage meiner „Theorie der reinen und politischen Ökonomie"1 zum Angriff mit dem schwersten Geschütz vorgegangen. Ich habe von v. Wiesers „Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft" gesagt, daß die Schule mit diesem ersten vollen System, das sie hervorgebracht hat - vorher waren es immer nur Spezialuntersuchungen - Selbstmord begangen hat.2 Seitdem zeigt die Schule immer bedrohlicher die facies hippocratica: der „Selbstmord" hat eben nicht unmittelbar zum Tode geführt. Wissenschaftliche Schulen pflegen langsam zu sterben, selbst wenn sie längst ihre theoretische Basis eingebüßt haben. Aber die Kritik aus dem eigenen Lager wird immer schärfer und zersetzender. Um einige Beispiele anzuführen, so hat Emil Lederer in einer Abhandlung: „Der Zirkulationsprozeß als zentrales Problem der ökonomischen Theorie", erschienen in der „Zeitschrift der ökonomischen Fakultät der kaiserlichen Universität Tokio" (1925), bereits sehr deutlich seine Abwendung von der Wiener Schule ausgesprochen. Er hat vor allem einsehen müssen, daß ihre für das Problem der Distribution entscheidende Lehre von der „Zurechnung" unhaltbar ist, von der ich3 spöttisch geschrieben habe, „daß sie den Besitzern der Produktionsmittel, den Grund- und Kapitaleigentümern, immer exakt dasjenige Einkommen zurechnet, das sie zufällig gerade erhalten"4. Man könnte, unter Anwendung des Wortes „Fähigkeit" in dem oben erläuterten Sinne, sehr wohl von der „Unzurechnungs-Fähigkeit" der Grenznutzenschule sprechen. Sogar Hans Mayer, Böhm-Bawerks Nachfolger auf seinem Lehrstuhl, hat sich der schlimmsten Ketzerei ergeben. Er hat in der „Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik" 5 unter dem Titel „Untersuchung zu dem Grundgesetz der wirtschaftlichen Wertrechnung" eine vortreffliche Arbeit
1
Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, darin: „Die Grenznutzenschule", S. 119-142 und „die objektivistische Kritik an der subjektiven Wertlehre", S. 797-815. 2 Adolf Weber (in: Die Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege, Bd. II, S. 27) nennt die Grenznutzentheorie gerade im Hinblick auf dieses Buch „überraschend steril". 3 Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 191. 4 Vgl. auch ebenda, S. 543. Über die Zurechnung der „Bodenleistung", ferner ebenda, S. 684, 721, 748 und passim. 5 Mayer, Untersuchung zu dem Grundgesetz der wirtschaftlichen Wertrechnung, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik, Neue Folge, Bd. I, Nr. 7-9 (1921) und Bd. Π, Nr. 1-3 (1922).
Wert und
281
Kapitalprofit
veröffentlicht, die leider bisher Torso geblieben ist. Hierin geht er von der bekannten Tatsache aus, daß nicht eine, sondern zwei „österreichische Theorien" nebeneinander bestehen: die Wiesersche und die Böhm-Bawerksche. Zwar werden, so sagt er, die „Gegensätze durch die abstrakte Darstellungsform überdeckt, nicht in allen folgenden Problemlösungen sofort sichtbar, müssen in Wahrheit aber doch allen immanent sein und würden sofort zum Ausdruck kommen, wenn in alle einzelne Ableitungen konkrete, ziffernmäßige Daten eingesetzt würden. A m deutlichsten zeigt sich das bei den verschiedenen Lösungen des Zurechnungsproblems." 1 Dann macht mindestens sehr große Schwierigkeiten das Problem des „Gesamtvorrats": soll man mit Wieser die Zahl der Stücke des gleichen Gutes mit dem Grenznutzen multiplizieren oder soll man mit Böhm-Bawerk sich jedesmal das letzte Stück wegdenken und die derart eruierten verschiedenen Grenznutzen addieren? Oder soll man sie, fügen wir hinzu, mit Schumpeter integrieren?2 Bedenklicher aber noch ist, daß Mayer klar den Zirkel erkennt, in dem alle Vertreter der Schule von den verschiedensten Richtungen sich unaufhörlich drehen, wenn sie vom subjektiven Wert (Verwendungswert) zum objektiven Preis (Beschaffungswert) zu gelangen versuchen. Mayer lehnt die häufige Berufung auf die „Erfahrung" als theoretisch unmöglich ab: „Denn es könnte sein, daß die derart festgestellte Bewertungsnorm bereits eine Folge der verkehrswirtschaftlichen Beziehungen, des Bestehens der Preise ist. [Dann] müßte das Wertgesetz selbst erst aus den Preisen und dem Mechanismus der Tauschwirtschaft abgeleitet werden, während die Wirtschaftstheorie eines primären, unabhängig von der konkreten Gestaltung der sozialwirtschaftlichen Organisation geltenden Wertgesetzes bedarf [...]."' Vor allem aber sieht Mayer ein, daß die Erscheinungen der Marktwirtschaft im allgemeinen und die Preise im besonderen unmöglich abgeleitet werden können, wenn man, wie es die Schule immer tut, von einem „gegebenen Vorrat" ausgeht. Ihm hat sich erschlossen „die Erkenntnis, daß in den wirtschaftlichen Entscheidungen der Wirklichkeit infolge der periodischen Wiederkehr und des wechselseitigen Zusammenhanges der Bedürfnisse nicht die isolierte Befriedigung augenblicklicher, aus dem zeitlichen Zusammenhang der Seinszustände losgelöster einzelner Bedürfnisse, sondern die Herstellung bestimmter Gesamtabläufe von Zuständen (für längere oder kürzere Zeit), welche als Ganzes erfaßt werden, tatsächlich bestimmend ist."·* Das ist vollkommen richtig und stimmt mit unserer kritischen Auffassung durchaus überein.'' Aber Mayer6, der noch mit dem ganzen Stolz seiner Schule die objektivistische Theorie als die „überwundene Wertlehre" bezeichnet, scheint sich, als er diesen Fortschritt machte, doch noch nicht klar darüber gewesen zu sein, daß es ein Schritt fort über die Grenze und aus dem Bezirk seiner Schule heraus gewesen ist. Folgendes nämlich ist festzustellen: wenn, wie es in der Tat der Fall ist, das wirtschaftende Individuum „die regelmäßige Wiederkehr der Bedürfnisse in der Zeit in Betracht zieht" und in Betracht ziehen muß, wenn es nicht „seine Existenz negieren und aus der Reihe der empirischen Wirtschaftssubjekte ausscheiden will"; wenn es also mit anderen Worten über eine größere Zeitspanne fort derart disponieren muß, daß es periodisch aus seinen Einnahmen bestimmte Wertdinge (Güter und Dienste) erwerben muß: so muß ihm der Marktpreis sowohl seiner eigenen Produkte wie der zu erwerbenden fremden Produkte annähernd bekannt sein: sonst ist irgendeine wirtschaftliche Disposition offenbar unmöglich. Und damit ist denn jener Zirkel unwi-
1 2 3 4 5 6
Mayer, Untersuchung zu dem Grundgesetz Ebenda, S. 434ff. Mayer, Untersuchung zu dem Grundgesetz Ebenda, S. 16. Vgl. Oppenheimer, Theorie der reinen und Mayer, Untersuchung zu dem Grundgesetz
der wirtschaftlichen Wertrechnung, Bd. I, S. 432. der wirtschaftlichen Wertrechnung, Bd. II, S. 2. politischen Ökonomie, S. 138 und 141. der wirtschaftlichen Wertrechnung, Bd. I, S. 446.
282
Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
dersprechlich gegeben: die Preise müssen bekannt sein, damit jene subjektiven Wertfunktionen entstehen können, aus denen dann wieder die Preise abgeleitet werden. Wir möchten fast die Vermutung wagen, daß der scharfsinnige Verfasser seit der Veröffentlichung jener beiden ersten Aufsätze bereits selbst zu ähnlichen Schlüssen gekommen ist. Das wäre wenigstens eine zureichende Erklärung für die immerhin auffällige Tatsache, daß der Schluß der Artikelreihe seit bald vier Jahren auf sich warten läßt. Noch viel schlimmer geht ein ausgezeichneter Theoretiker mit der Schule ins Gericht, der zwar nicht als ihr orthodoxer Anhänger bezeichnet werden kann, der ihr aber doch immer nahe gestanden hat: Alfred Amonn. Er hat im zweiten Bande der Festgabe für Lujo Brentano eine längere Abhandlung unter dem Titel „Der Stand der reinen Theorie" erscheinen lassen, in der er sich (unter 2) auch mit der Grenznutzenschule beschäftigt, und sein Verdikt ist geradezu vernichtend. Er schreibt den Anhängern der Lehre ins Stammbuch, daß sie „in erster Linie Psychologen sein und Psychologie treiben müssen. Allein sie sind auf diesem Gebiete ,Dilettanten' [...] geblieben, und dies hatte zur Folge, daß gerade ihre allgemeine Werttheorie nicht nur - insbesondere von Psychologen - außerordentlich umstritten ist, sondern sich auch innerlich, von weitgehenden Divergenzen beherrscht darstellt."1 Dann wird festgestellt, in Ubereinstimmung mit unserer eigenen Kritik2, daß die Preistheorie sich schon insofern in einem Zirkel bewegt, als sie den Preis durch die Schätzungen der Grenzkäufer resp. Grenzverkäuferpaare bestimmt sein läßt, während doch sicher ist, daß es durch den Preis bestimmt ist, wer der letzte noch zugelassene bzw. ausgeschlossene Kaufserwerber bzw. Verkaufswerber ist. Ebenso wird der andere Zirkel zugegeben, gleichfalls in voller Übereinstimmung mit unserer eigenen Kritik, daß die Schule bei der Ableitung der Preise aus dem Wert in gröblicher petitio principii die Preise bereits voraussetzt3. Es wird weiterhin in Ubereinstimmung mit vielen anderen Kritikern auf die unbestreitbare Tatsache hingewiesen, daß das Geld an sich keinen subjektiven Verwendungswert besitzt, und daß daher seine Wertschätzung subjektiv wieder nur möglich ist, wenn man die Preise der damit zu kaufenden Güter kennt: wieder der gleiche Zirkel! Und schließlich wird wenigstens bei Wickseil der groteskeste Grundfehler der ganzen Schule gerügt, daß sie „mit .Intensitätsfunktionen' rechnet, als wären sie mathematische Größen und könnten in Zahlen ausgedrückt werden"4. Auf diese Weise entstehen nicht nur bei Wickseil, sondern, wie ich erweiternd behaupte, überall in dieser Doktrin „Scheingleichungen", wie Amonn sie glücklich bezeichnet, keine Gleichungen im mathematischen Sinne, die ein „extensives Größenverhältnis ergeben könnten, wie es der Preis darstellt". Und so kommt Amonn zu dem Schlüsse, daß die Grenznutzentheorie „für die Preiserklärung" sehr wenig bedeutet und leistet. Für sie ist lediglich die Tauschwertschätzung von Bedeutung. Diese geht freilich auf die Nutzwertschätzung zurück. Aber in welcher Weise dies der Fall ist, wie sie entsteht, das ist für die Preiserklärung ohne Belang. Für die Preisbildung ist einzig maßgebend, wie die Tauschwertschätzung der Käufer (und eventuell Verkäufer) ist, nicht, wie sie geworden ist. Sie ist für diese ein Datum. Für eine weitergehende „wirtschaftliche" Betrachtung kann die genaue Kenntnis des Wertbildungsprozesses von seinem Ursprung an möglicherweise wohl von Bedeutung sein. Zur Preiserklärung ist sie jedenfalls nicht notwendig. Wir sind also auch hier wieder völlig einig. Amonn stellt dann unter anderem auch unsere eigene Theorie dar und macht ihr außer den oben bereits erörterten Einwänden noch besonders den folgenden Mangel zum Vorwurf, durch den sie
1 2 3 4
A m o n n , in: Die Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege, Bd. II, S. 280. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 461. Vgl. A m o n n , in: Die Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege, Bd. II, S. 283. Ebenda, S. 287.
Wert und
Kapitalprofit
283
sich ganz besonders ungünstig von der Grenznutzentheorie unterscheiden soll: „Sie ist vor allem nicht allgemein. Sie erklärt nicht alle Preiserscheinungen. Sie erklärt nur die Preise beliebig produzierbarer Güter". Nun, das wäre doch immerhin schon etwas, selbst wenn es richtig wäre, daß mein Begriff der beliebig produzierbaren Güter enger ist als der der Klassiker, was nicht richtig ist. Aber dabei wollen wir uns nicht aufhalten. Selbst wenn ich weiter nichts geleistet hätte als dieses, so wäre doch wenigstens eine richtige Teilerklärung vorhanden, der die Grenznutzenschule zwar eine Gesamterklärung entgegensetzen kann, aber leider, wie Amonn selbst nachweist, eine falsche. Aber auch dieser Vorwurf trifft ja gar nicht zu. Ich habe ja die Formel für die allgemeine Wertrelation mit vollster Deutlichkeit entwickelt; sie findet sich oben unter dem Rubrum „Die allgemeine Wertformel". Ich schreibe sie noch einmal her:
E +q¡ ± m¡ vi
vk
_
^
ni
1- + 5,.
E±qk ±mk »k
t^
k
Diese Formel ist in der Tat nicht nur die allgemeine Formel des Wertes im Sinne des Wortes als Preis auf die Dauer und im Durchschnitt, und zwar der sämtlichen beliebig produzierbaren Güter, der Konsum- wie der Produktivgüter und des Geldes, wie auch der Monopolgüter, sondern sogar des Preises in der Kinetik, des laufenden Marktpreises. Man braucht zu diesem Zweck nur die Situation der Käufer bei überwiegendem Angebot und der Verkäufer bei überwiegender Nachfrage als ein vorübergehendes Monopol aufzufassen, was vollkommen korrekt ist, da hier auf Seiten ihrer Kontrahenten die charakteristische einseitige Dringlichkeit der Nachfrage besteht. 1 Unter dieser erlaubten Voraussetzung trifft unsere Formel also sämtliche zum Markte kommenden Produkte, auch Novitäten und Singularitäten, deren Besitzer entweder ein zeitliches Monopol daran hat, oder als ihr Hersteller von einer seltenen Qualifikation ist, die nicht durch Ausbildung beliebig erworben werden kann. Diese Formel ist also die „Werttheorie, die alle Werterscheinung aus einem Guß" erklärt, die die Theorie verlangen muß, und die Amonn mit Recht von mir verlangt. Und diese Lehre ist nur in ihrer arithmetischen Formel neu. Sie gibt etwas verfeinert nur die längst bekannte großartige Wertformel wieder, die Carey zuerst gefunden und Eugen Dübring dann ausgestaltet hat: „Der Wert ist das Maß der Beschaffungswiderstände", und zwar der Wert der beliebig reproduzierbaren Güter das Maß der natürlichen, von der Natur gegebenen, und der Wert der Monopolgüter außerdem das Maß der gesellschaftlichen, rechtlichen Widerstände. 2 Güter solcher Produzenten, deren besondere Qualifikation nicht durch Ausbildung erworben werden kann, stehen unter den Gesetzen der Monopolpreisbildung. Somit scheint es uns, als wenn auch das letzte Postulat, das an eine Wertlehre gestellt werden kann, durch uns erfüllt ist; und so haben wir die Hoffnung, unseren Herrn Gegner noch ganz für uns gewinnen zu können, wenn es uns gelungen sein sollte, seine Bedenken in den übrigen Punkten zu zerstreuen. U m dazu auch noch das letzte zu tun, will ich noch auf ein Gedankenexperiment eingehen, das ich schon früher der Grenznutzenschule und jetzt in unserer Debatte Amonn entgegengehalten habe. Auf Rodbertus' isolierter Insel, wo aller Boden von gleicher Güte ist, lebt die Bevölkerung zu 90 % von Roggen- und zu 10 % von Weizenbrot. Da Weizen etwas mehr Produktionskosten bedingt als Roggen, so steht der Preis 11:10. Jetzt lasse ich aus irgendeinem Grunde den Geschmack
1 2
Vgl. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 498. Vgl. ebenda, S. 767.
Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
284
umschlagen. In der Kinetik steigt selbstverständlich jetzt der Weizen, und der Roggen fällt. Das Roggenareal schrumpft, und die Weizenfläche wächst entsprechend. Irgendwo wird eine neue Statik erreicht, sagen wir: wenn 90 % Weizen- und 10 % Roggenbrot verzehrt werden. D a sonst alles beim gleichen geblieben ist, steht der Preis genau wie vor der Umwälzung des Greschmacks und der landwirtschaftlichen Erzeugung 11:10. Daraus habe ich den Schluß gezogen: „Das Begehr hat nur auf die zu Markte gebrachte Menge, aber nicht auf die Preisrelation
gewirkt." Amonn
hält dem ge-
genüber, daß ja der Preis von der Menge und also (indirekt) vom Begehr, der also dennoch auf den Preis „wirke", abhänge. Es ist wirklich schwer, sich zu verständigen. Hier wird wieder der Realgrund einer Erscheinung mit ihrem Erkenntnisgrunde verwechselt und verwirrt. Vielleicht wird mich Amonn nicht mehr mißverstehen, wenn ich sage, daß die ungeheuere Revolution des gesellschaftlichen Begehrs, die hier vorausgesetzt wird, die statische Preisrelation nicht verändert ist nach ihrem Ablauf genau die gleiche wie vor ihrem Beginn. Sie ist unabhängig
hat. Sie
von der Größe der
Nachfrage und der Menge des Produktes. Es fällt mir ja durchaus nicht ein, zu bestreiten, daß der subjektive addierte Begehr der Mitglieder einer Wirtschaftsgesellschaft kinetisch auf die Preise „einwirkt", daß das alles in Rechnung gezogen werden muß, solange es sich darum handelt, die empirischen Tatsachen und ihre Zusammenhänge zu gewinnen, die dann als „Daten" in unsere Rechnung eingestellt werden müssen, um von hier aus die Statik und damit den Erkenntnisgrund für die gesuchten Größenbeziehungen
zu
gewinnen. Ich will mich hier noch einmal abschließend prinzipiell über das Verhältnis der subjektivistischen Auffassung zur eigentlich ökonomistischen äußern: Was die Klassik behandelte, und was man von jeher als „Nationalökonomie" bezeichnete, ist ausschließlich die Lehre von der Marktwirtschaft.
Diese Lehre war, wie gesagt, in allen ihren guten
Vertretern essentiell statisch, konnte nur statisch sein. Das bedingt gewisse Voraussetzungen, u. a. auch die, daß Angebot und Nachfrage konstant sind, d. h. daß die Personalwirtschaften in ihrer Statik fungieren. Diese Supposition ist an sich ohne weiteres gestattet. Aber es konnte wohl die Frage gestellt werden, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Angebot und Nachfrage konstant sein können. Die eine dieser Bedingungen kennen wir bereits: das dynamische Gleichgewicht der Marktwirtschaft muß hergestellt, die Konkurrenz auf ihrem Ruhezustande angelangt sein. Solange nämlich die Preise schwanken, ist es unmöglich, daß Angebot und Nachfrage konstant bleiben, weil sie durch jede Preisänderung in der bekannten Weise beeinflußt werden. Aber es ist eine zweite Frage möglich, wenn auch nationalökonomisch
von keiner Bedeutung. Sie
lautet: wie muß die Versorgung der Individuen beschaffen sein, damit sie auch bei als konstant angenommenen Preisen keine Veranlassung haben, weder ihre Nachfrage, noch ihr Angebot zu ändern? Dieses Problem ist, wie Amonn chologisch.
selbst sagt, durchaus nicht nationalökonomisch. Es ist rein psy-
Nun hat die Psychologie es leider versäumt, wie die von uns bedurften Grundbegriffe
(ζ. B. Bedürfnis, Trieb usw.) überhaupt, so auch diesen Gegenstand zu untersuchen und uns, hier in der Rolle unserer Hilfswissenschaft, fertig zubereitet und zuverlässig darzubieten. Infolgedessen sind die Ökonomisten gezwungen gewesen, sich dieses Handwerkzeug schlecht und recht (mehr schlecht als recht) selbst zuzubereiten; und aus diesem Grunde ist es üblich geworden, den Lehrbüchern der Ökonomik eine „Grundlegung" vorauszuschicken, die diese Dinge enthält. Aus der Entwicklungsgeschichte unserer Wissenschaft ist leicht zu verstehen, daß die Autoren selbst kaum das Bewußtsein davon hatten, hier noch nichts eigentlich Nationalökonomisches zu bringen, sondern sich noch im Gebiet der Psychologie zu bewegen. Diesen Unterbau hat in beiden Teilen Hermann
Gossen uns in vollkommener Weise geliefert.
Niemand hörte auf ihn, und ich betrachte es als ein unzweifelhaftes Verdienst der Grenznutzenschule, diese verschütteten Wahrheiten wieder ans Tageslicht gebracht und ins Bewußtsein der
Wert und
285
Kapitalprofit
neueren Fachwissenschaft eingeprägt zu haben. Ich habe die Goweraschen Sätze fast ohne jede Einschränkung akzeptiert; und ich hoffe, die Grenznutzenschule wird mir zugeben können, daß es mir gelungen ist, die Lehren von der „vorwirtschaftlichen Erwägung" und der Statik der Personalwirtschaft knapper und klarer darzustellen, als es in einem der bisherigen Lehrbücher
geschehen war.
Aber ich weigere mich, den Schritt mitzutun, den die Grenznutzenschule über Gossen hinaus, oder vielmehr von Gossen fort, getan hat. Sie beruft sich auf ihn als ihren großen Meister, pflegt aber nicht mitzuteilen, daß er in Beziehung auf den Preis strenger Objektivist gewesen ist. Es ist ihm niemals eingefallen, Marktwirtschaft aus seinem subjektiven Verwendungswert der Personalwirtschaft deduzieren zu wollen. Dafür ist die „Schule" allein verantwortlich, und nur dagegen: nicht gegen die Grenzwerttheorie,
sondern gegen die Grenzpreistheorie,
richten sich meine Angriffe.
Die Marktwirtschaft ist ein im Dienste der einzelnen Personalwirtschaften entstandener und ihren Zwecken dienender Mechanismus
von den einzelnen Personalwirtschaften auf ihn ausgeübten
summierten Kräfte, die sich in Gestalt von Angebot und Nachfrage als bestimmte Mengen von Wertdingen (Gütern und Diensten) darstellen. Das heißt, daß die psychischen Antriebe, die in letzter Linie zugrunde liegen, daß diese Intensitätsgrößen sich in der Marktwirtschaft restlos umgesetzt haben in Extensitätsgrößen, in Quanten,
deren gegenseitiges Verhältnis mathematischer Be-
handlung zugänglich ist, wie die Ausführungen des ersten Teils dieser Arbeit jetzt hoffentlich endgültig bewiesen haben werden. Indem wir von der Psychologie und der Personalökonomik zur Marktwirtschaft und Nationalökonomik weiterschreiten, haben wir den Schritt von der Sozialpsychologie zur eigentlichen Soziologie gemacht: „Wir betrachten die Dinge nicht mehr in bezug auf ihre seelischen Wurzeln im Individuum, nicht mehr als subjektive Bewußseinsinhalte, die auf Verwirklichung in Betätigung drängen, sondern als objektive
Strukturen
und Funktionen
der
lebendigen
Einheit Gesellschaft In dieser Betrachtung ist das Psychologische überall ausgelöscht. Es interessiert nicht mehr, weil es sich in objektive Quanten „entäußert" hat. Man wird das aus einem Beispiel leicht verstehen: ein Dynamo muß durch irgendeine Kraft angetrieben werden, durch Verbrennungswärme oder Wassergefälle oder menschliche oder tierische Muskelkraft oder Wind usw. Aber im Apparat selbst entsteht jetzt eine völlig neue Kraft, die Elektrizität. Und es ist zwar gut zu wissen, daß Elektrizität ihrem Ursprung nach nichts anderes ist als transformierte mechanische oder thermische oder animalische Energie: aber damit ist für das Wesen und vor allen Dingen für die Messung der Elektrizität als einer ganz neuen Erscheinungsform der allgemeinen Energie nicht das mindeste gewonnen. Wenn der Dynamo von Wassergefälle betrieben wird, dürfen wir die Elektrizität doch nicht nach Kilogrammetern messen; und ebensowenig nach Kalorien, wenn der Dynamo von tierischer oder menschlicher Kraft oder Verbrennungswärme getrieben wird. Wir müssen sie immer und in jedem Falle messen nach den für sie geltenden spezifischen Maßeinheiten, nach Watt, Volt, O h m usw. Diese Ergebnisse sind sinngemäß auf das Verhältnis der psychologischen vorwirtschaftlichen Erwägung und des marktwirtschaftlichen Mechanismus anzuwenden. Dann wird die ungeheuere Verwirrung endlich ein Ende nehmen, von der heute auch unsere besten jüngeren Köpfe heimgesucht sind, das Suchen nach dem Unmöglichen: nach einer als Einheit sowohl für die psychologische Grundlegung wie für die marktwirtschaftliche Mechanik gültigen Maßeinheit. Aus dieser Verwirrung sucht ζ. B. ein Mann von dem Scharfsinn eines Ernst Schuster in seiner Abhandlung: „Untersuchungen zur Frage nach der Möglichkeit einer theoretischen Wirtschaftswissenschaft" (1922) vergeblich einen Ausweg. Und ist doch so dicht an der Erkenntnis der letzten, und von unserem Standpunkte aus so überaus einfachen Wahrheit!
1
Oppenheimer, Allgemeine Soziologie, in: System der Soziologie, Bd. I, S. 445.
286
Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Um es zu guter Letzt logisch unmißverständlich zu kennzeichnen, so ist jeder Versuch, vom subjektiven Verwendungswert aus den objektiven Beschaffungswert abzuleiten, eine „Metabasis eis allo genos". Und nun ein allerletztes Wort, warum ich auf alle diese scheinbar so abstrakten Berechnungen und Betrachtungen einen so großen Wert lege: Das Problem der Distribution und vor allem des Kapitalprofits ist, im Gegensatz zum Problem des Wertes an sich, auch praktisch das wichtigste von allen. Das Schicksal unserer Welt hängt an seiner Lösung. Bürgertum und Sozialismus rüsten sich zum letzten, entscheidenden, weltzerstörenden Kampfe, und die letzte tiefste Wurzel ihres Antagonismus ist die verschiedene Lösung, zu der sie sich bekennen. Jeder der beiden Gegner gibt die eine der beiden einzig möglichen Lösungen. Die Bourgeoisie leitet die Verschiedenheit der Klasseneinkommen ausschließlich aus den Differenzen der Qualifikation ab und stützt darauf ihren Kapitalismus und Imperialismus. Hier spricht die „Wurzel aller soziologischen Übel" in Theorie und Praxis, das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation. Der Sozialismus aller Richtungen, auch unbewußt oder halbbewußt der Marxismus, bekennt sich zu der anderen Lösung: jene Unterschiede sind auf die Monopolisierung der Produktionsmittel zurückzuführen. Dieser Konflikt, der schwerer wiegt als die Streitigkeiten zweier gelehrter Schulen, läßt sich nur schlichten, wenn man das Wesen des Wertes und daher des Kapitalprofits richtig erkannt hat. Meine Theorie bahnt, wenn sie richtig ist, den Weg zur Synthese von Sozialismus und Liberalismus und dadurch praktisch zur Versöhnung der Klassen, zur Beendigung des Klassenkampfes. Es ist mir gleichgültig, wenn das „utopisch" klingt. Weil ich meiner Sache sicher zu sein glaube, muß ich sie, aus tiefster sittlicher Verpflichtung, kämpfend vertreten und darf nicht eher ruhen, als bis ich heimkehre, „mit oder auf dem Schilde". Ich spreche den ernsten Wunsch aus, daß auch meine künftigen Kritiker diese gleiche sittliche Verpflichtung empfinden möchten.
Zur Möglichkeit der Konjunkturtheorie
[1927]1
Es sei mir gestattet, im folgenden einige Worte der Ergänzung zu der tief eindringenden und aufschlußreichen Arbeit Adolf Lowes in diesem Archiv2 zu geben. Ich finde, daß ein wichtiger, ja, wie mir scheint, entscheidender Gesichtspunkt doch nicht ganz zu seinem Recht gekommen ist. Ich will dabei nicht verhehlen, daß ich pro domo spreche, da ich es bin, der diesen Gesichtspunkt zuerst in den Mittelpunkt der Lehre von Konjunktur und Krise gestellt hat, bereits vor dreißig Jahren; ich habe seither niemals die Genugtuung erlebt, diese Gedanken auch nur erwähnt zu finden. Löwe stimmt, dessen glaube ich vollkommen sicher zu sein, mit mir darin überein, daß alle Konjunkturlehre, obgleich exquisit kinetisch, dennoch nur ruhen kann auf einer vollentwickelten statischen Theorie von der Gesellschaftswirtschaft, d. h. auf der Lehre von einem geschlossenen System, das als in seinem Gleichgewichtszustande funktionierend unterstellt wird. Oder, was dasselbe sagt, von einem System der Gesellschaftswirtschaft, dessen sämtliche „Daten" während der Dauer der Beobachtung als unveränderlich gelten. In einem solchen System läßt sich die „Interdependenz" der Funktionen mit genügender Genauigkeit berechnen. Nur aufgrund dieser Ergebnisse kann man dann herausfinden, wie die Veränderung eines oder mehrerer Daten, also in der Kinetik oder Dynamik, das System als Ganzes und die Interdependenz der Funktionen verändert. Die Statik ist uns gegeben nur als „Tendenz", nicht als Realität, und zwar ergibt sich die Tendenz und ihr fiktiver Ruhezustand aus den Gesetzen der Konkurrenz, die wir wieder aus der Prämisse deduzieren können, daß der wirtschaftende Mensch in der Regel dem „ökonomischen Prinzip" folgt. Das Kernstück, geradezu der Grundpfeiler dieser Deduktion, besteht in dem Satze, daß der Wirt seine Produktion (d. h. die Menge der von ihm zu Markte gebrachten Wertdinge) ausdehnt, wenn seine Gewinne am Preise steigen, und einschränkt, wenn sie fallen. Die meisten der bisherigen Krisentheorien beruhen nun auf dem Bestreben, auch den Konjunkturzyklus als eine Erscheinung des geschlossenen Systems, sozusagen aus rein inneren Ursachen, zu verstehen und zu erklären. Das Hauptbeispiel für die Erklärung aus Datenänderung durch äußere Einflüsse bildet die Jevonssche Lehre, die den Zyklus der Konjunktur mit dem der Sonnenflecken in Verbindung zu setzen versucht. Aber keine bisherige Theorie hat verstanden, daß es eine Statik der kapitalistischen Gesellschaftswirtschaft im eigentlichen Sinne nicht geben kann. Ich habe in den ersten zehn Abschnitten meiner „Theorie der reinen und politischen Ökonomie"3 mich bemüht, die Statik einer entwickelten Wirtschaftsgesellschaft mit viel größerer Genauigkeit namentlich in bezug auf die quantitative Bestimmung der Interdependenz zu errechnen, als es bisher gelungen war. Aber im elften Abschnitt, der „Der Kapitalismus" überschrieben ist, findet sich in dem Unterabschnitt „Der Stand der Krisentheorie" folgender Satz, den auch Löwe übersehen zu haben scheint:
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[Erstmals erschienen in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 25 (1927), S. 377-379.] Löwe, Wie ist Konjunktur überhaupt möglich?, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 24 (1926), S. 165ff. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, 5. völlig neu bearbeitete Auflage, [in: System der Soziologie, Bd. ΙΠ, 2 Teilbde.], Jena 1923 und 1924.
288
Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
„Hier ist der Ort, um eine Tatsache herauszuarbeiten, die auf das allerdeutlichste zeigt, daß der Kapitalismus an sich, als Totalität, eine Abnormität ist. Man kann von einer ,Statik' der kapitalistischen Gesellschaft selbst dann, wenn man sich vollkommen darüber klar ist, daß es sich um eine Fiktion handelt, nur in einem sehr übertragenen Sinne, jedenfalls in einem anderen als dem bisher von uns gebrauchten Sinne, sprechen. Denn bisher nahmen wir an, daß die Tendenz zur Statik sich dadurch auswirke, daß steigender Gewinn Attraktion, sinkender Gewinn Repulsion auf die betroffenen Zweige ausübt: im Kapitalismus aber findet, wie wir jetzt wissen, außer in der Krise selbst, immer Attraktion statt; und die selbstverständlich auch hier wirksame Tendenz zur Statik kann sich nur in Katastrophen, Krisen, ruckweise, durchsetzen, etwa wie bei einer Waage, deren eine Schale durch einen festen Strick gehalten wird. Wenn die andere Schale stärker und stärker belastet wird, muß der Strick reißen oder die Waage brechen. So auch die Marktwaage! Die Ausgleichung erfolgt immer nur durch einen heftigen Ruck, niemals wie in unseren sonstigen Annahmen durch allmähliche Einschwankung."1 Ich konnte nämlich - die Einzelheiten müssen schon in meinem angeführten Werke2 unter dem Titel „Psychologie der Konkurrenz: Friedlicher Wettbewerb und feindlicher Wettkampf" eingesehen werden - zeigen, daß der kapitalistische Unternehmer, wenn er dem ökonomischen Prinzip folgt, infolge der Lagerung dieser Gesellschaftswirtschaft nicht nur selbstverständlich bei steigenden Gewinnen die Produktion ausdehnt, sondern gezwungen ist, das gleiche auch hei sinkenden Gewinnen zu tun. Damit ist die einzige Voraussetzung gefallen, von der aus durch die Klassiker von Adam Smith abwärts die Statik als Tendenz deduziert wurde. Und zwar ist die materielle Voraussetzung für diese psychologische Motivation des kapitalistischen Unternehmers das in der Regel vorhandene Uberangebot auf dem Markte der Dienste (Arbeitsmarkt) oder mit anderen Worten: das fast immer gegebene Vorhandensein einer ausreichenden „Reservearmee", durch welche die Ausdehnung der Produktion in einem Stadium noch möglich ist, wo zwar noch die Preise steigen, aber die Gewinne sinken, weil die Selbstkosten in stärkerem Verhältnis steigen als die Preise. Und diese Reservearmee ist unmöglich abzuleiten für ein geschlossen gedachtes kapitalistisches Wirtschaftssystem, sondern bildet sich durch Zuwanderung aus einem (im gewöhnlichen Sinne) nicht kapitalistischen Räume: aus dem noch vor-gewerbs-kapitalistischen, in seiner Struktur noch feudalen Räume, aus den Bezirken des geschlossenen massenhaften Großgrundeigentums. Ich sage ausdrücklich: „Aus einem im gewöhnlichen Sinne, aus einem noch vor-gewerbskapitalistischen Räume", weil ich zu betonen wünsche (was vor mir ζ. B. Knapp mit aller Schärfe hervorgehoben hat), daß wir den Begriff „Kapitalismus" weiter zu fassen haben, wenn wir zum vollen Verständnis der geschichtlichen Entwicklung und der theoretischen Zusammenhänge sollen kommen können. Kapitalistisch ist jeder Wirtschaftsbetrieb, der mit ausgebeuteten Arbeitern für einen Markt produziert. In diesem Sinne gab es bereits im Altertum Kapitalismus aufgrund von Sklavenarbeit, gab es im Mittelalter und der Neuzeit agrarischen Kapitalismus aufgrund der Leibeigenschaft und Hörigkeit und, in England, aufgrund der milderen Schollenfesselung der Landarbeiter durch die Kirchspielgesetze, die ihren Abstrom vom Lande, und die Korporationsgesetze, die ihren Zustrom in die Städte verhinderten. Dieser agrarische Kapitalismus geht, Brodnitz' hat es jetzt wieder für England überzeugend nachgewiesen, dem gewerblichen Kapitalismus, der „freie Arbeiter" exploitiert, lange voraus, und dieser folgt nur sehr zögernd in einem Entfaltungsprozeß von Jahrhunderten.
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Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 1014f. Ebenda, S. 948ff. Brodnitz, Englische Wirtschaftsgeschichte - Handbuch der Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, Jena 1918.
Z«r Möglichkeit der
Konjunkturtheorie
289
Um davon nicht weiter zu sprechen, so ist von der gewonnenen Einsicht aus, daß der Kapitalist auch bei sinkenden Gewinnen seine Produktion auszudehnen gezwungen ist, der Prozeß der Konjunktur bis zu ihrem Tiefpunkte leicht zu verstehen: die Uberfüllung aller industriellen Märkte zu gleicher Zeit. Auch andere Schwierigkeiten, die der Erklärung des Wiederaufstiegs vielleicht entgegenstehen, sind leicht zu überwinden, wenn man sich auf den notwendigen „geozentrischen" Standpunkt stellt und nicht sich in dem vergeblichen Bemühen erschöpft, die Industrie als ein unabhängiges Ding an sich, losgelöst von ihrem ländlichen Markte, verstehen und erklären zu wollen.
Produktivität [1928]1
Vorauszuschicken: dieses Buch gehört zu den wenigen vortrefflichen theoretischen Untersuchungen, die das 20. Jahrhundert, und nicht nur in Deutschland, gebracht hat. Es ruht auf breiten sicheren Fundamenten. Wunderlich hat nicht nur eine ausgezeichnete theoretische, sondern, was so viele Fachmänner schmerzlich vermissen lassen, auch eine ausgezeichnete philosophische Vorbildung. Sie hat dazu als Schriftleiterin der „Sozialen Praxis" eine nicht vielen vergönnte Ubersicht über die Entwicklung der letzten Jahre gewinnen können, und zwar gleichmäßig in Hinsicht auf die technisch-kommerzielle Differenzierung und Integrierung, wie auf die Ausgestaltung der Arbeiterverhältnisse. Sie besitzt ferner die Gabe der übersichtlichen Gliederung eines großen Stoffes, eine seltene Fähigkeit zu selbständigem kritischen Urteil und eine Sprache von ebensoviel Kraft wie Geschmeidigkeit. Ich stehe nicht an, dieses Werk als ebenbürtig neben ein anderes ausgezeichnetes Buch zu stellen, das aus der Feder einer Frau stammt: neben Beatrice Webbs: „Geschichte des britischen [Trade Unionismus]". Nach einer dogmenkritischen Ubersicht über die Literatur ihres Gegenstandes, die an sich in der Knappheit und doch Fülle der Darstellung sowie in der Treffsicherheit der Kritik ein kleines Meisterstück ist, geht Wunderlich an das eigentliche Thema, das bereits in der „Vorbemerkung" klar umrissen ist. Es geht ihr nicht um den Begriff der technischen, und ebensowenig um den Begriff der privatwirtschaftlichen, sondern um den der volkswirtschaftlichen Produktivität, einen „heftig umstrittenen Begriff, der an volkswirtschaftlichen Maßstäben zu orientieren wäre, und für den sich bei der Verschiedenheit volkswirtschaftlicher Lehrmeinungen bisher ein einheitlicher Maßstab nicht finden ließ". Und zwar will sie nachweisen, „daß diese wirtschaftliche Produktivität sich nur am Zweck der Wirtschaft aufstellen läßt, und alle Kämpfe um den Produktivitätsbegriff bisher nichts anderes als Kämpfe um den Wirtschaftszweck gewesen sind". Dementsprechend gilt denn der, dem ersten dogmenkritischen Teile folgende zweite Teil, die „Grundlegung", im wesentlichen dem Begriff des Wirtschaftszwecks. Den Anfang macht „die philosophische Begründung des Wirtschaftszwecks". Hier wird zunächst die modernste, heute weithin herrschende Schule kritisch abgefertigt, die einen Zweck der Gesellschaftswirtschaft nicht anerkennen will, weil „Zweckanerkennung immer Wertung sei". Wunderlich stellt diese Verirrung mit Recht in die allgemeine Krise der Wissenschaftsauffassung überhaupt ein, die mit der „Bankrotterklärung der spekulativen Philosophie" den Positivismus brachte, der
1
[Es handelt sich hierbei um eine von Franz Oppenheimer verfaßte Rezension über Frida Wunderlich, Produktivität, Jena 1926. Erstmals erschienen in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 59 (1928), S. 598-616; A.d.R.]
Produktivität
291
jede über die Erfahrung hinausgehende Metaphysik ablehnte. Sie sagt dazu mit Recht - denn der ohne einen festen Stützpunkt in anerkannten Werten ziellos umhertaumelnde Relativismus hat wissenschaftlich und praktisch in die Wüste geführt - , diese Krisis sei „in den Einzelwissenschaften allgemein überwunden, philosophische und positive Arbeit wird nebeneinander geleistet [...]. Auch in der Philosophie selbst hat sich der Kritizismus mit seiner Anerkennung der vor aller Erfahrung a priori geltenden Normen wieder durchgesetzt. Nur in der Wirtschaftswissenschaft ist man noch nicht so weit."' „Die Folge ist allgemeine Ratlosigkeit im praktischen Handeln, ein Chaos der Ziele anstelle des wissenschaftlich begründeten Zieles. Die Führung in der Wirtschaftspolitik geht der Wissenschaft verloren, und Machtinteressen herrschen ungestört von wissenschaftlicher Kritik, die verstummen muß, weil ihr das Werten verboten ist [...] Unser Erkenntnisstreben fordert die systematische Ordnung der Mannigfaltigkeit und ihren Aufbau zu einer Einheit; dieser aber läßt sich nur durch das vornehmste Prinzip der Einheit, wie Kant den Zweck nennt, erreichen."2 Ein frischer Luftzug! In all dem traurigen, schlappen Relativismus unserer Zeit das mutige Bekenntnis zu Kant, die Erkenntnis, der ein Proudhon den monumentalen Ausdruck gegeben hat, daß das Ziel der Wissenschaft erst erreicht ist, wenn science und conscience übereinstimmen. Zwei feste Punkte sind dem Menschen gegeben, beide in Erkenntnissen a priori vor jeder Erfahrung: die Logik für den Verstand, das Sittengesetz für die Vernunft, „der gestirnte Himmel über mir und das ewige Gesetz in mir", - und durch zwei Punkte ist auch in der Ebene des Weltdenkens jede Linie bestimmt. Welches kann denn nun der Zweck der Gesellschaftswirtschaft sein? Er kann nicht gefunden werden in der „subjektiven Teleologie"·. „eine Verständigung ist hier bei der Verschiedenheit der Ausgangspunkte ganz unmöglich"'. Ebensowenig kann uns die „kausale" oder „psychologische Teleologie" zum Ziele führen, die „den Zweck nur als besondere Form, als Umkehr, als Spezialfall der kausalen Betrachtung faßt, nämlich als die durch den zwecksetzenden Willen herbeigeführte Kausalität". Denn die Umkehrung ergibt noch keine Teleologie, da man von der bewirkten Veränderung nur zur Bewegung zurückgehen kann, nicht aber zu den Vorstellungen „des zwecksetzenden Subjektes" 4 . Was schließlich die „metaphysisch-teleologische Betrachtungsweise" anbetrifft, so ist sie, weil dogmatisch, unhaltbar, gleichviel, ob sie, wie Aristoteles, den Zweck zum Dinge, zu Wesen und Ursache der Dinge macht (Zweck als Sezrcsinhalt), oder ob sie, wie etwa Hegel, „den Zweck mit absoluten Normen verbindet" (IFminhalt). Der Versuch Rickerts, an Stelle des Werts nur die „Wertbeziehung" auf allgemein anerkannte Kulturwerte zu setzen, um jede Willkür auszuschließen, mußte scheitern: „Damit ist keine Sicherstellung der Gültigkeit erfolgt. Die Werte, auf die die Auswahl sich bezieht, müssen vielmehr ebenfalls gewertet werden."5 Wo ist hier der Ausweg zu finden? Die Antwort lautet: „Höchster Wert ist sicher nicht die Wirtschaft, sondern die Gesamtgestaltung der Kultur, deren eine Seite Wirtschaft sein mag [...] Damit ordnet Wirtschaftsphilosophie sich der Kulturphilosophie ein [...] Uns handelt es sich nur um den Wirtschaftszweck, den man sich bisher aus einer anderen Disziplin, aus der Ethik, geholt hat. Diese vulgäre Vermischung mit der Ethik, die eine eigene Wirtschaftswissenschaft überhaupt unmöglich macht, ist jedenfalls abzulehnen [...] es muß daher versucht werden, den Wirtschaftszweck aus der Wirtschaft selbst aufzuweisen. Nur
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Wunderlich, Produktivität, Jena 1926, S. 86f. Ebenda, S. 88. Ebenda, S. 90. Ebenda. Ebenda, S. 95.
Erster Teil: Nationalökonomie
292
und
Wirtschaftspolitik
ist dann zum Schluß zu prüfen, ob er sich der Gesamtheit der Kulturzwecke einordnet; denn [...] Endziel jeder Zwecksetzung ist die übergeordnete Einheit aller Zwecke. Die Einheit der Kultur, die Einheit der Gemeinschaft, deren eine Seite die Wirtschaft bildet, verlangt Widerspruchslosigkeit ihrer Normen." 1 „Erst durch den Zweck, der Idee ist, wird es möglich, das System zu denken [...] Mit Hilfe des Zweckbegriffs werden (nach Kant) die mannigfaltigen Erfahrungen so betrachtet, als ob sie Teile eines idealen Ganzen im gegenseitigen Zusammenhang wären. Das Resultat ist ein logisches System. Jetzt erst wird Wissenschaft auf dem Erfahrungsgebiet möglich [...] Kant hat nur den Zweckbegriff für die Naturwissenschaft aufgezeigt, wir müssen ihn weiter für die praktischen Wissenschaften verfolgen [...] Dem Zweck in der Naturwissenschaft kommt rein theoretische Bedeutung zu, in den Wissenschaften des Handelns wird er zum Ziel, auf das menschliches Wollen sich richtet [...] In ihnen ist der Zweck herrschendes Forschungsprinzip, weil es sich darum handelt, Resultate und Zweckvorstellungen zu vergleichen. Der Zweck hat hier eine objektive Bedeutung gewonnen, weil die Zweckvorstellung selbst zur Ursache wird. Der Zweck ist also nicht nur eine rückwärts gerichtete Kausalbetrachtung, sondern er ist vorwärts gerichtete Bedingung des Geschehens, ist praktisches Postulat."2 „Wie aber wird die Idee gefunden? Darauf gibt Plato in seiner Hypothesis Antwort. Den voraussetzungsfreien Anfang bilden die Setzungen des Denkens, zu denen man im logischen Rückgang von den Wissenschaften aus gelangt, und die sich in der Widerspruchslosigkeit. der Konsequenzen rechtfertigen. Ist keine weitere Herleitung mehr möglich, so ist das Prinzip (arche) gefunden, die Hypothesis, die Idee. [...] Sie ist ein unwiderrufliches, niemals durch Experiment und Beobachtung beweisbares Grundurteil, das über der Empirie steht und nicht von ihr seine Rechtfertigung empfängt."3 In dem gleichen Geist spricht Kant von „jener pöbelhaften Berufung auf angeblich widerstreitende Erfahrung". „Es gibt kein Denksystem ohne Grundlegung im logischen, nicht im psychologischen Sinn, keine Wissenschaft ohne Voraussetzung [...] Haben wir die Idee, so folgt aus ihr das Sollen als Forderung der Verwirklichung [...] Damit haben wir die für die Nationalökonomie notwendige teleologische Betrachtungsweise klargelegt [...] Die Bestimmung des Ziels entscheidet über den Weg und über Auswahl der Mittel. Wirtschaft als Zweckgebilde, als nach dem Zweck gestaltetes Zusammenwirken macht allein vernünftiges wirtschaftliches Handeln möglich."4 Damit ist die zunächst zu lösende Aufgabe klar gestellt. Aus dem Begriff der Wirtschaft muß sich ihre „Idee" ergeben. Nun „entsteht Wirtschaft aus der Spannung von Bedarf und Deckung, und ist somit Wirtschaften das auf den Ausgleich dieser Spannung gerichtete Handeln"\ Wirtschaft aber ist „der Dauervollzug dieses Handelns im menschlichen Zusammenleben, die ununterbrochene Kette von Wirtschaftsakten, einschließlich aller Einrichtungen und Veranstaltungen, die sich außerhalb der Wirtschaft und für ihre Zwecke entwickelt haben", und zwar ist sie „vollziehbar nur in Vergesellschaftung mit Menschen", sie ist Gesellschaftswirtschaft, „Volkswirtschaft", und als solche ein
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Wunderlich, Produktivität, S. 96f. Ebenda, S. 99f. Ebenda, S. 102. Ebenda, S. 103. Ebenda, S. 111.
Produktivität
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„objektives Gebilde, das sich von der Psyche des Wirtschaftenden löst [...] als gegenständlich gewordener Geist (objektiver Geist im Hegeischen Sinne)"1. Könnte Wirtschaft jene Spannung zwischen Bedarf und Deckung jemals vollkommen überwinden, so machte sie sich selbst überflüssig. Das aber ist ein unerreichbares Ziel, und „so bleibt als Aufgabe die Milderung des Spannungsverhältnisses durch Steigerung der Kraft, die zur Uberwindung führt. Die Größe der Kraft wird gemessen an ihrer Fähigkeit, zur Besserung der Verhältnisse beizutragen. Diese Erfolgskategorie führt in der Wirtschaft den Namen Produktivität. [...] [In diesem Begriff] liegt ein teleologisches Moment, das die Aufgabe der Steigerung der schon vorhandenen Möglichkeiten umfaßt. Einer Steigerung im doppelten Sinne: es soll gleichzeitig der Effekt menschlicher Arbeit um ein Vielfaches erhöht, und ihr Erzeugnis auf das Vollkommenste ausgenutzt werden."2 Bis hierher können wir uns mit einer sofort zu machenden Einschränkung als durchaus einverstanden erklären, sowohl im Philosophischen wie auch in der, der Ökonomik angehörenden, Begriffsbestimmung. Die Verfasserin hat in durchaus selbständiger Weise auf den von mir gelegten Fundamenten weitergebaut, und ich kann den von ihr so glücklich umrissenen Begriff der Produktivität annehmen. Nur eine kleine Verschiedenheit der Anschauung besteht, auf die ich jetzt mit wenigen Worten einzugehen habe. Ich habe, geradeso wie gleichzeitig mit mir und unabhängig von mir Othmar Spann, Wirtschaft als ein System von Mitteln zu ihr gegebenen, von ihr nicht zu bewertenden Zwekken bezeichnet. Wirtschaften heißt: kostende Objekte im Dienste jener Zwecke nach dem Prinzip des kleinsten Mittels zu beschaffen und zum größten Erfolge bis zur Verwendung zu verwalten; Wirtschaft aber ist der Inbegriff aller dieser einzelnen wirtschaftlichen Handlungen, mit dem Ziele, jene Zwecke aufgrund eines Wirtschaftsplans für eine bestimmte Wirtschaftsperiode entsprechend der Dignitätsskala der Bedürfnisse zu verwirklichen. Danach zerfällt die Wissenschaft von der Wirtschaft in eine theoretische und in eine praktische Disziplin. Die Theorie ist eine rein rationalistische, rein kausale, wertfreie Wissenschaft. Sie zeigt, wie die einzelnen ökonomischen Personen ihre Wirtschaft nach dem Prinzip des kleinsten Mittels gestalten, und wie sie sich namentlich ihrer Gesellschaftswirtschaft als ihres kleinsten Mittels zum größten individuellen Erfolge bedienen; sie zeigt ferner, wie außerwirtschaftlich entstandene Machtpositionen in den Ablauf dieser Gesamtfunktion eingreifen und ihr Ergebnis verändern. Demgegenüber hat die praktische Ökonomik zu zeigen, wie gegebene Ziele in der wirtschaftlichsten Weise erreicht werden können. Und zwar hat die Ökonomik, eben weil sie die Wissenschaft nur von Mitteln, nicht aber von Zielen ist, als solche die ihr vorgegebenen Ziele mit keinem Wertakzent zu versehen, weder mit einem positiven, noch einem negativen. Sie hat nur zu sagen, als „hypothetischen Imperativ": „Wenn Du dieses Ziel anstrebst, so bediene Dich dieser Mittel." Die Bewertung des Zieles hat sie anderen Wissenschaften zu überlassen, denen die Aufgabe zufällt, gewisse Ziele als vorzugswürdig auszuzeichnen und andere als schädlich oder unsittlich zu verwerfen. So ζ. B. hat die praktische Ökonomik bei der Medizin anzufragen, ob Opium oder Alkohol Güter sind, die begehrt werden „sollen": oder bei der Ethik oder Historik, ob die Sklaverei sittlich gut oder gesellschaftsnützlich oder das Gegenteil ist. Nun glaubt Wunderlich, zwischen dem Zweckhandeln in den naturwissenschaftlichen und dem in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen eine scharfe Unterscheidung machen zu müssen:
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Wunderlich, Produktivität, S. 113. Ebenda, S. 114.
Enter Teil: Nationalökonomie
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und
Wirtschaftspolitik
„Zu ersteren würden die Technik und die Medizin gehören, Technik, die durch Anwendung der Naturgesetze einen von anderen Disziplinen gesetzten Zweck erreichen will, die Medizin, die, gemäß dem Kantschen Prinzip der objektiven Zweckmäßigkeit, Leben als Zweck der Funktionen des menschlichen Körpers faßt und dieses zum leitenden Wert ihrer Untersuchungen macht [...] Sie können mithin [...] als System der Mittel, als kausales System aufgefaßt werden. Sehr viel schwieriger ist die Zweckfeststellung für die Sozialwissenschaften, denen der Zweck nicht von außen gegeben, oder inhaltlich fest bestimmt wird. Die angewandten Naturwissenschaften haben ihre feste Richtschnur an der eindeutigen Wucht des Naturseins, während die Sozialwissenschaften vor dem ewig Neuen, Kommenden stehen. Für die angewandten Naturwissenschaften kann mithin ein materieller Zweck gesetzt werden, für die Sozialwissenschaften kann es nur ein formaler sein. So bleiben erstere Wissenschaften Zweck der Mittel, während die letzteren darüber hinausgehen. In der Medizin ist der Zweck die aus der Erfahrung abgeleitete Gesundheit, in der Wirtschaft ist er eine in keiner Erfahrung jemals anzutreffende Idee. "1 Die Erörterung scheint mir nicht zwingend. Es ist nicht einmal für die Medizin vollkommen wahr, daß ihr Zweck „die aus der Erfahrung abgeleitete Gesundheit" sei. Ganz abgesehen davon, ob es überhaupt eine dem Ideal entsprechende Gesundheit irgendwo gibt, strebt die Medizin in ihren Sonderzweigen der Hygiene und Eugenik auf einen Zustand der Gesundheit hin, der über aller Erfahrung liegt. Die Erfahrung lehrt uns ζ. B. nichts anderes, als daß unter den uns gegebenen Verhältnissen die durchschnittliche Lebensdauer so und so groß ist: aber die Hygiene strebt danach, die Verhältnisse zu verbessern, um nicht nur die Dauer, sondern auch die Fülle des Lebens weit länger zu erhalten. Und die Eugenik strebt, und vielleicht mit nicht ganz unzureichenden Mitteln, dahin, einen Typus „Gesundheit" zu züchten, der auch unter der Voraussetzung des Fortbestandes der heutigen Verhältnisse hoch über dem jetzigen Typus steht. Noch viel mehr gilt aber für die Technik, daß ihr Zweck „eine in keiner Erfahrung jemals anzutreffende Idee ist". Jeder Konstrukteur einer neuen Maschine geht über die Erfahrung der Absicht nach hinaus. Er will entweder Dinge herstellen, die bisher in der Erfahrung überhaupt nicht vorhanden waren, ζ. B. ein Flugzeug, oder ein System drahtloser Télégraphié; - oder er will schon bekannte Dinge mit Mitteln herstellen, die in der Erfahrung nicht gegeben waren, wie ζ. B. das Verfahren der Walzung von Röhren nach Mannesmann; oder er will doch, allerwenigstens bekannte technische Ziele, mit zwar grundsätzlich schon bekannten, aber verbesserten Mitteln erreichen. Und so kann man sowohl von der Medizin wie von der Technik genau das Gleiche sagen, was Wunderlich allein von den Sozialwissenschaften gelten lassen will: „Der Zweck ist also jetzt zur Idee geworden, der keine Erfahrung zu korrespondieren vermag, zur Idee als einer wissenschaftlichen, methodischen, logischen Einheit, und hat damit den Charakter als Endpunkt verloren, ist unendlich geworden [...] Das Ziel ist kein erreichbarer Punkt, sondern Richtungsbestimmtheit eines Prozesses [...] Das Objekt der regulativen Idee ist im Gegensatz zur konstitutiven Idee aufgegeben, nicht gegeben."2 Hier scheint mir also eine „Unterscheidung ohne Unterschied" gemacht worden zu sein. Ich finde die Ursache dieses Fehlers, der im übrigen das Endergebnis kaum berührt, in zwei Dingen: erstens hat Wunderlich, als sie die Sozialwissenschaften den Naturwissenschaften gegenüberstellte, die Möglichkeit nicht bedacht, daß einige Sozialwissenschaften von den menschlichen Zielen, andere aber von den Mitteln handeln könnten, und daß die Ökonomik zu den letzteren gehören könnte.
1 Wunderlich, Produktivität, S. 2
E b e n d a , S. 101.
lOOf.
Produktivität
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Und zweitens scheint sie mir das Prinzip des kleinsten Mittels nicht völlig richtig aufzufassen. Sie begeht den gleichen, übrigens sehr häufigen Fehler, den ich von Gottl-Ottlilienfeld nachgewiesen habe. 1 Dieser sagt: „Daß sich der höchste Nutzen ausgerechnet mit den geringsten Kosten vereinbaren ließe, das ist unter unendlich viel möglichen Fällen just der Grenzfall der äußersten Unwahrscheinlichkeit." Wunderlich beruft sich ausdrücklich auf Gotti und schreibt entsprechend: „Größter Erfolg und kleinstes Mittel werden kaum je zusammentreffen." 2 Das heißt aber das Prinzip gründlich mißverstehen. Dieses bedeutet nichts anderes als: erstens, daß der Mensch sich nur ein Ziel setzen soll, das er mit seinen Mitteln erreichen kann: das ist sein „größter Erfolg". Er soll zweitens für diesen Erfolg nicht mehr von seinen Mitteln aufwenden, als unbedingt nötig ist: das ist sein „kleinstes Mittel". Und er soll drittens und schließlich, wenn mehrere Wunschziele um seinen Entschluß konkurrieren, für jedes einzelne die Lust des Erfolges und die Unlust des Aufwandes miteinander vergleichen und sich für dasjenige Ziel entscheiden, das die größte Differenz positiver Lust verspricht. Damit ist, um das auch hier noch einmal auf das Kräftigste zu betonen, kein Ziel ausgeschlossen, auch nicht das fernste und schwierigste, wenn der zielsetzende Mensch nur so beschaffen ist, daß ihm dieses Ziel unendlichen Wert darbietet, demgegenüber jeder Aufwand als verschwindend klein erscheint. Trotz dieser Abweichungen der Auffassung stimmen wir den Schlußfolgerungen der Verfasserin durchaus zu. In der Tat ist „Produktivität" in ihrem Sinne, als Steigerung jener Kraft, die die Spannung zwischen Deckung und Bedarf überwindet, die Aufgabe der Wirtschaft, und zwar gerade aus dem Grunde, weil sie, als ein System von Mitteln, allen Kulturzwecken nur dient. Denn alle Kulturzwecke, alle „objektiven Werte", stellen in der Tat keine Richtungspunkte dar, die irgendwann einmal endgültig erreicht werden könnten, sondern bestimmen nur „die Richtung eines unendlichen Fortganges", wie Wunderlich nach Natorp sagt. Darum weicht der Bedarf immer weiter vor der Deckung zurück, mag sie sich auch noch so gewaltig entfalten, und darum wird die Aufgabe der Wirtschaft, die wachsende Spannung zu überbrücken, zu einer ebenso unendlichen Aufgabe. Den Schluß der Grundlegung bildet die inhaltliche Bestimmung des Produktivitätsbegriffs und die Abgrenzung des Wirtschaftskreises; auch hier können wir nur unsere Ubereinstimmung aussprechen: Was den ersten anlangt, so orientiert Wunderlich sich zunächst an der Einzelwirtschaft, und zwar hier zuerst an ihrer Deckungsseite. Hier zielt Produktivität auf das Optimum von drei Faktoren: auf technische Rationalisierung, auf die Proportionalität, d. h. die Organisation, und schließlich auf Steigerung der in der Zukunft wirksamen Kräfte, der „produktiven Kraft". Die dem Einzelwirt gestellte Aufgabe ist also eine fünffache: Disponieren, Ordnen und Regulieren, technisches Vollziehen und Haushalten. In der Gesellschaftswirtschaft tritt das Disponieren zurück. Es wird „in der Verkehrswirtschaft geleistet von einem Automatismus, den wir als wirtschaftsregelndes Prinzip bezeichnen können. Smith spricht von der unsichtbaren Hand, Hegel von der List der Vernunft". Gesellschaftlich gesehen sind also Organisation, Technik und Kraftsteigerung als die Mittel der Produktivitätssteigerung zu bezeichnen. Aus diesen Erwägungen ergibt sich die Aufgabe, zunächst Technik und Organisation in ihrer Bedeutung für die Produktivität der Volkswirtschaft zu untersuchen. Dann muß noch „die Konsumtion ebenso wie die Betriebsform, in der sie sich abspielt (der Haushalt)" 3 mit eingezogen werden. Vorher ist noch die Frage des Wirtschaftskreises zu erörtern:
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Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, in: System der Soziologie, Bd. ΙΠ, 1. Teilbd., Jena 1923, S. 236. Wunderlich, Produktivität, S. 121. Ebenda, S. 128ff.
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Hier geht Wunderlich, korrekt, ganz wie auch ich, nicht von dem verabsolutierten, sondern von dem soziologisch determinierten Individuum aus. Aber sie bleibt sowenig wie ich dabei stehen. Das Maß der privatwirtschaftlichen Produktivität, die Rentabilität, ist nicht ohne weiteres als das Maß der volkswirtschaftlichen Produktivität anzunehmen. Der alte liberale Glaube an die „Harmonie der Interessen" hat sich wenigstens für unsere geltende Wirtschaftsordnung nicht bewährt. Zwar wird man das Ertragsstreben der einzelnen als einen Haupthebel der Steigerung volkswirtschaftlicher Produktivität niemals ausschalten dürfen, um die stärksten Lebenskräfte nicht zu unterbinden1: aber als einziges Prinzip darf uns Rentabilität nicht leiten. Sondern wir haben vom Ganzen auszugehen. Und zwar nicht etwa vom Staat, der eine Organisation mit eigenen, nur zum Teil wirtschaftlichen Zwecken ist, trotz aller Anerkennung seiner gewaltigen Bedeutung für die Wirtschaft, sondern von der heute noch nicht verwirklichten letzten Wirtschaftseinheit, der Menschheit als Wirtschaftsgesellschaft: „Jede andere Wirtschaftseinheit könnte in Gegensätze, in Widersprüche hineingeraten, die erst die alles umspannende, auf die Menschheit bezogene Einheit zu lösen vermag. Der Wirtschaftszweck sei mithin orientiert an der Idee der Menschheit als der Grundlage allgemein verknüpfender Beziehungsformen"2, wobei dieser Begriff Menschheit keinerlei Wertbetonung haben soll, sondern lediglich den größten Kreis im erdumfassenden Sinne abgrenzt. Nach dieser Grundlegung bringt der dritte Teil „die Darstellung der Elemente der Produktivität". Hier mag ins Vorhinein gesagt werden, daß dieser Abschnitt auf knappen 200 Seiten eine wahre Enzyklopädie der „Rationalisierung der Wirtschaft" in ihrem weitesten Sinne, ferner der Gewerbe·, Sozial- und Wohlfahrtspolitik bringt, geschrieben mit der gleichen tiefgründigen Sachkenntnis, der gleichen kritischen Kraft, und der gleichen Fähigkeit der Stoffgliederung, die auch die dogmenkritische Einführung kennzeichnen. Zuerst wird die technische Rationalität erörtert, deren Grundsatz die Verbesserung des Güteverhältnisses im weitesten Sinne ist, d. h. der Vermehrung der aus einem bestimmten Aufwande von Rohenergie gewonnenen Reinenergie. Hierher gehört nicht nur die Vermehrung des rein technisch betrachteten Rendements des Betriebes, sondern auch die Verwertung der Abfälle, und zwar nicht nur derjenigen der Roh- und Hilfsstoffe, sondern auch der Zeit: Vermeidung von Leerlauf. Hierher gehören die höchst aktuellen Betrachtungen über Normalisierung, Typisierung, Verständigung über Maße und Gewichte usw.; von Gottl-Ottlilienfelds bekannte sechs Forderungen bestimmen die Richtung.3 Aber dabei darf nie vergessen werden, daß ein rein technischer Fortschritt nicht ohne weiteres auch ein wirtschaftlicher ist. Erst durch die Preisgestaltung wird die Rationalität berechenbar. In unserer Wirtschaftsordnung ist der Motor - aber auch die Grenze - das Streben der Unternehmer nach Rentabilität: ohne Zweifel sind im Kapitalismus zahlreiche technische Möglichkeiten nicht ausgenutzt worden, wenn auch bisher der technische Fortschritt schnell genug vorangegangen ist. Aber selbst die an der Rentabilität gemessene technische Rationalität des Einzelbetriebes bedeutet noch keine volkswirtschaftliche Produktivität. Dieser Begriff muß auf eine umfassendere Wirtschaftseinheit bezogen werden, und aus diesem Grunde erweist sich die von Sombart und Max Weber aufgestellte Definition, nach der Produktivität die Relation von Arbeitsaufwand und Produktenquantum darstellt, als zu eng. Entscheidend ist die Organisation, d. h. die Proportionalität aller Funktionen im großen ganzen der Gesellschaftswirtschaft. Unter Organisation versteht Wunderlich „eine zweckhafte Verbindung, deren Glieder in bestimmter Weise an der Erfüllung der Zwecke beteiligt sind"4. Sie muß organisch sein und bleiben,
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Siehe Wunderlich, Produktivität, S. 135; vgl. auch S. 220ff. Ebenda, S. 138. Ebenda, S. 150f. Ebenda, S. 162.
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d. h. die Fähigkeit besitzen, „adäquate Form eines bestimmten Lebensprozesses zu sein, diesen jederzeit durch sich hindurchzuleiten, mit ihm sich zu entwickeln, mit ihm zu wachsen; denn Stillstand würde Erstarrung bedeuten"1. Hier liegt die große Gefahr, die um so größer wird, je mehr der Kreis der organisierten Personen anwächst.2 Wir dürfen uns nicht im Rausch der Uberorganisation verlieren. Sie bedroht uns mit Vernichtung der wichtigsten individuellen Werte: nur noch den Führern bleibt der große Wirkungskreis, in dem sie ihre Persönlichkeit zur Geltung bringen können. Dieser Macht der Beharrung, „von der die Menschheit überrannt wird", gilt heute der Kampf: Organisation muß gegen Organisation gesetzt werden und siegen: „Die rationale Ordnung kann nur dann ihren Sinn erfüllen, wenn sie dem Irrationalen des Lebens Spielraum läßt, und ihr Gefüge sich neuen Entwicklungen anpassen kann, weil sie sonst an dem Widerspruch des Lebens, der nichts Bleibendes duldet, zerbrechen würde."3 Diesen grundsätzlichen Erörterungen folgen Darstellungen der einzelnen Seiten der Wirtschaftsorganisation, zuerst der technischen Organisation: Standort, Umfang, Intensität, Verhältnismäßigkeit, Zwangsläufigkeit. Die Notwendigkeit dieser Rationalisierung wird an zwei besonders traditionalistisch gebundenen oder mit anderen Worten rückständigen Berufen demonstriert, am Bauhandwerk und an der Landwirtschaft. Es folgt dann die kaufmännische Organisation des Betriebes und die zwischenbetriebliche Organisation: Spezialisierung und namentlich Kombinierung in den Konventionen, Kartellen usw., wobei sofort die Zukunftsmöglichkeiten erörtert werden, die vielleicht den Gefahren dieser immer ungeheurer anschwellenden Monopolbetriebe entgegenwirken könnten, wie etwa Werkstattpacht und Werkstattaussiedlung usw. Denn die Gefahren sind groß genug. Zunächst die des Erstarrens der Großorganisation: „Beseitigen wir die toten Kosten der freien Konkurrenz durch Organisation, so wird dadurch die Gefahr der Lähmung durch das Trägheits- und Beharrungsstreben überlebter Institutionen, die nicht so schnell sterben, wie sie überflüssig werden und veralten, um so größer."4 Noch größer ist die Gefahr des Stillstands, des sinkenden Interesses am technischen Fortschritt: „Erst die freie Konkurrenz, die das System bürokratisch-korporativer Organisation hinwegräumte, hat dem Strom der Erfindungen die Schleusen geöffnet." Auch hier wieder handelt es sich darum, der Führerpersönlichkeit freien Spielraum zu lassen. „Die Persönlichkeit der starren Organisation einordnen, statt ihr die Beherrschung und Gestaltung der Organisation zu überlassen, heißt bürokratisieren und der Entwicklung ein Ende setzen."5 Besteht nun die Möglichkeit, die Gesamtwirtschaft zu organisieren? Ist eine „Planwirtschaft" der notwendige Zweck, auf den wir bewußt hinzustreben haben? Wunderlich denkt sehr skeptisch darüber. Auch hier in voller Ubereinstimmung mit meiner grundlegenden Auffassung, zeigt sie, daß von „freier Konkurrenz" in unserer Gesellschaftsordnung nicht die Rede sein kann. Sie ist „nichts weiter als eine Organisationstendenz, die sich angesichts der herrschenden Machtpositionen nur selten, nur in der Fiktion, rein durchzusetzen vermag"6. Die Machtpositionen der Erzeuger „verfälschen den ursprünglichen Zweck (die Bedarfsdeckung der Gesellschaft), indem sie die Wertaneignung an Stelle der Werterzeugung setzen. Solche Verfälschungen sind u. a. rentable Destruktion, Sperre, Nichtproduktion, Raubbau an Kapital, Boden und Arbeitskraft [...] namentlich die Amortisation der Arbeitskraft in wenigen Jahren wird durch Machtpositionen und 1 2 3 4 5 6
Wunderlich, Produktivität, S. 163. Ebenda, S. 168. Ebenda, S. 171. Ebenda, S. 220. Ebenda, S. 224. Ebenda, S. 225.
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Organisationsfehler der Wirtschaft ermöglicht; durch Machtpositionen: Nur diese können lange Arbeitszeiten und niedrige Löhne erzwingen; durch fehlerhafte Organisation: die Gesellschaft trägt die Kosten des Raubbaues, nicht wie beim Boden und Kapital der Unternehmer." 1 Hier habe ich wieder eine kleine Anmerkung zu machen. Wunderlich schreibt völlig richtig: „Nicht jede Machtposition dankt fehlender oder falscher wirtschaftlicher Organisation ihre Entstehung. Auch die außerökonomische Gewalt kann zur Ursache wirtschaftlicher Macht werden, wie sie auch deren Sicherung und Erhaltung dient."2 Hier wäre das Problem zu erörtern, oder wenigstens anzudeuten gewesen, ob die scheinbar reinökonomisch entstandenen Machtpositionen überhaupt jemals hätten entstehen können, wenn nicht vorher die außerökonomisch entstandenen Machtpositionen dagewesen wären. Die moderne Verkehrswirtschaft mußte sich im feudalen Räume entwickeln. Er ist charakterisiert: politisch durch die außerökonomisch gesetzte Klassenscheidung, und ökonomisch durch die Sperrung des Bodens in der Rechtsform des massenhaften Großgrundeigentums. Darum beginnt der Kapitalismus, d. h. die Warenlieferung auf einen geldwirtschaftlich entwickelten Markt aufgrund der Exploitation abhängiger Arbeiter, überall, auch in England, als agrarischer Kapitalismus, dem der industrielle erst nach Jahrhunderten folgt, und zwar erst, nachdem die Schollenbindung der Landarbeiter gefallen ist: erst dann stehen auch den städtischen Gewerbetreibenden „freie Arbeiter", nach Marx' unwidersprechlicher Feststellung die Bedingung des industriellen Kapitalismus, zur Verfügung. Hier sollte ein Theoretiker vom Range Wunderlichs unzweideutig Stellung zu nehmen wagen. Hält sie es für möglich, daß in einer, auch von dem letzten Rest des Feudalismus befreiten, Wirtschaftsgesellschaft sich Machtpositionen von irgend erheblicher Dauer und Kraft überhaupt entfalten können? Nun, jedenfalls steht Wunderlich den Projekten der „Sozialisierung" oder Planwirtschaft sehr skeptisch gegenüber, nicht nur der „Vollsozialisierung" (Bedarfsplanwirtschaft), sondern auch der Erzeugungsplanwirtschaft. Der ersteren wirft sie mit Recht vor, daß sie essentiell stationär ist, den Fortschrittsantrieb unterbinden würde. Der Erzeugungsplanwirtschaft zunächst, daß sie, völlig durchgeführt gedacht, doch noch nicht gleichbedeutend ist mit der Aufhebung ihrer kapitalistischen Form. Der Kampf der einzelnen Gruppen untereinander könnte eher noch schärfere Formen des ökonomischen Kampfes zeitigen. Namentlich ist ein Bündnis der vereinigten Produzenten, der Unternehmer mit den Arbeitern, gegen die Konsumenten nicht unwahrscheinlich. Und bürokratische Selbstverwaltungskörper können hier nicht viel leisten. Im Reichskohlenrat, Eisenwirtschaftsbund, Reichskalirat usw. haben die Konsumenten und die Arbeiter völlig versagt; sie sind von der größeren Energie und Sachverständigkeit der Unternehmer geradezu überritten worden. Eduard Heimanns Vorschlag, einen „gemeinwirtschaftlichen Monopolisten" zu schaffen, erscheint als unausführbar. Aber gegen beide Arten der Planwirtschaft gilt, daß „Interessenkonflikte möglich bleiben, sowohl über die Beteiligung der Einzelnen an der Arbeit und am Ertrag, wie vor allem über das Maß der Rücklagen, die Aufnahme neuer Ideen auch bei Entwertung alter Anlagen nicht ausgeschlossen [...] Spät wirkende Erfolge geraten in Konflikt mit Gegenwartsvorteilen." Der zum Axiom gewordene Glaube, daß die Produktivität der Arbeit dank einer geheimnisvoll wirkenden ökonomischen Kraft unendlich weiterwachsen werde, ist sehr schwach substantiiert. Bisher hat das Rentabilitätsstreben der Einzelunternehmer die ungeheure Aufgabe spielend gelöst, die Technik weiter zu treiben: ob das auch einer anders organisierten Wirtschaft gelingen wird, ist nicht im mindesten sicher.3
1 Wunderlich, Produktivität, S. 228f. 2 Ebenda, S. 230f. 3 Ebenda, S. 238f.
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Die Aufgabe, den Gesamtapparat bewußt rationell zu gestalten, hat „unendliche Schwierigkeiten, stellt eine fast übermenschliche Aufgabe"1. (Ich halte die Aufgabe ohne Einschränkung für übermenschlich.) Und so kommt denn auch Wunderlich zu dem Ideal, auf das heute alle vorgeschrittene Wirtschafts- und Staatstheorie zusteuert: den Föderalismus: „Ziel wird der Aufbau einer Wirtschaftsgemeinschaft aus Elementargemeinschaften, die unter Aufhebung der Atomisierung ein Stück Menschentum selber vorstellen."2 Den Schluß des Abschnittes bildet ein bescheidenes, u. E. allzu bescheidenes „Ignoramus": „Es ist unerwiesen, wie weit sich der Automatismus einer anderen Wirtschaftsordnung als der gegenwärtigen in starker Ubereinstimmung mit dem Produktivitätsinteresse bewegen würde. Unerwiesen, aber nicht widerlegt, da beim heutigen Stande unseres Wissens nicht zu entscheiden."5 Wenn Wunderlich die oben gestellte Frage sich stellen und etwa in unserem Sinne lösen würde, so wäre die Frage entschieden: denn daß eine Wirtschaft der vollkommenen Freiheit, in der sich dennoch keine Machtpositionen von erheblicher Kraft und Dauer bilden können, - und die eben deshalb gleichzeitig eine Gesellschaft der rationellen Gleichheit ist, jedem von oben her regulierten Mechanismus weit vorzuziehen ist: das ist sicher. Der nächste Absatz untersucht die Bedarfsseite der Spannung, nachdem wir bis jetzt von der Deckungsseite allein gesprochen hatten. Es handelt sich um „die Produktivität des Konsums". Wunderlich stimmt mit uns darin überein, daß der Konsum im eigentlichen engeren Sinne nicht zur Wirtschaft gehört; aber sie faßt den Begriff im weiteren Sinne als Haushaltswirtschaft: und diese umfaßt nicht nur viele letzte Akte der Erzeugung, sondern auch alle diejenigen Akte der Verwaltung, die nicht von Kollektivitäten übernommen worden sind. Und in dieser Bedeutung gehört der Begriff gewiß zur Wirtschaft und Gesellschaftswirtschaft; und es ist richtig, daß auch von hier aus in der heutigen Gesellschaft zahlreiche Hemmungen der Produktivität ausgehen. Als erste ist zu nennen die „unechte Konsumtion", die Wertvernichtung. Solche erfolgt entweder wider den Willen des Menschen durch elementare Kräfte, die es die Aufgabe ist, nach aller Möglichkeit zu bändigen (ζ. B. Blitzableiter, Deiche, und für die Menschen Seuchenschutz und Hygiene im allgemeinen). Oder sie erfolgt mit Willen der Menschen: hierher gehört die unvermeidbare Tatsache des moralischen Verschleißes von Gebrauchs- und namentlich Werkgütern; hierher gehört wenigstens zum Teil die Wertvernichtung durch die allzu schnell wechselnde Mode, und die „rentable Destruktion", sowohl in Gestalt der Vernichtung schon vorhandener Güter (Dardanariat), wie auch der Nichterzeugung möglicher und bedurfter Güter. Aber auch von der „echten Konsumtion" aus werden unter den heutigen Verhältnissen der Produktivität Hemmungen gesetzt, die die Aufgabe ist, zu beseitigen. Solche Hemmungen liegen bereits in der Verteilung der Einkommen. Nur die kaufkräftige Nachfrage kann die Marktwirtschaft beeinflussen. Es ist aber vom Standpunkt der Gesamtheit aus sehr unbefriedigend, wenn auf der einen Seite Güter hergestellt werden, die Bedürfnisse niederer Dignität der Wohlhabenden bis zur Übersättigung bedecken, und auf der anderen Seite Güter mangeln, die drängende Bedürfnisse höchster Dignität der unbemittelten Klasse bedecken würden. Einiges kann hier die Arbeit der Kollektivität leisten, indem sie Bedürfnisse aus der Einzelbefriedigung herausnimmt und der kollektiven Versorgung zuweist. Hier liegt eine der großen Bedeutungen des Staates für die Wirtschaft.4
1
Wunderlich, Produktivität, S. 241.
2
Ebenda, S. 243.
3
Ebenda, S. 247.
4
Ebenda, S. 256.
Enter Teil: Nationalökonomie
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Als selbstverständliche Forderung kann erhoben werden: „die der Reproduktion des Vorhandenen einschließlich eines der Bevölkerungsvermehrung entsprechenden Zuwachses, die Fortführung der Wirtschaft auf gleicher, bzw. entsprechend erweiterter Stufenleiter"1. Und zwar hat sich diese pflegliche Fürsorge nicht nur auf die Maschinen, sondern auch auf die Menschen zu erstrecken. Das ist noch keine ethische Forderung, denn die Wissenschaft kann feststellen, was der menschliche Organismus zum Leben braucht. Unterernährung und falsche Ernährung (Alkohol) sind ebensosehr Raubbau an der produktiven Kraft und daher unwirtschaftlich wie Vernachlässigung der Schul- und Berufsausbildung, in der produktive Kräfte reproduziert werden. Unterkonsum ist namentlich dann antiproduktiv, wenn erhöhte Konsumtion die gegenwärtige oder künftige Leistungsfähigkeit in höherem Maße steigert, als den Kosten entspricht. Es kann sich nicht darum handeln, die Bedürfnisse einzuschränken, denn das würde den Fortschritt hemmen und notwendig Uberbevölkerung herbeiführen. Nur durch bewußte Weiterentwicklung, nicht durch romantische Rückschau ist die Unrast dieser Ubergangszeit zu überwinden. Hier spielt die alte Furcht vor dem „Luxus" ein. Ich möchte dazu bemerken, daß Luxus nur in einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft möglich ist (wenn man nämlich unter dem Wort etwas Gefährliches, Verweichlichung herbeiführendes, oder Antiethisches versteht). In einer Gesellschaft der rationellen Gleichheit kann es Luxus in diesem Sinne überhaupt nicht geben, auch wenn die Güterversorgung aller einzelnen eine phantastische Höhe erreichen sollte. Reichtum ist Verfügung über Menschen, Wohlstand über Sachen; Luxus ist außergewöhnlicher Mißbrauch von Reichtum; er ist Vergeudung von Gütern, wo andere darben; oder ist Vergeudung von Menschenkraft und Menschenwürde. Wo aber, um mit Rousseau zu sprechen, „niemand reich genug ist, um andere kaufen zu können, und niemand arm genug, um sich verkaufen zu müssen", da vergeuden nur verrückte Menschen Güter, und niemand Menschenkraft und Menschenwürde. In solcher Gesellschaft würde aber auch die Hemmung der Produktivität durch die Mode kaum noch wirken. Der Modenwechsel beruht auf dem Geltungsbedürfnis zunächst der Oberklasse, die dahin tendiert, sich immer durch Tracht, Geräte usw. aus der Unterklasse herauszuheben, und dann auf dem Geltungsbedürfnis der Unterklasse, die nachahmend immer wieder diese Unterschiede zu verwischen strebt. In einer Gesellschaft rationeller Gleichheit würde dieser tragikomische Wettlauf kein Motiv mehr haben, und der Konsum würde sich viel mehr als heute der Qualitätsware zuwenden, die das Bedürfnis vollkommener befriedigt und dauerhafter ist.2 Der nächste Abschnitt ist dem Haushalt gewidmet. Hier spricht mit besonderer Eindringlichkeit die Frau zu uns, die dem Jammer des heutigen Haushaltes weit näher steht, als je ein Mann ihm stehen kann. Die Frauenfrage in allen ihren Abzweigungen rollt sich vor uns auf. Wir sind nur imstande, einige Punkte herauszuheben: „Zeitlich gebundene Leistungen werden auf eine Person gehäuft, ungelernte Arbeitskräfte für Arbeiten verwendet, die qualifizierte Leistungen beanspruchen, während man von der qualifizierten Arbeitskraft gleichzeitig Mitleistung aller ungelernten Arbeiten verlangt. Der Mangel an hauswirtschaftlichem Betriebskapital [...] zwingt auch häufig zu unwirtschaftlichem Verhalten (ζ. B. Einkauf in zu kleinen Mengen von Waren schlechter Qualität). [...] Die Hausfrauentätigkeit zeigt die ganze ungeheure Kraftverschwendung der isolierten Wirtschaft auf."5 Mit einer Änderung des Eherechts (Zahlung eines Haushaltsgeldes usw.) ist nicht viel zu leisten. Weiter könnte führen die Schaffung von Großbetrieben an Stelle der zersplitterten Kleinbetriebe, und zwar kommt hier in Betracht entweder die Hinausverlegung von Teilbetrieben in ein neues 1 2 3
Wunderlich, Produktivität, S. 257. Ebenda, S. 269f. Ebenda, S. 280.
Produktivität
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Zentrum außerhalb des Hauses (ζ. B. Massenspeisungen, ambulante Küchen); oder völlige oder teilweise Zentralisation innerhalb des Hauses (Einküchenhaus) oder drittens die Errichtung von Unternehmungen, die Arbeitskräfte ins Haus schicken, um Teilarbeiten zu übernehmen. Die Widerstände gegen diese Fortschritte sind unberechtigt: „Entlastung braucht nicht Entleerung (der Familie) zu sein"1. Der Wegfall der häuslichen Dienstboten würde die Familiengemeinschaft sogar noch enger schließen. Eine völlige Aufhebung der Lebensgemeinschaft kann natürlich nicht in Frage kommen. Voraussetzung dieser Dinge ist eine Rationalisierung der Bau- und Wohnweise; heute schon zentralisierungsreif sind außer Wasser- und Lichtversorgung die Wassererwärmung und die Heizung sowohl der Räume wie der Kochapparate; unsere heutige Wärmewirtschaft bedeutet eine enorme Verschwendung von Material. Weiter ist zu erstreben Verbesserung der Geräte und vermehrte Maschinenverwendung. Hier ist das stärkste Hemmnis der technischen Entwicklung „die Nichtbewertung der Frauenkraft, die die Einführung arbeitsparender Maschinen unrentabel erscheinen läßt"2. Und sicherlich liegt in dieser Zersplitterung einer irrationell ausgeübten Nachfrage eine der Ursachen für eine andere Erscheinung, die die Gesamtproduktivität schwer schädigt: die ungeheure Zersplitterung im Handel, namentlich Kleinhandel, der im wesentlichen nur „Scheinarbeit" verrichtet.3 Wir müssen aber doch hinzufügen, daß diese Ubersetzung des Handels der Hauptsache nach, geradeso wie die des Zwerghandwerks, in der Einkommensgestaltung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wurzelt. Die Tendenz der Konkurrenz geht nämlich überall nicht auf Ausgleichung der Preise, wie man meistens sagen hört, sondern auf Ausgleichung der Einkommen, wie schon Adam Smith und Thünen deutlich genug ausgesprochen haben. Da nun die Stellung als abhängiger Arbeiter die verhaßteste ist, wenden sich Besitzer „zersplitterter Produktionsmittel", die nach Marx kein Kapital sind, massenhaft solchen Erwerbszweigen zu, wo sie wenigstens noch den Schein der Selbständigkeit haben. Sehr viele von denen, die ein kleines Geldvermögen erworben oder ererbt haben, machen sich als Zwerghandwerker oder Zwerghändler selbständig, gestachelt auch noch von der Hoffnung, hier vielleicht bei gutem Glück wirklich zur mittelständischen Existenz emporzukommen; die Konkurrenz ist aber natürlich so groß, daß sie durchschnittlich doch nicht über ein proletarisches Einkommen hinausgelangen. Der letzte Abschnitt ist dem Problem der „produktiven Kraft" gewidmet. Hier handelt es sich vor allem um die Steigerung des Erfolgs für die Zukunft, Erhöhung der Produktionsbereitschaft, Verstärkung der produktiven Kräfte: also ganz die Fragestellung Friedrich Lists. Zunächst werden kurz die „außerwirtschaftlichen Kräfte" betrachtet, dasjenige, was Max Weber die „wirtschaftlich relevanten" Erscheinungen, was ich die Bedingungen der Produktivität genannt habe. Produktivitätsfördernd ist vor allem die Schulbildung, die den Durchschnitt der Arbeitsrekruten höher qualifiziert; auch der Staat kann viel mehr als jetzt in den Dienst der Wirtschaft gestellt werden; zunächst freilich sind ihm im wesentlichen nur Aufgaben abzunehmen, die er nach seiner Wesensart nicht erfüllen kann.4 Ungeheures hat die Wissenschaft bereits geleistet, man denke nur an Chemie und Physik; und sie kann und wird noch viel mehr leisten. Und das gilt nicht nur von den Naturwissenschaften, sondern von allen Objektivationen der Kultur überhaupt: wieviel hat der Protestantismus mittelbar für die Wirtschaft getan! (Max Weber) Aber die eigentliche wirtschaftliche Kraft ist nur die Arbeit. Nicht etwa auch das Kapital, das nur allenfalls als Kraftträger angesehen werden kann.5 Sie gilt es, immer produktiver zu machen. Und
1 2 3 4 5
Wunderlich, Produktivität, S. 286. Ebenda, S. 294. Ebenda, S. 295. Ebenda, S. 299. Ebenda, S. 301.
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Enter Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
zwar nicht durch den Taylorismus, der gegen alle Psychologie und schließlich auch gegen alle Menschenwürde den Arbeiter zu einem Automatismus, zu einem Teil der Maschinerie zu machen bestrebt ist. Das ist schon wirtschaftlich falsch: nach West kostet eine vom Menschen geleistete Pferdekraft 20 Mark, vierhundertmal soviel als eine von der Maschine geleistete.1 Sondern es gilt erstens zu fragen, in welcher Verwendung menschliche Arbeit am produktivsten wirkt, und zweitens, wie sie am sorgfältigsten zu erhalten, am besten zu entwickeln und zu steigern ist. Die zweite Frage ist die der „Menschenökonomie". Wir wenden uns zunächst der ersten zu: Der Mensch allein ist der „schöpferischen Synthese" fähig, namentlich in der geistigen Arbeit, „weil ihr Effekt bedeutungsvoller für den Zweck der Wirtschaft sein kann als der der rein physischen, weil durch sie ζ. B. Naturkräfte umgeleitet und an die Stelle menschlicher Arbeitskräfte gesetzt, diese mithin freigemacht werden können" 2 . Schöpferisch ist, wenn wir von der künstlerischen Arbeit absehen „diejenige Arbeit, die nicht wiederholt zu werden braucht, die, einmal geleistet, eine unbeschränkte Anzahl von Anwendungen gestattet": so die Auffindung bisher unbekannter Gesetze, in geringerem Maße auch die dispositive Arbeit des Organisators. Die schöpferische Arbeit ist das stärkste Produktivitätsmoment, sie trägt die technische Idee und die Organisation und schützt sie vor Erstarrung. Daraus ergeben sich die folgenden Forderungen: 1. alle Arbeit muß überhaupt eingeordnet werden. Zu dem Zwecke muß die Arbeitsvermittlung zur Vollendung geführt, und muß für Perioden der Arbeitslosigkeit durch öffentliche Aufträge vorgesorgt werden, die aber nicht „Notstandsarbeiten" sein sollen. 2. Es muß für jeden geeignete Arbeit gefunden werden. Hier kann psychologische Eignungsprüfung, die heute noch in ihren Kinderschuhen steckt, manches leisten. Allzuviel kann man nicht von ihr erwarten, da sie den Menschen in psychische und physische Funktionen zerlegt, und derart eine psychologische Abstraktion, eine Addition von Eigenschaften konstruiert, während doch die experimentell unprüfbare charakterologische Struktur außerordentlich stark mitspricht. 3 (Hier möchte ich anmerken, daß von dieser Seite her die neueste Charakterologie und Typologie, ζ. B. durch Ludwig Klages, das große Problem anzufassen versucht.) 3. Die Schulung muß hinzukommen, die nur aufgrund von Arbeitsanalysen wirksam geschehen kann. Hierdurch werden nicht nur die Kräfte an sich qualifiziert, also in höherem Grade produktiv, sondern sind auch in viel geringerem Maße der Arbeitslosigkeit bei Konjunkturrückgängen ausgesetzt, so daß hier unproduktiver Leerlauf vermieden werden kann. (Im übrigen möchte ich hier wieder anmerken, daß gerade der Großbetrieb bei gutem Willen der Leiter früher ungeahnte Möglichkeiten der Einstellung bietet: Ford berichtet, daß er nicht nur Blinde, sondern auch Einarmige, Ohnarmige und andere Krüppel bei vollem Lohne beschäftigen konnte.) 4. Die Arbeit muß unter Bedingungen gestellt werden, die die Kraft auslösen, anstatt sie zu hemmen. Der Wille zur Arbeit, die Arbeitslust, muß und kann zum höheren Erfolg der Produktivität angespornt werden. Hier spielt heute die Appropriation der Produktionsmittel durch andere als die Arbeiter eine schwer hemmende Rolle. Physischer Zwang ruft kein Leistungsoptimum hervor. Was die Arbeitsbedingungen anlangt, so sind die Forderungen ja bekannt. Der Tarifvertrag ist zu erstreben, wobei der Gefahr der Erstarrung und Schematisierung vorgebeugt werden soll. Das Arbeitsrecht hat seine kulturelle Bedeutung in der Aner-
1
Wunderlich, Produktivität, S. 303, vgl. auch S. 310, 314f.
2
Ebenda, S. 305.
3
Ebenda, S. 309.
Produktivität
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kennung eines Sonderrechtes menschlicher Arbeit gegenüber den Sachgütern. Die hier schon gegebenen Ansätze der Entwicklung vom Absolutismus zum Konstitutionalismus der Fabrik müssen ausgebaut werden. Aber das Arbeitsrecht allein kann die bestehenden Konflikte nicht lösen: es kann bestenfalls „den Kompromiß zwischen zwei Mächten schaffen"1. Notorisch erfüllt heute die proletarische Arbeit die Forderung der Produktivität nicht. Verantwortlich dafür sind, um es schlagwortartig zu bezeichnen, erstens die Mechanisierung der Arbeit, die die Arbeit entgeistigt und zur Verdrossenheit führt. Zweitens die Abhängigkeit, derzufolge die Arbeit nicht mehr ein Selbstzweck des Lebens ist, sondern nur ein Mittel, dessen einziges Ziel der Lohn ist. Für diese Opfer erhält drittens der Arbeiter kein entsprechendes Äquivalent. Dieser Monotonisierung der Arbeit kann auch die Werkstattpacht und die Werkstattaussiedlung nicht voll abhelfen; sie kann nur das Interesse des Arbeiters an der eigenen Arbeit wieder wecken, aber nicht vergeistigend wirken.2 Viel hoffnungsvoller sind die aus der Technik selbst sich ergebenden Tendenzen auf „Entleerung der Fabrik", d. h. die Abwälzung aller eigentlich lastenden Arbeit auf die Maschine, die Erhebung des Arbeiters zum Aufseher über Sklaven aus Stahl. Weitere schwere Hemmungen sind die Dauer und Erblichkeit des Lohnverhältnisses und die frühzeitige Senkung der Lebenskurve. Wunderlich schließt: „Die falsche Einreihung des Menschen in den mechanischen Ablauf hat zu einer Reaktion geführt, die auch das Wertvolle der ganzen Organisation mit Vernichtung bedroht [...] Nur der Beruf, der die persönliche Entwicklung fördert, der die Arbeit zum Teil des eigenen Lebens werden läßt, der alle Kräfte zur Entfaltung bringt, macht diese für die Arbeit fruchtbar."3 Damit ist das Ziel gesteckt, in dessen Dienst die Technik sich stellen soll. Ihre nächste Aufgabe heißt „Hebung der Schätze von Leistungsfähigkeit, die brach liegen müssen, weil ihnen der seelische Antrieb fehlt, damit die Technik wahrhaft zur Befreierin des Menschen von den Lasten des Daseins werde, [...] Befreierin auch im positiven Sinn, in dem sie, die ihn erst der Maschine unterworfen, seine Arbeit mechanisiert hat, ihn nun wieder zum Herrscher machen, [...] seinen geistigen Kräften die Erhaltung sichern, ihm seine Menschenwürde zurückgeben"4 und ihm die Muße schaffen soll, die ihm Leistungsfähigkeit, Frische im Beruf, Weite des Blicks, Freiheit der Auffassung gibt und die Möglichkeit, außerwirtschaftlichen Zielen zu dienen. Das ist einmal klar: je höher die Produktivität steht, um so mehr Menschen können sich ganz kulturellen Zielen widmen; und wir haben schon dargelegt, wie stark diese rückwärts die Wirtschaft wieder befruchten können. Um nun schließlich von der Menschenökonomie zu sprechen, so stehen hier im Vordergrunde der theoretischen Betrachtung und praktischen Reform die Erscheinungen der Ermüdung, der Erholung, der Übung, der Arbeitsumgebung und der Wirkung der Größe des Arbeitsäquivalents. Hier bleibt für physiologische und psychologische Feststellungen noch ein weites Feld, um die Gestaltung der Ruhezeit, die Einflüsse der Übung, die Arbeitsintensität, die Formgebung, das Gewicht und die Gewichtsverteilung der Arbeitsmittel usw. zu studieren und danach die Betriebsart einzurichten. Selbstverständlichkeit ist heute bereits die Forderung hygienisch vollkommener Arbeitsräume, genügender Belichtung, Temperaturregelung, Beseitigung schädlicher Stoffe und vieles
1
Wunderlich, Produktivität, S. 315.
2
Ebenda, S. 319.
3
Ebenda, S. 324.
4
Ebenda, S. 325.
Enter Teil: Nationalökonomie
304
und
Wirtschaftspolitik
andere mehr. Das Ziel muß sein, auch dem Arbeiter, dessen Lebenskurve heute viel früher als die der wohlhabenden Schichten absinkt, die volle mögliche Fülle und Dauer des Lebens zu sichern. Diese „Amortisation" im furchtbarsten Sinne des Wortes, dieses Zutodeschuften des Arbeiters wird die rentabelste Art der Bewirtschaftung sein, solange der Arbeiter selbst und nicht der Unternehmer diesen Raubbau wirtschaftlich zu vertreten hat.1 Schließlich wirken auch hohe Löhne notorisch in mehrfacher Beziehung produktiv. Da die Maschine dem Unternehmer nicht deshalb ein Instrument von Wert ist, weil sie Arbeit spart, sondern weil sie ihm Löhne spart, so ist die Einführung kostbarer Maschinen nur bei hohen Löhnen möglich, und steigt derart die Produktivität. Aber auch auf die Leistungsfreude und -fähigkeit haben hohe Löhne die bekannten günstigen Folgen. Menschenökonomie darf sich aber nicht auf die Arbeiterschaft allein beschränken, sondern hat die Gesamtbevölkerung ins Auge zu fassen. Malthusische Ängste brauchen uns hier nicht zu beirren2: hier schließt sich Wunderlich ausdrücklich meiner Widerlegung des Bevölkerungsgesetzes an. Wir sollen im Gegenteil durch möglichste Entwicklung der Hygiene die Verhütung von Schädigungen, durch geeignete Heilverfahren die schnellste Wiedereinreihung in das Erwerbsleben, und durch Eugenik die Emporzüchtung des Volkes erstreben. Damit in engster Beziehung stehen die Bestrebungen, die auf Schutz und Versorgung der Schwangeren, Wöchnerinnen, Mütter und Kinder gerichtet sind, ebenso der Kampf gegen die Trunksucht und die sittlichen Schäden, namentlich durch eine in sich geschlossene planvolle Jugendfürsorge, die alle schlecht angepaßten Elemente einzuordnen bestrebt ist, nicht nur die moralisch und geistig minderwertigen, sondern auch höher Differenzierte, die nur gerade in dieser Ordnung ihren Platz nicht finden können. Der Einwand, daß für all diese Zwecke die Mittel nicht zu beschaffen seien, darf nicht erhoben werden. Denn die gesellschaftlichen Kosten der jetzigen Übelstände sind ungeheuer viel größer als alle Kosten, die für die „Melioration der Arbeitskraft" aufgewendet werden können. Und: hier treffen „Wissen und Gewissen" auf einem Punkte zusammen. Alle diese Forderungen der Sozial- und Wohlfahrtspolitik sind nicht nur aus der „Idee" der Wirtschaft heraus gerechtfertigt, sondern auch aus Menschlichkeit, im Interesse jener Kulturwerte, denen der Wirtschaft gegenüber der Primat zukommt. „Der chaotische Zustand, in dem die Wirtschaftspolitik zurückblieb, nachdem ihre Scheidung von der wertfreien Forschung vollzogen war, muß heute durch Besinnung auf die letzten Wertmaßstäbe überwunden werden."5 „Es gilt, das Ubermaß der sachlichen Kräfte wieder zu beherrschen derart, daß Kräfte auf ihre Einspannung für die Mittelbeschaffung für neue Zwecke und Aufgaben frei werden [...] Hat die Technik den Menschen den Dingen unterworfen, so wird sie, die jedem Ziele dienen kann, ihn wieder befreien. Damit seine Arbeit wieder zum Werkschaffen wird und ihm statt Verkümmerung geistig seelischen Wachstums bringt, damit ihm die Möglichkeit bleibt, auch außerhalb der Arbeit ein persönlich freies, wertvolles Leben zu führen. Erst dann wird [...] der Sklavenaufstand der Dinge niedergeworfen werden können; denn schließlich trägt Wirtschaft ihren Reichtum vom Leben zum Lehen und soll wiederum dem Leben dienen [...] Erst durch die Einordnung in die umspannende Gesamtidee gewinnt die Idee der Wirtschaft ihre letzte Bedeutung [...], die Idee einer unbedingten Einheit menschlichen Wollens. Das letzte Ziel allein gibt die Richtung, und dieses Ziel heißt in seiner Bedeutung für die Wirtschaft: Lösung des Menschen aus materieller Gebundenheit für nichtmaterielle Ziele." 1 2 3
Wunderlich, Produktivität, S. 336. Ebenda, S. 339. Ebenda, S. 349.
Produktivität
305
Mit diesem starken Aufschwung aus starkem Glauben, der doch auf sicherem Wissen beruht, schließt das ebenso tiefe, wie warmherzige Buch. Wir wünschen ihm viele aufmerksame Leser. Dieses Schifflein steuert sicher nach dem unverrückbaren Nordstern der Gerechtigkeit, während die meisten anderen Schifflein, die auf dem Meere unserer jetzigen Wissenschaft fahren, ohne Stern noch Kompaß umherirren. Dieses Buch stammt aus der Kraft und haucht dem Leser Kraft ein. Die deutsche Wissenschaft und die deutsche Frauenwelt können sich zu dieser Leistung beglückwünschen.
Weltprobleme der Bevölkerung [1929]
Inhalt
I. Das Malthussche Bevölkerungsgesetz
310
1. Vorläufer
310
2. Malthus
312
3. Kritik
314
4. Der Trugschluß
315
5. Der Marasche Erklärungsversuch
317
6. Das Goltzsche Gesetz
318
7. Die wahre Ursache der städtischen Uberbevölkerung
320
Π. Wieviel Menschen können auf der Erde leben? 1. Rousseaus Formel
321 321
2. Das Divisionsexempel
323
3. Der falsche Ansatz
324
4. Der richtige Ansatz
326
5. Ein häufiges MißVerständnis
327
6. Die Gegenwartsfrage
328
[Erstmals erschienen als eigenständige Publikation in der Reihe: Weltwirtschaftliche Vorträge und Abhandlungen, hrsg. von Ernst Schultze, Heft 1, Leipzig 1929; A.d.R.J
310
I.
Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Das Malthussche Bevölkerungsgesetz
Bis zum Ausgang des europäischen Mittelalters interessierte sich nur die katholische Kirche für das heute soviel besprochene „Bevölkerungsproblem" und zwar im Sinne des Bibelwortes: „Seid fruchtbar und mehret Euch". Sie ist von jeher scharf gegen jede Beschränkung der Kinderzahl aufgetreten, nicht nur, wie selbstverständlich, gegen Kindestötung, Kindesaussetzung und Abtreibung, die sämtlich, namentlich in Notzeiten, ziemlich häufig vorkamen (wie sie noch heute bei vielen Wildvölkern im Schwange sind), sondern auch gegen jeden präventiven Geschlechtsverkehr, soweit davon in primitiven Zeiten schon die Rede sein konnte, und auch hier unter Berufung auf die biblischen Gesetze 1 . Noch heute ist in den meisten katholischen Ländern infolge dieser Einstellung der Priesterschaft die Geburtlichkeit höher als in evangelischen.
1. Vorläufer Die merkantilistische Staatswirtschaft hatte ganz die gleiche Richtung. Sie war, um einen späteren Ausdruck anzuwenden, entschieden „populationistisch", suchte den Bevölkerungszuwachs nach Möglichkeit zu fördern, und zwar aus der klaren Erwägung heraus, daß eine größere Bevölkerung für die wirtschaftlichen Bedürfnisse des Staates - und der Staat stand ja durchaus im Blickpunkte dieser ganzen Lehre und Politik - mehr Steuern bezahlen und für seine politischen Bedürfnisse mehr Soldaten stellen könne als eine kleinere. Die merkantilistische Wohlfahrtspolitik hatte kaum ein wichtigeres Ziel als gerade dieses; ihm diente zum Beispiel die großartige Kolonisation, die Friedrich der Große in den Sumpfgebieten seiner östlichen Provinzen vornahm, ihm die Hereinziehung vertriebener Bevölkerungen, wie der Salzburger, in sein Land. Die ersten Keime einer entgegengesetzten Auffassung finden sich bei den Physiokraten. François Quesnay ist der - irrigen - Uberzeugung, daß die „petite culture", als deren Hauptvertreter er in seiner Heimat Frankreich den Teilbau kannte, nicht imstande sei, die Betriebsinhaber anständig zu ernähren; sie könnten nur unter Raubbau sowohl am Boden wie auch an ihrer eigenen Person zur N o t bestehen. Nur die „grande culture", der kapitalistische Großbetrieb durch Unternehmer nach dem Vorbilde des England seiner Zeit, könne auf die Dauer Uberschüsse erzielen. Dieser Großbetrieb gebrauche aber auf der Fläche nur weniger Arbeiter - was ebenfalls irrig ist - ; seine Einführung, die Quesnay von seinem Standpunkt aus fordern mußte, werde also zahlreiche Landbewohner überzählig machen, und für ihre Versorgung komme nichts anderes in Betracht als die organisierte Auswanderung und Kolonisation auf Neuland. Dann kam die große Entdeckung von Adam Smith, das von mir so genannte „Hauptgesetz der Beschaffung": mit der Zahl der Bevölkerung wächst der Kollektivbedarf, mit ihm die technische und lokale Arbeitsteilung und -Vereinigung, mit ihr sind notwendig verbunden die Verbesserung der Werkzeuge und der Methoden; daraus folgt wachsende Produktivität pro Kopf; und zwar nahm Adam Smith mit Recht an, daß diese segensreiche Entwicklung nicht nur für die Industrie, sondern auch für die Landwirtschaft gelte. Von diesem Gesichtspunkt aus war für irgendwelche pessimistische Auffassung einer starken Geburtlichkeit kein Anhaltspunkt gegeben; im Gegenteil: sie konnte nur als höchst erwünscht erscheinen. Freilich unter einer Voraussetzung, die für den Fortgang unserer Betrachtungen von Wichtigkeit werden wird, nämlich einer rationellen Wirtschaftspolitik des Staates. Smith unterschied sehr scharf zwischen gut verwalteten Staatswesen, in denen ein star-
1
Vgl. ζ. B. Moses I, 38 [9],
Weltprobleme der Bevölkerung
311
ker Bevölkerungszuwachs zu noch stärker vermehrtem Reichtum fährt, und schlecht verwalteten Staatswesen, in denen er nur zu vermehrtem Elend führen kann. W o dem Wirtschaftsinteresse des Einzelnen freier R a u m gelassen wird, wo zu diesem Zwecke alle Hindernisse der freien Konkurrenz abgebaut werden: alle Privilegien einzelner Klassen, Berufe und privilegierter Einzelner (Handelskompanien), alle Schutzzölle und ähnliche Maßnahmen (die nicht etwa durch die augenblickliche Situation für eine gewisse Zeit notwendig geworden sind: als Erziehungszölle, Kompensationszölle, Vergeltungszölle): dort ist wachsender Reichtum, dort ist eine „fortschreitende Gesellschaft". W o aber eine schlechte Staatsverwaltung im Dienste kurzsichtiger Egoismen von Einzelnen oder Klassen Monopole schafft oder aufrechterhält, da kann es leicht dahin kommen, daß die Gesellschaft eine „rückschreitende" ist, und dann führt starke Bevölkerungsvermehrung zu wachsendem Elend. Adam Smith schrieb in einer Zeit, die sich zwiefach sehr stark von der Periode unterschied, in der seine Nachfolger Ricardo und Malthus lebten. Erstens war das Bürgertum, als dessen Vorkämpfer gegen die Reste des feudalen und merkantilistischen Staates Adam Smith aufgetreten war, zu seiner Zeit noch ein Teil der kämpfenden Masse, als deren Vortrab es sich fühlte. Es war, und Smith war infolgedessen, noch 50Z¿í/liberal, noch optimistisch. Alle Welt erwartete von dem Zeitalter der politischen und wirtschaftlichen Freiheit damals noch die kraftvolle Hebung des ganzen „dritten Standes", zu dem auch die Arbeiter noch gerechnet wurden und sich selber rechneten. D e n n die „Arbeiter": das waren damals fast durchaus noch die Gesellen des Handwerks, die sich immer noch als einen bloßen Durchgangsstand zur selbständigen Stellung des Meisters auffaßten. Ein Menschenalter später lagen diese Dinge völlig anders. Das Großbürgertum hatte seinen Sieg über den Feudalstaat vollendet. U n d während dieser alte Gegensatz sich immer mehr ausglich, während der agrarische Adel Englands mit den Großherren der Industrie und des Handels schnell zu einer einheitlichen „nuova gente" verschmolz, riß ein vorher kaum vorhandener und jedenfalls kaum empfundener Gegensatz immer tiefer auf: zwischen dem Kapitalisten auf der einen und dem Proletariat auf der anderen Seite. Das aber bestand nur noch zum kleineren Teil aus Handwerksgesellen, zum weitaus größeren Teile aus „Händen" der inzwischen herangewachsenen Fabriken, Arbeitern im modernen Sinne, die keine zünftigen Uberlieferungen besaßen, sich selbst als Dauerstand empfanden und von ihren Arbeitsherren als solcher betrachtet und behandelt wurden. Dieser Spaltung im Sozialen ging eine Spaltung im Psychologischen und Theoretischen parallel. D i e bürgerliche Theorie wandelte sich vom Optimismus zum Pessimismus, wurde zur „dismal science" (trübseligen Wissenschaft), wie Carlyle sie nannte, während die Arbeiterschaft sich dieser nunmehr ganz kapitalistisch gewordenen Ö k o n o m i k mit der sozialistisch-kommunistischen Theorie gegenüberstellte. Mit dem Aufkommen dieses Sozialismus sah sich das Großbürgertum in eine Verteidigungsstellung gedrängt, ganz ähnlich derjenigen, in die es selbst in der vorhergehenden Periode die Verfechter des Feudalismus und Merkantilismus gedrängt hatte. D e r Sozialismus griff den „Liberalismus", der seine noch bei Adam Smith unzweideutig vorhanden gewesenen sozialistischen Elemente gänzlich ausgeschieden hatte, mit den gleichen „naturrechtlichen" Argumenten an, mit denen vorher das Bürgertum den feudalen Gegner angegriffen und besiegt hatte. N u r von hier aus ist die Einstellung der zweiten Generation der Klassik zu verstehen. Malthus, selbst ein Sohn der Gentry, vertritt vorwiegend den agrarischen, altadeligen Teil der neuen Nobilität, Ricardo als Bankokrat vorwiegend den kommerziellen, neuadeligen Teil: aber beide sind völlig einig in der Kampfstellung gegen den Sozialismus. Diese Wandlung zeigt sich am deutlichsten in der Stellung der beiden Ökonomisten zur Bevölkerungsfrage. Ricardo übernahm das von seinem Freunde Malthus ausgearbeitete Bevölkerungsgesetz ohne jede Korrektur. Beide wiesen von hier aus die Angriffe des Sozialismus zurück. U n d bis auf den heutigen Tag ist hier der Schlüsselpunkt aller „bürgerlichen" Verteidigung gegen jeden Sozialismus gelegen gewesen. Alle bürgerliche Theorie erkennt entweder das Malthussche Gesetz ausdrücklich an oder setzt es stillschweigend als geltend voraus.
312
Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Der Ausgangspunkt der neuen pessimistischen Bevölkerungstheorie, die den Bevölkerungszuwachs, in scharfem Gegensatz zu Adam Smith, auch in einer „fortschreitenden" Gesellschaft, also auch bei guter Regierung und unter völlig freier Konkurrenz, für schädlich erklärte, ist eine neue Situation in den englischen Industriebezirken. Hier besteht der zweite Gegensatz gegen die Periode, in der Adam Smith beobachtete und schrieb. Zu seiner Zeit waren die Städte wohl gewachsen, aber doch nur langsam und nur in einem Maße, bei dem der Zuwachs mindestens unter den alten Bedingungen Beschäftigung und Unterhalt fand. Das war jetzt merklich anders geworden. Die Städte schwollen ungeheuer an; und, so stark auch die Zahl der Arbeitsstellen sich vermehrte, so blieb doch immer eine riesenhafte Armee von Unbeschäftigten übrig, deren Hungerangebot selbstverständlich den Markt der Arbeit völlig verheerte, den Lohn in die Tiefe riß, und auch die Beschäftigten in ein bis dahin unbekanntes Elend stürzte. Die Sterblichkeit der Erwachsenen und der Kinder stieg ins Grauenhafte; die Schulbildung war schlimmer als nur völlig ungenügend; „Verdumpfung und Entsittlichung", um mit Karl Marx zu sprechen, waren das Schicksal der großen Masse des städtischen Volkes, Prostitution, Trunksucht und Kriminalität erreichten ungeheure Ausmaße. Um wenigstens die ärgsten Spitzen des Übels abzustumpfen, mußte die berüchtigte „Armengesetzgebung" eingeführt werden, die den völlig unzureichenden Lohn, den die Kapitalisten zahlten, durch öffentliche Steuermittel doch wenigstens bis auf das Existenzminimum erhöhen wollte. Die Folge war eine ungeheure Vermehrung der Prokreation, weil die Armenunterstützung um so größer ausfiel, je mehr Kinder eine Familie zählte. Wir haben also in dieser zweiten Periode eine unzweifelhafte scharf charakterisierte „Übervölkerung" der britischen Industriedistrikte. An der Tatsache war nicht zu rütteln und nicht zu deuteln: es konnte sich um nichts anderes handeln, als die Tatsache zu erklären, d. h. auf ihre Ursachen zurückzuführen. Hier spalteten sich die Geister. Die Sozialisten bemächtigten sich der Adam Smithschen Argumente; sie schoben die grauenhaften Zustände auf „schlechte Regierung" und insbesondere auf das System gewaltiger Monopole: des Grund- und des Kapitalmonopols; und sie verlangten im Namen des gleichen Naturrechtes, unter dessen Banner ihre bürgerlichen Gegner soeben erst den Sieg erfochten hatten, die Beseitigung dieser Monopole, oder mit anderen Worten den Kommunismus. Die bürgerlichen Theoretiker konnten es unmöglich verweigern, vor diesem ihrem eigensten Tribunal nach ihrem eigensten Gesetzbuch Recht zu nehmen. Und ihre Verteidigung konnte offenbar in nichts anderem bestehen, als in dem Nachweis, daß das Grund- und das Kapitaleigentum keine Monopole sind, also auch nicht abgebaut zu werden brauchen, und daß das grauenhafte Elend der vorliegenden Übervölkerung nicht auf „schlechter Regierung" beruhe, oder mit anderen Worten keine bloß „historische Kategorie", sondern eine „immanente Kategorie" sei. Das heißt: es liege in der Natur jeder entfalteten Wirtschaftsgesellschaft als notwendige unvermeidliche Folge und entspreche daher dem „Naturrecht", daß mit dem Wachstum der Bevölkerung steigendes Elend einhergehe.
2. Malthus Der erste, der diese Lehre aufstellte, und ihr die argumentative Begründung gab, die trotz aller Einwände, ja trotz aller schlagenden Widerlegung heute noch so vielen Volkswirten genügt, war Thomas Robert Malthus, ursprünglich Theologe, später der erste Professor der Nationalökonomie in England. Sein Vater, ein gebildeter Landedelmann, war, wie der größte Teil seiner ganzen Generation, ein Anhänger der Aufklärung und als solcher dem philanthropischen Sozialismus wohl geneigt, wie er damals in den Schriften namentlich des Franzosen Condorcet und des Engländers Godwin sich ausdrückte. Sein Sohn aber stand, wie seine ganze Generation, auf dem Standpunkt der geistigen Gegenrevolution. Wenn es schon an sich die Regel ist, daß Väter und Söhne verschie-
Weltprobleme der Bevölkerung
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dene Standpunkte einnehmen, so wirkte sich dieses allgemeine Gesetz in jener Zeit mit besonderer Kraft aus: die terroristischen Geschehnisse der französischen Revolution, namentlich die Hinrichtung Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes, hatten die Empörung der besitzenden und gebildeten Klasse in aller Welt hervorgerufen; und dazu kam noch die schwere Enttäuschung über das Ergebnis der Umwälzung, die in wirtschaftlicher wie sozialer Beziehung das Größte versprochen und zu jener Zeit kaum schon das Geringste geleistet hatte. Nach einer Debatte mit seinem alten Herrn setzte sich der damals noch junge Reverend Malthus an seinen Schreibtisch und verfaßte den berühmten und berüchtigten Versuch über Bevölkerung: ein schmales Schriftchen, das einen unerhörten Erfolg hatte und wie gesagt bis auf den heutigen Tag das wichtigste, ja unentbehrliche Rüstzeug der bürgerlichen Verteidigung gegen die sozialistischen Gedanken und Forderungen geblieben ist. In seiner ersten Auflage - später wuchs das Kampfschriftchen durch Hereinnahme immer neuen Materials zu einem äußerlich sehr imposanten Format heran - , in seiner ersten Auflage also enthielt es nichts als - eine Prophezeiung für die Zukunft. Malthus nimmt an, daß durch irgendeinen Akt der Gesetzgebung oder Revolution die von den Sozialisten geforderte wirtschaftliche Gleichheit hergestellt worden sei. Dann werde unter diesen außerordentlich günstigen Umständen die Menschheit ihrem Prokreationstriebe rücksichtslos die Zügel schießen lassen; es würden außerordentlich viel Kinder geboren werden und größtenteils auch das Alter der Reife erlangen, da unter so günstigen Verhältnissen ihrer Eltern die Kindersterblichkeit sehr gering sein werde. Unter diesen Umständen werde das vorhandene Land bald bis zur äußersten Grenze besetzt sein. Dann aber müßte eine grundstürzende Umwälzung sich einstellen, die binnen kürzester Zeit die von den Sozialisten beklagten und in diesem Gedankenexperiment für kurze Zeit ausgeschalteten Verhältnisse der kapitalistischen Klassenordnung und des kapitalistischen Elends wiederherstellen müßte. Denn jetzt würden massenhaft Menschen in die Welt treten, für die „am Tisch des Lebens kein Gedeck aufgelegt sei", weil sie keinen Zutritt zu dem von der Natur vorhandenen Produktionsmittel, dem Grund und Boden, mehr finden können. Ein wütender Konkurrenzkampf müßte entstehen, in dem die vom Glück Begünstigten oder höher Begabten den Sieg davontragen würden, während die anderen, die weniger Begünstigten und weniger Begabten, gezwungen sein würden, jenen anderen Arbeit zu leisten, eine hibtiltiklasse zu bilden. Aber auch diese Zuflucht, dieses „Notasyl", werde sich nicht allen erschließen. Da die Menschheit die Tendenz habe, schneller zu wachsen als die für sie herstellbaren Lebensmittel, so wären viele schlechthin „überzählig" und müßten als solche „ausgejätet" werden, ganz wie Pflanzen in einem überbesetzten Ackerfelde, um den verbleibenden den nötigen Nahrungsraum zu belassen. Dieses Ausjätungswerk würden - eine theologische Reminiszenz des Herrn Pfarrers - die apokalyptischen Reiter übernehmen: Krieg, Seuche, Hungersnot und Laster, und nicht eher könne sich das Gleichgewicht zwischen der Menschheit und ihrem „Nahrungsspielraum" herstellen, als bis alle Menschen gelernt haben würden, durch das positive Hemmnis der Bevölkerungsvermehrung, nämlich durch sittliche und weise Beschränkung der Geburten, ihre Zahl im Einklang mit ihrer Nahrung zu halten. Man sieht, die Lehre entspricht durchaus der Situation, in der das Bürgertum sich befand: sie enthält die Sätze, die sie enthalten mußte, wenn das Plädoyer des Advokaten der angeklagten Klasse vor dem Höchstgericht des Naturrechts einen Freispruch herbeiführen sollte. Der Kapitalismus wurde serviert als das, was er bestimmt nicht ist: als dasjenige, was ich vorgeschlagen habe, die „reine Wirtschaft" zu nennen, nämlich eine Gesellschaft der wirklich freien Konkurrenz, die durch keine historisch überkommene, in der Feudalzeit durch außerökonomische Gewalt geschaffene, Machtposition gestört und abgelenkt ist. Da der Einzelne und noch vielmehr die Klasse immer gern, wie Hasbach einmal sagte, die Konsequenzen annimmt, die ihm oder ihr nützlich sind, ohne viel nach der Wahrheit der Prämissen und des Schlußverfahrens zu fragen, so war damit der Bourgeoisie dasjenige gegeben, was sie bitter brauchte: das gute Gewissen. Daher der ungeheure Erfolg seines Buches.
314
Erster Teil: Nationalökonomie
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Wirtschaftspolitik
3. Kritik Nun sind aber die Prämissen sowohl wie das S chluß verfahren für jeden, der sie ernsthaft ins Auge faßt, unhaltbar. Wir wollen uns nicht bei Kleinigkeiten aufhalten. Wir wollen aus den Bestandteilen der Lehre, die Malthus von überallher zusammengesucht hatte, einige nur erwähnen, ohne uns lange auf ihre Widerlegung einzulassen, und zwar aus dem Grunde, weil ihre Widerlegung den Kern der Theorie unberührt läßt. Da ist erstens seine Meinung, daß die Menschheit sich unter günstigen Umständen bereits in 25 Jahren an Zahl verdoppeln könnte. Sie würde also nach 50 Jahren bereits auf das Vierfache, nach 75 Jahren auf das Achtfache, nach einem Jahrhundert auf das Sechzehnfache, nach zwei Jahrhunderten auf das Zweihundertsechsundfünfzigfache angewachsen sein. Malthus stützte sich bei dieser Rechnung auf die Ziffern des amerikanischen Bevölkerungszuwachses, hatte dabei aber die Kleinigkeit übersehen, daß in Amerika viele Menschen „erwachsen auf die Welt kommen" wie Marx später sagte, d. h. als Erwachsene einwandern, die natürlich sofort heiraten und ihrerseits in Amerika geborene Kinder zeugen können. Adolph Wagner, der die Rechnung nachgeprüft hat, hat herausgefunden, daß unter den allergünstigsten, denkbaren, aber höchst unwahrscheinlichen Umständen die Verdoppelung einer Bevölkerung von innen heraus ungefähr 35 Jahre in Anspruch nehmen würde. In Wirklichkeit hat sich die deutsche Bevölkerung im 19. Jahrhundert erst in etwa 70 Jahren verdoppelt. Aber dieser Fehler berührt, wie gesagt, nicht den Kern der Lehre, sondern schiebt den Zeitpunkt der unumgänglichen Katastrophe nur um etwas hinaus. Ein anderes Element der Theorie, das wir hier nur flüchtig berühren wollen, ist die Behauptung, daß die Menschen die Tendenz haben, sich in geometrischer Reihe zu vermehren, d. h. von eins auf zwei auf vier auf acht auf sechzehn usw., während die Nahrungsmittel nur die Tendenz haben sollen, sich in arithmetischer Reihe, d. h. von eins auf zwei auf drei auf vier usw. zu vermehren. Diese exakte Bestimmung war vielleicht nur als Illustration des Satzes gemeint, der nun allerdings zu den essentiellen Grundlagen der Theorie gehört, nämlich, daß die Lebensmittel die Tendenz haben, langsamer zu wachsen als die Bevölkerung, oder, was ganz dasselbe sagt, daß die Bevölkerung die Tendenz hat, schneller zu wachsen als die Nahrungsmittel. Dieser Satz muß richtig verstanden werden, was nur selten der Fall gewesen ist. Er stammt von einem der größten Naturforscher aller Weltgeschichte, von Benjamin Franklin, und enthält eine exakte mathematische Bestimmung. Um das zu verstehen, orientiert man sich am besten an dem physikalischen Gesetz, daß ein im Kreise herumschwingender Körper in jedem Moment die „Tendenz" hat, in der Tangente abzufliegen, und zwar unter dem Einfluß der Zentrifugalkraft, daran aber verhindert wird entweder durch die Festigkeit des Fadens, an dem er schwingt, wie etwa der Stein, der in einer Schleuder liegt, solange diese geschlossen ist, oder wie unter der Wirkung der Zentripetalkraft einer der um die Sonne kreisenden Planeten. Wie der Planet in der Tangente abfliegen würde, wenn die Zentripetalkraft nicht wirkte, in der Tat aber durch sie in seiner Bahn festgehalten wird, so würde die Menschheit in geometrischer Reihe wachsen, wenn sie nicht durch das Ausmaß der Nahrungsmittel, die nur in arithmetischer Reihe wachsen, daran verhindert würde. Denn natürlich können niemals mehr Menschen gleichzeitig leben, als durch die vorhandene Nahrung unterhalten werden können. Das Gesetz besagt also nichts anderes, als daß die Menschheit beständig „ihren Nahrungsspielraum randvoll erfüllt", ja, sogar: „scharf gegen ihn drängt", immer bestrebt, ihn zu überschreiten, und dennoch mit eiserner Kraft in ihm zurückgehalten. Oder, wie wir schon sagten, es treten immer mehr Menschen ins Leben ein, als existieren können, und darum muß immer ein Teil von ihnen „ausgejätet" werden. Um diese Theorie in ihren geistesgeschichtlichen Zusammenhang einzuordnen, ist zu sagen, daß sie gar nichts anderes ist als die Auffassung, mit der das Bürgertum schon zur Zeit Piatons, in der kapitalistischen Zersetzung von Alt-Hellas, und dann, in der Neuzeit, von Beginn der kapitalisti-
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sehen Ära an, spätestens seit John Locke, den Kapitalismus deduziert und damit gleichzeitig vor dem Naturrecht gerechtfertigt hat. Diese Lehre trägt in der Wissenschaftsgeschichte den Namen des „Gesetzes der ursprünglichen Akkumulation" (Law of previous accumulation). Es ist die bürgerliche Erklärung für die Entstehung der sozialen Klassen. Im Anfang waren alle Menschen frei und von gleichem Vermögen. Diese Gleichheit konnte nur dauern, bis aller Grund und Boden voll besetzt war. Von da an mußte eine Differenzierung in Reich und Arm stattfinden. Die vom Glück Begünstigten, also namentlich die einzigen Kinder, denen der gesamte väterliche Grundbesitz allein zufiel, und die wirtschaftlich Begabten, die Starken, die Fleißigen, Sparsamen, mit Voraussicht Begabten, kamen empor, während die vom Glück nicht Begünstigten und die wirtschaftlich Unbegabten, die Trägen, Schwachen, Dummen und Verschwender herabkamen und schließlich gezwungen waren, sich der ersten Schicht als Arbeiter zu vermieten, um nur die bare Existenz zu finden. So entstanden die Klassen der Besitzenden oben, der Besitzlosen unten, kraft eines unzerbrechlichen Naturgesetzes, streng „naturrechtlich", kraft der „Kargheit der Natur". Die Lehre ist, als historische Erklärung der Klassenscheidung betrachtet, vollkommen falsch. Es hat Herren und Knechte, Reiche und Arme schon zu einer Zeit gegeben, wo von einer Vollbesetzung des Bodens weder in einem einzelnen Lande noch auf der ganzen Erde im entferntesten die Rede sein konnte. Und wir wissen ganz genau, wie diese Scheidung der Klassen oder besser der rechtlichen Stände zustande gekommen ist: nicht durch wirtschaftliche, sondern durch außerwirtschaftliche Kräfte, durch Eroberung, Unterwerfung, Sklaverei und Hörigkeit. Aber wahr oder falsch - wir kommen in anderem Zusammenhang noch einmal auf den Gegenstand zurück - : das Eine ist klar, daß das Malthussche Gesetz in seiner ersten Fassung gar nichts anderes war als das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation mit der einzigen Variante, daß er es auf die Zukunft projizierte. In den späteren Auflagen seines Buches hat er dann die ältere Variante mit hereingenommen, um auf diese Weise auch die Klassenscheidung der Vergangenheit, und was ihm wichtiger war, seiner Gegenwart, zu deduzieren und naturrechtlich zu legitimieren. Aber in seiner ersten Fassung gibt er lediglich eine Prophezeiung. Er nimmt den Ausgangspunkt jener historischen Fiktion, die Gleichheit und Freiheit Aller, als gegeben an und deduziert genau in der alten Weise, wobei er selbstverständlich auch zu den gleichen Konsequenzen kommt.
4. D e r Trugschluß Nur in einer Beziehung unterscheidet er sich von den älteren Vertretern der Lehre: er stützt sich auf das sogenannte „Gesetz der Produktion auf Land", auch genannt das „Gesetz der sinkenden Erträge" (Law of diminishing returns). Mit ihm will er seine Behauptung beweisen, daß die Menschen tendieren, sich schneller zu vermehren als ihre Nahrungsmittel. Diese Behauptung ist schon an sich außerordentlich wenig glaubwürdig. Denn es ist ja klar, daß alle unsere Nahrungsmittel die natürliche Tendenz haben, sich schneller zu vermehren als der Mensch. Während ein Volk, wie Adolph Wagner zeigte, unter den günstigsten denkbaren Umständen etwa ein Drittel Jahrhundert brauchen würde, um seine Zahl zu verdoppeln, weil der Mensch durchschnittlich erst mit etwa 20 Jahren ehefähig wird, und weil in der durchschnittlichen Ehe im Laufe ihrer ganzen Dauer nur wenige Kinder erwachsen, sind unsere Getreidekörner bereits im ersten Jahre fortpflanzungsfähig und erzeugen je eine große Anzahl von Nachkommen; und annähernd das gleiche gilt mit geringen Veränderungen nicht nur von den anderen Pflanzen, sondern auch von den Tieren unserer Nahrung, nicht nur von Hühnern und Schweinen, die schon im ersten Lebensjahre fortpflanzungsfähig und sehr fruchtbar sind, sondern auch von Rindern, Schafen usw. Dennoch stellt Malthus im Vertrauen auf das Gesetz der sinkenden Erträge seine erstaunliche These auf. Was besagt nun dieses Gesetz? Es sagt aus, daß von einem gewissen Optimum an ein
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316
größerer Aufwand von Kosten in der Landwirtschaft bei gleichbleibender
Technik einen geringeren
als den proportionalen Ertrag ergibt. Wenn ein Landwirt ζ. B. auf einem gegebenen Acker durch doppelt soviel Arbeiter mit den gleichen Werkzeugen und nach der gleichen Methode die gleiche Frucht bestellen läßt; - oder, wenn er doppelt soviel Düngemittel in die gleiche Fläche einbringt, so wird der Ertrag zwar steigen, aber nicht auf das Doppelte steigen. Dieses Gesetz ist also ein solches der /Vi'twrwirtschaft, ein reines Gesetz der Rentabilität. Vò/&5wirtschaft, der Produktivität,
Malthus machte daraus aber ein Gesetz der
und zwar durch folgenden grundfalschen Schluß: die Ackerflä-
che eines Volkes oder der ganzen Menschheit stellt eine ein für allemal gegebene Fläche dar. Zu einer gegebenen Zeit sind auf ihr χ Menschen produktiv tätig. Sie erzielen einen bestimmten Rohertrag. Nach einigen Jahrzehnten ist die Zahl des Volkes auf das Doppelte gewachsen, es arbeiten also doppelt soviel Menschen auf der gegebenen Fläche; sie erzielen einen zwar vermehrten, aber nicht auf das Doppelte vermehrten Ertrag, so daß auf jeden von ihnen weniger als im ersten Stadium entfällt. Die Ertragsquote, berechnet auf den Kopf, ist gesunken. Folglich besteht die Tendenz der Bevölkerung, stärker zu wachsen als ihre Nahrungsmittel, als ihr „Nahrungsspielraum". Diese Schlußfolgerung ist völlig verfehlt. Wir wollen davon absehen, daß Malthus vergessen hat, daß das Gesetz der sinkenden Erträge erst von einem bestimmten Optimum an gilt. Er hat nicht den geringsten Versuch gemacht, nachzuweisen, daß das Optimum schon erreicht ist, oder festzustellen, wo es liegt. Aber lassen wir das beiseite. Viel schwerer wiegt und entscheidet unbedingt gegen ihn, daß er die Bedingung vergessen hat, unter der allein das Gesetz Geltung hat: nämlich Gleichbleiben
der agrarischen
Bewaffnung
das
und Technik. Die Möglichkeit besteht durchaus, daß diese
Technik sich verbessert, während ein Volk oder die Menschheit im ganzen an Zahl wächst. Ja, mehr als das: es besteht hier nicht nur die Möglichkeit, sondern eine bis an die Grenze der Gewißheit streifende Wahrscheinlichkeit. Nach jenem berühmten Gesetz der Kooperation, das zuerst von Adam Smith formuliert worden ist, verfeinert sich mit wachsender Volkszahl unter nicht allzu argen politischen Verhältnissen die Arbeitsteilung; und das bedeutet Bewaffnung der Landwirte mit wirksameren Werkzeugen und ihre Ausstattung mit ergiebigeren Methoden. Ein einziger Blick über die Agrargeschichte bestätigt diese theoretische Deduktion. Als die Menschen noch sehr gering an Zahl waren, diente ihnen ein im Feuer gehärteter Grabstock als einziges Ackergerät; daraus wurde im Laufe der Zeit der vom Zugtier gezogene Haken, dann der hölzerne Wendepflug, der Stahlpflug, der Räderpflug, der Dampfpflug, der Traktor. Am Anfang gab es höchstens eine flache Regenfurche; aus ihr wurde der Graben, der gedeckte Graben, die systematische Dränage. Zu Anfang „düngte die Lerche", wie der Landwirt sagt; von da ging die Entwicklung über die Beweidung der Brache, die systematische Pflege des Dungs in gemauerten Dungstätten bis zur Anreicherung des Bodens durch mineralische Stoffe und bis zur Fabrikation des Luftstickstoffs. Ganz so ist es mit allen anderen Methoden der Landwirtschaft gegangen. Und so fällt mit der Voraussetzung, dem grundfalsch angewendeten Gesetz der sinkenden Erträge, auch der Schluß, den Malthus zog. Es ist nicht nur durchaus möglich, sondern es ist in allen einigermaßen anständig verwalteten Staatswesen gesicherte Tatsache, daß, dank den besseren Methoden und Werkzeugen, der Ertrag pro Ackerarbeiter steigt und nicht fällt. U m ein einziges Beispiel anzufahren, so hat sich nach Max Delbrück im 19. Jahrhundert die deutsche Getreideproduktion vervierfacht, während sich die deutsche Gesamtbevölkerung nur verdoppelte, und die Agrarbevölkerung höchstens stabil blieb. Und dabei ist noch die ungeheure Ernte an Kartoffeln dem Boden abgewonnen worden, und hat sich das Schlachtgewicht und der Nährwert unserer Tierzucht enorm vermehrt! Wir sagten oben, Malthus habe seine Lehre von der „Tendenz" der Menschheit, über ihren Nahrungsspielraum hinauszuwachsen, von dem großen Benjamin Franklin übernommen. Und das ist in der Tat der Fall. Franklin überlegt, daß alle Pflanzen und Tiere die Tendenz haben, sich unter ungestörten Verhältnissen im geometrischen Verhältnis zu vermehren. Er sagt, wenn es keine andere Pflanze auf der Erde gäbe als ζ. B. Fenchel, so würde binnen kürzester Zeit der ganze Planet mit Fenchel bedeckt sein. Und er faßt
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der
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dann diejenige Tierart ins Auge, die sich nach unserer Kenntnis am langsamsten vermehrt, nämlich den von kaum einem tierischen Feinde bedrohten Elefanten. Dennoch würde es, wenn kein anderes Tier auf der Erde vorhanden wäre, in kurzen Jahrhunderten so viel Elefanten geben, daß sie nicht mehr sämtlich Nahrung finden könnten. Und aufgrund dieser Erwägung formuliert er jenes Gesetz, das Malthus übernahm, von der „Tendenz allen beseelten Lebens, sich über das Maß der für es vorhandenen Lebensmittel hinaus zu vermehren" (tendency of all animated life to increase beyond the nourishment prepared for it). Ist es etwa unsere Absicht, dieser zwingenden Deduktion des großen Naturforschers zu widersprechen? Nicht im mindesten! Er hatte vollkommen recht. Aber er hat, was Malthus nicht beachtet hat, dieses Gesetz aufgestellt lediglich für das wilde Leben, das nur von „Okkupation" existiert, d. h. von den von der Natur selbst bereiteten Nahrungsmitteln. Und für dieses wilde Leben gilt sein Gesetz in der Tat unbedingt. Aber es gilt nicht für das zivilisierte Leben, das nicht von Okkupation, sondern von Produktion existiert, d. h. das die Naturkräfte in seinen Dienst zwingt mit dem Erfolge, seine Unterhaltsmittel rastlos zu vermehren. Henry George hat den von Malthus hier begangenen Fehler einmal in reizender Weise bezeichnet. Er sagt: der Mensch und der Habicht essen beide Hühner. Aber: je mehr Habichte, um so weniger Hühner, je mehr Menschen, um so mehr Hühner gibt es. Denn der Mensch ißt nicht nur Hühner, sondern er züchtet sie auch; er schützt sie vor ihren natürlichen Feinden und den Unbilden der Witterung, er füttert sie und versteht es, ihre ihm nützlichen Eigenschaften durch bewußte Zuchtwahl zu entwickeln. Und darum werden der Schlachthühner und der Eier immer mehr, obgleich die Gesamtheit der Menschen ungleich mehr Hühner und Eier zu sich nimmt als die Gesamtheit nicht nur der Habichte, sondern allen Raubzeugs zusammengenommen einschließlich der Nesträuber. Damit ist die Malthussche Erklärung der Klassenscheidung im allgemeinen und vor allen Dingen der Übervölkerung in den englischen Industriedistrikten seiner Zeit als irrig erwiesen. Um uns ganz schulmäßig auszudrücken, so ist er von einer falschen Prämisse ausgegangen, indem er das Gesetz der sinkenden Erträge zugrunde legte, aber Kerne seiner entscheidenden Bestimmungen nicht berücksichtigte. Um unsere Kritik zu vollenden, ist es nunmehr unsere Aufgabe, unsererseits die Übervölkerung abzuleiten, die, wie wir oben sagten, eine Tatsache ist, eine Tatsache, an der nicht zu rütteln und zu deuteln ist.
5. Der Marxsche Erklärungsversuch Eine solche Erklärung liegt seitens der sozialistischen Theorie vor. Von jeher haben die Arbeiter die Maschine für ihre Leiden verantwortlich gemacht. Die Strumpfwirker von Lyon zerschlugen die Strumpfwirkmaschinen, die Elbschiffer zerstörten Papins neues Dampfschiff und die Chartisten die Ventile der Dampfmaschinen (das sogenannte Pfropfenkomplott). Diese Meinung scheint auf den ersten Blick wohl berechtigt. Denn die Maschine ist ja zweifellos ein Instrument, das Arbeit erspart; und da Arbeit von Arbeitern geleistet wird, so scheint es auf den ersten Blick, daß sie auch Arbeiter erspart, oder was das gleiche ist, daß sie Arbeiter aus ihren Stellen wirft, brotlos macht. Kein Geringerer als Karl Marx hat diese volkstümliche Meinung in wissenschaftliche Gestalt gebracht: in seinem „Gesetz der kapitalistischen Akkumulation", das er, wie schon die gewählte Bezeichnung zeigt, dem bürgerlichen Gesetz der ursprünglichen Akkumulation entgegenstellte. Es ist hier nicht der Ort, diese geistvolle Theorie darzustellen und zu widerlegen. Nur die Andeutung, daß nach Ausweis der Tatsachen die Freisetzung von Arbeitern weit mehr als kompensiert wird durch Neueinstellung von Arbeitern, und zwar erstens in den gleichen Betrieben, weil mit der kapitalistischen Entwicklung der Preis der Waren sinkt; deshalb finden sie einen viel größeren Absatz und werden
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in viel größerem Umfange erzeugt als vor Einführung der Maschine. Vor allem aber werden zweitens neue Arbeiter gebraucht, um die Maschine selbst, ihre Rohstoffe und ihr Zubehör zu erzeugen: in Bergwerken für Erze und Kohlen, im Maschinenbau, in Hüttenwerken, in Eisenbahnen, Häfen, Seeschiffen, Straßen, Telegraphenleitungen, im Aufbau der riesenhaft wachsenden Städte usw. Wenn dennoch das Angebot der Arbeit auf dem Markte der Dienste in aller Regel die Nachfrage übersteigt, so daß der Lohn, wenn überhaupt, nur langsam, und keinesfalls im Verhältnis der ungeheuer gewachsenen Produktivität der menschlichen Arbeit steigt, so erklärt sich das aus Ursachen, die weder die bürgerliche Theorie, noch Karl Marx erkannten. Es ist die ungeheure Zuwanderung von Landproletariern aus den Bezirken des Großgrundeigentums, die in der Zeit des englischen Frühkapitalismus den Arbeitsmarkt überschwemmte, die Löhne in die Tiefe riß, und jenes grauenhafte Elend erzeugte, das zur Konzeption des Bevölkerungsgesetzes den Anlaß gab. Und es ist die gleiche Massenwanderung des Landproletariats in die Industriebezirke, die in allen anderen kapitalistischen Ländern, wenn auch nicht die gleiche, so doch eine ähnliche „Übervölkerung" hervorrief und noch immer hervorruft. Karl Marx hat das wohl gesehen, aber er schob es auf eine Ursache, die nicht existiert: auf die Freisetzung der Landarbeiter durch das agrarische Kapital in Gestalt der Maschine. Ein schwerer Irrtum: zu seiner Zeit war von einer Maschinisierung der englischen Landwirtschaft kaum in ihren allerersten Anfängen die Rede. Außerdem hätte ein wenig Aufmerksamkeit genügt, um ihn zu belehren, daß eine kapitalistisch ausgestattete Landwirtschaft nicht weniger, sondern mehr Arbeiter auf der Fläche beschäftigt, und vor allen Dingen, daß die Massenwanderung aus dem von der Maschine überhaupt noch nicht berührten Irland noch viel ungeheuerlicher war als aus den anderen Teilen des vereinigten Königreichs. Die grüne Insel verlor zwischen 1840 und 1850 fast die Hälfte ihrer Bevölkerung durch Auswanderung.
6. Das Goltzsche Gesetz Hier waltet ein Gesetz, das Marx nicht kennen konnte, weil es erst zehn Jahre nach seinem Tode entdeckt wurde und nur in Deutschland entdeckt werden konnte. Wir sprechen von dem Goltz-
schen Gesetz. Im Jahre 1893 formulierte Theodor Freiherr von der Goltz, Professor der Agrarwissenschaft an der landwirtschaftlichen Hochschule in Poppelsdorf bei Bonn, in seinem Buche: „Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat", ein statistisches Gesetz folgenden Inhalts: „Mit dem Umfang des Großgrundeigentums parallel und mit dem Umfang des bäuerlichen Besitzes in umgekehrter Richtung geht die Aus- und Abwanderung." Dieses Gesetz konnte nicht in England und nicht in Frankreich gefunden werden - denn England ist ganz und gar Land des Großbetriebes, Frankreich in allen seinen Teilen Land des Klein- und Mittelbetriebes. Nur in Deutschland konnte der Zusammenhang auffallen: denn nur Deutschland ist kraft einer eigentümlichen geschichtlichen Entwicklung ein Staat, in dem ein Gebiet vorwiegenden Großgrundeigentums, das sogenannte „Kolonialland" im Osten der Elbe und Saale, zusammengeschweißt ist mit einem vorwiegend von Bauern besiedelten Gebiet, dem „Stammlande" im Westen. Und das Gesetz konnte auch in Deutschland kaum früher als zu Beginn der 90er Jahre entdeckt werden, weil die Massenwanderung, sowohl die Auswanderung über See, wie auch die Abwanderung in die Industriebezirke, erst recht eigentlich nach dem deutsch-französischen Kriege einsetzte; dem Statistiker mußten aber mindestens zwei Volkszählungen vorliegen, um den Zusammenhang erkennen und formulieren zu können. Im übrigen ist dieser Zusammenhang in der Goltzschen Formel noch nicht einmal in seiner vollen ziffernmäßigen Größe angedeutet. Man kommt der Wahrheit näher, wenn man etwa sagt: „Die Wanderung aus verglichenen Bezirken wächst im Quadrat des darin enthaltenen Großgrundeigentums", oder: „wo das Großgrundeigentum im arithmetischen Verhältnis wächst, wächst
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die Wanderung im geometrischen Verhältnis." Einmal darauf aufmerksam geworden, war es nun leicht festzustellen, daß hier ein echtes volkswirtschaftliches Gesetz gefunden war, das sich unter den gleichen Umständen überall mit vollkommen gleicher Gewalt, wie Max Weber einmal sagte, „mit einem seltenen statistischen Eigensinn" durchsetzt. Wo massenhaftes Großgrundeigentum und Freizügigkeit des Landproletariats gleichzeitig gegeben sind, da ist massenhafte Aus- und Abwanderung. Was die erste anlangt, so braucht man kein statistisches Handbuch aufzuschlagen, um zu wissen, daß aus den Großgrundbesitzländern England und namentlich Irland, Ostdeutschland, Rußland, Polen, Ungarn, Rumänien, Süditalien die Menschen in ungeheuren Massen über See und in Nachbarländer übergeströmt sind, während aus Bauernländern wie Frankreich, Westdeutschland, Norditalien, der Schweiz usw. nur geringe Zuflüsse zu diesem Riesenstrom erfolgten. Was aber die Abwanderung anlangt, so wissen wir gleichfalls, ohne zu statistischen Nachforschungen greifen zu müssen, daß in Großbritannien und Ostdeutschland mehr als der gesamte Nachwuchs des Landproletariats in die Industriedistrikte eingeströmt ist: der Bestand der Bezirke des Großgrundeigentums an Menschen hat sich absolut vermindert. Hier war nur noch eine einzige Aufgabe zu erfüllen: das statistische Gesetz mußte als ein echtes Gesetz dadurch erwiesen werden, daß man es mit der gewöhnlichen Methode der Nationalökonomie aus ihren allgemeinen Prämissen deduzierte. Diese Aufgabe haben wir sehr einfach lösen können in unserer Formulierung des „Gesetzes vom einseitig sinkenden Druck". Der Zusammenhang ist der folgende: die allgemeine Prämisse der Ökonomik ist, daß die Menschen ihrem wirtschaftlichen Selbstinteresse folgen, d. h. sich denjenigen Berufen und Örtlichkeiten zuwenden, wo sie ein höheres Einkommen erwarten, oder, was nur eine andere Formulierung ist, daß sie vom Orte höheren zum Orte geringeren sozialen und wirtschaftlichen Drucks auf der Linie des geringsten Widerstandes zu strömen tendieren. Nun wächst nach dem Adam Smithschen Hauptgesetz der Beschaffung mit wachsender Bevölkerung die Kooperation, die Produktivität und der Reichtum, aber er hat die Tendenz, auf dem Lande langsamer zu wachsen als in der Stadt, und zwar, weil die Produktivität der Stadt der Hemmung nicht unterliegt, die das Gesetz der sinkenden Erträge der Produktivität der Landwirtschaft entgegenstellt. Man drückt das in der Regel so aus: die Industrie unterliegt dem Gesetz der steigenden, die Landwirtschaft dem der (relativ) sinkenden Erträge. Damit ist durchaus nicht gesagt, daß die landwirtschaftliche Produktivität unter gesunden staatlichen Verhältnissen nicht stärker steigt als die Bevölkerung: aber sie steigt langsamer als die der städtischen Schichten. Nun kann aber in einer Gesellschaft der vollen Freizügigkeit das Einkommen eines Teiles der Bevölkerung auf die Dauer nicht höher sein als des anderen. Es findet durch die Zuwendung zu den begünstigten Berufen und Örtlichkeiten immer sofort „in statu nascendi" eine Ausgleichung statt. Diese Ausgleichung erfolgt in unserem Falle dadurch, daß ein Teil des landwirtschaftlichen Nachwuchses in die Städte wandert: Abwanderung. Infolgedessen wächst hier die Konkurrenz, die Preise werden gedrückt, die Einkommen sinken. Auf der anderen Seite braucht diese vermehrte Bevölkerung auch vermehrte Nahrung und Rohstoffe. Infolgedessen steigen die Preise der landwirtschaftlichen Produkte und mit ihnen die Einkommen auf dem Lande. Ferner wird nach dem Ricardoschen Gesetz der Anbau von Böden geringerer Rentierung erforderlich, um den vermehrten Nahrungsbedarf der Stadt zu decken. Es wird also der Boden geringerer natürlicher Bonität oder größerer Entfernung vom Markte in Anbau genommen: Auswanderung. Der Grenzbeschaffungspreis des Grenzproduzenten steigt, und diesen Preis muß der städtische Markt bezahlen. Auch aus diesem Grunde steigt der Preis des Urprodukts. Und so hat sich die Ausgleichung vollzogen, indem der Druck über der Stadt um etwas vermehrt, über dem Lande um etwas vermindert worden ist. Das ist das allgemeine Gesetz. Aber es wirkt sich verschieden aus, je nachdem das Land vom Großgrundeigentum oder von Bauern eingenommen ist. Wo Bauern sitzen, da kommt der Zuwachs des Einkommens den Arbeitenden selbst gleichmäßig zugute. Wo aber Großgrundeigentum vorherrscht,
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da wird durch das Steigen der Preise nur der Besitzer begünstigt, während seine Arbeiter zunächst und unmittelbar keinen Vorteil davon haben. Denn sie stehen, was schon Adam Smith klar ausgesprochen hat, ihrem Bodenherrn als einem Monopolisten gegenüber, und jeder Monopolist nimmt, um mit dem großen Schotten zu sprechen, immer „soviel er irgend erpressen kann". Folglich ist der Druckunterschied zwischen der arbeitenden Klasse in der Stadt und derjenigen auf dem Lande hier unendlich viel größer, als im Bauernbezirke der Fall ist: und infolgedessen muß die Wanderung ihren beiden Richtungen nach unendlich viel stärker sein als dort.
7. Die wahre Ursache der städtischen Übervölkerung Es zeigt sich also, um zusammenzufassen, daß eine gewisse mäßige Ab- und Auswanderung notwendiges Kennzeichen jeder denkbaren Wirtschaft der freien Konkurrenz ist. Und die Tatsachen bestätigen das denn auch: auch in Bauernländern geht ein geringer Teil des Nachwuchses in städtische Berufe über, und besetzt ein anderer Teil neues Land im In- oder Auslande. Aber die Massenwanderung, die die städtischen Arbeitsmärkte verheert und die traurigen Erscheinungen des sogenannten Kapitalismus herbeiführt, findet sich nur in Bezirken des Großgrundeigentums. Hier sei vor einem naheliegenden, aber eben deshalb sehr törichten Einwände von vornherein gewarnt: die Wanderung macht an den politischen Grenzen von Bauernländern nicht Halt, wenn sie nicht gewaltsam abgewehrt wird. Die Bauernländer Frankreich und die Schweiz ζ. B. sind von deutschen, italienischen, belgischen, neuerdings auch polnischen Arbeitern geradezu überschwemmt. Man versteht also, warum auch hier ein gewisser Kapitalismus aufkommen mußte, aber man versteht jetzt auch besser, warum er niemals eine so hohe Entwicklung nahm, und warum er vor allen Dingen niemals zu so schweren Erscheinungen führte wie in den Gebieten seiner eigentlichen Entstehung, denen des Großgrundeigentums im vereinigten Königreich. Bei den hier anzustellenden Beobachtungen und Erwägungen hat man immer einen wichtigen Satz der Pathologie im Auge zu behalten: es gibt keine krankhafte Erscheinung, die nicht im Gesunden ihr Vorbild hätte. Alle Krankheit besteht nach Broussais und Virchow lediglich darin, daß normale Elemente auftreten an abnormem Orte, zu abnormer Zeit oder vor allem in abnormer Menge. In unserem Falle handelt es sich durchaus um eine solche „Heterometrie". Mäßige Wanderung ist normal, nur die unmäßige ist ein Symptom der schweren Volkskrankheit, an der wir leiden, und von der unsere Kultur bedroht ist. Wenn man ein illustrierendes Beispiel haben will, so wird es wahrscheinlich niemals eine Gesellschaft geben, aus der die Tuberkulose völlig verschwunden ist. Es gibt immer sogenannte „Minusvarianten", lebensschwache Menschen, die durch irgendwelche akuten oder chronischen Krankheiten fortgerafft werden, und das ist ein Geschehnis, das im Interesse der ganzen Gruppe liegt, die sich „emporzüchten" will und soll. Wenn aber die Tuberkulose nicht in vereinzelten Fällen, sondern in Massenhaftigkeit auftritt und außer den Minusvarianten zahllose „Plusvarianten" dahinrafft, dann handelt es sich um eine schwere Erkrankung des gesellschaftlichen Organismus. Ein Feuerchen im Herd ist nützlich, ein Großfeuer im Dachstuhl schädlich. Damit haben wir die wahre Ursache der städtischen Übervölkerung seit Beginn der kapitalistischen Ära widerspruchsfrei in voller Übereinstimmung mit den Tatsachen, und haben damit gleichzeitig die Hauptursache des Irrtums von Malthus (und Marx) aufgedeckt. Sie sahen Übervölkerung in den Städten und hielten sie für eine Übervölkerung im ganzen Gebiet der Volkswirtschaft. Und deswegen fanden beide die richtige Erklärung nicht. Malthus suchte sie in der „überschießenden Geburtenfrequenz" dank der „Unvorsichtigkeit" der Arbeiter, die mehr Kinder in die Welt setzten, als sie ernähren konnten; Marx suchte die Ursache in der verhängnisvollen Wirkung der Maschine in Industrie und Landwirtschaft. Aber die wahre Ursache liegt weder im Biologisch-Psycho-
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logischen, noch im Technisch-Wirtschaftlichen. Es handelt sich nicht, wie Malthus annahm, um ein sich blind durchsetzendes Naturgesetz, das jede denkbare Gesellschaft beherrscht; und es handelt sich ebensowenig, wie Marx annahm, um ein „spezifisches Populationsgesetz" jeder Gesellschaft der freien Konkurrenz: sondern es handelt sich um eine gesetzmäßige Auswirkung außerwirtschaftlicher Faktoren auf den Ablauf der Gesellschaftswirtschaft: denn das massenhafte Großgrundeigentum ist unbestreitbar entstanden aus Eroberung und Unterwerfung. Wenn wir uns diesen „Feudalrest", dieses gewaltige Monopol, beseitigt vorstellen, so dürfen wir sagen, daß die Menschheit sich nicht mehr vor der Maschine zu fürchten braucht, die dann nur noch ihr gehorsamer Sklave, aber nicht mehr ihr tyrannischer Gebieter wäre. Und die Menschheit dürfte ihrer natürlichen Neigung zur Liebe der Geschlechter und zur Gründung von Familien ruhig noch lange Zeit nachgeben, ehe diese Erde ihr den Unterhalt verweigern würde. Damit steht eine neue Frage vor uns auf, der unser zweiter Vortrag gelten wird.
II. Wieviel Menschen können auf der Erde leben? Seit Malthus seine berühmte Prophezeiung kundgetan hatte, haben sich immer wieder seine Gläubigen - und der Ungläubigen gab es immer nur sehr wenige - den Kopf darüber zerbrochen, wann wohl jene Schlußkatastrophe zu erwarten sei, die er voraussagte: die Vollbesetzung der gesamten Erde mit den sich daran schließenden schrecklichen Folgen. Es war und ist das ein geistiges Spiel, das mit einem gewissen wohltätigen Gruseln verbunden ist, so wie es der Bürger im „Faust" empfindet, wenn er am sicheren Orte und sehr fern vom Schuß sich darüber erregt, daß „draußen fern in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen". Es gibt dieser angenehm schauerlichen Probleme noch mehrere, z. B. die Aussicht, daß unsere Erde mit einem Kometen oder anderen Weltkörper zusammenstoßen und sich in einen glühenden Nebel auflösen könnte, oder daß die Sonne kälter und kälter wird, bis am Ende der letzte Eskimo auf dem Äquator jämmerlich erfriert, wie Madacs das in seiner „Tragödie des Menschen" so rührend dargestellt hat.
1. Rousseaus Formel Wir gehen, wenn wir unsererseits jenes Problem ins Auge fassen, von einer Erkenntnis aus, die schlechthin evident ist und denn auch von allen Ökonomisten hohen Ranges, schon von dem Physiokraten Turgot, von Adam Smith und schließlich von Karl Marx als selbstverständlich ausdrücklich vorgetragen worden ist: Großeigentum, sowohl an Grund und Boden wie an beweglichem Gut, d. h. an Kapital, ist nicht eher denkbar, als bis eine Klasse vermögensloser, wie Karl Marx sagt, „freier" Arbeiter vorhanden ist, die den Besitzern den Grund und Boden bebauen, resp. die Maschinen bedienen. Eine solche Arbeiterklasse kann aber nicht eher vorhanden sein, als bis aller Boden der betreffenden Volksgesellschaft und, in weltwirtschaftlicher Betrachtung, der gesamten Erde voll besetzt ist. Da großes Grundeigentum nicht eher möglich und denkbar ist, kann, wenn man von rein ökonomischen Verhältnissen ausgeht, d. h. wenn man die Eroberung und Unterwerfung ausschließt, diese Vollbesetzung nur erfolgen durch selbstwirtschaftende Klein- und Mittelbauern auf Grundstücken, die nicht größer sind, als die vereinte Arbeitskraft der bäuerlichen Familie sie bewirtschaften kann. Das drückt Jean-Jacques Rousseau prächtig in der berühmten Formel aus: „Nicht eher kann Ungleichheit (d. h. eine Arbeiterklasse) entstehen, als wenn alle Hufen einander sämtlich berührend, das ganze Land bedecken."
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Man sieht, hier war eine Möglichkeit gegeben, wenn nicht die Maximalzahl der Menschheit im Ganzen, so doch die Maximalzahl der auf dieser Erde möglichen landwirtschaftlichen Bevölkerung sehr einfach festzustellen. Man brauchte nur zu fragen, wieviel Land durchschnittlich eine bäuerliche selbstwirtschaftende Familie einerseits für ihren Bedarf braucht: das Minimum der Hufe - und andererseits zu bestellen imstande ist: das Maximum der Hufe. Mit der so gewonnenen Grundzahl brauchte man nur in die vorhandene Fläche des fruchtbaren Bodens eines bestimmten Landes oder der ganzen Erde zu dividieren, um die Zahl der möglichen agrarischen Bevölkerung zu erhalten. Zu dieser Zahl hätte man dann noch einen zu bestimmenden prozentualen Zuschlag von Nichtlandwirten machen müssen, d. h. von solchen Menschen, die ihre Produkte gegen die Uberschüsse der Landwirte an Nahrung eintauschen. Wir werden diese Rechnung sofort aufmachen, und es werden sich dabei Ziffern ergeben, die Herrn Malthus in großes Erstaunen versetzt hätten. Er selbst ist auf den Gedanken einer solchen Rechnung nicht gekommen, und man kann ihm daraus nicht einmal einen argen Vorwurf machen. Denn er befand sich unter dem Banne einer ganz allgemeinen Täuschung, die auch die größeren Geister seiner Zeit gefangenhielt, unter einem Banne, der bis auf den heutigen Tag noch nicht von allen Geistern gewichen ist: Wir wissen: nicht eher kann eine Arbeiterklasse entstehen, als bis aller Boden besetzt ist. Nun bestand aber in Europa eine Arbeiterklasse seit Urbeginn der Geschichte. Daraus ging hervor, daß aller Boden längst voll besetzt war. Und daraus wieder schien hervorzugehen, daß für selbständige Bauernsiedlung nirgend mehr Raum sei. Und hierin liegt die Täuschung, hierauf beruht der Trugschluß. Der Boden kann nämlich auf zwei, ganz verschiedene Weisen „voll besetzt" sein. Erstens durch Bauernsiedlung nach dem Rousseauschen Schema derart, daß eine kleine Bauernstelle sich neben die andere legt, bis sie, sich sämtlich gegenseitig berührend, das ganze Land bedecken. In diesem Falle hat natürlich kein weiterer Bauer mehr Platz. Das Land kann aber auch auf eine ganz andere Weise voll besetzt sein, und zwar dadurch, daß sich ein großes Rittergut neben das andere legt, bis sie, sich sämtlich gegenseitig berührend, das ganze Land bedecken. Auch dann entsteht ohne weiteres eine Arbeiterklasse, aber es ist durchaus nicht gesagt, daß nun kein Platz mehr für weitere Bauernsiedlung vorhanden sein kann. Denn diese Rittergüter brauchen begrifflich nicht mit voller Intensität bewirtschaftet zu werden, ja, es ist begrifflich nicht einmal nötig, daß sie ganz, oder daß sie auch nur zum größeren Teile unter Kultur stehen. Sie können sehr extensiv bewirtschaftet werden, so daß bei größerer Intensität viel mehr Menschen darauf arbeiten und leben könnten; und sie können in Teilen, und sogar in sehr großen Teilen, überhaupt noch unkultiviert, noch unbestellt sein. An diese Möglichkeiten hat zu jener Zeit kaum einer der Forscher ernstlich gedacht, und Malthus am allerwenigsten. Und doch ist diese Möglichkeit die historische Wirklichkeit. Adam Smith schreibt von der Zeit der Völkerwanderung klipp und klar das folgende: „Während der Dauer dieser Wirren erwarben oder usurpierten die Häuptlinge und Heerführer den meisten Boden dieser Länder für sich selbst. Das meiste davon war unangebaut, aber kein Teil dieses Bodens, ob urbar gemacht oder nicht, blieb ohne Eigentümer. Alles wurde in Besitz genommen, und das meiste durch einige wenige große Eigentümer." Mit anderen Worten: Der erobernde Kriegsadel hat überall in Europa den Boden gegen das Siedlungsbedürfnis der besiegten Unterklasse gesperrt, und zwar in der klaren Absicht, sich dadurch die Arbeiterklasse zu beschaffen, ohne deren Vorhandensein ein Grundbesitz auch nicht einmal zum Teile für ihn nutzbar gemacht werden konnte. Und damit ist der Trugschluß aufgedeckt, von dem wir sprechen. Die Folgerung, daß kein Raum für neue Bauern mehr vorhanden sei, weil das Vorhandensein einer Arbeiterklasse beweist, daß aller Boden besetzt ist, ist unhaltbar. Diese Erkenntnis allein bedeutet bereits für die Malthussche Lehre und die an sie geknüpften Schlüsse der bürgerlichen Theorie die Katastrophe. Sie sind immer so vorgegangen, als sei alle Ge-
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schichte nicht gewesen oder habe wenigstens nicht gewirkt. Sie haben niemals die Wirkungen der erobernden Gewalt auf die Gesellschaftswirtschaft in Rechnung gestellt, sondern haben immer stillschweigend vorausgesetzt, daß die menschliche Gesellschaft sich völlig friedlich zu ihrem heutigen Zustande entwickelt habe. Sie haben nie die Frage aufgeworfen, ob nicht auch heute noch starke Institutionen unter uns bestehen, die jener Gewalt ihre Entstehung verdanken und irgendwie auf den Ablauf der Gesellschaftswirtschaft und namentlich auf die Verteilung des Erzeugnisses einwirken. Unsere Betrachtung zeigt, daß diese Auffassung völlig unhaltbar ist. Aber das sind Dinge, von denen wir in unserem ersten Vortrage bereits gehandelt haben. Jedenfalls erkennen wir, daß unser Problem auf keine andere Weise gelöst werden kann, als dadurch, daß w i r das Divisionsexempel anstellen, das Malthus auszurechnen versäumt hat, und zwar ohne jede Rücksicht auf die zufälligen Eigentumsverhältnisse, wie eine blutige Geschichte sie gestaltet hat.
2. Das Divisionsexempel Machen wir also unsere Rechnung auf. Nach Albrecht Penck und Lämmel (in seiner „Sozialphysik") gibt es auf dem Festland der Erde nach Abzug der Wüsten, Steppen, Ozeane und Polarkappen 134 Millionen Quadratkilometer fruchtbaren Landes. Setzen wir davon noch ein volles Viertel für notwendig bleibenden Waldbestand ab, so bleiben 100 Millionen Quadratkilometer oder 10 Milliarden Hektar agrarischen Nutzlandes übrig. Damit haben wir den Dividendus gewonnen. Versuchen wir jetzt, den Divisor festzustellen, nämlich den Maximalbedarf an Land durchschnittlich pro Kopf einer bäuerlichen ohne Gesinde wirtschaftenden Familie an Land. Nach der allgemeinen Ansicht der deutschen Agrarstatistiker genügen ein Hektar pro Kopf, also etwa 5 - 7 Hektar pro Familie durchschnittlich für breite bäuerliche Selbständigkeit. Selbstverständlich ist auf geringem Boden und in schlechter Verkehrslage mehr Land erforderlich; eine Fläche von etwa 15 Hektar Ackerland scheint das Maximum dessen zu sein, was ohne regelmäßiges Gesinde einigermaßen zeitentsprechend bewirtschaftet werden kann; dafür ist aber auch auf gutem Boden und in guter Verkehrslage viel weniger Fläche erfordert. Im Rheinland und in Westeuropa genießt der Bauer auf gutem Boden schon von zwei Hektar aufwärts eines mittelständischen Einkommens. Wenn wir diese Ansätze zugrunde legen, so kommen wir zu dem Ergebnis, daß die Erde erst voll besetzt sein wird, wenn rund 2 Milliarden Bauernhufen, einander sämtlich berührend, vorhanden sind; oder, daß eine agrarische Bevölkerung von 10 Milliarden Köpfen möglich ist. Selbstverständlich ist diese ganze Rechnung außerordentlich summarisch. Die Ziffer von zehn Milliarden darf nur als eine sehr vage Annäherung aufgefaßt werden. Es könnten einige Milliarden weniger, aber auch einige Milliarden mehr sein, die heute schon, bei Zugrundelegung der heutigen Technik, als agrarische Bevölkerung auf diesem Planeten leben könnten. Unsere Ansätze sind alles weniger als exakt. Unser Begriff der fruchtbaren Fläche umfaßt Gelände unter allen Breitengraden außerhalb der Polarkappen, und umfaßt Böden, die von den gerade noch angebauten, fast sterilen Grenzböden, etwa dem märkischen Sande, bis zu den üppigen Schwemmböden Ägyptens, Javas und Brasiliens reichen. Auch der Bedarf pro Kopf stellt nur eine Annäherungsziffer dar. Wenn wir auch für die zivilisierten Länder der gemäßigten Zone mit einiger Sicherheit einen Hektar ansetzen können, so wissen wir doch nur wenig von dem Bedarf der einheimischen Bevölkerung in den Tropen. Er erreicht vielfach entfernt nicht einen Hektar pro Kopf; in Ägypten z. B. langen wenige hundert Quadratmeter aus, aber er mag in anderen Tropenländern auch bedeutend größer sein. All das muß man in Rechnung ziehen, um die von uns angegebene Ziffer richtig zu bewerten. Sie stellt nur eine grobe Annäherung dar. Aber mehr ist hier auch gar nicht nötig. Es wird sich bei unseren weiteren
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Erörterungen herausstellen, daß es bei dem uns beschäftigenden Problem, um einen alten Ausdruck anzuwenden, „auf eine Handvoll Noten gar nicht ankommt". Mit dieser Reservation fahren wir also in unserer Schätzung der gegenwärtigen Möglichkeiten fort: Wie schon gesagt, müssen wir der agrarischen Bevölkerung noch einen Prozentsatz nichtagrarischer Bevölkerung hinzurechnen. Wie hoch wollen wir ihn ansetzen? Auch hier müssen wir uns mit einer vagen Schätzung begnügen. Als Deutschland noch in bezug auf seine Nahrungsversorgung selbständig, „autarkisch" war, hatte es etwa 50 % nichtagrarischer Bevölkerung. Oder mit anderen Worten: die Bauern erzeugten doppelt so viel Nahrung, als sie für die eigene Familie brauchten, und konnten mit der einen Hälfte gerade so viele Nichtlandwirte mit ihren Familien ernähren, die ihnen ihre Erzeugnisse in Tausch gaben. Danach dürften wir weitere zehn Milliarden Menschen nichtlandwirtschaftlicher Berufe als schon heute möglich ansetzen, zumal wir für die Nahrung, die die Flüsse, das Meer und der von uns reichlich ausgeschiedene Wald, ein volles Viertel der Gesamtfläche, liefern, keine Ansätze gemacht haben. Man wird uns aber vielleicht den Einwand machen, daß das Land, wenn es so dicht besiedelt ist, wie wir jetzt annehmen, nicht mehr so große Uberschüsse abwerfen kann. Wir halten diesen Einwand für ungerechtfertigt, wie aus unserem ersten Vortrage hervorgeht, aber wir wollen ihm hier Rechnung tragen. Wir reduzieren also die Zahl der Bergleute, Seeleute, Jäger und Forstleute, der Handwerker, Industriellen, Händler, der Beamten und der Ausübenden freier Berufe, auf die Hälfte unseres Ansatzes und kommen somit auf 15 Milliarden Menschen, die heute schon, bei Zugrundelegung der heutigen Technik des Landbaues, auf dieser Erde existieren könnten. Schon diese Schätzung weicht erheblich nach oben von den sonst vorliegenden Schätzungen ab, obgleich diese sich auf die äußerste überhaupt mögliche Besiedlungsdichte der Erde beziehen, während die unsere nur unter der Voraussetzung gilt, daß die heutige landwirtschaftliche Technik sich nicht mehr wesentlich verbessern läßt. Trotzdem kam der englische Geograph Ravenstein 1891 auf eine Maximalzahl, die nur etwa ein Drittel der von uns soeben bestimmten erreicht. Einige Jahre später kam der preußische Statistiker von Fircks auf 9 Milliarden; da ihm aber ein Rechenfehler unterlaufen ist, kommen in Wirklichkeit aus seinen Ansätzen nur etwas weniger als 8 Milliarden Menschen als die Maximalzahl heraus. Die Methode, deren sich die beiden bedienten, ist die folgende: erfahrungsgemäß sind die europäischen Nationen nur so lange autarkisch in bezug auf ihr Hauptnahrungsmittel, das Getreide, bis sie eine Dichte von etwa 83 Köpfen auf den Quadratkilometer erreicht haben. Ist diese Zahl überschritten, so wird Getreide importiert. Die beiden Rechnungen nehmen nun an, daß die Völker die fehlenden Nahrungsmittel nicht herstellen können,
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mit anderen Worten, daß hier das Maximum der aus natürlichen Gründen möglichen Dichte erreicht sei. Wenn diese Annahme richtig ist, so ist die Maximalzahl sehr einfach zu berechnen: man hat nur die vorhandene fruchtbare Fläche des Planeten nach Abzug der als Waldfläche notwendig auszuscheidenden Teile mit 83 zu multiplizieren, und das Exempel ist gelöst.
3. Der falsche Ansatz Leider, oder vielmehr zum Glück, ist die Voraussetzung falsch, und der Ansatz des ganzen Rechenexempels daher unbrauchbar. Die modernen Industrievölker importieren das Getreide nicht, weil sie es nicht herstellen können,
sondern, weil sie es nicht herstellen wollen, und zwar, weil es für sie
vorteilhafter ist, ein bestimmtes Quantum von Getreide und Fleisch gegen ihre Industrieprodukte einzutauschen, als jene Nahrungsmittel selbst zu erzeugen. Mit anderen Worten: solange dünn besiedelte rein agrarische Länder mit fruchtbarem Boden große Uberschüsse von Nahrung billig auf den Markt werfen, haben die Industrievölker keine Veranlassung, ihre eigene Landwirtschaft mit hohen Kosten derart zu intensivieren, daß sie alles von ihnen benötigte Getreide selbst erzeugen. Es
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kostet sie weniger an gesellschaftlicher Arbeit, etwa den Weizen oder das Gefrierfleisch von Argentinien einzuführen, als im Inlande selbst zu produzieren. Würden die Preise der Nahrung bei starker Verdichtung der Bevölkerung auf der ganzen Erde steigen, so würden die Industrievölker bald an den Punkt gelangen, wo umgekehrt die Selbsterzeugung billiger wäre als die Einfuhr, und würden dementsprechend vorgehen. Das Problem, wieviel Menschen auf der Erde ernährt werden können, wird durch diese ganze Rechnung auch nicht im entferntesten berührt. Einen anderen Weg schlug Ballod ein. Er berechnet die Fläche, die heute zur Ernährung eines Menschen nötig ist, und findet im reichen Amerika 1,2 Hektar, in Deutschland ein halbes Hektar, in Japan ein Achtel Hektar. Danach wären, übrigens bei einem außerordentlich niedrigen Ansatz der fruchtbaren Fläche, rund 2,3 Milliarden Menschen möglich, wenn sie die reichliche Nahrung des Amerikaners forderten, rund 5,6, wenn sie sich nach deutscher Art ernährten, und etwa 22,4 Milliarden, wenn sie sich auf die überaus knappe japanische Ernährung einstellen wollten oder müßten. Ahnliche Ansätze macht der deutsche Geograph Penck, nur aufgrund einer wesentlich komplizierteren „Bonitierung" der auf der Erde vorhandenen fruchtbaren Gebiete, deren jedem er nach dem Grade seiner natürlichen Fruchtbarkeit verschiedene Fassungsfähigkeit zuschreibt. Das Resultat weicht nicht stark von dem übrigen ab. Er kommt auf eine höchste denkbare Einwohnerzahl von fast 16 Milliarden, glaubt aber, daß die größte wahrscheinliche Zahl nur etwa die Hälfte erreiche, nämlich 7.689 Millionen. Neuerdings hat nach Zeitungsnachrichten Professor Edward M. East von der Harvard University in seinem Buch „Die Menschheit am Scheidewege" als Maximum 5,2 Milliarden ausgerechnet. Leider ist mir das Buch bisher nicht zugänglich gewesen. Ich muß aber annehmen, daß er zu seinem pessimistischen Ergebnis durch ähnliche Ansätze gekommen ist, wie seine Vorgänger. Diese Ansätze aber sind völlig unbrauchbar. Hier wird ein grober logischer Fehler gemacht, der darin besteht, daß man aus einem komplizierten Sachzusammenhang nur einen einzigen Faktor in Gedanken variieren läßt, alle anderen aber ohne weiteres als starr gegeben und unveränderlich annimmt. U m an einem Beispiel zu illustrieren: Wer annimmt, daß ein Säugling dauernd wachsen wird, ohne daß sich sonst etwas ändert, wird sich der schwersten Besorgnisse um seine Zukunft nicht entschlagen können. Normalerweise aber wächst ein Mensch nicht, ohne daß auch seine Intelligenz, seine Muskelkraft und die Fähigkeit zu zweckmäßiger Anwendung dieser Muskelkraft im gleichen Schritte wüchsen. Und so wird er, wenn er einmal erwachsen ist, auch für sich selbst sorgen können. Grundsätzlich ganz der gleiche Fehler wird auch hier gemacht. Man läßt ein Volk in Gedanken wachsen und die Nahrung knapper werden, denkt aber nicht daran, daß der dadurch bedingte höhere Preis notwendigerweise Veränderungen der Wirtschaftsrichtung und der Erzeugung mit sich führen muß, die das ganze Bild ändern. W i r erkennen am klarsten, welcher ungeheure Fehler hier gemacht wird, wenn wir uns einmal vorstellen wollen, daß ein intelligenter Mensch auf der Stufe der Jäger oder der Hirten sich unsere Frage vorgelegt habe, wobei wir natürlich voraussetzen müssen, daß er die Größe der fruchtbaren Erdfläche gekannt habe. Jäger brauchen pro Kopf etwa 50 Quadratkilometer, Hirten mindestens einen halben Quadratkilometer. Der Jäger wäre auf eine Maximalzahl möglicher Menschen auf der Erde von weniger als drei Millionen Köpfen gekommen, also weniger, als heute in Berlin leben. Der Hirte auf etwa 300 Millionen, also den fünften bis sechsten Teil der heute schon vorhandenen Zahl. Beide hätten ganz ebenso wie die Gelehrten, mit denen wir hier zu diskutieren haben, die für ihre Zeit und Verhältnisse maximale Technik der Bodennutzung zugrunde gelegt. Was für sie ein grober Fehler gewesen wäre, ist für unsere Zeit ein gerade so grober Fehler.
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4. Der richtige Ansatz Es zeigt sich also, daß wir uns bei der Frage, wieviel Menschen auf der Erde leben könnten, unmöglich bei den Ziffern beruhigen dürfen, die wir bereits gefunden haben. Sie sind aufgestellt unter der Voraussetzung der heutigen durchschnittlichen
technischen Bewaffnung der Landwirtschaft.
Aber das ergibt noch lange nicht die von uns gesuchte Maximalziffer. Wir kommen schon auf sehr viel größere Zahlen, wenn wir nichts weiter annehmen, als daß die vollkommenste,
heute schon
erreichte Technik auf das ganze Ackerland der Erde angewendet wird. Und diese Voraussetzung sind wir geradezu gezwungen zu machen. Stellen wir uns nämlich mit den Forschern, gegen die wir hier zu kämpfen haben, vor, daß die Menschenzahl dauernd und schnell wächst, zunächst, ohne daß die Technik, wie sie in den vorgeschrittensten Betrieben schon besteht, noch Fortschritte macht. Dann ist die notwendige Folge, daß die Preise der landwirtschaftlichen Erzeugnisse entsprechend steigen. Diese Preissteigerung erzwingt aber wieder eine entsprechende Steigerung der Betriebsintensität bei allen noch nicht zur gleichen Höhe gediehenen Wirtschaften. Und dieser Prozeß kann sein Ende nicht finden, solange das Wachstum der Bevölkerung andauert. Wir müssen den Fehler vermeiden, uns nur den einen Faktor als variierend vorzustellen, die damit verbundenen Faktoren aber als starr zu denken. Mit anderen Worten: wir müssen fragen, wieviel Nahrungsstoff die heute bereits vorhandene höchstentwickelte Technik der Erde abzugewinnen vermag. Und zwar können wir diese Menge von Nahrungsstoff sehr einfach bestimmen durch Berechnung der in den Nutzpflanzen enthaltenen Menge von Eiweiß. W o genug Eiweiß vorhanden ist, sind die außerdem für unsere Nahrung erforderlichen Mengen von Kohlehydraten oder Mehlstoffen ohne weiteres im Übermaß gleichfalls vorhanden. Da wir nun ferner einigermaßen genau durch die Arbeiten unserer Physiologen wissen, wieviel Eiweiß pro Kopf und Jahr für den durchschnittlichen Menschen erforderlich ist, so läßt sich daraus die Zahl der Menschen errechnen, die auf der Erde leben können, auch wenn die Technik keine weiteren Fortschritte mehr machen sollte. Ich habe die Rechnung vor fast einem Menschenalter in meiner Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz des Thomas R . Malthus aufgestellt. Ich habe zugrunde gelegt die von Voit und Pettenkofer errechneten Ziffern des Eiweißbedarfes, und zwar sehr hoch mit durchschnittlich 37,5 Kilo Eiweiß pro Kopf und Jahr. Nach neueren physiologischen Untersuchungen sollen jene Ziffern übrigens viel zu hoch sein. Nur etwa die Hälfte soll erforderlich sein. Aber: „Es kommt auf eine Handvoll Noten gar nicht an." Selbst in diesem für uns ungünstigen Ansatz bin ich auf über 200 Milliarden Köpfe als möglich gekommen, wenn man die intensivste Art der heutigen Bodenkultur zugrunde legt, nämlich den Gartenbau in geheizten Treibhäusern. Man wird mir einwenden, es sei eine lächerliche Vorstellung, daß jemals die ganze Erde, soweit sie Fruchtland ist, unter Glas gelegt werden würde. Gewiß ist die Vorstellung lächerlich - für unsere Verhältnisse. Aber sie ist nicht lächerlich, sondern geradezu notwendig unter der Voraussetzung, die unsere Gegner machen, daß die Menschheit dauernd in schnellem Tempo wächst. Wenn nämlich die noch so intensive Freilandkultur in Landwirtschaft und Gartenbau die nötigen Nahrungsmittel nicht mehr reichlich liefern kann, weil der essenden Münder allzuviel geworden sind, dann muß unter dem Ansporn der steigenden Preise ein Acker nach dem andern unter Glas gelegt werden. Heute wäre das viel zu teuer, weil die Produkte viel zu billig sind; ihr Preis würde den Aufwand nicht vergüten. Unter unserer Voraussetzung aber müßten die Preise hoch genug sein, um den Aufwand zu vergüten und den üblichen Gewinn übrigzulassen. Heute wäre eine solche Gartenwirtschaft ferner auch technisch unmöglich, einfach aus dem Grunde, weil nicht genug Dünger dafür vorhanden wäre. Wenn aber wirklich einmal so viel Menschen auf der Erde leben sollten, wie hier von unseren Gegnern - aber beileibe nicht von uns! - vorausgesetzt wird, dann, nun ich will hier nur daran erinnern, welche fabelhaften Ergebnisse die chinesische sogenannte „Nachttopfkultur" zeitigt. Es ist ja bekannt, daß der Teilnehmer an einer chinesischen Mahlzeit das Haus seines
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Wirtes anständigerweise nicht eher verlassen darf, als bis er an verschwiegener Stelle die dem Acker entzogene Kraft erstattet hat. Simon berichtet, daß in dem Dorfe Uang Mo Khi 835 Seelen auf dem Quadratkilometer leben und zwar in voller Selbstgenügsamkeit. Sie erzeugen nicht nur ihre sämtlichen Nahrungsmittel an Getreide und Ölpflanzen und ihren gesamten Fleischbedarf an Hühnern und Schweinen, sondern auch die Gespinstpflanzen, deren sie zu ihrer Bekleidung bedürfen. Also rund etwa 200 Milliarden möglicher Menschen, wenn wir auch nur die heute schon erreichte Höchsttechnik zugrunde legen. Diese Zahl dürfte, selbst wenn die Menschheit in dem Tempo des 19. Jahrhunderts weiterwachsen sollte, erst etwa zu einem Zeitpunkt erreicht sein, der so weit vor uns liegt, wie die Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahre 800 hinter uns. Und es läßt sich doch wohl annehmen, daß bis dahin noch einige Verbesserungen der landwirtschaftlichen Technik erreicht sein werden. Die gewaltigen Entdeckungen, die der Landwirtschaft dienen, häufen sich gerade in unserer Zeit in der erstaunlichsten Weise, und man hat den starken Eindruck, daß wir erst jetzt begonnen haben, unsere Herrschaft über die Naturkräfte wirklich auszunutzen. Ich höre aus guter Quelle von fast zur technischen Reife gediehenen Versuchen, um alle möglichen Abfälle von Zellulose, Stroh und Holzreste usw. in einen für die Viehfütterung vortrefflich geeigneten Zucker umzuwandeln; die Fabrikation von Luftstickstoff erreicht immer größere Ausmaße; der Traktor macht immer mehr Pferde in Landwirtschaftsbetrieb überflüssig. Was das aber bedeutet, geht aus folgenden Zahlen hervor. In Deutschland wurden in dem letzten Jahrzehnt durchschnittlich bestellt etwa 6 Millionen Hektar mit Roggen, etwa 2,2 Millionen Hektar mit Weizen und Spelz und etwa 14,3 Millionen Hektar mit Hafer. Der Hafer wird fast ganz als Viehfutter, vor allem als Pferdefutter verbraucht. Diese Frucht nahm also reichlich die Hälfte des mit Brotfrüchten bestellten Areals ein. Wenn diese Fläche ganz oder doch zum allergrößten Teile mit Brotfrucht bestellt werden kann, könnten über 50 % Menschen mehr als jetzt von dem deutschen Acker leben, auch ohne daß die durchschnittlichen Erträge pro Fläche noch stiegen. Und ähnliche Fortschritte sind überall schon jetzt mit Sicherheit vorauszusagen. Welche ungeheuren Mengen von landwirtschaftlicher Arbeitskraft die elektrischen Installationen, die Bodenfraise usw. für intensivere Handarbeit freimachen werden, läßt sich noch gar nicht absehen. Ferner stehen wir eben am ersten Anfang ungeheurer Fortschritte auf dem Gebiet der von uns in geradezu barbarischer Weise vernachlässigten Wasserwirtschaft. Wenn wir es lernen, die im Frühjahr abfließenden und oft genug arg zerstörenden Wassermengen für die Sommerdürre aufzuspeichern und durch Beregnungsanlagen nutzbar zu machen, können die Erträge leicht vervielfacht werden. Es sei ferner erinnert an die jetzt gerade zur Reife gelangende Erzeugung billiger Kraftstoffe durch Verflüssigung der Kohle, an die Verwertung unserer unerschöpflichen Torflager in Überlandzentralen. Wer vergleicht, mit welchen Methoden und Werkzeugen die Landwirtschaft vor noch 50 Jahren ausgestattet war, und mit welchen sie heute ausgestattet ist, dem muß fast schwindeln, wenn er sich eine technische Entwicklung von gleicher Kraft und Schnelligkeit in die nächsten Jahrhunderte hinein projiziert vorstellt.
5. Ein häufiges Mißverständnis Noch eine Einwendung wird man uns machen. Man wird anerkennen, daß alle diese und weitere technische Verbesserungen möglich und notwendig sind, sobald mit immer weiter wachsender Bevölkerung die Preise der landwirtschaftlichen Produkte entsprechend steigen. Aber man wird uns sagen, daß nur wenige noch imstande sein würden, diese hohen Preise zu bezahlen, und daß hier die von uns übersehene Grenze der weiteren Vermehrung der Menschenzahl liegt. Aber auch das wäre ein Irrtum. Was heißt es nämlich, daß das Urprodukt teurer wird? Es heißt nichts anderes, als daß der Konsument einen größeren Teil seines Erzeugnisses als zuvor abzugeben hat, um seine Nahrung
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Enter Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
dafür zu erhalten. Nimm an, zu irgendeiner Zeit habe der Bauer für eine bestimmte Menge Weizen ein Paar Stiefel kaufen können. Nach Ablauf einer gewissen Zeit wird er statt eines zwei Paar Stiefel dafür erhalten. Muß der Stiefelproduzent dadurch in eine schlimmere Lage versetzt sein als zuvor? Nur unter der Voraussetzung, daß immer noch so viel Stiefel herstellt wie zu Anfang. Aber diese Voraussetzung beruht wieder auf dem gleichen Fehler, den wir kennen. Auch der Stiefelproduzent ist mit besseren Methoden und Werkzeugen ausgestattet, und sein Produkt ist entsprechend größer. Er gibt zwar einen größeren Teil als früher ab, aber er kann und wird in der Regel dennoch absolut noch mehr übrigbehalten als im Anfang. Um wieder zu unserem Beispiel zu greifen: Sein Jahresprodukt mag im ersten Stadium 300 Paar gewesen sein; davon hatte er die Hälfte für Nahrung und Leder auszugeben, und die andere Hälfte diente ihm zum Eintausch seiner übrigen industriellen Bedürfnisse. Jetzt stellt er mit Hilfe von Maschinen 3.000 Paar her, hat, sagen wir sogar 2.400 für Nahrung und Leder aufzuwenden, behält aber immer noch 600, also das Vierfache des früheren, für seinen Bedarf an gewerblichen Gütern und Diensten. Obgleich die Urprodukte sechzehnmal teurer geworden sind, steht sich der Konsument viermal besser als zuvor. Aus diesen Erörterungen ergibt sich: irgendeine Berechnung der auf Erden möglichen Maximalzahl von Menschen ist unmöglich. Die Grenze weicht immer weiter zurück, je dichter die Menschen siedeln, weil mit dieser Dichte, und stärker als sie, die Technik wächst. Wenn man die absolute Grenze errechnen will, so muß man schon zu den Ansätzen greifen, die Pouillet gewählt hat. Nach ihm reicht die der Erde zugeführte Sonnenenergie aus, um 100 Billionen Tonnen lebender Substanz auf der Erde zu unterhalten. Danach wäre die äußerste Grenze der Menschenzahl drei Billionen, oder drei Millionen Millionen: zwanzigtausend Köpfe pro Quadratkilometer der Landfläche, oder sechstausend pro Quadratkilometer der Gesamtfläche einschließlich der Wasserfläche. Das ist natürlich eine ungeheure Übertreibung: denn soviel Menschen könnten auf dem Festlande nicht einmal in noch so enger Zusammendrängung wohnen, während heute bekanntlich die ganze Menschheit recht bequem auf dem gefrorenen Bodensee oder der Insel Wight stehen könnte. Aber die Berechnung deutet wenigstens ungefähr in die Richtung hin, in welcher die gesuchte Zahl gefunden werden könnte.
6. Die Gegenwartsfrage Die letzte Frage ist nun die, ob hier ein Problem vorliegt, mit dem unsere Zeit sich notwendigerweise beschäftigen muß. Wenn Professor East oder einer seiner Genossen Recht hätte, dann freilich könnte es kaum eine wichtigere Angelegenheit für uns geben. Berechnet er doch, daß die Ziffer des Unheils bereits in wenig mehr als hundert Jahren erreicht sein könnte: und dann müßte ja ein grauenhafter Kampf ums Dasein bis aufs Messer und ein ungeheuerliches, nie endendes Sterben beginnen. Glücklicherweise ist davon keine Rede. Unsere Berechnungen zeigen, daß die Grenze in fast unerreichbarer Ferne vor uns liegt, selbst wenn die Menschheit in dem gleichen Tempo weiter wächst, wie es während des 19. Jahrhunderts der Fall gewesen ist. Mit Gefahren, die vielleicht im vierten Jahrtausend eintreten könnten, mag sich das Ende des dritten Jahrtausends befassen: wir haben, so scheint es uns, wichtigere Dinge zu tun. Vor allem aber: besteht denn auch nur die Wahrscheinlichkeit, daß die Menschen in dem Tempo des 19. Jahrhunderts weiterwachsen werden? Wir glauben: nein! Das charakteristische Kennzeichen unserer Zeit ist das rapide Sinken der Geburtenrate, die in Frankreich schon längst nicht mehr erheblich über der Sterblichkeitsrate liegt und in Deutschland mit erschreckender Geschwindigkeit zu ihr herabsinkt. Wie unsere sozialen Verhältnisse leider liegen, und namentlich gegenüber der möglichen Gefahr neuer noch grauenhafterer Kriege, haben unsere Frauen begonnen, mit dem Gebärstreik bitteren Ernst zu machen. Wie man zu sagen pflegt, ist es gelungen, den Klapperstorch
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fast vollkommen zu zähmen. Wir haben es bei den höher zivilisierten Völkern augenblicklich mehr mit der Gefahr einer Entvölkerung als einer Übervölkerung zu tun. Wir haben darüber nachzudenken, wie wir diesen Selbstmord der vorgeschrittensten Völker und der höchsten Rassen zu verhindern haben. Das einzige Mittel dazu ist eine weitgehende Lösung der sogenannten sozialen Frage, mit deren Lösung auch die gefährlichsten politischen Probleme entgiftet werden würden. Mit der Hebung der Wirtschaft der heute noch rückständigen Völker und Rassen ist dann viel eher zu erwarten, daß auch hier die durchschnittliche Kinderzahl sinkt, als daß sie noch weiter steigt. Uberall in der Welt finden wir eine proletarische Vermehrung eben nur bei Proletariern. Bedeutet doch „Proletarier" wörtlich nichts anderes als ein Kinderzeuger. Man darf nicht vergessen, daß Malthus seine Vorstellung von der ungeheuerlichen Menge der Geburten aus dem England zur Zeit der Armengesetzgebung gewann, in der die proletarischen Familien um so mehr an öffentlichen Unterstützungsgeldern erhielten, je mehr Kinder sie hatten. W i r haben namentlich von der Emanzipation der Frau, die sich jetzt zum Glück vollzieht, viel zu erwarten. Es ist mit größter Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß das durchschnittliche Heiratsalter der Frau stark steigen, d. h. daß die Frau viel später in die Ehe eintreten wird, als es heute der Fall ist, und zwar um ihre Ausbildung zu vollenden und vielleicht, um ein eigenes Heiratsgut zu erwerben. Wenn die Frauen durchschnittlich mit statt etwa 18 oder 19, mit 25 oder 26 Jahren heiraten, so ist schon dadurch die mögliche Kinderzahl um etwa ein Drittel bis ein Viertel vermindert. Dazu kommt noch, daß erfahrungsgemäß Frauen, die erst in etwas höherem Alter zum ersten Mal gebären, weniger fruchtbar sind als Frühgebärende. Und dazu kommt vor allen Dingen, daß diese hochstehenden und gebildeten Frauen der Zukunft zwar ihre Pflicht erkennen werden, ihr Volk mindestens auf der erreichten Ziffer zu erhalten, auf der anderen Seite aber es von sich abwehren werden, nichts als Gebärmaschinen zu sein und darüber ihre noch nähere und noch heiligere Pflicht zu versäumen, ihren schon geborenen Kindern eine vollkommene Pflegerin und Erzieherin zu sein. Es kommt auch bei der Produktion von Menschen nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität an. Man wird auch diesen Elementarprozeß der Prokreation zu bändigen und in den Dienst der Menschheit zu stellen lernen, wie man die Elementarkräfte des Dampfes und der Elektrizität gezähmt hat. Und zwar wird das nicht unter dem Druck der furchtbarsten Not geschehen, wie Malthus fabulierte, sondern aus sittlicher Kraft heraus, aus bewußter Selbstbeherrschung, nicht um des niederen, sondern gerade um des höheren Daseins willen.
Alfred Amonns theoretische Auffassung
[1929]1
Alfred Amonn1 hat zur hundertjährigen Wiederkehr des Todestages Ricardos (11. September 1823) ein stattliches Büchlein herausgebracht: „Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie, eine Einführung in sein Hauptwerk und zugleich in die Grundprobleme der nationalökonomischen Theorie." 3 Da die grundsätzliche Auffassung, von der aus er den Altmeister betrachtet und kritisiert, auch sein zwei Jahre später erschienenes Werk beherrscht: „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 1. Teil: Der Prozeß der Wohlstandsbildung (Die Volkswirtschaft), deskriptive und theoretische Volkswirtschaftslehre"4, so scheint es angebracht, am Schlüsse dieser Abhandlung, die im wesentlichen dem Ricardo-Buch gewidmet sein soll, auch das zweite Werk kurz zu betrachten. Ich fühle mich verpflichtet vorauszuschicken, daß ich mich berechtigt glaube, mir in Sachen der Ricardoschen Theorie eine gewisse Kompetenz zuzuschreiben. Ich darf an meine nicht ganz erfolglos abgelaufene Diskussion mit Karl Diehl und daran erinnern, daß es mir gelungen ist, das bisher unlösbar erscheinende Rodbertussche Problem der „isolierten Insel" aus dem Geiste Ricardos herauszulösen. Nur, weil ich mich auf diesem Gebiete als Fachmann fühle, kann ich mich entschließen, fühle mich aber auf der anderen Seite auch kraft des richterlichen Amtes, das der Kritiker zu verwalten hat, sittlich verpflichtet, das überaus harte Urteil abzugeben, daß ich zu fällen habe. Ich tue es mit aufrichtigem Schmerz: denn der Verfasser ist mir nicht nur persönlich als Mensch und strebender Gelehrter sehr sympathisch; ich habe kürzlich mit ihm eine ehrliche, im schönsten kollegialischen Geiste mit den vornehmsten Waffen geführte Diskussion über das Wertproblem durchgeführt, sondern ich begrabe damit auch eine große Hoffnung für unsere Wissenschaft, die an solchen Hoffnungen so bitterarm ist. Dieses Ricardo-Buch ist ein arges Zeichen für die Verwahrlosung, der die deutsche Theoretik in dem letzten halben Jahrhundert verfallen ist, seit zuerst die historische Schule alle Theorie geradezu mit Feuer und Schwert verfolgte, dann die Grenznutzenschule alle theoretische Bemühung auf das für uns wenigstens so gut wie gänzlich unfruchtbare Gebiet der individuellen Psychologie abdrängte, und gleichzeitig die marxistische Schule in reiner Apologetik und Scholastik verkam. Nur so kann es verstanden werden, daß ein Mann von Scharfsinn, philosophischer Besonnenheit und redli-
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[Erstmals erschienen in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Bd. 53 (1926), S. 61-81; A.d.R.] Vorbemerkung: Es könnte scheinen, als sei diese Abhandlung die Revanche für die ablehnende Kritik, die Amonn mir kürzlich [in der Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik] hat zuteil werden lassen. Ich lege Wert darauf, festzustellen, daß davon keine Rede ist. Die Arbeit liegt, so wie sie hier abgedruckt ist, schon seit langen Monaten bei der Redaktion dieser Zeitschrift. Amonn, Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie. Eine Einführung in sein Hauptwerk und zugleich in die Grundprobleme der nationalökonomischen Theorie, Jena 1924. Derselbe, Grundzüge der Volkswohlstandslehre, 1. Teil: Der Prozeß der Wohlstandsbildung (Die Volkswirtschaft). Deskriptive und theoretische Volkswirtschaftslehre, Jena 1926.
Alfred Amonns theoretische
Auffassung
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chem Fleiß wie Alfred Amonn einen Ricardo überhaupt nicht mehr verstehen kann·, er hat nicht die geringste Anschauung von seiner Methode und deutet daher seine elementarsten Begriffe völlig falsch. Man kann Ricardo nur verstehen, wenn man erkennt, daß er die drei möglichen Betrachtungsweisen der theoretischen Ökonomik, zwar nicht durcheinander, wohl aber nebeneinander anwendet, und zwar allerdings, ohne jemals den Leser auf den Wechsel seines Standpunktes aufmerksam zu machen. Er hat die Methode eben mit der nachtwandlerischen Sicherheit des Genius angewandt, ohne sich ihrer bewußt zu sein, und gerade deshalb mit solcher Sicherheit angewandt, weil er ihrer unbewußt blieb. (Man kennt die Geschichte vom Tausendfuß, der kein Glied mehr rühren konnte, als man ihn boshaft gefragt hatte, welche seiner tausend Füße er gleichzeitig, und in welcher Reihenfolge er sie benütze.) Das Denkobjekt unserer Wissenschaft ist die „Kinetik" des Marktes: das zunächst chaotisch erscheinende Spiel von Angebot und Nachfrage, die scheinbar regellos schwankende Gestaltung der Preise usw. Um dieser Dinge gedanklich Herr zu werden, ist man methodologisch unbedingt gezwungen, zunächst einmal festzustellen, auf welchen Gleichgewichtszwstanc/ die hier spielenden antagonistischen Kräfte tendieren, wo also, was nicht etwa eine Erklärung ist, sondern nur eine andere Bezeichnung, Angebot und Nachfrage einander genau entsprechen, mengenmäßig gleich groß sind, und wo alle Preise (und dazu gehören natürlich auch die Löhne, Profite und Renten) auf ihrem „mittleren" Stande stehen. Von diesem Standpunkt aus erscheinen die Abweichungen, die wir in der Kinetik beobachten, zunächst als Störungen, von denen man zu „abstrahieren" hat. Mit anderen Worten, die Aufmerksamkeit richtet sich von jetzt ab ausschließlich auf den Gleichgewichtszustand: alle gute Theorie ist „essentiell statisch", wie Schumpeter mit Recht festgestellt hat. Aus dem Kreise dieser „Störungen" heben sich aber bei näherer Betrachtung einige heraus, die noch eine andere Betrachtung erzwingen. Dazu gehört vor allem das Wachstum der Bevölkerung und die damit nach dem Adam Smithschen Hauptgesetz der Beschaffung notwendig verbundenen Folgen: Wachstum des Marktes, Verfeinerung der Arbeitsteilung und -Vereinigung, Verbesserung der Arbeitsmethoden und des technischen Apparats und schließlich, als die Folge von alldem, Vermehrung der erzeugten Menge von „Gütern". In dieser Betrachtung erscheinen die Störungen als „entwickelnde Momente". Die methodische Betrachtung, der sie in dieser ihrer Eigenschaft unterworfen werden, ist die von mir zuerst beschriebene und als eine für jeden komplizierten Prozeß unentbehrliche Methode nachgewiesene „komparative Statik". Ich habe sie so bezeichnet, weil hier, immer unter Abstraktion von allen „zufälligen", d. h. nicht entwickelnden Störungen, mehrere aufeinanderfolgende Statiken miteinander zu dem Zweck verglichen werden, die „Tendenz der Entwicklung" zu erkennen und voraussagen zu können. Gerade diese letzte Betrachtung ist diejenige, auf die es Ricardo vor allem ankommt. Man weiß, ein wie schwarzer Pessimist er ist. Er hat das Malthussche Bevölkerungsgesetz angenommen und ist immer vor allem bemüht, dasjenige abzuleiten, was ich als die „Schlußkatastrophe der Menschheit" bezeichnet habe: es wird einmal die Zeit kommen, wo aller Boden der Kulturmenschheit „im höchsten Grade", d. h. derart angebaut ist, daß kein neues Zusatzkapital mehr mit Vorteil investiert werden kann. Dann kann die Menschheit nicht mehr an Zahl wachsen, der Lohn wird auf das Existenzminimum sinken, die apokalyptischen Reiter seines Freundes Malthus, Hunger, Not, Krieg und Seuchen, werden jeden Zuwachs immer wieder sofort „ausjäten"; auch der Kapitalprofit wird mehr und mehr einschrumpfen mit der Tendenz, sich asymptotisch der Null zu nähern, und nur die Grundrentner werden ein im Nominalbetrage und noch mehr an Kaufkraft wachsendes Einkommen genießen. Das ist der Schlüssel zum Verständnis Ricardos. Wer ihn nicht besitzt, kann noch nicht einmal die Türen zum Vorhof des Heiligtums öffnen; wer ihn aber besitzt, hat keine anderen Schwierigkeiten mehr zu überwinden als diejenigen, die in der aphoristischen Kürze des Meisters liegen. Jedes
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Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
ein wenig geförderte Mitglied meines Seminars bringt es ohne Schwierigkeiten fertig, von einem Satze festzustellen, ob er von der Kinetik, der einfachen oder der komparativen Statik handelt. Amonn hat diesen Schlüssel nicht gehabt. Und darum verfehlt er gleich im ersten Satze das Verständnis der Ricardoschen Problemstellung. Es handelt sich um die berühmten Sätze der Einführung in die „Principles", wo Ricardo die Distribution als das Problem bezeichnet. Amonn erkennt an, daß „uns hier zum erstenmal in logisch bestimmter [...] Weise der Problemkreis entgegentritt, welchen man als wesentlichen Inhalt der theoretischen Nationalökonomie betrachten muß". Aber er macht eine Einfügung dort, wo ich die „..." gesetzt habe: „Wenn auch nicht in klarer und völlig eindeutiger Weise" 1 . Er erblickt die Unklarheit in folgendem: Ricardo habe nicht klar zwischen dem „formalen" und dem „materiellen" Verteilungsproblem unterschieden und sie daher miteinander verwirrt. Das erste soll die Frage beantworten, „wie, d. h. mit welchem Ergebnis die Verteilung erfolgt, oder erstens, wie sich die Anteile am Gesamtprodukt bilden und wodurch ihre Größe formal bestimmt wird, und zweitens, wie das Verhältnis der Anteile zueinander materiell beschaffen ist"2. Ich muß aufrichtig gestehen, daß es mir scheint, als werde hier eine Unterscheidung ohne Unterschied gemacht, wie überall dort, wo in soziologischen Dingen (außer in der Jurisprudenz) von „Form und Inhalt" gesprochen wird. Ich habe mich darüber in meiner „Allgemeinen Soziologie"' gegenüber Simmel und seinen Nachfolgern ausführlich ausgesprochen und muß hier darauf verweisen. Sollte aber diese Unterscheidung auch möglich sein, so hat Ricardo sich gewiß der Verwirrung nicht schuldig gemacht, sondern er betont lediglich die Notwendigkeit, der bisherigen einfach statischen Betrachtung auch noch die komparativ-statische hinzuzufügen. In Absatz 1 konstatiert er die Tatsache der Verteilung unter die „drei Klassen der Gemeinschaft". Und der 2. Absatz beginnt sofort: „Aber auf verschiedenen Stufen der Gesellschaft werden die Anteile [...] wesentlich verschieden sein." Und dann heißt es im 3. Absatz: „Die Gesetze zu bestimmen, welche diese Verteilung regeln, ist das Hauptproblem in der politischen Ökonomie. Soviel die Wissenschaft auch weitergebracht worden ist von Turgot, Stuart, Smith, Say, Sismondi u. a., so gewähren diese doch sehr wenig befriedigende Aufklärung in Bezug auf den natürlichen Verlauf von Rente, Profit und Löhnen." Damit ist gemeint, daß die hier genannten großen Vorgänger die Verteilung nur in ihrem statischen Aspekt untersucht haben, und daß er selbst sich die Aufgabe stellt, sie darüber hinaus und namentlich in ihrem komparativ statischen Aspekt, in der „Tendenz ihrer Entwicklung", zu untersuchen. Aber dieses Mißverständnis wäre schließlich von keiner allzugroßen Bedeutung. Viel ärger ist, daß Amonn auch den Begriff der einfachen Statik nicht erfaßt hat, wie ihn Ricardo braucht, und von hier aus das Verständnis auch solcher Begriffe verfehlt, die geradezu elementar sind: Vor allem: wenn Ricardo vom „Wert" spricht, wenn er ζ. B. sagt: „Der Wert eines Gutes oder die Menge irgendeines anderen Gutes, für welche es austauschbar ist", so meint er immer den statischen Preis; er sieht methodisch von allen Schwankungen des Preises um diesen seinen Mittelpunkt ab, die aus „störenden" Veränderungen im Verhältnis von Angebot und Nachfrage herstammen. Diese „laufenden" Preise (current prices) interessieren ihn nicht - und haben ihn nicht zu interessieren. Nur von diesem Standpunkt aus läßt sich Ricardos Wertlehre verstehen - und deswegen hat sie
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Amonn, Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie, S. 1. Ebenda, S. 2. Oppenheimer, Allgemeine Soziologie, in: System der Soziologie, Bd. I, 1. Teilbd., Jena 1923, S. 112ff., 120.
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Amonn durchaus mißverstanden: „Güter leiten ihren Tauschwert [...] von zwei Quellen her: von ihrer Seltenheit und von der Arbeitsmenge, die zu ihrer Erlangung erfordert ist." Hier macht Ricardo die Unterscheidung zwischen den „Monopolgütern" einerseits und den „beliebig reproduzierbaren Gütern" andererseits. Amonn erhebt mit Recht gegen diese Spaltung den schon von vielen anderen vor ihm gemachten entscheidenden Einwand, daß Ricardo verpflichtet gewesen wäre, zunächst das allgemeine Wertgesetz aufzudecken, dem diese beiden Klassen von Gütern unterliegen. Dann erst war er berechtigt, die Modifikationen dieses allgemeinen Gesetztes zu entwickeln, die für jede der beiden Klassen besondere Geltung haben. Erst Carey und ihm folgend Eugen Dühring haben diese Aufgabe klar erkannt und die Formel gefunden: „Der Wert ist das Maß des Beschaffenheitswiderstandes." Amonn nimmt diese Formel nicht an, sondern stellt eine andere auf, die völlig unzureichend ist, wie wir noch zeigen werden. Und die erste Wurzel dieses entscheidenden Irrtums liegt darin, daß er die an dieser Stelle von Ricardo gemachte Unterscheidung vollkommen mißverstanden hat. Hier handelt es sich um den Begriff der „beliebig reproduzierbaren Güter". Von ihnen schreibt Ricardo: „Bei weitem der größte Teil jener Waren, welche Gegenstände unseres Begehrens bilden, werden durch Arbeit beschafft; und diese können nicht nur in einem Lande, sondern in vielen beinahe ohne jede angebbare Begrenzung vervielfacht werden, wenn wir geneigt sind, die Arbeit aufzuwenden, welche zu ihrer Erlangung notwendig ist." Ricardo erklärt, fortan nur von dieser einen Klasse handeln zu wollen; die andere Klasse (die der Monopolgüter) umfasse nur „einen sehr kleinen Teil der Gütermasse, die täglich auf dem Markt ausgetauscht wird", sei also als quantité négligeable auszuscheiden. Er will also ausdrücklich nur ein Partialgesetz der Werterscheinung entwickeln. Der psychologische Grund, aus dem er derart vorging, liegt klar auf der Hand: er hatte ein instinktives Bedenken dagegen, das glühend heiße Eisen des Monopolbegriffs anzufassen. Die Sozialisten nämlich, gegen die er, ohne sie zu nennen, überall streitet (wie sein Freud und vielfach Inspirator Malthus vor ihm)1, bezeichneten, von Condorcet an bis auf Marx einbegriffen, Grund und Kapitaleigentum als Monopole, und Grundrente und Kapitalprofit als Monopolgewinne. Hier konnte jeder unvorsichtige Schritt über den Rand des Abgrundes hinausführen. Diese Partialtheorie aber des Tauschwertes oder statischen Preises ist, trotz Amonn, im wesentlichen durchaus richtig. Wenn Amonn das nicht einsieht, so liegt es nur daran, daß er den Begriff der „beliebig reproduzierbaren Güter" so gröblich ins Technologische hinein verstanden hat, wie vor ihm etwa Diehl und Wieser.2 Er schreibt zu der soeben angeführten Auslassung Ricardos: „Wenn wir geneigt sind, die Arbeit aufzuwenden, welche zu ihrer Erlangung notwendig ist", folgendes: „In der Tat, wenn dies sich so verhielte, dann hätte Ricardo recht. Aber diese Beobachtung ist durchaus schief und mangelhaft, ja, wenn es nur auf die .Geneigtheit', zu arbeiten, ankäme und dadurch allein die Menge des größten Teils der Güter, die wir begehren, fast ohne jede angebbare Beschränkung vervielfacht werden könnte, dann geschähe es den Menschen recht, [...] wenn sie in schlechten und unzureichenden Wohnungen hausen müssen, wenn sie sich nur notdürftig kleiden, nur schlecht und unzureichend ernähren können und auch sonst mancherlei Entbehrungen erdulden müssen. Aber die Sache steht leider nicht so. Es hängt nicht oder nicht nur von der ,Geneigtheit' der Menschen, zu arbeiten, ab, sondern auch von der Möglichkeit, Arbeit aufzuwenden, wie weit die Menge der begehrten Güter vervielfacht werden kann [...] Die Produktion der meisten Güter steht, auch wenn man sie für sich allein und isoliert vom Zusammenhan-
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Vgl. Oppenheimer, David Ricardos Grundrententheorie, Einleitung zur 2. Auflage, S. X [siehe in der vorliegenden Edition, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 475; A.d.R.]. Vgl. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 479.
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Enter Teil: Nationalökonomie
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ge der Gesamtbefriedigung unserer Bedürfnisse betrachtet, unter dem Zeichen einer absoluten Knappheit an Arbeitsleistungen der besonderen erforderlichen Art, an Material und an Arbeitsmitteln, so daß wir überall früher oder später an eine Grenze stoßen, über welche hinaus eine Produktionserweiterung in derselben Art und Qualität nicht mehr möglich ist."1 Hier werden „offene Türen eingestoßen". All das war Ricardo durchaus bewußt. Seine Worte bedeuten ganz etwas anderes als die technische Möglichkeit, irgendein Gut oder einen Inbegriff von Gütern in „beliebiger" Menge zu erzeugen. Sondern sie bedeuten, daß wir irgendein Gut in jeder Menge erzeugen können, wie der Markt „beliebt", es aufzunehmen, d. h. wie die Konsumenten „geneigt" sind, dafür den Preis zu bezahlen, der sich aus einer etwa auf die Erzeugung verwendeten vermehrten Arbeitsmenge ergibt. Dieses „Belieben" ist aber an sich begrenzt durch die Kaufkraft der Einzelnen (und daher des Marktes im ganzen), die wieder bedingt ist durch den Gesamtpreis, den sie selbst für die Produkte erhalten. Wenn sie also, ihre Kaufkraft als gleich unterstellt, eine vergrößerte Menge einer bestimmten Ware, und noch dazu unter Umständen bei erhöhtem Preise für die Einheit, vom Markte fordern, so sind sie gezwungen, ihre Nachfrage nach anderen Waren entsprechend einzuschränken. Und das hat wieder seine Grenze, die ihnen durch ihren „Wirtschaftsplan" gesteckt ist. Ganz abgesehen davon, daß gewisse Mengen gewisser Güter zum sozialen Existenzminimum gehören, daß also die Nachfrage danach ohne die äußere Not gar nicht über ein bestimmtes Maß hinaus eingeschränkt werden kann, ist die Größe aller Einzelbedarfe, die im Rahmen des Gesamtbedarfes gedeckt werden können, sehr genau bestimmt durch die Gesetze des Grenznutzens, und der Gesamtbedarf als ganzer durch das „Istbudget", nämlich die gesamte Kaufkraft des Konsumenten. Es ist also ζ. B. völlig ausgeschlossen, und Ricardo hat niemals von dieser Möglichkeit reden wollen, daß plötzlich, sage die dreifache Menge des Weizens vom Markt gefordert werden könnte. Gerade an diesem Beispiel kann man mit unzweideutiger Klarheit erkennen, wie Ricardo den hier strittigen Begriff verstanden wissen wollte. Er zeigt, daß das „Getreide" niemals auf einen Monopolpreis getrieben werden kann, oder mit anderen Worten: daß es ein beliebig reproduzierbares Gut bleibt, ehe nicht jener kritische Zeitpunkt eingetreten ist, mit welchem die Schlußkatastrophe der Menschheit beginnt: der Zeitpunkt nämlich, von dem an es nicht mehr möglich ist, die Menge des Getreides zu vermehren, weil aller Boden „im höchsten Grade kultiviert ist", und deshalb kein neues Zusatzkapital mehr rentabel angelegt werden kann. Erst dann wird Getreide Monopolgut und erhält einen Monopolpreis, so daß der Grenzboden eine Grundrente erlangt. Erst dann steht seine Produktion, um Amonn noch einmal zu zitieren, „unter dem Zeichen einer absoluten Knappheit". Es ist also vollkommen falsch, wenn Amonn schreibt: „Das eine ist wohl richtig, daß die absolut seltenen, also unvermehrbaren Güter nur einen sehr kleinen Teil der auf dem Markte ausgetauschten Güter bilden, aber die ,ohne jede angebbare Beschränkung' vermehrbaren Güter bilden keinen größeren Teil, und die große Masse der auf den Markt kommenden Güter ist zwar durch Arbeit vermehrbar, aber keineswegs ,ohne jede angebbare', sondern mit einer vielfach sehr engen und fühlbaren Beschränkung."2 Wo Ricardo von einer in der Tat gegebenen grenzenlosen ökonomischen Vermehrbarkeit spricht, unterschiebt ihm Amonn seinen unhaltbaren Begriff der technischen Vermehrbarkeit.
1 Amonn, Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie, S. 18. 2 Ebenda, S. 19.
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Von diesem Mißverständnis aus wird nun mit untauglichen Waffen, wie schon gesagt, Ricardos Arbeitswerttheorie berannt. Und zwar werden hier vor allem drei Einwände erhoben, die sämtlich unhaltbar sind. Erstes·, selbst unter der Voraussetzung, daß bei der Erzeugung aller Güter nur Arbeit von gleicher Qualifikation aufgewendet wird, d. h. also, daß alle Unterschiede nur auf der Quantität der verwendeten Arbeit beruhen können, soll also Ricardo sich einer schweren Verwechslung zwischen Realgrund und Erkenntnisgrund schuldig machen.1 Was hieran richtig ist, ist das folgende: Die „kinetischen" Schwankungen der Preise, die Repulsion von Arbeitskräften und -mittein aus solchen Zweigen der Erzeugung, die im Prozeß des Marktes weniger als den statischen Preis des Gleichgewichts gewinnen, und die Attraktion in solche, die mehr als diesen Preis erlangen, sind in der Tat der reale Grund, aus dem das Gegenspiel dieser Kräfte nach jeder „Störung" dahin tendiert, den Gleichgewichtsstand der Statik wieder zu erreichen, in dem alle den statischen Preis erhalten, wo also (unter unserer Voraussetzung gleicher Qualifikation) gleiche Arbeitsmengen sich tauschen. Und ebenso richtig ist, daß umgekehrt die Statik das methodische Mittel ist, um dieses Verhältnis erkenntnismäßig feststellen zu können, als den Mittelpunkt der kinetischen Schwankungen. Aber auch das hat Ricardo gewußt! Er mag sich nicht immer mit der Deutlichkeit ausgedrückt haben, die nur aus dem vollen Bewußtsein um das methodische Vorgehen entstehen kann: aber er hat niemals etwas anderes beabsichtigt, als eben den „Erkenntnisgrund" festzustellen, d. h. die Formel zu finden für die „statische Preisrelation". Der zweite Einwand wirft Ricardo vor, eine unzulässige Abstraktion gemacht zu haben, durch die seine Wertlehre hinfällig werde. Er gebe selbst zu, daß eine geringere Zeitmenge höher qualifizierter Arbeit sich gegen eine größere Zeitmenge geringer qualifizierter Arbeit tausche. Auch dieser Einwand ist falsch. Denn erstens hat Ricardo gewußt und mehrfach ausgesprochen, daß bei jeder Produktion beliebig reproduzierbarer Güter der „Grenzproduzent" von durchschnittlicher Qualifikation ist. Das kann freilich nur verstehen und einsehen, wer den Begriff der Statik in der gleichen Vollkommenheit besitzt wie der Altmeister. Die Statik besteht dort, wo kein Produzent und kein Konsument eine (vor allem in der Preisgestaltung liegende) Veranlassung hat, sein Angebot bzw. seine Nachfrage zu verändern. Dieser Zustand ist erreicht, wenn den „Pionieren" durch die Konkurrenz alle Vorteile abgejagt sind, die ihnen überhaupt abgejagt werden können. Und das wieder ist erst dann der Fall, wenn in dem Zweige der Erzeugung ein durchschnittlich qualifizierter Produzent, der „Grenzproduzent", das Grenzprodukt erzeugt, d. h. das letzte Produkt, das der Markt noch braucht und abzunehmen „beliebt". Der statische Preis ist nach Ricardo überall, in der Landwirtschaft so gut wie in der Industrie, „Grenzbeschaffungspreis". Der höher qualifizierte Produzent, der die Gutseinheit mit geringeren Kosten zu Markte bringen kann als der durchschnittlich qualifizierte Grenzproduzent, realisiert geradeso einen Vorteil am statischen Preise wie der Landwirt, der dem Markte näher sitzt oder besseren Boden bewirtschaftet als der Grenzbauer. Es sind denn auch schon beide Einkommensvorteile unter dem Begriff der „Differentialrente" zusammengefaßt worden. Aber das ist unzweckmäßig. Was der höher Qualifizierte erhält, ist nichts anderes als der höher qualifizierte Lohn seiner wertvollen Arbeit: aber der Preis seines Produkts steht in der Statik exakt auf ihrem Arbeitswert, gemessen an der Arbeitsdauer des Grenzproduzenten. Und weiter hat Ricardo nichts behauptet. Wenn aber jemand weiter gehen wollte und nicht nur nach dem Wert der Güter, sondern auch nach dem Wert der Arbeit selbst fragen, so hat Ricardo auch hier alles geleistet, was irgend gefordert werden kann, soweit der verschiedene Wert verschiedener Qualifikation in Frage kommt. Denn a) läßt sich bei allen Produktionen beliebig reproduzierbarer Güter der höhere Wert der beteiligten qualifizierten Arbeit ohne weiteres ausrechnen, wenn die Minderko-
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Amonn, Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie, S. 22.
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Wirtschaftspolitik
sten je Einheit gegeben sind, und b) wo es sich nicht um die Produzenten von Gütern handelt, hat Ricardo auch hier die voll ausreichende Lösung gegeben: Er sagt so deutlich, wie er überhaupt selbstverständliche Dinge behandelt, daß die Bewertung verschiedener Arbeitsarten gegebenes Datum der Rechnung ist. Welche Dienste und wie hoch sie in jeder gegebenen Gesellschaft bewertet („qualifiziert") werden, ist soziologisches Faktum, das geradeso als „Datum" in die Rechnung eingesetzt werden muß wie die analoge Tatsache, daß das eine Volk sich von Reis, das zweite von Roggen, das dritte von Weizen usw. nährt. Das bedeutet es, wenn Ricardo schreibt: „Wir können mit Recht schließen, daß, [...] wie immer die Geistesgabe, Geschicklichkeit oder Zeit, die zur Aneignung einer Art manueller Fertigkeit notwendig ist, größer gewesen sein mag als zu der einer anderen, er nahezu derselbe bleibt von einer Generation zu einer anderen; oder zumindest, daß die Veränderung von Jahr zu Jahr sehr unbeträchtlich ist und deshalb für kurze Perioden nur eine geringe Wirkung auf den relativen Wert der Güter haben kann [...]."' wie Amonn selbst anführt. Ricardo kann diese Unterschiede der Bewertung vernachlässigen, weil es nicht Aufgabe der Ökonomik, sondern der Sozialpsychologie ist, zu untersuchen, warum etwa ein Boxerchampion heutzutage das hundertfache Einkommen hat, dessen sich ein namhafter Gelehrter erfreut. Was hat Amonn nun sachlich dagegen einzuwenden? „Diese Schätzung der verschiedenen Arbeitsarten ist nämlich abhängig von der Schätzung der Güter, zu deren Herstellung sie erforderlich sind, und diese Schätzung verändert sich [...] oft außerordentlich rasch. Man denke nur an den Modenwechsel."2 Der Einwand schießt vollkommen an Ricardo vorbei! Die Preise von Modeartikeln sind kinetisch, wie die aller „Novitäten", d. h. solcher Produkte, die noch nicht lange genug im Markte sind, um von jenem ausgleichenden Prozeß ergriffen zu werden, der sich im räumlich-zeitlichen Zusammenhang der Märkte durchsetzt. Es ist aber Ricardo niemals eingefallen, andere als die statischen Preise (Tauschwerte!) erklären zu wollen. Nun könnte man ja diesen Einwand als einen bloßen lapsus calami mit dem Schleier der Liebe bedecken: aber es findet sich zwei Seiten vorher eine Auseinandersetzung, bei der solche Milde in der Tat nicht mehr möglich ist: „Wenn z. B. unter sonst gleichen Verhältnissen zur Erlegung eines Bibers nicht nur eine doppelt so lange Arbeitszeit erforderlich ist wie zur Erlegung eines Hirsches, sondern vielleicht auch eine besondere Anstrengung (Intensität) oder Geschicklichkeit, die nicht jeder aufbringt oder besitzt, und wenn der Biber vielleicht wegen seines Pelzes ein besonders begehrtes Tier ist, wenn er höher geschätzt oder mehr begehrt wird als zwei Hirsche, dann wird er mehr als zwei Hirsche einzutauschen vermögen, d. h. sein Tauschwert wird höher sein."3 Hier ist die Formel „ceteris paribus" gebraucht, die bei Ricardo und allen seinen Nachfolgern immer angewendet wird, um anzudeuten, daß die statische Betrachtung gewählt wird. Unter diesem Aspekt aber sind die auch von Amonn selbst gesperrt4 gedruckten Worte ein elementarer Fehler. In der Kinetik wird eine verstärkte Nachfrage des besonders begehrten Biberpelzes ihm gewiß einen höheren Preis bringen als der relativen Arbeitsdauer entspricht. Dieser höhere Preis aber wird so lange Jäger veranlassen, eher dem Biber als dem Hirsch nachzustellen, bis das Angebot des Grenz-
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A m o n n , Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie, S. 29. Ebenda, S. 30. Ebenda, S. 28. [hier: kursiv gedruckt; A.d.R.]
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Produzenten von durchschnittlicher Geschicklichkeit den Preis auf den statischen herabgezogen hat. Sollte die Biberjagd, wie hier weiter angenommen wird, anstrengender oder schwieriger sein als die Hirschjagd, so hat die betreffende Gesellschaft die Bewertung (Qualifikation) der beiden Arbeitsarten längst vollzogen, und diese Differenz der Bewertung steht als vorökonomisches Datum bereits in dem Ansatz der hier anzustellenden Berechnung, wie schon Adam Smith klar ausgeführt hat. Aber daß auch in der Statik die „höhere Schätzung" des Biberpelzes den Preis beeinflussen könne, ist, es muß wiederholt werden, ein elementarer Fehler, der immer und immer wiederkehrt. 1 Uberall werden rein kinetische Erscheinungen als Gegenbeweis gegen die statische Beweisführung Ricardos angeführt. In der gleichen Weise wird die Ricardosche Lohntheorie mißverstanden. Daß sie vollkommen falsch ist, material, weil Ricardo die Arbeit als eine beliebig reproduzierbare Ware behandelt, und formal, weil sie in einen Zirkel mündet, wird jetzt kaum noch bestritten. Aber nicht das ist es, was Amonn einwendet. Amonn hält die Theorie auch unter der Voraussetzung für brüchig, daß ihre Grundlage richtig ist. Die Sache liegt nun sehr einfach folgendermaßen: Ricardo stellt den „natürlichen Lohn" als den statischen Preis der Arbeit dar; er notiert nebenbei (kinetisch), daß auch dieser Preis infolge von Störungen über diesen Mittelwert nach oben oder unten hinaus schwanken kann, und wendet sich dann vor allem der komparativ-statischen Betrachtung zu, um herauzufinden, welche Tendenz der Lohn im Laufe der Entwicklung hat; wir haben bereits gesagt, daß er im Nominalbetrage mit der wachsenden Teuerung des Getreides steigt, aber im Realbetrage sinkt. Hier entdeckt Amonn eitel Widersprüche. Aber es gibt keine Widersprüche! Nach allem, was wir bereits gesagt haben, wird es nicht erforderlich sein, uns hier noch näher einzulassen. Auch hier sind die vorökonomischen „Daten" der Rechnung nicht als solche erkannt; auch hier wird von der ökonomischen Theorie verlangt, was sie nicht leisten kann und will, diese ihre Daten selbst abzuleiten.2 Wir kommen zur Profittheorie. Hier geht Amonn, wie ich es meines Wissens zuerst getan habe, von der Stelle im ersten Abschnitt, dritte Abteilung aus, in der der Profit durch eine Deduktion erschlichen wird, die - bei allem Respekt vor dem Meister - zu den allerkindischsten Konstruktionen gehört, die sogar in der theoretischen Ökonomik zu finden sind.3 Amonn erkennt wenigstens soviel, daß Ricardo hier „nicht auf logische und systematische Weise, sondern durch willkürliche Einfügung einer aus rein empirischer Beobachtung gewonnenen Vorstellung" überhaupt zum Kapitalprofit kommt. Aber er kann, weil er die statische Betrachtungsweise nicht beherrscht, den einfachen immanenten Gegenbeweis nicht erbringen, der hier geführt werden kann. Es folgt dann die altbekannte Feststellung, die Ricardo selbst schon gemacht hat, daß das Arbeitswertprinzip für kapitalistisch hergestellte Güter bestimmten Modifikationen unterliegt: in der Tat ein wichtiger, wenn auch meines Erachtens nicht vernichtender Gegengrund gegen diese Theorie. Die positive Lösung, die Amonn selbst vorschlägt, werden wir weiter unten zu betrachten haben. Was nun schließlich die Grundrententheorie anlangt, so mußte sie von dem grundsätzlich unmöglichen Ausgangspunkt Amonns aus ebenfalls völlig mißverstanden werden. Er schreibt: „Das ,Differentialmoment' ist [...] für die Rente etwas völlig Unwesentliches, Gleichgültiges, Bedeutungsloses, es ist gar kein ,Charakter' der Rente. Insofern sie nur einen Bestandteil des Preises gegenüber anderen Bestandteilen (Profit und Lohn) bildet, ist sie natürlich eine ,Differenz' zwischen dem Ganzen und seinen anderen Bestandteilen. In diesem Sinne kann aber auch ,Profit' und ,Lohn' als eine Differenz aufgefaßt werden. Das ist eine lediglich arithmetische Bestimmung.
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Vgl. Amonn, Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie, z. B. S. 31. Vgl. ebenda, namentlich S. 92f. Vgl. Oppenheimer, Allgemeine Soziologie, S. 989/90, und derselbe, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 571ff.
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Wirtschaftspolitik
Insofern man aber damit ausdrücken will, daß sie auf einer Differenz beruht, auf einer Differenz verschiedener Bodenqualitäten nämlich, ist es falsch. Auch die viel erörterte Frage, ob die Rente einen Bestandteil' des Preises bildet oder nicht, ist ohne Bedeutung. Sie bildet natürlich einen Bestandteil des Preises insofern, als sie in ihm begriffen ist, und natürlich keinen, wenn man darunter einen ursächlichen Grund versteht."1 Das sind überaus erstaunliche und kühne Behauptungen. Wie liegt denn das Problem? Adam Smith hatte gelehrt, daß bei allen Gütern mit außerordentlich wenigen Ausnahmen der Preis sich zusammensetzt aus der Addition der „durchschnittlichen" Sätze für Arbeitslohn, Kapitalprofit und Grundrente. Das war eine für den bürgerlichen Standpunkt überaus gefährliche Theorie. Denn dann war es klar, daß die Arbeit nicht imstande ist, ihr gesamtes Produkt mit ihrem Lohne zurückzukaufen, und die Stellung des Sozialismus war berechtigt. Um diese Lücke in der Rüstung zu decken, servierte Ricardo zunächst in jener soeben bezeichneten kindischen Deduktion den Kapitalprofit als den Lohn vergangener Arbeit; blieb noch die Grundrente! Hier deduzierte er in gar nicht anzufechtender Weise, daß der Preis des Getreides auf seinem natürlichen Tauschwert steht, selbstverständlich in der Statik: der Grenzproduzent erhält nichts als den Arbeitslohn und den normalen Kapitalprofit, aber keine Grundrente. Wenn man, mit Ricardo, klüglicherweise vermeidet, die Frage zu stellen, ob die bestehende Verteilung des Bodenbesitzes gleichfalls „natürlich" ist und sie als gegebenes Datum behandelt, ist die Theorie tadellos. Wer freilich die Statik nicht besitzt, kann Ricardo so wenig verstehen, wie bei dem nahverwandten Problem der Qualifikation, von dem wir bereits gehandelt haben. Die Verhältnisse liegen ganz analog: der statische Preis ist Grenzbeschaffungspreis des hier nicht nur persönlich, sondern auch sachlich bestimmten Grenzproduzenten. Jeder sachlich besser gelagerte Produzent, d. h. jeder, der marktnäheren oder fruchtbareren Boden bewirtschaftet, erhält diesen Preis, realisiert aber daran einen höheren Gewinn, weil er, gerade wie der persönlich höher Qualifizierte, die Einheit mit geringeren Kosten zu Markte führen kann, sei es, weil er die Einheit mit geringeren Transportkosten zu Markte bringt (Marktnähe). Es ist das Differentialgewinn, gewonnen am natürlichen Preise, und nicht, worauf es Ricardo allein ankam, Monopolgewinn, gewonnen durch Aufschlag auf den natürlichen Preis. Auch hier wieder glaubt Amonn, den Meister widerlegen zu können durch Erscheinungen aus der Kinetik. Er schreibt: „Nein! eine Rente auf den Boden zweiter Qualität entsteht, sobald der Bedarf an Boden solcher Qualität über die vorhandene Menge hinauswächst, ganz gleichgültig, ob Boden dritter Qualität in Bebauung genommen wird." 2 Ganz richtig, und das hat Ricardo nicht nur gewußt, sondern gesagt: aber das sind kinetische Erscheinungen, die ihn ein für allemal nicht interessieren, und nicht zu interessieren brauchen, wie wir wiederholen. Was er hier eigentlich ins Auge faßt, ist die komparativ statische Untersuchung der Entwicklung: wo die Bevölkerung wächst, da tendiert die Entwicklung auf einen neuen statischen Zustand hin, in dem der Boden dritter Klasse Grenzboden ist, keine Rente abwirft, und wo daher das Getreide wieder auf einem zwar höheren, aber doch wieder „natürlichen" Preise steht, der nichts vergütet, als wieder Arbeitslohn und Kapitalprofit. - Und wieder glaubt Amonn, daß Ricardo die Unterschiede der Bodenrentierung als Realgrund der Rente auffaßt, während er doch die Statik nur konstruiert, um den Erkenntnisgrund, die Formel, für die Errechnung ihrer Höhe zu gewinnen.
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Amonn, Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie, S. 58, Anm. Ebenda, S. 63.
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Es findet sich noch eine schwerer wiegende Mißdeutung: „Nun hat Ricardo den Fall, daß sich eine Rente bilden kann, ohne daß und bevor Boden minderer Qualität in Bebauung gezogen wird, selbst erkannt [...], ohne daß ihm merkwürdigerweise zum Bewußtsein gekommen ist, daß dadurch seine bisherige Darstellung der Grundrentenentstehung in sich selbst zusammenfällt."1 Er stellte neben jenen „ersten" Grund der Rentenentstehung noch einen „zweiten". „Früher war es eine Verschiedenheit im Ertrag gleicher Kapitalien (und wir werden gleich sehen: auf einmal ist es eine Verschiedenheit im Ertrag gleicher Arbeitsmengen), die zur Rentenbildung führt." 2 Amonn ist der Meinung, daß zwischen diesen verschiedenen Fällen eine rein äußere und keine innere, logische Gleichartigkeit bestehe und daß „diese rein äußerliche Gleichartigkeit allein - eine bloße Analogie - " es sei, die eine einheitliche Erklärung der Rentenentstehung vortäusche. Diese Einwürfe sind genau so gegenstandslos wie alle anderen: Die ganze Deduktion beruht auf der Prämisse des „Gesetzes der sinkenden Erträge" und ist von hier aus mit vollkommener Logik, vollkommen „einheitlich", für die sämtlichen möglichen Fälle deduziert. Da eine wachsende Bevölkerung kraft jenes Gesetzes nicht von einer starr gegebenen Menge des Ackerbodens mit gleichen Kosten pro Einheit Ackerprodukt ernährt werden kann, so kann sie eben nur mit steigenden Kosten je Produkteinheit ernährt werden. Das heißt: der Preis muß mit dem Wachstum der Bevölkerung steigen. Und zwar vollzieht sich das, indem entweder geringerer Boden in gleicher Entfernung vom Markte oder gleich guter Boden in größerer Entfernung vom Markte in Anbau genommen wird oder, indem auf schon bebautem Boden neue „Zusatzkapitale" investiert werden, die kraft jenes Gesetzes bei gleichen Kosten geringere Erträge ergeben als das Originalkapital. Immer ist die Rente gleich der Differenz zwischen den Erträgen zweier Kapitale. Das ist doch wahrlich eine Erklärung von vollkommenster Einheitlichkeit, aus der gleichen Voraussetzung die gleiche Folgerung, nur angewendet auf verschiedene Möglichkeiten oder Situationen! Was Amonn hier überall völlig verfehlt, ist die Einsicht in dasjenige, worauf es Ricardo als sein thema probandum ankam: daß nämlich, um es zu wiederholen, das Getreide nicht auf einem Monopolpreise steht. Denn mit diesem Zugeständnis wäre die bürgerliche Wirtschaftsordnung, als deren Verfechter er auftritt, des „Brotwuchers" überführt und gerichtet gewesen. Im Dienste dieses Beweises schreibt er die fast immer mißverstandenen Worte nieder,3 die auch Amonn mißversteht, in denen er glaubt, „Richtiges und Falsches vermischt zu finden". „Wenn Luft, Wasser, die Elastizität des Dampfes und der Druck der Luft von verschiedenen Qualitäten wären, wenn sie angeeignet werden könnten, und jede Qualität nur in beschränkter Menge vorhanden wäre, so würden sie ebenso wie der Boden eine Rente einbringen, wenn die aufeinanderfolgenden Qualitäten in Benutzung genommen würden. Mit jeder angewendeten schlechteren Qualität würde der Wert der Güter jener Gewerbe, in welchen sie benutzt würden, steigen, weil gleiche Mengen von Arbeit weniger produktiv sein würden." Amonn bemerkt dazu:
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Amonn, Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie, S. 65. Ebenda, S. 66. Vgl. Oppenheimer, David Ricardos Grundrententheorie, S. 59 [siehe in der vorliegenden Edition, Bd. I: Theoretische Grundlegung, S. 510f.; A.d.R.].
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Wirtschaftspolitik
„Auch wenn Luft, Wasser usw. nicht von verschiedener Qualität wären, würden sie, wenn sie angeeignet werden könnten [...] und wenn sie nur in beschränkter Menge vorhanden wären, [...] ebenso wie der Boden, für welchen die gleiche Voraussetzung zutrifft, eine Rente einbringen." Sehr richtig: aber dann wäre diese Rente Monopolrente, und Ricardo will ja gerade beweisen, daß sie das nicht ist! Er will ja beweisen, daß alle Grundrente nicht erwächst als Aufschlag auf den natürlichen Preis zu Lasten des Konsumenten, sondern als Gewinn der natürlichen Preise gegenüber den Konkurrenten, und nur darum macht er die irreale Voraussetzung, daß auch Luft, Wasser usw. von verschiedener Qualität seien und angeeignet werden können: dann würden auch sie Differentialrente ergeben. Umgekehrt würde natürlich, wie Amonn1 schreibt, für die Benutzung des Bodens ein Preis, eine „Rente" gezahlt werden, „auch wenn aller verfügbare Boden von gleicher Art, Güte und Lage wäre". Sicher! Aber dann wäre diese Rente Monopol- und nicht Differentialrente; gerade das will Ricardo ja als unwahr erweisen, und in der Tat ist ihm dieser Nachweis geglückt. Er hat die „Monopol/>rezstheorie" der Grundrente siegreich widerlegt; freilich: die „Monopol/o/?rctheorie" ist damit noch nicht einmal berührt. Jedoch das gehört nicht hierher. Aber ich glaube, genug getan zu haben, indem ich diese grundlegenden MißVerständnisse in ihrer Wurzel aufgedeckt habe. Ich will es mir, dem Autor und dem Leser dieses Aufsatzes ersparen, noch an weiteren Beispielen all die Früchte aufzuzeigen, die leider sehr zahlreich aus dieser Wurzel erwachsen mußten. Ricardos Grundrentenlehre ist, wie wir zeigten, der Schlußstein seiner Lehre vom Arbeitswert. Nachdem er bereits den Kapitalprofit als Lohn vergangener Arbeit erschlichen hatte, hat er den gelungenen Nachweis erbracht, daß die Grundrente keinen Bestandteil des statischen Preises der Ackerprodukte ausmacht: auch hier setzt sich der statische Preis nur zusammen aus Lohn und Profit. Da nun aber nach seiner Lehre der Profit nur erhält, was der Lohn nicht erhält, so ist damit seine Wertlehre im Kern als gerechtfertigt erwiesen: die Güter tauschen sich in der Statik lediglich nach ihrem Gehalt an gegenwärtiger und vergangener Arbeit.2 Da Amonn die Rentenlehre aufgrund der dargestellten Mißverständnisse ablehnt, muß er konsequenterweise auch die gesamte Arbeitswerttheorie ablehnen: „Das Arbeitswertprinzip ist unhaltbar [...] auf der ganzen Linie gegenüber allen uns in der Erfahrung gegebenen Erscheinungen des Tauschverkehrs."' Und weiter: „So kann nicht ein Stein über dem anderen bleiben in Ricardos nationalökonomischem Gedankengebäude." Aber: „Dennoch bedeuten Ricardos .Prinzipien' heute noch nicht nur den historischen Ausgangspunkt für die Entstehung und Entwicklung der nationalökonomischen Wissenschaft im theoretischen Sinn, sondern zugleich die unmittelbare Grundlage jeder Arbeit auf diesem Gebiet." Ricardo habe, so heißt es weiter, den Grund errichtet, auf welchem das Gebäude aufgeführt werden muß, habe den Charakter der Probleme klar bestimmt, die Begriffe festgestellt, mit denen gearbeitet werden muß und uns schließlich „das Prinzip an die Hand gegeben, welches uns den Schlüssel zur
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Amonn, Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie, S. 61. Diese Zustimmung ist erstens eingeschränkt; für die kapitalistisch erzeugten Waren gilt das Arbeitswertgesetz nur mit gewissen Modifikationen; und sie bezieht sich zweitens nicht auf die Ableitung: die Theorie ist gröblich falsch deduziert, wie oben gesagt. Näheres in Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 779ff.; derselbe, Wert und Kapitalprofit, 3. Auflage, Jena 1926, S. 44ff. [im vorliegenden Band, S. 264-268; A.d.R.J
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Amonn, Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie, S. 99.
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Erklärung bietet [...] Dieses Prinzip ist das der Abhängigkeit des Wertes der Güter von ihrer ,relativen Seltenheit'."1 Sehen wir nun zu, wie Amonn mit Hilfe seines Prinzips die Probleme löst, die Ricardo nach seiner Meinung nur gestellt hat. Was ist diese „relative Seltenheit" der Güter? Wir erhalten auf diese Frage eine viele Seiten lange Auseinandersetzung, die schließlich eingestandenermaßen in einen „circulus vitiosus" ausläuft2: Seltenheit ist das Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Nun hängt aber die Größe des Angebots offenbar von der Nachfrage, und die Größe der Nachfrage wieder offenbar von dem Angebot, nämlich von dem Preise der angebotenen Güter ab. Wie kommen wir aus diesem Zirkel heraus? Hier gibt Amonn endlich, am Schluß seiner Auseinandersetzungen, die Antwort, die an ihren ersten Anfang gehört hätte: Wir müssen „eine Bedingung finden, durch welchen Begehr, objektives Mengenverhältnis und Austauschverhältnis der Güter zugleich bestimmt sind. Diese Bedingung ist die Gleichgewichtsbedingung des Marktes oder die Bedingung des ,Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage'." 3 Amonn glaubt, in Cassels bekannter Formel die Lösung dieses Problems in ausreichender Vollkommenheit zu besitzen; freilich macht er die Einschränkung: „wobei er (Cassel) allerdings das Begehr in bezug auf die es bestimmenden Komponenten, Bedürfnisstand und Güterbesitz, als gegebene Größe auffaßt, also in seiner Bedingtheit von diesen Faktoren unanalysiert läßt"4. Ich behaupte, daß dieser Mangel die Formel völlig wertlos macht; sie ergibt nicht, wie Amonn sagt, „ein Gleichungssystem, welches ebensoviel Gleichungen wie Unbekannte aufweist, wodurch diese Unbekannten endgültig bestimmt sind''^, sondern es ist auch hier, wie Schumpeter für alle früheren Versuche gezeigt hat, immer eine Gleichung weniger gegeben, als Unbekannte vorhanden sind. Bekanntlich ist diese meine Behauptung kürzlich von mathematischer Seite bewiesen worden. Wenn das aber der Fall ist, dann ist die relative Seltenheit gar nichts anderes als das alte wohlbekannte „Verhältnis von Angebot und Nachfrage", meinethalben in seiner statischen Gestalt. Aber damit ist sachlich nicht das mindeste gewonnen, sondern nur eine neue Bezeichnung für einen Sachverhalt, den Böhm-Bawerk als Erklärungsgrund bereits mit der berühmten Wendung abgewiesen hat, er „gebe Schalen statt der Kerne". Und das größte theoretische Genie unserer Wissenschaft neben und vielleicht über Ricardo, Johann Heinrich von Thünen, hat bereits in seinem „Isolierten Staat" geschrieben: „Diese Antwort befriedigt mich nicht, denn sie gibt nur die Erscheinung, nicht den Grund an."6 An anderer Stelle: „Wer sich durch diese Erklärung befriedigt fühlt, kann den Preis der Wertgegenstände nie anders als aus der Erfahrung entnehmen; er vermag nicht den Preis irgendeines Produkts wissenschaftlich zu bestimmen [...] wer aber tiefer eindringt, wird erkennen, daß das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage nur die äußere Erscheinung einer tiefer liegenden Ursache ist."7 Durch diese Erfahrung wird überall „durch eine Begriffsverwechslung das Faktische für eine Erklärung, das was geschieht, für den Grund der Erscheinung genommen"8.
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A m o n n , Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie, S. lOOf. Ebenda, S. 117. Ebenda. Ebenda, S. 118. Ebenda, S. 120. v. Thünen, Der isolierte Staat, Edition Waentig, 2. Auflage, Rostock 1842, S. 466. Ebenda, S. 470. Ebenda, S. 436.
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Amonn hätte von diesem Genius lernen können, wie die Statik des Marktes, in welcher per definitionem jenes „Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage" neben anderen Erscheinungen gegeben ist, wirklich bestimmt werden kann: „Wenn durch den Preis der Waren die Arbeit von gleicher Qualität in allen Gewerben gleich hoch gelohnt wird, so findet das Gleichgewicht statt."1 Ja, er hätte die Lösung bei einiger Aufmerksamkeit bei einem anderen Genius finden können, bei Adam Smith, der den Konkurrenzkampf ausdrücklich dort zu Ruhe kommen, und d. h. das Gleichgewicht von Nachfrage und Angebot stattfinden läßt, wo im Zusammenhang der Märkte durch das Spiel der Konkurrenz die Preise so eingestellt sind, „daß alle Vorteile wieder auf einer Linie liegen" 2 . Aber freilich, um von hier aus zu Ende zu kommen, mußte dem Ökonomisten der „Begriff der Statik" in seiner vollen Ausgestaltung gegenwärtig sein. Ich bin von den hier gegebenen, einigermaßen vagen Ansätzen aus in der dritten Auflagen meines „Wert und Kapitalprofit" 3 zu völlig exakten Formeln gelangt, die ich mich berechtigt glaube, trotz Amonns Widerspruch in der eingangs erwähnten Debatte 4 für völlig richtig zu halten. Nun ist, wie Amonn richtig erkennt, die Preislehre die einzig mögliche Grundlage für die Lösung des Hauptproblems der Ökonomik, der Distribution. Wer diese Grundlagen in so unvollkommenem Maße besitzt wie er, kann unmöglich zu einem standfesten Gesamtaufbau kommen. Das haben wir bereits an der Lehre von der Grundrente gezeigt; das gilt auch von der Lohntheorie, soweit sie hier berührt ist: nirgends wird die entscheidende Frage auch nur berührt, wie die Klasse der Lohnarbeiter zustande gekommen ist* Denn, wie Karl Marx sagt: „Der Arbeitslohn ist die unter einer anderen Rubrik betrachtete Lohnarbeit." Wer den Lohn der kapitalistischen Gesellschaft allein ableiten will, mag sich damit begnügen. Wer aber, wie Ricardo und in seiner Gefolgschaft Amonn, den „Lohn" schlechthin zu deduzieren hat, hat sich unbedingt die Frage nach den historischen Bedingungen des Kapitalismus, und d. h. unter anderem auch der Lohnarbeit zu stellen, um feststellen zu können, ob diese Kategorie eine „historische" oder eine „immanente" ist. Ganz besonders verheerend aber zeigt sich die Unvollkommenheit der Grundlage in der letzten Teillehre von der Distribution: in der Profittheorie. Hier trägt Amonn diejenige Auffassung vor, die Böhm-Bawerk als die „naive Wertproduktivitätstheorie" bezeichnet und vollkommen widerlegt hat. Bereits Seite 47 heißt es zu diesem Problem: „Aus diesem Grunde kann unmittelbare Arbeit nie mehr wert sein als vorgetane, wohl aber kann vorgetane mehr wert sein wie unmittelbare. Und sie muß mehr wert sein, ist mit Notwendigkeit mehr wert, wenn sie relativ seltener ist. Das ist die Auflösung der Schwierigkeit und die Lösung des Problems." Und Seite 96: „Der ,Profit' [...] ist doch offenbar die Folge der Tatsache, daß die mit vorgetaner Arbeit produzierten Güter eben einen höheren Tauschwert erlangen als die mit einer gleichen Menge unmit-
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v. Thiinen, Der isolierte Staat, S. 529. Vgl. Smith, Wealth of Nations, Kap. Χ, 1. Abs.: "If in the same neighbourhood, there was any employment evidently either more or less advantageous than the rest, so many people would crowd into it in the one case, and so many would desert it in the other, that its advantages would soon return to the level of other employments."
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[Siehe im vorliegenden Band, S. 231-286; A.d.R.] [Amonn, Franz Oppenheimers „Neubegründung der objektiven Wertlehre", in: Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik, Neue Folge, Bd. IV (1924), S. 1-37 und derselbe, Zu Oppenheimers „Neubegründung der objektiven Wertlehre", in: ebenda, Bd. V (1925/27), S. 125-130 und 584-598. Oppenheimer, Zur Neubegründung der objektiven Wertlehre, in: ebenda, Bd. V, S. 108-124 und 556-583. Vgl. auch S. 231-286 im vorliegenden Band; A.d.R.]
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Vgl. Oppenheimer, Der Arbeitslohn, Jena 1926, S. 3 [im vorliegenden Band, S.184; A.d.R.].
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telbarer Arbeit produzierten Güter oder steht auf jeden Fall im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Tatsache." U n d Seite 111 wird gefragt: „Woher k o m m t das? Das kann offenbar seinen Grund nur in einem ungünstigeren relativen Seltenheitsverhältnis der vorgetanen gegenüber der laufenden Arbeit haben." H i e r haben wir die Thünensche „Begriffsverwechslung des Faktischen mit einer Erklärung, der Erscheinung mit ihrem Grunde". D i e ganze Ableitung ist eine klare petitio principii: zu erklären ist, warum
vorgetane Arbeit höheren Preis bringt als gegenwärtige; die Erklärung wird gesucht in
der größeren relativen Seltenheit jener ersten gegenüber der zweiten; diese relative Seltenheit ist durchaus nichts weiter als eine andere Bezeichnung dafür, daß - vorgetane Arbeit einen höheren Preis bringt als gegenwärtige! Die Erklärung „genügt" mir ebensowenig wie T h ü n e n und BöhmBawerk, und ich muß es bei einem A m o n n im besonderen wie für unsere Wissenschaft im allgemeinen als sehr betrüblich bezeichnen, daß eine derartige „Karussellerklärung" heute noch immer wieder auftreten darf. W i r stehen am Ende unserer leidigen Aufgabe und damit am Ende unserer Kritik überhaupt. D e n n auch die „Volkswohlstandslehre" steht auf ganz dem gleichen Fundamente und k o m m t zu ganz den gleichen unhaltbaren Folgerungen. A m o n n hat sich mit diesem Buche, wie er im V o r w o r t sagt, einen „vorzüglich didaktischen Zweck gestellt", und es soll gern anerkannt werden, daß sein B u c h in der Fülle und Anschaulichkeit des Stoffes und der Lebendigkeit der Darstellung in vielen Kapiteln sehr erfreulich über die platte Kindlichkeit von Lehrbüchern hervorragt, wie sie etwa Oswalt und Budge, ja sogar, freilich auf wesentlich höherem Niveau, Gustav Cassel herausgebracht haben. A b e r in dem, was der eigentliche K e r n zu sein hat, ist es ihnen leider kaum überlegen: es ist - unbewußt natürlich - epigonale Apologetik. B ö h m s fruchtbare Kritik, Clarks und Schumpeters verfeinerte Ausgestaltung des statischen Verfahrens, Marxens gewaltige Kritik und gigantischer Aufbauwille, u m von meiner eigenen Lebensarbeit ganz zu schweigen, sind auch an diesem Theoretiker spurlos vorübergegangen. U m einiges herauszuheben, so wird der Begriff der Statik erst in einem der letzten Abschnitte des Buches entwickelt (§ 38), statt im Anfang. Das hat z. B . die Folge, daß man gar nicht verstehen kann, welcher Unterschied zwischen dem Konkurrenz- und dem Monopolpreis besteht. 1 D i e nähere Darlegung auf Seite 179/180 erscheint mir nicht als ausreichend. Die entscheidende Feststellung fehlt eben, w o der statische Konkurrenzpreis sich einstellt, und der Monopolpreis läßt sich gar nicht anders definieren denn als ein Preis, der höher steht als dieser statische Konkurrenzpreis. Erst auf Seite 282 findet sich die bei weitherziger Auslegung einigermaßen richtige Bemerkung, daß die Konkurrenzpreise „der Produkte mit den Preisen der Produktionsmittel, die zu ihrer Produktion erfordert sind, übereinstimmen, im Monopolfalle dadurch, daß sie den höchsten Gewinn für den Monopolisten bringen". Was die Statik selbst anlangt, so ist sie grundsätzlich richtig definiert als „der Gleichgewichtszustand eines bewegten Kräfte- und Größensystems" 2 , und es ist weiter grundsätzlich richtig, wenn es heißt: „Die statische Betrachtung vereinfacht das O b j e k t , ihr unmittelbares Erkenntnisziel ist zwar ein Zustand, der nicht ist, aber ein Zustand, dessen Erkenntnis die
Voraussetzung
schließlichen
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bildet. Ihr unmittelbares
für die Erkenntnis
des Zustandes,
Erkenntnisziel ist ein unentbehrliches Mittel
Erkenntnisziel." 3
Amonn, Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie, z. B. S. 146. Ebenda, S. 277. Ebenda. S. 278f.
der ist, zum
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und
Wirtschaftspolitik
Aus dieser Erkenntnis heraus hätte offenbar die Darstellung der Statik erfolgen müssen, bevor überhaupt die Mechanik der Marktwirtschaft in ihrer Kinetik in Angriff genommen wurde. Aber: wenn auch die Begriffsbestimmung der Statik grundsätzlich richtig ist, angebrachtermaßen ist sie dennoch mißverstanden. Amonn schreibt: „Es kann unbefriedigter Bedarf bzw. unversorgte Nachfrage übrig bleiben oder ein unverkaufter Uberschuß verderben." 1 Das ist unmöglich. Amonn beschreibt selbst an vielen Stellen die Statik als ein Preisniveau, wo Angebot und Nachfrage sich vollkommen decken! Und auf den folgenden Seiten nähert sich Amonn fast bis zum Verschwinden der Begriffsverwirrung, die Schumpeter verschuldet hat. In dessen „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" wandelt sich ihm der Begriff der Statik unter den Händen. Aus einer methodischen Fiktion wird plötzlich eine Charakterologie. Die statische Wirtschaft ist nicht mehr der nie erreichte und erreichbare Gleichgewichtszustand irgendeiner beliebigen Gesellschaftswirtschaft, sondern die Wirtschaft von Menschen, die im üblen Sinne konservativ sind, sich von den entwickelnden Kräften treiben lassen, keinerlei Initiative besitzen. Das ist die Folie, von der sich die Heroengestalt seines „Unternehmers" dann leuchtend abhebt. In diesem Sinne schreibt Amonn, die europäische Landwirtschaft zeige während des ganzen 19. Jahrhunderts einen „wesentlich statischen Charakter, der ihr zum Teil auf Grund der ,Trägheit', die allem Bestehenden, dem Geistigen ebenso wie dem Körperlichen, eigen ist, und der konservativen Natur, die die bäuerliche Denk- und Handlungsweise insbesondere auszeichnet [...] erhalten geblieben ist." 2 Das alles hat mit dem Begriff der Statik nicht das mindeste zu tun, sondern ist „Stetigkeit" im Sinne Vierkandts; ihr Gegensatz ist der „Kulturwandel", der Gegensatz der Statik aber: Kinetik. Wenn Amonn Schumpeter in dieser unmöglichen Begriffsverschiebung folgt, so folgt er ihm leider nicht, wo er im Anschluß an die besten Traditionen unserer Wissenschaft die Unmöglichkeit feststellt, den Kapitalzins aus dem statischen Konkurrenzpreise abzuleiten. 3 Wir haben uns schon oben darüber geäußert, daß er ein Vertreter der von Marx und Böhm-Bawerk längst erledigten „naiven Produktivitätslehre" ist. Die einschlägigen Stellen finden sich hier namentlich im § 35 und z. B. [auf den Seiten] 284/285. Wir können uns an dieser Stelle nicht näher darauf einlassen, weil die Kritik viele Seiten in Anspruch nehmen würde und, wie schon gesagt, längst in völlig geschlossener und fast allgemein anerkannter Deduktion geführt worden ist. Es kann nur noch angedeutet werden, daß auch hier wieder das mangelhafte Verständnis des Begriffs „Statik" die Schuld trägt. U m noch zwei andere wichtige Punkte anzudeuten, so stellt Amonn 4 sich auf den Standpunkt, daß die schweren Schäden der frühkapitalistischen Zeit auf der „Freisetzung der Arbeiter durch die Maschine" beruhten. Das ist ein statisch längst als unhaltbar nachgewiesener Satz. Wie Amonn selbst vier Seiten später sagt, „machen die Maschinen die Arbeiter im Grunde nicht überflüssig, sondern nur zu anderen Verwendungen frei" 5 . Er erkennt, daß sogar eine „Steigerung der Nachfrage folgte, die [...] sogar die Aufnahme eine großen Bevölkerungszuschusses ermöglichte" 6 . Ein einziger Blick auf die statistischen Ziffern lehrt, daß dieser neu aufgenommene Bevölkerungszuschuß viel größer war, als der Geburtenüberschuß der Arbeitsbevölkerung selbst; das ungeheure Plus kam vom Lande, und zwar nach dem „Goltzschen Gesetz" fast durchaus vom Großgrundeigentum. Von diesen entscheidend wichtigen Zusammenhang ist in dem ganzen Buch, soweit ich erkennen kann, keine Rede.
1 2 3 4 5 6
A m o n n , Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie, S. 282. Ebenda, S. 286. Vgl. ebenda, S. 2 8 1 , 2 8 4 . Ebenda, S. 319. Ebenda, S. 323. Ebenda.
Alfred Amonns theoretische Auffassung
345
Nun gehört das Goltzsche Gesetz ganz unzweifelhaft in den „objektiv gegebenen Zusammenhang", auf dem das Erkenntnisobjekt der theoretischen Nationalökonomie aufzubauen ist. Wenn Amonn es berücksichtigt hätte, so hätte er sich doch vielleicht besonnen, auf Seite 369 so zuversichtlich zu schreiben: „Aber die Voraussetzungen
waren tatsächlich erfüllt", an welche jene Folgerung
der Klassik, die maximale Steigerung des Volkswohlstandes, geknüpft war. Sie waren nicht erfüllt! Denn diese „Bedingung" war die Forträumung
aller Monopole
aus der Wirtschaftsgesellschaft. Dann
erst ist „freie Konkurrenz" in ihrer echten wissenschaftlichen Bedeutung hergestellt. Das Goltzsche Gesetz aber beweist, daß das gewaltigste aller Monopole, das Bodenmonopol, noch fortbestand und fortbesteht. Der Kapitalismus mußte sich im feudalen
Raum entwickeln; er hat sich mit den beiden
Institutionen abfinden müssen, die diesen Raum kennzeichnen: politisch der Ständescheidung, wirtschaftlich der Bodensperrung. Nur aus diesen seinen historischen
Bedingungen
heraus kann es
verstanden werden, warum die Wirtschaft der Konkurrenz statt zur Harmonie zu jenen Schäden geführt hat, die unsere Kultur mit der Vernichtung bedrohen. Wer freilich, wie Amonn, das Vorhandensein einer besitzlosen Arbeiterklasse als „gegebenes Datum" jeder rein theoretisch-ökonomischen Rechnung annimmt, dem ist der Weg zum letzten Erkenntnisziele hoffnungslos versperrt.
Lohntheorie und Sozialpolitik [1929]1
Der Arbeitslohn ist der vertragsmäßige Entgelt für einen „Dienst", d. h. für die Verausgabung einer Arbeitsenergie von bestimmter Qualifikation für bestimmte Zeit und unter bestimmten äußeren Bedingungen. Wenn man das Wort „Lohn" in diesem streng wissenschaftlichen Sinne faßt, ist alle Sozialpolitik im allgemeinen und alle Gewerkschaftspolitik im besonderen im Kerne nichts als Lohnpolitik; der Entgelt soll gehoben, die Arbeitszeit soll verkürzt, die Arbeitsbedingungen sollen verbessert werden. Unter diesen Umständen sollte man glauben, daß alle Sozialpolitik versuchen müßte, sich in einer tragkräftigen Lohntheorie das offenbar unentbehrliche Fundament zu bereiten. Aber das Gegenteil ist der Fall. Ich habe mehrfach versucht, die Debatte auf dieses Feld zu führen, habe aber keinen anderen Erfolg davon erlebt, als daß ich als Feind der Gewerkschaft verrufen worden bin. Ich will hier noch einmal versuchen, meine Gründe in aller Kürze zusammenzufassen zu Ehren eines Mannes, der unbeirrt Jahrzehnte hindurch der Freiheit und der Wohlfahrt der leidenden Klasse gedient hat. Die Frage nach der Wirkung der Gewerkschaft auf das Verhältnis von Lohn und Leistung kann einen zwiefachen Sinn haben. Sie kann erstens bedeuten, ob die Gewerkschaft imstande ist, die Arbeitsbedingungen für die von ihr vertretene Arbeiterschicht zu verbessern - und sie kann zweitens bedeuten, ob sie imstande ist, das Niveau der Gesamtarbeiterschaft zu heben. Die erste Frage kann ohne weiteres bejaht werden: eine gut organisierte, finanzstarke Gewerkschaft ist unter glücklichen Umständen sehr wohl in der Lage, ihren Mitgliedern ein Verkaufsmonopol ihrer spezifischen Dienste auf dem Markte zu verschaffen und dadurch deren Preis emporzutreiben. Aber sie kann das unter den bestehenden Verhältnissen nicht anders erreichen als dadurch, daß sie sich irgendwie nach unten hin sperrt, indem sie entweder durch Beschränkung der Lehrlingsaufnahme den Zugang zu ihren Reihen verringert oder alle Arbeiter als Mitglieder ablehnt, die nicht dafür Bürgschaft stellen können, daß sie einen bestimmten Lohn zu erwerben imstande sind, oder den Zugang auf irgendeine andere Weise einschränkt. Das heißt mit anderen Worten, daß sie nur aufsteigen kann, indem sie die Ausgeschlossenen herabdrückt. Mir drängt sich hier immer wieder Henry Georges prachtvolles Bild auf: die sozialen Gesetze dringen wie ein Keil in die homogene Masse ein und heben zwar alles, das darüber liegt, drücken aber alles herab, was daruntergelangte. Damit ist durchaus kein Verwerfungsurteil über die Gewerkschaft ausgesprochen. Im Gegenteil: die Arbeiterschaft bedarf geschulter, kampfstarker Bataillone für ihren Emanzipationskampf, und diese können ihr die Gewerkschaften werden, wenn sie sich ihrer Wirkungsmöglichkeit und ihrer eigentlichen Aufgabe einmal bewußt geworden sein werden. Wohl aber ist damit bereits die zweite Frage, die wir oben stellten, verneinend beantwortet. Die Gewerkschaft kann als solche, d. h. durch Lohnpolitik allein, unmöglich die ganze Arbeiterschaft
1
[Erstmals erschienen in: Sozialpolitische Studien. Festgabe für Ignatz Jastrow zum 70. Geburtstag, hrsg. von Carl Clodius, Berlin 1929, S. 83-94; A.d.R.]
Lohntheorie und Sozialpolitik
34 7
als Klasse über ihren heutigen Standpunkt hinausheben. Das klingt widrig nicht nur in ihre eigenen Ohren, sondern auch in die der vorgeschrittenen bürgerlichen Sozialreformer, die, von Dühring
aufwärts zu Lujo Brentano
Eugen
und seinen Schülern, gerade in der Gewerkschaft das große
Mittel der Emanzipation erblickt haben: aber die Wahrheit ist nicht nur bitter, sondern auch heilsam. Dieses große und entscheidende Problem der Hebung, nicht einer Schicht der Arbeiterschaft, sondern des Proletariats im ganzen als einer Klasse, kann gelöst, ja kann richtig gestellt nur werden, wir wiederholen es, vom Standpunkt einer tragkräftigen Lohntheorie. Damit hat es aber von allem Anfang an sehr schlimm ausgesehen: Die Gewerkschaft ist bekanntlich in Deutschland die bewußte und gleichzeitige Schöpfung der beiden um die Seele der Arbeiterschaft kämpfenden Parteien, des Liberalismus und des Sozialismus. N o c h heute lebt der alte Gegensatz in der Gestalt der Hirsch-Dunckerschen freien Gewerkschaften dort, der Schöpfung von Schweitzers,
Gewerkvereine hier, der
fort. Beide folgten den praktischen
Anregungen, die aus England, dem klassischen Lande der Trade unions, über den Kanal fortwirkten; aber wie die Bewegung dort theoretisch nicht im mindesten unterbaut war, sondern sich aus der Praxis entfaltet hatte, so war es auch in Deutschland der Fall. Ja, schlimmer: die Gründung stand von vornherein in unversöhnbarem Gegensatze zu der theoretischen Auffassung ihrer Väter von den Gesetzen, die den Lohn bestimmen. Der bürgerliche Liberalismus hatte ursprünglich keine andere Lohntheorie als die sog. Lohnfondslehre. Danach haben sich die arbeitswilligen und arbeitsfähigen Mitglieder des Proletariats in eine bestimmte Geldsumme zu teilen, die von den Kapitalisten für Lohnzwecke bereitgestellt ist. Je nach Angebot und Nachfrage stellt sich der Lohn bald etwas höher, bald etwas tiefer. Aber auf die Dauer und im Durchschnitt bestimmt sich der Lohn als der Preis der Ware Arbeitskraft, genau wie bei jeder anderen Ware: er ersetzt die Reproduktionskosten. Hoher Lohn vermehrt die Arbeiterehen und die Zahl der zur Arbeitsfähigkeit aufwachsenden Arbeiterkinder und verlangsamt gleichzeitig die Akkumulation des Kapitals im allgemeinen und des Lohnfonds im besonderen; bei niederem Lohne tritt das Umgekehrte ein, und so stellt sich auch dieser Preis auf die Dauer bei den Reproduktionskosten ein, d. h. beträgt nicht mehr als das soziale Existenzminimum, mit der deutlichen Tendenz, allmählich bis auf das physiologische Existenzminimum und darunter zu sinken, kraft des „Bevölkerungsgesetzes". Es ist klar, daß der Gewerkschaft auch nicht die mindeste Möglichkeit gegeben ist, den Lohn der Gesamtarbeiterschaft zu heben, wenn dieses Gesetz richtig ist. Es setzt sich, als „Naturgesetz", unwiderstehlich durch und trotzt allen menschlichen Eingriffen. Nun ist es zwar wahr, daß alle bessere Theoretik dieses Lohnfondsgesetz preisgegeben hat, seitdem John Stuart Mill Anfang der 60er Jahre in dieser Beziehung vor den Angriffen von Longe und Walker kapitulierte und, ein zweiter Simson, mit dieser seiner tragenden Säule das ganze System der bürgerlichen Theoretik niederriß. Ich kann hier die bekannten Gründe nicht wiederholen, aus denen dieses entscheidende Opfer unvermeidlich war. Was uns hier interessiert, ist einzig der Umstand, daß die bürgerliche Theoretik kaum einen Versuch gemacht hat, an die Stelle der unhaltbaren älteren eine neue haltbarere Lohnlehre zu setzen. Zuerst begnügte man sich mit der lächerlichen Ausflucht, es gebe gar nicht „den" Lohn, sondern unzählige verschiedene Lohnniveaus. Damit glaubte man die nicht zu leugnende Tatsache erklären zu können, daß die Löhne der städtischen gelernten Arbeiter lange Zeit hindurch sowohl in ihrem Nominal- wie in ihrem Realbetrage wuchsen, und klammerte sich wie an einen Strohhalm an die Behauptung, daß die Löhne der Ungelernten jenem, immer noch in dieser beschränkten Ausdehnung festgehaltenen, alten Lohngesetz folgten. Aber auch diese Ausflucht versagte. Erstens ist nichts klarer, als daß alle Löhne ein in sich zusammenhängendes System darstellen, das in sich geradeso gegliedert ist wie etwa das System der gleichfalls je nach der Gunst der Anlage sehr verschiedenen Kapitalprofite; und zweitens zeigte sich
348
Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
immer deutlicher, daß auch der Lohn der ungelernten, vor allem der Landarbeiter, steigende Tendenz hatte. Die beiden einzigen mir bekannten Versuche, die die bürgerliche Theoretik unternommen hat, um eine neue Lohntheorie zu gewinnen, liegen vor in Heinrich Dietzels „Produktivitätstheorie" und in der Lehre der Wiener Grenznutzenschule von dem „Substitutionswert" des letzten, des „Grenzarbeiters". U m von dieser zuerst zu reden, so handelt es sich um einen „Versuch am untauglichen Objekt", mit dem die Schule selbst durchaus noch nicht zufrieden ist. Dietzels Theorie ist ebenfalls von einer für diesen hervorragenden Theoretiker geradezu erstaunlichen Schwäche und völlig unhaltbar. 1 Wäre aber auch einer dieser beiden Versuche haltbar, so gäbe er dennoch keine Grundlage für eine Theorie von der sozialen Allgemeinwirkung der Sozialpolitik oder der Gewerkschaft im besonderen. Denn nach der Lehre der Grenznutzler bestimmt sich der Lohn nach dem Arbeitswerte des letzten eingestellten Arbeiters; und auf diesen Wert hat die Gewerkschaft nicht den mindesten Einfluß. Für Dietzel aber schwankt der Lohn mit der Produktivität der Arbeit, und es ist das letzte, was man der bisherigen Gewerkschaftspolitik nachsagen kann, daß sie bestrebt ist, diese Produktivität zu vermehren. Ebenso mißlich stand es um die theoretische Begründung der von den Sozialisten begründeten Gewerkschaften. Lassalle, von Schweitzers Meister, hatte die Ricardo-Malthussche Lohntheorie in ihrer krassesten Form als das „eherne Lohngesetz" vorgetragen: von diesem Standpunkt aus konnte nicht die Gewerkschaft, sondern allenfalls nur die Genossenschaft, unterstützt vom Staate, den Kampf mit dem Kapitalismus aufnehmen. Aber Lassalles theoretischer Stern verblaßte sehr schnell, und die Arbeiterschaft folgte durchaus der Lehre ihres großen Propheten Karl Marx. Diese aber war und ist nicht minder pessimistisch in bezug auf die Hebung des Gesamtlohnniveaus als ihre bürgerliche Mitwerberin. Sie versucht zu zeigen, daß der kapitalistische Produktionsprozeß selbst zur Bildung einer stets wachsenden „Reservearmee" unbeschäftiger Arbeiter führen muß, weil das funktionierende Kapital zu einem immer größeren Bruchteile sich als „konstantes Kapital" in Gestalt von Produktionsmitteln niederschlägt und nur zu einem immer kleineren Teil als „variables Kapital" für Löhne zur Verfügung steht. Unter solchen Umständen ist eine wachsende „Verelendung" der Arbeiter unvermeidlich, eine „Zunahme des Elends, der Brutalität und Unwissenheit". Ja, gerade hierin erblickt Marxens Auffassung das eigentlich auslösende Moment der rettenden Revolution, die den Kapitalismus mit mehr oder weniger Gewalt ausrotten wird. Auch diese Lehre ist nicht mehr haltbar. Es ist mir bereits vor 23 Jahren gelungen, den logischen Fehler aufzuweisen, der die Marxsche Deduktion verdirbt. Ich warte seitdem vergeblich auf die
1
Vgl. dazu Oppenheimer, Der Arbeitslohn, Jena 1926 [im vorliegenden Band, S. 179-230; A.d.R.]. Adolf Weher bemerkt dazu in seinem neuen Lehrbuch der theoretischen Ökonomik (ich schreibe dies auf der Reise und kann den Titel und die Seite nicht angeben) wörtlich oder dem Sinne nach: „Oppenheimer redet an Dietzel vorbei". Das beweist nichts anderes, als daß selbst unsere besten Männer, zu denen ich Weber zähle, keine Ahnung mehr davon haben, was die Methode unserer Wissenschaft ist und fordert. Dietzel hat getan, was des Theoretikers Schuldigkeit ist: er hat für seine Lehre den deduktiven Beweis angetreten. Ich habe diesen Beweis kunstgerecht widerlegt, und es gibt darauf nur eine einzige mögliche Antwort: meine Widerlegung ihrerseits zu widerlegen und die Dietzelsche Deduktion gegen meine Einwände herzustellen. Dietzel selbst hat das bisher nicht getan, ich nehme an, weil er deutlich sieht, daß ich recht habe; denn ich kann nicht annehmen, daß er mich einer Entgegnung nicht für würdig hält. Und Zeit genug hätte er wahrlich gehabt. Webers Einmischung in dieser Form widerstreitet allen guten Traditionen unserer Wissenschaft. Hier gibt es keine Autorität außer der der Argumente, und niemand hat das Recht des Bakels über den anderen, und sei er selbst der Jüngste und Unberühmteste!
Lohntheorie und Sozialpolitik
349
immer wieder von mir herausgeforderte Widerlegung dieser meiner Widerlegung. Die heutigen sozialistischen Führer legen eine bewundernswerte theoretische Bedürfnislosigkeit an den Tag.1 Aber, richtig oder falsch: auch von dieser Lehre aus war die Gewerkschaft, und waren die Erwartungen ihrer Freunde nicht zu begründen. Darum hat denn auch die Partei jahrzehntelang die Gewerkschaft geradeso als ein „bürgerliches Palliativmittelchen" bekämpft wie die Genossenschaft und hat sich erst sehr allmählich und unter Uberwindung sehr starker Widerstände dazu verstanden, sie zuerst anzuerkennen und zuletzt praktisch zu fördern. Das war der Gang des Revisionismus in der Partei. Wir sehen: wir stehen vor einem Trümmerfelde. Weder der Liberalismus noch der Sozialismus besitzen eine Lohntheorie, wobei ich selbstverständlich von den schwächlichen Versuchen gewisser, namentlich bürgerlicher Köpfe absehe, entweder längst widerlegte Theoreme, maskiert oder unmaskiert, neu aufzuwärmen oder „eklektisch" aus den Trümmern der verschiedenen Lohnlehren eine neue zusammenzuleimen, die bei der ersten Belastungsprobe durch die Logik wieder in ihre Elemente zerfällt. Unter diesen Umständen wird es nicht als Anmaßung erscheinen, wenn ich hier eine Lohntheorie vortrage, zu der sich von dem ersten Anfang unserer Wissenschaft an unsere größten Köpfe bekannt haben: ein Turgot, ein Adam Smith, ein Thünen, noch neuerdings, im Gefolge Henry Georges, der beste Mann der amerikanischen Ökonomik und einer der besten Männer der Ökonomik überhaupt, der ehrwürdige Clark-, ja, sie ist sogar von keinem geringeren als Karl Marx selbst vorgetragen worden, freilich nicht ex professo, sondern nur sozusagen inoffiziell, und zwar in einem Anhange zu der eigentlichen Theorie, einem Satyrspiel, das der Tragödie folgt: im Schlußkapitel des ersten Bandes des „Kapital" über das Wakefìeldsche Kolonialsystem. Alle diese großen Köpfe stellten das Problem, wie es gestellt werden muß. Sie fragten in erster Problemstellung nicht, wie hoch der Lohn sich stellt, wenn seine Bedingungen gegeben sind, sondern welches die Bedingungen des Lohnsystems überhaupt sind. „Der Arbeitslohn ist nichts als die unter anderem Gesichtswinkel gesehene Lohnarbeit", sagt Marx. Wie kommt es überhaupt zu einer Spaltung der Gesellschaft in eine Klasse, in deren Besitz sich sämtliche Produktionsmittel befinden, und eine andere, die mangels dieser Mittel gezwungen ist, ihre Arbeit zu verkaufen? Es ist von vornherein höchst wahrscheinlich, daß mit der Beantwortung dieses primären Problems mindestens der Weg sich öffnen muß zur Lösung des zweiten Problems: wenn wir die Ursache des Lohnes kennen, werden wir voraussichtlich auch seine Höhe abzuleiten imstande sein. Auf diese entscheidende Frage antworten jene Meister der theoretischen Deduktion sämtlich, daß nicht eher eine Arbeiterklasse entstehen kann als von dem Augenblick an, wo das nichtproduzierte Produktionsmittel, der Grund und Boden, nicht mehr der freien Besiedlung zugänglich ist. Turgot sagt: „Solange noch jeder arbeitsame Mann ein Stück Boden finden kann, wird er sich nicht bereit finden, für einen anderen zu arbeiten." Adam Smith erklärt, daß vor der Vollbesetzung des Bodens dem Arbeiter (besser dem Arbeitenden) der ganze Ertrag seiner Arbeit als sein „natürlicher Lohn" zufloß. Und Marx sagt an der angeführten Stelle von den Verhältnissen der freien Kolonien: „Solange jeder Ansiedler ein Stück Boden in sein individuelles Eigentum und Produktionsmittel
1
Ganz neuerdings hat sich in der Nummer des „Kampf" vom Januar dieses Jahres Frau Helene Bauer zu meiner Marx-Kritik geäußert. Sie hat weiter nichts dazu zu bemerken als das Folgende: Es handele sich um einen historisch-dialektischen Prozeß, bei dem durch „logische Rechenexempel" nichts auszumachen sei. (Ich habe den Wortlaut nicht zur Hand.) Das ist eine Phrase, mit der sich der Parteigänger, aber nicht der Forscher beruhigen kann. Die Herren haben so lange die immanente Widerlegung der Sätze ihres (und meines) Meisters von aller Welt gefordert, bis ich sie geleistet habe - jetzt suchen sie sich mit einer solchen nichtssagenden Redensart aus der Klemme zu ziehen. Die Theorie ist auf beiden Seiten in gleich schmählicher Weise verfallen, bei den „Bürgerlichen" wie bei den Marxisten.
Erster Teil: Nationalökonomie
350
und Wirtschaftspolitik
verwandeln kann, ohne den späteren Pionier an der gleichen Operation zu verhindern", ist Kapitalismus unmöglich. „Der Arbeiter verschwindet zwar vom Arbeitsmarkt, aber nicht ins Workhouse." Und Kautsky
erklärt dazu in seinem Kommentar klipp und klar, daß unter solchen Um-
ständen Geld und Produktionsmittel kein „Kapital" sind: „sie verwerten sich nicht", d. h. werfen keinen Mehrwert ab. Die Lohntheorie, auf die ich seit einem Menschenalter fast erfolglos die Aufmerksamkeit der Fachmänner zu lenken versuche, ist in ihrem Kern durchaus die von Smith,
Turgot, Marx usw.
vorgetragene. Sie unterscheidet sich von der ihren nur in einem einzigen Punkte von verhältnismäßig geringer theoretischer Bedeutung, in einem Punkte noch dazu, über den die Einigung bei einigermaßen gutem Willen ohne weiteres herbeizuführen wäre. Alle jene Männer glauben, daß der Vorrat an nutzbarem Boden von Natur aus zu klein sei, um den Bedürfnissen einer über einen gewissen Dichtigkeitsgrad hinausgewachsenen Bevölkerung noch genügen zu können. Sie folgen sämtlich Jean-Jacques
Rousseau,
der den Zeitpunkt des kritischen Umschwungs zur Klassenspaltung
und zum Lohnsystem hin in der klassischen Formel bezeichnete: „Wenn alle Hufen, einander berührend, das ganze Land bedecken." Die Vorstellung ist die, daß mit dem Wachstum der Bevölkerung sich ein Bauer neben den anderen setzte, bis das Land „voll besetzt war". Diese Auffassung ist offenkundig falsch. Man braucht nur das einfache Divisionsexempel vorzunehmen, das vor mir der heilige Augustinus, John Locke und Charles Hall vorgenommen haben: mit dem Bedarf einer Mittelbauernfamilie an Land in die vorhandene Fläche des Nutzlandes zu dividieren, und man sieht sofort, daß heute noch, nicht nur auf der Erde im ganzen, sondern in jedem auch der dichtest bevölkerten Kulturländer viel mehr Nutzland vorhanden ist, als die vorhandene Agrarbevölkerung brauchte und mit genügender Intensität bewirtschaften könnte, wenn sie durchaus aus Mittelbauern bestünde. Ich habe diese Rechnung so oft aufgemacht, daß ich es mir ersparen kann, sie hier noch einmal zu wiederholen. Nur eine einzige Ziffer: Deutschland hatte in seinen Grenzen vor dem Kriege eine agrarische Bevölkerung von weniger als 17 Millionen Köpfen, könnte aber rund das Doppelte an Mittelbauern samt ihren Angehörigen tragen, wenn man als durchschnittliche Größe einer Bauernhufe in Ubereinstimmung mit den agrarischen Autoritäten 20 Morgen annimmt. Die Vollbesetzung des Landes, ohne die es Lohnarbeiter und daher Arbeitslohn überhaupt nicht geben kann, muß daher auf eine andere als die von jenen großen Theoretikern angenommene Art und Weise entstanden sein. Und die Ökonomik braucht nur einen einzigen Augenblick einmal ihr Auge über ihr engstes Fachgebiet auf die Nachbargebiete zu richten, um diese andere Art und Weise mit einer Gewißheit feststellen zu können, die jeden Zweifel ausschließt. Es ist eine der merkwürdigsten Tatsachen in der an merkwürdigen Tatsachen überreichen Geschichte der Ökonomik, daß ihre Deduktionen regelmäßig von der Fiktion ausgehen, daß die Geschichte
nicht gewesen
ist. Der ökonomische Theoretiker weiß natürlich, aber sozusagen nur als
Privatmann, daß die Geschichte „mit Zügen von Blut und Feuer" geschrieben ist; daß ihre Bücher von kaum anderem erzählen als von Krieg, Eroberung, Unterwerfung, Sklaverei, Leibeigenschaft, Rechtsbruch und Wucher; wenn er aber Theorie treibt, verschwinden alle diese Tatsachen aus seinem Bewußtsein. Er nimmt ohne weiteres an, daß die uns umgebende Gesellschaftsordnung mit allen ihren Kennzeichen: mit ihrer Klassenspaltung, ihrem Lohnsystem, ihrem Großeigentum usw. usw. sich durch rein friedliche Beziehungen zwischen rechtsgleichen Freien, ohne jeden Eingriff „außerökonomischer Gewalt", kraft eines „Naturgesetzes" der Ö k o n o m i k herausgebildet habe; und wenn er überhaupt daran denkt, daß außerökonomische Gewalt doch in der geschichtlichen Vergangenheit eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat, so nimmt er wieder ohne weiteres und ohne den Schatten eines Beweises an, daß sie zu der Struktur der heutigen Gesellschaft auch nicht das mindeste beigetragen habe. Das ist das „Gesetz der ursprünglichen Akkumulation", das ich als die „Wurzel aller soziologischen Ü b e l " bezeichnet habe.
Lohntheorie und Sozialpolitik
351
Diese Lehre ist schon prima facie eine unerhörte Zumutung an unsere Gläubigkeit. Sie wird aber außerdem durch jeden Blick auf die Institutionen der kapitalistischen Gesellschaft ad absurdum geführt. Wenn wir etwas mit Sicherheit wissen, so wissen wir, daß die Besetzung des Bodens aller Kulturvölker sich nicht nach dem Rousseauschen
Schema, sondern auf dem Wege der Eroberung
vollzogen hat. Überall unterwirft ein Volk das andere, nimmt sein Land für sich in Anspruch, d. h. verteilt es unter sich in großen Gütern und schafft sich die für dessen Bewirtschaftung erforderliche Arbeitskraft durch Herabdrückung der Unterworfenen in Hörigkeit oder Sklaverei. Es setzt sich als „Adel" über die Unterworfenen, und Adel (Odal) heißt gar nichts anderes als Großgrundeigentum! In Deutschland ζ. B. gab es schon zu einer Zeit kein frei zugängliches Land mehr, als die Bevölkerung noch nicht den fünften Teil der heutigen erreicht hatte; und als Ende des 14. Jahrhunderts die Magnaten des Slawenlandes das Land gegen die bis dahin kraftvoll geförderte deutsche Bauerneinwanderung sperrten, war das weite Gebiet erst überaus dünn besiedelt. V o n den beiden Institutionen, die jene primäre Feudaleroberung und Staatsbildung geschaffen hat, der Unfreiheit und dem Großgrundeigentum, haben die bürgerlichen Revolutionen in England, Frankreich, Deutschland usw. nur die erste beseitigt, die zweite aber stehenlassen: die
Sperrung
des Bodens durch eine Minorität gegen die Majorität, die eben dadurch in eine Klasse „freier Arbeiter" in Marxens Sinne verwandelt worden ist. Nicht weil das Land von Natur aus zu eng ist, sondern weil es durch Rechtstitel gesperrt ist, auch solches Land, das zur Zeit noch unterhalb der Rentabilitätsgrenze des Anbaus liegt: darum kann nicht „jeder Mann ein Stück Boden in sein individuelles Privateigentum und Produktionsmittel verwandeln", darum sind Geld und Produktionsmittel in dieser Gesellschaft Kapital, d. h. werfen Mehrwert ab; darum gibt es Lohnarbeit und Arbeitslohn. D a ß diese Auffassung richtig ist, läßt sich durch eine Fülle von Tatsachen erhärten, die freilich die landläufige Theorie bisher niemals berücksichtigt hat. Zunächst ist vollkommen sicher, daß der agrarische Kapitalismus überall zeitlich dem industriellen weit vorangeht, wenn man unter Kapitalismus korrekt die Produktion von Waren für einen geldwirtschaftlich entfalteten Markt versteht. Das hat Knapp
als einer der ersten festgestellt: er
bezeichnet den ostelbischen Rittergutsbetrieb als „den ersten kapitalistischen Betrieb der Neuzeit". Das gleiche hat Brodnitz
neuerdings in seiner „englischen Wirtschaftsgeschichte" mit einer Fülle von
Tatsachen erhärtet. Und es gilt auch für den Kapitalismus der antiken Sklavenwirtschaft. Zweitens läßt sich von hier aus die Herkunft der industriellen Reservearmee ohne weiteres aufzeigen. Die Theorie, die, „industriezentrisch", bisher auf die städtischen Verhältnisse geradezu hypnotisiert war, ist an diesem Problem gescheitert. Das Uberangebot auf den städtischen Arbeitsmärkten entsteht nicht, wie Malthus und nach ihm die meisten Bürgerlichen annahmen, durch eine zu fruchtbare Prokreation des Proletariats - und nicht, wie die meisten Sozialisten und mit ihnen Marx annahmen, durch „Freisetzung der Arbeiter durch die Maschine". Beide Theorien werden widerlegt durch die ungeheure Massentatsache der Verstadtlichung der Bevölkerung. Diese Tatsache ist mit beiden Theorien unvereinbar. Wäre das Bevölkerungsgesetz richtig, so müßte die Relativzahl der städtischen Bevölkerung sinken, weil der durchschnittliche Bauer nach Befriedigung seines eigenen Nahrungsbedarfes für die Städter nur immer weniger übrigbehielte. Und die sozialistische Theorie von der Freisetzung widerlegt sich ebenso einfach aus den Ziffern der Statistik: überall ist die Arbeiterbevölkerung ungeheuer viel stärker gewachsen als die Gesamtbevölkerung. Von einer Freisetzung im großen ganzen der Industrie kann also nicht die Rede sein, und die ganze Erscheinung ist überhaupt nicht anders zu verstehen als aus einer Massenzuwanderung ländlicher Proletarier in die Industriebezirke. Und das wird denn auch durch die Tatsachen in großartiger Weise bestätigt. In allen industriell entfalteten Ländern findet eine geradezu ungeheure Wanderbewegung in die Industriebezirke hinein, vom Lande fort, statt, und zwar sind es fast durchaus die Bezirke
des Großgrundbesitzes,
von
denen die Massen abströmen; von hier fließt nicht nur der gesamte Nachwuchs, sondern sogar noch
352
Enter Teil: Nationalökonomie
und Wirtschaftspolitik
ein Teil des Grundstammes ab, so daß diese an sich schon relativ sehr menschenarmen Gebiete absolut noch an Menschen einbüßen zu einer Zeit, wo die Gesamtbevölkerung enorm wächst. Demgegenüber ist die Wanderbewegung von den Bezirken des Mittel- und Kleinbauerntums her sehr gering, und ihre Bevölkerung verdichtet sich regelmäßig. Diese Zusammenhänge hat im Jahre 1893 bereits von der Goltz empirisch festgestellt: die Wanderung erfolgt proportional dem Großgrundeigentum. Seitdem hat sich die Erscheinung, wie Max Weber einmal sagte, mit einem „seltenen statistischen Eigensinn" in allen Ländern des Großgrundeigentums durchgesetzt. Mir selbst ist es schon vor fast 30 Jahren geglückt, diese Zusammenhänge auch deduktiv aufzuhellen in meinem „Gesetz des einseitig sinkenden Drucks": aber man wird in den theoretischen Lehrbüchern auch heute noch vergeblich auch nur nach einer Erwähnung dieser, wir wiederholen es, geradezu ungeheuren Tatsachenmassen fahnden. Sie scheinen für den landläufigen Theoretiker, ganz gleichgültig, ob bürgerlich oder marxistisch, einfach nicht zu existieren. Man serviert uns immer noch Ricardo im Original oder Ricardo im Marxschen Abzüge. Und Statistik und Wirtschaftsgeschichte existieren so wenig für den landläufigen Theoretiker, wie die politische Geschichte für ihn existiert. Drittens läßt sich die Lohnbewegung des Frühkapitalismus mit seinen grauenhaften Erscheinungen nur von hier aus verstehen. Uberall ist der Landarbeiter an die Scholle gefesselt, nicht nur in Deutschland und den Slawenstaaten, sondern auch in Großbritannien, wo die Zunftgesetze seinem Einzug in die Stadt und die Kirchspielgesetze seinem Abzug vom Lande sehr schwer überwindliche Hindernisse entgegenstellen. Überall ist er daher, ohne ausweichen zu können, dem Druck des Grundherren wehrlos ausgesetzt und wird daher überall bis auf und unter das physiologische Existenzminimum gedrückt. Das wissen wir nicht nur von Polen und Rußland, sondern auch aus vielen Bezirken Deutschlands (Ernst Moritz Arndt über Rügen), aus dem vorrevolutionären Frankreich, aus Rumänien, Italien und schließlich Großbritannien. Hier hat es auch Marx gesehen. Er erklärt ζ. B. an einer Stelle, daß alle Bemühungen der wachsenden Großstädte, die grauenhaften Wohnungsverhältnisse zu bessern, scheitern müssen. Heute bauen sie straßenweise neue Häuser und „morgen wandert ein Schwärm zerlumpter südenglischer Landarbeiter oder verhungerter Irländer ein". Aber Marx konnte aus den ihm bekannten Tatsachen die rechten Schlüsse nicht ziehen, weil er, gleichfalls völlig industriezentrisch eingestellt, die Landwirtschaft immer nur als einen beliebigen Zweig der Gesamtindustrie auffaßte. Er glaubte, das landwirtschaftliche Kapital setze den Landarbeiter frei, während jeder Blick auf die Tatsachen zeigt, daß nicht die ßem'efaverhältnisse, sondern die 5e«'fzverhältnisse über das Maß der Wanderung entscheiden. Bis der junge Kapitalismus ihnen die Freizügigkeit erkämpfte, führten diese bis ins Tiefste verelendeten Massen des Landproletariats ein Leben, das den Augen der Städter und der rein städtisch eingestellten Ökonomisten verborgen war. Dann aber entleerte sich dieses seit Jahrhunderten aufgestaute Reservoir menschlichen Elends in ungeheurer Überschwemmung in die Industriebezirke und riß hier die Löhne in die Tiefe, während es gleichzeitig die Mieten und die Preise der Lebensmittel in die Höhe trieb. Mit diesen Betrachtungen haben wir nicht nur das primäre Problem nach der Ursache des Lohnsystems gelöst, sondern ohne weiteres auch die Frage nach der Höhe des Lohnes innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft beantwortet. Der städtische Lohn ist eine Funktion chen Grenzarbeiterlohnes.
des
landwirtschaftli-
Ist dieser Grenzarbeiter ein selbständiger Bauer auf ausreichendem unver-
schuldetem Boden, so kann auch das Einkommen des städtischen Ungelernten auf die Dauer nicht niedriger sein als dieses Bauerneinkommen; ist aber der Grenzarbeiter ein Landproletarier, so ist sein Lohn das Normalnullniveau aller städtischen Löhne, über dem sich die Löhne der höheren Schichten aufbauen, „entsprechend der Seltenheit der Vorbedingungen". Von hier aus löst sich nun auch das letzte Rätsel der Lohntheorie. Die Tatsache besteht, daß die städtischen Arbeitslöhne, nominal wie real, lange Zeit hindurch eine recht kräftig steigende Ten-
Lohntbeorie und Sozialpolitik
353
denz gezeigt haben, trotzdem normalerweise immer ein Überangebot auf ihrem Markte bestand. Diese Tatsache scheint alle Gesetze der Konkurrenz und damit die Fundamente der gesamten ökonomischen Theorie zu erschüttern. V o m industriezentrischen Standpunkte aus ist eine Erklärung unmöglich. Von unserem geozentrischen Standpunkt aus aber ist sie überaus einfach. Durch die Wanderung vom Lande wird die Landarbeiterschaft überaus stark verdünnt; nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage muß ihr Lohn steigen, zumal die Erscheinung zusammenfällt mit einer weitgehenden Kapitalisierung und Intensivierung des Großlandwirtschaftsbetriebes, der auf gleicher Fläche mehr Arbeitskräfte braucht. So steigt das Normalnullniveau und mit
ihm
der städtische Lohn, trotz Uberangebot. Oder von der Stadt her gesehen: die Industrie, die immer viel mehr Arbeiter braucht, als ihr der Nachwuchs der eigenen Bevölkerung stellen kann, muß den geltenden Landarbeiterlohn immer wieder überbieten, um die nötigen Kräfte zu gewinnen, und der Großgrundbesitzer muß immer wieder folgen, um nicht auch seine letzten Arbeiter zu verlieren. Hiermit haben wir eine Lohntheorie gewonnen, die mit politischer Geschichte, Wirtschaftsgeschichte und Statistik in voller Ubereinstimmung steht und die sich außerdem auch noch auf das eleganteste deduktiv ableiten läßt. Man wird sie widerlegen müssen (wozu ich seit 30 Jahren vergeblich bürgerliche wie sozialistische Wissenschaft provoziere) oder wird sie akzeptieren müssen. Wenn sie richtig ist - und sie scheint mir völlig unwiderlegbar - , so ergibt sich daraus eine ganz andere Einstellung zu den Aufgaben der Sozialpolitik im allgemeinen und der Lohn- und Gewerkschaftspolitik im besondern. Wenn die Gewerkschaften in ihrer eigenen Geschichte besser Bescheid wüßten, als es leider der Fall ist, so würden sie schon längst ihren Weg gefunden haben. Schon Hasbach
berichtet in seinem
berühmten Buche über die englischen Landarbeiter, daß einige englische Gewerkschaftsführer die Erkenntnis von den wahren Zusammenhängen bereits besaßen: „Solange die Zuwanderung vom Lande andauert, wird es sehr schwer, ja sogar beinahe unmöglich sein, die ungelernten Arbeiter gewerkschaftlich zu organisieren", äußerte sich einer der englischen Führer. Die städtische Arbeiterschaft versucht vergeblich das Münchhausensche Kunststück, sich an ihrem eigenen Zopfe aus dem Sumpfe zu ziehen. Sie braucht außerhalb der Städte einen festen Punkt des Anhalts. Die Aufgabe ist, die unvollendete bürgerliche Revolution zu vollenden, das geraubte Land in die Hände des Volkes zurückzunehmen. Siedlungspolitik
ist die vornehmste Aufgabe aller
Sozialpolitik. Wenn durch schnelle Verdichtung der bäuerlichen Bevölkerung auf dem Lande die Nachfrage nach städtischen Produkten, und das heißt natürlich: nach städtischen Arbeitern steigt, während zugleich durch kräftige Verminderung der Zuwanderung das Angebot auf dem städtischen Arbeitsmarkte sinkt, dann muß der Lohn unbedingt steigen. Und gleichzeitig wird das Monopol des städtischen Bodens geschwächt; die Mieten der Wohnungen und der Verkaufsläden und mit ihnen die Preise der Bedarfsartikel fallen, und der gestiegene Nominallohn drückt sich in einem noch stärker gestiegenen Reallohn aus. Und zwar wird auf diese Weise nicht bloß eine einzelne Schicht der Arbeiterschaft, sondern diese im ganzen kräftig gehoben. Und hier erblicke ich die große Aufgabe der Gewerkschaften, übrigens auch der Arbeitergenossenschaften. Hier können sie sich als die kampfstarke Vortruppe der Arbeiterschaft und der Volksfreiheit überhaupt bewähren. Sie können Unendliches leisten, um das Siedlungswerk zu fördern. Bisher hat die Arbeiterschaft im ganzen durch ihre Sparguthaben bei den Sparkassen, haben Gewerkschaften und Genossenschaften durch ihre Bankguthaben lächerlicherweise immer nur ihren Todfeind, den Kapitalismus, gefördert; es waren Arbeitergelder, aus denen die „goldenen Fesseln" der Hypotheken immer enger geschmiedet wurden, Arbeitergelder, mit denen die Wechsel der Industrie und des Handels finanziert wurden. Wenn sie diese im einzelnen geringen, in ihrer Summe aber ungeheuren Mittel an der rechten Stelle für die Emanzipation ihrer eigenen Klasse einsetzen, so können sie das Gewaltigste leisten.
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Erster Teil: Nationalökonomie
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Wirtschaftspolitik
Und noch eins: Die Führer der Gewerkschaft sind ja in der Regel auch die Führer der politischen Partei. Sollten nicht wenigstens Deutschlands Politiker endlich den einen einzigen Satz verstehen, den die Geschichte lehrt, den sie auf jeder ihrer mit Blut geschriebenen Seiten lehrt: Wer das Land bat, hat die Machtf Hat nicht die junge deutsche Republik mit den Eigentümern des Landes um ihre bare Existenz zu kämpfen: mit den Bergbesitzern im Westen, den Ackerbesitzern im Osten? Politik und Ökonomik zeigen das gleiche Ziel. Und auch die Ethik zeigt es. Es gilt, uraltes Unrecht auszugleichen, die letzten Reste geschichtlicher Gewalt aus dem Körper der Kulturvölker auszuschneiden. Und so ist hier das letzte Kriterium der Wahrheit erreicht, die nach Proudhons großartigem Wort erst dann entdeckt ist, wenn „science et conscience", wenn Wissen und Gewissen übereinstimmen.
Die ökonomische Theorie des Wertes [1931]1
Inhalt: 1. Die Methode der Klassiker und ihre Gegner und vermeintlichen Anhänger . . 2. Die Prämissen der klassischen Schule: Thesis, Antithesis, Synthesis. Bourgeoisökonomik und Saint-Simonismus 3. Der Wert der Güter, insbesondere der „beliebig produzierbaren Güter" . . . 4. Der „Wert" der Arbeit und der Machtpositionen
S. 356 S. 361 S. 366 S. 370
Diese Veranstaltung, zu der die besten Namen der ökonomischen Theorie Deutschlands aufgeboten worden sind, verfolgt, so will mir scheinen, einen doppelten Zweck. Erstens soll die geradezu verzweifelte Lage der Theorie unserer Zeit zum klaren Bewußtsein der Fachmänner gebracht werden. Daß sie besteht, wird kaum ein Sachkenner bezweifeln. Ihre Vertreter finden sich in allen denkbaren politischen und wirtschaftlichen Lagern, rechtfertigen alle denkbaren politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen mit einander schnurstracks widersprechenden theoretischen Argumenten, und so ist unsere Wissenschaft heute um jeden Kredit gekommen; sie sollte die Führerin sein und ist zur verachteten Magd geworden. Wer noch daran zweifeln sollte, den wird diese Veranstaltung überzeugen; denn eine Disziplin, die mehr als ein Dutzend verschiedener Theorien über ihr zentrales Problem - und das ist trotz allem das Wertproblem! - um den Sieg kämpfen sehen muß, ist noch keine Wissenschaft in dem ehrenvollen Sinne dieses Wortes. Zweitens aber besteht doch wohl die Hoffnung, daß aus der hier vorgenommenen Konfrontation die Klärung hervorgehen könnte. Denn wir sind ja doch schließlich Wissenschaftler und nicht Künstler; für uns entscheidet - oder sollte doch wenigstens entscheiden - nicht der persönliche Geschmack ästhetisierender Schiedsrichter, wie etwa bei dem Preisausschreiben für den Palast des Völkerbundes, sondern allein die Kraft der Argumente. Wenn aber eine Einigung überhaupt möglich sein soll, so müssen wir uns zuvor über die Methode einigen.
1
[Erstmals erschienen in: Probleme der Wertlehre, hrsg. von Ludwig Mies und Arthur Spiethoff, München 1931, S. 147-175; ebenso in: Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 183, Nr. 1 (1931); A.d.R.]
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1. Die Methode der Klassiker und ihre Gegner und vermeintlichen Anhänger Die Klassiker bedienten sich der einzigen Methode, mit der theoretische Ökonomik betrieben werden kann, der einzigen infolgedessen, mit der sie von jeher wirklich betrieben worden ist. Diese Methode ist wenigstens der deutschen Fachwissenschaft in einem geradezu schauerlichen Maße verlorengegangen. Der Terror, den die historische Schule fast ein halbes Jahrhundert ausüben durfte, hat sie so gut wie ausgerottet. Ich will hier nicht über Dinge polemisieren, die nicht streng zum Thema gehören, und nenne darum keine Namen; aber ich habe zeigen können, daß selbst die elementarsten Begriffe heute von fast allen Vertretern der Theorie nicht mehr richtig aufgefaßt werden. So ζ. B. wird der Begriff der „beliebig produzierbaren Güter" auch von sehr angesehenen Verfassern gröblich ins Technische hinein mißverstanden, während er gar nichts anderes bedeutet als solche Güter, in deren Erzeugung und Handel kein Monopol eingegriffen hat. Und es gibt fast niemanden mehr, der einen so grundlegenden Autor wie Ricardo richtig auszulegen wüßte. Und doch kann nur diese Methode, wenn sie richtig angewendet wird, zum Ziele der Wahrheit und damit zur Einigung und zur Heilung dieser schauerlichen „Krisis der theoretischen Ökonomik" führen. Es gibt, wir wiederholen es, keine andere. Da aber diese Methode der Klassiker heute, wie gesagt, leider ganz und gar verlorengegangen ist, so muß ich sie in ihren Hauptzügen darstellen. Das erste, was hier festzustellen ist, ist, daß die Meister keinen einzigen Satz aussprachen, ohne ihn zu begründen. Sie wußten noch, daß die bloße „Meinung", die bloße „Ansicht" auch des angesehensten Fachmannes bestenfalls als vorläufige Arbeitshypothese hingestellt werden darf; erst der methodische Beweis darf den Anspruch erheben, zu gelten, wenn er nicht, und solange er nicht, mit den Mitteln der Logik widerlegt worden ist. Bis dahin ist er zwingend, verpflichtet er jeden Forscher, der ihn nicht widerlegen kann, ihn anzunehmen. Widerlegt ist ein Beweis erstens, wenn in den Prämissen oder dem Schlußverfahren Fehler nachgewiesen sind, und zweitens, wenn sich in der „quaestio facti", der Prüfung an den Tatsachen, die der Deduktion zu folgen hat, auch nur eine einzige Tatsache findet, die dem behaupteten Satze widerspricht. Dann ist es die Aufgabe, den logischen Fehler aufzufinden, der sich in die Deduktion eingeschlichen haben muß; denn das „Selbstvertrauen der Vernunft" fordert, als die einzige Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt, daß das Denken zu Ergebnissen führe, die mit der Wirklichkeit völlig übereinstimmen. Die Klassiker hielten noch nicht, wie Thünen es einmal meisterhaft bezeichnet, „in einer Art von Begriffsverwechslung die Tatsachen für den Grund der Tatsachen, das zu Erklärende für die Erklärung". Und zwar deduzieren sie alle Erscheinungen durchaus aus einem einzigen Prinzip. Das ist das zweite, was wir hier in bezug auf ihre Methode festzustellen haben. Dieses Prinzip ist überaus einfach. Das ist in den letzten Dezennien vielfach verkannt worden: gerade wir Deutschen haben in dem berechtigten Bestreben, die Ökonomik psychologisch zu unterbauen, hier etwas über das Ziel hinausgeschossen, indem wir ein Prinzip suchten - und fanden -, das beides, die vorwirtschaftliche Überlegung (das Gebiet der ökonomischen Psychologie) und die gesellschaftswirtschaftliche Mechanik, zugleich beherrscht: das Prinzip des kleinsten Mittels. Das ist gut und richtig gewesen, aber es hat uns in bezug auf die Marktwirtschaft in unnütze Debatten und Schwierigkeiten hineingebracht. Das leitende Prinzip der Klassiker ist eine einfache und unwidersprechlich richtige Ableitung aus diesem allgemeinen Prinzip: sie setzen nichts voraus, als daß jeder geistesgesunde Mensch das Bestreben hat, seine Waren, Dienst oder Gut, auf dem besten Markte, d. h. zum besten erreichbaren Preise zu verkaufen, und seinen Bedarf an Gütern und Diensten auf dem günstigsten Markte einzukaufen 1
U m unnütze Debatten zu verhüten: der „beste" Preis ist nicht notwendig der momentan höchste. Häufig wählt der Produzent denjenigen Markt, auf dem er auf die Dauer den höchsten Preis erwartet, und zwar ausgedrückt nicht in Geld, sondern in der Menge der dafür erwerbbaren Gegenwaren.
Die ökonomische
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Eine derartig orientierte Handlung ist eine wirtschaftliche Handlung. Der Inbegriff dieser Handlungen bildet den Gegenstand der Ökonomik. Als m'cÄf-wirtschaftlich gelten alle Handlungen, die geltende Gesetze und sittliche Anschauungen der Zeit und Gesellschaft verletzen, also Verbrechen, und vor allem monopolistische Ausbeutung, also Wucher und Erpressung; als «rc-wirtschaftlich alle Handlungen, die jenes oberste Prinzip verletzen. Durchaus nicht wird dabei vorausgesetzt, daß jeder Mensch es versteht, den günstigsten Markt für Ver- und Einkauf auch wirklich zu finden; es genügt vollkommen, daß er das Bestreben danach hat und ihm in der Regel auch, abgesehen von einzelnen Handlungen der Leidenschaft und dergleichen, folgt. Wer dieses Bestreben besser und regelmäßiger durchzusetzen vermag, ist höher qualifiziert, geradeso wie ein Stärkerer oder Schnellerer: mit dieser Korrektur kommt die Klassik vollkommen aus. Drittens: die klassische Methode ist, wie Schumpeter einmal mit Recht sagt, „essentiell statisch". Das folgt aus ihrer Grundauffassung von dem Mechanismus der Marktwirtschaft, den ich den „Zusammenhang der Märkte" genannt habe, ein Zusammenhang, der übrigens evident ist, und den die Klassik der kaufmännischen Praxis entnommen hat: kraft jenes Prinzips strebt jedermann denjenigen Märkten zu, wo er am vorteilhaftesten kauft und verkauft, d. h. wo er an seiner eigenen Ware den höchsten Gewinn erzielt und die von ihm bedurfte Ware am günstigsten erwirbt; unter sonst gleichen Umständen, namentlich also bei gleichen Transportkosten, strebt er also dahin, für seine Ware den höchsten Geldpreis zu erhalten und für seinen Bedarf den niedrigsten Geldpreis zu bezahlen. Dieses Bestreben führt zunächst dazu, daß auf dem gleichen Markte für die gleiche Ware der gleiche Preis bezahlt wird; und es führt im Zusammenhang der Märkte, weil jeder den günstigsten Markt aufsucht, dahin, daß Märkte mit günstigen Preisen stärker beschickt und besucht werden, so daß das Angebot im Verhältnis zur Nachfrage steigt, und der Preis sinkt; während umgekehrt sich auf Märkten mit ungünstigen Preisen das Angebot zurückhält und deshalb der Preis steigt. Derart „tendiert" jeder einzelne Warenpreis dahin, sich auf seinen „Wert" einzustellen, auf seinen „natürlichen Tauschwert" (natural value), auf das, was die neuere Theoretik seit Mill, der die Lehre seines Meisters Auguste Comte ökonomisierte, als den „statischen Preis"bezeichnet. Nur für diesen statischen Preis interessiert sich die Klassik; er allein ist ihr die Grundlage aller ihrer weiteren Deduktionen, unter denen die allerwichtigste, fast allein wichtige, die Ableitung der Gesetze der Distribution ist: die Aufgabe ist, den Lohn als den Wert der Arbeitsleistung (des Dienstes), die Grundrente als den Wert der Bodennutzung, den Kapitalprofit als den Wert der Kapitalnutzung zu deduzieren. Dagegen sieht sie methodisch von allen Schwankungen im Verhältnis von Angebot und Nachfrage ab; sie untersucht ihr Erkenntnisobjekt, die Gesellschaftswirtschaft der Wirtschaftsgesellschaft, unter der methodischen Fiktion, jene Tendenz habe sich verwirklicht, die „Statik" sei erreicht und bleibe während der Dauer der Untersuchung erhalten. Schon daraus geht hervor, wie falsch die Grenznutzenschule die Klassik verstanden hat. Denn dasjenige, was sie den „Wert" zu nennen beliebt, ist niemals der statische Preis „auf die Dauer und im Durchschnitt", sondern immer irgendein „laufender Preis". Es kommt nun alles darauf an, das Problem der Statik richtig zu verstehen und zu instruieren. Die Klassiker, zum mindesten die beiden großen deduktiven Genies unter ihnen, Ricardo und Thünen, haben die statische Methode mit geradezu nachtwandlerischer Sicherheit sozusagen instinktiv gehandhabt, hatten aber eben darum keine Veranlassung, darüber nachzudenken und sie schriftlich festzulegen. Die folgenden Generationen haben jene instinktive Sicherheit nicht mehr besessen und haben fast regelmäßig die Stellung des Problems bereits für seine Lösung gehalten. Das Problem, richtig gestellt, lautet folgendermaßen: Offenbar tendiert die Konkurrenz im Zusammenhang der Märkte dahin, einen gewissen Gleichgewichtszustand der Gesellschaftswirtschaft herzustellen: wie ist er beschaffen? Man kann diesen tendenziellen Zustand eines Gleichgewichts auf die verschiedenste Weise benennen und hat ihn in der Tat auf die verschiedenste Weise benannt. Man kann sagen: es ist der
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Ruhezustand der Konkurrenz; oder: es ist der Zustand, wo Angebot und Nachfrage einander „die Waage halten"; oder: es ist der Zustand, wo kein Mitglied der Gesellschaft einen Anlaß hat, seine Produktion und Konsumtion zu ändern; oder: es ist der Zustand, wo alle Waren auf ihrem natürlichen Preise, also als Gesamtheit betrachtet, in ihrer natürlichen oder statischen Preisrelation stehen. Wie immer aber man diesen Gleichgewichtszustand benenne: man muß sich darüber klar sein, daß damit das Problem eben erst gestellt, aber noch nicht im mindesten gelöst ist. Man kommt der Lösung auch kaum dadurch näher, daß man, wie es fast immer geschieht, die selbstverständliche Voraussetzung macht, daß sich die äußeren Daten des Problems während der Beobachtung nicht ändern. Das ist natürlich auszuschließen: es darf die Bevölkerung sich an Zahl und Zusammensetzung nicht ändern, es dürfen keine neuen Erfindungen gemacht werden, es müssen die Ernten gleichbleiben usw. Das sind nur die selbstverständlichen Bedingungen der möglichen Lösung, es ist aber noch entfernt nicht die Lösung selbst. Die Lösung ist die einer analytischen Aufgabe aus der Mathematik: Gegeben ist aus einem System zusammenhängender, voneinander abhängiger Funktionen eine·, wie müssen die übrigen Funktionen sich verhalten? Auf unseren Fall angewendet: Als gegeben wird angenommen jener irgendwie bezeichnete Gleichgewichtszustand der Gesellschaftswirtschaft: wie verhalten sich ihre übrigen Funktionen? Oder umgekehrt: wie müssen sich die Funktionen der Gesellschaftswirtschaft verhalten, damit jener Gleichgewichtszustand möglich sei? Schumpeter hat einmal gezeigt, daß es sich hier um eines der sogenannten Maximumprobleme handelt, wo gewisse Größen ihr Maximum und dafür andere das Minimum Null erreichen. Leider hat ihn seine grenznutzlerische Einstellung verhindert, das Problem richtig zu instruieren und aufzulösen. Wir haben also, um es zu wiederholen, immer wieder zu fragen: wie muß sich diese oder jene Größe einstellen, um die Voraussetzung zu ermöglichen, daß sich die Konkurrenz in ihrem Ruhezustande befindet? Oder, anders ausgedrückt: wir haben immer wieder festzustellen, daß diese oder diese Größe sich auf gerade diesen Stand, auf gerade dieses Verhältnis zu anderen Größen einstellen muß: „Anders kann die Konkurrenz nicht zur Ruhe kommen." Erst der Inbegriff der auf diese Weise errechneten Größen und Größenverhältnisse ergibt die Lösung des Problems der Statik und damit die Möglichkeit der sicheren methodischen Weiterarbeit auf der gewonnenen Grundlage. Unter Anwendung dieser Methode ergeben sich eine ganze Anzahl von Bestimmungen, von denen einige hier angeführt werden mögen: in der Statik sind alle Löhne (Arbeitseinkommen) gleich qualifizierter Kräfte, zwar nicht dem Nominalbetrage nach, wohl aber dem Realbetrage nach gleich hoch, und die Löhne stufen sich exakt nach der relativen Seltenheit der Qualifikation. - Ferner sind die Profite von Kapitalien gleicher Gunst der Anlage ausgeglichen, so daß auf gleiches Kapital der gleiche Profit entfällt; und die Profite stufen sich ab exakt nach der Ungunst der Anlage. Die Grundrente des „Grenzlandwirts" ist exakt gleich Null, und die Grundrenteneinkommen der Eigentümer von „Boden höherer Rentierung" sind exakt gleich der Ersparnis durch geringere Erzeugungskosten je Einheit (Bodenbonität) oder durch geringere Transportkosten zum Markte (Gunst der Lage). Und andere Bestimmungen dieser Art, die das Rückgrat der Theorie darstellen, wie etwa die bekannte Eingrenzung der Monopolgewinne aus Tauschmonopolen durch die Konkurrenz von nichtmonopolisierten Ersatzgütern und die Einstellung von konkurrenzfreien Monopolgütern auf das Optimum des Gewinnes; und die Beschränkung der Monopolgewinne aus privatrechtlich geschaffenen, durch Preisvereinbarung entstandenen Monopolen durch die Gefahr der Herbeiführung der Konkurrenz durch Outsiders. Usw. usw.! Für die Lösung des Wertproblems brauchen wir zwei solcher Funktionsbestimmungen, die beide bereits von den Klassikern gemacht worden sind. Die erste von Ricardo: in der Statik enthält der Preis aller „beliebig produzierbaren Waren", d. h. aller Waren, die unter voller freier Konkurrenz, ohne Eingriff eines Monopols, erzeugt und zu Markte gebracht werden, kein Atom Zuschlag für höhere angeborene Qualifikation. Denn die Konkurrenz kann erst dann zur Ruhe kommen, wenn
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den höher Qualifizierten alle Vorteile abgejagt sind, die sie nur der Konjunktur verdanken, während die Vorteile, die sie ihrer höheren Qualifikation verdanken, ihnen nicht abgejagt werden können. Die Dinge liegen hier genau ebenso wie bei der nahe verwandten Grundrente und den Gewinnen aus den von mir so genannten „Produktionsmonopolen" (von Wiesers „Monopoloiden") überhaupt. Wo höher Qualifizierte mit offenbar überdurchschnittlichem Gewinne irgendeine Ware zu Markte bringen, da greift die Konkurrenz der durchschnittlich Qualifizierten sofort ein und währt so lange, bis der Preis auf den Satz herabgezogen ist, der ihnen gerade den durchschnittlichen Gewinn bringt. Die zweite, unendlich viel wichtigere Funktionsbestimmung haben schon Adam Smith und Thünen gemacht: In der Statik sind alle Einkommen so weit ausgeglichen, wie die Konkurrenz sie gegen ihre beiden Hindernisse auszugleichen imstande ist. Diese Hindernisse sind die Verschiedenheit der Qualifikation und das Monopol. Keine Konkurrenz der geringer Qualifizierten kann den Vorsprung ausgleichen, den die überlegene Qualifikation besitzt, die gleiche Ware mit geringeren Produktionskosten herzustellen; und die Konkurrenz kann die Vorteile aus einem Monopol nicht ausgleichen aus dem einfachen Grunde, weil das Monopol seinem Begriff nach darin besteht, daß bei der Produktion irgendeiner Ware die Konkurrenz eingeschränkt, im Grenzfalle aufgehoben ist. Aber das Einkommen aller durchschnittlich qualifizierten Produzenten von beliebig produzierbaren Waren ist in der Statik gleich groß; eher kann die Konkurrenz nicht zur Ruhe gelangen. Das hat Adam Smith klar ausgesprochen in der ebenso bekannten wie wenig verstandenen Stelle, wo er den Mechanismus des „Zusammenhanges aller Märkte" schildert: die Konkurrenz wirkt so lange, „bis alle Vorteile wieder auf einer Linie sind". Und Thünen hat den Gleichgewichtszustand gar exakt dadurch bestimmt, daß alle Einkommen gleich sind, selbstverständlich, soweit nicht jene beiden Hindernisse dagegen wirken. 1 Solange nämlich noch einem durchschnittlich Qualifizierten sein Produktionszweig überdurchschnittliches Einkommen abwirft, muß die Konkurrenz versuchen, es ihm abzujagen. Das ist, wie mir scheint, evident. Das ist die klassische Methode, und wir wiederholen: es ist die einzige, mit der die Ökonomik betrieben werden kann und jemals betrieben worden ist. Es ist denn auch nur ein einziges Mal, und zwar von den Begründern der „Historischen Schuleder Versuch gemacht worden, an ihre Stelle eine andere zu setzen. Dieser Versuch ist anerkanntermaßen gescheitert. Ja, man kann sagen, daß er eigentlich niemals ernstlich gemacht worden ist. Es ist bei bloßen Programmen geblieben, und selbst die Vorfechter dieser Schule, ein Hildebrandt, ein Knies, ein Schmoller, haben sich in ihren theoretischen Arbeiten oder in den theoretischen Teilen ihrer Arbeiten nicht nur dieser Methode, sondern sogar ganz ohne Skrupel gewisser Ergebnisse der klassischen und leider auch der nachklassischen Schule bedient, um ihren historischen Stoff zu erklären, d. h. aus Gesetzen abzuleiten oder auf Gesetze zurückzuführen. Das Malthussche Bevölkerungsgesetz ist geradezu eines der Axiome dieser Richtung. Nicht als Gegner, sondern geradezu als Erneuerer der klassischen Methode trat dagegen die Grenznutzenschule auf den Plan. Diese mächtige Schule, die die historische in der Herrschaft über die deutschen und viele auswärtige Hochschulen abgelöst hat, verdankt ihren großen Erfolg allein dem Umstände, daß sie zu der klassischen Methode und damit zu methodischem Arbeiten, d. h. zu Wissenschaft überhaupt, zurückzuführen schien; daß sie die Aussicht zu bieten schien, endlich wieder zur
1
v. Thünen, D e r isolierte Staat, Jena 1921, S. 529: „Zwischen dem Preise einer W a r e und den Produktionskosten derselben findet das Gleichgewicht stau, wenn das Gewerbe, wodurch diese W a r e hervorgebracht wird, weder Verlust noch ungewöhnlichen G e w i n n bringt. W o r a n - so m u ß man nun fragen - ist aber G e w i n n und Verlust zu ermessen? Ich antworte: wenn durch den Preis der W a r e n die Arbeit von gleicher Qualität in allen Gewerben gleich hoch gelohnt wird, so findet das Gleichgewicht statt, und diese Durchschnittsbelohnung ist der Maßstab f ü r die Produktionskosten wie f ü r G e w i n n und Verlust."
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Herrschaft über den massenhaften, ganz und gar unübersichtlich angewachsenen rohen Wissensstoff zurückzugelangen, den der gar nicht hoch genug einzuschätzende Fleiß der Historiker in geschichtlichen Untersuchungen und Beobachtungen der uns umgebenden Wirtschaftserscheinungen aufgehäuft hatte, - in dem wir aber hilflos zu ersticken Gefahr liefen. Freilich wird unsere Analyse zeigen, daß die Grenznutzler die klassische Methode falsch verstanden und dabei ihr Ziel verfehlen mußten. Die klassische Methode nämlich beschäftigt sich, das ist die letzte Feststellung, die wir hier zu machen haben, nur und ausschließlich mit der Gesellschafts· oder sogar der Marktwirtschaft. Sie interessierte sich nicht und hatte sich von ihrer Problemstellung aus auch gar nicht zu interessieren für dasjenige, was ich vorgeschlagen habe, „die psychologische Grundlegung der Ökonomik" zu nennen. Niemand kann höher als ich die Bedeutung einschätzen, die namentlich Gossens Arbeit für die Vertiefung und die genauere Begründung unserer eigentlich ökonomischen Untersuchungen gehabt hat: aber er selbst hat vollkommen gewußt und klar ausgesprochen, daß er die klassische Doktrin nicht ersetzen, sondern nur unterbauen und nach der psychologischen Seite hin ergänzen wollte. Um den Unterschied und Gegensatz mit einer glücklichen Formel zu bezeichnen, die meines Wissens zuerst Hilferding in seiner großartigen Debatte mit Böhm-Bawerk angewendet hat, so untersucht die Klassik die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Menschen, wie sie durch Sachen vermittelt werden, während Gossen und die Grenznutzler in allen Teilen ihrer Lehre, die haltbar sind, die Beziehungen zwischen Menschen und Sachen untersuchen. Das erste ist Soziologie, das zweite ist Psychologie. Und ich behaupte, daß es keinen Weg von dieser zu jener gibt. Ich brauche mich nicht selbst abzuschreiben: ich habe in meinem Lehrbuch1 die Versuche der angesehensten Vertreter der Schule, von ihrem „Grenzwert" zu dem „Wert" der Klassiker zu gelangen, als vollkommen unhaltbar, als eine einzige Kette der schwersten logischen Fehler nachgewiesen und bisher meines Wissens keinen Widerspruch erfahren, abgesehen von der lächerlichen kleinen Verteidigung, welche Vleugels den Angegriffenen zuteil werden ließ. Um nur die Hauptpunkte noch einmal anzuführen, so ist sicher, daß sie überall den Preis, den sie abzuleiten behaupten, bereits voraussetzen: eine petitio principii ärgster Art; daß diese Erschleichung verdeckt wird durch die Anwendung doppeldeutiger Worte: bei Böhm bedeutet „Schätzen" bald den Vergleich innerseelischer Intensitätsgrößen, bald ein Taxieren in Geld, also in Extensitätsgrößen; bei Zuckerkandl spielt das Wort „Nutzen" die gleiche Rolle: das eine Mal bedeutet es einen höheren Grad innerseelischer Befriedigung, das andere Mal, wie in der Kaufmannssprache, geradezu den Profit. Dann wird überall mit seelischen Intensitätsgrößen skrupellos gerechnet·, ein unverzeihlicher Elementarschnitzer gegen die ersten Regeln aller Mathematik, und die Folge ist ζ. B., daß jeder den „Gesamtgrenznutzen" anders berechnet, der eine durch Addition, der zweite durch Multiplikation, der dritte gar durch Integration. Der „Wert" der Produktivmittel wird durch eine logisch unmögliche Deduktion aus dem der fertigen Erzeugnisse abgeleitet, und zur Ableitung des Geldwertes muß ein weiterer elementarer Schnitzer gemacht werden: die Einführung einer historischen Tatsache, nämlich der früher geltenden Preisrelation, in die reine Deduktion. Ganz abgesehen davon, daß damit das Problem nur verschoben ist: denn wie kam jene zustande?, ist das Verfahren durchaus widerlogisch und verboten; es ist wieder eine petito principii ärgster Art. Denn die Tatsachen sollen ja gerade erklärt werden und haben im Beweis erst wieder in der „quaestio facti" eine Rolle zu spielen, wenn die fertige Erklärung an ihnen geprüft und bestätigt werden soll. Schließlich wird, wieder der gleiche Fehler, in der sogenannten „Theorie der Zurechnung" den Produktivmitteln immer genau derjenige Wert-Teil zugerechnet, den sie erfahrungsgemäß erhalten, so daß ich von der „Un-Zurechnungsfähigkeit" der Doktrin sprechen konnte.
1
[Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, 5. Auflage, in: System der Soziologie, Bd. ΙΠ, Jena 1923/24; A.d.R.] Vgl. auch derselbe, Wert und Kapitalprofit, 3. Auflage, Jena 1926, S. 69ff.: „Die Krisis der Grenznutzentheorie", siehe im vorliegenden Band, S. 2 8 0 - 2 8 6 . ]
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Mich noch weiter über die Grenznutzenschule hier zu verbreiten, muß ich, wie gesagt, ablehnen. Sie folgt nur insoweit der Klassik, als sie überhaupt eine Theorie für erforderlich hält, und als sie ihre Behauptungen zu beweisen versucht: beides sehr beachtenswert und dem notwendigen Kampfe gegen die Theoriefeindschaft der Historiker sehr dienlich, aber ihre Methode ist doch nicht die der Klassiker, die, wie ich behaupte und beweisen zu können glaube, nie etwas anderes untersuchten und zu erklären versuchten als eben die Gesellschaftswirtschaft.
2. Die Prämissen der klassischen Schule: Thesis, Antithesis, Synthesis. Bourgeoisökonomik und Saint-Simonismus Bevor wir unsere Ergebnisse zur Lösung des uns vorliegenden Problems verwenden, bleibt noch ein sehr Wichtiges zu tun, nämlich nun auch die Prämissen der Klassiker zu untersuchen und je nachdem anzunehmen oder abzulehnen. Es wird häufig übersehen - es ist das die Hauptschuld der Historischen Schule - , daß auch die vollkommenste Methode (und die klassische Methode ist in der Tat vollkommen) nicht zum Ziele der Wahrheit führen kann, wenn die Voraussetzungen falsch sind, von denen der Untersuchende ausgeht. Dann muß gerade die vollkommene Methode zu Ergebnissen führen, die mit den Tatsachen nicht übereinstimmen, oder, und das ist so gut wie unvermeidlich: die Ubereinstimmung wird gewaltsam durch logische Trugschlüsse hergestellt. Aber das ist dann nicht die Schuld der Methode, sondern des Forschers: geradesogut könnte man die Arithmetik für einen Rechenfehler verantwortlich machen. Der Grundfehler der klassischen Ökonomik besteht darin, daß sie, um es mit äußerster Schärfe auszudrücken, die Voraussetzung machte, die Geschichte sei nicht gewesen oder habe doch auf die sie umgebende, nennen wir sie die „kapitalistische", Wirtschaft nicht den geringsten Einfluß ausgeübt. Sie stellt, anders ausgedrückt, die Frage nicht methodisch, welche Elemente dieser Ordnung etwa nicht der rein gedachten Konkurrenzwirtschaft immanent, sondern lebenskräftige Residuen aus der voraufgegangenen Ordnung des feudalen Eroberungsstaates sein möchten. Denn das ist unbestreitbar: der „Kapitalismus" ist zunächst einmal nichts anderes als eine historische Epoche. Für jede solche Epoche ohne Ausnahme gilt der Satz, daß sie noch lebenskräftige, fortwirkende Elemente aus der Vorepoche enthält, gegen die sich das neue, zur Herrschaft drängende Element erst kämpfend durchzusetzen hat. Auf unseren Fall angewendet: die Vorepoche war der Feudalismus in seiner letzten Erscheinungsform als Absolutismus. Seine konstituierenden Elemente in allen seinen Unterepochen waren erstens die rechtlich verfassungsmäßige Scheidung der Stände in Vorberechtigte und Vorverpflichtete, und zweitens die Aussperrung der großen Masse von Grundbesitz durch massenhaftes geschlossenes Großgrundeigentum, die Bodensperre. Und das neue Prinzip, das sich gegen diese Feudalreste kämpfend durchzusetzen strebt, aber bisher noch nicht durchgesetzt hat, ist das der freien Konkurrenz. Die Physiokraten und Adam Smith freilich waren sich noch der Tatsache klar bewußt, daß die sie umgebende, von ihnen zu analysierende „kapitalistische" Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ein historisches Gebilde ist. Sie sahen, daß diese Ordnung noch Elemente enthält, die aus außerökonomischer Gewalt, aus der Ordnung des im Absterben begriffenen Feudalstaates in seiner letzten Ausgestaltung als Absolutismus stammten, und sie waren sich darüber klar, daß diese Elemente abgebaut werden mußten, um das System der freien Konkurrenz zu verwirklichen, von dem sie - mit Recht, wie ich behaupte - die Lösung des sozialen Problems, die „Harmonie aller Interessen" erwarteten. Aus diesem Grunde forderten sie die Aufhebung aller Privilegien und Monopole, der
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Zünfte und Korporationen nicht minder wie der Handelskompanien, und waren grundsätzlich für den Freihandel im Innern und nach außen. Aber Quesnay hatte noch nicht die Methode, deren man bedarf, um mit Sicherheit festzustellen, welche Elemente dem rein gedachten System der freien Konkurrenz notwendig angehören und welche nicht. Und so hielt er naiv nicht nur alle Bestandteile der wirtschaftlichen Ordnung für „natürlich", die sich nicht ohne weiteres als Eingriffe des Staates charakterisierten, sondern auch alle wesentlichen Bestandteile der politischen Ordnung seiner Zeit: die Monarchie, den Adel (la classe noble oder disponible) usw. Adam Smith kam um einen Schritt weiter: Er fand grundsätzlich die Methode der Trennung der ökonomischen von den außerökonomischen Elementen. Er deduzierte von der Prämisse einer Gesellschaft der Gleichen und Freien, die sich ohne äußere Störung durch Gewalt nach ihren eigenen immanenten Gesetzen entwickelt und derart das rein gedachte Konkurrenzsystem verwirklicht. Aber er führte die Deduktion nicht konsequent durch. Er sah nicht, daß seine Prämisse selbst nicht nur unhistorisch, sondern geradezu gegenhistorisch ist; daß sich noch niemals eine menschliche Gesellschaft ungestört aus einem Zustande der Gleichheit und Freiheit entwickeln konnte; er wurde das Opfer der „soziologischen Wurzel aller Übel", wie ich es genannt habe, des von ihm zuerst so bezeichneten „Gesetzes der ursprünglichen Akkumulation". Zwar sah er klar, daß vor der „Vollbesetzung des Bodens" weder eine Klasse besitzloser Arbeiter noch infolgedessen irgendein Großeigentum, sei es an Land, sei es an Kapital, entstehen und bestehen könne: aber er glaubte, irrtümlich, wie ich stringent habe nachweisen können, daß jene Vollbesetzung sich „rein ökonomisch" vollzogen habe, indem sich, um mit Rousseau zu sprechen, „eine bäuerliche Hufe neben die andere legte, bis sie, sich sämtlich berührend, das ganze Land bedeckten". Er dachte bei dieser Deduktion nicht an seine eigene Feststellung der Tatsache, daß in den Wirren der Völkerwanderung die Häuptlinge und Fürsten alles Land, auch das noch unbebaute und herrenlose, für sich beanspruchten und derart gegen das Siedlungsbedürfnis der Masse sperrten, so daß also die „Vollbesetzung" sich nicht ökonomisch, sondern außerökonomisch vollzogen hatte. Und von jener falschen Prämisse aus hat er dann durch eine Anzahl leicht aufzudeckender Trugschlüsse alle Elemente der kapitalistischen Ordnung, vor allem die besitzlose Klasse „freier Arbeiter" und das Großeigentum an Kapital und Boden abgeleitet. In der Generation, die ihm folgte, spaltet sich die Ökonomik in zwei Schulen, die die beiden Extreme darstellen. Man könnte sie als die theoretische und die geschichtsphilosophische Schule bezeichnen. Ricardo und Malthus in England, Jean Baptiste Say in Frankreich sind die Verfechter der ersten dieser Schulen. Ihnen ist das Bewußtsein vollkommen verlorengegangen, daß die kapitalistische Ordnung mitten im Strome der Geschichte steht; sie halten, ohne auch nur zu fragen, diese Ordnung für die fertige und vollkommene Ordnung der freien Konkurrenz und häufen auf die Smithschen Trugschlüsse immer neue, um eine notdürftige Übereinstimmung ihrer Deduktionen mit der Wirklichkeit herbeizuführen. Aber Ricardo und neben ihm der Deutsche Johann Heinrich von Thünen arbeiten die von Smith inaugurierte Methode der Deduktion aus dem „Selbstinteresse" bis zur letzten Feinheit aus. Die zweite geschichtsphilosophische Schule wird begründet von Saint-Simon. Er verwirft das „Gesetz der ursprünglichen Akkumulation" als vollkommen unhistorisch und zeigt, daß die Klassen und das Großeigentum in der Tat entstanden sind nicht durch allmähliche Differenzierung aus einer Gesellschaft Freier und Gleicher, aber verschieden Begabter, sondern unzweifelhaft durch Eroberung und Unterwerfung. Mit anderen Worten: er ersetzt jenes Pseudogesetz durch die „Soziologische Staatsidee", wie Ludwig Gumplowicz sie später nannte. Und er zieht aus dieser durch die Weltgeschichte völlig verbürgten neuen Voraussetzung in bezug auf das eigentlich entscheidende Zentralproblem der Ökonomik den einleuchtenden, ja geradezu evidenten Schluß, daß die Distribution des Einkommens selbstverständlich der Distribution des Eigentums entsprechen muß, wie sie durch
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jene außerökonomischen Kräfte, oder, um es mit letzter Deutlichkeit zu bezeichnen, wie sie durch jene nicht dem Konkurrenzsystem immanenten Kräfte gestaltet worden ist. Leider hat Saint-Simon selbst sich mit dieser allerdings einleuchtenden Erkenntnis begnügt. Aber sie reichte nicht aus. Die Aufgabe war klar gestellt: es mußte von dieser neuen Prämisse aus mit der Ricardoschen Methode der Mechanismus auf das genaueste dargelegt werden, durch den die Großeinkommen, Grundrente und Kapitalprofit, gerade in der beobachteten
Höhe in die Hände der Groß-
eigentümer von Boden und Kapital gelangen. U m es mit einer Analogie aus der Chemie zu bezeichnen, so hatte Saint-Simon das Problem wohl qualitativ, aber nicht quantitativ gelöst. Er hinterließ seinen Nachfolgern die Aufgabe der Synthese seiner richtigen geschichtlichen Voraussetzung mit der Ricardoschen Methode. U m diese Synthese haben die besten Männer gerungen, ein Proudhon, ein Rodbertus, ein Marx, ohne Erfolg. Dann hat Eugen Dühring
die Methode
der Lösung bestimmt: man mußte wie Smith
ausgehend von der Gesellschaft der Freien und Gleichen deduzieren, aber nicht als von einer wahren, einer geschichtlichen Prämisse, sondern bewußt als von einer methodischen
Fiktion,
einem
„Als-Ob" im Sinne Vaihingers. Nur auf diese Weise konnte erkundet werden, welche Elemente einer reinen Konkurrenzwirtschaft wirklich immanent sind, und welche nicht; das heißt: welche der Fortwirkung geschichtlicher außerökonomischer Gewalt ihre Entstehung verdanken und daher verschwinden müssen, ehe von einer reinen Konkurrenzwirtschaft die Rede sein darf, und ehe daher das Urteil darüber gefällt werden darf, ob die von den ersten Klassikern vorausgesagte „Harmonie aller Interessen", die Lösung der sozialen Frage, eine Utopie ist oder nicht. Auch Dühring hat diese Deduktion nicht durchgeführt. Aber er hatte die letzte Stufe in die Treppe eingebaut, die zum Ziele führte, und so war es mir vergönnt, den nächsten und, wie ich hoffe, letzten Schritt zu tun. Ich habe schon in meinem Buche von 1898: „Großgrundeigentum und soziale Frage" 1 die Deduktion vollkommen durchgeführt und in dem zweiten Teile des Buches an der Hand der deutschen Wirtschaftsgeschichte als durchaus richtig erhärten können. (Es ist, nebenbei gesagt, für den Zustand unserer Disziplin kennzeichnend, daß dieses Buch meines Wissens bis heute, auch in seiner Neuauflage von 1922, keiner einzigen Kritik von Seiten eines Nationalökonomen oder Wirtschaftshistorikers gewürdigt worden ist. Ich hätte schon einigen Grund zu einer gewissen Verbitterung.) Die Deduktion ergab in Ubereinstimmung mit Turgot, Smith usw. und sogar mit Karl Marx den an sich evidenten Satz, daß eine Klasse freier Arbeiter und daher Großeigentum an Grund und Boden und Kapital nicht eher existieren kann, als bis alles Land besetzt ist. Aber die elementarste Rechnung ergab weiter, daß selbst heute noch in den volkreichsten Ländern Europas der Vorrat an agrarischem Nutzlande viel größer ist, als die vorhandene Agrarbevölkerung brauchen würde, wenn sich die Besiedelung nach dem Schema der reinen Ökonomie vollzogen hätte. Damit war bewiesen, daß der Kapitalismus nicht die reine Ordnung der freien Konkurrenz ist: er enthält in dem massenhaft geschlossenen Grundeigentum einen Rest der außerökonomischen Gewalt. Wäre es nicht vorhanden oder würde es irgendwie abgeschafft und der Boden der freien Besiedelung zugänglich gemacht, so würde es auch heute noch keine besitzlose Arbeiterklasse und keine Möglichkeit der Entstehung von Großeigentum an Boden oder Kapital geben. Es gäbe also nur Arbeitseinkommen und allenfalls geringe, keinesfalls
klassebildende
Splitter von Grundrente und Konjunkturge-
winn oder, was das gleiche ist, von dynamischem, nicht aber statischem Profit. Von diesen Prämissen aus gelang es mir nun auch, die kapitalistische Ordnung bis in ihre letzten Einzelheiten hinein zu deduzieren. Dabei leistete mir ein soeben erst entdecktes statistisches Gesetz die besten Dienste, das 1893 zuerst publizierte Goltzsche
1
Gesetz der Wanderung·. „Mit dem Umfang
[Siehe Oppenheimer, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 1-280; A.d.R.]
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
des Großgrundeigentums parallel und mit dem Umfang des bäuerlichen Grundbesitzes in umgekehrter Richtung geht die Wanderung." 1873 war der letzte bürgerliche Theoretiker von Rang, John Stuart Mill, 1883 war Karl Marx gestorben; wenn sie das Gesetz gekannt hätten, wäre ihre Lehre wohl anders ausgefallen. Ich war der erste und bin bisher der einzige geblieben, der dieses überall bewährte neu entdeckte Gesetz in die Theorie eingebaut und zu dem Zwecke, was natürlich erforderlich war, streng deduziert hat; obgleich wir nur über sehr wenige echte Gesetze verfügen, sind alle meine Bemühungen vergeblich geblieben, meine Herren Fachkollegen damit auch nur bekannt zu machen. Es wird in keinem der mir vorliegenden Lehrbücher erwähnt, und auch in dem Stolz unserer deutschen Wissenschaft, im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, habe ich es sowohl im Stichwörterverzeichnis wie unter allen möglichen Titeln vergeblich gesucht. Auch das ist ein Zeichen für den verzweifelten Zustand unserer Disziplin, daß das von einem sehr angesehenen Fachmann aufgefundene und von einem nicht gerade verachteten Fachmann an entscheidender Stelle verwertete Gesetz nach 33 Jahren der Theorie unbekannt geblieben ist! Es blieb nur noch ein einziges grundsätzlich zu leisten: die Umformung des nur für geschichtliche Darstellungen passenden Ausdrucks „gewaltgeschaffene Machtposition" in einen Terminus, mit dem man in der Ricardoschen Deduktion rechnen konnte. Auch das gelang zuletzt: diese Machtpositionen stellen charakteristische Monopole dar. Der geschichtliche Großgrundbesitzer, der Feudalherr, auf dessen Herrschaftsgebiet sich die besitzlose Bevölkerung massenhaft ansammelt, und der außerdem, auch noch lange nach der Aufhebung der Schollenbindung (der Kirchspielgesetze in England, der Erbuntertänigkeit in Deutschland, Osterreich, Polen, Rußland usw.), die politische Ubermacht hat, d. h. über das von mir so genannte „öffentlich-rechtliche Klassenmonopol der Staatsverwaltung" verfügt: dieser Grundherr steht seinen Hintersassen als echter Monopolist gegenüber (was übrigens Adam Smith wußte und aussprach); diese haben im höchsten Maße die „größere Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses", die überall das Monopol begründet. Gegen diese meine Lehre vom Bodenmonopol haben sich einige Angriffe gerichtet, und in der Tat ist sie das Zentrum meiner Auffassung. Schumpeter hat die Frage ins Terminologische verschoben: seine Definition des Monopolbegriffs umfaßt das Bodenmonopol nicht. Da ich über terminologische Fragen grundsätzlich nicht streite, habe ich Entgegenkommen bewiesen und vorgeschlagen, als Unterbegriffe des „Monopols im weiteren Sinne" das (Schumpetersche) Monopol engeren Sinnes und das „Oligopol" am Boden zu unterscheiden. Schumpeter hat die Debatte aufgegeben. - Budge hat, um streiten zu können, genau das Entgegengesetzte dessen getan, was die Logik vorschreibt: er ist vom Bekannten, dem Grund und Boden, zum Unbekannten gegangen, indem er die „qualitas occulta" einer eigens von ihm erfundenen „Bodenkraft" setzte. - Hans Oswalt gar hat in letzter Verzweiflung - was bringt ein in die Enge getriebener Theoretiker nicht alles fertig? - den ganzen Monopolbegriff vollkommen aus der Theorie ausgerottet, indem er mich belehrte, der Großgrundbesitzer brauche die Arbeiter geradeso wie diese ihn. Natürlich braucht jeder Monopolist seinen Kontrahenten; aber bisher hat alle gute Theorie von Sir James Steuart an das Monopol als ein Tauschverhältnis begriffen, bei dem „die Konkurrenz ganz auf einer Seite ist", oder wo einseitige Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses besteht, d. h. wo die Kontrahenten den Monopolisten dringender brauchen als er sie. Wenn diese Argumente überhaupt einen Sinn haben sollen, so kann es nur der sein, daß Großgrundeigentum nicht unter allen erdenklichen Umständen eine Monopolstellung ausmacht. Und das ist natürlich richtig. Wenn etwa irgendwo einmal hundert Großbesitzer nur zehn oder hundert oder sogar tausend landlose Arbeiter vorfinden sollten, dann ist es allenfalls denkbar, daß ihre innere Konkurrenz den Lohn bis auf sein Maximum, den vollen Wert des Arbeitsertrages, steigern könnte, den der Arbeiter als selbständiger Bauer auf ausreichendem, unverschuldetem Lande erwerben würde. Denn der Grundherr könnte als Arbeitgeber auch in diesem Falle den doppelten Vorteil haben, den Mehrertrag der kooperierenden Arbeit und zugleich den „Unternehmerlohn" seiner
Die ökonomische
Theorie cles Wertes
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eigenen Leitungsarbeit zu erlangen, die ihm beide verloren gingen, wenn er seinen Besitz unbestellt ließe. 1 Aber diese theoretisch richtige, wenn auch reichlich gewaltsame Konstruktion bringt meine Herren Gegner keinen Schritt von der Stelle. Denn - das bitte ich wohl zu bemerken - ich hole meine Begriffe nicht aus dem luftleeren Raum, sondern ich bemühe mich, geschichtliche Situationen, in diesem Falle eine geschichtlich gewordene Machtposition, in solche Begriffe umzuformen, mit denen die Theorie rechnen kann. Mein ökonomisches Denken ist nicht ungeschichtlich, sondern streng geschichtlich. Hier handelt es sich darum, die Situation zu charakterisieren, in der sich das Landvolk zu Ende der feudalen und zu Anfang der kapitalistischen Ära befand: eine proletarische Übervölkerung, eine des Abstroms, weil der Freizügigkeit beraubte, aufgestaute, für den Bedarf der Betriebe weit überzählige Masse völlig besitzloser Menschen war einem Grundherrn wehrlos ausgeliefert, der nicht nur alle Produktionsmittel an Boden und Kapital, sondern auch die politische Obmacht besaß, dem auch noch nach der Durchsetzung der Freizügigkeit das „Klassenmonopol der Staatsverwaltung" die Arbeiter zu fast jeder Bedingung zutrieb und unterwürfig hielt. Wenn dieses „Austauschverhältnis" der äußersten einseitigen Dringlichkeit auf Seiten der sonst verhungernden Arbeiter kein Monopolverhältnis kräftigster Art darstellte, dann gibt es in aller Geschichte und Wissenschaft überhaupt nichts, was man als evident bezeichnen dürfte. Und schließlich: das Goltzsche Gesetz ist der stringente Beweis für diese These; ich möchte den Theoretiker kennenlernen, dem es gelingen sollte, es anders als aus einem Monopol zu deduzieren; und deduzieren, anders als ich deduzieren, muß es nun einmal jeder, der mich angreifen will. Ich sage mit Marx: „Hic Rhodus, hic salta". Kein ernst zu nehmender Fachmann kann daran denken, zu bestreiten, daß das Gesetz in den Zusammenhang gehört, den die Ökonomik zu behandeln und aufzuklären hat. Ich habe keinen Raum, um hier auch noch darzustellen, wie einfach sich von dem hier gewonnenen, wie ich behaupte, unangreifbaren Standpunkt aus auch das Kapital als „sekundäres Klassenmonopol" ableiten läßt. Auch hier will eine geschichtliche Tatsache unter einen ökonomischen Begriff gebracht werden. Wer immer noch das Kapital als eine übergeschichtliche, jeder denkbaren Gesellschaftswirtschaft immanente Tatsache aufzufassen beliebt, indem er die Axt des Urbauern oder das Netz des Urfischers als „Kapital" serviert, mit dem muß ich ablehnen, mich über Dinge der ökonomischen Theorie zu unterhalten. Kapital hat nie etwas anderes bedeutet als einen Eigentumstitel, der seinem Inhaber Zins oder Profit abwirft. Das aber ist, abgesehen vom Wucherzins, der immer mit Recht als ein Monopolgewinn aufgefaßt worden ist, nur möglich in einer Gesellschaft, in der eine überwiegende, in ihrem Angebot von Arbeit durch die größte Dringlichkeit getriebene Klasse vermögensloser Arbeiter vorhanden ist. Und die gibt es nicht, wo es noch freien Boden gibt. Auch das ist evident und daher ältester Besitz unserer Wissenschaft.
1
Ungefähr solche Verhältnisse bestanden in Deutschland etwa von 1000-1370, als die an sich schon sehr stark an Zahl verminderte Bauernbevölkerung doppelte „Vorflut" erhielt: in das Kolonialgebiet östlich von Elbe und Saale und in die zahlreich aufblühenden Städte. Damit verwandelte sich das Großgrundeigentum in die ökonomisch harmlose GroÜgrundherrschafi; das Monopol war verschwunden oder doch kraftlos, bis die neue Bodensperre im Osten die Vorflut abdämmte. Und auf dieser Grundlage stand eine Gesellschaftswirtschaft der wirklich „freien" Konkurrenz, der nur noch durch geringe politische Einwirkungen schwach gestörten „Harmonie aller Interessen" (vgl. Oppenheimer, Großgrundeigentum und soziale Frage, Historischer Teil, [siehe in der vorliegenden Edition, Bd. I: Theoretische Grundlegung, S. 122-273; A.d.R.]).
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
3. Der Wert der Güter, insbesondere der „beliebig produzierbaren Güter" Mit Hilfe der beiden oben angeführten Funktionsbestimmungen der Statik ist es mir bereits vor fünfzehn Jahren, in meinem „Wert und Kapitalprofit", geglückt, das Problem des Wertes vollkommen, d. h. in seiner weitesten denkbaren Erstreckung und in der denkbar einfachsten Formel zu lösen. Hier sei zunächst die Lösung des Wertes der Güter dargestellt. Zu dem Zwecke soll das Problem noch einmal in eindeutiger Form präzisiert werden: Jeder Preis, also auch der statische, ist eine Gleichung des Inhalts: soundso viele Einheiten einer Ware (Gut, Dienst, Machtposition oder Nutzung einer solchen) wertgleich soundso vielen Einheiten einer anderen Ware. In der Statik steht der Voraussetzung nach jede einzelne Ware zu jeder anderen in einem exakt bestimmten Verhältnis dieser Art. In arithmetischer Formel: a = y, b - ζ, c = u, d = χ usw. Die Aufgabe ist, das Gesetz zu finden, nach dem sich dieses Verhältnis bestimmt. Das ist das Problem des Wertes oder statischen Preises. Jeder Geldpreis setzt sich zusammen aus zwei scharf zu unterscheidenden Bestandteilen: den baren Selbstkosten und dem Gewinn. Das gilt von jeder denkbaren Gesellschaft der Konkurrenz. Wir wollen, um uns dem Problem schrittweise zu nähern, zuerst von einer nichtkapitalistischen Gesellschaft, von der Gesellschaft also „der einfachen Warenproduktion" sprechen, in der nur Selbständige miteinander konkurrieren. Hier ist der Gewinn an der Wareneinheit offenbar der Entgelt der von dem Produzenten dem Wert der Selbstkosten an Materialien usw. zugesetzten „additional value" seiner eigenen Arbeit. Dieser Gewinn ist ein Teil des Einkommens. So viel Einheiten der Produzent in der Einkommensperiode, etwa einem Jahre, verkauft, so viele Male macht er den in der Statik immer gleichen Gewinn. Bezeichnen wir den Gewinn mit g, die Zahl der verkauften Produkte, die „Produktionsziffer" mit n, das Einkommen mit e, so ist e=n + g. Oder g = e+η. Nennen wir die Selbstkosten j, so ist also der statische Preis jeder beliebig produzierbaren Ware (jeder Ware, auf deren Preis kein Monopolgewinn aufgeschlagen ist) bestimmt nach der Formel v=e/n+s. Nun haben wir oben festgestellt, daß das Einkommen aller durchschnittlich qualifizierten Produzenten in der Statik gleich groß ist. Nennen wir diese Konstante E. Sie ist in jeder gegebenen nichtkapitalistischen Gesellschaft sehr einfach festzustellen. Man fragt einer genügenden Anzahl der einfachen Warenproduzenten ihr Einkommen ab und ordnet die erfragten Werte in einem Koordinatenkreuz, auf dessen Abszisse man die Stufen des Einkommens, auf dessen Koordinate man die Zahl der Einkommen jeder Stufe einträgt. Dann erhält man eine Binominalkurve, und der Medianwert der größten Häufigkeit ist die gesuchte Größe E. Damit ist, da die Produktionsziffer η jedes Produzenten gegeben ist, der erste Teil der obigen Formel exakt bestimmt als Ε + n. Nun sind aber die sämtlichen Selbstkosten ebenfalls Waren, deren statischer Preis grundsätzlich auf genau die gleiche Weise bestimmt ist, also E + n+s . Auch diese neue Größe 5 läßt sich wieder auf die gleiche Weise ausdrücken, und so wird die noch aufzulösende Größe von s immer kleiner und verschwindet zuletzt völlig. Ich habe in meinem Wert und Kapitalprofit1 diese Rechnung aufgestellt und muß hier darauf verweisen. Sie ist von hervorragender mathematischer Seite als korrekt anerkannt. Als letzter Schluß ergibt sich, daß sich die statischen Preise umgekehrt verhalten wie die Summen der auf jede Ware verwendeten Produktionsziffern:
1 [Oppenheimer, Wert und Kapitalprofit, im vorliegenden Band, S. 231-286; A.d.R.]
Die ökonomische Theorie des Wertes
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q= Σ ¿ Nun ist es klar, daß sich wieder die Produktionsziffern umgekehrt verhalten wie die auf das Produkt von allen Produzenten zusammen verwandte Arbeitszeit; denn alle Produzenten gleicher Qualifikation arbeiten in der statischen Gesellschaft selbstverständlich gleich lange, wobei für schwerere und gefährlichere Arbeit kürzerer Dauer leichtere und angenehmere Arbeit längerer Dauer gleichgerechnet werden mag, dadurch wird unser Problem nicht berührt. Denn es ist das eine der zahlreichen soziologischen Bedingungen unseres Problems, die uns gegeben sind, geradeso, wie wir als gegeben hinzunehmen haben, welche Qualifikation und in welchem Grade sie höher bewertet wird als eine andere. Alle Produzenten setzen in gleichen Zeiten ihren Materialien gleichen Wert zu, ganz gleichgültig, ob sie 10.000 oder nur 10 Einheiten erzeugen und zu ihrem statischen Preise verkaufen. Wir können also die Größe 1 η ersetzen durch t (Erzeugungszeit) und die Summe aller auf eine Ware von allen Produzenten zusammen auf die Ware verwandten Zeiten durch T. Dann lautet unsere Schlußformel folgendermaßen:
ν-
T-
%
Tk
Damit haben wir den ersten Beweis für die Richtigkeit unserer Deduktion erhalten. Denn diese Formel ist die Petty-Ricardo-Rodbertus-Marxsche Formel des Wertes: die Arbeitsmengen- bzw. Arbeitszeittheorie. Daß der relative statische Preis oft sehr enge durch die verglichene Arbeitszeit oder -menge bestimmt sei, mußte sich bei jedem Beobachter ohne weiteres aufdrängen. So schrieb schon Petty: „Wenn ein Mann in der gleichen Zeit eine Unze Silber in der Kolonie hervorbringen und nach London schaffen kann, wie ein anderer ein Bushel Weizen in England erzeugen und gleichfalls nach London führen kann, so ist offenbar das eine der Preis des anderen." Diese Formel war bisher lediglich „gegriffen", war durch eine, allerdings der Wahrheit sehr nahe kommende, Intuition gefunden; wir haben sie streng deduziert. Bevor wir weitergehen, ist festzustellen, daß wir mit dieser Formel, zunächst freilich nur für die vorkapitalistische Wirtschaft, den statischen Preis und damit die statische Preisrelation sämtlicher beliebig produzierbaren Waren in der allerexaktesten und allereinfachsten denkbaren Formel deduziert haben. Hier haben wir uns der Ricardoschen Feststellung zu erinnern, daß in der Statik bei der Produktion dieser Waren der „Grenzproduzent" notwendigerweise immer nur durchschnittlich qualifiziert ist. Seine Selbstkosten und seine Produktionsziffer allein bestimmen den statischen Preis; die höher Qualifizierten, die entweder in gleicher Zeit mehr oder gleiche Mengen mit geringeren Selbstkosten herstellen, haben an diesem Preise eine „rentenähnliche Mehreinnahme, die jetzt exakt berechnet werden kann, da die entsprechenden Größen gegeben sind. Hier ist noch eine kleine Zufügung nötig. Wir haben zu unterscheiden zwischen einer angeborenen und einer anerzogenen Qualifikation. Die Vorteile der ersten kann der Konkurrent dem Begünstigten, sonst gleiche Umstände vorausgesetzt, nicht abjagen. Die zweite aber ist, wie schon die Bezeichnung zeigt, erwerbbar. Darum läßt sich aber der höhere Wert, den solche Qualifikation den Materialien in der Zeiteinheit zusetzt, exakt berechnen. Die Ausbildung kostet zunächst eine bestimmte Anzahl von Lehrjahren, in deren Verlauf das Einkommen E nicht verdient wird. Dazu kommt eine gegebene Summe von baren Ausgaben; beides zusammen ergibt eine bestimmte Geldsumme, die in der Zeit der noch bestehenden Arbeitsfähigkeit als Kostenelement jeder Wareneinheit über E hinaus verdient werden muß; eher kann die Konkurrenz nicht zur Ruhe kommen! Der durchschnittlich qualifizierte Grenzproduzent, dessen Selbstkosten den Wert aller beliebig produ-
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Enter Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
zierbaren Waren bestimmen, kann also erworbene höhere Qualifikation besitzen; die Genauigkeit unserer Bestimmung leidet darunter nicht. Betrachten wir nunmehr die Gesetze, nach denen sich in der kapitalistischen Wirtschaft der Preis der beliebig produzierten Waren bildet. Wenn wir sie gefunden haben werden, ist unser Problem in der Hauptsache gelöst. Denn Novitäten und Singularitäten haben keinen statischen Preis oder „Wert"; die ersten, weil sie per definitionem noch nicht lange genug im Zusammenhang der Märkte sind, um von dem zur Statik drängenden Prozeß ergriffen zu sein, und die anderen, weil sie per definitionem nie regelmäßig zu Markte gebracht und vom Markte genommen werden. Beide haben nur laufenden, aber nicht statischen Preis; dessen Bestimmung aber ist anerkanntermaßen erstens unmöglich, als pretium affectionis, und zweitens völlig uninteressant; keines der großen Probleme der Ökonomik wird dadurch auch nur von ferne berührt. Das gleiche gilt von allen Naturmonopolen, soweit sie nicht schon unter die Kategorie der Singularitäten fallen, wie die Kunstwerke verstorbener Meister: wieviel ein reicher Liebhaber für eine Flasche eines besonders berühmten Jahrgangs eines besonders begehrten Edelweins zahlt, ist für die großen Probleme unserer Wissenschaft ohne jeden Belang. Für die übrigen Monopolpreise lassen sich, wie schon gesagt, Annäherungsformeln von genügender Genauigkeit aufstellen; die Untergrenze ist der Konkurrenzpreis, die Obergrenze wird gebildet durch den Konkurrenzpreis nichtmonopolisierter Ersatzgüter. Eine allgemeine Formel für sie ist nachweislich unmöglich aufzustellen, so unmöglich, wie etwa die Konstruktion eines zugleich gleichseitigen und rechtwinkligen Dreiecks: der Markt ist für alle beliebig produzierbaren Güter eine „richtige" Waage, für alle Monopolwaren aber eine unrichtige, und niemand kann eine Formel dafür finden, bei welchem Stande des Züngleins ein bestimmtes Gewicht auf einer „unrichtigen" Waage äquilibriert wird. Außerdem könnte man die Monopolgüter ohne weiteres aus der Berechnung des statischen Preises ausschließen, weil alle Monopole mit einziger Ausnahme der uninteressanten Naturmonopole befristet sind: die Patente und dergleichen durch Gesetz, die privaten Monopole durch Befristung oder durch die Konkurrenz, sei es der Beteiligten selbst, sei es durch Outsiders. U m es zusammenzufassen, so ist das eigentliche, fast einzige Problem hier das des statischen Preises der beliebig produzierbaren Güter, weil von dessen Lösung die Lösung des zentralsten Problems, des Problems der Distribution, abhängt. Und jenes ist jetzt völlig bewältigt; es bleibt uns nur noch die geringe Korrektur der Formel festzustellen, die für die kapitalistisch hergestellten Güter dieser Art gilt: Hier sind bekanntlich schon Ricardo und nach ihm Rodbertus und Marx bedeutende Schwierigkeiten erwachsen, und zwar aus dem Grunde, weil die von ihnen intuitiv gegriffene, von uns für die präkapitalistisch hergestellten Güter deduzierte Arbeitsmengen- bzw. Arbeitszeittheorie nicht mehr vollkommen zutrifft, und zwar wegen der „Ausgleichung der Profitraten". Ricardo hat sich in den Sektionen des ersten Kapitels seiner „Grundsätze" mit diesem neuen Problem beschäftigt und die Abweichungen festzustellen versucht, die sich aus der verschiedenen Zusammensetzung der einzelnen Kapitale aus fixem und zirkulierendem Kapital und aus der verschiedenen Umschlagszeit usw. ergeben. Und Marx, der ihm hier wie in allen ökonomischen Dingen sehr eng folgte, hat gleichfalls zugegeben, daß die kapitalistisch hergestellten Güter sich nicht, wie in erster Annäherung angenommen war, nach ihrem „Werte", d. h. nach ihrem Gehalt an „durchschnittlicher, notwendiger gesellschaftlicher Arbeit", sondern nach einem durch die Ausgleichung der Profitraten etwas veränderten Schlüssel, den „Produktionskosten", tauschen. Diese Schwierigkeiten existieren für uns nicht. Wir haben ja niemals behauptet, daß die Güter sich nach ihrem Gehalt an Arbeitsmenge oder -zeit unter allen gesellschaftlichen Bedingungen tauschen, sondern wir haben diese Verhältnisse ausschließlich für die „einfache Warenproduktion" sozusagen nebenbei aus unserer Grundformel abgeleitet. Wir suchen nicht nach der „Substanz des Wertes", sondern lediglich nach einer möglichst einfachen Formel, um den statischen Preis aller
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Die ökonomische Theorie des Wertes
beliebig produzierbaren Güter auszudrücken. 1 Und diese Formel ist unschwer aus unseren Ansätzen auch für die kapitisch hergestellten Güter zu entwickeln: In der Statik müssen, das ist unbestritten, alle Kapitale von gleicher Gunst der Anlage und gleicher Größe den gleichen Profit abwerfen. Für Kapitale von geringerer als der durchschnittlichen Gunst der Anlage, die deshalb höheren Profit abwerfen müssen, gelten die oben für die Grundrente und die Qualifikation entwickelten Ansätze mutatis mutandis; wir brauchen uns hier nicht dabei aufzuhalten. Wir haben also unsere Grundformel nur derart zu ändern, daß wir die „Produktivitätsziffer" nicht mehr auf die Betriebe, sondern auf Kapitale gleicher Größe beziehen. U m ein Beispiel zu geben: wenn wir den statischen Preis der Produkte zweier kapitalistischer Betriebe errechnen wollen, deren einer 10 Millionen, deren anderer 10.000 Mark Kapitalwert hat, so bringen wir beide auf den gleichen Generalnenner, indem wir für den ersten nicht seine uns gegebene Produktivitätsziffer n, sondern nur η : 1.000 in die Formel einstellen. Der besseren Unterscheidung halber nennen wir diese auf das gleiche Kapital reduzierte Produktivitätsziffer mit dem entsprechenden griechischen Buchstaben „Ny". Dann ergibt sich für die kapitalistisch hergestellten Güter die folgende, ebenso einfache Formel: 3. v k Diese Formel gilt für alle kapitalistisch hergestellten produzierbaren Güter: für Konsumgüter, für Produktivgüter und für das Geldmetall. Ihre Überlegenheit auch in diesem Betracht über die mit Hilfskonstruktionen im Übermaß belasteten Formeln der Grenznutzenschule erweist sich auch hierin. Damit ist die Aufgabe, soweit sie hier gestellt war, das Gesetz des Güterwertes zu finden, völlig gelöst. Noch ein kurzes Wort des Rückblicks. Wie Schumpeter einmal richtig schrieb, kann kein Versuch zum Ziele führen, das Gesetz des statischen Preises aus den beobachteten Preisen abzuleiten. U m von anderen schwerwiegenden Bedenken gegen das Verfahren zu schweigen, scheitert es notwendigerweise daran, daß es immer eine Unbekannte mehr als Gleichungen hat. Das läßt sich aus unserer ersten Problemstellung klar erkennen. Sie lautet: warum ist in der Statik immer exakt xa= y-h und y-h = ζ c ? An diesem Tatbestande ist ζ. B. der Casselsche Lösungsversuch gescheitert, wie jeder einigermaßen mathematisch Orientierte von vornherein erkennen mußte. Wir haben die fehlende Gleichung gefunden, indem wir die Konstante E entdeckten. (In Parenthese: um E in der kapitalistischen Wirtschaft festzustellen, darf man gleichfalls nur „einfachen Warenproduzenten", also kleinen Handwerkern, Händlern und namentlich Bauern ihr Einkommen abfragen. Wenn es praktisch möglich wäre, den oder die „Grenzbauern" aufzufinden, was nicht möglich ist, so würde deren durchschnittliches Einkommen dem gesuchten Werte E genügend nahe stehen.)
1
Mit der derart gegenstandslos gewordenen Frage nach der „Wertsubstanz" dürfte wahrlich auch das davon abhängige Problem der „Konsumenten-Rente" aus der Diskussion verschwinden. Es trägt den im übrigen völlig chimärischen Gedanken der „Gerechtigkeit" des Austauschs in die wertfreie Deduktion hinein und ist auch der Größenordnung nach ganz uninteressant; die Abweichungen der laufenden von den statischen Preisen sind wahrscheinlich viel größer - und die Wirklichkeit hat nur mit laufenden Preisen zu tun. Worauf es in allem Organischen ankommt ist nicht auskalkulierte Gleichheit, sondern nur Gleichgewicht der Funktionen.
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
4. Der „Wert" der Arbeit und der Machtpositionen Von hier aus war es nun möglich, das gesamte Problem der Distribution in gleichfalls völlig exakten Formeln zu lösen. Da der mir gegönnte Raum fast erschöpft ist, und der Gegenstand nicht streng zu dem Thema gehört, wie es hier augenscheinlich gefaßt ist, muß ich mich auf Andeutungen beschränken, indem ich den Leser auf meine Schriften, namentlich auf „Wert und Kapitalprofit", dritte Auflage 1 , verweise. Unbestritten ist, daß sich Arbeitslohn und Kapitalprofit in den „Wert" der kapitalistisch hergestellten, beliebig produzierbaren Güter teilen. Die Aufgabe ist, den Teilungsschlüssel zu finden, und das ist erreicht, wenn man den einen der beiden Bestandteile bestimmen kann. Das aber ist beim Arbeitslohn aufgrund unserer Formel unschwer ausführbar. Der abhängige Lohnarbeiter kann, mathematisch ausgedrückt, nur so viel erwerben, wie ein gleich qualifizierter unabhängiger Arbeiter an den Produktionsmitteln erwerben kann, die ihm in seiner Gesellschaft noch frei zur Verfügung stehen. Da die Willigkeit, sich unter kapitalistische Leitung zu begeben und in vorgeschriebenen Stunden regelmäßig zu schaffen, für eine kapitalistische Gesellschaft eine höhere Qualifikation bedeutet gegenüber der Selbstherrlichkeit des proletarischen Selbständigen, so mag man einen erfahrungsmäßigen Aufschlag auf das Einkommen des letzteren machen, also etwa des Beeren- oder Kristallsuchers, des Besenbinders, des Sammlers von Arzneipflanzen usw. Dadurch wird sich in der Größenordnung des derart bestimmten Lohnes nichts Wesentliches ändern. Das Einkommen des proletarischen Selbständigen nun besteht in gewissen gegebenen Verbrauchsgütern, deren Wert aus unserer Formel hervorgeht: so hoch und vielleicht um ein Kleines höher muß auch der Lohn des Unselbständigen sein: eher kann die Konkurrenz nicht zur Ruhe kommen! Ich habe noch eine zweite Methode der Berechnung des Arbeitslohnes angegeben, in interlokaler, nicht mehr in lokaler Betrachtung. In den „Grenzbezirken des höchsten sozialen Drucks", in denjenigen agrarischen Bezirken, aus denen die nach dem Goltzschen Gesetz erfolgende Massenwanderung noch nicht eingesetzt hat, wo daher eine gewaltige „Übervölkerung" von landlosen Proletariern sich staut, über die gleichzeitig noch ihre Grundherren das „Monopol der Staatsverwaltung" besitzen, steht der Lohn auf oder sogar unter dem Existenzminimum. Von hier nach dem zentralen Arbeitsmarkte hin wächst der Arbeitslohn nach genau den gleichen Gesetzen, wie der Getreidepreis von der Peripherie nach dem zentralen Markte hin durch Aufschlag von immer höheren Transportkosten wächst, weil eben nach dem Goltzschen Gesetze die Arbeiter massenhaft zentralwärts ab- und auswandern, sobald der Zug ins Minimum des Druckes sie ergreift. Jenes Existenzminimum, bestehend wieder aus bestimmten Mengen bestimmter Konsumgüter, läßt sich nach unserer allgemeinen Formel ebenso sicher berechnen wie die bis zu der in Frage stehenden Stelle erwachsenden Kosten des Transports. Damit ist jeder lokale Lohn der „ungelernten" städtischen Arbeit abgeleitet: über ihm staffeln sich, entsprechend der Seltenheit der Vorbedingungen, die Löhne der höheren Qualifikationen auf. Den Rest des „Wertes" der Güter erhält das Kapital. Und zwar ist der „Profit" bestimmt durch denjenigen Wertteil, den das „Normalkapital" erhält; darunter verstehe ich ein Kapital, das durch kein Produktions- oder Tauschmonopol begünstigt ist. Das bekannteste Beispiel eines solchen Normalkapitals ist das des Pächters, der nach der bekannten Ricardoschen Feststellung in der Statik immer nur den normalen Profit, aber kein Atom Grundrente erlangt. Aber das gleiche gilt für jedes andere Kapital, das nicht einen Monopolgewinn erhält, den ihm die Konkurrenz nicht abjagen kann.
1 [Siehe im vorliegenden Band, S. 231-286; A.d.R.]
Die ökonomische Theorie des Wertes
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Weiterhin ist jetzt zu bestimmen der statische Preis des Kapitals
selbst. Das scheint einfach, wenig-
stens für diejenigen Fachmänner, die immer noch an der Vorstellung festhalten, daß das Kapital aus Gütern, aus Produktivgütern besteht. Denn die Formel für alle Sachgüter besitzen wir ja; wir haben also nur zu addieren und haben damit die gesuchte Größe. Aber die Vorstellung ist unmöglich! So schmerzlich es auch immer ist, auf die prachtvolle Doppeldeutigkeit des fast überall verwendeten Begriffes verzichten zu müssen, die allein es ermöglicht, die verschiedenen (zum größten Teile längst selig verschiedenen) Kapitaltheorien noch mit Scheinbeweisen zu stützen: Sachgüter (eine technische Kategorie) sind nun einmal bestimmt nicht substantiell identisch mit dem Eigentumsrecht an eben diesen Sachgütern (einer juristischen Kategorie). Außerdem gibt es genug Kapitale, die gar nicht auf Sachgüter radiziert sind, ζ. B. Patentrechte, und gibt es andererseits Sachgüter, auch ganze Stämme von „komplementären" Produktivgütern, die dennoch kein Kapital sind, weil sie keinen Profit erbringen: das war nach Marx' humorvoller Schilderung im 25. Kapitel des ersten Bandes seines „Kapital" die Erfahrung, die Herr Peel machen mußte, als er ganze Schiffsladungen von „Kapitalgütern" nach Neuholland einführte; und das gleiche haben wir in jeder „freien Kolonie", wo das Land noch Volkseigentum ist und daher „jeder Pionier ein Stück davon in sein Privateigentum und individuelles Produktionsmittel verwandeln kann, ohne den nächsten Pionier an der gleichen Operation zu verhindern", und hatten wir im hohen Mittelalter durch fast volle vier Jahrhunderte hindurch, bevor der Kriegsadel den ganzen Osten Europas gegen die freie Besiedlung sperrte. So schmerzlich es auch allen denen sein mag, die dadurch ihrer teuersten Illusionen beraubt werden, so ist es dennoch unerläßlich, die von Rodbertus vorgenommene und von Adolph Wagner übernommene Unterscheidung der beiden in eins verknäuelten Begriffe vorzunehmen und die sachlichen Produktivgüter als das „volkswirtschaftliche", die juristischen Eigentumstitel aber als das „privatwirtschaftliche Kapital" zu trennen. N o c h besser wäre es, den Begriff „Kapital" ausschließlich für den Gegenstand zu brauchen, den er von jeher bezeichnete: für den rechtlichen oder faktischen Anspruch auf Profit oder Zins, und um der guten Klarheit halber die Produktivmittel eben als solche oder als „gesellschaftliches Beschaffungsgut" oder dergleichen zu benennen. Der Wert der Produktivgüter läßt sich allerdings durch Addition der nach unserer Formel berechneten Einzelwerte bestimmen. Aber er hat an sich kein eigenes neues Interesse für uns. Wohl aber kann er uns dazu helfen, den Wert des darauf radizierten Privatkapitals zu bestimmen. Was nämlich ist dieser Wert? Es ist der statische Preis des Ertrages des Privatkapitals multipliziert mit dem statischen „Fuß der Kapitalisierung". Wie können wir diesen „Kapitalisierungswert" exakt bestimmen? Auf die einfachste Weise! Er muß in der Statik genau so groß sein wie der onswert
der Produktivgüter!
Additi-
Wohlgemerkt: dieser Satz gilt ausschließlich für die Normalkapitale!
Aber hier gilt er unbedingt. Und das läßt den alten und fast unausrottbaren Irrtum eher verstehen: ein normales, nicht durch Monopole begünstigtes Privatkapital hat in der Statik exakt den gleichen Wert wie die ihm zugrunde liegenden Produktivgüter. So abwegig die Meinung ist, die beiden ganz verschiedenen Dinge seien substanzidentisch,
so sicher ist es, daß sie wertidentisch
sind.
Es handelt sich hier um einen meiner glücklichsten Funde, den ich bereits 1910 veröffentlicht habe, mit dem selbstverständlichen Erfolge, daß keiner der Fachmänner die geringste Notiz davon genommen hat. Diese Wertidentität läßt sich bereits auf das allereinfachste aus dem anerkannten Satze von der Gleichheit aller Profite in der Statik ableiten. Nicht eher kann die Konkurrenz auf ihrem Ruhezustande stehen, als wenn ein Kapitalist, der eine bestimmte Summe Geldes anzulegen hat, davon den gleichen Profit hat (abgesehen selbstverständlich von seinem „Unternehmerlohne"; ein Risiko und daher eine Risikoprämie gibt es in der Statik nicht), ganz gleichgültig, ob er sich für die Gründung oder den Ankauf einer Fabrik oder die Anlage als Leihkapital entscheidet. Aber man sieht tiefer in den Zusammenhang der Dinge, wenn man auch hier das Spiel von Angebot und Nachfrage im
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und
Wirtschaftspolitik
Zusammenhang der Märkte verfolgt, das zur Statik führt. Ich zitiere aus meiner „Theorie der reinen und politischen Ökonomie": „Würde nämlich einmal zu viel gesellschaftliches Beschaffungsgut, d. h. volkswirtschaftliches Kapital, in Unternehmungen angelegt werden, so würde sein Gesamtprodukt an Wertdingen niederer Ordnung den Kollektivbedarf überschreiten; ihr Preis würde sinken, und die Basis der Kapitalisierung, der Ertrag des Produktivkapitals, sich verkleinern, so daß bei gleichbleibendem Fuß der Wert des dadurch repräsentierten Privatkapitals unter den Tauschwert der Beschaffungsgüter fallen würde. Dann wendet sich die Nachfrage von dem Markte der Werkgüter ab und dem Markte der Anleihen zu; und das hat eine doppelte Wirkung: erstens fällt der Preis der Werkgüter, und zweitens steigt der Fuß der Kapitalisierung; denn dort sinkt und hier steigt die Nachfrage, so daß der Kurs der festverzinslichen Anleihen steigt und der Zinsfuß bestimmter Geldsummen fällt. Dadurch wird die Anlage von Kapital in neuen Produktivgütern wieder rentabel; denn die gleiche Geldsumme erwirbt mehr davon, oder der gleiche Stamm kostet weniger, und auf der anderen Seite wirft er jetzt wieder ebensoviel Ertrag ab wie das inzwischen im Ertrage gesunkene Leihkapital. - Würde umgekehrt einmal zu wenig gesellschaftliches Beschaffungsgut gebildet, so würde ihr Produkt über seinen statischen Preis und daher der kapitalisierte Betrag des dadurch geschaffenen Privatkapitals über den Wert der Beschaffungsgüter steigen. In diesem Falle würde die Nachfrage auf dem Leihmarkte, und der Fuß der Kapitalisierung sinken und die Bildung neuer volkswirtschaftlicher Kapitale zunehmen, bis ihr Wert wieder mit dem dadurch beschafften .Privatkapital' zusammenfiele. Eher könnte der Konkurrenzkampf nicht zur Ruhe kommen."1 Wir können also sowohl den Wert eines Normalkapitals wie auch den seines Ertrages in der Statik nach unserer Grundformel exakt ausrechnen; daraus ergibt sich der Hundertsatz des Profits und, wenn man mit diesem Satze in hundert dividiert, der Fuß der Kapitalisierung. Ergibt ζ. B. ein Normalkapital von einer Million Mark einen Gewinn von 125.000 Mark, so ist der Profitsatz 12 Vi % und der Kapitalisierungsfuß 8. Bleibt als letztes Problem noch die Berechnung des Wertes der begünstigten Kapitale und des Grundeigentums, das nicht auf „Grenzboden" liegt, also Grundrente abwirft. Solches Grundeigentum erfreut sich der Verfügung über ein „Produktionsmonopol" entweder der Lage oder der Bodenbonität (in meiner Terminologie ein „Transport-" bzw. ein „Erzeugungsmonopol"). Diese Monopole zeichnen sich dadurch aus, daß sie ihrem Inhaber Vorteile an den Produktionskosten ermöglichen, die ihm die Konkurrenz nicht abjagen kann. Das Produkt steht auf seinem statischen Konkurrenzpreise, und dennoch hat der Verkäufer einen Monopolgewinn entsprechend der Ersparnis an der Größe s. Solche Vorteile kann auch ein industrieller oder kommerzieller Betrieb besitzen, ein Erzeugungsmonopol ζ. B. in einer Wasserkraft, ein Transportmonopol durch die Lage an einer Schiffahrtsstraße, oder schließlich ein „Umsatzmonopol" (die dritte Unterart der Produktionsmonopole) durch besonders günstige Verkehrslage zu den Konsumenten. In allen Fällen ist der Wert des Eigentums um den kapitalisierten Betrag des Mehrertrages höher als der des Normalkapitals. Diesem Umstände ist denn auch die bisherige Theoretik in bezug auf das Grundeigentum gerecht geworden, weil sie hier den Mehrertrag als „Grundrente" scharf von dem Profit des Kapitals zu trennen durch Ricardo gelernt hatte; aber beim Kapital ist das nicht immer geschehen; man hätte ja dann eingestehen müssen, daß das volkswirtschaftliche und das privatwirtschaftliche Kapital nicht substanzidentisch sein können, wenn sie nicht einmal wertidentisch sind.
1
Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 832f.
Die ökonomische Theorie des Wertes
373
U m ein Beispiel zu geben: Eine Fabrik erfreue sich des Besitzes einer Wasserkraft, die ihr jährlich 20.000 Mark an Kohlen erspart. Der Kapitalisierungsfuß sei wieder 8; dann hat der Betrieb einen Kapitalisierungswert von 160.000 Mark über den Additionswert seiner Beschaffungsgüter hinaus. Ganz ebenso errechnet sich der Wert des begünstigten, rentetragenden Grundeigentums. Analog errechnet sich der Wert eines Kapitals, das durch ein „Tauschmonopol" begünstigt ist und daher die Macht hat, für seine Produkte einen statischen Monopolpreis, d. h. einen um einen Monopolgewinn erhöhten Konkurrenzpreis zu erreichen. Wenn es Monopole dieser Art gibt, die dauern, so würde die Rechnung ganz ebenso wie in dem eben dargestellten Falle verlaufen. Da es solche kaum geben kann, so ist es fraglich, ob die vorübergehenden Tauschmonopole überhaupt in der statischen Rechnung Platz haben. Wenn man sich entschließt, sie darin zu behandeln, so ist die Errechnung des Mehrwerts, den sie darstellen, wieder sehr einfach; eine elementare Eskompterechnung ihrer noch gewährleisteten Patente oder vermuteten Lebenszeit ergibt den Betrag, der, kapitalisiert, dem Additionswert ihrer Beschaffungsgüter hinzugerechnet werden muß.
Damit ist das gestellte Problem vollkommen und in einem Umfang gelöst, wie bisher wenigstens keine andere Theorie es auch nur zu stellen gewagt hat. Selbst ein Marx hat sich mit der bloßen Ausflucht begnügen müssen, daß das Grundeigentum „keinen Wert, sondern nur Preis" habe. Keine Wertlehre hat mehr versucht, als das eine Teilproblem des Güterwertes
zu lösen, und keiner ist es bisher ge-
glückt. Die meine gibt die Formel außerdem für den Wert, den Geldwert der Arbeit, und zwar nicht nur der proletarischen, sondern aller, auch der höchsten Qualifikationsstufen, gibt den Wert der Nutzungen der Machtpositionen: Grundrente und Kapitalprofit, und schließlich den der Machtpositionen selbst, des Grundeigentums und des Kapitals. Weitere Aufgaben
Wertes nicht gestellt.
sind der Theorie des
Arbeitslosigkeit [1937]
Inhalt
I. Zustimmung und Übereinstimmung Π. Das Problem
378 379
ΙΠ. Das uneingestandene Postulat (Der Kapitalismus und die Statik)
384
IV. Der Arbeitslohn
387
a) Die Ausgangslage
389
b) Der Mittelwert der Arbeit
390
c) Der Marktpreis der Arbeit
391
d) Die eingestandenen Postulate
391
V. Der Kapitalismus als Sozialkrankheit
393
a) Die systemfremde Störung
394
b) Die Wirtschaftskrisen und der Imperialismus
395
[Der Artikel Arbeitslosigkeit. Zu dem neuen Buch von J. M. Keynes (Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, ins Deutsche übersetzt von Fritz Waeger, München/Leipzig 1936) erschien erstmals in: Zeitschrift für schweizerische Statistik und Volkswirtschaft (Basel), Bd. 73 (1937), S. 428-450; A.d.R.]
Erster Teil: Nationalökonomie
378
I.
und
Wirtschaftspolitik
Zustimmung und Übereinstimmung
Der Fachmann nimmt ein Buch von John Maynard Keynes1 mit achtungsvoller Erwartung zur Hand; er weiß, daß er es mit einem originellen Denker und furchtlosen Wahrheitssucher zu tun hat, zwei Eigenschaften, die sich nicht immer und sehr selten vereint finden. Dies Buch bestätigt die vorgefaßte Meinung. Auch den unbekehrbaren Gegner sollte der Freimut erfreuen, mit dem frühere Irrtümer bekannt werden, und die Zivilcourage, mit der hier die geheiligtesten Dogmen der herrschenden Universitätsökonomie angegriffen werden. Um so mehr ist der Referent erfreut, der seit fast einem halben Jahrhundert im gleichen Kampfe steht und der auf ganz anderem Wege zu ähnlichen letzten Schlüssen gelangt ist, nämlich zu der Voraussage, daß dem Kapitalismus, den auch er als zum Tode verurteilt betrachtet, nicht die totale Staatswirtschaft des Kommunismus folgen wird, sondern das, was seine Schüler neuerdings als die „sozialistische Marktwirtschaft" bezeichnen. „Die autoritären Staatssysteme von heute scheinen das Problem der Arbeitslosigkeit auf Kosten der Leistungsfähigkeit und der Freiheit zu lösen. Es ist sicher, daß die Welt die Arbeitslosigkeit, die, von kurzen Zeiträumen der Belebung abgesehen - nach meiner Ansicht unvermeidlich - mit dem heutigen kapitalistischen Individualismus verbunden ist, nicht viel länger dulden wird. Durch eine richtige Analyse des Problems sollte es aber möglich sein, die Krankheit zu heilen und gleichzeitig Leistungsfähigkeit und Freiheit zu bewahren."2 In der Tat: was uns heute fehlt, ist die richtige Theorie. Es sind „die tiefen Meinungsverschiedenheiten zwischen Berufsgenossen der Wirtschaftslehre zur Entscheidung zu bringen, die zur Zeit den praktischen Einfluß der wirtschaftlichen Theorie fast zerstört haben und dies weiterhin tun werden, bis sie gelöst worden sind"3. Was aber ist die Folge: „Wahnsinnige in hoher Stellung, die Stimmen in der Luft hören, zapfen ihren wilden Irrsinn aus dem, was irgendein akademischer Schreiber ein paar Jahre vorher verfaßte."4 Seit Beginn meiner wissenschaftlichen Laufbahn wiederhole ich unermüdlich den Satz, daß „nichts so praktisch ist wie die Theorie", und kein Land ihrer so dringend bedarf wie Deutschland, das sich, wie Keynes mit Recht sagt, „im Gegensatz zu seiner Gewohnheit in den meisten Wissenschaften, während eines ganzen Jahrhunderts damit begnügt hat, ohne eine vorherrschende und allgemein anerkannte formelle Theorie der Wirtschaft auszukommen", was Keynes richtig dem Einfluß der historischen Schule zuschreibt.5 Diesem Einfluß ist es wohl auch zuzuschreiben, daß Keynes von meinen eigenen Arbeiten nie etwas vernommen hat; sie sind mit vorläufig großem Erfolge totgeschwiegen worden. Die Ubereinstimmung ist in vielen Einzelheiten vorhanden, schon in der Kritik vieler Vertreter der „orthodoxen" Schule mit ihrer „pseudomathematischen Methode"6, mit „dem Dunst ihrer sophistischen Erörterungen, in welchen nichts klar und alles möglich ist"7. „Ein großer Teil jüngster, ,mathematischer' Wirtschaftslehren ist ein bloßes Gebräu, so ungenau wie die anfänglichen Voraussetzungen, auf denen sie beruhen und welche dem Autor erlauben, die Verwicklungen und gegenseitigen Abhängigkeiten der wirklichen Welt in einem Wust anmaßender und nutzloser Symbole
1
Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, München/Leipzig 1936.
2
Ebenda, S. 321.
3
Ebenda, S. V.
4
Ebenda, S. 323.
5
Siehe ebenda, S. VIII.
6
Ebenda, S. 232.
7
Ebenda, S. 247.
A rbeitslosigkeit
379
aus dem Gesicht zu verlieren."1 So grob bin ich nur selten geworden, habe aber trotzdem das ganze Strafregime auf mich herabgezogen, wie es jeden Ketzer traf, ζ. B. den wackeren Hobson, von dem Keynes erzählt.2 In der Tat: Ricardo hat eine Religion geschaffen, eine Priesterschaft als heilige Inquisition,3 die alle Häretik ausrottete. Aber nicht nur im Negativen, auch im Positiven findet sich vieles, was mit meinen eigenen Grundanschauungen übereinstimmt. Ich glaube ζ. B., daß ich den Forderungen an ein Lehrbuch nachgekommen bin, die Keynes4 erhebt: ich habe die Personalwirtschaft, „die Theorie von der individuellen Industrie oder Firma", selbständig vor der der Marktwirtschaft, der „Theorie der Produktion und der Beschäftigung als Ganzes" behandelt und in der letzteren „die Theorie des stabilen Gleichgewichts" (Statik) von „der des sich verschiebenden Gleichgewichts" (komparative Statik) streng geschieden. Auch meine Grundauffassung von der Krise steht der von Keynes sehr nahe, wonach ihre Erklärung primär „ein plötzlicher Zusammenbruch der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals ist"5. Und Keynes kann in meinem Lehrbuch unter der Uberschrift „Das ökonomische Erstaunen" recht wichtige Folgerungen aus dem von ihm billigend zitierten Satze Hobsons finden, „daß im normalen Zustand moderner industrieller Gemeinwesen der Verbrauch die Erzeugung, und nicht die Erzeugung den Verbrauch begrenzt". Ich sende das alles voraus, weil ich dem Leser und womöglich auch dem von mir sehr geschätzten Verfasser den Eindruck zu machen wünsche, daß ich im Geiste echt wissenschaftliche Kritik vorgehen werde, die des Autors Lehre in ihrer stärksten Rüstung darstellt und aus ihren Fundamenten angreift, ohne jemals „die Fenster von außen einzuschlagen". Das Ziel ist die Wahrheit und durch die Wahrheit womöglich Verständigung.
II. Das Problem Das Problem, das Keynes sich zur Lösung stellt, ist das der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit, derjenigen, die vorhanden ist,
d. h.
„wenn im Falle einer geringen Preissteigerung von Lohngütern im Verhältnis zum Geldlohn sowohl das gesamte Angebot von Arbeit, die bereit wäre, zum laufenden Geldlohn zu arbeiten, als auch die gesamte Nachfrage nach Beschäftigung zu diesem Lohne größer ist als die bestehende Beschäftigungsmenge"6. Es handelt sich also weder um die unvermeidliche kinetische, die sogenannte „Reibungsarbeitslosigkeit", die auf mangelhafter Organisation der Gesellschaft oder auf unrichtiger Voraussicht der Unternehmer usw. beruht, noch um die „freiwillige" Arbeitslosigkeit derjenigen Arbeiter, die sich weigern, für weniger als einen bestimmten Lohn zu arbeiten, sondern um die ungeheure Tatsache der heutigen Zeit, daß Kapital und Arbeit brach liegen, weil sie nicht zueinander kommen können, während nach den Befriedigungsmitteln, die sie gemeinsam hervorbringen könnten, der dringendste
1
Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, S. 252.
2
Siehe ebenda, S. 308ff.
3
Siehe ebenda, S. 28.
4
Ebenda, S. 247f.
5
Ebenda, S. 267.
6
Ebenda, S. 13.
380
Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
Bedarf - leider nicht die wirksame Nachfrage - besteht. Dieser Komplex ist es, „den die Welt nicht länger dulden wird". Die von Ricardo stammende Theorie kann diese Tatsache nicht erklären, weder die ältere noch die jüngere. Jene bekannte sich bis auf John Stuart Mills letzte Periode zur Lohnfondstheorie: der Lohn ist der Quotient des Bruches, in dessen Zähler das gesellschaftliche Kapital zur Gänze (Smith) oder zu einem qualifizierten Teil als „zirkulierendes" Kapital (Ricardo) oder als „variables" Kapital (Marx), in dessen Nenner das gesamte Arbeitsangebot steht. Zu diesem Lohne finden also alle Arbeitswilligen Beschäftigung. Diese Theorie hat völlig aufgegeben werden müssen. Die jüngere klassische Schule hat sie zu ersetzen versucht durch eine andere, zuerst wohl von Marshall entwickelte. „[Sie] stützt sich auf zwei sozusagen diskussionslos angenommene Grundpostulate, nämlich 1. der Lohn ist gleich dem Grenzerzeugnis der Arbeit, und 2. der Nutzen des Lohnes ist, wenn eine gegebene Arbeitsmenge beschäftigt wird, gleich dem Grenznachteil dieser Beschäftigungsmenge."1 „Das erste liefert uns die Nachfragetabelle der Arbeit, das zweite die Angebotstabelle, und die Menge der Beschäftigung wird an dem Punkte fixiert, an welchem der Nutzen des Grenzerzeugnisses dem Nachteil der Grenzbeschäftigung die Waage hält."2 Auch nach dieser Theorie kann es keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit geben. Es wird angenommen, daß sich auf dem Arbeitsmarkt Angebot und Nachfrage gerade so ins Gleichgewicht setzen wie auf dem Warenmarkt, d. h. daß sowohl die Arbeitgeber wie die Arbeiter den aus den Verhältnissen sich ergebenden Lohnsatz akzeptieren, wie dort Käufer und Verkäufer den Marktpreis. Folglich muß hier wie dort alle angebotene Ware (Arbeit) gleich der nachgefragten Ware (Arbeit) sein. Das gilt freilich nur von der „Statik": in der „Kinetik" ist Reibungsarbeitslosigkeit in gewissem Umfange ebenso möglich wie Unverkäuflichkeit von Ware und natürlich auch freiwillige Arbeitslosigkeit: aber alle klassische Theorie ist, wie Schumpeter sagt, „essentiell statisch" und abstrahiert mit Recht von kinetischen „Störungen", die wohl praktisch, aber niemals theoretisch Probleme darstellen. Sie ist unzweifelhaft die „Theorie der Vollbeschäftigung"3. Nun gibt es aber tatsächlich diese ungeheure unfreiwillige Arbeitslosigkeit, die nicht nur theoretisch, sondern noch mehr praktisch das brennende Problem unserer Zeit darstellt. Und so kommt Keynes zu dem zwingenden Schluß: „Wir müssen das zweite Postulat der klassischen Doktrin aufgeben und das Verhältnis einer Wirtschaftsordnung ausarbeiten, in der unfreiwillige Arbeitslosigkeit im strengen Sinne des Wortes möglich ist." Das ist das Problem! Es kann offenbar durch eine statische Betrachtung unmittelbar nicht gelöst werden. Denn diese beruht ja gerade darauf, daß überall die Gleichgewichtszustände oder besser: ihr Inbegriff, der Gleichgewichtszustand aufgesucht wird, auf dessen Erreichung die antagonistischen Kräfte der Wirtschaft, Angebot und Nachfrage, tendieren, ohne sie respektive ihn jemals völlig erreichen zu können. Und vom Standpunkt dieser Auffassung aus müßten alle Abweichungen als kinetische „Störungen" des Gleichgewichts erscheinen, die vernachlässigt werden dürfen, weil eben sie das Getriebe in Bewegung setzen, das dem Gleichgewicht immer erneut zustrebt. Aber die unfreiwillige Arbeitslosigkeit kann als Folge solcher harmlosen „Störung" nicht verstanden werden. Folglich muß sie nicht-statisch erklärt werden. „Die Tatsache, daß die Voraussetzungen des statischen Zustandes der heutigen wirtschaftlichen Theorie zugrunde liegen, trägt in diese ein großes Element der Unwirklichkeit hinein."
1 2 3
Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, S. 5. Ebenda, S. 6. Ebenda, S. 13.
Arbeitslosigkeit
381
Das ist es, was Keynes unternimmt, das Gesetz des Ablaufs und besonders der Arbeitslosigkeit aus der Kinetik selbst zu entwickeln. Wir müssen sagen, daß damit unserer Meinung nach etwas schlechthin Unmögliches versucht wird. Es geht nicht ganz ohne Statik, die immer herangezogen werden muß, um gewisse bestimmende Daten der Rechnung zu liefern. Um an einem nahe verwandten Beispiel zu orientieren, so will auch Böhm-Bawerk das Gesetz der Preise aus der Kinetik gewinnen. Er vergleicht die Bewegung dem „wüsten Durcheinander der Brandung an zerklüfteter Küste" und fügt hinzu: „So ist das Material beschaffen, mit dem der Preistheoretiker rechnen muß."1 Er behauptet, der Physiker sei dennoch imstande, das scheinbare Durcheinander in jedem ihn interessierenden Falle aus dem Grundphänomen der Wellenbewegung zu errechnen. Vielleicht! Aber gewiß nicht, wenn er nicht über einige Daten aus der Statik verfügt, nämlich die Kenntnis des Normal-Null-Niveaus des Meeres an dieser Stelle und der Phasen des Mondes, die Ebbe und Flut bedingen. Dennoch wäre die Schwierigkeit der Aufgabe ungeheuer - und wäre doch winzig gegenüber der Aufgabe, die sich Keynes hier stellt. Denn dort handelt es sich nur um einige wenige Faktoren der Rechnung: Winddruck, Gestalt der Felsenküste, Wellenanlauf und Rücklauf, Elastizität des Gesteins und der Wasserteilchen: lauter Gegenstände, mit denen die von außen her beobachtende mathematische Mechanik irgendwie durch rein kausale Erklärung fertig werden kann. In der Ökonomik spielen aber, wie Keynes glücklich betont, psychologische Antriebe und Hemmungen eine überwiegende, vielleicht sogar die einzige Rolle, und der Faktoren sind viel mehr: Daten, die in erster Annäherung wohl als „gegeben" angesehen werden dürfen, aber in Wirklichkeit nicht unveränderlich sind, und eine ganze Reihe von „unabhängig" und „abhängig variablen" Größen.2 All das wirkt vor- und rückwärts aufeinander, ist gleichzeitig in funktionalem, nicht aber kausalem Zusammenhang3: Preise und Löhne, Ersparnis und Investition, Geldmenge und Zinsfuß, verfügbare Arbeitsmenge und technische Ausrüstung, der „Hang zum Verbrauch", der „zur Liquidität" und der zur Investition und so weiter und so weiter, und wirkt nach psychologischen Gesetzen, wobei das unberechenbare „Vertrauen" seine entscheidende Rolle spielt.4 Die Lösung, zu der Keynes schließlich kommt, oder vielleicht: die Lösung, die ihm als die einzig mögliche von vornherein erschien und die er, als sein Thema probandum, zu beweisen sucht, ist im Umriß die folgende.5 Bei wachsender Beschäftigung und zunehmendem Realeinkommen wächst der Verbrauch - so ist die Psychologie der Bevölkerung - um weniger als das Realeinkommen. Um das Gleichgewicht herzustellen, müßte infolgedessen der ganze überschüssige Einkommensbetrag auf Investition neuen Kapitals verwendet werden. Das aber geschieht nicht oder doch nur ausnahmsweise. Ein beträchtlicher Teil des Uberschusses wird, statt ihn zu investieren, gespart, also sowohl dem Verbrauch wie der Investition entzogen. Das aber bedeutet ein Absinken der Beschäftigung unter den Zustand der „Vollbeschäftigung", d. h. des Gleichgewichts, also unfreiwillige Arbeitslosigkeit. „Diese Analyse gibt uns eine Erklärung für das Paradox der Armut mitten im Uberfluß" und vor allem dafür, daß diese Sinnwidrigkeit die Völker um so schwerer trifft, je reicher sie sind, d. h. je höher ihre Produktion oder, was das gleiche sagt, ihr Realeinkommen ist.6
1
Böhm-Bawerk, Positive Theorie des Kapitals, 2. Auflage, Jena 1909, S. 347ff., vgl. Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, in: System der Soziologie, Bd. ΙΠ, 2. Teilbd., Jena 1924, S. 802ff.
2 3
Siehe Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, S. 205. "The difficult problem of the interaction of countless economic cause" (zahllose wirtschaftliche Ursachen), Marshall, Principles of Economics, 8. Auflage, London 1920, S. 369.
4
Siehe Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, S. 125.
5
Siehe ebenda, S. 23.
6
Siehe ebenda, S. 26.
382
Enter Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
Bisher nahm die Theorie allgemein an, daß alles, was nicht verbraucht wird, ohne weiteres der Investition zufließt. Keynes bestreitet das und kommt derart zu einer interessanten neuen Erklärung der Krisen: durch Unterkapitalisation, womit die Reihe der möglich erscheinenden Krisentheorien erschöpft scheint. Bisher hatten wir solche aus Uberproduktion und Unterproduktion, Überkonsumption und Unterkonsumption und durch Überkapitalisation, zu denen auch Aftalions Theorie der „Longue Durée" gerechnet werden kann, die ich als „eine Art von Friktions-Überkapitalisationstheorie" 1 bezeichnet habe. Wir wollen nicht fragen, ob Keynes Argumente uns als genügend stark erscheinen, um jene ältere Theorie zu widerlegen. Die Annahme war, wie gesagt, daß Ersparnisse aus dem Roheinkommen und Reineinkommen gar nicht anders als durch sofortige Investition angelegt werden können, abgesehen von der Hortung baren Geldes, das aber vernachlässigt werden darf, da es im großen Maßstabe nur vorkommt, wo die Staaten die Währungen verderben lassen oder wo solche Maßnahmen (Abwertung etc.) gefürchtet werden. Wenn ein Unternehmer aus Ausschreibungen Reservefonds oder sonstige Rücklagen macht, so kann er sie entweder im eigenen Betriebe weiter arbeiten lassen oder bankmäßig kurzfristig anlegen. Im ersten Falle wird nichts berührt als die Bilanz: ein Teil der Aktiva ist auf die Seite der Passiva übernommen worden, das Gewinnkonto wird geringer. Aber die real verfügbare Summe von Kapital wird dadurch nicht verändert, die Fonds „arbeiten mit". Wenn das Geld bankmäßig angelegt wird, so wird es ein anderer Unternehmer borgen, um es zur Investition, oder ein Konsument, ζ. B. der Staat, um es zum Verbrauch zu benützen. 2 Wie könnte die Bank für kurzfristige Anlagen Zinsen zahlen, wenn sie nicht für längerfristige höhere Zinsen vereinnahmte?! Keynes denkt hier offenbar an die ungeheuren Mengen flüssigen Kapitals, die sich in der letzten Zeit vielfach bei den Banken angehäuft haben, und zwar in solcher Menge, daß die Banken oft gar keine Zinsen mehr bezahlten. Aber die Frage ist, ob diese merkwürdige Erscheinung nicht viel mehr als die Folge denn als die Ursache oder als eine der Ursachen der Krise und damit der Arbeitslosigkeit aufgefaßt werden muß, und das ist eines der Probleme, die sich durch eine rein kinetische Betrachtung schlechthin nicht lösen lassen. Uns will scheinen, als wenn Keynes diese Frage nicht mit der sonst überall anzuerkennenden Gründlichkeit erörtert hätte. Aber wir wollen diesen Punkt so wenig wie irgendeinen anderen der Beweisführung urgieren. Das verbietet der ganze Charakter des Buches. Es enthält weitverzweigte Ausführungen, wie das für eine ausgesprochen kinetische Analyse der komplizierten Gesamtwirtschaft unvermeidlich ist, die grundsätzlich auf das methodische Hilfsmittel der statischen Betrachtung verzichtet. Ausführungen, die schon aus diesem Grunde außerordentlich schwierig sind und eine große Zahl von neuen Unterscheidungen mit neuen Termini mit sich führen, die in ihrer strengen Definition festzuhalten keine leichte Aufgabe ist. Da es sich ferner nicht um eine kausale, d. h. gradlinig fortschreitende, sondern funktionale, d. h. vor- und rückwärts gehende Analyse handelt, wird der Zusammenhang nur sehr schwer erfaßbar. Das Buch ist, wie das Vorwort angibt, nur für die innere Diskussion von Fachmännern geschrieben. Der Stand der theoretischen Durchbildung muß in England sehr viel höher sein als bei uns, wenn es dort viele Fachmänner gibt, die das gewichtige Buch ohne große Anstrengung auch nur verstehen, geschweige denn die komplizierte Beweisführung kritisch behandeln können. Für Nichtfachleute scheint es mir, entgegen der Hoffnung des Verfassers, gänzlich unzugänglich zu sein. Und das wird sogar für die meisten Theoretiker der Ökonomik gelten müssen, die nicht wie Keynes selbst in der Marshallschule und ihrer sozusagen Geheimsprache, Priestersprache, erzogen worden sind. Um der Beweisführung mit einigem Erfolge kritisch begegnen zu können,
1 2
Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 1020. "All production is followed by the consumption for which it was designed", Marshall, Principles of Economics, S. 524.
Arbeitslosigkeit
383
müßte man das ganze gewichtige Buch fast Satz für Satz zitieren, um dann jedem Satze den Kommentar und, wo geboten, die Kritik folgen zu lassen. Dies ist schon technisch unmöglich. Zum Glück gibt es eine andere Art immanente Kritik; sie besteht darin, die Grundaxiome oder - Postulate zu untersuchen und, wenn sie als unrichtig befunden werden, die für richtig gehaltenen ihnen entgegenzustellen, um dann aus diesen das Problem anders und - einfacher zu lösen. Das ist der Weg, den wir wählen. Zuvor noch eine Andeutung, wie Keynes sich die Behebung des Übels vorstellt. Wir sagten schon, daß er einen Mittelweg sucht zwischen der „totalen" Staatswirtschaft, wie sie fast vollkommen die Sowjets und in Annäherung die europäischen Diktaturen betreiben, einerseits, und dem radikalen „laissez faire" andererseits. Er sucht diesen Weg ähnlich wie Silvio Gesell in einer Manipulation der Geldmenge und dadurch des Zinsfußes, durch eine Politik des „Schwundgeldes", die aber natürlich nicht nur das Sachgeld, sondern auch das Bargeld, das „Kreditgeld"1 betreffen soll, um auch dem Gelde, wie allen anderen Waren, die von Natur im Werte schrumpfen, seine Durchhaltekosten aufzuerlegen.2 Keynes hält Gesell, im Gegensatz zu dem den Lesern dieser Zeitschrift bekannten Standpunkt des Referenten3 für einen Theoretiker von nicht geringem Rang4: wohlverständlich für jeden Autor, der seine Lieblingsidee bei einem Vorgänger, und noch dazu unvollkommen, also einem Vorläufer, entdeckt. Er deutet5 einmal an, daß ihm eine Bankpolitik als sehr nützlich erscheine, die nicht nur kurzfristige, sondern auch längerfristige Schulden zu bestimmten Sätzen ein- und verkauft: gewiß eine Politik, die nur mit Staatshilfe betrieben werden kann, um Illiquidität und ihre verheerenden Folgen zu vermeiden; und die außerdem nur unter sehr beträchtlichen Sicherungen betrieben werden kann, die vielleicht so schwer tragbar sein möchten, daß die Maßnahme den erwarteten allgemeinen Zweck nicht erreichen würde. Es liegt nicht in der Absicht des Verfassers, eine bestimmte, genau ausgearbeitete Politik zu empfehlen. Was er sich denkt,6 ist eine „sozial geleitete Investitionsrate, die sich eine fortschreitende Abnahme in der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals (das ist ungefähr die Profitrate, die von einer Investition erwartet wird)7 zum Ziele setzt" und daneben „alle Arten der Politik, die den Hang zum Verbrauch vermehren". Er hält es für möglich, innerhalb einer einzigen Generation den reinen Zins (statischen Profit) auf Null zu bringen, also nur Unternehmerlohn und Risikoprämie übrig zu lassen. Das ist der sozialistische Zug der Lehre (der mir persönlich außerordentlich sympathisch ist), „Kapitalgüter so reichlich zu machen, daß die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals Null ist, mag der vernünftigste Weg sein, um allmählich die verschiedenen anstößigen Formen des Kapitalismus los zu werden. Denn ein wenig Überlegung wird zeigen, was für gewaltige gesellschaftliche Änderungen sich aus einem allmählichen Verschwinden eines Verdienstsatzes aus aufgehäuftem Reichtum ergeben würden."8 Henry George hat diese Überlegung in dem wundervollen letzten Kapitel seines „Progress and Poverty" zu Ende geführt, und ich selbst desgleichen in dem Schlußkapitel meines [Werkes] Weder Kapitalismus noch Kommunismus9.
1
Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, S. 302.
2
Ebenda, S. 189.
3
Vgl. Oppenheimer, Freiland, Freigeld, in: Zeitschrift für schweizerische Statistik und Volkswirtschaft, Bd. 71, Heft 3 (1935).
4
Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, S. 300.
5
Ebenda, S. 172.
6
Ebenda, S. 275.
7
Ebenda, S. 114.
8
Ebenda, S. 184f.
9
[Oppenheimer, Weder Kapitalismus noch Kommunismus, Stuttgart 1931; A.d.R.]
384
Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
III. Das uneingestandene Postulat (Der Kapitalismus und die Statik) Alle klassische Theorie, die ältere wie die jüngere, geht von einem Satze aus, der ihr als ein keines Beweises bedürftiges Axiom, als selbstverständlich erscheint, nämlich von der Annahme, daß die kapitalistische Wirtschaft nach dem Gesetze der Konkurrenz verläuft. Alle echte Wissenschaft beginnt bekanntlich erst dann, wenn das „Selbstverständliche" zum Problem wird. Die Physik ζ. B. begann, als zum ersten Male gefragt wurde, warum der Apfel zur Erde fällt. Mehr noch: das Selbstverständliche kann falsch gedeutet werden. Millionen von Jahren haben die Menschen gesehen, es war ihnen also „evident", daß die Sonne sich um die Erde dreht. Was ist das Grundgesetz der Konkurrenz? Zwei antagonistische Kräfte wirken auf den Preis der Güter und der Arbeit und durch diese auf Entschluß und Verhalten der Produzenten von Waren und Diensten derart, daß steigende Gewinne sie zur Ausdehnung, sinkende Gewinne zur Einschränkung ihrer Produktion veranlassen. (Unter „Produktion" verstehe ich nicht die Erzeugung, sondern das Zu-Markte-Bringen.) Auf diese Weise wird jeder Ausschlag nach der einen Seite zur Ursache einer Bewegung nach der anderen Seite mit der - nie ganz erreichten - Tendenz, zu einem Preisstande für Waren und Dienste zu führen, der allen Produzenten gleicher Qualifikation in gleicher Zeit das gleiche Einkommen abwirft. Adam Smith sagt: „Die Gesamtheit der Vor- und Nachteile der verschiedenen Beschäftigungen von Arbeit und Kapital müssen in derselben Gegend entweder völlig gleich sein, oder doch beständig auf Gleichheit tendieren."1 Das ist die ganze Theorie der Konkurrenz in nuce, und das ist das uneingestandene Postulat der klassischen Schule, von dem auch Keynes als von einer „Selbstverständlichkeit" ausgeht. Es ist in der Tat evident und die tiefste Grundlage aller Theorie, die jeden ihrer Sätze, die wenigen richtigen und die vielen falschen, die schon und die noch nicht widerlegten, aus diesem Axiom als einer ihrer Prämissen deduziert hat; es bleibt nichts, aber auch durchaus nichts von ihr übrig, wenn sie diese Lehre aufgibt. Aber die Frage ist, ob das Axiom auch für die kapitalistische Wirtschaftsordnung Geltung hat. Das ist nicht so a priori gewiß. Denn jedes Gesetz, mit einziger Ausnahme des moralischen, das kategorisch ist, ist „hypothetisch", d. h. gilt nur, wenn seine Bedingungen gegeben sind. Da der Verlauf der kapitalistischen Wirtschaft nicht nach der Berechnung sich vollzogen hat, indem er z. B. unfreiwillige Arbeitslosigkeit mit sich führte, ist dem Problem nicht auszuweichen, ob im Kapitalismus die Bedingungen gegeben sind, die vorhanden sein müssen, um das Spiel der Konkurrenz im Gegeneinander von Angebot und Nachfrage sich voll auswirken zu lassen. Da jenes Grundgesetz unzweifelhaft besteht (trotz allen heute verschollenen Einwänden der „historischen" Schule), müssen irgendwo Hemmungen wirken, Einflüsse systemfremder Kräfte, von außen her stammende Störungen. Um ein oft gebrauchtes Beispiel anzuführen, muß der Ökonomist gleich dem praktischen Artilleristen die Kräfte aufsuchen, die es verhindern, daß das Geschoß in der Parabel fliegt, und die Größe dieser Kräfte feststellen, um die wirkliche Geschoßbahn berechnen und - das Ziel treffen zu können. Wenn man das Getriebe der Konkurrenz im Kapitalismus untersucht, so findet man, daß es in einer bedeutsamen Hinsicht von der theoretischen Grundannahme abweicht: die industriellen Un-
1
"The whole of the advantages and disadvantages of the different employments of labour and stock must, in the same neighbourhood, be either perfectly equal or continually tending to equality." (Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the [Wealth of Nations], Every Man's Edition, London/New York [ohne Jahr], I. Buch, S. 88.)
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ternehmer verhalten sich programmwidrig. Sie dehnen die Produktion aus, wenn ihre Gewinne steigen, aber auch eine Zeitlang, wenn sie fallen! Sie tun es nicht aus mangelnder Voraussicht und ebensowenig aus Starrköpfigkeit, sondern unter einem unwiderstehlichen Zwang, in Gehorsam gegen das wirtschaftliche Prinzip des kleinsten Mittels. Wenn sie nämlich bei fallenden Gewinnen einschränken, sind sie so gut wie sicher, daß ihre Konkurrenten ihren Betriebsumfang aufrechterhalten, ja, wahrscheinlich sogar noch vergrößern werden; und dann sind sie doppelt geschädigt und in letzter Linie vom wirtschaftlichen Ruin bedroht: sie werden weniger Ware zu herabgesetzten Preisen verkaufen, ihr Gesamtgewinn wird von beiden Seiten her einschrumpfen. Wenn sie sich also nicht mit ihren Konkurrenten zu gemeinsamer Produktions- und Preispolitik verbünden, d. h. ein Monopol ihres Marktes schaffen können, so bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als ihre Produktion zu steigern und zu versuchen, sie zu dem geringeren Preise abzusetzen. Das ist ihr einziges Mittel, den Gesamtgewinn auf seiner Höhe zu halten, vielleicht sogar noch zu vermehren, wobei noch die Chance winkt, die schwächeren Gegner durch Unterbietung aus dem Markte zu werfen und dadurch für sich allein das heiß erstrebte Monopol zu erlangen. Dann wird der Konsument die Kriegskosten zu bezahlen haben. Das ist der Grund, warum die kapitalistische Konkurrenz den Charakter des verzweifelten Kampfes um die Existenz „bis aufs Messer" hat. Aber das gilt nur für die industriellen Unternehmer der kapitalistischen Ära. Nur zwischen ihnen besteht dieser „feindliche Wettkampf", wie ich ihn genannt habe. Sonst überall besteht der „friedliche Wettbewerb", der ein ganz anderes Verhalten zeigt, sogar zwischen den landwirtschaftlichen Unternehmern der kapitalistischen Ordnung. Das ist schon Adam Smith aufgefallen, der sich dabei auf einen sehr viel älteren Vorgänger, nämlich den alten Cato, beruft. Der Schotte setzt der immer wieder von ihm angeprangerten Sucht der industriellen Unternehmer, ihren Markt zu monopolisieren, das Verhalten der Landwirte entgegen: „Im Gegensatz dazu sind Pächter und ländliche Grundherren im allgemeinen eher dazu geneigt, die Kultivierung und Verbesserung der Wirtschaften ihrer Nachbarn zu fördern als zu verhindern. Sie haben keine Geheimnisse von der Art, wie sie der größere Teil der Fabrikanten besitzen, sondern sie haben geradezu ihre Freude daran, jede neue Erfahrung, die sie als vorteilhaft befunden haben, ihren Nachbarn mitzuteilen und so weit wie möglich zu verbreiten."1 Nun gibt es zahlreiche Menschen, die gleichzeitig industrielle Unternehmer und Landwirte oder doch wenigstens Grundbesitzer sind. Sie handeln dort wie alle anderen Fabrikanten, hier wie alle anderen Landwirte. Man darf also diese auffällige Verschiedenheit des Verhaltens nicht darauf zurückführen, daß die Landwirtschaft einen spezifisch veredelnden, die Industrie aber einen spezifisch verderbenden Einfluß auf ihre Leute ausübt - was übrigens, logisch betrachtet, nichts als eine grobe petitio principii wäre. Hier steht also ein wichtiges Problem vor uns auf: unter welchen Bedingungen herrscht der friedliche Wettbewerb, unter welchen der feindliche Wettkampf? Dieses Problem habe ich vor mehr als vierzig Jahren gestellt und völlig gelöst, ohne daß es seitdem in der theoretischen Literatur auch nur ein einziges Mal erwähnt worden wäre.2 Ich entdeckte den Gegensatz bei einer Untersuchung des Genossenschaftswesens: die Verbände der Käufer entwickeln sich polar verschieden von denen der Verkäufer, weil zwischen jenen aus klaren Gründen der friedliche Wettbewerb, zwischen diesen aber der feindliche Wettkampf herrscht. Das Interesse jedes Käufers nämlich zwingt ihn, sich so zu verhalten, wie es im Interesse aller Käufer liegt, das Interesse des einzelnen Verkäufers zwingt ihn zu einem Verhalten, das dem aller anderen Verkäufer entgegengesetzt ist. Die Käufer schränken
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Smith, Wealth of Nations, I. Buch, S. 406. Oppenheimer, Die Siedlungsgenossenschaft, Leipzig 1896, S. 117ff.
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Erster Teil: Nationalökonomie
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Wirtschaftspolitik
bei steigenden Preisen ihren Konsum ein, die kapitalistischen Verkäufer dehnen ihre Produktion bei fallenden Preisen noch aus. Es stellte sich dann heraus, daß die Landwirte auch der kapitalistischen Ära psychologisch genau so gelagert sind wie die Käufer; und weiterhin, daß die gewerblichen Unternehmerverbände des hohen Mittelalters, die Zünfte und Innungen, sich wie Genossenschaften von Käufern verhielten, weil auch ihre psychologische Lagerung exakt die der Käufer war. Die weitere Analyse ergab, daß diese Psychologie des feindlichen Wettkampfs überall mit dem Augenblicke einsetzt, wo der kapitallose Arbeiter in Massen auf dem Arbeitsmarkte auftritt und durch seine Hungerkonkurrenz den Lohn herabzieht. Dann nämlich sind die beiden Bedingungen gegeben, die vorhanden sein müssen, um den industriellen Unternehmer zur Erweiterung seiner Produktion zu befähigen und zu veranlassen: technisch, sozusagen mechanisch, die Möglichkeit, die dazu erforderlichen Arbeiter auf dem Markte zu finden, und psychologisch die Möglichkeit, einen vermehrten Kapitalprofit zu machen. Bis dahin hatte er nämlich überhaupt keinen Kapitalprofit, der nichts ist als ein Abzug vom Lohn seiner Arbeiter, sondern nur den Unternehmerlohn seiner qualifizierten Arbeit. Er verlor also bei jeder Senkung des Preises seiner Ware und hätte sich wohl gehütet, unter solchen Umständen den Betrieb zu erweitern, selbst wenn die technische Möglichkeit dazu bestanden hätte. Jetzt aber, wo die Arbeiter sich unterbieten müssen, gewinnt er normalerweise an jeder Wareneinheit auch noch seinen Profit oder „Reinzins" und kann daher darüber spekulieren, ob sein Gesamtgewinn, an dem allein er interessiert ist, nicht vielleicht noch steigen wird, wenn er mehr Einheiten zu geringerem als weniger zu höherem Preise verkaufen wird. Das waren die äußeren Bedingungen, unter denen die gewerbliche Genossenschaft des hohen Mittelalters sich plötzlich aus einer, allen Gewerbsgenossen offenstehenden, demokratisch verwalteten, in eine abgeschlossene, monopolistische, autoritär verwaltete Einung verwandelte; dies die Bedingungen, unter denen das noch von Smith und sogar Marx als Arbeiterparadies beschriebene Nordamerika zu dem Lande des ungeheuerlichsten Kapitalismus und der gewaltigsten unfreiwilligen Arbeitslosigkeit wurde. W i r werden die Ursache dieses Umschwungs im nächsten Abschnitt festzustellen haben. Hier interessiert uns zunächst etwas anderes. Es hat sich herausgestellt, daß der Kapitalismus nicht das System der vollen Konkurrenz ist, für den ihn das uneingestandene Postulat hält. Die Preise für Güter und Dienste, anstatt in leichten Wellenbewegungen nach Störungen immer wieder zum Gleichgewicht hin zurückzuschwanken, vergleichbar der Fläche eines vom Winde berührten Teiches, verhalten sich wie Böhm-Bawerks Brandung, die in einer Sturmflut die Deiche zerbricht und das Land weithin verwüstet. Oder mit anderen Worten: Die kapitalistische Wirtschaft hat keine Statik, nicht bloß in dem mit dem Postulat wohl vereinbarten Sinne, daß sie praktisch niemals voll erreicht werden kann, sondern in dem mit ihm durchaus unvereinbaren Sinne, daß sie theoretisch nicht vorgestellt und errechnet werden kann. Sie darf daher als methodisches Hilfsmittel der Deduktion nicht ohne weiteres verwendet werden, weil die kapitalistische Wirtschaft gar nicht auf einen Zustand des Gleichgewichts tendiert. Nun ist aber, wie wir wissen, die statische Betrachtung unentbehrlich. Wenn wir nicht alle Hoffnung überhaupt aufgeben sollen, jemals zu einer Theorie der Ökonomik zu gelangen, müssen wir verstehen, daß der Kapitalismus selbst, als Ganzes genommen, das Bild einer Störung darstellt, der Störung des Systems der freien Konkurrenz durch systemfremde Kräfte. Wir müssen daher dieses System, wenn wir es in der Wirklichkeit nicht auffinden können, durch Deduktion aus seinen Voraussetzungen errechnen und dann, Ergebnis für Ergebnis, mit den Tatsachen der kapitalistischen Wirtschaft konfrontieren, um herauszufinden, was in ihr systemeigen und was in ihr systemfremd ist. Das ist die methodisch streng vorgeschriebene Aufgabe.
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IV. Der Arbeitslohn W i r gehen wie Keynes von den Bestimmgründen des Arbeitslohnes aus. Die beiden oben angeführten „diskussionslos angenommenen Postulate" der Marshallschule, deren erstes er billigt, deren zweites er ablehnt, weil es nur auf einen von vielen möglichen Fällen zutrifft, sollen uns, so wird behauptet, die Tabellen des Angebots und der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkte geben. W i r wollen das per inconcessam zunächst einmal zugeben. Selbst dann ist noch wenig gewonnen. D i e Berufung auf Angebot und Nachfrage gibt uns, wie Böhm-Bawerk einmal sagt, nur „Schalen anstatt Kerne". D e n n hier wird, u m den großen, auch von der Marshallschule so hochverehrten T h ü n e n zu zitieren, der hier gerade dieses P r o b l e m erörtert, „durch eine Begriffsverwechslung das Faktische für eine Erklärung, das, was geschieht, für den Grund der Erscheinung genommen" 1 . „Wer aber tiefer eindringt, wird erkennen, daß Angebot und Nachfrage nur die äußere Erscheinung einer tiefer liegenden Ursache ist." 2 Wie alle Preise, so schwanken auch die Löhne um einen Mittelwert, der, gerade wie der Mittelpunkt der Pendelschwingungen, durch Kräfte bestimmt ist, die mit dem Getriebe selbst nichts zu tun haben, die ihm sozusagen a priori sind; der Mittelwert ist der Punkt aktiver Attraktion. „Ich will wissen, warum Angebot und Nachfrage gerade bei 5, und nicht bei 2 oder bei 10 % im Gleichgewicht sind." 3 Es ist also unsere erste Aufgabe, diesen Mittelwert des Lohnes, d. h. den „natürlichen Preis" der Arbeit aufzusuchen. Das ist leicht getan. D e r Arbeiter ist ein „Unselbständiger", der im Auftrage und auf Kosten und Gefahr seines Arbeitgebers ihm „Dienste" leistet und dafür einen vereinbarten L o h n empfängt.
Dieser Lohn muß offenbar mindestens so hoch sein wie der Gewinn, den die gleiche Person als Selbständiger durch Arbeit für sich selbst erzielen kann. Wieviel kann nun dieser „Grenz-Selbständige" mit eigener Arbeit für sich selbst gewinnen? Das hängt offenbar, die Qualifikation gegeben, nur davon ab, inwieweit er mit den erforderlichen Produktionsmitteln versehen ist. Das wichtigste aller Produktionsmittel ist der Grund und Boden. So kam H e n r y George, dem sich kein Geringerer als J o h n Clark anschloß, zu dem Satze: „Die H ö h e des Lohnes im allgemeinen wird durch die jeweilige Leichtigkeit oder Schwierigkeit bestimmt, unter welcher der Arbeit das natürliche Arbeitsmaterial, der G r u n d und Boden zugänglich ist." 4 Das gilt für jede denkbare Gesellschaft, die bereits bis zur Arbeitsteilung zwischen mehreren in einem Betriebe fortgeschritten ist. Eine dieser Gesellschaften höherer Entwicklung ist die kapitalistische, mit der allein wir es hier zu tun haben. N u r eine von mehreren denkbaren! Indem wir dies aussprechen, nehmen wir scharf Stellung gegen die klassische D o k t r i n . Für sie nämlich gibt es nur eine
denkbare Gesellschaft höherer Entwicklung: die kapitalistische. Das ist der letzte Sinn des
uneingestandenen Postulates. Das aber ist ihr entscheidender Irrtum! D i e kapitalistische Gesellschaft ist nur eine besondere Spezies des Genus: entwickelte Gesellschaft, die durch eine deutliche differentia specifica von anderen Spezies unterschieden ist. In ihr sind die Arbeiter politisch frei, weder Hörige noch Sklaven; das unterscheidet sie von der Wirtschaft des Altertums, des frühen und späten Mittelalters und der sklavenhaltenden Kolonien der Neuzeit. U n d in ihr ist ferner der Arbeiter kapitallos,
hat keine
eigenen Produktionsmittel, ist auch in diesem Sinne „frei von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen", wie Marx sagt, der ihn deshalb mit bitterem Doppelsinn als den „freien"
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v. Thünen, Der isolierte Staat, Jena 1921, S. 436. Ebenda, S. 470. Ebenda, S. 466. [George, The condition of labour, London 1891, ohne Seitenangabe; A.d.R.]
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Erster Teil: Nationalökonomie
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Wirtschaftspolitik
Arbeiter bezeichnet. Und das unterscheidet die kapitalistische Wirtschaft von der des hohen Mittelalters 1 und der nicht sklavenhaltenden Kolonien, wo der Arbeiter so hohen Lohn erhielt, daß er in kurzer Zeit die erforderlichen Produktionsmittel für sich beschaffen und zur Selbständigkeit gelangen konnte. Adam Smith schildert das im zweiten Teile des Abschnitts über Kolonien: Der Kolonist hat mehr Land genommen, als er irgend bestellen kann. Er hat mit keinem Grundherrn zu teilen und zahlt kaum Steuern. U m sein Land zu nützen, braucht er Arbeiter, die er „mit höchst großmütigen Löhnen bezahlen muß. Aber diese großmütigen Löhne in Verbindung mit der Fülle und Billigkeit des Grundes und Bodens führen bald dazu, daß diese Arbeiter ihn verlassen, um selbst Grundbesitzer zu werden und ihrerseits mit gleicher Großzügigkeit Arbeiter zu besolden, die sie bald aus dem gleichen Grunde verlassen werden. [...] [I]hre Kinder werden, wenn sie zur Reife gelangt sind, durch den hohen Preis der Arbeit und den niedrigen Preis von Grund und Boden befähigt, sich in derselben Weise wie ihre Väter selbständig zu machen." 2 Karl Marx geht noch weiter. In dem Schlußkapitel des ersten Bandes seines „Kapital" sagt er: „Der Lohnarbeiter von heute wird morgen unabhängiger, selbstwirtschaftender Bauer oder Handwerker. Er verschwindet vom Arbeitsmarkt, aber - nicht ins Workhouse." 3 Diese Wirtschaft ist nicht kapitalistisch: „Das kapitalistische Regiment stößt dort überall auf das Hindernis des Produzenten, welcher als Besitzer seiner eigenen Arbeitsbedingungen sich selbst durch seine Arbeit bereichert statt des Kapitalisten." 4 Karl Kautsky in seinem Kommentar unterstreicht das noch: „Unter diesen Umständen hört das Kapital auf, Kapital zu sein [...] die Produktionsmittel verwerten sich nicht." 5 Hier ist also der „ G r e n z s e l b s t ä n d i g e " der unverschuldete Bauer auf ausreichendem Grundbesitz, und sein Einkommen bestimmt den Lohn aller gleichqualifizierten unselbständigen Arbeit, der sogar etwas höher sein muß, um für den Verzicht auf Selbständigkeit zu entschädigen. Wo aber so günstige Umstände nicht bestehen, da, so fährt Smith fort, „verzehren Rente und Profit den Lohn, und die beiden oberen Stände unterdrücken den unteren". Das ist der Fall in allen Ländern des entwickelten Kapitalismus. Hier ist der Grenzselbständige, dessen Einkommen das aller gleichqualifizierten Unselbständigen bestimmt, ganz gewiß nicht der freie, unverschuldete Bauer auf ausreichend großem Grundbesitz, sondern offenbar ein Mensch mit proletarischem Einkommen. Dieser Mensch ist aufzufinden. Hier steckt ein Problem, das die „klassische" Schule nie gesehen hat. Sie weiß nicht, daß sie, um mit Marx zu sprechen, von „Lohnarbeit" handelt, wenn sie „Arbeitslohn" sagt: von Lohnarbeit, geleistet von kapitallosen Arbeitern. Das Problem des kapitalistischen Arbeitslohnes stellt demnach drei verschiedene Teilprobleme. Erstens: Wie ist die Klasse der „freien Arbeiter" entstanden? Zweitens: Wer ist hier der Grenzselbständige, d. h. wie bestimmt sich der mittlere Lohn? Drittens: Warum steht dieser Lohn so tief, daß der Arbeiter (individuell und kollektiv) niemals genug ersparen kann, um sich die zur Selbständigkeit erforderlichen Produktionsmittel zu beschaffen?
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[Vgl. dazu Oppenheimer, Abriß einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas von der Völkerwanderung bis zur Gegenwart, in: System der Soziologie, Bd. IV, 3. Teilbd.: Stadt und Bürgerschaft. Die Neuzeit, Jena 1935, 5. und 6. Abschnitt, A.d.R.] Smith, Wealth of Nations, II. Buch, S. 63. Marx, Das Kapital. Die Kritik der politischen Ökonomie, Bd. I, 4. Auflage, Hamburg 1890, S. 734. Ebenda, S. 730. Kautsky, Karl Marx' ökonomische Lehren, 14. Auflage, Stuttgart 1912, S. 265.
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a)
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Die Ausgangslage
Das erste Teilproblem ist gelöst, sobald man sich klar macht, daß der Kapitalismus nicht, wie das uneingestandene Postulat behauptet, eine immanente, sondern eine historische Kategorie ist, um den Marxschen Ausdruck anzuwenden. Er ist eine historische Epoche und kann nur als solche verstanden und erklärt werden. Das will sagen: man muß von seiner geschichtlich gegebenen Anfangssituation, seiner „Ausgangslage" ausgehen, um die richtigen Prämissen der Deduktion zu erlangen. Der industrielle Kapitalismus beginnt, wie ich habe zeigen können,1 überall mit der Einführung der Freizügigkeit durch die bürgerlichen Revolutionen, die der Vorperiode, der Wirtschaft des feudalabsolutistischen Staates, ihr Ende bereiten. Die Freizügigkeit ist es, die den freien Arbeiter massenhaft auf die städtischen Arbeitsmärkte wirft; man hat ihn politisch befreit, denkt aber nicht daran, ihn auch aus seiner wirtschaftlichen „Freiheit" zu erlösen: seiner Kapitallosigkeit. Es ist der bisher an die Scholle gefesselte Mensch; das war er auch in England durch die Kirchspielgesetze, „die einen Mann sozusagen für Lebenszeit einkerkern"2, und die Korporationsgesetze. Jene hinderten ihn, sein heimisches Kirchspiel zu verlassen, diese, in die städtischen Gewerbe einzutreten. Er war also schollengebunden wie ein Leibeigener des Ostens. Die Einführung der Freizügigkeit war die einzige große Veränderung der wirtschaftlichen Grundlage, die sich damals vollzog. Grundsätzlich erhalten blieben aus der Vorperiode, gingen also in die kapitalistische Periode über: erstlich die bestehende Verteilung des Vermögens und daher natürlich auch des Einkommens, und die Vormachtstellung der besitzenden Schichten in der inneren wie in der äußeren Politik, dasjenige, was ich „das öffentlich-rechtliche Klassenmonopol der Staatsverwaltung" genannt habe. Es waren eben Revolutionen der Bürger, die wohl die auf ihnen lastenden feudalen Privilegien abzuschütteln entschlossen waren, aber gar nicht daran dachten, ihre faktischen Privilegien zugunsten der unteren Stände zu beschränken oder gar aufzugeben. Das Verhalten Cromwells gegen die Levellers ist dafür gerade so bezeichnend wie der krasse, neuerdings von Aulard 3 stark herausgearbeitete Gegensatz zwischen den „droits de l'homme" und der Konstitution, „die das Bürgertum als politisch bevorrechtigte Klasse organisierte"4, indem sie überall das Zensussystem einführte. Das ist die Ausgangslage. In ihr waren bereits alle Erscheinungen der kapitalistischen Verteilung in nuce gegeben. Das zeigt sich klar, wenn wir uns die Verteilung am Schlüsse der Vorperiode in einem idealtypischen Bilde darstellen: Das Land ist von Großbesitzungen des Adels und der Kirche eingenommen: von den wenigen freien Bauerneigentümern dürfen wir absehen. In den Städten existiert ein industrieller Kapitalismus, wenn überhaupt schon, nur erst in seiner ersten Keimform als schwaches Verlagssystem. Der schlechteste bzw. marktfernste Ackerboden, dessen Ertrag der Markt noch braucht und bezahlt, bringt seinem Besitzer einen Ertrag je ha als Feudaltribut seiner Hintersassen. Alle Besitzer von Boden, der besser oder marktnäher ist als dieser „Grenzboden", beziehen darüber hinaus Differentialrente. Genau das gleiche Bild nach der Umwälzung, nur mit dem einen, sehr geringfügigen Unterschiede, daß der Ertrag des Grenzbodens jetzt nicht mehr Feudalrente, sondern Profit genannt und dem darauf investierten Kapital „zugerechnet" wird.
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Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. IV, 3. Teilbd., Stadt und Bürgerschaft, S. 1048ff. Smith, Wealth of Nations, I. Buch, S. 127. Vgl. auch S. 414. Aulard, Politische Geschichte der Französischen Revolution, ins Deutsche übersetzt von Bronikowsky, Bd. I, München 1924. Ebenda, S. 47.
Oppeln-
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und
Wirtschaftspolitik
b) Der Mittelwert der Arbeit Hier wie überall bestimmt sich der mittlere Wert der Arbeit, also der „natürliche Lohn", nach der Zugänglichkeit der Produktionsmittel für den Unselbständigen, aber hier, mit der näheren Bestimmung, die die différencia specifica der kapitalistischen Wirtschaft darstellt, daß alle von der Natur dargebotenen Arbeitsmittel im Besitz der oberen Klassen sind, mit einziger Ausnahme derjenigen, die es noch nicht gelohnt hat oder die es noch nicht gelungen ist, anzueignen, wie z. B. Besenginster, Fallholz, Waldbeeren, arme Fundstätten von Kristallen oder Gold in Flußsanden, deren Auswaschung nicht einmal den niedrigsten Arbeitslohn der Gegend ergibt. Alles andere ist Eigentum der besitzenden Klassen und wird durch ihr Monopol der Staatsverwaltung gewährleistet und verteidigt. Darum muß sich der Lohn des unqualifizierten unselbständigen Arbeiters notwendig einstellen auf ungefähr den Satz, den er als Selbständiger mit den noch freigebliebenen Produktionsmitteln erwerben kann. Dazu gehört auch der noch herrenlose Boden. Es gibt noch immer solchen, aber nicht in den alten Kulturländern. Hier ist er völlig angeeignet, nicht nur der gute und marktnahe, sondern auch der schlechteste und marktfernste, der bebaute und der unbebaute, Acker, Wiese und Wald, sogar Ödland, Moorland und Seeküste. Adam Smith berichtet, daß die Fischer der Shetlandinseln ihrem Grundherrn eine Pacht für das kleine Grundstück zahlen müssen, auf dem ihre Hütten stehen, und zwar: „im Verhältnis nicht zu dem, was der Pächter aus dem Lande erarbeiten kann, sondern zu dem, was er auf dem Lande und auf dem Meere gewinnen kann"1. Nur in Ubersee findet sich noch gänzlich freies oder doch sehr billiges Land, aber es verhält sich mit ihm gerade so wie mit den goldhaltigen Flußsanden: alles, was nicht nur im gegenwärtigen Zeitpunkt, sondern in irgend absehbarer Zukunft einen Ertrag abzuwerfen verspricht, der an den kapitalistischen Lohnsatz heranreicht, ist schon heute angeeignet; der kapitallose Mann darf darauf ohne die teuer bezahlte Erlaubnis des Besitzers nicht Haus oder Werkstatt bauen, ackern, gärtnern, jagen, fischen, Holz schlagen usw. Auf dem noch freien Lande aber in Übersee kann der kapitallose Mann zur Zeit nicht einmal den kapitalistischen Lohn erarbeiten. Hier also sitzt oder könnte doch sitzen der „Grenzselbständige", und sein faktisches oder potentielles Einkommen bestimmt den Lohn der sämtlichen gleich qualifizierten kapitallosen Unselbständigen, namentlich der Landarbeiter überall im angebauten Gebiet, und deren Lohn wieder den der Industriearbeiter. Das hat Henry George klar erkannt, aber er hat den schwerwiegenden Fehler begannen, diesen seinen „margin of cultivation" dem von Ricardo (den er völlig mißverstand) bestimmten Grenzrande gleichzusetzen. Das ist die Zone, in der der kapitalbewaffnete Pächter über den von ihm gezahlten Arbeitslohn hinaus noch den normalen Profit auf sein Kapital verdient, aber dem Grundbesitzer keine Rente zahlen kann. Bei George jedoch ist es die Zone, wo der kapitallose Eigentümer noch nicht einmal den Lohn verdienen kann, und diese Zone liegt unendlich viel weiter vom Zentrum des Marktes fort als jene.2 Zwischen beiden liegt ein ungeheures Gebiet, das für kapitalistischen Ackerbau noch nicht reif, gegen jede nichtkapitalistische Siedlung aber gesperrt ist. Zum Teil wird es in extensivster Großviehhaltung kapitalistisch genützt: die Weideknechte, Gauchos, Peons, Cowboys usw. werden entsprechend ihrer Qualifikation nach dem kapitalistischen Satz entlohnt.
1 2
Smith, Wealth of Nations, I. Buch, S. 131. Vgl. Oppenheimer, Wahrheit und Irrtum bei Henry George, in: Zeitschrift für schweizerische Statistik und Volkswirtschaft, Bd. 76, (1937) S. 126f.
A rbeitslosigkeit
c)
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Der Marktpreis der Arbeit
Um diesen Satz als ihren Mittelpunkt schwanken die Löhne je nach Angebot und Nachfrage. Die Nachfrage nach Arbeit geht aus von den städtischen Gewerben, Industrie, Handel und Verkehr, die, wie die Ziffern des Städtewachstums zeigen, bisher in aller Regel viel mehr Arbeiter eingestellt haben, als der Bevölkerungszuwachs der Städte selbst ihnen stellen konnte. Nur im Tiefpunkt schwerer Krisen hat diese gewaltige Attraktion für kurze Zeit einer Repulsion Platz gemacht. Das Defizit an erforderter Arbeitskraft wurde gedeckt durch proletarische Einwanderung aus den Landbezirken des gleichen Landes oder fremder Länder, und zwar ganz überwiegend aus Gebieten des großen Grundeigentums, der „Bodensperre", und erst in zweiter Linie aus Gebieten der „Bodenenge", d. h. solchen, in denen die agrarische Bevölkerung allzu dicht sitzt und demnach auf allzu kleinem Besitz nur eine ungefähr proletarische Existenz finden kann, eben weil ihr der Abfluß in die Gebiete des Großgrundeigentums mit seiner allzu dünnen Bevölkerung gesperrt ist. Von reinen Bauernbezirken aus hat es immer nur eine relativ schwache Wanderung überhaupt gegeben, und diese ist überwiegend nichtproletarisch. Diese Wanderung hält das Angebot auf dem Markte der städtischen Arbeit in aller Regel über der Nachfrage. Dennoch ist der Mittelsatz des Lohnes allmählich nicht unbeträchtlich gestiegen, und zwar, weil auf dem Markte der landwirtschaftlichen Arbeit die Lage dank der Fortwanderung für die Landarbeiter günstiger wurde; es kommt dazu, daß die Entwicklung der städtischen Gewerbe eine starke Intensivierung des Ackerbaus mit sich brachte, die je Flächeneinheit bedeutend mehr Arbeitskräfte erfordert. Mit dem Lohn der Landarbeiter mußte der der städtischen Arbeiter steigen: es kann auf dem gleichen Markte - und die beiden Teilmärkte stehen in offener Kommunikation nur einen Preis für die gleiche Ware geben. Bis heute aber hat der Mittelsatz keine Tendenz gezeigt, über die Linie des Schicksals (Georges „Rentenlinie") hinauszuwachsen, jenseits derer die Arbeiter genügend Ersparnisse machen können, um sich einzeln oder als Kollektivität die bedurften Produktionsmittel selbst zu beschaffen. Sie sind, wenn auch etwas besser gestellt, so doch nach wie vor „freie" Arbeiter. Und es ist wenig Aussicht dafür vorhanden, daß es anders wird, solange die Oberklasse das Monopol der Staatsverwaltung besitzt und handhabt. Sie verteidigt ihre Klassenmacht, indem sie das sonst längst verlorene Großgrundeigentum durch Zölle, Liebesgaben, Steuerbegünstigung und dergleichen am Leben erhält, und das Volkseinkommen durch „rentable Destruktion" von Gütern und in Rüstungen vergeudet und die Substanz in Kriegen zerstört.
d)
Die eingestandenen Postulate
Die Lehre vom Lohn und der Beschäftigung, die die spätklassische Doktrin vorträgt, beantwortet von den soeben behandelten Teilproblemen nur ein einziges, indem sie Angebot und Nachfrage auf dem Markte der Arbeit zu bestimmen versucht. Wir führen die „Postulate", deren erstes Keynes annimmt, während er das zweite als zu eng verwirft, noch einmal an: „Der Lohn ist gleich dem Grenzerzeugnis der Arbeit", und: „Der Nutzen des Lohnes ist, wenn eine gegebene Arbeitsmenge beschäftigt wird, gleich dem Grenznachteil dieser Beschäftigungsmenge." Vom Standpunkt der Arbeitgeber aus gesehen, „liefert uns das erste die Nachfragetabelle der Arbeit, das zweite die Angebotstabelle". Der Arbeitgeber hört auf, Arbeit nachzufragen, sobald der Lohn, den er zahlen müßte, größer würde als der Wert, den das Grenzerzeugnis der Arbeit hätte. Der Arbeiter hört auf, Arbeit anzubieten, sobald der Lohn, den er erhalten würde, geringer wäre, als das Opfer, das er mit der Arbeit auf sich nehmen würde.
Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
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Selbst wenn wir zugeben müßten, was wir nicht tun, daß diese Deduktion richtig ist, wäre bereits zu sagen, daß damit von all den Fragen, die uns das Problem des Lohnes stellt, nur die unwichtigste beantwortet wäre: „Schalen statt Kerne!" Es fehlt jeder Versuch der wichtigsten Bestimmung, nämlich des Mittelwertes, auf den die Schwankungen im Marktpreise des Lohnes hintendieren. Auf diese Weise läßt sich jede Lohnhöhe „ableiten" zwischen dem Maximum des vollen Arbeitsertrages und dem Minimum des bloßen Existenzlohnes. Diese erste Frage hätte auf die zweite führen müssen, warum „die Verhandlungsposition der Arbeiter" 1 so ungünstig ist, daß „die Arbeiter gezwungen sind, gegeneinander zu bieten, um Beschäftigung zu finden" 2 , und nicht so günstig wie zu seiner Zeit in den amerikanischen Kolonien, wo „die Knappheit an Händen einen Wettbewerb zwischen den Arbeitgebern hervorruft, die gegeneinander bieten, um Arbeiter zu erlangen" 3 . Und das wieder hätte zum dritten Teilproblem führen müssen, wie eine Klasse besitzloser freier Arbeiter überhaupt entstehen konnte. Diese Fragen hat die ältere klassische Theorie doch wenigstens gesehen und zu beantworten gesucht: durch die Smithsche Lehre vom Unterhaltsfonds der Arbeit, durch das „Gesetz der ursprünglichen Akkumulation", das die Klassen aus den Unterschieden der wirtschaftlichen Begabung ableitet, durch die Ricardosche Lohntheorie und schließlich durch das Malthussche Bevölkerungsgesetz, die einzige Erklärung, die die klassische Doktrin für den Tiefstand der Löhne besitzt. Alle diese Lösungen sind heute als unhaltbar anerkannt, und damit stehen die drei großen Teilfragen des Lohnproblems erneut zur Beantwortung. Wer meine oben gegebene Lösung bestreiten will, muß sie widerlegen und eine andere finden. Und wird dabei nicht einmal die eine Teillösung verwenden können, die die Schule vorträgt. Auch sie ist unhaltbar. Sie entstammt der Grenznutzenlehre von Hermann Gossen, die ich als durchaus richtig anerkenne. Er hat gezeigt, daß der subjektive Wert (Grenznutzen) jedes Stücks eines Vorrats steigt mit seiner Verminderung und fällt mit seiner Vermehrung. Angewendet auf die Arbeit und ihren Erfolg bedeutet das: daß der Zuwachs an Güterwert oder Lohn, den jede weitere Stunde von Arbeit bringt, einen geringeren Grenznutzen hat als der Erfolg jeder früheren Stunde; und daß andererseits jede folgende Stunde Arbeit einen größeren Nachteil bedeutet, größeren „Grenznachteil" hat als jede frühere Stunde Arbeit. An der Stelle, wo der Zuwachs an Wert dem Opfer gleich wird, hört der Mensch auf zu arbeiten. Gossens ganze Lehre war nur dazu bestimmt, der Ökonomik den bis dahin mangelnden psychologischen Unterbau zu geben. Er hat ausdrücklich festgestellt, daß die Lehre vom objektiven Werte dadurch nicht berührt wird. Die Schulen des Grenznutzens aber haben in einer kolossalen „Metabasis eis alio genos" den Versuch gemacht, auch die objektiven Preise aus seinem Prinzip abzuleiten. Ich habe in meinem Lehrbuch 4 gezeigt, daß jeder Schritt auf ihrem Wege eine logische Todsünde ist. Sie haben sich dadurch verführen lassen, daß es auch im Objektiven Erscheinungen gibt, die mit dem Adjektiv „marginal" oder dem Präfix „Grenz-" bezeichnet werden: Grenzrand der Bebauung, Grenzbauer, Grenzkapital, Grenzmine, Grenzselbständiger usw., und haben in jener ungeheuerlichen „Grenz"-Uberschreitung Psychologie und Ökonomik in der unheilvollsten Weise verwirrt. Der vorliegende Fall ist ein Beispiel dafür. Gossen hat, was durchaus zulässig ist, die gleiche Person zur gleichen Zeit zwei ihr durch Innenbeobachtung gegebene Intensitätsgrößen miteinander vergleichen und sich nach dem Ergebnis des Vergleichs entscheiden lassen. Die Schulen aber lassen zwei verschiedene Personen, den Unternehmer und den Arbeiter, zwei Extensitätsgrößen
1
Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, S. 211.
2
Smith, Wealth of Nations, I. Buch, S. 63.
3
Ebenda, S. 61.
4
Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, S. 119ff., 779ff.
Arbeitslosigkeit
393
vergleichen und danach zu zwei verschiedenen Entscheidungen kommen: jenen, ob er bei gegebener Lohnforderung noch einen Arbeiter mehr einstellen wird, diesen, ob er bei gegebenem Lohnangebot arbeiten oder feiern wird. Hier wird erstens als selbstverständlich vorausgesetzt, daß der Unternehmer in der Regel so viel Arbeit bzw. Arbeiter auf dem Markte findet, wie er will. Zweitens wird verkannt, was bereits Adam Smith wußte und mehrfach aussprach, daß es sich in aller Regel um ein Monopolverhältnis handelt, bei dem zwar on the long run auch ein statischer Preis, hier also Lohn, herausspringt, aber durchaus nicht der „natürliche". Und schließlich und vor allem: Wo in
aller
Welt hat denn jemals ein Unternehmer seine Entschlüsse nach diesem ausgeklügelten Schema gefaßt? Marshall sagt selbst: „Solch eine Methode, um das Nettoprodukt von eines Mannes Arbeit festzustellen, ist schwer auf Industrien anwendbar, in denen viel Kapital und Mühe aufgewendet werden muß, um allmählich eine Handelsbeziehung herzustellen [...] der Einfluß der Beschäftigung eines zusätzlichen Arbeiters auf die allgemeine Wirtschaft eines größeren Betriebes kann also von einem rein abstrakten Gesichtspunkt aus in Erwägung gezogen werden; aber sie ist zu gering, um ernsthaft genommen zu werden." 1
Und auf der anderen Seite: wie in aller Welt kann auch der klügste Gewerkschaftssekretär herausfinden, welchen Lohn der Unternehmer
gerade noch zahlen kann, wenn Marshalls Satz gelten soll: „Der Lohn
für jede Klasse von Arbeitern hat die Tendenz, sich gleich dem Reinertrage des letztangestellten Arbeiters zu stellen?" Die Theorie muß die Tatsachen „stilisieren", darf sie aber beileibe nicht gänzlich aus den Augen verlieren. Ich habe die ganze Verwirrung in meinen Schriften „Der Arbeitslohn" 2 und „Wert und Kapitalprofit" 3 ausführlich dargestellt und aufgelöst, indem ich namentlich zeigte, wie sehr der von Marshall so hoch verehrte Thünen hier mißverstanden worden ist.
V. Der Kapitalismus als Sozialkrankheit Wir kehren nach Erledigung dieser unvermeidlichen kritischen Abschweifung zu unserer eigentlichen Aufgabe zurück, die Arbeitslosigkeit auf ihre wirklichen Ursachen zurückzuführen. Zu dem Zwecke ist der kapitalistische Gesamtprozeß noch einmal als dasjenige darzustellen, was er in der Tat ist: als eine Erkrankung des sozialen Organismus. Als solche betrachtet ihn auch Keynes selbst. Er spricht öfters (ζ. B. Seite 272) von einem „Heilmittel" oder der Heilung des Übels, und er hat recht damit. Die Medizin definiert die Krankheit als den „Prozeß des Lebens unter abnormalen Bedingungen". Der gesellschaftliche Körper darf als ein kollektiver Organismus betrachtet werden, der an systemfremden Störungen erkranken und schlimmstenfalls wohl auch sterben kann. Seine Gesundheit ist der Prozeß der vollen freien Konkurrenz. Jedes Klassenmonopol stellt eine systemfremde Störung dar. Der Vergleich trägt noch weiter. Es gibt gewisse Krankheiten, bei denen der Prozeß nur durch eine Krise zum Gleichgewicht der Statik, d. h. zur Gesundheit, zurückführen kann (von hier ist der Begriff in die Ö k o n o m i k übergegangen), und es gibt sogar chronische Krankheiten, die, gerade wie die kapitalistische Wirtschaft, eine Art von kurzdauerndem Gleichgewicht nur zeitweilig durch immer wiederholte Krisen erreichen. Einer solchen Krankheit kann der Kapitalismus verglichen
1
Marshall, Principles of Economics, S. 518, Anm. 2.
2
Oppenheimer, Der Arbeitslohn, Jena 1926 [siehe im vorliegenden Bd., S. 179-230].
3
Derselbe, Wert und Kapitalprofit, 3. Auflage, Jena 1926 [siehe im vorliegenden Bd., S. 231-286].
Erster Teil: Nationalökonomie
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und
Wirtschaftspolitik
werden. Und der Versuch, ihn zu verstehen, ohne auf die Statik bei vollfreier Konkurrenz zu rekurrieren, ist gerade so aussichtslos, als wollte man am Verlauf einer Lungenentzündung oder einer Rückenmarksdarre [sie] Physiologie studieren. Man muß die normale Physiologie kennen, ehe man die pathologische Abweichung verstehen und aus einer systemfremden Störung erklären kann.
a)
Die systemfremde Störung
Wir haben die Störung festgestellt, die den Kapitalismus kennzeichnet und seine Unterscheidung von dem System der vollen freien Konkurrenz bedingt, für das ihn das uneingestandene Postulat hält. Es ist das aus der feudal-absolutistischen Vorperiode übernommene private Großvermögen, vor allem das Großgrundvermögen, die beide unzweifelhaft die Schöpfung oder doch die unmittelbare Folge systemfremder Kräfte sind, nämlich außerökonomischer Gewalt der Eroberung, der Unterwerfung, des gesetzwidrigen oder durch die Klassengesetzgebung erlaubten, von der Klassenjustiz und Klassenverwaltung geschützten Raubes. In einer Gesellschaft der vollen freien Konkurrenz hätte all das niemals geschehen und sich auswirken können: es ist ein evidenter Satz, den denn auch alle Autoritäten ohne Diskussion angenommen haben, daß es keine grobe, klassenbildende Ungleichheit des Einkommens und daher des Vermögens und der politischen Macht geben kann, bevor nicht alles Land besetzt und dem freien Siedler unzugänglich ist. Nur unterstellen Ricardo und seine Nachkommen, auch Marshall, stillschweigend, diese Vollbesetzung sei durch systemeigene Kräfte hervorgebracht worden: die Erde sei zu klein. Auch das gehört zu dem uneingestandenen Postulat und ist der handgreiflichste aller Irrtümer. Die Erde ist fast noch leer und hätte Raum für neue Hunderte von Millionen kleiner und mittlerer Bauernfamilien, wenn die Bodensperre aufgehoben werden könnte. Dann wäre die ganze Erde eine „freie Kolonie", und der Kapitalismus wäre überwunden. Das Normal-Null-Niveau des Lohnes wäre dann nicht mehr das des Landproletariers, sondern das Einkommen des unverschuldeten Bauern auf ausreichender Scholle. Was Keynes „die Verhandlungsposition des Arbeiters" 1 nennt, hätte sich umstürzend verbessert. Keynes ist der Meinung, daß unter den jetzt bestehenden „Systemen des inländischen laissez-faire und eines internationalen Goldstandards einer Regierung kein Mittel offenstand, die wirtschaftliche Not im Inland zu mildern, mit Ausnahme des Konkurrenzkampfes um Märkte" 2 . Ich muß widersprechen. Eine kräftige Innenkolonisation würde es leisten. Wenn Roosevelt die ungeheuren Mittel, die der „New Deal" gekostet hat, nur zu einem beträchtlichen Teile dazu verwendet hätte, um sage eine halbe oder ganze Million selbstversorgender bäuerlicher Betriebe auf lumpigen 10 oder 20 oder sogar 40 Millionen Acres einzurichten (die Farmfläche der Staaten beläuft sich auf rund 1.000 Millionen Acres), so wäre die Krisis sofort behoben gewesen. Die Industrie hätte mit voller Kraft und immer neuen Investitionen schaffen müssen, um Gebäude, Inventar und Mobiliar der neuen Bauern zu erzeugen, die erforderlichen Straßen und Kirchen zu bauen usw.; sie hätte deshalb sehr hohe Löhne zahlen müssen, aber bei solcher Prosperity auch können, die als vermehrte Nachfrage namentlich nach bäuerlichen Veredlungsprodukten auch deren Preise hoch genug getrieben hätten, um die Lage der Neubauern günstig zu gestalten. Es dürften freilich keine farmer des amerikanischen Stils sein, d. h. zugleich Bodenspekulanten und Agrarfabrikanten in Monokultur, sondern Bauern des europäischen, westkanadischen und niederkalifornischen Typus, die sich in Polykultur zunächst selbst versorgen und nur ihre Uberschüsse zu Markte führen. Die Maßnahme war mit zwei bis vier Milliarden Dollar durchzuführen, also nur einem Bruchteil des von Roosevelt ausge-
1 2
Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, S. 211. Ebenda, S. 322.
Arbeitslosigkeit
395
gebenen astronomischen Betrages - und dieses Geld wäre eine verzinsliche und goldsichere Anlage und kein Nettoverlust gewesen. Es bleibt uns nur noch ein letztes zu tun, um das Lohnproblem völlig gelöst zu haben. Der historische Begriff „außerökonomische Gewalt" ist für die ökonomische Deduktion unverwendbar. Er muß in einen ökonomischen Terminus umgeformt werden. Das ist einfach: die Gewalt hat im Großeigentum, namentlich im Großgrundeigentum, Monopole geschaffen. Als das ist es von Adam Smith unzweideutig bezeichnet und behandelt worden; er hat die Aufhebung des Großgrundeigentums wie die aller anderen Monopole gefordert.1 Zwischen dem Besitzenden und dem Arbeiter besteht jene „einseitige Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses", die, wo sie besteht, ein Monopol begründet und den Monopolpreis erpreßt, „den höchsten, der erpreßt werden kann"2. Er sagt ausdrücklich: „Ein Grundbesitzer, ein Pächter, ein Fabrikant, ein Kaufmann können gewöhnlich ein oder zwei Jahre von dem Kapital leben, das sie schon erworben haben, wenn sie auch nicht einen einzigen Arbeiter beschäftigen. Aber viele Arbeiter könnten nicht eine Woche, wenige könnten einen Monat und kaum einer könnte ein Jahr ohne Beschäftigung existieren. Auf die Länge mag der Arbeiter dem Unternehmer so nötig sein wie der Unternehmer ihm ist, aber die Notwendigkeit ist keine so unmittelbare."3 Hier besteht also ein Monopol von ungeheurer Wirkungskraft. Wo aber ein solches besteht, besteht keine freie Konkurrenz. Denn die beiden Begriffe schließen einander aus, sie sind „disjunktiv". Damit ist nun auch die einwandfreie, ökonomisch-theoretische Formel gefunden. Der Kapitalismus ist nicht das System der vollen freien Konkurrenz, wie das uneingestandene Postulat es will, sondern das System der durch übermächtige Monopole gefesselten unfreien Konkurrenz. Darum gibt es hier „freie Arbeiter", darum darf der industrielle Unternehmer den Betrieb nicht einschränken, wenn seine Gewinne zu sinken beginnen und kann ihn erweitern.
b)
Die Wirtschaftskrisen und der Imperialismus
Mit diesen Betrachtungen sind wir auf den tiefsten Urgrund der Irrtümer gelangt, die aus dem uneingestandenen Postulat entspringen. Die klassische Schule behandelte den Kapitalismus als ein geschlossenes System - denn nur in einem solchen kann von Statik die Rede sein. Aber er ist als geschlossenes System unvorstellbar. Ein solches nämlich kann nur dort existieren, wo die gesamte Kaufkraft gleich der gesamten Produktivkraft ist. Das war in allen früheren Wirtschaftsperioden der Fall, auch in denen, wo die Unterklasse tributpflichtig war und einen bedeutenden Teil ihrer Arbeit bzw. ihrer Erzeugnisse an ihre Herren aus der Oberklasse abzutreten hatte. Denn der Sklavenhalter und der Feudalherr konnten und durften ihr ganzes Herreneinkommen konsumieren. Sie durften es, weil kein feindlicher Wettkampf sie zwang, große Teile ihres Einkommens immer neu in Produktionsmitteln zu investieren; und sie konnten es, weil das Produkt jener Wirtschaftsperioden kein Massenprodukt war, das ja nur an die Masse abgesetzt werden kann. Sie kauften kostbare Produkte des Kunsthandwerks und unterhielten zahlreiche Diener und Parasiten aller Art. Diese Systeme waren, wie sich gezeigt
1 2 3
Vgl. Oppenheimer, Zur Geschichte der Bodenreform, in: Zeitschrift für schweizerische Statistik und Volkswirtschaft, Bd. 72, Heft 3 (1936), S. 418ff. Smith, Wealth of Nations, I. Buch, S. 54. Ebenda, S. 59.
396
Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
hat, politisch unmöglich, waren aber, vom wirtschaftlichen Standpunkt betrachtet, wohl möglich, weil die gesamte Kaufkraft von Unter- und Oberklasse zusammen das gesamte Produkt der gesellschaftlichen Arbeit aufnehmen konnte. Die Kapitalistenklasse aber kann das Massenprodukt nicht konsumieren und darf es nicht, weil der feindliche Wettkampf sie zwingt, einen bedeutenden Teil ihres Einkommens immer neu in Produktionsmitteln für Massenprodukte zu investieren, so daß das MißVerhältnis zwischen Produktivkraft und wirksamer Nachfrage immer krasser werden muß. Ein System der Massenproduktion, wie es der Kapitalismus ist, ist offenbar nur möglich, wenn das Arbeitseinkommen der Masse groß genug ist, um das Massenprodukt aufzunehmen, das die schmale Oberschicht selbst nicht aufnehmen kann - und ein solches System wäre zwar immer noch „hochtechnisch", aber nicht mehr „kapitalistisch". Es wäre die Wirtschaft und Verteilung der „freien Kolonie" auf viel höherer Stufe der technischen Entwicklung. Solange aber das Monopol das Arbeitseinkommen der Masse niederhält, reicht ihre Kaufkraft nicht hin, um das eigene Produkt zurückzukaufen. Und so lange muß das Mißverhältnis die beiden Erscheinungen hervorrufen, die die unfreiwillige Arbeitslosigkeit mit sich bringen: die Wirtschaftskrisen und den Imperialismus. Solange man annimmt, daß die Unternehmer bei sinkenden Gewinnen ihre Produktion einschränken, ist die Erklärung der Krisen unmöglich. Darin hatte J. B. Say mit seiner seltsamen Doktrin recht. Von unserem Standpunkt aus ist die Erklärung sehr einfach. Bei der Art von feindlichem Wettkampf, den die industriellen Unternehmer der kapitalistischen Ära führen, wo sie gezwungen sind, das Haltezeichen der sinkenden Gewinne zu überfahren, muß unvermeidlich einmal ein großer Zweig der Industrie mehr Waren herausbringen, als sein Sondermarkt zu Preisen aufnehmen kann, die die Selbstkosten, und seien es auch nur die „primären" Selbstkosten1, decken. Ein Teil der Unternehmer muß schließen und seine Arbeiter entlassen, seine Nachfrage bei anderen Unternehmern einstellen. Dadurch sinkt schlagartig die Kaufkraft der Gesamtheit in Gestalt von Arbeitslöhnen und Unternehmereinkommen und unterschreitet die bisher angemessene und zu lohnenden Preisen absetzbare Produktion anderer Zweige - und die Verheerung, beschleunigt wie bei dem Fallgesetz, ergreift allmählich die ganze Wirtschaft. Wie Keynes richtig sieht, beginnt der Prozeß, „mit einem plötzlichen Zusammenbruch der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals", aber aus anderen als den von ihm angenommenen Gründen. Schon hier, in rein nationaler Betrachtung, ist deutlich, wie die seltsame, unheimliche Erscheinung zustande kommt, auf die Keynes mit Recht so großes Gewicht legt, daß die Krisen und die mit ihnen verbundene Arbeitslosigkeit um so schwerer auftreten, je produktivkräftiger und reicher das Gemeinwesen ist. Die Tatsache, daß der Kapitalismus als geschlossenes System unmöglich ist, muß selbstverständlich bei einem hochentwickelten Aufbau dieser Art mit schwereren Symptomen auftreten als bei einem weniger entwickelten. Aber noch deutlicher wird dies, wenn wir die Weltwirtschaft im ganzen betrachten. Dann erkennen wir sofort, daß der Kapitalismus einzelner Länder überhaupt nur entstehen und sich entwickeln konnte, weil er seinen Warenüberschuß in noch nicht kapitalisierte Räume abstoßen konnte. Man wende nicht ein, daß notorisch kapitalistische Länder die besten Abnehmer für Produkte anderer kapitalistischen Länder sind. Das wird zugegeben, hat aber mit der uns hier interessierenden Frage nicht das mindeste zu tun. Es handelt sich nicht um die an sich segensreiche internationale Arbeitsteilung und den internationalen Warentausch. Dieser kann das Defizit an Kaufkraft aus dem klaren Grunde nicht bedecken, weil das, was für fremdländische Waren ausgegeben wurde, nicht noch einmal für einheimische ausgegeben werden kann.
1
Marshall, Principles of Economics, S. 359.
Arbeitslosigkeit
39 7
Sondern man muß begreifen, daß die kapitalistische Wirtschaft mit der Möglichkeit steht und fällt, ihren Warenüberschuß ins akapitalistische Ausland abzustoßen, ohne dafür andere Waren hereinzunehmen. Das soll natürlich nicht heißen, daß sie sie verschenkt; sie zerstört ja lieber in „rentabler Destruktion" (Effertz) ungeheure Massen von Produkten, deren ihre eigenen Volksgenossen dringend bedürfen, statt sie ihnen umsonst zu geben. Nein, sie verkauft den Uberschuß, aber nicht gegen Waren, sondern gegen Machtpositionen in Gestalt von fremden Staatsanleihen, Obligationen, Aktien usw. oder durch Erwerb von Grundeigentum, Fabriken, Bau von Straßen und Eisenbahnen, Gas-, Elektrizitäts- und Wasserwerken usw. in fremden Ländern, deren Dividenden und Zinsen den einheimischen Kapitalisten zufließen. Marshall, den man wohl als einen ökonomischen Candide bezeichnen darf, weil er „in der besten von allen möglichen Welten" zu leben glaubt, sieht in dieser Art von Transaktionen nur den Vorteil für die neuen Länder: „Die Hauptursache ihrer modernen Wohlfahrt liegt in den Märkten, die die alte Welt darbietet, nicht für Güter, die auf dem Fleck geliefert werden, sondern für Versprechungen, Güter in fernerer Zukunft zu liefern."1 Aber das gerade ist der „ Weltmarkt", um den die kapitalistischen Mächte mit allen ehrlichen und unehrlichen Mitteln kämpfen, als um den einzigen Weg, der aus ihrer verzweifelten Lage herausführt; das ist Ursache und Grund des Imperialismus, der unsere Welt zu einem bewaffneten Lager macht, überall die greulichste Korruption verbreitet, und die potentiell reichsten Märkte, wie vor allem China, lieber zerstört als mit anderen teilt. Diese Art der Wirtschaft hat, vom Standpunkt der Kapitalisten aus gesehen, auch noch den doppelten Vorteil, daß ihr Staat zu unmäßiger Rüstung gezwungen wird, d. h. ein Konsument ist, der einen immer ungeheureren Teil der Produktionskraft der Völker für seine Rüstung verbraucht und aus Steuern und Anleihen bezahlt, die die Volksmasse aufzubringen und zu verzinsen hat, ein vortreffliches Mittel. Um sie zu verhindern, sich aus eigener Ersparnis die nötigen Produktionsmittel zu beschaffen und damit dem Kapitalismus ein Ende zu bereiten. Und es hat den zweiten Vorteil, in der bewaffneten Macht über ein Werkzeug zu verfügen, das jede Auflehnung gegen die „gottgewollten Abhängigkeiten" unmöglich macht. Mit alledem scheint uns das Problem der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit völlig gelöst zu sein.
1
Marshall, Principles of Economics, S. 669.
Wages and Trade Unions [1940/41]
Inhalt
I. Diagnosis of the crisis
402
Π. Theories of wages
403
ΠΙ. Monopoly of soil
405
1. The supply of land; a sum of division
405
a. The Dividend
405
b. The Divisor
405
c. The Quotient
407
2. Distribution of the land
408
IV. Wages and the law of Goltz
409
V. Internal migration
411
VI. Marginal district of highest pressure
413
VII. The loci of minor pressure
417
VU!. The urban labor market
418
IX. Trade-unionist policy
420
X. Breakers ahead
[Erstmals erschienen in: American Journal of Economy and Sociology, Bd. 1, 1941/42, S. 45-77; A.d.R.]
422
402
Erster Teil: Nationalökonomie
und. Wirtschaftspolitik
I. Diagnosis of the crisis The Trade Unions claim that they exist solely for the purpose of raising labor's wages and uplifting thereby the entire social standard of the laboring class. This, it appears, sets two different problems: First: Is the goal to be approved? Second: Can it be attained by the methods employed by the unions? The answer that the science of political economy has to give is Yes! to the first, and No! to the second inquiry. The unions, in the name of fairness, justice and humanity, demand "decent" wages for the laboring class. There is only one objection: that they are much too modest. Not in the name of fairness, justice and humanity, but in the name of sober, coldly calculating political economy, much more must be demanded. It must be understood that capitalism is an essentially impossible order. Capitalism means massproduction, which presupposes mass-consumption, because one cannot, in the long run, produce what cannot be sold without a loss. Just this is what is wrong with capitalism. This is the trait by which alone capitalism is different from all precedent historical periods. As with all historical social orders, capitalism is dominated by a small minority of nonworkers who, enjoying the monopoly of almost all available instruments of labor, are entitled to claim an important portion of the social produce. This means that all gainful workers, taken together - not only the laborers in the narrow sense of the word, but also the independent producers in agriculture, industry, trade and banking, and the independent professional men and artisans - cannot take from the market, by buying, the whole mass of commodities they have brought to the market, by producing. This was not of serious moment, if not from the viewpoint of politics, at least from that of economics, as long as there prevailed precapitalistic production, which was not mass-production. The ruling group was willing and able to consume, in the form of costly goods and services, the entire share of the social produce falling to it. The equilibrium between production and consumption, the very condition of all healthy economy, remained undisturbed. This equilibrium, however, has been hopelessly destroyed since capitalism came into being. The small upper class is obviously not capable of taking from the market, for personal consumption, the enormous mass of machineproduced goods that the gainful workers have not the means to purchase for their own consumption. In the first period of capitalism it was possible to unload this surplus upon the "world-market", bringing back, besides a small amount of costly luxuries for the upper class, chiefly "capital-rights", as government bonds, shares, mortgages, property titles on landed estates, on mines, etc. But the basic disproportion between capacity to produce and capacity to purchase was bound to grow from bad to worse. The world market shrank in absolute extension and relative capacity. Competition compelled the capitalists tirelessly to increase and improve their machinery; thus, at the same time, the surplus was increased that could not be digested by the home market, and that had to be unloaded on the world market. The latter market, moreover, shrank also in absolute extension because the nations, one after the other, equipped themselves with the technical weapons and became competitors after having been customers. All the evils of our time are but the symptoms of this social disease. Some new and dreadful phenomena have added themselves to the wellknown old ones, pauperism, social crises, political unrest, increasing criminalism. These newer symptoms are the clear sign that the disease has reached its climax. We speak, first, of the "profitable destruction" of masses of useful commodities such as wheat, coffee, cotton, pigs, milchcows, etc., although they are urgently needed by people who are unable to purchase them. We speak, further, of unemployed in the millions and millions; and finally of "imperialism", the political expression of the desperate struggle among nations for the
Wages and Trade Unions
403
monopoly of the shrinking worldmarket, conducted at first by peaceful means, fair and frequently unfair, by dumping, bribery, corruption of governments, etc. The result - China is the tragic example - is the destruction of the purchasing power of the last remaining non-capitalist markets. Armaments of unprecedented extent are needed to back the national capital in this struggle. This eases the pressure a little. Guns, tanks, airplanes, battleships, etc., although products of mass-production, do not presuppose the purchasing power of a mass of consumers, but rather the limitless or almost limitless power of purchase possessed by one single massconsumer, the State. This is another kind of "profitable destruction" to the end of unburdening the market of its overabundance. But it threatens to destroy the entire set-up which it is intended to safeguard. It leads, almost inescapably, to war and the new feudalism of a domineering military clique. To summarize: the unions are much too modest to demand no more than decent wages for no more than the group of wage-workers. Out society can recover its equilibrium, and with it its economic well-being, only when all gainful workers receive as their reward the undiminished equivalent of their productive contribution to the social output. More, this present investigation will show that even the modest goal of the unions cannot be attained save by covering at least half the way to the pretentious goal. And that it never can be reached by the method the unions are employing.
II. Theories of wages The Trade Unions propose to raise wages. To perform this feat they ought first to inquire why wages are lower than the level they consider to be a fair and useful one. They have never even tried to discover the cause. They must be charged with acting, not as physicians of society striving to find out the cause of the ill they are going to cure, but as quacks treating only its symptoms. If they have any rational ideas at all on the subject, these are rather vague reminiscences of the so-called "wage-fund theory", purporting that wages depend upon the ratio between the number of laborers and a part of the capital earmarked for paying wages. This doctrine, proposed first by Adam Smith and accepted in slightly altered form by Ricardo and Marx, had to be abandoned by later economists as completely untenable. Even if it were not so miserably exploded, it would not explain that which is the precise problem involved here, namely, the low standard of wages. Apparently, however, most unionists do not have even this poor modicum of theoretical foundation. On the contrary, they seem to be motivated by the very vulgar belief that wages, as the price of the commodity "service", are determined by the interplay of demand and supply. One of the very first lessons the beginner in economic theory has to learn, of course, is that this ratio explains the uninteresting oscillations of the price, but not the price itself. The problem is just this: Why, on this market for services, supply almost always exceeds demand. The true doctrine of wages has been expounded by the great American economist, Henry George, and has been developed by one of the greatest teachers of economics in the United States, Professor John Bates Clark. George's solution is that wages are determined by what, in modern terminology, would be called the "marginal independent producer". He writes: "Evidently, the terms on which one man can hire others to work for him, will be fixed by what the men could make by laboring for themselves."
404
Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
This, indeed, is evident, as is also the following determination of what the men could make by laboring for themselves: "Competition tends to fix wages at the produce of such labor at the point of highest natural productiveness open to it." This is the general formula valid for every society regulated by competition. The specific formula for each particular historical society is obtained by entering the data concerning the point of highest productiveness which, here, is "open to labor". This depends upon whether the land is freely accessible or monopolized and closed against the mass of the people. In the first case the income of an independent peasant, owning sufficient land, is the wage commanded by a hired man, representing "the full, average produce of labor". In the second case the highest point of natural productiveness open to the man lacking capital is represented by those natural products which it was not yet worth while to monopolize, as for example the wild berries and the firewood obtainable on woodland, or submarginai land too poor or too remote from the markets to be appropriated even for speculation. In this case the employer "will have to pay only what the labor yields at the lowest point of cultivation". Economic history confirms the theory. Or, better, this theory is the abstraction from historical facts that were the wonder of the eighteenth century economists. Adam Smith wrote of the American Colonies at the time of the War of Independence: "Every colonist gets more land than he can possibly cultivate. [...] He is eager, therefore, to collect laborers from every quarter and to pay them the most liberal wages. But these liberal wages, joined to the plenty and cheapness of land, soon make these laborers leave him in order to become landlords themselves, and to reward with equal liberality other laborers who soon leave them for the same reason they left their first masters." Almost a century later, Karl Marx, the Mohammed of most trades unionists, in their Khorân, "Das Kapital", confirmed the facts and their explanation: "In a free Colony, where the land is still unoccupied, and every settler, therefore, can turn a piece of it into his personal property and means of production, without preventing the next settler from doing the same, there the laborer becomes either an independent self-working peasant or an artisan working for them." Here, so we are taught, "are money and machines not capital, because they do not yield surplusvalue". The "capital-relationship" is not existent here; the wage is the full value of the labor performed. At that period the American economy was perfectly sound, the equilibrium of production and consumption undisturbed. Current opinion seems to be that these glorious and happy times are irrevocably gone with the passing of the old frontiers. We find this pessimistic view expressed, for example, in the valuable inquiry on "The Problems of a Changing Population", by the National Resource Committee (1938): "Practically all of the good land available for agriculture has been settled." The term "settle" is misleading. It meant originally occupation by "settlers", i. e., self-working peasants, on small or medium-sized holdings. The term, however, has been increasingly misused, "with intent to deceive", to mean each and every appropriation of land, thereby giving to large landed property the ethical and economical justification which small landed property always enjoyed. The large one had been condemned by all earlier authorities in moral philosophy, theology and economics.
lVages and Trade Unions
405
III. Monopoly of the soil We have consulted thus far two of the fountainheads of economic science, theory and history. Presently we are going to consult the third, and last, statistics. We will prove by official, incontrovertible figures, that the United States of America has ceased to be a "free colony" and the "paradise of the working man", not because the land was "settled", but because it was, as Adam Smith called it, "engrossed"; that is, monopolized, enclosed. 1. We will show that the supply of available land is much larger than would be needed for a multiple of the present agricultural population. For this purpose we will divide the arable land of the country by the area required by a peasant-owner for independent middle-class existence. 2. We will show that the available land is appropriated in large estates and held by a minority to so large an extent that the majority is excluded and, thereby, condemned to poverty and economic dependence. 3. We will show how this distribution of the nation's natural treasure affects wages and the social standard of the industrial workers up to the highest strata of the gainfully employed.
1. The supply of land; a sum in division
a. The Dividend The Continental United States of America covers (in round figures) 1,903 million acres. The Report of the Land Planning Committee recently has classified all "arable land, whether included in farms or not", into four grades as follows: Grade I II ΠΙ IV
Million acres
Quality
101 211 346 336 1,021
Excellent Good Fair Poor
To proceed conservatively, we shall leave out of our calculation the 336 million acres of poor land, taking as our dividend merely the three other grades, comprising 658 million acres. Any possible opponent must admit that this procedure is extremely conservative, excluding no less than two thirds of the total area.
b. The Divisor All European authorities agree that five hectares or 12.5 acres of "improved land", i. e. crop land and plowable pasture, is the average area required for independent middle-class existence. It is at the same time the area the peasant family can manage without hired help. The extreme limits are about five and twenty-five acres. Five are ample where the soil is good and close to well-paying markets, especially in western Europe; twenty-five acres suffice where the soil is poor and the location unfavorable, as in Scandinavia and Russia. The United States lies in the same zone of latitude as Europe and enjoys a similar climate. Alvin Johnson, a lifelong student of agriculture in this country, affirms that the same area would be sufficient here as in Europe. He writes, regarding certain excellent soils in the South-Atlantic States, that
406
Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
"any man could make his living on five acres of this land, a good man on ten, a Napoleon on twenty". In regard to medium lands in the Middle West he judges. "Any man could have made a living on forty acres or less." Johnson does not speak here, as we do, of improved land alone, but of the total area occupied by a normal farm, comprising besides crop land and plowable pasture, poorer pasture, woodland, and what the American statistics call "other land", meaning swamps, rocks, water, etc. Another proof that the estimate is not too small is the fact that the holdings of the sharecroppers on the Southern plantations average no more than twenty acres. The cropper has to deliver to his landlord half his miserable harvest; nonetheless his usually numerous family can exist. The average area per farm in Japan is only the fifth part of our average, 2.5 acres. About half of the peasants are tenants who have to deliver to their landlords up to 70 percent of their harvest. A farmer-owner on two and a half acres is considered fortunate. In the official census of China a peasant owning thirty Mu, or five acres, is registered as "rich". Some European censuses classify the farms according to their share of improved land, but in the United States this is done according to their total area. Our divisor must take account of this circumstance. Farmland was used in the United States in 1929 as follows: Area
(in thousands of acres)
1. Crop land Harvested Failure Idle and fallow 2. Pasture Plowable Other pasture Woodland in pasture 3. Woodland not in pasture 4. All other land
359,242 12,706 41,287 109,000 270,000 85,000
Percent of total areas
Percent of farm areas
413,235
21.7
41.9
464,000 64,000 45,000
24.4 3.4 2.4
47.0 6.5 4.5
986,235
51.9
100.0
The improved land of the United States, including crop and plowable pasture land, amounts to 522 million acres or 52 percent of the total farm area. But, for determining the divisor, it is in the smaller farms alone that we are interested. For them the ratio is more favorable: Farms by size (in acres) Under 3 10 20 50 100 175 260 500 1,000 5,000 10,000
to to to to to to to to to to +
3 9 19 49 99 174 259 499 999 4,999 9,999 more
Crop land harvested (in thousands of acres) 61 26 1,847 1,093 7,789 5,371 28,202 46,252 98,685 47,225 180,214 85,154 110,265 51,360 156,522 72,073 108,924 39,992 24,872 127,525 35,400 2,026 113,288 1,848
Plowable pasture
Other pasture
3.5 194 560 3,768 11,133 21,296 13,230 19,086 14,036 15,908 3,289 6,654
2.5 61 212 1,923 6,964 16,484 11,191 22,745 27,571 59,610 25,519 97,390
986,772
109,114
269,672
Total area
359,242
Wages and Trade Unions
407
The smaller farms up to 49 acres each covered a total of 55 million acres. They harvested 35 million acres. Although it is most improbable that these small operators left much of their land unharvested or idle, we add, again exceedingly conservatively, the average percentage of idle and fallow land, 10 percent, to the 35 million acres. Plowable pasture amounted to 4.5 million acres. The grand total is 43 million acres or 76 percent of the total area of 60 millions. Our divisor, therefore, must be increased by 24 percent to about 16 instead of only 12.5 acres.
c. The Quotient Our sum in division, 658 divided by 16, gives 41. Forty-one million families, by a very conservative estimate, could live on one-third of the total area of the United States in independent, well-to-do peasant status, if the land were apportioned as ethics and economics prescribe. The average number of residents on American farms, in 1920, was 4.9, in 1930, 4.84 persons. The 41 million families would count about two hundred million members. This would be what American statistics classify as "farm-population" in contradistinction to "rural non-farm" and "urban" population. In 1930 the farm-population represented less than one quarter of the total population of the United States; it numbered 30.2 millions. The greater part of this number is neither independent nor well-to-do, but mostly petty cashtenants, share-croppers and wage-workers, on a proletarian standard of living. And even a great part of the independent owners do not possess enough land or else they are carrying crushing debts. Gainful workers in agriculture in 1930 were grouped as follows: Farmers, owners and tenants Managers and foremen Laborers Family workers Wage-workers
(In thousands) 6,012 67 1,660 2,733
4,393 10,474
According to another estimate the social-economic position of the nonlaborers was as follows: Percent Full owners Part owners Managers Cash-tenants Other tenants
46.3 10.4 0.9 7.8 34.6
100.0 The status of the groups has been estimated in percentages of all gainful workers in agriculture in 1930: Males Independent (owners and managers) Dependent: Tenants not croppers Croppers Wage workers
34.2 19.2 7.4 39.2
65.8 100.0
Females 17.2 7.4 5.4 71.0
82.8 100.0
408
Enter Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
The figures show that no less than two-thirds of the male and five-sixths of the female farm operators are outside the class of completely independent owners; and that at least the 2.7 million agricultural wage workers and an important part of the 2.2 million "other tenants", especially the miserable share-croppers, belong to the proletariat. These two groups together represent almost half the number of all gainful agricultural workers.
2. Distribution of the land Not all the members of the remaining half are in better situation. The following table shows how many have not land enough for a well-to-do existence. The first three classes, up to 19 acres, represent 14.6 percent of all farms, but operate only 1.06 percent of the farmland. Adding the class up to All farms classified by size and area, percentage of number and area Size in acres
Under 3 10 20 50 100 175 260 500 1,000 5,000 10,000
to to to to to to to to to to +
3 9 19 49 99 174 259 499 999 4,999 9,999 more
Number of farms (thousands)
Area (thousand acres)
Percentage Number
Area
43.0 315.0 560.0 1,440.0 1,375.0 1,343.0 521.0 451.0 160.0 71.3 5.3 4.0
61 1,847 7,789 46,252 98,685 180,214 110,265 156,522 108,924 127,525 35,400 113,288
0.7 5.0 8.9 22.9 21.9 21.4 8.3 7.2 2.5 1.1 0.09 0.05
0.06 0.2 0.8 4.7 10.0 18.2 11.1 15.8 11.0 13.0 3.6 11.3
6,288.0
986,772
100.0
100.0
49 acres we arrive at 37.5 of the number, operating 5.76 percent of the area. Adding the next class up to 99 acres, the ratio is 59.4 to 15.76. In words, almost 60 percent of all farms operate less than 16 percent of the farmland. The farms of over 10,000 acres on the other pole of the social ladder, one two-thousandth of the number, possess no less than one-ninth of the land. All farms over 1,000 acres, 1.2 percent of the number, possess 27 percent of the land; adding those over 500 acres we arrive at a ratio of 3.7 to 39; one-thirtieth of the number owns two-fifths of the land. This shows how "practically all of the good land has been settled". The data prove that this "settlement" was brought about by monopolizing the land, by virtue of exercise of the "right of the first occupant". Adam Smith, the father of liberal economics, judged that this "right" rests on "the most absurd of all suppositions, the supposition that every successive Generation of men have not an equal right to the earth and to all it possesses". It is the "right" on which the great liberal economist, John Stuart Mill, hinted: "The laws of property have never yet conformed to the principles on which the justification of private property rests. They have made property of things which never had ought to be property, and absolute property where only qualified property ought to exist."
Wages and Trade Unions
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T h e pseudo-liberal economists of the present day do not like to be reminded that Adam Smith flatly called large landed property a monopoly, and that even Mill demanded nationalization of the land. This topic is like "the rope in the hangman's house" or "the skeleton in the closet". It is a sign of bad manners to mention it. But there is no more the time to spare delicate prejudices. This last remnant of feudal violence, large, exclusive, landed property, is to be condemned, even though ever so many powerful interests may depend upon it. This "right" is utterly wrong, and, as the saying goes: "a hundred thousand years of wrong do not make even one hour of right". Henry George pointed out: "Has the first comer to a banquet the right to turn back all the chairs and claim that none of the other guests shall partake of the food provided, except he makes terms with him? T h e cases are perfectly analogous." T h e y are! N o t the least doubt can be entertained that an analysis of the distribution of the land of this great country proves the existence of monopoly. It belongs to that only rarely noticed and still more rarely described species of the genus "monopoly" in which several monopolists are competing against each other; the present author, therefore, has proposed to distinguish it as "oligopoly". T h e opinion is held widely that a monopoly can only take place where one single person has the power of disposal over the commodity in question, or where the producers are bound by formal agreement not to undersell each other. This opinion is correct as long as the commodity can be "produced at will" under competition, but is wrong if applied to commodities that cannot be produced at will; and land is of the latter kind. In contradistinction to other "natural" oligopolies this monopoly of the land is a "legal" one and can, as such, be abolished by legal procedure. It came into being by some persons possessing the right or usurping the right of establishing large landed property, enclosing the whole land, "cultivated and uncultivated" (as Adam Smith says), with the result that the majority was excluded and, practically, enslaved.
IV. Wages and the law of Goltz O u r next problem is how this monopoly affects wages and the general standard of living of the industrial laboring class. "Wages" is a rather complicated concept. Henry George, whose masterly doctrine of wages exhausts the matter, writes: "There is, of course, no such thing as a common rate of wages, in the sense that there is at any given time a common rate of interest. Wages which include all returns received from labor, not only vary with the different power of individuals, but, as the organization of society becomes elaborate, very largely as between occupations. Nevertheless there is a certain general relation between all wages, so that we express a clear and well understood idea when we say that wages are higher or lower in one time or place than another." T o elucidate this by some details: what is called wages, is a whole system of interdependent layers, graduated according to the relative rarity of the qualifications that the specific service requires. Competition tends to keep them in what the present author calls their "natural distance", some persons deserting the occupations becoming unfavorable, and crowding into occupations becoming favorable. This occurs in every case by one sort or another of changing the job, either by simple
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Wirtschaftspolitik
transition from one employment to another, or by changing one's residence, by immigration abroad or internal migration from one locality to another. The system forms a kind of pyramid; each superior layer comprising fewer persons. Its apex is represented by the small number of highly paid employees, as, for example, principal managers. The basis is formed by the most numerous and most poorly paid group, the immediate victims of the monopoly, the agricultural proletariat of wage-workers and poor tenants, especially sharecroppers. The wage of every superior stratum, mathematically expressed, is a "function" of this lowest one. "It is evident that wages in all strata must depend upon wages in the lowest and widest stratum, just as the level of the ocean determines the level of its arms and bays and seas." (Henry George) It must be realized, further, that even the stratum of agricultural laborers consists in several superimposed layers, according to the pressure the monopoly exerts on them, and the political influence of the monopolists. Where it is at its maximum, wages are at their minimum. These minimum wages of what the present author calls "the marginal coolies in the marginal districts of highest pressure" are the bottom layer of the pyramid. The districts can be located inside or outside the country in question. The marginal coolies, who tore down wages from the glorious height Adam Smith described, came almost exclusively from the large feudal estates of Europe; the marginal coolies who, at the present time, hold down wages, come from the formerly feudal districts of the slave-States in the South of the United States of America. Theodor von der Goltz, late professor at Bonn University, in an inquiry published in 1893, reported a hitherto-unknown statistical regularity: "Migration from compared districts is proportionate to their content of large, and inversely proportionate to their content of peasant landed property." Some years later the present author succeeded in deducing the interdependency, raising thus the mere regularity to the rank of a genuine economic law. This law, as Max Weber said, "holds sway with rare statistical stubbornness". The law could be discovered only in Germany, because in no other country are the districts of large and peasant property geographically separated from each other. The old country of the Germanic tribes between the Rhine and Elbe Rivers is prevailingly peasants' land, whereas the formerly Slavic country east of the Elbe and Saale Rivers, conquered and only partially Germanized since the eleventh century, is the domain of the "Junkers", the owners of large estates of unquestionably feudal origin. The present author had tried untiringly to make the German economists recognize this new and most important law. In vain! To acknowledge it would mean to confess that two kinds of property are in existence, one "holy", the other unholy; one, to quote John Stuart Mill once more, "justified by the principles on which private property rests"; the other condemned, according to this same truly liberal thinker, as originated by "fraud and violence". Such a confession would compel those economists to recast their system from top to bottom and, thereby, seriously and dangerously inconvenience the "powers that be". Being a law, this law naturally is valid for the United States as well. In "Rural Migration", a W. P. A. publication, E. C. Lively and Conrad Täuber reported in 1939 that "farm owners showed the greatest degree of stability among the farm groups". Blackwell reports of the South that tenants are more mobile than owners; tenants and farm laborers covered in this study had lived on an average of 4.6 farms as compared with 2.7 for small farm owners. It may be mentioned, anyhow, that this comparison is not perfectly fair, statistically speaking, to the owners, because a certain number
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of changes is inescapable in this group alone, even if not a single case of voluntary change had occurred. Rodbertus-Jagetzow, in a famous inquiry, has stated that no less than 30 percent of all changes in ownership are occasioned by inheritance.
V. Internal migration Our thesis is that the mass-immigration of proletarians and proletarianized persons to the industrial centers is the ultimate cause of the low level of wages, and, thereby, of that fatal disproportion between the power of production and that of purchasing which is at the root of all capitalist evils. This is easily proved for all European countries. Statistics show everywhere that the number of jobs for laborers and lower employees in industry and its auxiliary branches of trade, transportation, banking, etc., has, from period to period, increased much more than can be explained by the natural growth of the urban population. Hence the surplus, exerting the ruinous pressure on the labor market, must needs have been proletarian immigrants from the agrarian districts. This movement was crossed, in the United States, by two other momentous movements, immigration from abroad and internal migration into the vast, newly-opened tracts of land west of the Mississippi. The problem of internal migration into the industrial centers could not attract the attention of American statisticians and economists before the "old frontiers" had been reached, and "all land had been settled"; nor before immigration from abroad had been sharply limited by law. This took place after the first world war. Therefore, we must choose the decade 1920 to 1930 for our disquisition. It is the first in which immigration was kept within narrower limits, and the last which can be considered normal, as far as a capitalist period can be considered "normal" at all. Figures show that in the United States also the urban population increased far beyond its own "natural increase" by excess of births over deaths. The urban population increased by 27 percent, while the total population increased only by 16 percent. Our problem is the explanation of this surplus of (expressed in absolute figures) 14.8 million persons in the cities. In a small part, it is only apparent, "due to changes in classification" because certain aggregates were counted as urban in 1930 which were still "rural" in 1920. The real increase came about from three different causes: immigration from abroad, natural growth, and internal migration from the rural districts. Foreign immigration during this decade exceeded emigration by 3 million persons. Main groups in American population 1920 and 1930 Persons (in millions) Urban population Rural population Farm population Non-farm population
31.6 20.0
Gain ( + ) or loss (-) (percent)
1920
1930
54.1
68.9
+ 27.0
53.8
- 3.7 + 18.0 + 5.0
123.0
+ 16.0
51.6 106.0
30.8 23.0
The greater part of these migrants must be accounted to the increase of the urban population: 80 percent of the about 13 million foreign-born residents of the United States lived in cities. Thereby 2.4 millions are explained.
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Wirtschaftspolitik
According to an official estimate, "natural increase accounted for only 45 percent of the reported increase in the urban population". This accounts for 6.6 millions. Nine millions are explained. A balance of 5.8 millions remains to be explained. In the "Problems of changing population" it is noted: "During the decade 1920-30 urban areas absorbed more than 85 percent of the total increase in Population The remainder was distributed through rural non-farm territory, chiefly that adjacent to metropolitan centers. The net movement from farms, involving from 5Vi to 6 million persons, exceeded the natural increase by more than one-third." In other words, the rural farms bore the entire brunt of the movement. They lost not only their entire natural increase, although this is "about double that of urban population in percentage", but also an important share of their initial stock. Their total loss was 19.3 percent; the rural non-farm population not only retained its natural increase but attracted in addition to it a small part of the farm migrants, making its total growth from 16 to 18 percent. The farms lost 6.1 millions, the rural non-farm areas gained 0.34 millions; the problem is solved, the remainder of 5.8 millions is accounted for. What is the cause, or, since we are concerned with human behavior, what is the motive of this movement? Karl Marx attempted to explain it by the supposed "capitalization of agriculture". He realized that the cities grow beyond their own natural increase by immigration of agricultural proletarians: " The capitalist process of production now repels, now attracts to a greater extent proletarian laborers." These, naturally, as they cannot come from the fourth dimension, must needs come from agriculture. But his explanation was utterly erroneous. He maintained that "the capital, in the degree it gets hold of agriculture, and according to the degree it gets hold of it", sets laborers free, drives them into the industrial centers. But the agricultural capital is perfectly innocent. Intensification of agricultural management notoriously demands many laborers more per area; and migration always was and still is strongest from poorly equipped and technically backward districts. Nowhere was it so extensive as from unfortunate Ireland at the time when the wretched petty tenants used no "capital" at all, neither "money-" nor "machine-capital". The same is true even for this highly developed country in the period of gigantic harvesting combines. Lively and Täuber, in "Rural Migration" expressly point out that "an attempt to relate migration to the increased use of machinery, by the statistical means available, showed very little relationship". It is not the method of management, but the form of ownership that is made responsible under Goltz's law. The cause of this - enormous movement, that has, within one single decade, transplanted more human beings than the "Migration of Peoples" in centuries, is simply this: that a great part of the farm population finds itself "in a locus of relatively high economic and social pressure" and follows the law of minimum resistance by seeking the locus of minimum pressure. Even if we did not possess the law of Goltz, we would be sure without further investigation that this amazingly large body of migrants must, in its overwhelming majority, be composed of victims of the monopoly: the proletarian laborers and share-croppers and a part of the "other tenants". To detect the motive of the laborers' flight from the land it suffices to compare their wages with those of the industrial wage workers. They amounted, on the average, to $34.91 monthly with board with the minimum, $24.61, in the Southeast, and the maximum, $56.14, in the Far West. In the same year, 1930, the wages of laborers of selected industries averaged $1,272 per year, those of the salaried employees and wage workers of all other industries $1,391, of course without board. Union wages, the grand total of all trades, averaged 99 cents per hour in 1923, and $1,204 in 1929. The situation of the re-croppers was no better than that of the farm laborers; it will be dealt with in the next chapter.
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Wages and Trade Unions
Another comparison. The income per capita, not per gainful worker, was for the non-farm population of the United States $908. For the farm population it was $273, with the minimum, $183, again in the Southeast and the maximum, $818, in the far West. The non-proletarian cash tenants partake of the plight of the owners whose holdings are either too small for a living, or are overburdened by debts. They all are victims of the system. Debt status of United States farms (in percent of all farms in the United States) Free of mortgage Mortgaged No report
1890
1900
1910
1920
1930
70.9 27.8 1.3
66.5 30.0 3.5
65.6 33.2 1.2
52.8 37.2 9.9
51.7 42.0 6.3
The total mortgage debt increased between 1920 and 1930 from 29.06 percent of value estimated, to 39 percent, mainly because the value had shrunk in an amazing fashion. All farms together had been valued at a total of $41 billions in 1910; the somewhat increased number at $78 billions in 1920. This inflated boom-value shrank to $57 billions in 1930; the land alone had lost in value $20 billions. The consequence was that owners were turned into tenants to a terrifying degree, mostly by foreclosure. From 1900 to 1930 the number of owners decreased from 55.8 percent of all operators to 46.3 percent. The number of part tenants increased from 7.9 to 10.4 percent, that of the tenants from 35.3 to 42.4 percent. As late as 1890 the percentage had been still 28.4. The number of cash tenants decreased between 1910 and 1930 from 11.2 to 7.8 percent, whereas the "other tenants" increased from 25.5 to 34.6 percent. This is a development recalling the worst period of ancient history, when the free peasant disappeared just as rapidly. All this is the necessary consequence of the basic evil. If the land were not monopolized, only soil of especially favored fertility or location would have value at all, and this a small one. No one would lend money on land without value. The strangling indebtedness is mostly caused by changes of ownership, either by inheritance or by purchase. In both cases usually only one part of the value is paid out to the co-heirs or the seller; an important part of the price is covered by a mortgage, which, naturally, is the bigger, the larger the farm and the higher the temporary value according to the tide of the market. The other cause of dangerous indebtedness is speculation in times of prosperity, when the owner undertakes costly improvements. Also in this case the "large-propertymadness" (Alvin Johnson) avenges itself; the mortgage is again incommensurate to the size, and (in this case) the fallaciously-inflated value of the farm. When the unavoidable hangover follows the intoxication, the farmer is trapped. The present author is not the first to maintain that "agricultural management has no worse enemy than agrarian property". Rodbertus-Jagetzow, himself a largeestate owner, knew well why he demanded that landed property be treated as a "rent-source" but not as "capital".
VI. Marginal district of highest pressure The district of highest pressure, from which the marginal coolies migrate, is the South, the section of the former slave States. Here is the source of the main affluent to this giant river of human beings. The area covers only 17 percent of the national soil, but harbors 40 percent of the country's agricultural laborers.
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Wirtschaftspolitik
This population is not only the poorest but also the most fecund of this country. Children under five years of age, per 1,000 native-born women 15 to 40 years of age, were registered as follows:
In USA In South
1920
1930
600 658
541 591
As late as 1930 "the excess of births over deaths in the South was about 15 per 1,000, which would mean an annual rate of natural increase of 1.5 percent, enough to double the southern rural population in forty-five years. Looking back to 1885, however, it appears that even with the higher rate prevailing in these years, the rural farm dwellers of the South increased only slightly. Evidently millions emigrated during the Generation." Census figures indicate that the rural farm-South, in the decade 1920-30, exported about a quarter of a million persons each year to the cities: "Census statistics of birthplace further indicate that 24.1 millions of the native-born population of the United States were born in the rural Southeast, but only 17.5 millions were living in the area of their birth. It is evident that over 6.6 millions have moved elsewhere, probably some 3.8 millions leaving the section entirely, and 2.5 millions moving to southern cities.1" This population is the poorest of the country, because the distribution of ownership of the soil is still worse than the general average, which, by the way, is naturally unfavorably affected by the figures referring to this section. The following table is a comparison between the ownership of farms in twenty counties of Georgia and that of farms in all the United States. The figures are not absolutely comparable, but the divergence must be very small, since the concepts "owner" and "operator" almost, if not completely, coincide in the higher groups of size which alone are of interest in this connection: Proprietor-operators (as a percentage of all operators)
Farm (by size) Under 10 20 50 175 500 1,000
to to to to to +
10 20 50 175 500 1,000 more
United States
Georgia
5.7 8.9 22.9 43.3 15.5 2.5 1.2
6.4 4.3 14.9 46.5 21.2 4.5 2.2
Area of proprietor-operated farms (as a percentage of all land in farms) United States Georgia 0.26 0.8 4.7 28.2 26.9 11.0 27.9
0.5 0.3 3.2 26.9 32.4 16.9 20.1
The holdings under 50 acres, comprising all midget, small and medium farms, are 37.5 percent of the number and cover 5.8 percent of the total farm area of the United States. In Georgia these farms represent only 25.6 percent of the farms and cover only 3.7 percent of the State's total farm area. At the other end of the scale, all groups of 175 to 1,000 acres in the State represent 25.7 percent of the number and cover 49.3 of the area, while the general percentages for the country are 18 and 37.9. Only the last group of the table gives a picture seemingly favorable to Georgia; the general percent-
1
Woofter, Landlord and Tenant in the Cotton Plantations, W. P. A. publication, [ohne Ort] 1936.
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ages here are determined by the immense stockranches in the West South Central and Pacific sections, covering in 52,000 ranches of over 1,000 acres each no less than 218 million acres, whereas the South Atlantic and the Southeast sections together have only 4,885 farms of over 1,000 acres each, covering 9.9 million acres. Certain economists, who are still believers in the entirely exploded "law of population" of Malthus, attempt to charge "overpopulation" with responsibility for the destitution found in the South. They emphasize the undeniable fact that the rural population is settled more densely here than in most of the other States: we reported already that 40 percent of the total rural farm population of the United States exists on only 17 percent of the area. Nevertheless the South would be ample for its population if only the land were fairly apportioned. Total Population per square mile in the United States averaged 41.3 persons, in the South Atlantic States 58.7, in the East South States 55.1, in the West South States 28.3. About a third of this population was "urban"; about a second third was "rural-non-farm". No one can maintain that 18 to 19 persons (not families!) are too many for 640 acres. Wages are pitiably low in the South. In 1934, the average net income per family of the wage-hands, croppers, share tenants and renters on plantations in the eleven areas surveyed by the W. P. A. in 1936 was only $309, or $73 per capita. The lowest average annual income occurred in the Lower Delta, amounting to $38 per capita, or slightly more than ten cents per day; the maximum, in the Arkansas River area, reached $92, the highest of any occupational group. This remains, as was demonstrated before, far below the general average. The situation of agriculture in these regions does scarcely allow higher income for wage-workers and petty tenants and share croppers. The basic evil is monoculture (money-culture), joined with an amazing lack of intelligent management. This is the plight of every country dominated by feudal aristocrats. As Adam Smith puts it: "That indolence which is the natural effect of the ease and security of their situation, renders them too often, not only ignorant, but incapable of that application of mind which is necessary." The depression following the Civil War apparently has changed nothing, at least not in the direction of improvement. Woofter reports: "The Generation after the Civil War grew up with little knowledge of farming above the minimum necessary for growing money crops. The South, though a section suited by soil and climate to the culture of a great variety of food crops, became a heavy purchaser of foods from other sections. Though a section of vast areas suited to stock production, it became dependent for its mules and dairy products upon farmers elsewhere. The tenant, the landlord, the merchant and the banker, all conspired, because of short-sighted self-interest, to expand the money crop, with the result that the South depleted the fertility of vast tracts and allowed them to erode. It became enmeshed in a vicious' tenant system and dependent upon ruinous credit machinery." The situation of the share-cropper and the petty tenant frequently is still more impaired by relentless usury combined with the infamous truck system. Woofter notes: "In a study of 588 croppers on 112 North Carolina farms in 1925 it was found that no cropper borrowed one single dollar directly from banks or public lending agencies. All croppers were furnished farm supplies, including fertilizer, either by landlord or by merchant. Eighty-two percent of the croppers received cash advances from the farm owner, averaging $109 at a cost of 21 percent in interest; 60 percent of the croppers received household supplies direct from the landlord at an average value of $113 per cropper, costing 53 percent in interest. Forty-one per-
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cent of the croppers received household supplies from the merchant on the landlord's guarantee, averaging $64 per cropper and costing an average of seventy-one percent in interest." The attempt is idle to excuse this outrageous usury by the risk the landlord is undergoing. Calculation has shown that the average loss is only 5 percent, whereas the average interest agreed upon is 19 percent, which, however, is to be paid, no matter when the loan is repaid. As they are repaid on the average after six months the net interest is 38 percent. Under such circumstances landlord and banker are not especially interested in encouraging gardening and dairy fanning. The garden is not a shared operation, hence the only interest the landlord has in the tenant's garden is the extent to which the production of foodstuffs will reduce the amount which he must lend the tenant for subsistence. The landlord is, therefore, not always willing to advance money for seed and fertilizer or to provide for the use of an animal for a tenant's garden. Gardens found on plantations in this study were usually so poorly tended that the small production resulting, in most cases, could hardly be assigned an appreciable value in the tenant's budget. In regard to dairying, the best source of income and health for the genuine peasant all over the world - that branch of agriculture where the peasant's superiority over the large operator is most striking - we are informed, that in 1934 "only 55 percent of tenants had cows, a great proportion not having the knowledge or the energy to care for these animals or the money to purchase them". About 80 percent keep pigs, with the renters on top with five on the average, whereas the croppers keep only three. Eighty percent keep chickens, twenty being the average flock. The greater part of the population lives on this pitiably low level. The following table compares the percentage of independent and dependent gainful workers in agriculture and of the undoubtedly proletarian wage-hands and share-croppers in the United States as a whole and in the South. It must be kept in mind, however, that the average of the country as a whole is depressed deeply by that of the South: Female
Male
Independent: Owners and managers Dependent: Tenants not croppers Croppers and laborers
United States
South
United States
South
34.2
26.1
17.2
8.7
19.2 46.6
18.3 55.6
7.4 76.4
9.9 81.4
100.0
100.0
100.0
100.0
Nearly 10 percent more of the males and 5 percent more of the females are unquestionably proletarians, even when the petty cash tenants and renters are left aside; an important part of the latter groups is in no better position. The South leads also in illiteracy. South Carolina has more than 18 percent illiterates, 20 years of age and older, Mississippi and Louisiana following close in line. This refers to the total population; the rural alone has a still more disgraceful record, nearly 24 percent of the adults over 21 years of age and older in Louisiana being illiterate. The record is held by the Negroes in Alabama: the illiterate include 27 percent of those over ten years old. And "obviously a great many of those returned as literate were actually unqualified in the essentials of reading and writing". People so wretched and ignorant and employing such backward technique, naturally, have a comparatively low ability to produce. The productivity value per agricultural gainful worker is estimated for the United States as a whole at $1,224; for the South at $631; for all other sections at $1,626 dollars. The official report speaks of "widespread and chronic poverty".
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Given so small a volume of purchasing power for the rural farm Population, industry, naturally, is only feebly developed. Only 52.3 percent of the male and 70.4 of the female gainful workers against 74.9 and 71.5 in the United States as a whole, are non-farm-workers in the South.
VII. The loci of minor pressure We have been informed already where the loci of minor pressure and, therefore, attraction are situated. To repeat the quotation: "During the decade 1920-30 urban areas absorbed more than 85 percent of the total increase in population The remainder was distributed through total non-farm territory, chiefly that adjacent to metropolitan centers." To deal first with this last relatively small part of the migrating mass, its settlement follows the laws discovered by Johann Heinrich von Thünen, the famous author of the "Isolated State". The "zones" next to growing urban markets attract especially truck gardeners, while all remoter zones experience intensification of agriculture, involving an increase mostly of the farm- and always of the nonfarm population that provides the farmers with goods and services. This movement is increased by many urban elements settling in the villages for good, or simply for seasonal sojourn, and by sanatoriums and charitable institutions, schools, etc., seeking cheap land and a country environment. These considerations explain why the only large section that gained considerably in farmpopulation is the Pacific, with an increase of 11.7 percent. Only one other, the West South Central, gained, but this was merely a pittance, 1.7 percent. All other sections lost, up to 10.1 percent (the Mid-Atlantic). The same considerations explain why the rural nonfarm population increased by more than 20 percent in only three of the sections: New England with 35.5, the South Atlantic with 29.6, and the Pacific with 40.4 percent. The enormous development of New York and its surrounding area in the first case, of Florida and California, especially Los Angeles, in the others, is reflected in the sharply increasing number of persons living by gainful occupation or on income from another source in the surrounding villages and suburbs not yet swallowed up by the metropolises and statistically still registered as independent villages. This, therefore, is merely an incidental trait in the grand process of urbanization which has swollen the towns and especially the metropolises to an unprecedented degree. Antiquity knew cities of a million persons like Rome and Byzantium, Ktesiphon and Alexandria. Feudalism had its giant cities like Paris or Yeddo (now called Tokyo), each the biggest city of her time. However, there was never an agglomeration of human beings as in modern London, New York or Chicago; and never a time when the great majority of nations consisted in town-dwellers. This process is in full swing in the United States. Even the dreadful crisis after 1929 could do no more than interrupt it for a short period. When millions of jobs in the cities disappeared, the current of internal migration, naturally, was bound to be reversed; farm-born workers and others sought a job or at least a shelter on the farms. As early as 1933, however, "this migration to farms was sharply reduced, and once more there was an important movement from farms". Before the "old frontiers" were reached, the immigration from abroad cut an imposing figure beside internal migration. The immigrants preferred urban life. In 1920 no less than 75 percent of the foreign-born residents of the United States lived in towns, whereas the percentage of all towndwelling residents to the total at this time was only 51. Of the 3 millions who immigrated between 1920-30, 2.2 millions stuck to the towns. In 1910 more than 25 percent of the population was for-
Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
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eign-born in 41 of the 93 cities that in 1930 had more than 100,000 residents. As late as 1930 11 million foreign-born residents were reported among the 69 million city-dwellers. Sixteen millions more were born "elsewhere" in the United States than in the State of their residence. O n l y 42 millions were born in the same State, but "a large share of the 42 as well of the majority of the 16 were born and reared on farms". T h e total internal migration is impressively described as follows: It is safe to say that, with the exception of a few southern States, a large share of the 1930 population of all large cities (ranging from 30 to 80 percent for the individual cities) was born elsewhere. And "one of every four American Negroes was living outside his native State, and mostly in large cities". T o give some interesting details, the States in the Northwest quadrant contained more than 3 million persons who were born south of the Mason Dixon line, and nearly 1.5 million persons who were born west of the Mississippi. In the decade 1920-30 the population of the following cities increased by number and by percentage as follows: New Y o r k Chicago Philadelphia Detroit Los Angeles Cleveland
by
millions
»
»
»
«
1.210 0.675 0.127 0.575 0.665 0.113
=
23.3 25.0 7.0 58.0 115.0 13.0
percent
VIII. The urban labor market T h e problem before us is, how does this enormous influx into the urban labor market affect the gainful workers, especially the wage-workers? O f the total of 123 million population of the United States in 1930, 99 millions were over ten years of age. Gainful workers totaled 48.8 millions, or 39.8 percent of the total population, and 49.5 percent of those over ten years old. Thirty-eight millions were male, 10.8 millions were female; 61.3 percent of all male and 17.7 of all female persons were gainfully occupied. O f the persons over ten years old, 76 percent of the males, and 22 percent of the females were gainful workers. The following table shows the gainful workers, both sexes, by occupational groups: Gainful workers, ten years old and older (in thousands)
Agriculture Forestry and fishing Mining Manufacture and mechanical industries Transport and communication Trade Public service Professional service Domestic and personal service Clerical occupation
1930
1920
1910
10,472 250 984 14,111
10,666 250 1,090 12,883
12,388 242 965 10,656
3,843 6,681 856 3,254 4,952 4,052
3,079 4,258 739 2,171 3,379 3,112
2,665 3,633 431 1,711 3,756 1,718
48,829
41,614
38,167
Wages and Trade Unions
419
In order to judge the influence of migration on urban labor we must know the number of the wageworkers and their distribution among the different "social-economic groups": Number (in millions) Independent: Professional persons Dealers, wholesale and retail Other proprietors, manager and officials Dependent: Clerks and kindred Skilled workers and foremen Semiskilled workers Laborers Service workers
Percent
Malt:
Female
Male
Female
1.9 2.2 2.3
1.58 0.13 0.14
5.2 5.9 6.1
14.7 1.2 1.3
6.5 8.2 7.3 8.2 1.4
3.36 0.09 2.77 0.17 2.66
17.1 21.5 19.1 21.5 3.6
31.2 0.8 25.7 1.6 23.5
38.0
10.9
100.0
100.0
Of all gainful workers in 1930, 6.4 million males and 1.85 females were independent, both of them 17.2 percent of their number. Dependent, therefore, were 82.8 percent of males and females, in absolute figures 31.6 million males and 9.05 females, a total of 41 million persons. Of the six million rural farm people who crowded the urban labor market between 1920 and 1930, at least the general average, 40 percent, were gainful workers; that is, about two and a half millions. These people, usually, are healthier, stronger and, chiefly, younger than the urban residents of the same social-economic group. "More than three-fourths of the net rural migration were less than 25 years in 1920", we are informed. This "most productive age-class" is injuriously thinned out in the farms by migration: " The proportion of persons aged 20 to 49 years in the urban population was equal to 48 percent, in the farm population it was only 36 percent." The farms do lose not only in quantity, but also in quality. These migrants are almost without exception unskilled laborers, unskilled in urban, industrial work. Nearly their entire impact, therefore, hits the relatively small stratum of urban unskilled labor, which, in 1920, amounted to about 7 million persons. Even if we add the about 9.6 million of semi-skilled working people counted in 1920, the competition breaking into their market appears enormous. Especially as it is the competition, on the average, of young, strong, ignorant, frequently illiterate persons, who are accustomed to low wages, long hours and "patriarchal" treatment; if they are not outright starving, they are in any case in that "unilateral urgency of the want to exchange" which characterizes the monopoly relationship, the position of the victim facing the monopolist. As far as the present author can see, this complex of facts is mentioned in not one single textbook of theoretical economy. Equally ignored is the law of Goltz when the problem of wages is dealt with. And precisely for that reason these facts that clamor - nay, scream for attention, have never awakened the interest of the trade unions nor have they influenced their practical policy.
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und
Wirtschaftspolitik
IX. Trade-unionist policy Unionism is monopolism! This presumably will provoke furious protestations, but it cannot be helped. It is not meant at all, by the way, as recrimination. Trade union leaders themselves cannot help it. Every union, by an inexorable compulsion, must aim at the monopoly of its particular labor market. This time we have to deal with another species of the genus "monopoly". It is a "legal monopoly by agreement", which comes into being when the producers of a certain commodity agree not to undersell each other, and, to this end, attempt to restrict production in order to raise the price of that commodity by diminishing supply. Such an agreement is, as was said before, indispensable where the commodity in question is capable of being increased. Labor, or better, "services", i. e., labor of a certain qualification during certain hours in certain surroundings, is such a commodity capable of being increased by competition. This can happen by prolonging hours or intensifying labor without hiring new laborers, or by engaging migrants from outside or abroad, or by adults changing or youth choosing their occupation. Being a commodity, services submit to the same general laws dominating material goods; their price decreases when supply exceeds demand, and increases when demand outruns supply; and the price, just as can that of every tangible good, can be screwed up to a monopoly price by an agreement of the producers to restrict supply. This is what unions must aim at: to attain the monopoly of their market. Their entire policy pursues this goal, restricting production of this particular service by excluding rigorously whoever cannot prove his qualification, or, in some cases in some countries, those who did not complete the prescribed apprenticeship; by deterring and, if feasible, keeping away by law, foreign competitors; by alleviating internal competition through encouraging and subsidizing emigration abroad or toward other national centers; by amassing a strike-fund for stiffening the back of their members and pointing the gun of a strike at the employers, diminishing, thereby, the urgency of the want to exchange on their side, and sharpening it on the employers' side; by collective bargaining in order to prevent the capitalist from breaking the faggots singly which the bond of the union makes unbreakable; by getting hold of political power to back all this by administrative aid and, if possible, by newly enacted laws; and, lastly, by organized general strikes, aided by allied unions. This, then, is open war. The normal life of the union, however, must be understood to be armed peace. They are created for the war of the classes; this is their raison d'être and their justification. They are a warring army, acting under the inexorable necessity of war. Their group is being attacked by the monopoly of capital and has to defend itself. There is no other means than to oppose monopoly to monopoly, war-fund to war-fund, pickets to scabs, lobbying to lobbying. It is not the attacked who is responsible for what weapons and methods are to be used, but the assailant. Just as the Britons are compelled to retaliate Nazi Aggression by the same methods and weapons, be they ever so loathsome to them, just so the unions have no choice - on principle! This is to be acknowledged - but no more. Self-defense is permitted, but certainly it does not merit a civic crown. It is egotistical action; the union's entire activity is prompted by groupegotism, that is, we repeat it expressly, absolutely justified before the courts not only of law but even of morals; nonetheless it is and remains - egotism. The unions, therefore, must not ask to be applauded and supported as unselfish champions of the entire laboring class, as they are prone to do. Their monopoly is double-edged. It hurts not only the capitalist but also the poorest and most helpless and desperate group of the national and international proletariat It has the effect that "new forces" have, generally, to use a magnificent simile by Henry George:
Wages and Trade Unions
421
"It is as though an immense wedge were being forced, not underneath society, but through society. Those who are above the point of separation are elevated, but those who are below, are crushed down." Precisely this is the effect of the unions' activity. Whoever is not able to comply with their terms of admission is condemned to unemployment; where they have enforced minimum wages by law, the employers naturally no longer hire persons whose services do not promise to yield the usual profit; last but not least, the unions of the United States were unquestionably the driving force behind the legislation restricting immigration from abroad. Men who frequently had been immigrants themselves or were the direct descendants of foreign-born citizens, allied themselves with reactionary groups and especially racists to shut the door of this blessed asylum in this Land of the Free in the face of millions of despairing martyrs of dictatorial brutality. This alone is sufficient to prove that something fundamental must be wrong with American unions. So much for their claim of having raised "the" wages. They assuredly have done nothing to raise the basis of the pyramid. It is even open to argument whether their boast is justified of having caused the general increase in the reward of skilled labor. It cannot be doubted that they succeeded frequently in enforcing upon the employers improvements that the automatic forces of social evolution would have brought about later: but there are some very strong arguments that the unions flourished because wages rose, and not vice versa. Still more doubtful is the claim of the unions of having enforced upon their class-enemies social legislation concerning labor by children and women, insurance and protection against accidents and diseases peculiar to certain trades; etc. Again, there are strong arguments to be advanced for the opinion that the unions were rather the tools than the operators in the big game of State-policy between the great parties fighting for power and seeking allies. These problems, however, belong to pure theory whereas we are concerned here solely with practice. We have proved what we proposed to prove: that the method employed by the unions is unable to attain the goal they pronounce and believe they are pursuing: raising the laboring class in its totality. What, then, is to be done? More than half a century ago a British trades union leader said: "It will always be extremely difficult and almost impossible to organize unskilled labor as long as rural immigration endures." One of the heroes in Kingsley's famous chartist-novel, "Alton Locke", predicts defeat of the striking London tailors, because the employers will import the unskilled labor "of starving Irish and women and children" from all quarters. Karl Marx explains that all efforts made by urban magistracies to improve standards and especially dwellings of their laboring class, were doomed to suffer shipwreck: "Tomorrow a locust swarm of ragged Irishmen or starving English agricultural laborers immigrates." Henry George writes: "That which trades-unions, even when supporting each other, can do in the way of raising wages, is comparatively little, and this little, moreover, is confined to their own sphere and does not affect the lower stratum of unorganized laborers, whose condition most needs alleviation and ultimately determines that of all above them." Almost half a century ago the present author, in a lecture held in the labor Hochschule in Berlin, attempted in vain to convince his audience of this evident truth. I used a simile: "A horste is trapped in a snare set at the bottom of a ditch. You unionists want the head and the shoulders to get out; to this end you put a rope around his neck and pull. You probably will break his leg or strangle him to death. You have only to cut the snare, and I grant you most solemnly that head and shoulders
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
will get out when the feet do." One of the parrots every party is training replied sneeringly: "We proletarians know better where the shoe does pinch us; it is not the landlord but the capitalist we have to fight." I answered with a little story: "Mr. Muddlebrain brought back a walking stick he had bought: 'It is too long.' 'All right', said the dealer, 'we will cut one inch off below'. 'Nothing doing, my good friend', was Muddlebrain's answer, 'the stick is too long above, and not below'." The inference is inescapable: the unions can attain their goal, they can be the champions and the rescuers of the entire laboring class only, by not changing, but completing their practical policies. They must not change them - on principle, although a certain circumspection and prudence is recommendable for reasons we are presently going to advance. As long as the combat of classes lasts, they must hold fast to their monopoly, because they must preserve themselves in full number and fighting force as labor's active army. But - an army's task is not alone to wage war, but primarily to win peace and, ultimately, to make itself dispensable forever. War for war's sake is against reason and morals; for war spells destruction, only peace construction. Unionism is justified only if its tactics and strategy aim at lasting social peace. To this end the trades unions, as we have said, must complete their policy by taking care of the lowest stratum at the basis of the social pyramid. This cannot be performed by their habitual routine of organizing which is suited to urban conditions exclusively. Even the powerful German unions did not succeed in organizing agrarian proletarians in unions. They had to confess that they were defeated "by the anticommunistic peasant's skull". These people are too close to the true root of the evil to fall for "this sort of social poetry" as it has been called. They know really where the shoe is pinching; that is why, in all periods and in all places, in Biblical Palestine, in ancient Greece and Rome, in medieval Europe, they have demanded always one thing alone: "ton tes ges diadasmon", the "white partition" of the soil that the Russian Mujhik expected from the Czar's kindness and insight, the peaceful redistribution of the soil of which roving Vikings from the West and North, mounted nomads from the East, and Greek usurers and slave hunters from the South had robbed their forefathers. Internal colonization, wholesale land settlement, this is the task. The present author has shown that, and how it can be fulfilled, in quite a number of completely successful experiments. Nazism, guided by sound instinct, destroyed them willfully. They were the expression of an idea diametrically opposed to the ideas the Nazis themselves propagate. The Nazis had good reason to be afraid of this idea; it is destined to make democracy a perfect and invulnerable order, by weeding out the last remnants of feudal "fraud and violence".
X. Breakers ahead "Nothing is as practical as theory." American industry owes its almost fantastic progress to the alliance of organizational genius with scientific theory. Will the industrial laborers of America learn by this experience to consult science as well? Or must they first undergo what their brotherorganizations in Europe had to suffer? Something must be wrong in the foundation of unionism, else European unions would not have experienced a downfall from apparently overwhelming political and economic power to downright annihilation. This happened in Germany, Austria, Italy, and eventually in France. The present writer, who has been a close friend of unionists but a skeptic on principle about unionism through almost half a century, predicted their decline and fall at a time when they still enjoyed "ruddycheeked health". He wrote in the first edition of his textbook of political economy (1910):
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"Marxism leads the laboring class to merely apparent but not to real victory. They look enchanted on the rapidly rising number of their voters, but they do not realize that, for all that, their political power is rather decreasing, because their adversaries are assembling in ever stronger and more dangerous organizations. They may take care: the equal and universal suffrage is not everywhere a touch-me-not."' Fourteen years later, in the fifth edition of the textbook, he wrote: "The once so mighty party, after the world war, had the mandate and the opportunity of showing of what it was capable, but failed shamefully, because there is no way from its theoretical program to reach practical policy. The party is dead, even though its machine continues moving for some time. The belief in common aims and certain ways to these goals is the soul of a party. It dies once the belief is lost. Therefore, the psychological moment may be near when the despairing masses will turn away from their present leaders who, most of them, became silent and stand discredited, to follow other leaders on new ways to new goals."2 This was written at a time when the German parties of the trades unions seemed to have attained the peak of their strength, controlling the majority of the diet. Two years afterward, in this writer's book, "The State", it was pointed out: "If the fratricidal struggle between the two socialist parties is not settled, which is possible only if both of them accept a new theoretical program, imperialist Fascism will overrun the whole of Europe. "3 Printed in 1926, when Nazism was yet a small, despised group, the prediction came true. Because the feckless and aimless policy of the trades unions disappointed their supporters and gave to their adversaries the arguments - or at least the pretexts - to present trades unionists to the great public as a nuisance and even as a menace to the public welfare. Thus it came to pass that, except only in Vienna, they ingloriously went down before the first onslaught of the capitalist forces. The old game of divide and rule had succeeded as it did innumerable times before: either the peasants curbed the upheavals of the townspeople, or the townspeople those of the peasants. They must accuse themselves, and not the greed and lust for power of their victors, whose strength was nothing but their feeble-mindedness. Some of the former leaders have begun to realize it, as I am permitted to tell now, after we have escaped the clutches of the Gestapo. They came, as it were, to cry on my shoulder, yammering, "Why did we not hear you?" I could only shrug this part of my anatomy. It is not worth while to cry over spilled milk. Apparently there is opportunity enough, also, in this great country, of finding arguments or at least pretexts to present unions as a nuisance and even as a real danger to the commonwealth. A nuisance! Public opinion in the United States has prevailingly been on the side of the unions, because the sympathy of true democrats is always for the underdog. But there are at times some disturbances of normal economic life which anger and embitter the great public, because they look like extortions committed by the unions. Each monopoly is, by its very nature, extortionist, and so is that of the unions; precisely for that reason trades unionists should be moderate and circumspect
1
[Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie. Ein Lehr- und Lesebuch für Studierende und Gebildete, Berlin 1910; A.d.R.]
2
[Derselbe, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, in: System der Soziologie, Bd. ΠΙ, 2. Teilbd., Jena
3
[Derselbe, Der Staat, in: ebenda, Bd. Π, Jena 1926, S. 763; siehe auch derselbe, Der Staat, Abdruck der
1924, S. 1104; A.d.R.] 1. Auflage von 1907, in: Gesammelte Schriften, Bd. Π: Politische Schriften, Berlin 1996, S. 3 0 9 - 3 8 5 ; A.d.R.]
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and not stubbornly insist upon their "right of way" when only petty interests are at stake, to avoid the fate of Mr. Gray, "who was as dead if he had been wrong". The public tires easily of this endless dickering and chaffering for some cents more or less, especially because there is no expert in this world who could tell them how much ought to be paid to be "fair". All experts can do as arbitrators and mediators is to "split the difference". There are other occurrences when the customer is angered and damaged by certain ukases of the unions recalling the worst times of the proverbial "guildspirit"; when, for example, the shoemakers and the furriers litigated for years and years up to the highest court of appeal about who was entitled to produce fur-lined shoes. The customer is hurt in his most sensitive spot when he is compelled to pay two men where one is sufficient, and to pay a skilled man where an unskilled would do. It is no more difficult to present unions as a danger to the public welfare. Let us assume that all news of this kind is nothing but the "atrocities" that warring parties like to invent. But "semper aliquid haeret", and substories like that of the small manufacturer who was ruined by the union, are easily believed. And the public is uneasy when confronted with strikes in plants working for national defense, and is exceedingly disquieted when told that unionism is contaminated with graft and gangsterism. In exactly the same manner European unionism had prepared the way to fascism. "It can't happen here?" Let us hope so. But - would that be any reason to continue on a dangerous road that cannot lead to the goal?
A Post-Mortem on Cambridge Economics [1942-1944]
Inhalt
Introduction
428
I.
Definition of Economics
429
Π.
Conflicts of Economic Motives
430
ΙΠ.
The Equilibrium
431
IV.
Comparative Statics
432
V.
Distribution of the Factors of Production
434
VI.
Wages and Wage Theories
437
VII. The Labor Market
440
Vili. Profit and Theories of Profit
441
IX.
Theories about "Capital"
443
X.
Capital and the Goods of Procurement
445
[Dieser Aufsatz wurde erstmals abgedruckt in: American Journal of Economy and Sociology, Bd. 2, Nr. 3 (1942/1943), S. 369-376; Bd. 2, Nr. 4 (1943), S. 533-541 und Bd. 3, Nr. 1 (1944), S. 115-124; A.d.R.]
Was wankt, soll man auch noch stoßen-1 Friedrich Nietzsche
Introduction Nearly half a century ago the present writer laid the first foundations of his theory of economics, now completed. Since that time he has seen four schools of economic thought, which then were competing for predominance, pass into the discard. The classic, or rather the post-classic "bourgeois" school of economics was already doomed beyond hope when John Stuart Mill felt himself honor bound to abandon the wage-fund theory and, with it, the complete theory of distribution. The "Historical School of Economics" was the first of its assailants to vanish almost without leaving a trace, breaking down under the onslaught of scientific Marxism on the one hand, and the different schools of marginal utility on the other hand. Both of the conquerors, a Generation later, had lost almost the last of their devotees. "Bourgeois" economics - the theory that attempts to justify existing property relationships - attempted in vain to win new strength by adopting parts of its adversaries' ideas, first of socialism, then of marginalism. The result, in the former case, was "the socialism of the chair", which expired with its great representative, Adolph Wagner. The second attempt was that of the Cambridge School of Alfred Marshall and his pupils. It had no better fate; it is bankrupt as well, as is acknowledged by its best men, such as, for example, John Maynard Keynes: 'Modern theories on economics are mere concoctions as imprecise as the initial assumptions they rest upon, which allow the author to lose sight of the complexities and interdependencies of the real world in a maze of pretentious and unhelpful symbols.'2 The same is very moderately expressed by Maurice Dodds: "The social philosophy underlying it represents, like that of John Stuart Mill, nineteenth century bourgeois liberalism with a bias toward social reform. [...] In recent years doubt has increased rather than diminished. The post-war Generation is more sceptical than its sire and is more conscious of the loose ends that still remain untied; it recognizes that, particularly in the theory of distribution, there is still much that is confused and uncharted, perhaps internally inconsistent."3 This essay will seek to discover the cause of these judgments within the theoretical structure of the Cambridge School, by an analysis of its fundamental work, Marshall's "Principles of Economics"4.
1 "What is staggering ought to he pushed" (Zarathustra) 2 Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, ins Deutsche übersetzt von Fritz Waeger, München/Leipzig 1936, S. 252, [von Oppenheimer aus der deutschen Ausgabe ins Englische übersetzt; A.d.R.]. 3 Dodds, "Economics", in: Encyclopaedia of the Social Sciences, [ohne Ort und Jahr]. 4 Marshall, Principles of Economics, New York 1925.
A Post-Mortem
I.
on Cambridge
429
Economics
Definition of Economics
T h e first error of moment in Marshall's system is the misunderstanding of what economics is. Marshall defines it as "a study of mankind in the ordinary business of life; it examines that part of individual and social action which is most closely connected with the attainment and with the use of the material requisites of well-being. Thus it is on the one side a study of wealth; and on the other, and more important side, a study of man." 1 A n d again: "Economics is thus taken to mean a study of the economic aspects and conditions of man's political, social and private life; but more especially of his social life." This definition is utterly incorrect. It assigns to economics a great many of the problems that belong to general sociology. This is realized when one considers the remainder of the first, introductory chapter. It tells how "the character of man has been moulded by his everyday work and his religious ideals", how poverty is apt to spoil the character and the race. It asks whether "we may not outgrow the belief that poverty is necessary". It assures us that "the fundamental characteristic of modern industrial life is not competition, but self-reliance, independence, choice and forethought", that "man is not more selfish, nor more dishonest than he was", and that "dreams of a Golden Age are beautiful but misleading," etc. T h e consequence of this erroneous foundation is that the b o o k is not in the least what its title indicates, an exposition of "principles", i. e., a system of logically-connected tenets covering an exactly limited field of facts and presenting in their totality the doctrine of theoretical
economics,
more nor less. It is a work that brings together a wealth of facts and opinions on all three branches of practical
economy (private economics, public finance, and economic policy, particularly indus-
trial, but also agricultural economic policy). Here and there, there is, moreover, the disjecta
membra
of almost all the social sciences: individual and social psychology, general sociology, history, theory of statistics, moral science: a catch-all of facts and intimate and tentative opinions "de omnibus
rebus
et aliquot aliis". Some minor problems are expatiated upon, some major ones ignored or dodged. It reminds the expert of Gustav Schmoller's Volkswirtschaftslehre,
which, precisely in the same man-
ner, attempted to mire economics in a hotchpotch of social science - what he believed to be science. T h e attempt miscarried there as here; it is bound to miscarry whenever it is made. Marshall himself realized it: "Economics has made greater advances than any other branch of the social sciences, because it is more definite and exact than any other. But every widening of its scope involves some loss of this precision." 2 H e is forced to confess that "the science is still in its infancy" 3 and that "it can never become a simple science" 4 . T h e same imperialistic tendency of expanding the scope of economics was at the root of the Institutionalist School. Wesley C. Mitchell disclosed this in his remark:
1 2 3 4
Marshall, Principles of Economics, I. Buch, Kap. I, 1. Ebenda, Appendix E, 6. Ebenda, I. Buch, Kap. I, 30. Ebenda, V. Buch, Kap. Vm, 1.
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Erster Teil: Nationalökonomie
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Wirtschaftspolitik
" T h e future of economics, the question whether man will ever succeed in establishing a serviceable science of human behaviour, becomes one of the crucial issues on which hangs the doubtful fate of mankind." 1 But human behavior is the problem, not of economics alone, but of general sociology and the special sociologies, especially of social psychology. Economics is concerned neither with the motives nor with the aims of human behavior, but merely with the means that are usually employed to attain desired goals. This is clear by the following definition: Economics is the science of the social economy of the economic society (or of the group econo m y of the economic collectivity). It is, as the Definition indicates, one of the social sciences. It shares with them the c o m m o n "subject of experience," the "historico-societarian reality" (Dilthey), and, like all the others, it prepares its own "subject of cognition" by selecting out of this enormous mass the phenomena that have particular interest for it: economic actions and their creations in space and time. In other words, its data are concerned with the process through which a group secures and takes care of the things of value that its members desire and are able to obtain. Economic actions are distinguished f r o m all other kinds of action by the following characteristics: 1. T h e y are motivated by the desire of having something (or of having the power of disposal over something), but not by the desire of doing something. 2. T h e y are neither instinctive nor impulsive, but considered, and especially rational actions, i. e., actions conforming to the principle of the minimum means. 3. T h e things desired are things of value; this means they are not free goods, but are "scarce", costing expenditure either of labor or of possessions of other things of value.
II. Conflict of Economic Motives This confusion regarding the scope and the task of economics rests entirely on the erroneous assumption that the science is concerned with the conflict of the motives of economic action: " T h e measurement of motive thus obtained is not indeed perfectly accurate; for, if it were, economics would rank with the most advanced physical science, and not, as it actually does, with the least advanced." 2 Marshall has a very adequate knowledge of this conflict or this "crossing of motives" and of the decisions to which it leads: "First, decisions as to the relative urgency of various ends; secondly decisions as to the relative advantages of various means of attaining each end; thirdly decisions based on these two sets of decisions as to the margin up to which the person could most profitably carry the application of each means to each end." 3 This is perfectly true. The decisions as to the first and second point make the action considered, and the decision as to the third point makes it rational. It is incorrect, however, to say that this process
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Q u o t e d by E. L. Bogart, "Economics", in: Encyclopaedia Americana. Marshall, Principles of Economics, I. Buch, Kap. Π, 7. Ebenda, V. Buch, Kap. IV, 4.
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of considering and choosing is a subject matter of economics. Economics, as Marshall himself defines it is "a study of individual and social action", but not of the process preceding it which belongs exclusively to psychology proper. Economic action does not begin before the moment when the decisions are made, first, which of the conflicting desires is to be satisfied; secondly, which thing of value, apt to satisfy this preferred desire, is to be secured; and, thirdly, to what extent it is to be secured. And, on the other hand, economic action does not last beyond the moment when the coveted thing of value is attained. Between these two points, decision and goal, there is not the least obstacle; economic action has run its course, unhampered by the conquered motives and desires. Economic science, therefore, is concerned neither with the motives which precede, η or with the applications of the secured things of value to either consumptive or technical purposes which follow the action of securing them. And, for this reason, in spite of what Marshall opines, it is a simple science, and even capable, in spite of what Cairnes 1 opined, of arriving at quantitative formulas.
III. The Equilibrium It has been said that the group economy of the economic collectivity is a process. It is one of those processes activated by antagonistic forces which can be explained satisfactorily only by determining the equilibrium toward which these forces, in our case supply and demand on the market, are tending. Such an equilibrium is called "static" in physics. Auguste Comte, who was an outstanding physicist, introduced the term into sociology; and his disciple, john Stuart Mill, into economics. Then john Bates Clark, especially, stressed the necessity of determining economic statics as the only possibility of attaining the highest goal of this as of all sciences: to arrive at quantitative formulas. It is, however, true, as Joseph Schumpeter emphasizes, that all good theory from its first beginnings in physiocratic doctrine was "essentially static," without being conscious of it; it is, as the great mathematician Cournot put it, a necessary assumption. Adam Smith, almost two centuries ago, solved the crucial problem of determining accurately economic statics, but failed to realize that his formula is the very pass-key to all closed doors in economics. "The whole of the advantages and disadvantages of the different employments of labour and stock must, in the same neighborhood, be either perfectly equal or continually tending to equality." 2 Almost a century later Johann Heinrich von Thiinen wrote: "The equilibrium takes place when, through the price of the commodities, labo[u]r of equal quality is equally rewarded in all branches of production; and this average reward is the measuring rod for the costs of production and for gain and loss." 3
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"It is hopeless that we should have ere long an exposition of economic principles drawn up in quantitative formulas." Cairnes, Some Leading Principles of Political Economy, London 1883. Smith, A n inquiry into the nature and causes of the wealth of nations, London 1887, 1. Buch, Kap. 10. v. Thiinen, Der isolierte Staat, Jena 1921, S. 529.
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The equilibrium, therefore, is that level of prices where all producers enjoy the same income f r o m the gains on the prices of their products, unless differences of qualification and, as Smith added, monopolies, cause divergences. This can be expressed in a very simple quantitative formula. Let us call Thiinen's "average income" (i. e., the amount of money which is the income of the greatest group of equally-qualified producers) / , and denote by ± q the higher or lower earnings of more or less qualified producers; and by ± m the gain of a monopolist or the loss of a monopolist's victim. Then the equilibrium is attained when the income of any member of this society (JJ is determined by the formula: Ji =J±fr
±
m
i
The present writer has shown elsewhere that this formula is the starting point f r o m which the quantitative formulas for static value and for wages, profits and rent easily can be deduced. This clear and simple determination of statics has been ignored and forgotten by "bourgeois" economists, as almost all other achievements of theory have been ignored and forgotten. Marshall is no exception. Like his predecessors, he was under the delusion that he had solved the problem by resorting to the interplay of supply and demand: "The normal price being thus determined at the position of stable equilibrium of normal demand and normal supply." 1 This eighth edition of the "Principles" was published in 1925; but Thiinen, one of the most venerated of Marshall's authorities, had written as long before as 1850 "that this explanation, confounding the conceptions, takes the facts for the explanation of the facts, the manifestation for what causes the manifestation" 2 . And Böhm-Bawerk wrote that it "gives husks instead of grain". Marshall obviously believed he had evaded this trap because he determines supply and demand with the refined methods of Gossen's marginalism, but it remains the old merry-go-round-of thought: the normal price obtains at the position of stable demand and supply; and this position obtains when prices are normal. It is the prettiest sample imaginable of a vicious circle. Under these circumstances Marshall is compelled to confess: "The pure theory (of equilibrium) in its earlier stages diverges but little f r o m actual facts; but, if pushed far, its practical value rapidly diminishes." 3
IV. Comparative Statics In order to comprehend fully what is to be achieved and to what extent efforts have failed, some words must be said on the method of statics to be employed in economics. The present author was the first to distinguish between the methods of simple statics and of comparative statics. The former is to be employed in simple processes, i. e., processes where there is no development, or where we are not interested in an existing development. It consists in determining the equilibrium and meas-
1 Marshall, Principles of Economics, V. Buch, Kap.III, 1. 2 v. Thiinen, Der isolierte Staat, S. 436. 3 Marshall, Principles of Economics, V. Buch, Kap. XII, 3.
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uring the "kinetic" deviations caused by "disturbances" from without the system. Thus, for example, the height of the tides is measured by referring to the static "zero-level" of the ocean. Where there is a process of development in which we are interested, this simple method must be supplemented by comparative statics, comparing different successive static levels. To illustrate by an example: a physician examining a sick person employs the method of simple statics when he judges the significance of his temperature, etc., by the data of statics, i. e., health. But, when examining a healthy child, he employs the method of comparative statics by referring weight, height, intelligence, etc., to the data normal to a child of that age and sex, to find out whether the particular child under examination shows normal or abnormal development. The social and especially the economic process is a process of evolution which must be correspondingly treated. Kinetics has for its objective competition. It shows how, in the concatenation in space and time of the markets, prices continually approach to that level, described by Adam Smith and Thünen, where each producer earns the income falling to him according to his qualification and his position as to monopolies. Statics has for its main objective distribution. It studies to what extent differences of qualification and monopolies are responsible for the divergences from the "average reward of labor" in out "capitalist" society; or why the social product is divided at all, and why in precisely these, "given" proportions into wages, profits and rent. Comparative statics has for its objective the "tendency of evolution", studying signally the effect of increasing population and its sequels in higher graduated co-operation, improved technique and growing output per capita in industry and agriculture. The only thing that can possibly be said to recommend the manner in which Marshall has treated this essential subject matter of statics is that he possessed a faint notion of comparative statics. He discriminates between what is "normal" in short and long periods. 1 He is, however, much too much concerned with the fluctuating market prices which are of the highest interest for his "businessman", but of only slight interest for economic theory, to understand fully the importance of this discrimination. He writes, for example: "Normal costs of production and reproduction are controvertible terms." 2 This, however, is true merely as a simple static consideration, because here supply and demand, it is assumed, remain unchanged. But it is decidedly wrong for comparative statics, when account is taken of the laws of increasing and diminishing returns. He himself writes: "The statical theory of equilibrium is therefore not wholly applicable to commodities which obey the law of increasing returns." 3 This is only one, and certainly not the worst, example of the indeterminateness and indistinctness prevailing in these chapters; it is the same confusion of which we had cause to complain in the first section, of elements which it was our task to disentangle and cleanly to separate.
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Marshall, Principles of Economics, V. Buch, Kap. V, 1. Ebenda, Kap. VII, 5. Ebenda, Kap. X V , 4.
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V. Distribution of the Factors of Production Distribution has always been considered the central problem of economics. Yet the subject was not reached by Marshall until he had completed five-sevenths of his 722-page book; this unsystematic, planless approach is characteristic of his method. On page 493 he deigns to refer to "that investigation of the causes which determine distribution, on which we are about to enter". The threshold, alas, is a long one; the actual investigation begins only on page 546. And it must be noted that the inquiry ignores or neglects most of the major problems, while it indulges itself in a host of minor questions. Marshall completely ignores the most essential problem, that of the "primal distribution of the agents (factors) of production", i. e., the distribution of the means of production, considered as property. This problem, evidently, must be solved before that of the distribution of the product proper can be tackled. For nothing can be more obvious than that those who own property reap the benefit from it, and the greater the property is, the more they reap. This, precisely, is the problem of distribution proper: w h y have some persons, orders or classes a small income or no income at all, whereas other persons, orders or classes enjoy large or vast incomes from rent or profit as the fruit of large property in land or in produced means of production? How, by which historical or economic process, have they acquired their property? Which of the two means by which property can be acquired has been of deciding influence in this process: personal labor and fair exchange, or fraud and violence; as Bastiat put it, "production or spoliation"? Bourgeois economists either ignored this crucial problem, dodged it, or attempted to solve it by the so-called "law of previous accumulation". This "law" maintains that our "capitalist" society, with its division of classes and its distribution of property, evolved through purely internal forces and by means that were fair and peaceful only, from a primitive group, all members of which were free and equal in political rights and economic wealth. This equality remained unshaken as long as there was still free land available for everyone who wanted it; for, evidently, in Turgot's phrase, "no well man will be willing to work for another, as long as he can take for himself as much land as he wants to cultivate". Large property in land, therefore, cannot occur here, no laborers being available to cultivate it. Little by little, however, the land is completely taken up with small and medium peasant holdings. As the Americans put it today, the "old frontiers" have been reached. From this point on, the differentiation into classes begins and progresses rapidly, first, because the law of diminishing returns forbids the division of the holdings beyond a certain minimum; and second, because, due to the same law, the return of the marginal expenditure on land is continually decreasing. Now, for the first time, the innate differences of personal qualification begin to tell: the strong, thrifty, intelligent, abstemious members of the tribe accumulate stock; the feeble, spendthrift, lazy, stupid ones remain or become poor; and these differences in wealth and income persist until the class society of modern capitalism is completed. This theory assumes, without further examination of this preconception, that the lands of our modern States have been occupied in the manner the law poses as the condition of the differentiation into classes. This assumption is untrue. Nowhere in the world has the land been appropriated by small and medium free peasants, "until the holdings", as Rousseau remarked "touching one another, covered the whole country". Even in the most densely populated countries, at the present time when the population has increased beyond all former experience, many more holdings of that size could exist than the number that would be needed to provide for their whole agrarian population, family operating owners, tenants and landless laborers combined. Of course, the differentiation into classes proves that the whole land is covered by holdings. But this has not occurred only because peasants have taken up small and medium-sized farms in gradual, peaceful settlement. To a much greater extent, total appropriation has been caused first by warlike
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conquerors employing violence, and later on by speculators making use of unjust laws, or by immediate fraud, theft of public land, bribery of public functionaries, abuse of official authority, wholesale usury and so on. T w o of Marshall's great masters were aware of this. John Stuart Mill noted that "the social arrangements of Europe commenced from a distribution of property which was the result not of just partition or acquisition by industry, but of conquest and violence." And Adam Smith observed: "When the German and Skythian nations overran the western provinces of the Roman Empire, the chiefs and principal leaders of these nations acquired or usurped to themselves the greater part of these countries. All of them were engrossed 1 , and the greater part by a few great proprietors." Moreover, Mill also said: "In the new frame in which European society was now cast, the population of each country may be considered as composed, in unequal proportions, of two distinct nations or races: the first the proprietors of the land, the latter the tillers of it." In this way, the primal distribution of the factors or agents of production came into existence. Rising capitalism inherited it from its predecessor, feudal absolutism. Capitalism took over all of feudalism's basic institutions, especially two, the privilege of State-administration, and the monopoly of the land. In other words, it took over feudal class-domination and class-distribution. It abolished legal serfdom, but solely as a mere form, stripping the former serfs of the very best of their property, co-proprietorship of the landlords' lands. Thus it gave them nothing but the empty shell of freedom, because freedom without property is only a mockery. It is impossible to understand any historical epoch without starting from its "initial constellation," the sum total of the institutions the epoch had to take over from its immediate precursor. Capitalism is unquestionably an historical epoch. The attempt to explain its phenomena while ignoring its initial constellation could never succeed. The law of previous accumulation is in glaring contradiction to all the facts of history; it is, as Karl Marx grimly dubbed it, a "child's primer", a "nursery tale". Marx commented aptly: "In actual history conquest, robbery, murder, subjugation, - in short, violence, unquestionably play the big part, but mild economics knows only the bucolic idyll. Lawfulness and labor are pretended to have been the unique means of getting rich." By clinging stubbornly to this stupid fable, bourgeois economists have changed the classic gospel of liberalism into what is deservedly called "vulgar economics". Marshall lightly glosses over this problem. He describes the group of the free and equal, but not (as his predecessors did, and as some of his successors unbelievably continue doing) as the real historical starting point of evolution, but as "an imaginary world, in which everyone owns the capital that aids him in his labor" 2 . Here, of course, all incomes an equal, but "the increase of population, if maintained long enough, must ultimately outgrow the improvements in the art of production, and cause the law of diminishing returns to assert itself in agriculture" 3 . Then he remarks abruptly:
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It should be borne in mind that the English term, "engross", is obsolete in the present sense. Adam Smith used it to denote the practice or process which today, almost exclusively, is meant by "monopolize". Marshall, Priciples of Economics, VI. Buch, Kap. I, 3. Ebenda, 6.
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"We may leave now the imaginary world [...] and return to our own, where the relations of labor and capital play a great part in the problem of distribution." 1 This is the law of previous accumulation in the formulation Malthus gave it in his unfortunate "Law of population". Marshall knows, naturally, that Malthus neglected the condition under which the law of diminishing returns is valid. In Nassau Senior's statement of the proviso, it was "agricultural skill remaining the same". The passage cited above proves the point. Marshall states expressly "that Ricardo, and the economists of the time generally were too hasty in deducing this inference from the law of diminishing returns; and they did not allow enough for the increase of strength that comes from organization. But in fact every farmer is aided by the presence of neighbors, whether agriculturists or townspeople." And he quotes here all the cogent arguments of Henry C. Carey by which the American economist succeeded in disproving Malthusianism: creation of good roads, of markets, of better methods and tools for agriculture, increasing price of and gains from the product, etc.2 He does not ask, as he is logically obliged to do, whether, perhaps, the "improvement of agricultural skill" might not be the necessary sequel of growing population, due to the law of increasing division of labor which we owe to the genius of Adam Smith. He does not ask this; but, just as was Malthus, he is of the opinion that the law of diminishing returns is only another variation of the 12W of population. It is downright fantastic that a scholar like Marshall, writing as recently as he did, could so expose himself to ridicule by professing this completely-exploded pseudo-law. N o doubt, in the countries of modern capitalism in peace-time nowadays, "peoples have not at 211 the tendency of increasing beyond the nourishment prepared for them"; inversely, the production of foodstuffs has outgrown the consuming population in such a degree as to be a grave danger for agriculture. And beyond doubt, the modern nations show the tendency of decreasing rather than increasing "in geometrical proportion". For this reason the laboring class is no longer taught that only "moral (or prudent) restraint" in begetting children can redeem them, but on the contrary, that it is their patriotic duty to beget as many children as possible in order to prevent the "suicide of the race". All this does not seem to exist for Marshall. He goes the whole gamut. The comic caricature of true science which the present writer has dubbed "prophetic Malthusianism juggling with ciphers" has produced the following: "Meanwhile there will probably be great improvements in the art of agriculture; and, if so, the pressure of population on the means of subsistence may be held in check for about two hundred years, but not longer. [...] Unskilled laborers have seldom, if ever, shown a lower power of increase than-of doubling in thirty years; that is, of multiplying a millionfold in six hundred years, a billionfold in twelve hundred."3 A development prophesied for a more or less distant future is relied upon to explain the phenomena of the past and present! Marshall gives only very slight evidence that he was conscious of the large part violence played in the development of society. He mentions occasionally4 "spoliation or fraud" in contradistinction
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Marshall, Principles of Economics, VI. Buch, Kap. 1,7. Ebenda, IV. Buch, Kap. III, 6. Ebenda, Kap. IV, 4. Ebenda, 8.
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to personal work, inheritance and fair exchange, without, however, drawing any inference f r o m the facts. Regarding the monopolization of the land, be observes only this: "In the long run the earnings of each agent (of production) are, as a rule, sufficient only to recompense the sum total of the efforts and sacrifices required to produce them [...] with a partial exception in the case of land [...] especially much land in old countries, if we could trace its record back to their earliest origins. But the attempt would raise controversial questions in history and ethics as well as in economics; and the aims of our present inquiry are prospective rather than retrospective." 1 T h e deadly sin against logic of abstracting f r o m essentials has been committed here. N o author, having once chosen his objective, has the right to dodge inconvenient or difficult questions, and certainly not pertinent or controversial ones.
VI. Wages and Wage Theories Science owes to Henry George the discovery of the general law of wages and its special application to capitalist wages: "Wages depend upon the margin of production, or upon the produce which labor can obtain at the highest point of natural productiveness open to it without the payment of rent." The term "wages," in this formula, means the reward of all labor, independent and dependent (self-employing and hired). T h e formula for hired labor alone may be expressed as follows: " T h e wages of a dependent producer are determined by the amount the marginal independent producer of equal qualification is able to earn." 2 T h e marginal independent producer of "normal" or average qualification is represented, in a society without monopolization of the land, by the marginal peasant, possessing as much land as he wants and is able to till, and equipped with the required live stock, tools and plants. T h e marginal independent producer, however, in a society where the greater part of the soil is appropriated by massed large estates and where, consequently, the land is no longer freely accessible, is represented by persons exploiting natural resources not yet appropriated, such as wild berries, crystals, etc., or who render certain services requiring no expensive equipment, such as runners, messengers, hawkers, male and female prostitutes and so on. All this is simply "evident", i. e., needs no proof, and would have been adopted at once by all economists, if there did not exist that psychological law described by Archbishop Whately, that "even Euclid's axioms would be contested if they jeopardized mighty political or economic interests". Bourgeois liberalism in former times used to explain wages by the so-called "Wage-Fund Theory". (The idea was that a fixed amount of money capital was needed to hire labor. This represents the demand on the labor market; the number of laborers represents the supply. The wage, then, is the quotient of the fraction: the wage fund divided by the number of laborers.) 3
1 Marshall, Principles of Economics, Appendix K, 2. 2 Marshall here quotes Henry George's Progress and Poverty, in: Marshall, Principles of Economics, IV. Buch, Kap. ΧΕΙ, 3. 3 This doctrine is still held by some Rip van Winkles in our science, but Marshall is not among them. Marshall discards the theory, („For the assumption of a fixed wage fund there is no foundation." Marshall, Principles of Economics, VI. Buch, Kap. ΧΙΠ, 4), following Mill's example in: Thornton on Labor, [ohne Ort] 1869.
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Marshall's own ideas about wages show the same indeterminateness and indistinctness we had repeatedly to complain of in other connections. He agrees, on principle, with Ricardo's notorious theory of wages: "The supply price of a certain kind of labor may for some purposes be divided up into the expenses of rearing, of general education and of special trade education."1 And there is the still more explicit statement: "If the economic conditions of the country remained stationary sufficiently long, this tendency would realize itself in such an adjustment of supply to demand, that both human beings and machines would earn generally an amount that corresponded fairly with their costs of rearing and training, conventional necessaries as well as those things which are strictly necessary, being reckoned for."3 The qualification, "conventional necessaries", is designed to evade the consequence that the "Iron Law of Labor" is accepted here. Actually, however, Marshall is a believer in this pseudo-law, as every follower of Malthus is bound to be: "Any increase in their earnings would result in so great an increase of their numbers as to bring down their earnings to nearly their old level at their mere expenses of rearing. Over a great part of the world wages are governed nearly after the so-called iron or brazen law."3 Ricardo's doctrine, even in its less rigid formulation, allowing for the conventional necessaries, has been disproved so often and so convincingly that one is almost ashamed to repeat the arguments. Unfortunately, economics is the science in which exploded theories continually enjoy a revival, and proved theories continually are secreted. Imagine a chemistry in which the ghost of phlogiston is permitted to appear, or an astronomy flirting with ptolemaism, and there you have the present state of "vulgar" economics. Ricardo's doctrine rests on the confusion of the substance -and its use, or, of buying and hiring. It is true that in static theory the purchase price of a machine corresponds to its costs of production: but its hiring price is something quite different. A human machine can be bought only where slavery is legally introduced, but only the use of human machines is for sale under capitalism; the laborer can be hired but not bought, and wages are the price, not of his substance, his labor power, but of its use, namely the services he renders, a price that does not correspond at all to the costs of "rearing and training him". Marshall himself feels that this theory is far from satisfactory, even when accepted on principle. The qualification concerning the "conventional necessaries" implies a high degree of indistinctness, and, what is worse, the ultimate inference is inescapable that the tendency of wages goes toward the iron law. For this reason he must look for a more accurate determination of this quantity; and he finds it in the doctrine of the Austrian school which, on its side, goes back to certain ideas of Thünen. The latter wrote: "If on an estate where twenty families hitherto did the whole work, one family more is hired, and at the same time the beasts of burden are correspondingly increased, harvesting and sowing can be done in shorter and hence more advantageous time; the labor of sowing and harvesting can be done more thoroughly, and the grains can be threshed, the potatoes collected in a cleaner way. The management, therefore, ought continue hiring more families, until the return produced by the laborer list hired is equal in value to the wages he receives."
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Marshall, Principles of Economics, V. Buch, Kap. III, 3. Ebenda, VI. Buch, Kap. V, 7. Ebenda, Kap. Π, 3.
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This was not meant, obviously, to be a wage theory. Thünen had a theory of wages very different from the ideas contained in the passage quoted, but similar to those of Henry George. He determined wages by the income an independent peasant can earn on the next piece of land freely accessible to him. The quoted passage says only that static equilibrium is not attained before the product of the last laborer is equal to the wage he gets. The wage is the independent, the expansion of the production the dependent variable: the standard of wages determines how far production is to be expanded; it is not held that the scope of the production determines the level of the wages. The Austrian marginalists, however, misunderstood Thünen precisely in this way: they believed wages to be determined by the scope of production which is comprehended as the independent variable. Their error rested, as Marshall aptly points out, upon the use of an ambiguous word. "To determine" can mean, first, to cause, and second, to measure something. Marshall uses the terms "to govern" and "to indicate"; be writes: "Many able authors have supposed that the net product at the margin represents the marginal use of 2 thing as governing the value of the whole. It is not so; the doctrine says we must go to the margin to study the action of those forces which govern the value of the whole. And that is a very different affair." 1 He reasons correctly therefore, when he writes: "The competition of employers tends to adjust the wages of labor to its net product graduated according to efficiency." 2 Or: "The wages of every class of labor tend to be equal to the net product due to the additional laborer of this class."3 But, unfortunately, this does not bring us one bit nearer our aim, a satisfactory theory of wages. It merely points out one of the numerous characteristics of the static equilibrium. It does not tell us where this condition exists, or how it comes about; but solely that, if it exists, wages will be equal to the marginal product of the marginal laborer, just as it would imply that supply and demand would be equal, that the marginal producer would be of average qualification, or that the marginal acre would yield only wages and profit, but not rent, and so on. Moreover, the statement does not even allow us any approach toward our aim. Marshall correctly emphasizes that the adjustment takes place only in static equilibrium, 4 but this is never attained. Furthermore, Thünen developed his law on the example of an agrarian enterprise, a rather important one, employing twenty laborers' families. The manager of such an estate can easily find out what work could be better done if one or more additional families were hired. Characteristically, Marshall illustrates his parallel opinion, rather contrary to his usual procedure, by cases of similar simplicity: a railway company considering whether to hire an additional guard for a particular train to gain some minutes; and an agricultural manager considering whether to hire additional shepherds. It remains, however, the secret of the Austrians and of Marshall how the managing director of a large industrial plant could find out the money value of the product of the last laborer in order to adjust his output correspondingly. He sees himself that "of course the net product of an individual cannot be separated mechanically from that of others who are working together with him" 5 .
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Marshall, Principles of Economics, V. Buch, Kap. Vili, 5. Ebenda, VI. Buch, Kap. X f f l , 8. Ebenda, Kap. I, 8. Ebenda, Kap. II, 7. Ebenda.
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And, last but not least, this consideration presupposes that the industrial entrepreneur, by a law of nature, as it were, can always find as many hirable laborers as he wants. The wage system is assumed as "normal" or "natural".
VII. The Labor Market Marshall was aware of all the elements needed for developing a correct theory of wages. He describes the monopoly relationship under which the laborer is forced to sell his services below its value: "When a workman is in fear of hunger, his need of money is very great; and, if at starting he gets the worst of the bargaining, it remains great. [...] That is all the more probable because, while the advantage in bargaining is likely to be pretty well distributed between the two sides of a market for commodities, it is more of ten on the side of the buyers than on that of the sellers in a market for labour."1 And further: "Labour is often sold under special disadvantages, arising from the closely connected group of facts that labour power is 'perishable', that the sellers of it are commonly poor and have no reserve fund, and that they cannot easily withhold it from the market. The disadvantage, wherever it exists, is likely to be cumulative in its effects."2 This is a precise description of an exchange under a monopoly relationship. It is inconceivable that a scholar like Marshall failed to recognize that fact. He knows perfectly what a monopoly is and what it does: "It may happen that the dealers [...] are able to combine, and thus fix an artificial monopoly price; that is, a price determined with little direct reference to the cost of production." 3 This consideration concerns the possibility that dealers in a town may be able to exploit the market gardeners by a buying monopoly, and the residents by a selling monopoly. And he knows equally well the monopoly caused by artificial embargo: "There is no connection between costs of reproduction and price in the cases of food in a beleaguered city, of quinine the supply of which has run short in a fever-stricken island."4 And he is also acquainted with "the fact that much good land is poorly cultivated, because those who would cultivate it well have not access to it"5. The one-sided urgency of the desire to exchange establishes a monopoly. This is one of the oldest observations of economics, one made when it was still in its infancy, long before Quesnay laid the foundations for a scientific analysis of economic life. Marshall, in the passage quoted, describes this one-sided urgency of the workman exhaustively. Hence it is inconceivable that he failed to set it
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Marshall, Principles of Economics, V. Buch, Kap. VII, 3. Ebenda, VI. Buch, Kap. IV, 6. Ebenda, V. Buch, Kap. I, 5. Ebenda, Kap. VII, 5. Ebenda, VI. Buch, Kap. XI, 1.
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Economics
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down for what it evidently is, a buying monopoly. His position is the more enigmatic when it is recalled that his cherished masters called it by its true name. John Stuart Mill wrote: "Landed property, at least in all the countries of modern Europe, derives its origin from force [...] Land is a monopoly."1 Adam Smith said: "The rent of land, considered as the price paid for the use of land, is naturally a monopoly price." This monopoly is, first, not a selling but a buying monopoly, one that enables the monopolists to buy the laborers' services below their static price; and it is, secondly, an artificial and not a natural monopoly, as it is caused not by natural scarcity but by engrossing a more than ample stock. The income of the normal qualified man is, as we pointed out, in statics equal to ß). In capitalism, however, the marginal independent producer, and hence the dependent hired laborer, earns J - m, m denoting the amount which the master is entitled to deduct as the gain of his monopoly. This is the very simple explanation of "surplus value" which Marx failed to discover, and it is as evident as it is simple. With this major problem of wages disentangled, we can leave aside such minor questions as the gradation according to qualification - which, by the way, is not identical with "efficiency" as Marshall supposes - and the dynamic process which tends, through all disturbances, to re-establish the equilibrium, by adults changing and youths choosing the more favorable occupations.2 Marshall expatiates on these rather obvious problems in three long chapters. This is not the place to discuss them further.
Vm. Profit and Theories of Profit The correct theory of wages is also that of profit. Profit is that amount (m) which the owners of the means (or instruments) of production - the so-called "capital" - receive as the gain of their buying monopoly from the members of the dispossessed class, those who have no instruments of production of their own. All the elements of this doctrine can be found in book I, chapter VIII of Adam Smith's "Wealth of Nations", unfortunately mixed with elements of another explanation which is the ultimate root of all the errors of bourgeois economics. The correct theory is contained in the following passages: "The produce of labour constitutes the natural recompense or wages of labour. [...] As soon as land becomes private property, the landlord demands a share of almost all the produce. [...] His rent makes the first deduction from the produce of the labour which is employed upon land. [...] It seldom happens that the person who tills the ground has the wherewithal to maintain himself. [...] His maintenance is generally advanced to him from the stock of the master. This profit makes the second deduction from the produce of the labour which is employed upon land. [...] The produce of almost all other labour is liable to the like deduction of profit. In all arts and manufactures the greater part of the workmen stand in need of a master to advance them the materials of their work and their wages and maintenance till it is completed."3
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Mill, in his essay: "Professor Leslie and the Land Question". Marshall, Principles of Economics, IV. Buch, Kap. VI, 8. [Smith, A n Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London 1887; A.d.R.]
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Erster Teil: Nationalökonomie
und
Wirtschaftspolitik
This is pure and undiluted social liberalism. It is, however, spoiled by the following passage which contains the basic error of bourgeois economics: "In the original state of things the labourer has neither landlord nor master to share with him. [...] But this original state of things could not last beyond the first introduction of appropriation of land and the accumulation of stock. It was at an end, therefore, long before the most considerable improvements were made in the productive powers of labour, and it would be to no purpose to trace further what might have been its effects upon the recompense or wages of labour." The words "and the accumulation of stock" mark the point at which social liberalism was diverted into the blind alley of bourgeois economics. Smith's fatal error was that co-operation and production cannot progress unless the entire stock of means of production required for the productive process is accumulated by persons who had saved it from consumption in a former period in order to have it for the disposal of producers in a later period. This would mean a sacrifice, which would not be made unless some recompense were offered: profit! The subsequent generations of bourgeois economists completely ignored the first doctrine, teaching or preaching only the second one. Nassau Senior went so far as to maintain that two kinds of sacrifice must be made for every higher stage of production, labor and abstinence; which, therefore, he held, were entitled to share the product. The term was exceedingly awkward; Ferdinand Lassalle presented the Baron de Rothschild as the first of all "abstinents", an emaciated penitent, a stylite holding the beggar's bowl in fleshless hands. Marshall, to avoid this terminological ineptness, chooses a more cautious term, waiting. "The power to save is greatest among the wealthy", he notes.1 It is, notwithstanding, exactly the same theory, only decked out in the modern fashion with some marginalistic frills: "Discommodities fall generally under two heads: labour and the sacrifices involved in putting off consumption."2 "The chief demand for capital arises from its productiveness, the supply is controlled by the fact that, in order to accumulate it, men must act prospectively, they must 'wait' and 'save', they must sacrifice the present to the future."3 "We are justified in speaking of the interest on capital as the reward of the sacrifice involved in the waiting of the enjoyment of material resources."4 This theory is wrong, it can be refuted by two plans of attack, one of which is valid for the whole group of capital theories to which this one belongs, the other for it alone. The group of theories to which this belongs consists of doctrines which try to explain profit by one ground or another that would entitle the capitalist to get more than his costs of production, the reward of his labor being included in those costs. That is, they cite the productivity of the capital, or its fruitfulness, or the use of his capital, or his abstinence, or his waiting, and so on. All of them, and all their numberless combinations and permutations, suffer from what I have called their "private-economic bias". Adam Smith gave the answer in considering the economic policy of the corporate towns, when each trade fixed prices so as to exceed the actual outlay for the materials on which it worked, He remarked:
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Marshall, Principles of Economics, IV. Buch, Kap. VII, 7. Ebenda, Kap. I, 2. Ebenda, II. Buch, Kap. IV, 8. Ebenda, IV. Buch, Kap. VID, 8.
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"In consequence of such regulations, indeed, each class was obliged to buy the good they had occasion for from every other within the town, somewhat dearer than they otherwise might have done. But, in recompense, they were enabled to sell their own just as much dearer, so that so far it was as broad as long, as they say." This policy, nevertheless, was reasonable, because all of them, by this regulation, were able to exploit the country folks, in relation to whom they had a strong selling monopoly. The capitalist enterprisers do not possess that type of selling monopoly. Marx, therefore, rightly explained: "Let us assume that, due above its value, to 110, if buyer after having been a ing the same privilege to lose ten as a buyer."
to an inexplicable privilege, the seller be able to sell his commodity it is worth 100, and thus, to pocket a surplus of 10. But he becomes a seller. A third owner of commodities meets him on the market, enjoysell 10 per cent over value. Our hero has won ten as a seller, only to
This is the same consideration that each capitalist can add what one can add. Therefore, no profit can be made unless a monopoly exists, a selling one in the case reported by Smith and (and this is what Marx failed to see) a buying one in the case he himself analyzed. This refutation of all the bourgeois theories of profit is so strong that Joseph Schumpeter has seen no other w a y out than to declare that there is no static profit at all, and to attempt to deduce it as a dynamic phenomenon. This was a desperate step, and it is seen to be unnecessary as soon as one recognizes that there is a monopoly involved. The second refutation argues that the notion of "capital", as it is held by the classical and postclassical economists, is ambiguous, causing the doctrine to be an uninterrupted chain of equivocations.
IX. Theories about "Capital" "Capital" originally meant the main (or capital) sum of a loan in contradistinction to the interest upon the loan. When the entrepreneur's profit appeared as a new class-determining income, apart from the older rent of the large landholders, the problem arose how to explain and, likewise, to justify it. The question was answered by the strange notion that the capitalist lends to himself a sum of money at interest, with which to buy the means of production. The capitalist played both the usurer and his victim. The newly-introduced system of keeping book by double entry helped to accomplish the delusion; the enterpriser transfers a sum of money from his personal account, for which he is credited, to the account of the firm, by which it is debited. This practice is the origin of the quaint expression that the capitalist "advances" the "capital" to the enterprise, and to the still quainter custom of calling the material things bought with the "advanced" money also "capital". In this manner the conception of "capital" acquired its double sense. It means the instruments of production, and at the same time the right to a certain lucrative property, yielding interest or profit. Now the instruments of production are something material whereas rights are something immaterial, the former a technical, the latter a sociological category, because rights do not exist except in society. They are two things which are essentially and fundamentally different, and it is a mortal sin against logic to identify them with the same name. Marshall was a learned mathematician and he certainly knew that it was forbidden to add "pears and apples", as we had been taught in the sixth form. Yet, like his entire school, he does not hesitate to add material things and rights:
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Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
"Material goods consist of useful material things, and of all rights to hold, or use, or derive benefits from material things, or to receive them at a future time." 1 "By capital is meant all stored-up provision for the production of material goods, and for the attainment of those benefits which are commonly reckoned as part of income. It is the main stock of wealth regarded as an agent of production rather than as a direct source of gratification." 2 The first consequence of this erroneous terminology is the ridiculous practice of dubbing as "capital" the crude implements of the most backward tribes, the bow of the hunter, the net of the fisherman or the plough of the primitive peasant.3 Marshall, in a footnote, even attempts to justify this practice with a rebuke that is merited by his own transgression: "This is a striking instance of the dangers that rise of allowing ourselves to become the servants of words, avoiding the hard work that is required for discovering unity of substance underlying variety of form." 4 Material instruments and rights have certainly no unity of substance. The plough of the primitive tiller has its material opposite in the modern factory, but modern profit has its non-material opposite in the enormous interest which usurers still extort from their victims in many very backward tribes. The ridiculous custom of considering as "capital" the most primitive instruments of labor has the hidden purpose of presenting capitalism as the timeless realization of perfect economic freedom, instead of what it actually is, an historical epoch with which science has to deal by the same methods as with every other historical epoch, that is, by taking account of its "initial constellation". Marshall, after having distinguished shrewdly between the cooking utensils of a primitive peasant, which are not capital, and his plough, which is, enumerates the elements which compose modern "trade capital" as follows: "Among its conspicuous elements are such things as the factory and the business plant.... To the things in his possession must be added those to which he has a right, and from which he is drawing income, including loans he has made on mortgage or in other ways, and all the command over capital he may hold under the complex forms of the modern money market. On the other hand, debts must be deducted from his capital." 5 It is very easy, of course, to reduce these seemingly incompatible items by the same general denominator. It is not "his machinery, his raw material, any food, cloth and houseroom that he may hold for the use of his employees" that comprise parts of his "capital from the individual point of view", but simply his right to use all these things to his personal advantage. All the items are property rights, viewed sociologically; for the purposes of economics it is indifferent that some of the objects, viewed technically, are material and some non-material. But this confusion is the last stronghold of bourgeois economics. To abandon it would mean to retreat from the last strategical position from which the capitalist order, based on the monopoly of the soil, can be defended. It would require acknowledging the truth of the formula, the formulation of which we owe to the genius of Karl Marx:
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Marshall, Principles of Economics, Π. Buch, Kap. Π, 1. Ebenda, IV. Buch, Kap. 1 , 1 . Ebenda, Π. Buch, Kap. IV, 1. Ebenda. Ebenda, 2.
A Post-Mortem on Cambridge Economics
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"A Negro is a Negro: under certain social conditions he becomes a slave. A cotton machine is a machine for spinning cotton: under certain social conditions it becomes capital, yielding surplusvalue." This condition, the "capital relationship", is given when all instruments of production are accumulated on the one pole of society and when the free laborers are huddled about the other pole, being free in a double sense, politically-being neither slaves nor serfs - and economically - having been stripped of all personally-owned means of production. This is the monopoly of capital, rooted, as Marx occasionally confessed, in that of the land. There are things, however, which, to speak about, is considered bad manners in the bourgeois nursery. The pundits hold desperately to the logic of adding pears and apples, and attain thereby their aim of explaining and at the same time justifying capital profit as the reward of a service rendered to society, and as a "natural" gain, necessary by natural law and just by moral law.
X. Capital and the Goods of Procurement The justification of profit, to repeat, rests on the claim that the entire stock of instruments of production must be "saved" during one period by private individuals in order to serve during a later period. This proof, it has been asserted, is achieved by a chain of equivocations. In short, the material instruments, for the most part, are not saved in a former period, but are manufactured in the same period in which they are employed. What is saved is capital in the other sense, which may be called for present purposes "money capital." But this capital is not necessary for developed production. Rodbertus, about a century ago, proved beyond doubt that almost all the "capital goods" required in production are created in the same period. Even Robinson Crusoe needed but one single set of simple tools to begin works which, like the fabrication of his canoe, would occupy him for several months. A modern producer provides himself with capital goods which other producers manufacture simultaneously, just as Crusoe was able to discard an outworn tool, occasionally, by making a new one while he was building the boat. On the other hand, money capital must be saved, but it is not absolutely necessary for developed technique. It can be supplanted by co-operation and credit, as Marshall correctly states.1 He even conceives of a development in which savers would be glad to lend their savings to reliable persons without demanding interest, even paying something themselves for the accommodation for security's sake. Usually, it is true, under capitalist conditions, that a certain personally-owned money capital is needed for undertakings in industry, but certainly it is never needed to the full amount the work will cost. The initial money capital of a private entrepreneur plays, as has been aptly pointed out, merely the rôle of the air chamber in the fire engine; it turns the irregular inflow of capital goods into a regular outflow. Now the whole farrago of capital theory is sifted and sorted. When the indispensability of capital is to be proved, the material face of this economic Janus-head is turned up: capital goods. When saving and waiting and sacrifice are to be proved, up pops the other face: money capital. This, in the modern idiom, is unpalatable uncleanliness. Scientific decency and honesty demand a terminology that rules out such equivocation.
1
Marshall, Principles of Economics, IV. Buch, Kap. ΧΠ, 11.
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Erster Teil: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik
Rodbertus proposed distinguishing between the instruments as "social capital" and the rights as "private capital". His disciple, Adolph Wagner, one of the most honest truthseekers in our science, accepted the distinction; he spoke of "capital in the private economic sense" and "capital in the social-economic sense". In vain! Not even Wagner's great authority was sufficient to impress the vulgar economists. We still need a terminology that is not exposed to misunderstanding. For this reason, the present writer employed the terms "goods of procurement" for the material means of production, and reserved the word "capital" exclusively for its original significance, denoting a property right yielding an income not earned by labor. Marshall gives a striking example of the importance of the need for a radical reform in economic terminology. He adopts Wagner's expressions only to misunderstand them. He calls "capital from the individual or business point of view" that farrago of material goods and non-material rights enumerated above.1 He presents a similar jumble as "social capital": "It is proposed in this treatise to count as part of capital from the social point of view all things other than land which yield income [...] together with things in public ownership such as government factories [...] Thus it will include all things held for trade purposes, whether machinery, raw material or finished goods; theatres and hotels, homes, farms and houses; but not furniture or clothes owned by those who use them." 2 This is one of the innumerable attempts to evade the insurmountable difficulties in which bourgeois economics finds itself as a result of this ambiguous definition. A theater, a hotel, a stock of consumers goods in the shop of a retailer, are certainly not "instruments of production". But they are nevertheless undoubtedly "capital". Hence the treatises on economics are full of enumeration of what is and what is not "wealth", or "capital", or "national wealth" or "national capital". The lists cannot but be very different from one another, since when pears and apples are added by different persons the sums cannot be expected to agree. The situation offers the most desirable opportunity for dealing profoundly with problems that are no problems at all, for kindling scholarly feuds and for producing the most elaborate dissertations. The logical acrobatics performed would be most amusing, if so much were not at stake. Economic pseudo-science bars the way out of the present world economic chaos. The barriers must be cleared away.
1 2
Marshall, Principles of Economics, Π. Buch, Kap. IV, 2. Ebenda, 5.
Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Das Kapital Kritik der politischen Ökonomie [1938]
Dieses Buch ist ein ergänzender, verbesserter und durch Fortlassung der dogmatischen Exkurse stark gekürzter Abdruck des Hauptabschnittes von der „Marktwirtschaft" aus meinem Lehrbuch „Theorie der reinen und politischen Ökonomie", fünfte Auflage, das im heutigen Deutschland kaum noch Leser finden kann. Ich spreche dem Verleger, Herrn Gustav Fischer in Jena, hierdurch meinen aufrichtigen Dank für die Genehmigung aus. Franz Oppenheimer
Inhalt
Vorwort
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Erster Abschnitt: Der Gesamtprozeß in erster Analyse
465
I. Die Probleme
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Π. Die Selbststeuerung der Markwirtschaft a. Die Aufgaben der Marktwirtschaft (Produktion und Distribution) b. Die Konkurrenz (Die Gesetze der Produktion) 1.Die Statik (Die objektive Äquivalenz) 2.Die Kinetik (Der Markt und seine Phänomene) A. Die Gattungen der Produkte und die Teilmärkte B. Die Preise α. Der Marktpreis der isoliert betrachteten Ware 1.1. Auf dem isoliert betrachteten Markte 2.2. Im Zusammenhang der Märkte a.a. Im räumlichen Zusammenhang b.b. Im zeitlichen Zusammenhang ß. Der Marktpreis der Gesamtheit der Waren (Die statische Preisrelation) . . . c. Die Hemmungen der Konkurrenz 1.Die Qualifikation 2.Das Monopol A. Zur Geschichte des Begriffs B. Arten des Monopols α. Die Personalmonopole 1.1. Das Produktionsmonopol a.a. Das Umsatzmonopol b.b. Das Erzeugungsmonopol c.c. Das Transportmonopol 2.2. Das Tauschmonopol a.a. Die Monopol-„Güter" α.α. Das natürliche Monopol ß.ß. DasOligopol γ.γ. Das öffentlich-rechtliche Monopol δ.δ. Das privatrechtliche Monopol b.b. Der Monopolpreis c.c. Der Monopoltribut α.α. Der Monopoltribut der Käufer (Das Verkaufsmonopol) . . . . p.p. Der Monopoltribut der Verkäufer (Das Einkaufsmonopol) . . p. Die Klassenmonopole
465 466 469 470 473 474 474 478 478 483 484 484 485 486 486 492 492 495 496 497 497 498 498 499 499 500 501 502 503 506 511 511 513 515
[Bei der vorliegenden Publikation „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Ein kurzgefaßtes Lehrbuch der nationalökonomischen Theorie", Leiden 1938, handelt es sich um eine stark gekürzte und überarbeitete Version des Hauptteils zur Marktwirtschaft, aus: „Theorie der reinen und politischen Ökonomie" (5. Auflage), in: Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. III, 1. Teilbd., Jena 1923, 2. Teilbd., Jena 1924; A.d.R.]
454
Zweiter Teil:
Zweiter Abschnitt: Das Klassenmonopolverhältnis
Marktwirtschaft 517
I. Die „reine" und die „politische" Ökonomie a. Das ökonomische Mittel 1. Das unentfaltete ökonomische Mittel (Arbeit und Tausch) 2.Das entfaltete ökonomische Mittel (Die Gesellschaftswirtschaft der Wirtschaftsgesellschaft) b. Das politische Mittel 1.Das unentfaltete politische Mittel (Der Raub) 2.Das entfaltete politische Mittel (Der Staat)
517 518 518
Π. Das öffentlich-rechtliche Klassenmonopol der Staatsverwaltung
523
ΙΠ. Das privatrechtliche Klassenmonopol des politischen Eigentums a. Das primäre politische Eigentum (Das Großgrundeigentum) 1.Das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation A. Angriff und Verteidigung B. Induktive Widerlegung C. Deduktive Widerlegung (Das Divisionsexempel) 2.Konstituiert das Großgrundeigentum ein Monopol? 3.Die Bodensperre b. Das sekundäre politische Eigentum 1.Die „freien Arbeiter" 2.Das sekundäre politische Eigentum an Grund und Boden A. Das koloniale Großgrundeigentum B. Das städtische Großgrundeigentum C. Das großbäuerliche Grundeigentum 3.Das Kapitaleigentum A. Zur Geschichte des Begriffs B. Das „Kapitalverhältnis" C. Die Entstehung des Kapitalisten D. Die Formen des Kapitals α. Das Unternehmerkapital ß. Das produktive Kreditkapital γ. Das Wucherkapital
525 525 526 526 530 533 548 552 566 566 571 571 573 574 575 575 581 590 594 594 599 600
Dritter Abschnitt:
Die Statik der Marktwirtschaft
604
I. Das Problem a. Der Lösungsversuch der subjektivistischen Schule b. Die objektivistische Lösung 1.Die Daten 2.Die Wertformel
604 605 610 610 615
518 519 519 520
Π. Die statische Preisrelation (Die Gesetze der Distribution) Erster Teil: Der statische Preis der Wertdinge niederer Ordnung: Der autogene a. Die Bestandteile des statischen Preises 1.Die Selbstkosten A. Der Produzenten von Diensten B. Der Produzenten von Gütern 2.Die Gewinne A. Der Gewinn an Diensten (Der Arbeitslohn) a. Bei freier Konkurrenz auf dem Markte der Dienste (Der „natürliche Arbeitslohn")
617 Wert
618 618 619 619 619 620 620 620
Das Kapital
455
1.1. In der reinen Ökonomie: Der „volle Arbeitsertrag" 2.2. In der politischen Ökonomie: Der Monopollohn der kapitalistischen Wirtschaft ß. Unter dem Monopolverhältnis auf dem Markte der Dienste 1.1. In der reinen Ökonomie: Der Monopolistenlohn 2.2. In der politischen Ökonomie: Der Monopollohn a.a. Der vorkapitalistischen Wirtschaft b.b. Der Ubergangsperiode (der frühkapitalistischen Wirtschaft) . . . . B. Der Gewinn an Gütern α. Bei freier Konkurrenz auf dem Markte der Güter 1.1. In der reinen Ökonomie: Die absolute Äquivalenz 2.2. In der politischen Ökonomie: Der Kapitalprofit ß. Unter dem Monopolverhältnis auf dem Markte der Güter 1.1. In der reinen Ökonomie: Die natürliche Hufengröße 2.2. In der politischen Ökonomie: Die Grundrente b. Der objektive Wert 1.Dührings Wertformel 2.Der Wert der Arbeit c. Die Gesamtformel der Distribution l.In der kapitalistischen Ökonomie 2.In der vorkapitalistischen Ökonomie Zweiter Teil: Der statische Preis der Wertdinge höherer Der Kapitalisierungswert
623 626 626 627 627 628 630 630 631 631 634 636 639 639 641 643 647 647 649
Ordnung:
a. Der Prozeß der Konkurrenz: Die Kinetik 1. Auf dem isoliert betrachteten Markte der Machtpositionen: Der relative Fuß der Kapitalisierung 2. Auf dem Gesamtmarkte aller Wertdinge b. Das Gleichgewicht der Konkurrenz: Die Statik 1.Die Basis der Kapitalisierung: Der Ertrag A. Bei freier Konkurrenz α. Des normalen Produktivkapitals ß. Des Kreditkapitals B. Unter dem Monopolverhältnis α. Unter dem Produktionsmonopol 1.1. Des begünstigten Produktivkapitals 2.2. Des Grundeigentums ß. Unter dem Tauschmonopol 1.1. Des bevorrechteten Produktivkapitals 2.2. Des Wucherkapitals 2.Der absolute Fuß der Kapitalisierung: Der statische Preis der Substanz A. Der statische Preis des begünstigten Kapitals B. Der statische Preis des Bodens Vierter Abschnitt:
622
Die komparative Statik der Marktwirtschaft
651 651 652 653 654 654 654 654 655 656 656 656 657 657 657 658 658 661 663 664
I. Die Aufgabe
665
Π. Die Lösung a. Die Gesamtpreisrelation l.Der Warenwert der Ware A. Der Erzeugungswert der Gewerbsprodukte B. Der Erzeugungswert der Urprodukte
666 666 666 668 669
456
Zweiter Teil:
2.Der Geldwert der Ware und der Warenwert des Geldes: Geld und Kredit A. Das Geld als Tauschmittel α. Sachgeld ß. Rechengeld B. Das Geld als Wertmaßstab α. Maß und Maßstab im allgemeinen ß. Wertmaß und Wertmaßstab im besonderen C. Die Kompensation a. Die Kompensation durch Rechengeld 1.1. Skontration 2.2. Giro ß. Die Kompensation durch Kreditgeld 1.1. Kreditgeschäfte 2.2. Wechsel a.a. Inlandswechsel b.b. Devisen 3.3. Banknoten 4.4. Scheck γ. Clearing b. Die Selbststeuerung der wachsenden Wirtschaftsgesellschaft: Die Disposition der Bevölkerung 1.Die primäre Arbeitsteilung: Die räumliche Disposition der Bevölkerung A. Die Wanderbewegung in der reinen Ökonomie B. Die Wanderbewegung in der kapitalistischen Ökonomie: Das Gesetz vom einseitig sinkenden Druck α. Deduktiver Beweis ß. Induktiver Beweis: Die Landflucht 2.Die sekundäre Arbeitsteilung: Die berufliche Disposition der Bevölkerung A. Der Standort der Urerzeugung: Der „isolierte Staat" B. Der Standort der Gewerbe und des Handels: Theorie der Städtebildung 3.Die internationale Arbeitsteilung A. Die Handelsbilanz α. Der Merkantilismus ß. Der Neo-Merkantilismus B. Die Zahlungsbilanz c. Die Selbststeuerung der wachsenden Gesellschaftswirtschaft: Die Disposition der Wertdinge in Produktion und Distribution 1.Die Produktion der Wertdinge niederer Ordnung 2.Die Produktion der Wertdinge höherer Ordnung A. In der reinen Ökonomie B. In der politischen Ökonomie d. Die Gesamtsteuerung l.In der reinen Ökonomie 2.In der politischen Ökonomie Fünfter Abschnitt: Der Kapitalismus
Marktwirtschaft 671 671 672 677 680 680 681 683 683 683 684 686 686 691 693 694 698 704 707 709 709 710
. . . . . . . .
712 712 715 717 717 719 722 723 723 725 726 728 730 732 733 733 736 736 737 740
I. Der Begriff des Kapitalismus
740
Π. Das Wesen des Kapitalismus
741
ΠΙ. Die Störungen der Selbststeuerung a. Psychologie des Kapitalisten 1.Der Erwerbstrieb 2.Psychologie der Konkurrenz: Friedlicher Wettbewerb und feindlicher Wettkampf
742 742 742 744
Das Kapital
b. c.
d.
e.
f.
Α. Psychologie der Genossenschaft B. Käufer und Verkäufer C. Gewerbetreibende und Landwirte D. Die Zunft der reinen und der politischen Ökonomie Die Störungen der Distribution: Die Kaufkraft Die Störungen der Produktion: Produktivität und Rentabilität 1.Die Harmonie aller Interessen A. In der reinen Ökonomie B. Die Harmonielehre der klassischen Schule 2.Die Disharmonie der kapitalistischen Wirtschaft Die Störungen des Umlaufs: die Währung 1.Die staatliche Theorie des Geldes 2.Das Geld als gesetzliches Zahlungsmittel 3.Der Staat als Monopolist der Geldschöpfung 4.Das künstliche Pari minderwertigen Geldes Die Wirtschaftskrisen 1.Die Anarchie der Produktion 2.Der Prozeß der Krise A. Die Absatzkrise B. Die Kredit- und Finanzkrise Die Störungen im Verhältnis von Produktion und Distribution 1.Die politisch-ökonomische Grenze der Produktion 2.Der rationelle Sozialismus: Das ökonomische Erstaunen
IV. Die Tendenz der kapitalistischen Entwicklung a. Weg und Ausgänge 1.Die Tendenz zur Selbstvernichtung 2.Die Tendenz zur Selbstheilung b. Die Aktion
457 744 746 749 751 753 754 754 754 757 758 761 761 764 766 774 780 781 782 783 784 787 787 791 792 792 792 796 798
Vorwort
Dieses Buch gipfelt in der kühnsten aller Behauptungen. Es erklärt, die vollständige Lösung aller Probleme zu bringen, die der theoretischen Nationalökonomie aufgegeben sind, und damit auch der praktischen Lösung der sozialen Frage den sicheren Weg zu weisen, der zwischen der Skylla des kapitalistischen Imperialismus und der Charybdis des Bolschewismus zur Rettung unserer Kultur, ja, unseres Lebens, führt.
I. Der Leser hat das Recht, nach der Legitimation des Verfassers zu fragen, der die Lösung dieses allgemein als unlösbar erklärten Problems gefunden haben will. Sein Leben mag ihn legitimieren: Er veröffentlichte seine leitenden Gedanken schon in den neunziger Jahren. Er war als Arzt von außen her zur Ökonomik gekommen, mit ungefähr dem gleichen wissenschaftlichen Rüstzeug und grundsätzlich der gleichen Fragestellung wie sein großer Kollege und Namensvetter Franz Quesnay. Da diese Fragestellung seit mehr als einem Jahrhundert der offiziellen Wissenschaft verlorengegangen war, sah er sich gezwungen, um seine neue Wahrheit durchzusetzen, die Häupter sämtlicher Schulen anzugreifen: der historischen, der kathedersozialistischen, der marxistischen, der der Grenznutzentheoretiker. Das geschah immer sehr verbindlich in der Form, aber ebenso unzweideutig in der Sache. Zu jenen Männern gehörten die beiden berühmtesten Vertreter des Fachs in Deutschland, die Exzellenzen Gustav Schmoller und Adolph Wagner, die beide geradezu im Zentrum ihres Arbeitsgebietes bekämpft wurden. Diese beiden großen Gelehrten ließen ihren jungen Gegner 1908 durch einen Mittelsmann wissen, sie wünschten seine Habilitation an der Universität Berlin, zu der er denn auch aufgrund eines überaus günstigen Gutachtens Wagners zugelassen wurde. (Dieser hat ihn später zusammen mit zwei anderen als seinen Nachfolger vorgeschlagen.) In seinen Vorlesungen hat der Verfasser seiner antikonservativen und sozialistischen, wenngleich antikommunistischen Uberzeugung ungescheuten Ausdruck verliehen - und wurde 1917 noch unter dem Kaiserreich zum Professor ernannt. Er hatte seine Angriffe gegen den theoretischen Marxismus immer wieder und wieder in verstärkter Form veröffentlicht - und der erste marxistische Kultusminister Preußens berief ihn als ordentlichen Professor für theoretische Nationalökonomie und Soziologie an die Universität Frankfurt am Main. Seitdem hat er seiner Volkswirtschaftslehre in seinem „System der Soziologie" einen Unterbau gegeben, wie er, wenigstens dem äußeren Umfang nach, bisher niemals existiert hat: etwa 4.500 Seiten in acht Bänden, die die Psychosoziologie, die allgemeine Soziologie, die Staatslehre und die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart behandeln. Dafür hat ihn 1935 die amerikanische soziologische Gesellschaft - eine sehr seltene Auszeichnung - zu ihrem Ehrenmitgliede ernannt. Jetzt mag der Leser urteilen.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
Man sollte annehmen, daß eine Lehre von so unermeßlicher praktischer Wichtigkeit, herrührend von einem immerhin nicht gänzlich unbewährten Verfasser, alsbald die regste, ja leidenschaftliche Anteilnahme erweckt hätte. Weit gefehlt! Nicht einmal für eine produktive Kritik ist der Verfasser verpflichtet, und von einer mit zureichenden Mitteln geführten wissenschaftlichen Kritik war vollends nie die Rede. Er kann zuletzt noch dankbar dafür sein: denn man hat ihm mehr als vierzig Jahre Zeit gelassen, um ganz allein die vielfach unzureichenden Gestaltungen der ersten Zeit zur letzten Vollendung zu führen. Alle Ehre - und wenn man mich widerlegen kann, alle Schande gebührt mir allein.
II. Das soeben geschilderte Verhalten der Fachwelt hat seinen zureichenden Grund in dem beklagenswerten Zustande der theoretischen Nationalökonomie. Sie existiert nämlich - eingestandenermaßen - nicht als „ Wissenschaft". Das Geringste, was man von einer solchen verlangen kann, ist ein noch so kleiner Bestand zusammenhängender allgemein anerkannter Sätze, die sich wenigstens nicht widersprechen. Nicht einmal dieser Mindestforderung genügt die Disziplin in ihrem heutigen Zustande. Ihre Vertreter sind nur in einem einzigen Punkte einig, nämlich: daß sie in keinem einzigen Punkte einig sind. Soeben hat einer der bekanntesten Fachmänner Englands, John Maynard Keynes, über die „tiefen Meinungsverschiedenheiten" geklagt, „die zur Zeit den praktischen Einfluß der Theorie fast zerstört haben". 1 In der Tat: es gibt keinen Fußbreit gemeinsamen Bodens. Die Definitionen, die Grundvoraussetzungen, die Methode sind strittig, und für jedes Einzelproblem gibt es fast so viel „Lösungen" wie Theoretiker. So herrscht denn auch der schwärzeste Pessimismus in bezug auf den Stand der Disziplin, eine Stimmung, die immer trüber geworden ist. Vor hundert Jahren war man ihrer und seiner selbst so sicher, daß J. B. Say sagen konnte, nichts weiter sei mehr zu tun als die alten Irrtümer zu vergessen. Aber schon John Stuart Mill wurde in seiner Spätzeit zum Zweifler und Ketzer, und Nassau Senior klagt betrüblich: „Wir sind noch weit von der Grenze dessen entfernt, was wir wissen müßten und sollten, und noch weiter entfernt von irgendeinem Einverständnis über das, was wir wissen." 2 Wenn die Wissenschaft sich vielleicht nicht mehr in ihrer Kindheit befinde, so sei sie doch noch lange nicht zur Reife gelangt. Es gebe nichts als Streit, nichts Gemeinsames. 3 Die Terminologie sei so schlecht, daß „ungesundes Denken unentdeckt durchgehen, und gesundes ohne Uberzeugungskraft bleiben kann" 4 . Eine Generation später geht Alfred Marshall noch weiter. Die Disziplin sei noch „in ihrem Säuglingszustande" (infancy) 5 ; sie „rangiere mit den am wenigsten entwickelten Naturwissenschaften", sie „könne niemals eine einfache Wissenschaft werden" 6 . Und wieder eine Generation später sieht sein Schüler John Maynard Keynes sich gezwungen, eines der beiden grundlegenden Postulate aufzugeben, aus denen Marshall seine Lehre vom Lohn, und damit von der Distribution überhaupt,
1 Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, ins Deutsche übersetzt von Fritz Waeger, München 1936, S.V. 2 Senior, Industrial Efficiency and Social Economy, N e w York 1928, S. 27. 3 Siehe ebenda, S. 41. 4 Ebenda, S. 55. 5 Marshall, Principles of economics, 8. Aufl., London 1920, S. 4. 6 Ebenda, S. 26.
Das Kapital: Erster Abschnitt
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deduziert hat, und verbittert zu erklären, die heutigen Theorien seien „ein Gebräu, so ungenau wie die anfänglichen Voraussetzungen, auf denen sie beruhen, und welche dem Verfasser erlauben, die Verwicklungen und gegenseitigen Abhängigkeiten der wirklichen Welt in einem Wust anmaßender und nutzloser Symbole aus dem Gesicht zu verlieren"1. Das geht namentlich gegen gewisse mathematisierende Köpfe und den „Dunst ihrer sophistischen Erörterungen, in welchen nichts klar und alles möglich ist"2. Einige deutsche Stimmen: Bruno Schultz-Dresden spricht von „babylonischer Sprachverwirrung und Wirrwarr"3. Er kann sich hierbei auf einige der besten Namen Deutschlands berufen: auf Gustav Cohn, Carl Menger, Dietzel, Gottl-Ottlilienfeld und Amonn. Wir verzichten darauf, auch deren Urteile hier herzusetzen. Schultz selbst kommt zu dem Schluß, daß die Theorie sich in einem „mehr als verzweifelten Zustande"'1 befindet. Und Pohle-Frankfurt nannte sie „ein Schulbeispiel für eine nicht vorurteilslose Wissenschaft" und gar einen „Trümmerhaufen".5 So viel von den Theoretikern der Universitäten. Was aber die „zweite Wissenschaft" von der Wirtschaft anlangt, mit der wir gesegnet sind, den Marxismus, so ist auch er nach dem sozialdemokratischen Gelehrten Erik Nölting nur noch ein Trümmerhaufen, nämlich „die zerfetzte und spukhaft ragende Bruchstückgröße des gewaltigen Torso"6. Bei diesem Zustande kann offenbar von einer zureichenden fachmännischen Polemik keine Rede sein. Der Kritiker kann immer nur seine höchst persönliche „Ansicht" gegen die des Kritisierten setzen, ein Verfahren, das keinen von beiden, und ganz gewiß nicht die Wissenschaft, weiterbringen kann. Dennoch ist eine wissenschaftliche Kritik wohl möglich. Eine solche fordere ich, und habe ich das gute Recht zu fordern: eine Kritik nach den unabdingbaren Gesetzen der Wissenschaftslehre.
III. Dieses Buch hat alle Kennzeichen, die nach der Wissenschaftslehre ein System haben muß, um als „streng" anerkannt zu werden. Es ist rein deduktiv, und „nur die Deduktion aus synthetisch gebildeten Begriffen vermag eine das Denken endgültig befriedigende Evidenz zu geben"7, kraft des „Selbstvertrauens der Vernunft", demzufolge richtige Schlüsse aus wahren Prämissen zu Ergebnissen führen müssen, die mit der Wirklichkeit übereinstimmen und derart die Tatsachen erklären. Es hat sogar einen Vorzug, den ein strenges System nicht unbedingt haben muß: es kommt ohne eine einzige Hilfshypothese aus, deren jede „die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese schwächt". Ja, es darf sich sogar derjenigen Eigenschaft rühmen, die einem System den höchsten erreichbaren Grad der Strenge verleiht. „Es kommt mit Einem Grundsatz als der Quelle aller Deduktionen 1 Marshall, Principles of economics, S. 252. 2 Ebenda, S. 247. 3 Schultz, Der Begriff der Wirtschaft, in: Wirtschaft und Gesellschaft. Beiträge zur Ökonomie und Soziologie der Gegenwart. Festschrift zu Franz Oppenheimers sechzigstem Geburtstag, hrsg. von K. Wilbrandt u. a., Frankfurt a. M. 1924, S. 118. 4 5 6
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Ebenda, S. 143. Pohle, Die gegenwärtige Krisis in der deutschen Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1911, S. 72. Nölting, Der liberale Sozialismus, in: Wirtschaft und Gesellschaft. Beiträge zur Ökonomie und Soziologie der Gegenwart. Festschrift zu Franz Oppenheimers sechzigstem Geburtstag, hrsg. von K. Wilbrandt u. a., F r a n k f u n a. M. 1924, S. 370. Die in Schrägschrift gedruckten Zitate entstammen dem bekannten Buche von Alexis Meinong und Alois Höfler, Logik, 2. Teil: Methoden- oder Wissenschaftslehre, Prag 1890.
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
aus. "' Es ist „more mathematico" gearbeitet, genau nach dem Aufbau der Euklidischen „Elemente", „dem noch heute klassischen und unübertroffenen Beispiel". Es übertrifft dieses Beispiel noch, weil es auch dem zweiten Erfordernis entspricht, das an ein vollkommenes System gestellt werden muß, nämlich, „natürlich" zu sein, was bekanntlich Descartes an dem Euklidischen vermißte. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis wird zeigen, daß dem Gegenstand seine natürliche Ordnung abgewonnen worden ist. Es kommt also mit einem Grundsatz aus. Das ganze Buch ist eine einzige Kette logisch zusammenhängender Schlüsse, deren letzte sich an der Prüfung an den Tatsachen vollkommen bewähren, d. h. die aufgegebenen Probleme restlos lösen. Und zwar nicht nur die bisher schon gestellten, aber ungelöst gebliebenen, wie namentlich die des Wertes, des Kapitalprofits und der Krisen, sondern auch einer ganzen Reihe anderer, die vom bisherigen Standpunkt der Theorie aus nicht gestellt werden konnten, wie ζ. B. das des Kapitalisierungswertes, oder übersehen wurden, weil die betreffenden Tatsachen nicht in den Bereich der Untersuchung einbezogen worden waren, wie ζ. B. die Genossenschaft, die Zunft des Mittelalters, das Siedlungswesen, die Wanderbewegung. Dazu sagt die Wissenschaftslehre: „Eine Theorie gilt aber für um so vollkommener, eine je größere Zahl vorher isolierter Erkenntnisse sie in ihrfen] Bereich zu ziehen vermag. Jede derartige Leistung gilt als ein Triumph der Theorie, und am glänzendsten gestaltet sich ein solcher, wenn die Theorie die Einzeltatsachen selbst vorauszusagen vermag." Auch dieses Höchste darf das System von sich rühmen: der Leser findet auf Seite 489-491 2 einige erfolggekrönte Voraussagen.
IV. Wie Nassau Senior erzählt, hat der Erzbischof Whately ausgesprochen, „daß selbst die Theoreme des Euklid angefochten werden würden, wenn einmal finanzielle und politische Interessen mit ihnen in Widerstreit geraten würden". Irving Fisher hält den Ausdruck für „kaum übertrieben". Nun, dieser „nationalökonomische Euklid" steht mit den mächtigsten finanziellen und politischen Interessen im schärfsten Widerstreit und hat denn auch in seinen früheren Ausgestaltungen das entsprechende Schicksal erfahren, nach der höchst persönlichen Anschauung der jeweiligen Kritiker derjenigen Art von Kritik unterzogen zu werden, die bei einem ästhetischen Werke, etwa einem Roman oder Ballett, angebracht sein mag, einem wissenschaftlichen Werk gegenüber aber nur lächerlich ist. Auf diese Weise ist es sozusagen „entgiftet", d. h. für jene mächtigen Interessen unschädlich gemacht, und somit auf verhohlene Weise totgeschwiegen worden. Und zwar von den Vertretern der „zwei Nationalökonomien" mit gleicher Kunst und Folgerichtigkeit. Dieses System bringt nämlich die Synthese von Sozialismus und Liberalismus, um das geschändete Wort, das ich lieber vermiede, in seiner alten, edlen Bedeutung zu brauchen. Es ist das höchste Ziel, dem die Gesellschaftswissenschaft zustreben kann, weil eine Gesellschaft ohne Freiheit offenbar ebensowenig Bestand haben kann wie ohne rationelle Gleichheit. Die „bürgerlichen" Kritiker ver-
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Der Leser findet freilich auf Seite 8 [siehe im vorliegenden Band, S. 470] noch eine zweite Prämisse angegeben, das Adam Smithsche Gesetz der Arbeitsteilung. Aber erstens ist eine Prämisse noch kein Grundsatz, wenn auch ein Grundsatz immer eine Prämisse ist; ferner hat Smith sein Gesetz aus dem Grundsatz deduziert, was wir hier, weil in die Grundlegung gehörig, nicht wiederholen wollten; und namentlich: die Ankündigung, daß man aus dem Grundsatz „more mathematico" deduzieren kann, findet sich vor Erwähnung der zweiten Prämisse. [Siehe im vorliegenden Band, S. 799f.; A.d.R.]
Das Kapital: Erster Abschnitt
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ketzerten mich als Sozialisten, einige setzten mich sogar als Bolschewisten auf die Proskriptionsliste, obgleich ich ihnen als der zugegebenermaßen erfolgreichste Kritiker des theoretischen Marxismus wohl bekannt sein mußte. Von der anderen Seite her haben mich die „proletarischen" Kritiker, die sich einen nicht-kommunistischen Sozialismus nicht vorstellen können, als „Bourgeois" und gar als streberischen „Marxtöter" der öffentlichen Verachtung empfohlen. Von solchem Verfahren sagt Uberweg in seiner „Logik": „Der Kampf wird auf ein fremdartiges Gebiet hinübergespielt, und in verdächtigender Konsequenzmacherei die Polemik, die der gemeinsamen Erforschung der Wahrheit dienen sollte, zum Angriff auf die Persönlichkeit herabgewürdigt." Diese Art von Polemik ist schon gegenüber einem Werke der beschreibenden Wissenschaft ebenso töricht, wie sie unanständig ist. Einem strengen System gegenüber beweist sie nichts weiter, als daß dem Kritiker alle logischen und sittlichen Eigenschaften mangeln, die zu solchem Richteramt befähigen. Ein Nachrichter ist kein Richter! Man kann die Galilei-Newtonschen Prinzipien der Mechanik nicht vom Standpunkt eines Parteiprogramms aus angreifen, außer als - Inquisitor. Und sie bewegt sich doch! Sondern ein strenges System fordert vor dem Tribunal der Logik den immanenten Gegenbeweis oder doch den Gegenbeweis ex consequentibus durch den Aufweis wenigstens einer Tatsache, die sich aus dem Grundsatz nicht erklären läßt. Wenn einer dieser Gegenbeweise erbracht werden kann, so ist der Urheber des Systems, wenn nicht, so ist der Kritiker logisch und sittlich verpflichtet, ohne Zögern die volle Konsequenz zu ziehen: jener, seinen Irrtum öffentlich einzugestehen, auch wenn er damit die Arbeit seines ganzen Lebens verloren geben müßte; - dieser, die neue Lehre öffentlich anzuerkennen und nach allen Kräften zu verbreiten, auch wenn sie seinen teuersten Vorurteilen und Interessen widerstritte. Das sind die unabdingbaren Gesetze des wissenschaftlichen Meinungskampfes, und „nur dieser Weg führt die Menschen zur Wahrheit", sagt Uberweg.
V. Meine bisherigen Kritiker haben offenbar geglaubt, einen Gegenbeweis ex consequentibus von solcher Kraft zu besitzen, daß der immanente Gegenbeweis durch Nachweis von Fehlern in den Prämissen oder im Schließverfahren sich erübrigt. Ihr Gedankengang mag etwa der folgende gewesen sein: Nicht eine, sondern unzählige Tatsachen beweisen, daß in aller menschlichen Geschichte Freiheit und Gleichheit niemals vereinbar gewesen sind. Immer hat die Freiheit die Gleichheit zerstört, nie hat die Gleichheit die Freiheit geduldet. Nicht ohne Grund hat Goethe gesagt: „Wer Gleichheit und Freiheit zusammen verspricht, ist ein Phantast oder Charlatan." Nun, in diesem Buche werden Tatsachen genug angeführt, die gerade umgekehrt diese pessimistische Lehre widerlegen,1 eine Lehre, die die Menschheit zum Schicksal des Sisyphos und zugleich des Tantalos verdammen würde, wenn sie wahr wäre. Aber lassen wir die Tatsachen. Geben wir einmal zu, daß alle Erfahrung für den Gegner spreche. Selbst dann hat er nichts gewonnen. Es handelt sich hier wieder einmal um jenes Verfahren schwacher Logiker, das Thünen kennzeichnet als „eine Begriffsverwechselung, durch die das Faktische für eine Erklärung, das, was geschieht, für den Grund der Erscheinung genommen wird". Die Erfahrung lehre, so wollten wir annehmen, daß in jeder vergangenen Gesellschaft Freiheit und Gleichheit sich gegenseitig ausschlossen. Aber nichts
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[Siehe im vorliegenden Band S. 568f., S. 751f. (S. 148ff., S. 421f. im Original); A.d.R.]
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
beweist, daß dies auch in jeder künftigen, anders aufgebauten Gesellschaft der Fall sein muß. Wer das für „selbstverständlich" hält, präsentiert nicht mehr eine Tatsache, sondern seine, bis er sie bewiesen hat, völlig unverbindliche Meinung als den vermeintlichen Gegenbeweis. Wir haben gezeigt, warum in der Vergangenheit die beiden Güter unvereinbar waren, und haben daher das Recht zu behaupten, daß nach Fortfall dieser Gründe sie in der Zukunft vereinbar sein werden. Um uns zu widerlegen, müßte bewiesen - nicht bloß behauptet - werden, daß ein unveränderliches Naturoder Seelengesetz die Unvereinbarkeit erzwingt. Darf ich bescheidentlich daran erinnern, was kein Geringerer als Immanuel Kant über solches Mißdenken geäußert hat: „Nichts kann Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres sein als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht vorhanden wäre, wenn jene Anstalten zur rechten Zeit nach den Ideen getroffen würden, und an deren Statt nicht rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus der Erfahrung geschöpft werden, alle gute Absicht vereitelt hätten." Dieses ist mein wissenschaftliches Testament. Berlin, im vierundsiebzigsten Jahre meines Lebens Franz Oppenheimer
Erster Abschnitt: Der Gesamtprozeß in erster Analyse I.
Die Probleme
Die Ökonomik ist die Lehre von der Gesellschaftswirtschaft einer entfalteten, d. h. um ihren Markt zentrierten Wirtschaftsgesellschaft. Ihr Gegenstand ist im besonderen die Wirtschaftsgesellschaft der Gegenwart, der sogenannte „Kapitalismus". Sie ist also eine soziologische Disziplin. Als solche steht sie in enger Beziehung zur Psychologie. Denn das „Getriebe" der Gesellschaft wird bewegt durch „Triebe" und Bedürfnisse. Aus der Definition der Ökonomik folgt ohne weiteres, daß sie in die beiden Abschnitte der Lehre von der Wirtschaftsgesellschaft und von der Gesellschaftswirtschaft zerfällt. Diese letztere ist wieder unterteilt in die Lehren von der Personalwirtschaft und der Marktwirtschaft. N u r die Marktwirtschaft haben die Klassiker und die meisten ihrer Nachfolger bearbeitet. Sie interessierten sich nicht für die Psychologie: es genügte ihnen zu wissen, daß der Mensch Bedürfnisse hat und sie, als rationelles Wesen, nach dem „Prinzip des kleinsten Mittels" zu befriedigen strebt. Sie interessierten sich ebensowenig für die Wirtschaftsgesellschaft, die ein Gegenstand der Ethnologie und Geschichte ist, und schließlich auch nicht für die Personalwirtschaft, sondern eben nur für die Marktwirtschaft. Hier allein stellen sich die großen theoretischen Probleme. 1 Ihr Zentrum bildet das Problem des Kapitalprofits. Er trat mit der Neuzeit als ein neues „klassenbildendes" Großeinkommen auf, war aber nicht, wie die feudalen Großeinkommen aus Steuer und Rente, in der Verfassung der Staaten begründet. Wie entsteht er? Wie rechtfertigt er sich? Damit war das umfassendere Problem der Verteilung (Distribution) aufgeworfen: Warum teilt sich das Gesamtprodukt der gesellschaftlichen Arbeit in die drei Einkommenszweige von Grundrente, Kapitalprofit und Arbeitslohn? Und warum gerade in diesem, uns vorliegenden Verhältnis? Dieses Problem führte weiter zu dem des Wertes·, welchen Wert hat die Arbeit, die Bodennutzung, die Kapitalnutzung? Von der exakten Lösung dieser Fragen waren dann offenbar wieder andere, ebenso schwierige wie praktisch bedeutsame Probleme abhängig: wie hängen die Wirtschaftskrisen, wie der Pauperismus mit der Distribution zusammen? Und von der Antwort auf diese Fragen hängt schließlich alle praktische Ökonomik ab: Wirtschafts-, Sozial-, Zoll-, Währungspolitik usw. Diesen Problemen wenden wir uns jetzt zu.
II. Die Selbststeuerung der Marktwirtschaft Die Marktwirtschaft hat sich entwickelt als das jeweilig kleinste Mittel der Wirtschaftsgesellschaft zum größten Erfolge der sie zusammensetzenden Personen bei der Beschaffung und Verwaltung der von ihnen begehrten Wertdinge (d. h. „knappen" Dinge: Güter, Dienste, Rechte und Verhältnisse,
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Mein Lehrbuch Theorie der reinen und politischen Ökonomie [in: derselbe, System der Soziologie, Bd. 3, Jena 1923], bringt in voller Breite die psychologische Grundlegung (die Lehre von der „vorwirtschaftlichen Erwägung"), die Lehre von der Wirtschaftsgesellschaft und von der Personalwirtschaft.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
d. h. „Machtpositionen"). Und zwar dank dem von Adam Smith entdeckten, von mir so genannten „Hauptgesetz der Beschaffung". Es lautet: Je größer der Markt, um so höher entfaltet ist die gesellschaftliche und technische Arbeitsteilung und -Vereinigung (die „Kooperation"). J e höher die Kooperation, um so größer ist die durchschnittliche Beschaffungsleistung der einzelnen ökonomischen Personen. Je größer die Einzelleistung, um so größer die Gesamtleistung.
a. Die Aufgaben der Marktwirtschaft (Produktion und Distribution) Die erste Aufgabe der Marktwirtschaft besteht darin, das Kollektivbedürfnis der Wirtschaftsgesellschaft dadurch möglichst vollkommen zu befriedigen, daß sie den „Kollektivbedarf'
mit möglichst
geringen Kosten beschafft und so verwaltet, daß er zum möglichst großen Erfolge der Bedürfnisbefriedigung verwendet werden kann. Der Kollektivbedarf ist nicht die Addition aller personalen Gesamtbedarfe; denn die Person befriedigt immer einen Teil ihres Gesamtbedürfnisses unmittelbar, d. h. ohne Hilfe der Gesellschaftswirtschaft, durch eigene Arbeit der Beschaffung und Verwaltung. Wie viel oder wenig, das bestimmt der Grad ihrer „relativen Autarkie", die von fast Unendlich bis zu fast Null reichen kann. Der Trapper in Wildwest, der nur selten durch Verkauf von einigen Biberfellen sich Schießbedarf beschafft, sonst aber alle Verwendungsgüter selbst herstellt und verwaltet, deckt nur einen unendlich kleinen Teil seines Gesamtbedarfes durch die Marktwirtschaft; der im Hotel lebende Junggeselle, der sich kaum seinen Hut selbst abbürstet und allenfalls eine Kiste Zigarren selbst aufbewahrt, deckt nur einen unendlich kleinen Teil seines Gesamtbedarfs durch unmittelbare Arbeit. Nennen wir, um einen kurzen Ausdruck zu haben, denjenigen Teil ihres Gesamtbedarfs an Wertdingen, den jede Person durch die Marktwirtschaft befriedigt, ihren „Marktbedarf". Dann ist der Kollektivbedarf die Addition sämtlicher Marktbedarfe. Dadurch ist der Kollektivbedarf sowohl der Größe, wie der Art nach sehr genau bestimmt als eine reale Menge von Wertdingen. Denn auch jeder einzelne Marktbedarf ist sowohl der Größe, wie der Gliederung nach sehr genau bestimmt. Der Größe nach! Die der Gesellschaft eingeordnete („abhängige") Wirtschaftsperson, ebenso wie die isolierte, kann das Soll-Budget der Bedeckung ihrer Bedürfnisse nicht weiter spannen, als ihr IstBudget der beschaffenden Mittel reicht. Robinsons „Bedürfnis" nach anständiger Kleidung war in seinem frühesten Sammlerstadium kaum geringer als in seinem spätesten Bauern-Handwerkerstadium. Aber er konnte dieses Bedürfnis nicht eher befriedigen, als bis seine Beschaffungskraft sich vervielfacht hatte. Ganz ebenso mag eine abhängige Wirtschaftsperson im Zentrum der Kultur ein noch so starkes Bedürfnis nach einem Automobil oder einer Dampfyacht empfinden: sie wird es nur bedecken können, wenn ihre beschaffende Kraft entsprechend groß ist, d. h. wenn die Werte an qualifizierter Energie oder früher beschafften Gütern, die sie selbst besitzt, von dem Besitzer jener Befriedigungsmittel als genügende Gegenwerte anerkannt werden. Diese Betrachtung grenzt aus der unendlichen Sphäre des „Bedürfnisses" im allerweitesten Sinne, d. h. aus der Sphäre der schweifenden Wünsche, ein enges Gebiet auf das genaueste ab, das Gebiet des realen, wirtschaftlich
wirksamen
Bedürfnisses, d. h. desjenigen Gesamtbedarfs, der mit den ver-
fügbaren beschaffenden Kräften wirklich beschafft werden kann. Nur durch dieses reale, wirtschaftlich wirksame Bedürfnis der Einzelnen kann die Marktwirtschaft in Bewegung gesetzt werden. Nur für dieses reale wirtschaftlich wirksame Bedürfnis kann die
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Abschnitt
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Marktwirtschaft die Deckung beschaffen. Nicht der Wunsch, ja, leider oft genug nicht einmal die dringende Notdurft sind der Motor und Regulator der Marktwirtschaft, sondern nur dieses Bedürfnis. Es trägt in der Fachsprache den Namen der „wirksamen Nachfrage". Sie reicht nicht weiter als die Verfügung der Bedürfenden über Wertdinge, die als Gegenwerte Geltung haben. Auch die Gliederung des Kollektivbedarfs innerhalb dieses Rahmens bestimmt sich durch seine Eigenschaft als Summe aller personalen Marktbedarfe. Denn jeder personale Marktbedarf setzt sich zusammen aus bestimmten Mengen bestimmter Wertdinge, die wirksam nachgefragt werden. Welche Mengen welcher Wertdinge, darüber entscheidet die subjektive Wertskala des Bedarfs, die aber bis zu sehr niederen Stufen herab, d. h. für einen überaus großen Teil des Gesamtbedarfs, der Subjektivität in dem Sinne der Willkür entzogen ist und objektiv bestimmt wird einerseits durch die physiologische Notdurft und den sozialen „Anstand", und andererseits durch den Beschaffungswert (Preis) der Wertdinge. U m diesen Kollektivbedarf genau in dem Umfange und in derjenigen Gliederung zu beschaffen, die dem wirksamen Kollektivbedürfnis entsprechen, stellt sich der Wirtschaftsgesellschaft dieselbe Aufgabe, die sich der isoliert gedachten Person stellt: sie muß die verfügbaren Kräfte und Güter der Beschaffung entsprechend auf die einzelnen Zweige der Herstellung und Erzeugung disponieren. Das ist die erste Aufgabe der Marktwirtschaft: diejenige der Produktion} Aber ihr stellt sich noch eine zweite, die sich der isolierten Person nicht stellt, nämlich: die derart beschafften Werte nun auch den einzelnen Personen genau in dem Ausmaße zuzuführen, wie das ihrem „realen Bedürfnis" entspricht. Diese zweite Aufgabe ist die der Distribution (Verteilung). Und zwar sind die beiden Aufgaben normalerweise für eine an Zahl, und daher in ihrer Kooperationsstaffel wachsende Gesellschaft zu lösen. Ihr größerer Bedarf an Beschaffungsgütern muß produziert, ihr größerer Ertrag an Verwendungsgütern distribuiert werden. Weitere Aufgaben sind der Marktwirtschaft nicht gestellt. Die beiden Begriffe stellen eine volle Disjunktion dar, das Ideal einer Systematik: die Lehre von der Produktion zeigt uns, woher und nach welchen Gesetzen der Markt sich füllt, die Lehre von der Distribution, wohin und nach welchen Gesetzen er sich wieder entleert. Wird eine dieser Aufgaben nicht vollkommen erfüllt, so leidet die Gesellschaft. Würden die produktiven Kräfte anders verteilt, als es der Dignität der kollektiven Bedürfnisse entspricht, so würde die Kollektivdeckung unbefriedigend ausfallen. Es würden einige Werte in zu großer, andere in zu geringer Menge produziert werden; einige Einzelbedürfnisse würden weniger, andere mehr Deckung finden, als der Skala ihrer Dignität entspricht. Würden zwar alle Werte genau in dem Ausmaße produziert, wie dem Kollektivbedürfnis entspricht, aber nicht in entsprechenden Mengen an die einzelnen Personen verteilt, so wäre das gleiche der Fall. Beide Aufgaben sind in der unentfalteten, noch nicht um einen Markt zentrierten Gesellschaftswirtschaft verhältnismäßig leicht lösbar. Denn der Kollektivbedarf ist der Gesamtgröße nach, und darum auch der Gliederung nach, klein und unschwierig zu übersehen und abzuschätzen. Die Disposition der verfügbaren Kräfte und
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Unter „Beschaffung" verstehe ich die aus einem Verfügungsbegehren entspringende Handlung mit dem Zwecke, bestimmte Wertdinge in die eigene Verfügungsgewalt zu bringen, um darüber für eine „Verwendung" verfügen zu können. Sie kann erfolgen durch Arbeit oder Tausch. „Herstellung" ist eine technische Kategorie. Sie bedeutet die zweckbewußte, wertvermehrende Tätigkeit, die ein Wertding in eine andere F o r m oder an einen anderen Ort bringt. Jenes ist „Erzeugung", dieses „Transport". „Produktion" bedeutet nichts anders als „Zu-Markte-Bringen".
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Mittel der Beschaffung erfolgt durch einen einheitlichen zwecksetzenden Willen, sei es der organisierte Wille einer Genossenschaft, die sich parlamentarisch (im „Palawer"), oder durch Beamte (Häuptlinge) regiert, sei es der individuelle Wille eines Herrn, eines Patriarchen ζ. B., der kraft Rechtens für die Gesellschaft disponiert und handelt. Und die Verteilung der beschafften Werte erfolgt nach einem bestimmten Schlüssel, sei es nach dem genossenschaftlichen der freien gleichen Einung, sei es nach dem herrschaftlichen, der den Untergebenen ihren Anteil einseitig festsetzt. In der entfalteten, um einen Markt zentrierten Wirtschaftsgesellschaft liegen die Dinge ungleich verwickelter: hier ist bereits eine große Menge ökonomischer Personen vorhanden; der Kollektivbedarf ist extensiv und daher intensiv viel größer und besteht aus viel mehr verschiedenen Wertdingen, unter denen die Beschaffungswerte (Werk- und Tauschgüter) eine viel größere Rolle spielen; die Disposition ist auch aus diesem Grunde sehr viel schwieriger - und dabei fehlt der einheitliche zwecksetzende Wille durchaus, der die Disposition der Kräfte und Mittel für die Beschaffung und die Verteilung der Güter übernehmen könnte. Nichts ist vorhanden als eine Unzahl von Personalwillen, deren jeder nur seine eigenen Zwecke verfolgt, unbekümmert um die anderen, die er in Konflikten rücksichtslos, ja feindlich beiseite schiebt. Und dennoch vollziehen sich Produktion und Verteilung hier, in der Marktgesellschaft, selbst unter abnormalen Verhältnissen oft noch vollkommener als in der unentfalteten Wirtschaftsgesellschaft, und unter normalen Verhältnissen mit einer Präzision der Anpassung an das Kollektivbedürfnis, die sich anschaut, als sei sie durch die höchste Weisheit geplant und durch den festesten Willen ausgeführt. Hier zuerst ist das die Gesellschaft überhaupt beherrschende Gesetz beobachtet worden (von Bernard de Mandeville), das Hegel „die List der Idee" genannt hat, das man heute vielfach als das Gesetz der „Heterogenität der Zwecke" bezeichnet: daß aus dem Konflikt der Einzelinteressen die Harmonie hervorgeht, so daß, wie Mandeville sagte, „private Laster zu öffentlichen Tugenden" werden. Und zwar geschieht das durch die Selbststeuerung des Marktes im Prozeß der Konkurrenz. Es handelt sich hier, wie bei jeder Selbststeuerung, um einen Prozeß, in dem ein Mechanismus oder, im Organischen, ein Automatismus sich selbst zweckmäßig reguliert. Das einfachste mechanische Beispiel ist der bekannte Prozeß der Selbststeuerung einer Dampfmaschine durch einen Regulator, jenen mit Schwungkugeln versehenen Apparat, der sich mit der Welle dreht und mit dem Ventilschieber verbunden ist. Wenn die Maschine zu schnell läuft, heben sich die Kugeln vermöge der Zentrifugalkraft und drosseln den Dampfzutritt zu den Kolben; infolgedessen verlangsamt die Maschine ihren Gang, die Kugeln sinken, der Schieber öffnet das Ventil weiter und läßt nur gerade so viel Dampf zu, wie erforderlich, um die zweckmäßige Geschwindigkeit zu erreichen. Ein einfaches organisches Beispiel ist die Atmung. Die Aufgabe ist, das Blut jederzeit genügend von der im Stoffwechselprozeß gebildeten Kohlensäure zu befreien und mit neuem Sauerstoff zu versorgen. Das wird dadurch erreicht, daß der Mechanismus der Atemmuskulatur mit dem Chemismus des Blutes auf das zweckmäßigste gekoppelt ist. Je mehr Kohlensäure sich im Blut anhäuft, um so kräftiger wirkt der motorische Reiz auf die Atembewegung, die das Blut entlüftet, um so schneller und wirksamer wird auch die Zufuhr von Sauerstoff. Ein ähnlicher Prozeß der Selbststeuerung reguliert auch die Marktwirtschaft, d. h. erfüllt automatisch die ihr gestellten Aufgaben.
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b. Die Konkurrenz (Die Gesetze der Produktion) Marktwirtschaft ist Tauschwirtschaft. Die Klassiker, die das Getriebe studierten, fanden es beherrscht von einem Gesetz, das, wie ein echtes Naturgesetz, durch Beobachtung von außen her gewonnen war, und das denn auch die Allgemeingültigkeit eines echten Naturgesetzes hat.1 Es ist die Tatsache, daß jeder geistesgesunde Mensch „nach dem größten Tauschvorteil strebt". Sie nannten es, wenn sie es überhaupt benannten, das Gesetz des „Selbstinteresses". Das ist die einzige Berührung, die ihre Doktrin mit der Psychologie hat. Sie berufen sich damit auf die „Innenschau" jedes Einzelnen, die bestätigen muß, daß auch in ihm dieses Streben herrscht und überall dort entscheidet, wo er auf wirtschaftliche Weise seine Ziele verfolgt. Aber nur noch die Wortwahl erinnert an diese psychologische Wurzel: eingestellt ist die Aufmerksamkeit durchaus auf die nach diesem Gesetz erfolgende wirtschaftliche Handlung aller, die sich in den rein objektiven Massenphänomenen von Angebot und Nachfrage ausdrückt. Wie oft und wie vollkommen dieses Gesetz mißverstanden worden ist, darüber haben wir uns in unserem Lehrbuch ausführlich geäußert. Hier ist nur zu sagen, daß das Selbstinteresse nicht ein böser, und gewiß nicht ein verbrecherischer Egoismus ist; wir wissen ferner, daß der Erfolg des Strebens nach dem größten Tauschvorteil von der persönlichen Qualifikation abhängt: wer geschickter oder zäher ist, ist höher qualifiziert, aber er und sein Kontrahent, beide handeln nach dem Gesetz. Das erkennt man sehr deutlich, wenn man sieht, daß der gleiche Mensch viel zäher als Produzent auf seinem Vorteil, d. h. seinem Preise, zu bestehen pflegt, als wenn er als Konsument über sein Geld verfügt. Der Grund ist klar: Beim Verkauf lohnt es sich, zäh zu sein, weil ein Mindergewinn an den vielen Exemplaren der Wirtschaftsperiode, multipliziert mit ihrer Zahl, ein sehr empfindlich vermindertes Einkommen ergibt, aber es lohnt viel weniger, zäh zu sein, wenn man um einen nur seltener gebrauchten Gegenstand feilscht. Tatsachen dieser Art werden ins Feld geführt, wenn die Allgemeingültigkeit des Gesetzes bestritten wird: die letzte Ausflucht der Apologeten, denen die Konsequenzen zuwider sind. Und doch läßt sich der Fall auf das strengste aus dem Gesetz deduzieren: feilschen kostet Zeit und Mühe; der Käufer, dem dies einen größeren Aufwand bedeutet, als der vom Verkäufer verlangte Mehrpreis, gibt nach. Ein anderer häufiger Einwand betrifft Fälle, wo jemand aus besonnenem Entschluß für einen Dienst oder ein Gut mehr bezahlt, als sie, wie ihm bekannt, wert sind, wenn er ζ. B. einem armen Teufel von Hausierer einen überhohen Preis bewilligt oder einem Arbeiter über seinen Lohn hinaus ein gutes Trinkgeld gibt. Hier ist das Ziel die Befriedigung der Bedürfnisse des Mitleids oder der sozialen Hochgeltung, und auch hier handelt der Schenkende nach dem Prinzip des kleinsten Mittels. Im übrigen ist hier von „Wirtschaft" im eigentlichen Sinne nicht mehr die Rede - denn die Verwendung der Einkommens ist bereits „nachwirtschaftlich". Das Gesetz des größten Tauschvorteils gilt selbstverständlich vor allem für den Akt der Beschaffung, namentlich des Geldes. Und nur diesen Fall, den einzigen, der in unserem Zusammenhange interessiert, hatten die Klassiker im Auge. Der weitaus häufigste Fall ist der, daß niemand für ein zu kaufendes Wertding mehr bezahlt, wenn er weiß, daß er das gleiche Ding ohne mehr Kosten an Zeit oder Bequemlichkeit für weniger haben kann; und daß niemand für ein zu verkaufendes Wertding weniger annimmt, wenn er weiß,
1
"The laws and conditions of the production of wealth partake of the character of physical truth." (John Stuart Mill, Principles of Political Economy, with some of their Applications to Social Philosophy, London 1865, S. 123f.)
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
daß er dafür ohne mehr Kosten an Zeit und Bequemlichkeit mehr erhalten kann. Daraus erklärt sich, daß die Preise der gleichen Ware auf verschiedenen Märkten verschieden hoch sein können, wenn ihre Erreichung mehr oder weniger Zeit und Bequemlichkeit kostet. Ferner entscheidet nicht immer der größte Vorteil an einem einzelnen Wertding, sondern zumeist der Gesamtvorteil, namentlich bei den Verkäufern. Es ist oft vorteilhafter, einen großen Teil seines Warenvorrats billiger abzugeben, als für einen kleinen Teil höheren Preis zu erlangen. Auf ungefähr das gleiche kommt der Fall hinaus, daß jemand, um eine alte geschäftliche Beziehung nicht zu gefährden, ein einmaliges günstiges Geschäft mit einem Fremden ablehnt. Auch hier geht es um den Gesamtgewinn, aber nicht an einem einmaligen Vorrat, sondern an vielen gegenwärtigen und künftigen Vorräten. Und darum kann man aus diesem Gesetz mit der gleichen Sicherheit deduzieren, more mathematica, wie etwa die Astronomie aus dem Gesetz der Schwere und seinen Korollarien, den Keplerschen Gesetzen. Die zweite Prämisse ist das „Hauptgesetz der Beschaffung". Mit diesen beiden Voraussetzungen kommt die theoretische Ökonomik aus. Die bisherige Ökonomik hat in ihren sämtlichen Schulen, den „bürgerlichen" wie den kommunistischen, noch eine dritte Voraussetzung angenommen: das sogenannte „Gesetz der ursprünglichen Akkumulation". Daraus folgen alle ihre Verwirrungen und Fehler. Denn dieses Gesetz existiert nicht! Seine Widerlegung wird ein Hauptgegenstand unserer Erörterungen sein.
1. Die Statik (Die objektive
Äquivalenz)
Alle Marktbesucher haben das gleiche Streben nach dem größten Tauschvorteil: Jeder möchte möglichst wenig von den eigenen Produkten (Waren) hergeben, aber möglichst viel von den fremden Produkten erhalten. Geldwirtschaftlich ausgedrückt: Jeder möchte für sein Produkt einen möglichst hohen Preis einstreichen, aber für die fremden möglichst wenig bewilligen. Da alle das gleiche Bestreben haben, muß zwischen ihnen ein Kampf um den Preis bestehen. Dieser Kampf ist die Konkurrenz. Sie ist der Kampf um die Preisrelation. Wo immer Kräfte antagonistisch gegeneinander spielen, tendieren sie auf einen Zustand des Gleichgewichts hin, auf dem sie sich gegenseitig die Waage halten, d. h. wo die lebendige Kraft als potentielle Energie gebunden ist. So tendiert eine Wasserfläche nach allen Störungen auf die Einstellung in die Ebene, tendiert eine belastete Federwaage auf die Einstellung in dem Punkte, wo Schwerkraft und Elastizität gleich groß sind. Dieser Zustand heißt die Statik. Wir haben die Statik der Marktwirtschaft, zunächst im ersten Umriß, festzustellen. Auf welchen Gleichgewichtszustand tendiert der Kampf um die Preisrelation? Er kann offenbar nur dort liegen, wo alle Vorteile soweit ausgeglichen sind, wie das durch den Wettbewerb überhaupt möglich ist. Das heißt mit anderen Worten: der Konkurrenzkampf tendiert auf A usgleichung der Einkommen. Der größte Genius der ökonomischen Deduktion, Johann Heinrich von Thünen, hat das in exaktester Formel ausgesprochen: „Wenn durch den Preis der Ware die Arbeit von gleicher Qualität in allen Gewerben gleich hoch gelohnt wird, so findet das Gleichgewicht statt." Nicht ganz so exakt, aber doch unmißverständlich, hat sich Adam Smith, der „Vater der Nationalökonomie", geäußert: „In derselben Gegend muß die Entlohnung der verschiedenen Arten von Arbeit und Kapital entweder genau gleich sein oder beständig zur Gleichheit tendieren. Wenn in derselben Gegend
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Abschnitt
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irgendeine Beschäftigung entweder vorteilhafter oder weniger vorteilhaft wäre als die übrigen, so würden in dem einen Falle so viele herzuströmen, in dem anderen so viele von ihr sich abwenden, daß ihre Vorteile bald wieder mit denen anderer Beschäftigungen in eine Linie kämen." Er bestimmt diesen unzweifelhaft richtigen Satz, der die gesamte Theorie der Konkurrenz in nuce enthält, sofort weiter durch folgende Sätze: „Dies wenigstens würde in einer Gesellschaft stattfinden, wo man den Dingen ihren natürlichen Lauf ließe, wo vollständige Freiheit herrschte, und wo jedermann durchaus frei wäre, die ihm passend scheinende Beschäftigung zu wählen und beliebig oft wieder zu wechseln. Jeden würde sein Interesse dazu anleiten, die vorteilhafte Beschäftigung aufzusuchen und die nachteilige zu meiden." Wir sehen, daß der Altmeister hier gewisse Hemmungen andeutet, denen zufolge die Konkurrenz die Ausgleichung der Einkommen aus dem Grunde nicht vollziehen kann, weil sie eben nicht „frei" ist. Und das ist ja auch ohne weiteres klar: Wo die Konkurrenz nicht frei ist, d. h. unter einem rein ökonomischen Aspekt: wo Monopolverhältnisse irgendwelcher Art, rechtliche oder natürliche, einspielen, kann die Ausgleichung nicht erreicht werden. Wo aber keinerlei Monopolverhältnisse einspielen, da muß in der Tat die freie Konkurrenz die Einkommen auf die Dauer und im Durchschnitt so weit ausgleichen, wie das der relativen Qualifikation der Arbeitskraft entspricht. Denn die aus den Verschiedenheiten der Begabung hervorgehenden Unterschiede der Einkommen kann natürlich die Konkurrenz ebensowenig ausgleichen wie die durch Monopolverhältnisse gesetzten Unterschiede - sie kann gleiches Einkommen nur erreichen für gleiche Anspannimg gleich qualifizierter Kräfte; wobei wir unter dem Begriff „Anspannung" sowohl die zeitliche Dauer (Extensität) wie auch die auf den einzelnen Zeitabschnitt fallende relative Energiespannung (Intensität) verstehen wollen. Smith entwickelt denn auch, unmittelbar anschließend an die eben angeführten Sätze, die Bedingungen, aus denen bei völlig freier Konkurrenz dennoch Verschiedenheiten der Arbeitseinkommen entstehen müssen. Sie lassen sich sämtlich bei nur einigermaßen weitherziger Fassung des Begriffs zurückführen auf Verschiedenheiten der Qualifikation. Das also ist der Gleichgewichtszustand, auf den die Konkurrenz hinstrebt: Gleichheit aller Einkommen, soweit es die Monopolverhältnisse gestatten, und soweit es der persönlichen Qualifikation entspricht. Nun fließen aber alle Einkommen aller ökonomischen Personen im Marktverkehr lediglich aus den „Gewinnen", die sie beim Verkauf ihrer Produkte erzielen, d. h. dem Unterschiede zwischen ihren Selbstkosten (Gestehungskosten der „Herstellung") und dem Verkaufspreise. Folglich kann die Konkurrenz um die Preisrelation nur auf dem Punkte zur Ruhe kommen, wo alle Preise in solchem Verhältnis stehen, daß alle Produzenten von gleicher Qualifikation und gleicher Stellung zu Monopolverhältnissen das gleiche Einkommen beziehen, und wo die Einkommen nur insoweit nach oben oder unten von diesem Einheitssatze abweichen, wie das erstens den Verschiedenheiten der Qualifikation entspricht, und wie zweitens die Produzenten durch Monopolverhältnisse begünstigt oder benachteiligt sind. Das also ist die Statik, auf die der Marktprozeß hin tendiert. Wir nennen die Gesamtpreisrelation in diesem Zustande die statische Preisrelation, und die Preise der einzelnen Waren die statischen Preise. Dieser statische Preis ist offenbar, soweit es sich um gleich qualifizierte Produzenten handelt, die nicht unter einem Monopolverhältnis tauschen, der Preis der absoluten objektiven Äquivalenz. Die Gewinne verhalten sich exakt wie die aufgewendete Arbeitszeit: jede Stunde, jede Woche, jedes Jahr bringt den Produzenten das gleiche Einkommen.
Zweiter Teil:
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Marktwirtschaft
Selbstverständlich kann diese abgekürzte Formel nur unter unserer Voraussetzung gelten, daß beide verglichene Arbeitsmengen oder -Zeiten der gleichen „Dimension" angehören, d. h. den gleichen Wert oder statischen Preis haben. Sobald es sich nicht mehr um gleiche Anspannung gleich qualifizierter Personen handelt, gilt die Formel in dieser Einfachheit nicht mehr. Dann müssen die Arbeitszeiten auf den gleichen Wert reduziert werden, um gleicher Dimension zu sein und in eine Gleichung eingestellt werden zu können. Das geschieht bereits in den gleichen großen Stufen der Qualifikation dadurch, daß eine kürzere Zeit schwerer, gefährlicher oder unangenehmer Arbeit einer längeren Zeit gewöhnlicher Arbeit als gleichwertig betrachtet wird: ein Ausdruck der selbstverständlichen Gerechtigkeit. So ζ. B. fordern die Bergleute mit Recht, und ohne Widerspruch zu finden, daß sie für ihre gleichzeitig schwere, gefährliche und unangenehme Arbeit bei kürzerer Zeitdauer den gleichen Lohn erhalten wie Arbeiter gleicher Ausbildung für längere Zeitdauer. Auch hier besteht die objektive Äquivalenz; auch hier ist die subjektive Uberzeugung richtig, daß sie bestehe. Das gleiche gilt schließlich auch von den höheren Qualifikationsstufen. Niemals noch hat ein verständiger, parteimäßig nicht voreingenommener Mensch als Inäquivalenz empfunden, daß sein Landrat oder Arzt als Entgelt seiner längeren und kostspieligeren Ausbildung und höheren Begabung ein höheres Stunden- und Jahreseinkommen erwirbt. Auch hier besteht die subjektive Uberzeugung von der objektiven Äquivalenz zu Recht. Wir werden übrigens sofort zeigen können, daß die von höher Qualifizierten hergestellten Güter auf dem statischen Konkurrenzpreise, und nicht darüber, stehen, so daß sich auch hier Stunde gegen Stunde exakt tauschen. Ebenso richtig ist die Uberzeugung der Kontrahenten, daß der Monopolpreis nicht äquivalent, sondern ungerecht ist, wie sich gleichfalls ohne weiteres, sozusagen als Korollarium, aus unserer Formel für die Statik ablesen läßt. Denn hier tauschen sich auch unter gleich Qualifizierten ungleiche Arbeitsaufwände und unter allen Umständen ungleiche Arbeitswerte. Der Zustand der Statik kann in der realen Wirtschaft, wenn überhaupt, nur selten und auf kürzeste Zeit bestehen. In der Regel wird immer wieder das Gleichgewicht durch „Störungen" aller Art: Wachstum der Bevölkerung, Verschiedenheiten der Ernte, politische Ereignisse usw. erschüttert, und deshalb wird auch nur gelegentlich einmal der Marktpreis auf seinem statischen Satze, und noch viel seltener die Gesamtpreisrelation in ihrem statischen Zustande stehen. Wir wollen die einzelnen Punkte der Oszillationen um den statischen Preis herum in Anlehnung an einen vielgebrauchten Ausdruck (current prize, prix courant) als „laufende Preise", und die entsprechende Preisrelation als die laufende Preisrelation bezeichnen. Wir haben zwischen dem Konkurrenz- und dem Monopolpreise unterschieden. Wir spalten diese Kategorien noch einmal in der Quere und unterscheiden jedes Mal den statischen und den laufenden Preis. Auf diese Weise erhalten wir folgendes Schema:
Konkurrenzpreis: Monopolpreis:
Statischer Preis
Laufender Preis
Statischer Konkurrenzpreis
Laufender Konkurrenzpreis
Statischer Monopolpreis
Laufender Monopolpreis
Das Kapital: Erster
Abschnitt
473
2. Die Kinetik (Der Markt und seine Phänomene) Es ist unsere erste Aufgabe, den kinetischen Mechanismus der Selbststeuerung darzustellen, durch den die laufenden Preise nach allen Störungen immer wieder dem statischen Preise, und durch den die laufende immer wieder der statischen Preisrelation angenähert wird. Alle theoretische Erklärung muß mit einer vollständigen Sammlung und Beschreibung der zur Sache gehörigen bekannten Erscheinungen beginnen: mit der „vollständigen Induktion der Tatsachen". Ein Markt war ursprünglich eine für den Tauschverkehr bestimmte Ortlichkeit; solche Märkte sind uralt. Ratzel sagt lakonisch: „Märkte finden sich auf allen Stufen der Kultur" 1 . Wir nennen als Beispiele die Wochenmärkte, die „Messen", die einen Marktplatz umgebenden Lauben, Gewölbe oder Bazare einer mittelalterlichen oder orientalischen Stadt und unsere modernen Markthallen und Effekten- und Produktenbörsen. Allmählich aber hat der Begriff seinen örtlichen Charakter eingebüßt. Er bedeutet heute den Inbegriff der Beziehungen zwischen Käufern und Verkäufern, gleichgültig, ob sie räumlich vereinigt oder getrennt sind. Er ist nur mehr der „ökonomische O r t " des Tauschverkehrs. Hier treffen eine Anzahl von Marktteilnehmern, die „mercatores", zusammen, um den „mercatus" (davon stammt das deutsche Wort) zu vollziehen. Jeder hat eine bestimmte Menge von Wertdingen, die hier Waren oder Produkte heißen, „hergestellt"; diese Herstellung haben wir uns geeinigt, als das „Zumarktebringen", als „Produzieren" zu bezeichnen. U m noch einige andere gebräuchliche Ausdrücke anzuführen, so hat jeder einzelne „Produzent" mit dieser seiner „Zufuhr" „den Markt beschickt". Diese Waren sollen den „Kunden", „Zehrer", „Konsumenten", „Abnehmer" finden, sollen „an den Mann gebracht", „abgesetzt", „verkauft", „verhandelt", „zu Gelde gemacht werden". Wer sind die Abnehmer? Solche Personen, die andere Waren produziert haben, seien es nun Waren im allgemeinen, sei es eine ganz bestimmte, besonders begehrte Ware, nämlich das „Geld": Warengeld, ζ. B. Vieh, Kaurimuscheln, oder Geld im engeren Sinne: gemünztes Metall, Geldzeichen (Zettelgeld). Gegen diese Waren will der einzelne Marktbesucher die seinen austauschen. Diejenigen Waren, die der einzelne Produzent auf dem Markte für sich beschaffen will, nennt man seine Nachfrage (demand); diejenigen, die er dafür herzugeben willens ist, heißt sein Angehot (supply). Man sieht, daß es sich hier nur um die „wirksame" Nachfrage, die reale, „kaufkräftige", handelt: der noch so glühende Wunsch, das noch so drängende Bedürfnis eines Marktbesuchers, der keine ausreichenden Gegenwerte zu bieten hat, ist, ökonomisch gesehen, keine Nachfrage, kann im Marktverkehr keine Befriedigung finden. Man versteht, daß Karl Marx sein „Kapital" mit folgenden Worten beginnen konnte: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ,ungeheure Warensammlung', die einzelne Ware als seine Elementarform." Aber er macht sich sofort einer „unvollständigen Induktion" schuldig, wenn er fortfährt: „Die Ware ist zunächst ein äußerer Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt." Damit ist die Untersuchung, unter Vernachlässigung aller anderen Produkte, einseitig auf die Güter eingeschränkt. Einen zweiten Fehler der gleichen Art werden wir sofort aufzudekken haben. Wir haben diese Fehler zu vermeiden; die methodologische Besinnung fordert die vollständige Induktion. 1
Ratzel, Anthropogeographie, Bd. 2: Die geographische Verbreitung, Darmstadt 1891, S. 314. Vgl. Oppenheimer, Allgemeine Soziologie, in: System der Soziologie, Bd. I, 2. Teilbd., S. 873.
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
A. Die Gattungen der Produkte und die Teilmärkte Die Objekte der Personal- und damit auch der Marktwirtschaft sind außer den materiellen Gütern zunächst die „Dienste" der verschiedenen Art, die niederen und die höheren, die von Selbständigen und die von Unselbständigen zum Verkauf gestellten Arbeitsleistungen im Auftrage und auf Rechnung und Gefahr eines anderen. Sie werden auf dem Markte der Dienste, gemeinhin „Arbeitsmarkt" genannt, gehandelt, wie die Sachgüter auf dem „Gütermarkte". Die dritte und letzte Klasse von Wertdingen, die zu Markte gebracht werden, umfaßt die „gesellschaftswirtschaftlichen Machtpositionen", nämlich „Rechte" (ζ. B. Patente), „Verhältnisse" (ζ. B. Firmen), Grund- und Kapitalstücke, d. h. Kapital im privatwirtschaftlichen Sinne: Zins oder Profit tragende Eigentumstitel. Diese Dinge werden auf dem Markte der Machtpositionen gehandelt. Dieser letztgenannte und der Markt der Güter zerfallen noch einmal in den Markt der Substanzen und den der Nutzungen, je nachdem sie in der Rechtsform des Verkaufs oder der Vermietung (Leihe) angeboten werden. 1 Der Markt der Güternutzungen (Leihemarkt der Güter) ist von sehr geringer Bedeutung; dagegen sind die Leihemärkte der Machtpositionen theoretisch wie praktisch von der größten Bedeutung; auf dem Leihemarkt der Grundstücke werden ζ. B. Pachtungen und Mietwohnungen, auf dem der Kapitalstücke Hypotheken und Obligationen gehandelt, während auf dem Kaufmarkte der Grundstücke städtische Häuser und ländliche Güter, auf dem der Kapitalstükke Aktien und Kuxe usw. gehandelt werden. Alle diese Märkte stehen in offener Kommunikation miteinander, d. h. jedes Produkt kann gegen jedes eingetauscht werden. Güter werden nicht nur gegen Güter, sondern auch gegen Dienste und Machtpositionen aller vier Arten, und Dienste nicht nur gegen Dienste, sondern auch gegen Güter und Machtpositionen vertauscht. Daß jeder der hier aufgeführten Teilmärkte noch in eine sehr große Anzahl von Unterteilmärkten, nämlich die Märkte der einzelnen Warengattungen, zerfällt, braucht hier nur eben erwähnt zu werden. So ζ. B. gibt es einen Markt des Weizens, des Roggens, des Maises usw.; einen Markt des Goldes, des Kupfers, des Eisens usw.; einen Markt der Brauerei-, der Maschinenindustrie-Aktien, der städtischen, staatlichen, auswärtigen Anleihen, die wieder in noch kleinere Abteilungen zerfallen.
B. Die Preise Das quantitative Verhältnis, in dem sich ein Produkt gegen ein anderes austauscht, nennen wir seinen Preis. Ein Preis ist immer eine bestimmte Menge eines Produkts, ausgedrückt in einer bestimmten Menge eines anderen Produkts. 2 „Ein Rock hat den Preis von 20 Ellen Leinwand" oder 10 Gramm Gold. Ein Preis kann also immer als eine Gleichung geschrieben werden: χ Maßeinheiten Tuch = y Maßeinheiten Eisen. Diese Gleichung kann wie alle anderen Gleichungen umgekehrt oder durch irgendwelche auf ihre beiden Seiten erstreckten arithmetischen Operationen verwandelt werden. Man kann also ebensogut sagen: y Eisen = χ Tuch, oder man kann aus der Formel: 100 Kilo Eisen = 1 m Tuch ablesen, daß 1 Kilo Eisen = 1/100 m Tuch ist.
1 2
W o Sklaverei besteht, gilt das gleiche auch für den Markt der Dienste. Auf dem Sklavenmarkt wird die Substanz, auf dem Markt der freien Arbeit die Nutzung gehandelt. Es ist nicht ohne Bedeutung, diese Selbstverständlichkeit ausdrücklich zu betonen. Denn einige Geldtheoretiker faseln von der „Wertkonstanz des Goldes", weil die Münzämter aus einem Kilo Gold immer die gleiche Menge von Goldmünzen schlagen. Hier wird eine Menge einer Ware in einer anderen Menge derselben Ware ausgedrückt; es ist dann freilich sicher, daß dieses Verhältnis „konstant" ist.
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Diese Formel muß richtig verstanden werden. Das Zeichen muß selbstverständlich als „wertgleich" gelesen werden. Denn man kann bekanntlich Dinge nur dann und insoweit in eine Gleichung einstellen, wie sie der gleichen „Dimension" angehören. Es ist nicht überflüssig, diese Selbstverständlichkeit ins Gedächtnis zurückzurufen, denn es sind sogar gegen diese elementare Regel Verstöße vorgekommen. 1 In einem engeren Sinne versteht man unter Preis den Geldpreis. Da durch den Eintritt des Geldes in den Tauschakt die Preisrelation nicht geändert, sondern nur genauer meßbar wird, so dürfen wir, wenn wir von der entfalteten Marktwirtschaft sprechen, die Geldpreise der Produkte ohne Fehler als den Ausdruck ihrer Preisrelation benützen. Ist doch auch das Edelmetall eine Ware, deren Preisrelation zu allen anderen Waren von den gleichen Gesetzen beherrscht wird wie die Preisrelation einer Nicht-Geldware zu jeder anderen Nicht-Geld ware! Versuchen wir nun, die Erscheinungsformen des Preises auf jenem Inbegriff aller Teilmärkte, den wir als „Markt" bezeichnet haben, möglichst vollkommen zu beschreiben. Wenn wir einen Markt längere Zeit beobachten, so drängt sich uns ein Unterschied zwischen zwei Kategorien von Preisen auf: Die erste betrifft die Preise solcher vertretbarer Produkte, die seit längerer Zeit regelmäßig angeboten und nachgefragt werden, die zweite die Preise solcher Produkte, die entweder unvertretbar sind und aus diesem Grunde gar nicht regelmäßig produziert werden können (ζ. B. Kunstwerke) oder die erst seit kurzer Zeit als Neuheiten in diesen Markt eingetreten sind. Bei jenen beobachten wir gewisse Regelmäßigkeiten der Preisbildung, die wir bei diesen nicht erkennen können. Da die vertretbaren, regelmäßig produzierten und zum Zweck der Verwendung vom Markte genommenen Waren die Hauptmasse aller Produkte bilden, und da wir ja gerade, wenn nicht die „Gesetze", so doch mindestens die Regelmäßigkeiten des Marktes und der Preisbildung suchen, so haben wir mit dieser Kategorie zu beginnen. Da zeigt sich, daß ihre Preise in gewissen Grenzen auf und nieder schwanken, um einen Schweroder Mittelpunkt herum, etwa wie die Wellen einer bewegten Wasserfläche. Wir haben diese „Mittelpreise" soeben auf das genaueste bestimmt. Sie sind nicht das rechnerische Mittel der Schwankungsgröße, sondern Punkte aktiver Anziehung, bestimmt durch gesellschaftliche Kräfte, die das Spiel von Angebot und Nachfrage beherrschen, nicht aber von ihm beherrscht werden. Man hat mit Recht die Schwankungen des Preises um seinen Mittelpunkt herum mit den Oszillationen eines Pendels verglichen. Und gerade so, wie das rechnerische Mittel dieser Ausschläge sich herausstellt als der, unabhängig von den Schwankungen und vor jeder „Störung", durch die Schwerkraft bestimmte Raumpunkt, der in Pendellänge senkrecht unter dem Aufhängepunkte liegt, so ist der statische Preis bestimmt durch gesellschaftliche Kräfte, die außerhalb des Getriebes von Angebot und Nachfrage bestehen und wirken. Auch er ist ein Ort aktiver Anziehung, nicht bloß ein arithmetisches Mittel. Man erkennt schon hier, wie unzureichend der immer wieder unternommene Versuch ist, den Preis nur aus Angebot und Nachfrage ableiten zu wollen! Das kann die Schwankungen um den statischen Preis, aber niemals diesen selbst erklären. Und man erkennt zweitens, wie richtig die Auffassung der kanonischen Wirtschaftsphilosophie vom pretium justum oder vielmehr den pretia justa gewesen ist. Das „pretium justum medium" ist unser statischer Preis; das „infimum" ist derjenige darunter liegende Preis, unter den bei einer
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Vgl. dazu Oppenheimer, Wert und Kapitalprofit, [S. 46f., vgl. im vorliegenden Band, S. 265], die Polemik gegen den Kritiker des „Kampf", Herrn Paul Brunner. Ich habe ihm sehr mühsam klar machen müssen, daß die Marxsche Formel gelesen werden muß: Wert dieser Ware gleich dem Werte der darin verkörperten Arbeitszeit.
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Zwangslage des Verkäufers der Käufer nicht hinunterbieten darf, ohne durch Erpressung zu sündigen; und das „summum", das ist derjenige darüber liegende Preis, über den bei Zwangslage des Käufers der Verkäufer nicht fordern darf, ohne sich der Sünde des Wuchers oder der Ausbeutung schuldig zu machen. Wir erkennen dann, wenn wir uns nach einer Erklärung dieser Schwankungen umschauen, oft, daß vermehrtes Angebot mit einer Senkung unter den Mittelpreis, vermehrte Nachfrage mit einer Erhebung über den Mittelpreis verbunden ist. Wenn wir den Markt lange genug beobachten, erkennen wir ferner, daß diese Mittelpreise selbst nicht durchaus feststehen, sondern Eigenbewegung zeigen, d. h. im Vergleich mit anderen gleichzeitig beobachteten anderen Mittelpreisen größer oder geringer werden. Und zwar finden wir, daß diese Eigenbewegung häufig mit Veränderungen zusammenhängt, die die Herstellungskosten des Produkts betreffen: steigen diese Kosten, so wächst, sinken sie, so fällt der Mittelpreis. Da die periodischen Schwankungen um den sich verschiebenden Mittelpreis ihrerseits weiter verlaufen, so ergibt sich daraus zuweilen eine recht komplizierte Kurve. In höher entfalteten Wirtschaftsgesellschaften finden wir ferner, daß die Preise aller Produkte regelmäßig in Geld ausgedrückt werden, d. h. zunächst in bestimmten Gewichtsmengen von Edelmetall von bestimmtem Feingehalt. Und wir erkennen, daß das Edelmetall offenbar ähnlichen Gesetzen unterliegt wie alle anderen Produkte. Wir wissen z. B. aus der Wirtschaftsgeschichte, daß der Mittelpreis des Silbers, ausgedrückt in Mengen anderer Produkte, stark fiel (oder, was ganz dasselbe bedeutet, daß der in Silber ausgedrückte Preis dieser Produkte stark stieg), als das Metall von den neu erschlossenen amerikanischen Minen mit viel geringeren Kosten auf den europäischen Markt gebracht werden konnte. Und wir können andererseits Zeiten (in „Geldkrisen") beobachten, wo plötzlich das gemünzte Edelmetall im Verhältnis zu allen anderen Produkten sehr stark im Preise steigt, oder was das gleiche ist, die Preise dieser Produkte sämtlich stark fallen. Diese Bewegung muß offenbar auf eine Preiserhöhung des Geldes, und nicht auf eine solche der Waren bezogen werden: denn es ist unvorstellbar, daß diese sämtlich ganz in dem gleichen Ausschlage unter ihren Mittelpunkt aus Gründen fallen sollten, die auf der Warenseite liegen. Ferner muß es sich hier offenbar um eine heftige Oszillation des Geldes um seinen Mittelpunkt, und nicht um eine Verschiebung des Mittelpunktes handeln - denn nach Ablauf weniger Wochen, oft sogar weniger Tage, stellt sich das Geld wieder auf seinen Mittelwert ein. So viel von unserer ersten Kategorie, den vertretbaren, seit längerer Zeit regelmäßig gehandelten Produkten. Um nun zu unserer zweiten Kategorie überzugehen, so zeigt sich, daß unvertretbare Produkte keine erkennbare Regelmäßigkeit ihrer Preisbildung aufweisen. Niemand kann mit einiger Sicherheit schätzen, welchen Preis eine seltene Münze, eine naturhistorische Kuriosität, ein Kunstwerk, im Markte erzielen wird. Hier sind die größten Überraschungen an der Tagesordnung, je nach der Laune und dem Vermögen des reichsten „Kaufwerbers", wie die Grenznutzenschule gern sagt. Hier spricht man von „Liebhaberpreisen" als unberechenbaren Preisen im Gegensatz zu denen der ersten Kategorie.1 Die zweite Unterart dieser zweiten Kategorie bilden solche Produkte, die erst neu in den Markt eingetreten sind. Das sind die Neuheiten oder „Novitäten", wie jene die „Singularitäten" sind. Hier ist die Beobachtungszeit zu kurz, als daß man irgendwelche Regelmäßigkeiten der Preisbildung schon entdecken könnte, selbst wenn sie der Tendenz nach bestehen sollte.
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„Diese Dinge entbehren durchaus der Vertretbarkeit; ihr Wert ist daher in Geld nicht meßbar." (Knies, Das Geld. Darlegung der Grundlehren von dem Gelde, insbesondere der wirtschaftlichen und rechtsgültigen Funktionen des Geldes mit einer Erörterung über das Kapital und der Übertragung der Nutzungen, 2. Auflage, Berlin 1885, S. 164.)
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Längere Beobachtung des Marktes enthüllt uns noch eine zweite Regelmäßigkeit, deren Beachtung für den Fortgang unserer Untersuchung von der allergrößten Bedeutung werden wird. Marx hat sie nicht beachtet und sich dadurch zum zweiten Male des methodologischen Fehlers einer unvollkommenen Induktion schuldig gemacht. Ob in Geld ausgedrückt oder nicht: Es gibt für alle Produktklassen, die wir kennen, zwei Arten von Preisen, die wir in einigen Fällen ohne weiteres unterscheiden können. Die einen erscheinen überall, wo die betreffende Ware unter voller freier Konkurrenz produziert wird: wir haben sie deshalb als „Konkurrenzpreise" bezeichnet. Die andere Art erscheint überall, wo die freie Konkurrenz irgendwie beschränkt oder gar aufgehoben ist, weil der volle Wettbewerb entweder aus natürlichen Gründen unmöglich oder aus rechtlichen Gründen verboten ist, wo also ein „Monopol" besteht. Wir haben diese Preise daher als „Monopolpreise" bezeichnet. Diese Waren erzielen, so lange die Vorzugsstellung dauert, ζ. B. während der Geltungsdauer eines Patents, auch im Mittel einen höheren als den Konkurrenzpreis, wie man oft klar daran erkennen kann, daß man räumlich mit solchen Ländern vergleicht, in denen das Patent nicht besteht, oder zeitlich mit solchen Perioden, in denen es nicht mehr besteht. Ein bekanntes Beispiel bilden die schwedischen Zündhölzer, deren Preis in Deutschland bis zum Tage des Patentablaufs um nicht weniger als 150 % höher stand als am Tage nachher. Solche Monopolpreise finden sich aber nicht nur bei Sachgütern, sondern, wie gesagt, bei allen Arten der Produkte. Dienste aller Art erhalten bei fehlender oder eingeschränkter Konkurrenz Monopolpreis, und zwar ebensowohl niedere Dienste bei gewöhnlichen Arbeitseinstellungen als auch höhere ζ. B. bei einem Ärztestreik. Die Nutzung von Kapital kann beim Wucher, die von Boden bei Wohnungsnot einen deutlichen Monopolpreis bringen; und ebenso kann die Substanz des Kapitals auf einen solchen steigen, wenn sein Ertrag durch Beschränkung der Konkurrenz wächst, und die Substanz eines Grundstücks, wenn ζ. B. durch Bau einer Eisenbahn seine Lage zum Markte wesentlich besser wird. Unmittelbar läßt sich nur selten erkennen, ob wir es mit einem Konkurrenz- oder einem Monopolpreise zu tun haben, und zuweilen läßt es sich überhaupt nicht erkennen. In den meisten Fällen aber läßt es sich mittelbar erkennen, und zwar, wie oben gezeigt, durch Vergleichung mit dem Preise des gleichen Produkts an anderem Orte oder zu anderer Zeit, und zuweilen durch Vergleichung mit den Preisen anderer Produkte. Hier liegt, wie wir vordeutend sagen wollen, u. E. die Hauptschwierigkeit des ganzen Gebietes. Wir werden grundsätzlich festzuhalten haben, daß jeder von uns beobachtete Preis, handle es sich um Gut, Dienst oder Substanz oder Nutzung einer Machtposition, darauf untersucht werden muß, ob er ein Konkurrenz- oder ein Monopolpreis ist; etwa wie die Größe a1 immer daraufhin untersucht werden muß, ob sie das Quadrat von - a oder + a darstellt und in dubio als ± a geschrieben werden muß. Und femer, daß irgendeine Untersuchung irgendeines Preises, die diese Frage nicht stellt, mindestens unvollständig ist. Sie kann bei gutem Glück zu richtigen Ergebnissen führen, ist aber nie sicher, es zu tun. Jetzt vermögen wir erst recht mit voller Klarheit zu erkennen, wie unvollständig die Marxsche Induktion der Markterscheinungen gewesen ist. Die laufenden Preise sind für die großen Probleme der Theorie ohne Bedeutung, aber die statischen Preise, nicht weniger als acht an der Zahl, wären sämtlich mit gleicher Sorgfalt zu untersuchen: sowohl der Konkurrenz- wie der Monopolpreis der je vier Produktarten, die wir kennen: der Güter, der Dienste, der Substanzen und der Nutzungen der Machtpositionen. Er hat aber nur einen einzigen dieser Preise ins Auge gefaßt: den statischen Konkurrenzpreis der Güter. Daß er die Dienste vernachlässigte, hat es ihm unmöglich gemacht, eine zureichende Lohntheorie zu finden; und daß er alle Monopolpreise ausschloß, hat ihn zu einer ebenso falschen wie geistreichen Theorie vom Mehrwert geführt. Von alledem wird noch ausführlich zu handeln sein.
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Wir gehen nunmehr zu der Darstellung des Prozesses über, in dem sich die statische Preisrelation bildet. W i r gehen den von der Methode vorgeschriebenen Weg, indem wir mit der Beschreibung einer isoliert betrachteten Ware auf einem isoliert betrachteten Markte beginnen, dann die Bewegung ihres Preises im Zusammenhang der Märkte studieren, um schließlich zur Relation der Gesamtheit der Preise aller Waren fortzuschreiten.
ct. Der Marktpreis der isoliert betrachteten Ware 1.1.
Auf dem isoliert betrachteten Markte
Studieren wir den Prozeß zunächst auf einem isoliert vorgestellten lokalen „Markte" in der engsten Bedeutung dieses Wortes, d. h. einer für den Tauschverkehr bestimmten Ortlichkeit. Im Durchschnitt rechnet der Produzent auf eine bestimmte, erfahrungsmäßige Preisrelation zwischen seinem eigenen und den fremden Produkten. Er rechnet, mit anderen Worten, darauf, für sein eigenes Produkt ungefähr einen bestimmten Preis zu erhalten und für die fremden Produkte einen anderen bestimmten Preis zu bezahlen. Wir wissen bereits, wo diese Preisrelation liegt: es ist dieje-
nige, die gleich qualifizierten Kräften in gleicher sozialer Lage das gleiche Einkommen gewährt·. Hier, wo noch nicht vom statischen, sondern erst vom laufenden Preise gehandelt wird, können wir uns damit genügen lassen, festzustellen, daß eine erfahrungsmäßige durchschnittliche Preisrelation erwartet wird. Findet der Produzent in der Tat diese Preisrelation auf dem Markte vor, so kann er sein SollBudget bis zu der erwarteten Stufe herab bedecken. Findet er einen „günstigen Markt", so kann er einige, sonst freibleibende tiefere Stufen bedecken; findet er einen „ungünstigen Markt", so muß er einige sonst gewohnheitsmäßig bedeckte Stufen unbedeckt lassen, Einen günstigen Markt finden, heißt entweder: für sein eigenes Produkt höheren als den erwarteten Preis erhalten, oder die fremden Produkte ganz oder teilweise zu geringerem als dem erwarteten Preise erstehen - oder beides, was die höchste Marktgunst ausmacht. Und umgekehrt heißt einen schlechten Markt finden: für sein eigenes Produkt einen geringeren als den erwarteten Preis erhalten und die fremden Produkte ganz oder teilweise zu höherem Preise bezahlen müssen, oder beides, was die höchste Marktungunst ist. U m ein Beispiel zu wählen: ein Bauer, der einige Fuder Weizen zu Markte führt, hat eine Reihe von Waren in bestimmter Reihenfolge und Menge zu beschaffen: zuerst ein J o c h kräftiger Zugochsen, dann einen Pflug, dann ein Paar neue Stiefel, dann einen Zierschrank für seine Wohnung, dann etwa ein Seidentuch für seine Braut. Wenn er Glück hat, d. h. einen guten Markt findet, wird er das alles beschaffen und noch etwas übrig behalten, um die Menagerie zu besuchen und sich ein Gläschen zu gönnen. Wenn er aber kein Glück hat, d. h. einen schlechten Markt findet, so wird er unten am Ende der Wertskala des Bedarfs die Bedürfnisse des kleinsten Grenznutzens unbefriedigt lassen müssen. Wenigstens handelt so der Wirt, der einen Wirtschaftsplan im besonnenen Entschluß auch wirklich durchführt. Es ist uns natürlich bekannt, daß der empirische Mensch zuweilen der „Versuchung erliegt", wenn ein plötzliches starkes sinnliches Begehren seinen besonnenen Entschluß sozusagen überreitet. Dann begeht er eine unwirtschaftliche Handlung, und bringt etwa anstatt des Jochs Zugochsen, die er erwerben wollte, einen Rausch heim, den er nicht erwerben wollte. Aber derartige Handlungen können die Regelmäßigkeit des von uns beobachteten Prozesses nicht stören: denn erstens kann der einzelne Wirt sie nicht oft wiederholen, da er sonst zugrunde gehen würde, und zweitens wissen wir aus der allgemeinen Soziologie, daß solche unwirtschaftlichen Handlungen im Ganzen des gesellschaftlichen Lebens mit großer statistischer Regelmäßigkeit auftreten und daher für jede gegebene Gesellschaft berechenbar sind.
Das Kapital: Erster Abschnitt
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Wir haben keine Schwierigkeit, die wirtschaftliche Rubrik für derartige Entgleisungen aufzufinden: wer eine geringere als die durchschnittliche Widerstandskraft gegen Versuchungen besitzt, ist „minder qualifiziert". Wovon hängt es nun ab, ob der Verkäufer einen guten oder schlechten Markt findet, d. h. ob er einen größeren oder geringeren Teil seines Soll-Budget decken kann? Unterstellen wir, der Einfachheit halber, jeder Verkäufer habe nur eine einzige Ware produziert, ζ. B. Korn oder unqualifizierte Arbeitskraft usw. Dann hängt sein „Marktglück" nur ab von dem Verhältnis, in dem das Kollektivangebot dieser Ware zu der Kollektivnachfrage nach dieser Ware auf dem Markte steht. Unter Kollektivangebot verstehen wir vorläufig das summierte Angebot aller Produzenten der beobachteten Ware, unter Kollektivnachfrage die summierte Nachfrage aller anderen Marktbesucher, d. h. diejenige Menge der Ware, die von allen zusammen bedurft wird, um ihren Einzelbedarf an der beobachteten Ware zu decken. Diese rohe Bestimmung genügt zunächst. Ubersteigt das Angebot die Nachfrage, dann wird der Marktpreis der Ware niedrig sein, d. h. sie wird ihrem Verkäufer einen verhältnismäßig geringen Gegenwert in anderen Waren beschaffen. Und zwar wird das herbeigeführt durch die Konkurrenz der Verkäufer. Jeder von diesen hat nämlich erstlich ein überaus starkes Interesse, wenigstens einen Teil seiner Produktion abzusetzen, und zweitens ein kräftiges Interesse, womöglich seine ganze Produktion an den Mann zu bringen. Wenn er nämlich gar nichts absetzt, so hat er, der nur die eine Ware zu Markt gebracht hat, überhaupt kein Mittel, seine eigenen Bedürfnisse zu beschaffen; er muß also auch die dringendsten Bedürfnisse, diejenigen, die in seiner Dignitätsskala obenan stehen, unbefriedigt lassen, und das wird oft unmöglich und fast immer bedenklich sein. Wenn es sich um Existenzbedürfnisse handelt, die er als Käufer gebraucht, dann muß er als Verkäufer wenigstens einen Teil seiner Produktion um jeden Preis „losschlagen", der ihm überhaupt geboten wird, um nicht zugrunde zu gehen: in dieser Lage befinden sich der Regel nach ζ. B. die „freien Arbeiter", die nur Dienste anzubieten haben.1 Aber, wenn auch der Verkäufer oft genug nicht gerade bei Strafe der Vernichtung gezwungen ist, seine ganze Produktion loszuschlagen, so gebietet ihm doch das Prinzip des kleinsten Mittels, lieber einen verhältnismäßig geringen Preis für seinen gesamten Vorrat an Waren anzunehmen, als auf ihren Verkauf teilweise zu verzichten. Denn er strebt ja nicht nach dem größten Einzelgewinn, d. h. dem Gewinn an der Wareneinheit, sondern nach dem größten Gesamtgewinn, d. h. dem Gewinn an allen verkauften Einheiten zusammen. Und dieser Gesamtgewinn kann größer sein, wenn er zu geringerem Preise seinen ganzen Vorrat „räumt", als wenn er zu höherem Preise nur einen Teil losschlägt. Denn er trägt den Aufwand seiner „Generalspesen" oder „allgemeinen Unkosten" fast genau oder ganz genau in demselben Umfange, ob er nur einen kleinen Teil oder den ganzen Bestand seines Vorrats verkaufe; und da er diese Spesen auf den verkauften Teil repartieren muß, so ergibt bis zu einem gewissen Minimum des Preises die Kalkulation, daß er besser tut, billig, statt gar nicht zu verkaufen. Denn selbst ein billiger Preis des ganzen Bestandes kann ihm noch einen kleinen Gewinn lassen, während ein sogar hoher Preis für nur einen kleinen Teil des Bestandes einen Minusgewinn, d. h. einen Verlust ergeben kann, wenn die ganzen Generalspesen von dem Teilbetrage abgesetzt werden müssen.
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Hierher gehört auch die sogenannte „Panik des Angebots", ζ. B. von Effekten in Krisenzeiten. Hier hängt oft die wirtschaftliche Existenz der Schuldner davon ab, daß sie genügend Zahlungsmittel erlangen; darum „werfen sie ihre Werte auf den Markt".
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
Dazu kommt verstärkend, daß der Nichtverkauf immer neue Spesen veranlaßt, und zwar nicht nur die allgemeinen Unkosten der ferneren Verwaltung bis zum nächsten Markte, sondern auch oft genug die unmittelbare Aufwendung neuer Transportspesen. Ehe der Bauer sein Korn meilenweit in sein Dorf zurückfährt, ehe der Händler sein Tuch wieder verpackt, ins Lager zurückbringt und auf neue Märkte führt, stößt er es lieber billig ab, und zwar der genau kalkulierende und spekulierende Wirt immer dann, wenn seine Rechnung es wahrscheinlich macht, daß der Gewinn zwischen dem, um die neuen Spesen vermehrten, Herstellungspreise und dem Verkaufspreise auf dem neuen Markte noch geringer oder der Verlust größer sein wird, als der Gewinn oder Verlust auf dem gegenwärtigen Markte. Daraus ergibt sich, daß der Verkäufer seine Ware um so billiger losschlagen wird, je entfernter der nächste Markt räumlich oder zeitlich ist: denn um so größer wird der Zuschlag von Spesen der Verwaltung bzw. des Transportes, den er dem gegenwärtigen Herstellungspreise hinzu zu kalkulieren hat. Ferner ergibt sich, daß Waren von geringerer Transportfähigkeit bei schlechtem Markt zu billigeren Preisen abgestoßen werden müssen, als solche von größerer Transportfähigkeit: der Bauer kann sein Fuder Korn viel eher wieder nach Hause transportieren, als sein Faß Milch; denn die Milch wird ihm voraussichtlich bis zum neuen Markte sauer werden. Vor allem gilt das gleiche aber von Waren von verschiedenem relativen Transportwiderstand - ein Juwelenhändler kann viel eher einen besseren Markt abwarten oder aufsuchen, da Bewahrung und Transport seiner Ware nur relativ wenig Spesen machen, als ein Eisenhändler, der enorme Transportunkosten auf den gegenwärtigen Herstellungspreis aufkalkulieren muß. Und der Eisenhändler steht hierin wieder besser als ζ. B. der Viehhändler, der seine Ware nicht nur bis zum nächsten Markte aufbewahren, sondern auch füttern und pflegen muß. Umgekehrt muß bei überwiegender Nachfrage der Preis steigen, weil die Käufer sich konkurrierend überbieten, als ihr kleinstes Mittel zum größten unter diesen ungünstigen Umständen erreichbaren Erfolge. Am stärksten steigt bei überwiegender Nachfrage natürlich der Preis solcher Waren, die ein drängendes Bedürfnis der Existenz oder der sozialen Notdurft befriedigen sollen, namentlich also des Getreides, und dieser Waren wieder um so mehr, je drängender das Bedürfnis, d. h. je „ausgehungerter" der durchschnittliche Käufer, und je weiter (räumlich oder zeitlich) der nächste Markt entfernt ist.1 Der Engländer Gregor King hat diesen Zusammenhang ziffernmäßig darzustellen versucht. Die von ihm aufgestellte „Kingsche Regel", auch als „Kingsches Gesetz" bezeichnet, galt lange Zeit als unumstößlich, ist aber heute als in dieser Bestimmtheit falsch anerkannt. Sie besagte in ihrer härtesten Fassung, „daß der arithmetischen Progression der Angebots die geometrische des Preises gegenübertritt". Jedenfalls ist daran richtig, daß der Preis des Getreides stärker steigt, als das Angebot sinkt. Daher die zu Zeiten enormen „Notstandspreise" für Nahrungsmittel in Lokalitäten, die von anderen Märkten durch starke Transportwiderstände getrennt sind, namentlich in belagerten Städten oder in Hungerjahren in solchen Bezirken, die schlechte Verbindungsstraßen besitzen. Aus diesem Grunde waren früher in Westeuropa Notjahre sehr häufig: die einzelnen Kantonswirtschaftsgesellschaften waren noch nicht untereinander integriert, allzu große Transportwiderstände verhinderten den Ausgleich der Ernten räumlich getrennter Bezirke. Das gleiche ist noch heute in Rußland und Indien der Fall: In einigen Gouvernements kann die schwerste Hungersnot die Bevölkerung dezimieren, während andere die Uberschüsse einer reichen Ernte auf den Weltmarkt exportieren, mit dem sie bereits durch gute Verbindungswege integriert sind. Ähnliche Verhältnisse verursachen oft einen überhohen und unter unseren Verhältnissen immer einen durchschnittlich steigenden Preis der großstädtischen Wohnungen.
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Hier kommt es bei Hungersnot geradezu zu einer „Panik der Nachfrage" und zu Panikpreisen.
Das Kapital: Erster Abschnitt
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Je tiefer herab in der subjektiven Wertskala eine Ware steht, um so weniger kann ihr Preis durch solche Umstände emporgetrieben werden. Waren des Luxus können nur dann bei geringer Beschikkung des Marktes relativ hohe Preise erhalten, wenn sie die soziale „Notdurft" einer wohlhabenden Klasse befriedigen: das gilt namentlich von gewissen Modeartikeln. Aber, ob zu größerer oder geringerer Höhe: jedenfalls steigt der Marktpreis einer Ware, deren Nachfrage das Angebot überwiegt, und fällt der Marktpreis einer Ware, deren Angebot die Nachfrage überwiegt. Fassen wir beide Fälle unter einen höheren Gesichtspunkt zusammen, so erkennen wir, daß die Preisrelation im wesentlichen abhängt von der relativen Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses·, und diese fanden wir abhängig von dem individuellen Begehr der Tauschbedürftigen nach dem Gegenwert, von der Beschaffenheit des Marktes und von der individuellen Natur der Ware. Von dem individuellen Begehr des Tauschbedürftigen nach dem Gegenwert! Je geringer der Grad seiner Sättigung mit dem Gegenwert, und je höher dieser in der Wertskala seines Bedarfes steht, um so dringlicher ist ihm der Tausch. Von der Beschaffenheit des Marktes! Je höher das Angebot der eigenen Warenart, je geringer das Angebot der begehrten Warenart, und je ferner zeitlich und räumlich der nächste Markt entfernt ist, auf dem bei Berechnung aller Verwaltungs- und Transportspesen ein größerer Vorteil erwartet werden kann, um so dringlicher ist der Tausch. Von der individuellen Natur der Ware! Je höhere aktive und passive Transportaufwände und Verwaltungsaufwände sie bedingt, um so dringlicher ist ihr Tausch. Je dringlicher aber der Tausch, zu um so ungünstigeren Bedingungen muß der Tauschbedürftige abschließen, d. h. einen um so geringeren Gegenwert erhält er: der Verkaufspreis seiner Ware ist nieder, der Kaufpreis des Gegenwertes entsprechend hoch. Die älteren Klassiker haben sich in ihren preistheoretischen Untersuchungen mit weniger als diesen allgemeinen Bewegungsgesetzen genügen lassen. Sie haben im allgemeinen nur das Verhältnis von Angebot und Nachfrage und die Dringlichkeit des Bedürfnisses nach Befriedigungsmitteln höchster Dignität in Betracht gezogen. Indessen kann man, wie es ζ. B. John Stuart Mill gelungen ist,1 dem realen Marktpreise doch durch die Deduktion noch näher kommen, wenn man die Begriffe „Angebot" und „Nachfrage" schärfer faßt. Wir beginnen mit der Bestimmung des Angebots. Als vorhandener Vorrat ist nicht ohne weiteres die gesamte Summe aller von allen Produzenten zu Markte gebrachten Einheiten der beobachteten Ware anzusehen. Sondern es kommt nur das „wirksame Angebot" als Vorrat in Frage, und das schwankt mit dem jeweilig angebotenen Gegenwert auf und ab, und zwar in direkter Proportion; je geringer der angebotene Gegenwert, um so kleiner wird auch die Menge des angebotenen Wertes: denn um so höher steigt die Aussicht, auf dem zeitlich oder räumlich nächsten Markte besser abzuschneiden. Je höher aber der angebotene Gegenwert, um so größer auch die angebotene Menge, denn um so geringer wird die Aussicht, auf dem zeitlich oder räumlich nächsten Markte besser abzuschneiden. Ähnlich steht es mit der kollektiven Nachfrage nach der beobachteten Ware. Als kollektive Nachfrage haben wir bezeichnet die Summe aller individuellen Bedarfe nach ihr, soweit sie „wirksame" Nachfrage sind, d. h. im Rahmen des individuellen Ist-Budgets durch Gegenwerte be-
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V o r ihm hatte schon Sir James Steuart recht deutliche Vorstellungen von diesem Vorgang (Untersuchung über die Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, 2. Auflage, Jena 1913, S. 270.) Gide und Rist (Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen, 2. deutsche Ausg., Jena 1913, S. 408) wollen Cournot die Priorität der Entdeckung zuschreiben.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
schafft werden können. Auch diese Summe schwankt mit dem geforderten Preise der Ware auf und ah, und zwar in umgekehrter Proportion: je höher der geforderte Gegenwert, um so mehr schrumpft die wirksame Nachfrage ein: denn unter diesen Bedingungen können immer mehr Käufer die niederen Stufen der Wertskala des Bedarfs nicht mehr decken; je geringer aber der geforderte Preis, um so mehr wächst die wirksame Nachfrage, denn um so mehr Käufer mit um so mehr deckungsfähigen Teilbedürfnissen sind dann vorhanden. Durch diese Erwägungen wird die stark schematische und etwas krude Auffassung der älteren Theoretik außerordentlich verfeinert. Sie betrachtete Angebot und Nachfrage als feste Größen, deren Verhältnis den Preis bestimmte; das war richtig, aber nicht ausreichend: uns enthüllt sich jetzt die entgegengesetzte Beziehung: der Preis bestimmt seinerseits die Größen von Angebot und Nachfrage und ihr Verhältnis zueinander. Wir haben hier also mit einem Wechselverhältnis zu tun, mit einem Kreisprozeß. In diesem Kreisprozeß bestimmt sich nun der Marktpreis auf gegebenem Markte wie folgt: Wir haben zwei äußerste Punkte des stärksten Mißverhältnisses zwischen wirksamem Angebot und wirksamer Nachfrage. Der eine ist der höchste Preis, gefordert von demjenigen Verkäufer, dem der Verkauf am wenigsten dringlich ist; - am anderen Pole steht der niederste Preis, geboten von demjenigen Käufer, dem der Kauf am wenigsten dringlich ist.1 Bei dem höchsten Forderungspreise übersteigt das Angebot die Nachfrage um den größten möglichen Betrag: denn hier umfaßt das wirksame Angebot alle am Markte vorhandenen Waren, während als Nachfragende zu diesem höchsten Preise vielleicht gar keine Käufer, oder doch nur die Käufer des dringendsten Bedarfs, d. h. mit ihrem dringendsten Teilbedarf, in Betracht kommen. Auf der anderen Seite übersteigt umgekehrt bei dem niedersten Bietungspreise die Nachfrage das Angebot um den größten möglichen Betrag: denn hier umfaßt die wirksame Nachfrage alle, auch die wenigst dringlichen Teilbedarfe aller Käufer, während als Anbietende zu diesem niedersten Preise vielleicht gar keine Verkäufer, oder doch nur die Verkäufer des dringendsten Bedarfs, d. h. mit ihrem dringendsten Teilbedarf nach dem Gegenwerte, in Betracht kommen. Je weiter sich der angebotene, bzw. geforderte Preis von diesen extremen Punkten entfernt, um so geringer wird die Differenz zwischen angebotener und nachgefragter Warenmenge. Das gilt für Forderungs- wie für Bietungspreis. Je tiefer der Forderungspreis sinkt, um so geringer wird das Angebot, weil immer neue Teilmengen der mindest dringlichen Angebote ausscheiden, und um so größer die Nachfrage, weil immer neue Teilmengen geringerer Dringlichkeit zutreten. Und von der anderen Seite her vollzieht sich die gleiche Annäherung der beiden Größen aneinander: je höher der Bietungspreis steigt, um so geringer wird die Nachfrage, weil die Teilmengen der mindest dringlichen Nachfrage ausscheiden, und um so höher das Angebot, weil die Teilmengen geringerer Dringlichkeit zutreten. Die Differenz zwischen wirksamer Nachfrage und wirksamem Angebot wird also immer kleiner, je mehr der Preis sich von einem der extremen Grenzpunkte entfernt. An irgendeiner Stelle wird die Differenz Null: Angebot und Nachfrage decken sich genau. Hier einigen sich die Feilschenden. Bis hierher müssen sie sich „entgegenkommen", wie der treffende Ausdruck lautet. Hier liegt der Indifferenzpunkt des realen Marktpreises. Er kann an keiner anderen Stelle liegen. Bliebe er darüber, so bliebe eine Teilmenge der Ware unverkauft, trotzdem ihr Produzent auch bei einem noch geringeren Preise mit Vorteil (oder mit geringerem Nachteil) verkaufen kann. Und fiele er darunter, so blieben Teilbedarfe unbedeckt, obgleich Konsumenten am Markt sind, die mehr als diesen Preis zu zahlen bereit sind. Diese Inter-
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Diese Punkte erscheinen im Kurszettel der Börsen als Β (Brief) = Angebot, G (Geld) = Nachfrage einer Ware (Effekt oder Produkt), b heißt „bezahlt": effektiver Preis.
Das Kapital: Erster Abschnitt
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essen wirken in der Konkurrenz darauf hin, daß der Marktpreis sich genau auf den Punkt stellt, wo alle Ware losgeschlagen wird, die bei diesem Punkt wirksam angeboten ist, und alle Teilbedarfe bedeckt werden, die bei diesem Punkt wirksam nachfragen. U m die Betrachtung des isolierten Marktes abzuschließen, sei noch darauf aufmerksam gemacht, daß das kollektive Gesamtangebot aller Waren natürlich identisch ist mit der kollektiven Gesamtnachfrage nach allen Waren. Denn jedes personale Angebot von Waren ist Nachfrage nach anderen Waren; jeder ist bestrebt, seinen ganzen Vorrat abzusetzen, um die Gegenwerte zu beschaffen. Es ist daher fast eine Tautologie, mindestens ein analytischer Satz, wenn man sagt, daß eine Ware nur im Preise steigen kann, wenn eine andere sinkt. Denn der Preis ist ja nie etwas anderes als eine bestimmte Menge einer Ware ausgedrückt in einer bestimmten Menge einer anderen Ware, ζ. B. des gemünzten Edelmetalls oder des Tuches oder der Arbeit. Eine Ware steigt im Preise, das heißt: sie wird gegen eine größere Menge einer anderen Ware vertauscht; und das heißt, daß diese andere Ware gesunken ist. Wichtig für die Ö k o n o m i k ist an diesen Zusammenhängen nur eins: wenn die Waren hoher Dignität einen geringen Preis erzielen, bleibt für die Waren niederer Dignität ein großes wirksames Bedürfnis, d. h. wirksame Nachfrage, „Kaufkraft" übrig. Wenn umgekehrt die Kornpreise hoch stehen, leidet der Absatz der Waren geringerer Dignität. Mit diesem Argument haben bei Zollverhandlungen die Gegner des Getreidehochzolles den Bauernstand auf ihre Seite zu bringen gesucht. Der Bauer, sagten sie, sei hauptsächlich Produzent von Vieh und Viehprodukten. Diese aber seien ein Gut, das in der subjektiven personalen Wertskala tiefer stehe als Korn. Wenn man daher das Korn zugunsten der Großlandwirte künstlich verteuere, so bleibe für die bäuerlichen Produkte nur weniger Kaufkraft übrig.
2.2.
Im Zusammenhang der Märkte
Dieses Argument führt uns zu der Betrachtung desjenigen Phänomens, das den Mechanismus der Preisbildung erst völlig enträtseln kann, zum Zusammenhang
der Märkte. Wir haben es auch schon
vorher verschiedentlich gestreift, als wir zeigten, wie stark die Entschlüsse der Kontrahenten durch die räumliche oder zeitliche Entfernung des nächsten Marktes bestimmt werden: Die Möglichkeit, eine schon produzierte Ware auf einem anderen lokalen Markte oder auf demselben Markte zu späterer Zeit noch einmal anzubieten oder nachzufragen, begrenzt das Minimum des Preises, den der Verkäufer akzeptiert, und das Maximum des Preises, den der Käufer bewilligt. Aber ungleich kräftiger wirkt der Zusammenhang der Märkte dadurch auf die Preisbildung des isoliert betrachteten Marktes ein, daß er das Ausmaß der Produktion
selbst
reguliert.
Wir haben bisher das auf unserem isolierten Markte gegebene Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage einer bestimmten Ware als „gegeben" hingenommen, ohne zu fragen, wie es zustande kommt. Das aber ist die wichtigste Frage. Denn dieses Verhältnis ist nur in seltenen Ausnahmefällen durch den sogenannten Zufall bestimmt. Und zwar nur dann, wenn ein neuer Markt für eine auf ihm neue Ware sich öffnet, und nur so lange, wie der Verkäufer diesen Markt monopolistisch beherrscht, indem er das Marktgeheimnis bewahrt oder das rechtliche Monopol erlangt. Ein solcher Markt für Katzen war der von Mäusen und Ratten so arg geplagte Negerstamm, der dem Knaben Whittington seine Katze mit Goldstaub aufwog: aber kaum war die Tatsache bekannt geworden, da wurden schon ganze Schiffsladungen von Katzen nach dem Wunderlande verfrachtet, und die Händler unterboten sich so, daß sie beim Verkauf die Spesen nicht mehr hereinbrachten. Wie in diesem Falle, so reguliert in allen Fällen auf die Dauer und im Durchschnitt die Konkurrenz die „Produktion", d. h. Beschickung der Märkte mit den einzelnen Waren und dadurch wieder das Verhältnis von Angebot und Nachfrage jeder einzelnen Ware, und auf diese Weise ihren Marktpreis.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
a.a. Im räumlichen Zusammenhang Betrachten wir zunächst den räumlichen Zusammenhang. Der Produzent, der ein bestimmtes Quantum seiner Ware absetzen will, hat in der Regel die Wahl zwischen mehreren lokalen Märkten. Erwartet er auf allen den gleichen Preis, so wird er den Markt aufsuchen, dessen Erreichung die Uberwindung der geringsten Transportwiderstände fordert, unter sonst gleichen Umständen also den nächsten. Erwartet er verschiedene Preise, so sucht er denjenigen Markt auf, der ihm die größte Differenz zwischen dem Selbstkosten- und Verkaufspreise verspricht. Diese Erwartung kann ihm aus Erfahrung kommen: er hat zu seinem Schaden oder Nutzen die Erkenntnis erworben, daß ein bestimmter Markt ein kleines oder großes reales Kollektivbedürfnis nach seiner Ware hat; oder er hat unmittelbare Nachricht von einer für ihn günstigen oder ungünstigen Marktlage, einer günstigen oder ungünstigen „Konjunktur" erhalten; oder er „spekuliert" auf Grund ihm zugänglicher Daten auf eine Preiserhöhung, bzw. Preiserniedrigung. Jedenfalls disponiert er auf Grund dieser Erwartung darüber, welchen Markt er aufsuchen wird; er meidet den ungünstigen und sucht den günstigen Markt. Hier haben wir ζ. B. die vornehmste Ursache der „Landflucht" der Landarbeiterbevölkerung; sie sucht den besten Markt der Dienste, wenn sie in die Städte oder über See fortwandert. Hier haben wir ferner die Ursache der sämtlichen Bewegungen an den Börsen: das Kapital verläßt die Teilmärkte eines „Effekt", d. h. eines Anteils an einer Gesamtunternehmung oder einem Gesamtdarlehn, oder eines „Produkts", d. h. einer börsengängigen Ware, deren Preis nach Erwartung fallen wird, und sucht die Märkte solcher Werte, deren Preis nach Erwartung steigen wird. Hier waltet das Prinzip des kleinsten Mittels zum größten Erfolge ungetrübt. „Die Menschen (und die von den Menschen in ihrem Interesse dirigierten und disponierten Waren) strömen vom Orte höheren zum Orte niederen Druckes auf der Linie des geringsten Widerstandes." So habe ich als „Gesetz der Strömung" das alte Gesetz des wirtschaftlichen Selbstinteresses formuliert. Diese Strömung der einzelnen ökonomischen Person zum Orte des geringsten Druckes setzt sich nun für die Kollektivität der ganzen Wirtschaftsgesellschaft um in die Einstellung auf das Niveau des zeitlichen mittleren Druckes. Denn, indem alle von den gleichen Erwartungen zu der gleichen Handlung getrieben werden, gleichen sich Angebot und Nachfrage auf allen zeitlich zusammenfallenden Lokalmärkten eines Warenmarktes in sehr weitgehender Weise aus, so daß der Gewinn der Verkäufer sich überall auf ungefähr das gleiche Niveau einstellt. Lokalmärkte mit geringer Erwartung werden schwach, solche mit hoher Erwartung stark beschickt; daher überwiegt dort die Nachfrage, und der Preis hebt sich, und hier das Angebot, und der Preis fällt. b.b. Im zeitlichen Zusammenhang Noch viel wichtiger als dieser räumliche Zusammenhang zwischen den einzelnen Lokalmärkten eines integrierten Warenmarktes ist ihr zeitlicher Zusammenhang. Der räumliche Zusammenhang gleicht nur die Gewinne zwischen den Verkäufern derselben Ware aus: alle erhalten ungefähr denselben Gewinn oder tragen denselben Verlust. Aber er gleicht nicht den Gewinn zwischen den Verkäufern verschiedener Waren aus. Er kann nicht verhindern, daß ζ. B. die Verkäufer von Korn auf allen Märkten gleichzeitig sehr gute oder sehr schlechte Preise finden, während die Verkäufer von Tuch umgekehrt auf allen Märkten sehr schlechte oder sehr gute Preise finden. Diese Ausgleichung der Preise auf dem Markte im allgemeinen, als dem Inbegriff aller einzelnen Warenmärkte, vollzieht sich durch den Zusammenhang aller Märkte in der Zeit. Bisher hatten wir immer den Verkäufer in demjenigen Augenblick seiner wirtschaftlichen Uberlegung betrachtet, indem er einen bereits beschafften Warenvorrat entweder schon zu Markte gebracht hat oder zu einem von mehreren Märkten zu bringen bereit ist.
Das Kapital: Erster Abschnitt
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Viel wichtiger aber ist die Überlegung des Verkäufers, nicht, auf welchen Markt er die Waren, sondern welche Waren er auf den Markt bringen soll. Mit anderen Worten: welche Waren er, wenn er Selbsterzeuger ist, erzeugen, wenn er Händler ist, kaufen soll, um sie zu „produzieren". Das aber wird in der Hauptsache durch die Einflüsse bestimmt, die von den zeitlich vorangegangenen Märkten herrühren. Hat nämlich eine Ware nicht nur auf einem isolierten Lokalmarkte, sondern auf allen gleichzeitigen Märkten einen hohen Preis gehabt, so werden die Produzenten dafür Sorge tragen, die zeitlich nächsten Märkte reichlicher beschicken zu können, werden also mehr davon erzeugen oder einkaufen. Und umgekehrt werden sie, wenn die Ware einen niederen Preis gehabt hat, dafür Sorge tragen, die zeitlich nächsten Märkte weniger reichlich zu beschicken, werden also weniger davon erzeugen oder einkaufen. Das gilt für alle „Waren": für Dienste, Güter und Machtpositionen. Es gilt vor allem für Güter und Machtpositionen, denn der Ausgleich der Preise für die Dienste vollzieht sich in der Hauptsache im räumlichen Zusammenhang der Märkte, indem ihre Produzenten den günstigeren Markt aufsuchen. In der Hauptsache, aber nicht allein! Er vollzieht sich außerdem auch im zeitlichen Zusammenhang, und zwar entweder in schneller Anpassung an die Marktlage, indem solche Produzenten, die bereits reif sind, aus einem ungünstigeren in einen günstigeren, meistens eng benachbarten Beruf übergehen, für den sie die Qualifikation zu besitzen glauben - und in langsamer Anpassung, indem der Nachwuchs bei der Berufswahl ungünstige Berufe meldet und günstige bevorzugt. Wenn Warnungen vor einer bestimmten Berufswahl oder Anpreisungen einer anderen erscheinen „Was soll der Junge werden?", so wird solche Anpassung beabsichtigt; es soll weniger oder mehr von einer „Dienstware" bestimmter Art „erzeugt" werden. Dieser Prozeß tendiert also auf einen Zustand hin, in dem alle Gewinne aller Produzenten soweit ausgeglichen sind, wie das durch die Konkurrenz erreichbar ist.
ß. Der Marktpreis der Gesamtheit der Waren (Die statische Preisrelation) Wir sind damit auf einen Punkt gelangt, wo es nicht mehr möglich ist, den auf die einzelne Ware gerichteten Blickpunkt festzuhalten. Denn wir haben hier einen Zusammenhang zwischen den mittleren, durchschnittlichen Preisen aller Waren aufgedeckt: sie tendieren sämtlich auf die Punkte hin, wo alle „Gewinne" aller Produzenten soweit ausgeglichen sind, wie das durch die Konkurrenz möglich ist. In diesem Zusammenhang erhält das Wort „Gewinne" nicht einen anderen Inhalt - aber einen anderen Umfang. Es erhält die Bedeutung von „Einkommen". Denn alles Einkommen im Marktverkehr setzt sich ja zusammen aus den Gewinnen, die die ökonomische Person während eines bestimmten Zeitraums am Preise ihrer Waren erzielt. Es ist der Gewinn an der Wareneinheit (d. h. ihr Preis abzüglich der Selbstkosten) multipliziert mit der Zahl der in der betrachteten Zeit verkauften Einheiten. Wenn ζ. B. ein unselbständiger Schuhmachergehilfe täglich sieben Stunden zu 60 Pfennig Stundenlohn beschäftigt ist, so hat er, nach Abzug von 20 Pfennig Kosten für die „Herstellung" seines Produktes, des Dienstes, mittels der Straßenbahn, vier Mark tägliches, vierundzwanzig Mark wöchentliches Arbeitseinkommen und, wenn er dreihundert Tage im Jahr beschäftigt ist, zwölfhundert Mark Jahreseinkommen. Ebenso hoch kommt ein selbständiger Schuhmacher, der an jedem Paar Stiefel durchschnittlich 18 Mark Kosten hat, wenn er jährlich 100 Paar zu 30 Mark, also mit 12 Mark Gewinn das Paar, verkauft. Auf diese Weise strebt der Markt im Prozesse der Konkurrenz dem Punkte seines statischen Gleichgewichts zu, dem „ökonomischen Orte des dauernden mittleren Druckes", wo alle Produzenten genau dasjenige Einkommen genießen, das ihrer persönlichen Qualifikation einerseits - und
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
ihrer sozialen Stellung zu einem Monopolverhältnis (ob Nutznießer oder Opfer) andererseits entspricht. Gleichzeitig aber disponiert der Prozeß der Konkurrenz im zeitlich-räumlichen Zusammenhang der Märkte, durch die Attraktion in begünstigte bzw. die Repulsion aus unbegünstigten Erwerbszweigen, die in der Wirtschaftsgesellschaft verfügbaren Arbeitskräfte und Güter der Beschaffung derart auf die einzelnen Zweige der Herstellung und Erzeugung, daß der Kollektivbedarf genau entsprechend dem realen Kollektivbedürfnis produziert wird. Mit anderen Worten: die Konkurrenz gleicht nicht nur die Einkommen so weit aus, wie ihr das möglich ist, sondern sie löst gleichzeitig auch die Aufgabe der Produktion.
c. Die Hemmungen der Konkurrenz Wir haben die beiden „Hemmungen" der Tendenz zur vollen Ausgleichung der Einkommen kennen gelernt und ihrem ungefähren Begriffe nach bezeichnet: die Qualifikation und das Monopol. Es ist unsere nächste Aufgabe, diese Begriffe mit ihrem ganzen Inhalt zu erfüllen.
1. Die
Qualifikation
Wir haben den Begriff der Qualifikation bereits mehrfach gestreift. Wir haben gesagt, daß von zwei Konkurrenten der Geschicktere und Zähere höher qualifiziert ist. Und wir haben soeben einen Wirt, der normalen Versuchungen mit geringerer Widerstandskraft gegenübersteht als andere, als minder qualifiziert bezeichnet. Qualifikation ist ein relativer Begriff. Er bedeutet die Fähigkeit einer ökonomischen Person, Produkte (Güter oder Dienste), zu Markte zu bringen, die im Verhältnis zu den Produkten anderer Personen ein höheres als deren Einkommen erbringen. In einem weiteren Sinne bedeutet das Wort jede, sowohl die positive wie auch die negative Abweichung von der als Durchschnitt ins Auge gefaßten Einkommensgruppe; im letzteren Falle setzt man aber wohl immer ein erklärendes Wort hinzu: unterdurchschnittlich, minder usw., während der Begriff ohne Zusatz die überdurchschnittliche, höhere Qualifikation bedeutet. Nach der Qualifikation unterscheidet man sowohl ganze Berufsklassen von Produzenten wie auch innerhalb jeder Klasse ihre einzelnen Angehörigen. Man unterscheidet, wie wir bereits ausgeführt haben, die Klassen der unqualifizierten, qualifizierten und hochqualifizierten Produzenten. Unter „unqualifizierten", „ungelernten" Arbeitern versteht man solche, die nichts als ihre mit ungeschulter durchschnittlicher Intelligenz geleisteten Dienste zu Markte zu bringen haben: also Tagelöhner usw. Unter „qualifizierten" Arbeitern versteht man gelernte Handwerker; und „hochqualifiziert" nennt man die Produzenten der höheren Klassen von besonderer Schulung und Begabung. Innerhalb der einzelnen Klassen unterscheidet man wieder „höher-" von „geringer-qualifizierten" Wettbewerbern. Schon derjenige Mensch ist minder qualifiziert, der das objektiv kleinste Mittel zwar kennt, aber aus besonnenem Entschluß nicht anwendet. Er kann nach seiner subjektiven Uberzeugung der Ansicht sein, daß er es nicht anwenden kann, weil seine Kraft oder Widerstandsfähigkeit nicht ausreichen, oder daß er es nicht anwenden darf. Vielleicht irrt er sich in seinen Voraussetzungen. Vielleicht unterschätzt er seine Leistungsfähigkeit oder ist er im Irrtum über die Tragweite der gesellschaftlichen Normen. In solchen Fällen und nicht minder dort, wo jemand das objektiv kleinste Mittel nicht kennt, das ein anderer kennt und anwendet, ist er weniger qualifiziert als jener
Das Kapital: Erster
Abschnitt
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andere, aber er handelt durchaus rationell. Wer besser ein- und verkauft als ein anderer, wer aus seinen Rohstoffen, Maschinen und Arbeitern mehr herausholt als seine Konkurrenten, der ist deshalb nicht um einen Deut mehr economical man als sie: er ist einfach ein höher, und jene sind geringer qualifizierte homines oeconomici. Körperliche
Eigenschaften, die eine höhere Qualifikation darstellen, sind: überlegene Muskel-
kraft, überlegene Gewandtheit, überlegene Sinnesschärfe, überlegene Schönheit, seltene Ausbildung eines Organs, ζ. B. des Kehlkopfes usw.: ein Schmied, der mit dem schwersten Hammer arbeiten kann, ein Weber, der mehr Webstühle bedienen kann, ein Sachverständiger, dessen Sinne geringere Farbenunterschiede (ζ. B. beim Indigokauf) oder Geschmacksunterschiede (ζ. B. beim Weinhandel) wahrnehmen; eine Dirne, die schöner ist als der Durchschnitt, hat höhere Qualifikation. Ich wähle dieses letzte Beispiel absichtlich, erstens, um uns immer wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, daß die Wirtschaft nicht nur mit sachlichen und nun gar mit „wahren" „Gütern" zu tun hat, sondern mit allen kostenden Objekten, die Desirabilität, d. h. nach der subjektiven Ansicht des Bedürfenden die Nützlichkeit besitzen, irgendeines seiner Bedürfnisse zu sättigen; und zweitens, um uns vor dem naheliegenden Irrtum zu schützen, als hätten nur diejenigen Dienste Wert, die „Arbeit" im engeren Sinne, güterschaffende
Arbeit leisten. Das ist nicht der Fall: auch ein Lakai, der zu nichts anderem
gemietet wird, als um in der Livree zu paradieren, leistet einen „Dienst", der um so höher bewertet wird, je höher im Verhältnis zu anderen seine für diesen Dienst erforderliche Qualifikation ist, d. h. in diesem Falle Stattlichkeit der Figur und Regelmäßigkeit des Gesichts. Die überhaupt begehrten Verstandeseigenschaften1
sind gleichfalls um so höher qualifiziert, je sel-
tener sie sind. Es ist überflüssig, hier Beispiele anzuführen. Je mehr ein Mensch durch Geistesgaben unter seinen Mitbewerbern hervorragt, um so seltener und höher ist seine Qualifikation. Dasselbe gilt von seltenen Eigenschaften des Willens. Hierher gehört, streng genommen, bereits der Fall, wo ökonomische Personen von gleicher Körperkraft, Intelligenz oder intensiver beruflicher Schulung mit verschiedener, extensiver „Anspannung" tätig sind. Denn Fleiß und Anspannungsfähigkeit sind hervorragende Qualitäten des Willens. Eine weitere hervorragende Qualität des Willens ist der Mut. Männer von besonderem Mute haben zu allen Zeiten als überdurchschnittlich für den Kriegsdienst qualifiziert gegolten; und diese Qualifikation macht sich auch in friedlichen Berufen geltend. Ein junger Kaufmann, der es wagt, die Filiale in einem Gelbfieber- oder Choleraorte zu übernehmen, hat eine relativ seltene Qualifikation. Und denken wir ferner an die Professionals des Sports, namentlich neuerdings die Flugkünstler, die Zirkusartisten, die Nordpolfahrer usw. Was von dem ehrenhaften Mut gilt, gilt auch von derjenigen Abart des Mutes, die in einer bestimmten Gesellschaft als unehrenhaft gilt. Wer den Mut hat, den Gesetzen zu trotzen, indem er es auf Schafott und Zuchthaus wagt, oder den Mut, der öffentlichen Meinung zu trotzen, indem er es auf ihre Verachtung und seine eigene Ehrlosigkeit wagt, hat eine eben dadurch besonders seltene und hohe Qualifikation. Schließlich hängt die Qualifikation ab von der beruflichen Ausrüstung. Darunter ist zu verstehen: erstlich die berufliche Schulung, die die vorhandenen Eigenschaften des Körpers, Verstandes, Willens zur höchsten erreichbaren Ausbildung entwickelt, und zweitens die Ausstattung im sachlichen Sinne mit den für die Arbeitsleistung erforderlichen Werkgütern. Je länger bzw. kostbarer die gesamte Ausrüstung, um so seltener, d. h. höher qualifiziert ist das Arbeitsvermögen. Man denke an die Eisenrüstung des Hopliten oder die kostbare Rüstung eines mittelalterlichen Ritters und seines Streitrosses.
1
Die allerhöchsten Geisteserzeugnisse finden oft keinen Markt.
488
Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
Nach dem Grade ihrer relativen Seltenheit stufen sich die Einkommen der einzelnen Arbeitskräfte ab, die sich aus ihren „Gewinnen" während einer bestimmten Periode zusammensetzen. Je höher die Qualifikation, um so höher auch der „Einzelgewinn" an der Einheit ihres Produktes. Das gilt für alle Produkte einer höheren Qualifikation, für Dienste sowohl wie für Güter. Wird die Leistung unmittelbar als „Dienst" produziert, so erhält die höhere Qualifikation ihren höheren Gewinn unmittelbar, als Lohn, Salär, Honorar usw. Denken wir an die Honorare eines Caruso, einer Duse, eines Chirurgen von Weltruf, eines Modegeistlichen, eines leitenden Ingenieurs oder Bankdirektors, eines Schachmeisters. Und das gilt für alle, auch für die „unmoralischen" und verbrecherischen Qualifikationen. Die Gewinne der Lockspitzel, Wucherer und Prostituierten würden geringer sein, wenn die Ehrlosigkeit des Gewerbes die Konkurrenz nicht beschränkte. Auf der anderen Seite der Skala steht das um der sozialen Auszeichnung willen stark begehrte unbesoldete „Ehrenamt" und der niedrige Sold hochgeehrter Beamten: letzteres allerdings zumeist ein Kunstgriff der herrschenden Klasse, besonders einflußreiche Verwaltungsstellen faktisch den Ihren vorzubehalten, den einzigen, die sie der Regel nach einnehmen können, weil sie aus dem Monopolgewinn der Klasse ein eigenes arbeitsfreies Einkommen beziehen. Hierher gehört das geringe Gehalt der friderizianischen Offiziere, die prinzipiell nur aus dem Grundadel genommen wurden. Wird aber die Leistung als „Gut" produziert, so erhält die höhere Qualifikation ihren höheren Gewinn in einem dem Grade seiner Seltenheit, seiner „Qualität", entsprechenden Preise. Denn das nur von einer hochqualifizierten Arbeitskraft herstellbare Erzeugnis hat hohe Seltenheit, wie ein seltenes Naturding. Eisen ist an sich ein Naturding von geringer natürlicher Seltenheit: aber von Peter Vischer zu einem Gitter verarbeitet, erlangte es in der Konkurrenz die Seltenheit der nur diesem Meister eigenen Qualifikation. Leinwand, Pinsel und Farben sind an sich Dinge von geringem Werte: aber ein mit und aus ihnen von Tizians Meisterhand erzeugtes Gemälde erlangte die hohe Seltenheit der Qualifikation seines Arbeitsvermögens. Hier ist anzumerken, daß selbstverständlich Naturdinge von hoher natürlicher Seltenheit, wenn sie überhaupt weiter verarbeitet werden, in der Regel auch nur Arbeitern hoher Qualifikation anvertraut werden: der Kunsttischler heißt in Frankreich ébéniste, Ebenholzschreiner. Man kann kostbares Material nicht unqualifizierten Händen anvertrauen. Wir können nunmehr daran gehen, die Höhe des Mehr- bzw. Mindereinkommens zu bestimmen, die die persönliche Qualifikation im Vergleich zum Durchschnitt, also zu einem „ungelernten" Arbeiter von normaler Kraft, Gesundheit und Geschicklichkeit einträgt. Hier läßt sich zunächst für die anerzogene Qualifikation der Zuschlag zum Einkommen exakt berechnen (von einem Abschlag ist hier nicht die Rede). Ein solcher Versuch ist von Karl Marx gemacht worden, und zwar, um seine Arbeitszeittheorie des objektiven Wertes mit der Wirklichkeit in Ubereinstimmung zu bringen. Zu dem Zwecke versuchte er, qualifizierte, von ihm „höhere" oder „komplizierte" genannte Arbeit auf „einfache" zu „reduzieren", d. h. auf den gleichen Generalnenner des Wertes zu bringen. Marx geht bei diesem Versuch der Bestimmung von der Annahme aus, höhere Qualifikation beruhe durchaus auf längerer und kostspieligerer Ausbildung. Das ist für eine Anzahl von Fällen richtig - durchaus nicht für alle. Aber für jene läßt sich der Zuschlag bestimmen. Nehmen wir an, ein normal Qualifizierter entschließe sich zu einer Berufswahl, die ihn erst j Jahre später als den Durchschnitt zum Erwerb gelangen lassen wird. Er gebrauche während der ganzen Zeit an Ausbildungskosten die Summe S und habe dann noch eine Lebenswahrscheinlichkeit von p Jahren. Dann kostet ihn seine Ausbildung j Jahre lang je das statische Einkommen E des normalen Unqualifizierten als entgangenen Gewinn und S. Dieser Aufwand muß in ρ Jahren herauskommen. Folglich muß sein Zuschlag q zum Normaleinkommen E sein:
Das Kapital: Erster Abschnitt
489 ? = j-E - +S Ρ
Hier stehen auf der rechten Seite nur bekannte Größen. E ist unsere Konstante. S ist eine gegebene Geldsumme, die sich aus den statischen Preisen einer Anzahl von Gütern und Diensten zusammensetzt, und ρ ist aus der Absterbetafel abzulesen. Wenn ζ. B. ein Knabe, der Jurist werden will, statt mit 15 Jahren ins Erwerbsleben einzutreten, zehn Jahre studiert, so kostet ihn seine Ausbildung an entgangenem Gewinn 10 £, sagen wir: 30.000 Mark. An unmittelbarem Aufwand seien 15.000 Mark erforderlich, die Lebenswahrscheinlichkeit eines 25jährigen Mannes sei 30. Dann ist der Zuschlag q = 1.500 Mark, und sein Einkommen E + q ist 4.500 Mark. 1 Dieses Ergebnis gilt nun aber nur für die gewiß nicht seltenen, vielleicht überwiegenden Fälle, in denen durchschnittliche Begabung durch Ausbildung zu höherer Qualifikation entwickelt worden ist. Es gilt nicht für die Fälle angeborener höherer oder tieferer Qualifikation. Hier hat jede Arbeitsmengen- und jede Arbeitszeittheorie des Warenwertes ihre Schwäche - freilich keine allzu große Schwäche, wie sich zeigen wird. Smith und Ricardo sind über den Gegenstand leicht fortgeglitten. Sie sprechen vom „Arbeitslohn", wie sie vom „Profit" sprechen, als gäbe es nur einen Satz für jenen wie für diesen, obgleich sie sehr gut wußten, daß es sehr viele Lohnklassen und Profitklassen gibt Diese Leichtherzigkeit dem Problem gegenüber mag zum einen Teil daraus erklärt werden, daß ihre Wertlehre noch nicht zur vollen Bestimmtheit der Vorstellung und Formel gelangt war; zum Hauptteile darf man es wohl darauf zurückführen, daß das Problem der Abweichungen vom „gewöhnlichen Tagelohn" ihnen wenig am Herzen lag, weil es in der Tat gegenüber den großen Hauptproblemen der Distribution sehr nebensächlich ist, ungefähr so nebensächlich wie die Schwankungen des laufenden Preises um den statischen herum. Woran ihnen vor allem lag, war, zunächst einmal im allgemeinen festzustellen, erstens: warum überhaupt das gesellschaftliche Gesamterzeugnis sich in die drei Einkommensarten: Lohn, Profit und Rente spaltet, und zweitens: welche Anteile im ganzen jedes der drei Einkommen empfängt. Wie sich dann jeder Teil unterspaltet an die verschiedenen Arbeiter, Profitbezieher und Grundrentner, war an sich von geringerem Interesse und durfte späterer Untersuchung vorbehalten bleiben. Marx stand den Problemen bereits ganz anders gegenüber. Seine Wertformel ließ an Präzision nichts mehr zu wünschen übrig. Sie war derart auf die an Zeit gemessene Arbeitsmenge zugespitzt, daß der Einwand gar nicht ausbleiben konnte, der Wert der Waren hänge offenbar nicht nur von der Zeit, sondern auch von der Art der darin materialisierten Arbeit ab. Er war daher gezwungen, dem Einwand zuvorzukommen, und entwickelte demgemäß seine Lehre von der „gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeit", indem er „qualifizierte" Arbeit, ungefähr wie wir es soeben getan haben, auf die Arbeitszeitaufwände der Ausbildung zurückführt: „Die Arbeit, die als höhere, kompliziertere Arbeit gegenüber der gesellschaftlichen Durchschnittsarbeit gilt, ist die Äußerung einer Arbeitskraft, worin höhere Bildungskosten eingehen, deren Produktion mehr Arbeitszeit kostet, und die daher einen höheren Wert hat, als die einfache Arbeitskraft." 2 Das trifft aber, wie gesagt, nur für einen Teil der Fälle zu. Marx selbst hat das wohl gefühlt, wie aus der Anmerkung zu der gleichen Seite hervorgeht, wo er selbst zugibt, daß der „Wert der Arbeitskraft" durchaus nicht nur mit der Ausbildung schwankt:
1 2
In der kapitalistischen Gesellschaft müßte man außerdem den Zins für die Ausbildungskosten entsprechend der Zeitdauer aufkalkulieren. Davon kann jetzt noch nicht gehandelt werden; es wird später dargestellt werden. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. I, 4. Auflage, Hamburg 1890, S. 160.
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
„Der Unterschied zwischen höherer und einfacher Arbeit [...] beruht zum Teil auf bloßen Illusionen, [...] zum Teil auf der hilfloseren Lage gewisser Schichten der Arbeiterklassen, die ihnen weniger als anderen erlaubt, den Wert ihrer Arbeitskraft zu ertrotzen."1 Das ist vollkommen richtig, stimmt aber mit der ex professo vorgetragenen Lohnlehre nur sehr unvollkommen überein: Ob „bloße Illusionen" oder nicht, ob sozialer Uberdruck oder nicht: uns ist die empirische Tatsache als unser Ausgangspunkt gegeben, daß auf dem Markte gleiche Zeiten verschiedener Arbeitsleistungen sehr verschieden bezahlt werden, und zwar sehr oft ohne jedes erkennbare Verhältnis zu einer kostspieligen Ausbildung. Es gibt angebotene Qualifikationen, die ohne jede Ausbildung höheren Preis für ihre Dienste erlangen als der Durchschnitt. Wir haben sie soeben betrachtet. Und wo eine Ausbildung dem Erwerb vorausging, hängt das Einkommen offenbar von ihr am wenigsten ab. Für Ärzte, Anwälte, Ingenieure, Architekten, bildende Künstler, Tenore usw. ist Zeit und Aufwand der Ausbildung je ungefähr gleich, sogar mit einem Vorteil für die Begabteren: und dennoch ist deren Einkommen sehr viel größer als das des Durchschnitts. Hier bleibt für jede Arbeitsmengen- und Arbeitszeittheorie des Warenwertes eine Schwierigkeit bestehen.2 Aber, wie schon gesagt, es handelt sich auch für die älteren Lehren um keine allzu ernst zu nehmende Schwierigkeit. Bei näherer Betrachtung zeigt sich nämlich, daß das wichtigste aller Probleme, der statische Konkurrenzpreis der vertretbaren Güter, durch die verschiedene Qualifikation der an ihrer Erzeugung mitwirkenden Arbeit überhaupt nicht berührt wird. In der Statik konkurrieren in allen Zweigen, in denen hoch qualifizierte Kräfte vertretbare Güter erzeugen, durchschnittlich qualifizierte Kräfte mit ihnen. Sie erhalten den statischen Konkurrenzpreis nach unserer Formel - und, da für alle Güter gleicher Art der gleiche Preis gezahlt wird, erhalten ihn auch die Qualifizierteren. Wir haben hier ein genaues Analogon zu den von mir sogenannte „Produktionsmonopolen", von denen sofort zu handeln sein wird. An zweien von ihnen, dem „Erzeugungsmonopol" des von Natur aus ergiebigeren, und dem „Transportmonopol" des dem Markte näher gelegenen Bodens, hat Ricardo den Sachverhalt meisterhaft dargestellt, so daß die Übertragung auf unseren Fall ohne weiteres möglich ist. Genau so wie in der Statik der Preis des Urproduktes immer durch den zur Zeit qualitätslosen „Grenzboden" bestimmt ist, so ist ganz allgemein der Preis jedes Produkts, auch des gewerblichen Gutes, durch die „Grenzqualifikation", d. h. diejenige des Durchschnitts mit dem Einkommen E, oder, wenn es sich um anerzogene höhere Qualifikation handelt, mit dem Einkommen E + q bestimmt, wo q berechnet werden kann.5
1 2
„Diesen Maßstab liefert die Konkurrenz" (Marx, Das Elend der Philosophie, 3. Aufl. Stuttgart 1895, S. 26). Einen Versuch von köstlicher Naivität macht Galiani (zitiert nach: Zuckerkandl, Zur Theorie des Preises, Leipzig 1889, S. 238). Danach soll der Lohn sich bestimmen je nach der Nützlichkeit und Seltenheit der Arbeiten. Wenn von 1.000 Menschen 600 zum Ackerbau allein taugen, 300 zu den Manufakturen, 50 zum Großhandel und 50 zu den Wissenschaften, so wird sich der Lohn der Gelehrten zu dem der Bauern verhalten wie 12 zu 1. Es ist klar, daß diese vermeintliche Ableitung nichts als ein gröblicher Zirkelschluß ist: erst wird aus dem Lohn auf die relative Nützlichkeit und Seltenheit der Arbeit geschlossen, und dann rückwärts aus der Seltenheit wieder auf den Lohn.
3
Ricardo sagt ausdrücklich: „Der Tauschwert aller Güter, seien sie Erzeugnisse der Gewerbe, des Bergbaues oder der Landwirtschaft, wird stets bestimmt [...] durch die größere Menge von Arbeit, welche notwendig auf deren Hervorbringung von denjenigen verwendet wird, die keine solche besondere Geschicklichkeit besitzen und mit der Hervorbringung derselben unter den ungünstigsten Verhältnissen fortfahren." In den Worten „notwendig" und „fortfahren" ist ausgedrückt, daß es sich um eine statische Betrachtung handelt. Bei Ricardo ist kein Wort überflüssig! [Ohne Quellenangabe des Verfassers; A.d.R.]
Das Kapital: Erster Abschnitt
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Wir dürfen daher bei der Bestimmung des statischen Konkurrenzpreises aller vertretbaren Güter den Faktor q vernachlässigen. Was aber den Fall anlangt, daß höher qualifizierte Arbeitskräfte unvertretbare Güter zu Markte bringen, ζ. B. Künstler Gemälde oder Bildwerke, so handelt es sich hier um Singularitäten. Diese aber fallen nicht in unser Forschungsgebiet. Für die großen Probleme der Nationalökonomie sind sie ohne Bedeutung. Dir, soeben gewonnenen Ergebnisse ermöglichen es uns, nun auch für alle, für unsere letzten Probleme wichtigen Dienste den statischen Preis exakt zu bestimmen. Wenn eine höher qualifizierte Kraft1 in der Güterproduktion tätig ist, so hat sie am statischen Preise der vertretbaren Güter Vorteile, die sich genau angeben lassen. Die höhere Qualifikation kann sich entweder darin zeigen, daß ihr Träger in gleicher Zeit bei gleichen Kosten pro Einheit mehr Einheiten zu Markte bringt und verkauft, als sein durchschnittlicher Konkurrent; - oder, daß er gleichviel Einheiten, aber mit geringeren Kosten, zu Markte bringt; - oder schließlich, daß er beides gleichzeitig leistet. Im ersten Fall ist sein Mehreinkommen gleich dem Einzelgewinne des durchschnittlichen Produzenten an der Wareneinheit, multipliziert mit der Mehrziffer der Produktivität. Im zweiten Falle ist sein Mehreinkommen gleich der Kostenersparnis am Einzelprodukt, multipliziert mit der Produktivitätsziffer. Der dritte Fall ist eine Kombination der beiden ersten. Hier sind alle Daten gegeben; die Formeln sind exakt auszurechnen. Derart bestimmt sich der Wert der Arbeit jedes selbständigen Güterproduzenten, der überhaupt vertretbare Güter herstellt. Und genau das gleiche Einkommen muß dem unselbständigen Dienstleistenden gleicher Qualifikation in der Statik gezahlt werden: eher kann die Konkurrenz nicht zur Ruhe kommen. Damit haben wir alles erreicht, was wir für unsere Zwecke brauchen. Den Preis unvertretbarer Dienste zu bestimmen, liegt unserem Forschungsgebiet ebenso fern wie die Bestimmung des Preises unvertretbarer Güter. Auch sie haben nur laufende, aber keine statischen Preise. Auch sie sind für die großen Fragen der Nationalökonomie ohne Bedeutung. Ob ein Caruso für eine Arie zwei- oder fünftausend Dollars erhielt, ob ein Billroth für eine Operation zehn- oder dreißigtausend Mark liquidieren konnte, ist wahrlich für das große Problem der Distribution ohne jeden Belang. Wir halten als wichtigste Ergebnisse unserer bisherigen Untersuchung fest: Der statische Preis aller beliebig vermehrbaren Güter ist rein objektiv bestimmt durch die darauf verwendete Arbeitszeit; die Qualifikation bedingt keine Änderung. Und zwar gilt das nicht nur für die Güter letzter Verwendung, sondern auch für die Produktivgüter und das Edelmetallgeld. Dagegen stellt sich der statische Preis der vertretbaren Dienste von gleicher Arbeitszeit in verschiedener Höhe ein, entsprechend der Qualifikation. Wir können den Zu- oder Abschlag für alle irgend bedeutungsvollen Fälle berechnen, aber die Tatsache besteht.
1
Alles, was wir jetzt von der höher als durchschnittlich qualifizierten Kraft feststellen werden, gilt mit umgekehrtem Vorzeichen auch von der minder qualifizierten. Wir werden fortan der Bequemlichkeit halber nur von der ersten sprechen.
492
Zweiter Teil: Marktwirtschaft
2. Das Monopol A. Zur Geschichte des Begriffs Als die zweite, der Konkurrenz unüberwindbare Hemmung der Tendenz zur vollen Ausgleichung der Einkommen haben wir das Monopol kennen gelernt. Die Lehre vom Monopol ist in der Literatur vor dem Erscheinen meines „Ricardo" und vor allem meiner „Theorie" recht stiefmütterlich behandelt worden.' Eine zusammenhängende Behandlung hatte der Gegenstand meines Wissens nur in dem vortrefflichen Artikel „Monopol" im Handwörterbuch der Staatswissenschaften durch Lexis erfahren. Hier ist der Stoff, so weit er in der bisherigen Literatur vorlag, systematisch in der bei diesem Autor gewöhnten erschöpfenden Weise zusammengefaßt und auf das wertvollste ergänzt worden. Namentlich die von ihm stark betonte Unterscheidung von Ankaufs- und Verkaufsmonopolen hat sich, wie die weitere Betrachtung zeigen wird, als überaus fruchtbar erwiesen.2 Auf der anderen Seite muß festgestellt werden, daß es Lexis nicht geglückt ist, die ganze Fülle des gewaltigen Stoffes auszuschöpfen. „Monopol" heißt ursprünglich „Alleinverkauf" und bezeichnet die wirtschaftliche Machtposition eines Warenbesitzers, der allein über ein dringend begehrtes Produkt verfügt und daher einen Preis realisieren kann, der ihm einen höheren als den durchschnittlichen Gewinn abwirft. Diese alte Wortbedeutung spukt noch immer in der Literatur, obgleich sie theoretisch längst nicht mehr relevant ist. Seit allem Anfang des ökonomischen Denkens erscheint das Monopol im Ursinn des Wortes nur noch als der äußerste Grenzfall einer ganzen Klasse wirtschaftlicher Machtpositionen, die ihren Inhabern gestatten, im Preise ihrer Produkte mehr als den durchschnittlichen Gewinn zu erlangen. Schon der alte Becher faßte „Monopolium, Propolium und Polypolium" in eine Gruppe zusammen.3 Seit Smith und Ricardo ist die Abgrenzung der Monopole von den Nicht-Monopolen grundsätzlich durchaus vollendet wobei bemerkt werden muß, daß angebrachtermaßen sehr wichtige Monopole nicht als solche erkannt worden sind. Seit ihnen unterscheidet man die „beliebig produzierbaren" oder (seit Carey) „reproduzierbaren", „vermehrbaren" Produkte, die unter unbeschränkter Konkurrenz produziert werden, und die daher in der Statik den „natürlichen (statischen) Preis" erbringen, von den nicht beliebig reproduzierbaren oder vermehrbaren, bei deren Produktion die Konkurrenz nicht unbeschränkt wirken kann, und die daher einen höheren als den natürlichen Preis erbringen. Das ist eine disjunctio completa, wenn man den entscheidenden Begriff nur richtig interpretiert. Und so haben auch wir soeben im Abschnitt von den Preisen unterschieden, die erste Gruppe hat „Konkurrenz-", die zweite „Monopolpreise". Das ist in letzter Zeit leider nicht immer geschehen. Die starke Tendenz, die Ökonomik immer mehr nach der Seite der Technologie hin abzudrängen, hat dahin geführt, daß sogar dieser tragende Elementarbegriff der Theoretik verwischt worden ist.
1
[Oppenheimer, David Ricardos Grundrententheorie, in: Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 469-613, derselbe, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, in: System der Soziologie, Bd. ΙΠ, Jena 1923/24; A.d.R.j
2
Seither hat R. Liefmann (Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 41, Heft 1, S. 11 Off.) sich des vernachlässigten Stoffes angenommen. Vgl. unsere im wesentlichen ablehnende Kritik in: Oppenheimer, Wert und Kapitalprofit, [Oppenheimer bezieht sich hier auf die erste und zweite Auflage des Titels, S. 81ff., vergleiche aber auch im vorliegenden Band, S. 2 3 1 - 2 8 6 ; A.d.R.]. Vgl. ferner die v o m Verfasser veranlaßte Frankfurter Dissertation von Egon Zeitlin: „Der Monopolbegriff im vormarxistischen Sozialismus" 1923.
3
Das Propolium ist das Vorkaufsrecht, das Polypolium das Zunftrecht der stadtwirtschaftlichen Verfassung.
Das Kapital: Erster Abschnitt
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„Beliebig reproduzierbare Produkte", das sind solche Produkte, die in jedem Ausmaß produziert werden können, wie der Markt sie aufzunehmen „beliebt", d. h. wie die Käufer bereit und fähig sind, unter Umständen auch höhere Preise für die Einheit zu bewilligen. 1 Das große Beispiel für diese Auffassung stellt die Ricardosche Grundrentenlehre dar: das Urprodukt, das „Getreide", ist auf unabsehbare Zeit hinaus ein beliebig reproduzierbares Gut; zwar muß es fatalerweise teurer werden in dem Maße, wie das vermehrte Bedürfnis der wachsenden Bevölkerung den Anbau auf Böden geringerer Ergiebigkeit drängt: aber zu diesen immer höheren Preisen ist es dann auch immer wieder beliebig produzierbar, d. h. kann in jeder Menge erzeugt werden, die die zahlungsfähigen Konsumenten brauchen. Erst wenn „ein Land in allen seinen Teilen bebaut ist, und zwar im höchsten Grade"2, wird das Getreide Monopolgut·, dann bestimmt nämlich seinen Preis nicht mehr der Beschaffungswert des Grenzproduzenten, d. h. der von ihm gezahlte Arbeitslohn samt dem Aufschlag des normalen Kapitalprofits, sondern dann erhält es darüber hinaus einen dauernden Aufschlag von Monopolgewinn. „Das Getreide und die Roherzeugnisse eines Landes können auf die Dauer nur zu einem Monopolpreise verkauft werden, wenn kein Kapital mehr vorteilhaft auf dem Boden angelegt werden kann, und wenn deshalb ihr Produkt nicht mehr vermehrt werden kann.,ri Man sieht: bis dahin entscheidet nichts anderes als die Aufnahmefähigkeit des Marktes, seine Bereitwilligkeit oder seine Fähigkeit, zusammengefaßt: sein „Belieben". Diese großartigste Anwendung des Prinzips zeigt klar, daß die Klassiker nur zwei Produktklassen zuließen: die beliebig reproduzierbaren und die nicht beliebig reproduzierbaren, die Monopolprodukte. Und so wird die an sich völlig gesicherte Lehre auch von allen späteren besseren Vertretern der klassischen Theorie vorgetragen. Beispiele sind fast überflüssig; sie sind in jedem guten Lehrbuch zu finden. Nur eines sei daher angeführt. Adolph Wagner teilt folgendermaßen ein: „a) Güter mit bestimmt begrenztem Angebot, b) Güter mit beliebiger Vermehrung des Angebots innerhalb der Grenzen der Verfügung von für ihre Produktion erforderlicher Arbeit und Kapital, ,Industrieprodukte', ,Fabrikate', deren Preise dem Gesetz der sinkenden Produktionskosten unterliegen, c) Güter, deren Angebotsvermehrung unmittelbar von der Mitwirkung des Bodens abhängt;,Boden-', besonders ,Agrarprodukte', für deren Preise das Gesetz der,steigenden'Produktionskosten gilt." 4 Wir haben hier scheinbar eine Dreiteilung statt der sonst üblichen Zweiteilung. Aber das beruht nur auf einem falschen Schein. In der Statik sind Industrieprodukte und Agrarprodukte durchaus gleichmäßig als beliebig reproduzierbar aufzufassen: ihr Preis wird gleichmäßig durch die Beschaffungskosten des „Grenzproduzenten" bestimmt. 5 Die von Wagner hier gemachte Unterscheidung ist von großer Bedeutung, aber nur für die komparative Statik. Was nun die erste Gruppe anlangt, so zeigt die Aufzählung ihrer Unterarten, daß sie in der Statik mit den Monopolprodukten identisch ist. Wagner führt fünf Arten auf: 1. natürliche Monopolartikel, 2. Rechtsmonopolartikel, 3. „faktische, Quasi-Monopolartikel, auf Grund der faktischen Beherrschung des Marktes durch einen oder mehrere [...] Produzenten oder Händler", 4. Artikel von langer Dauerhaftigkeit ihrer Brauchbarkeit, bei geringem Substanzverlust und relativ kleiner 1
"[W]hich human industry can multiply in proportion to the demand", (Adam Smith, [A Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations], I. Buch, Kap. XI [ohne weitere Quellenangaben des Verfassers; A.d.R.]).
2 3 4 5
Ricardo, Principles [of Political Economics], London u. a. 1923, Kap. XVII., S. 236. Ebenda, S. 235. Wagner, Theoretische Sozialökonomik, Leipzig 1907, S. 243. Wagner schreibt ausdrücklich S. 257: „Auch für die Dauerpreise der Bodenprodukte gilt das Produktionskostengesetz wie bei den Industrieprodukten, um so genauer, je wirksamer allgemein im Verkehr die freie Konkurrenz sich geltend macht."
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Neuproduktion gegenüber vorhandener, als Angebot fungierender Menge (Edelsteine, besonders Edelmetalle als Geldstoff), 5. alle übrigen, auch die regelmäßig produzierten Waren [...] während der Beschränkung auf vorhandene [...] Vorräte. Man erkennt ohne weiteres, daß Nr. 5 der Kinetik und nicht der Statik angehört. Dasselbe gilt für Nr. 4. „Hier", sagt Wagner ausdrücklich auf der folgenden Seite, „gilt zwar für den Dauerpreis das Kostengesetz, aber es setzt sich hier nur sehr langsam durch". Das ist völlig richtig und für die Lehre vom Geldwert von entscheidender Bedeutung, aber für die statische Auffassung irrelevant. Was übrig bleibt, sind, wie man sieht, Monopolprodukte. Diesen Monopolgütern stehen dann also als zweite Kategorie der Statik lediglich die „Güter (Waren) beliebiger Vermehrbarkeit gegenüber [...] Für die Dauerpreise1 dieser Güter gilt das Produktionskostengesetz, um so genauer und um so mehr auch für die jeweiligen Preise2, je mehr freie Konkurrenz unter Produzenten und Anbietern, und zwischen diesen und Nachfragenden sich wirksam erweist."3 Das ist die entscheidende Bedingung, auf die Wagner den größten Wert legt. Das Produktionskostengesetz gilt „nur, wenn und so weit als freie Konkurrenz auf der Angebots- und Nachfrageseite wirklich besteht, und sich voll und gleichmäßig geltend macht"4. Er hat das einmal in meisterhafter Formel geprägt: Freie Konkurrenz besteht dort, wo jeder, der sich an einer Produktion beteiligen will, es auch kann und darf.'' Um diesen monumentalen Satz näher zu erläutern: Wirtschaftspersonen wollen sich an jeder Produktion beteiligen, die in der Kinetik höhere als die durchschnittlichen Gewinne abwirft; können und dürfen sie es, so werden die Preise und Gewinne in der Statik auf den natürlichen Satz gedrängt; können sie es nicht, weil ein Naturmonopol sie hindert - oder dürfen sie es nicht, weil ein Rechtsmonopol sie hindert - so steht der Preis auch in der Statik über dem natürlichen: das Produkt ist ein Monopolprodukt. Dieser klare Sachverhalt ist nun neuerdings durch ein grobes Mißverständnis der Bedeutung des Begriffes beliebig reproduzierbarer Produkte getrübt worden. Schon Diehl hat in seinem RicardoKommentar den Begriff mißverstanden. Er wendet ihn ins Technologische, indem er sagt: „Auch die Güter, deren Produktion nicht irgendwie monopolistisch beschränkt ist, [...] sind in keiner Weise beliebig reproduzierbar. Es gäbe keine Ubervölkerungsgefahr und keine soziale Frage überhaupt, wenn es nur vom Entschlüsse der Menschen, zu arbeiten, abhinge, daß die große Masse der Güter beliebig vermehrt werden könnte." 6 Als wenn der Begriff in der klassischen Literatur jemals so verstanden worden wäre! „Beliebig" heißt wahrlich bei Ricardo nicht „grenzenlos" ohne Rücksicht auf Bedarf und Preis! Aber ihren Gipfel hat diese Verwirrung neuerdings in v. Wiesers Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft erreicht: „Noch heute spricht das deutsche Lehrbuch von den .beliebig vermehrbaren Gütern', zu denen es die Masse der gewerblichen Produkte rechnet, während die landwirtschaftlichen Produkte als ,nicht beliebig vermehrbar' gelten, da ihre Gewinnung durch die besonderen Verhältnisse des Bodens eingeschränkt sei."7
1
Das heißt statische Preise.
2
Das heißt laufende Preise.
3
Wagner, Theoretische Sozialökonomik, S. 250.
4
Ebenda, S. 233.
5
Derselbe, Grundlegung der politischen Ökonomie, Bd. I, Leipzig 1893, S. 174.
6
Diehl, Sozialwissenschaftliche Erläuterungen zu David Ricardos Grundgesetzen der Volkswirtschaft und Besteuerung, Bd. I, Leipzig 1905, S. 17.
7
v. Wieser, Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft, 2. Auflage, Tübingen 1924, S. 166.
Das Kapital: Erster
Abschnitt
495
Wir wissen nicht, welches, „deutsche Lehrbuch" v. Wieser hier im Auge hat. Uns ist keines bekannt, das diese Unterscheidung ohne Unterschied macht. Es sieht fast so aus, als ob v. Wieser die eben angeführten Wagnerschen Sätze mißverstanden hätte. Als Monopol bezeichnen wir also eine gesellschaftswirtschaftliche Machtposition des Inhalts, daß ihr Inhaber, der „Monopolist", im Marktverkehr infolge des Ausschlusses oder der Beschränkunge der freien Konkurrenz einen „Monopolgewinn" erhält; d. h. daß sein Einkommen um einen gewissen Betrag höher ist als das Einkommen anderer Wirtschaftspersonen, die sich nicht der Verfügung über eine solche Machtposition erfreuen, unter sonst gleichen Umständen ist, nämlich bei gleicher Anspannung gleich qualifizierter Arbeitskraft in gleicher Zeit. Aus dieser Definition geht hervor, daß es mißbräuchlich ist, wenn einige1 auch diejenigen persönlichen Eigenschaften unter den Begriff einreihen wollen, die ihren Besitzern ein überdurchschnittliches Arbeitseinkommen gewähren: überlegene Körper- und Geisteskraft, insbesondere seltene Organisationsgabe oder die besonders entwickelte Fähigkeit geschäftlicher Unterhandlungen usw. Das geschieht, um das vorgreifend zu bemerken, um den Kapitalprofit als den Lohn der hochqualifizierten Unternehmerarbeit zu servieren und dadurch zu rechtfertigen: es ist aber eine ganz unzulässige Verwirrung zweier Begriffe, die einander in der Regel ausschließen - denn der Monopolgewinn bedeutet zumeist gerade Abzug vom Arbeitslohn, vom fremden Arbeitseinkommen. Das gesellschaftswirtschaftliche Verhältnis, in dem der Monopolist zu den nicht-begünstigten Personen der Wirtschaftsgesellschaft steht, nennen wir ein „Monopolverhältnis". Es gibt für die Ökonomik zwischen den einzelnen Wirtschaftspersonen keine anderen Beziehungen als diejenigen, die den Marktverkehr betreffen. Hier treten die Personen entweder als Kontrahenten eines Tauschgeschäfts oder als Konkurrenten um ein Tauschgeschäft miteinander in Beziehung. D e m entsprechend gibt es Monopolverhältnisse zu den Kontrahenten und zu den Konkurrenten.
B. Arten des Monopols Wir unterscheiden zunächst natürliche und rechtliche Monopole. „Natürlich" sind diejenigen, die aus der Natur der Länder und der, ungestört durch außerökonomische Gewalt, sich nach ihren eigenen Gesetzen entwickelnden menschlichen Gesellschaft entstehen. Die „rechtlichen" zerfallen in die des Privatrechts und des öffentlichen Rechts. Die ersteren entstehen durch Vortrag von Privatpersonen, ζ. B. auf Einschränkung der Produktion. Die letzteren werden vom Staate „verliehen", ζ. B. Patente, Autorenrechte usw. Bei den meisten Arten haben wir noch „vorübergehende" und „dauernde" Monopole zu unterscheiden. Schließlich unterscheide ich im Gegensatz zu allen meinen Vorgängern zwischen den „Personal-" und den „Klassen-Monopolen". Die ersten bestehen zwischen einzelnen „ökonomischen Personen", seien das nun Individuen oder Kollektivpersonen. Die zweiten bestehen zwischen den Klassen des historischen Klassenstaates.
1
Hier ist Nassau Senior vorangegangen. Man muß Qualifikation und Monopol zwar unter den Oberbegriff der „Hemmungen" der Konkurrenz zusammenfassen, dann aber sehr sorgsam auseinanderhalten. Ich selbst hatte in „Wert und Kapitalprofit" vorgeschlagen, das Monopol als die „sachliche Qualifikation" von der „persönlichen" zu unterscheiden, habe aber den Vorschlag in der zweiten Auflage als irreführend zurückgezogen.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
α. Die Personalmonopole Der Monopolgewinn ist ein Einkommensteil, ein Zuwachs zum normalen Arbeitsgewinn. Unmittelbares Einkommen wächst nur aus Gewinnen am Preise: denn es gibt vom rein ökonomischen Standpunkt aus in der Wirtschaftsgesellschaft nur Tauschende, die zugleich Käufer und Verkäufer von Wertdingen sind. Danach kann also auch der Monopolgewinn nur aus Gewinnen am Preise der „Produkte" fließen, die der Monopolist zu Markte bringt, d. h. in unserer Terminologie „produziert". Der Preis jedes Produktes (Gut oder Dienst) setzt sich, wie bereits ausgeführt, zusammen aus zwei Bestandteilen: den Selbstkosten und dem Gewinn. An jedem dieser Bestandteile kann ein Monopolgewinn (im weiteren Sinn) entstehen, wenn sich der Produzent einer Machtposition erfreut, deren Mehrertrag die Konkurrenz ihm nicht abjagen kann. Wenn die Machtposition darin besteht, daß der Produzent auch in der Statik weniger als den statischen Konkurrenzsatz an Produktionskosten aufzuwenden hat, während im übrigen sich jeder an der Produktion beteiligen kann und darf, der es will, so steht das Produkt auf seinem statischen Konkurrenzpreise, aber der begünstigte Produzent gewinnt an diesem Preise mehr als seine Konkurrenten, und zwar die Differenz zwischen den statischen „Grenzkosten" und seinen individuellen Selbstkosten. Dieser Gewinn heißt Differentialgewinn und der daraus fließende Teil des Einkommens Differentialrente. Diese Machtpositionen nennt Ricardo gelegentlich „eine Art von Monopol", v. Wieser „Monopoloide"; wir werden sie als „Produktionsmonopole" bezeichnen, weil der Gewinn aus den Bedingungen der Produktion hervorgeht. Wenn die Machtposition zweitens darin besteht, daß der Produzent, weil die Konkurrenz nicht unbeschränkt spielen kann, auch in der Statik einen höheren als den statischen Konkurrenzpreis von seinem Kontrahenten erhält, d. h. einen Preis, der über seine Selbstkosten und den ihm nach seiner Qualifikation zustehenden normalen Gewinn hinaus noch einen Aufschlag von weiterem Gewinn auf den statischen Konkurrenzpreis enthält, so besteht ein Monopol im eigentlichen strengen Sinne, das wir als „Tauschmonopol" bezeichnen wollen, weil der Gewinn aus den Tauschbedingungen hervorgeht. Hier steht also im Gegensatz zur ersten Gruppe der Preis auf einem Monopolpreise. Hier nennen wir den „Surplus-Gewinn" des Produzenten „Monopolgewinn", und den daraus fließenden Teil des Einkommens „Monopolrente". Hier werden wir zunächst zwischen dem „ Verkaufs-" und dem „Einkaufsmonopol" zu unterscheiden haben. Das erste besteht dort, wo auf der Seite der, Produkte für Geld anbietenden Person die Konkurrenz nicht oder doch nicht völlig frei spielen kann, und das zweite dort, wo auf der Seite der Geld für Produkte anbietenden Person die Konkurrenz nicht oder doch nicht völlig frei spielen kann. Dort besteht ein Monopol des „Angebots", hier der „Nachfrage". Die beiden Arten des Monopols (im weiteren Sinne) unterscheiden sich also folgendermaßen: Beim Tauschmonopol kommt der Surplusgewinn zustande durch einen Aufschlag auf den statischen Konkurrenzpreis zu Lasten des Kontrahenten. Beim Produktionsmonopol kommt er zustande durch einen Mehrgewinn am statischen Konkurrenzpreise gegenüber den Konkurrenten. Man kann das graphisch folgendermaßen darstellen:
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Das Kapital: Erster Abschnitt
Monopolgewinn Linie des statischen Konkurrenzpreises Normaler Gewinn
Normaler Gewinn
Normaler Gewinn
Differentialgewinn Normale Selbstkosten
I
Subnormale Selbstkosten Π
Normale Selbstkosten
ΠΙ
Figur 1: I. Statischer Preis nicht begünstiger Produkte: Konkurrenzpreis. II. Statischer Preis bei Produktionsmonopol: Konkurrenzpreis. ΙΠ. Statischer Preis bei Tauschmonopol: Monopolpreis.
1.1.
Das Produktionsmonopol
Wir beginnen mit dem Produktionsmonopol, das sich ungezwungen dem Abschnitt von der Qualifikation anschließt. Auch bei ihr kommt ja ein Surpluseinkommen zustande durch Vorteile bei der Produktion, die der durchschnittlich ausgerüstete Grenzproduzent dem höher Begabten in der Konkurrenz nicht abjagen kann; auch hier handelt es sich nicht um einen Aufschlag auf den Konkurrenzpreis der Güter zu Lasten des Kontrahenten, sondern um einen Gewinn am Konkurrenzpreise gegenüber den Konkurrenten. Wir unterscheiden nach den drei Komponenten der Produktionskosten drei Unterarten des Produktionsmonopols: Ersparnis an den Generalunkosten konstituiert das Umsatzmonopol, wie wir es nach dem wichtigsten Fall nennen wollen, an den Spezialkosten das Erzeugungsmonopol, an den Transportkosten das Transportmonopol. a.a. Das Umsatzmonopol Ein natürliches Umsatzmonopol hat jeder Produzent, der aus natürlichen Gründen eine bestimmte Summe von Generalunkosten auf mehr verkaufte Produkte (Güter oder Dienste) verteilen kann, oder, um es auch von der anderen Seite darzustellen, der auf eine bestimmte Menge von Produkten weniger Generalunkosten aufzuwenden hat, als seine Mitbewerber unter sonst gleichen Umständen. In solcher Machtposition gegenüber seinen Mitbewerbern befindet sich namentlich jeder Produzent, der an einer starken Verkehrsader seßhaft ist, wo mehr Kunden vorbeikommen als an anderen Stellen, ζ. B. ein Gastwirt an einer Eisenbahnstation, auf einem Bergpaß, an einer Straßenkreuzung oder Furt oder Fähre, wo die Vorüberkommenden warten müssen; ferner ein Arzt oder Anwalt und dergleichen oder ein Ladenbesitzer an der Hauptstraße oder dem Hauptplatze einer verkehrsreichen Stadt. (Dasselbe gilt für Bettler; es ist bekannt, daß „gute Stellen" an Kirchen usw. zuweilen teuer an Mitglieder der Zunft verkauft werden.) Ein solcher Produzent hat dieselben oder nur wenig mehr Generalunkosten, ζ. B. für Heizung, Beleuchtung, Bedienung usw., verkauft aber viel mehr seiner Produkte als seine Mitbewerber, gewinnt also an jedem Stück einen Überpreis, den Differentialgewinn.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
Solche Verkehrsmonopole sind vorübergehend, ζ. B. in Ausstellungs- oder Feststädten, oder wenn der Verkehr andere Wege einschlägt (Postwirtshäuser verlieren es nach Einführung der Eisenbahn). Sie sind dauernd, wenn sie auf unabänderlichen natürlichen Ursachen beruhen: ein Wirtshaus am Hafen von Hamburg oder London wird wahrscheinlich solange Differentialgewinn abwerfen, wie eine menschliche Gesellschaft höherer Ordnung besteht. Wie durch die Gunst der Lage kann auch durch rechtliche Verleihung ein Verkehrsmonopol dieser Art entstehen. Hierher gehört der Konzessionszwang für Gastwirtschaften, der die Konkurrenz einschränkt, namentlich in alkoholfeindlichen Städten und Gemeinden; die Gemeinde Grunewald bei Berlin duldet nur ein Restaurant, das dadurch eine Art von Monopol genießt. b.h. Das Erzeugungsmonopol Ein natürliches Erzeugungsmonopol hat jeder Produzent, der aus natürlichen Ursachen auf das einzelne Produkt geringere Spezialspesen aufzuwenden hat als seine Mitbewerber unter sonst gleichen Umständen, also an dem Konkurrenzpreise einen Differentialgewinn realisiert. Ein vorübergehendes natürliches Erzeugungsmonopol stellt ζ. B. der Besitz eines Bergwerks dar, das reicher oder leichter zugänglich ist als andere unter sonst gleichen Umständen. Wenn man ζ. B. wie in Gellivara das reichste Eisenerz im Tagebau brechen kann, so hat man ein starkes Monopol gegenüber solchen Erzproduzenten, die ärmere Gruben im Schachtbau ausbeuten. Ein dauerndes natürliches Erzeugungsmonopol ist ζ. B. der Besitz einer Wasserkraft, die dem Betriebsinhaber die Beschaffung von Kohlen zur Maschinenbetreibung erspart. Das wichtigste Beispiel, das für die Theorie von höchster Bedeutung geworden ist, ist das Eigentum an Ackern höherer natürlicher Fruchtbarkeit. Aus diesem Vorteile leitet Ricardo die eine Wurzel der Grundrente ab. Ein privatrechtliches Erzeugungsmonopol kann ζ. B. ein Unternehmer haben, der die Arbeit von Gefangenen vom Staate zu billigem Preise gemietet hat; ein öffentlich-rechtliches hat ζ. B. ein Gewerbe, das Export- oder Fabrikationsprämien erhält, vor seinen Konkurrenten im Auslande. c.c. Das Transportmonopol Ein natürliches Transportmonopol hat jeder Produzent, der aus natürlichen Ursachen auf das einzelne Produkt weniger Transportspesen bis zum Markte aufzuwenden hat als seine Mitbewerber unter sonst gleichen Umständen, also an dem Konkurrenzpreise einen Differentialgewinn realisiert. Vorübergehend war solches Monopol, wenn ein guter Verbindungsweg aufgelassen wird oder verfällt: wenn eine Landstraße eingeht oder eine Eisenbahn aufgegeben werden muß, oder ein Flußarm versandet, auf dem der Produzent bis dahin seine Güter verfrachtet hatte. Dauernd ist es, wenn er einem Markte näher sitzt als seine Mitbewerber. Auch das ist für die Theorie sehr wichtig geworden, weil Ricardo aus diesem Monopol die zweite Wurzel der Grundrente abgeleitet hat. Der Landwirt in solcher Lage gewinnt am Konkurrenzpreise des Urprodukts den Differentialgewinn der Grundrente. Ein öffentlich-rechtliches Transportmonopol hat ein Produzent, der durch Gesetz oder Verleihung in bezug auf seine Transportkosten besser gestellt ist als seine Mitbewerber. Ein solches Monopol kann der Staat durch seine Tarifpolitik auf Eisenbahnen, Flüssen und Kanälen gewissen heimischen Unternehmergruppen gegenüber denen des Auslandes oder anderer Landesteile gewähren. Ein privatrechtliches Transportmonopol stellen ζ. B. die öffentlichen oder heimlichen „Refaktien" (Tarifrabatte) dar, die eine Bahnverwaltung einem großen Kunden gewährt. Wenn Bahn und Unternehmung dem gleichen Konzern angehören, kann das Monopol für die Konkurrenten sehr empfindlich werden.
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Zum Schlüsse sei noch bemerkt, daß selbstverständlich ein einziger Betrieb sich mehrerer oder aller dieser monopolartigen Produktionsvorteile erfreuen kann: ein Landwirt kann ζ. B. auf bestem Boden dicht am Markte sitzen und dabei noch einen vorzüglich gehenden Gastwirtsbetrieb führen, weil sein Haus, schön an Wald und See gelegen, ein beliebter Ausflugsort der Städter ist. 2.2.
Das Tauschmonopol
Das Tauschmonopol ist, wie gesagt, das Monopol eigentlichen, strengen Sinnes. Nur hier spricht man denn auch vom Monopolpreis, von der Monopolrente und dem Monopolverhältnis im eigentlichen Sinne. Das Monopolverhältnis besteht, um auch das noch einmal einzuprägen, darin, daß der eine der beiden Kontrahenten eines Tauschgeschäfts auch auf die Dauer dadurch begünstigt ist, daß auf seiner Seite die Konkurrenz nicht unbeschränkt spielen kann; infolgedessen kann der Preis seines „Produkts" nicht bis auf den statischen Konkurrenzpunkt herangezogen werden, sondern bleibt um einen Monopolgewinn darüber, realisiert einen Monopolpreis. Oder umgekehrt: von der Seite seines nicht begünstigten Kontrahenten aus angesehen, besteht die oben behandelte „einseitige Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses", die ihn zwingt, „unter dem Wert (statischer Konkurrenzpreis) loszuschlagen", wie Marx sich ausdrückt. Hier bestehen keine Schwierigkeiten des Verständnisses, solange man den Begriff „Preis" in seiner korrekten Bedeutung faßt, als „diejenige Menge eines Wertdinges, die man beim Tausch für eine andere Menge eines anderen Wertdinges erhält". Aber es entstehen gewisse Schwierigkeiten, sobald man unter „Preis" den Geldpreis versteht. Dann entsteht der Anschein, als wenn unsere allgemeine Formel fehlerhaft sei, wonach der Monopolgewinn ein Aufschlag auf den statischen Konkurrenzpreis ist. Diese Bestimmung scheint nur zu gelten für das Verkaufsmonopol, wo der Monopolist in der Tat einen Aufschlag in Geld auf den statischen Konkurrenz-Geldpreis erhält, aber nicht für das Einkaufsmonopol. Wenn ein Kontrahent, auf dessen Seite die konkurrierende Nachfrage nicht unbeschränkt spielt, für sein Geld Waren billiger einkauft, als bei freier Konkurrenz geschehen würde, dann scheint doch von einem „Aufschlag" keine Rede zu sein. Aber es ist nur ein falscher Schein, der Schein, den überall der „Geldschleier" über die ökonomischen Dinge breitet, und durch den hindurchzuschauen man verstehen muß. Wenn ein Einkaufsmonopolist „billiger als normal" einkauft, so heißt das nichts anderes, als daß er für eine gegebene Geldsumme mehr Ware erhält als bei freier Konkurrenz geschehen würde: und das heißt nichts anderes, als daß der ihm zufließende Gegenwert einen Aufschlag auf den statischen KonkurrenzPreis enthält, genau so, wie der Verkaufsmonopolist einen Aufschlag gleicher Art erzielt. Man darf eben den Widersinn nicht begehen, vom Geldpreise des Geldes zu sprechen: der Preis des Geldes kann nie anders als in Waren ausgedrückt werden, und wenn der Konkurrenzpreis des Geldes gleich einer bekannten Menge einer bestimmten Ware ist, so ist sein Monopolpreis gleich einer größeren Menge dieser Ware, gerade wie der Monopolpreis einer Ware gleich einer größeren Menge Geldes ist als ihr Konkurrenzpreis. a.a. DieMonopol-„Güter" Aus diesen Erwägungen geht hervor, daß es nur beim Verkaufsmonopol einen Sinn hat, von „Monopolgütern" zu sprechen womit alle diejenigen Wertdinge gemeint sind, die einen Geld-Preis erzielen, also auch „Dienste". Denn beim Einkaufsmonopol erzielen ja die „Güter" nicht einen Mehr-, sondern einen Mindergeldpreis. Wenn man durchaus will, kann man ja auch das Geld als ein „Gut" auffassen, das auf diesem Markt nur unter Beschränkung der Konkurrenz „produziert" wird und daher einen Surplusgewinn realisiert. Aber das erscheint uns als eine überflüssige und künstliche Konstruktion. Beim Verkaufsmonopol aber ist immer ein „Wertding" die „Sache", die das zwischen den Personen bestehende Monopolverhältnis „vermittelt". Und es ist von großer Bedeutung
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festzustellen, unter welchen Umständen die Konkurrenz auf Seiten des Angebots von Wertdingen eingeschränkt werden kann, so daß sie den Charakter als „Monopolgüter" erhalten. Ein Verkaufsmonopol kann entstehen: 1. an unvermehrbaren
Wertdingen, deren dringender Nachfrage kein entsprechendes Angebot
entgegentritt. Und zwar sind hier zwei Fälle auf das sorgfältigste zu unterscheiden: a. an solchen unvermehrbaren Wertdingen, die aus „natürlichen" Gründen nicht in solcher Menge beschafft werden können, daß ihr Preis auf den Konkurrenzpreis herabgeht. Das sind die sogenannte „natürliche
Monopole",
von denen wir oben bereits gesprochen haben;
b. an solchen unvermehrbaren Wertdingen, deren Vorrat zwar an und für sich groß genug ist, um ihren Preis auf dem Konkurrenzpreise zu halten, aber durch Sperrung gegen den Begehr zurückgehalten wird. Das ist die erste Art der „Rechtsmonopole"·,
wir wollen sie mit einem
der „Utopia" des Morus entlehnten Ausdruck als „Oligopole" bezeichnen; 2. an vermehrbaren
Wertdingen, und zwar sind auch hier zwei Unterarten zu unterscheiden:
a. der Mitbewerb wird durch ein vom Staate verliehenes Privileg auf immer oder auf eine gewisse Zeit ausgeschlossen: „Monopol durch Verleihung" oder „öffentlich-rechtliches
Monopol"·,
b. oder der Mitbewerb wird durch Vertrag zwischen den Produzenten eingeschränkt oder ausgeschlossen; der Vertrag enthält die Verpflichtung, das Angebot unter der wirksamen Nachfrage zurückzuhalten, um den Preis über den statischen Konkurrenzpreis zu treiben: „privatrechtliches
Monopol".
Die drei letzten Arten bilden zusammen die Gruppe der Rechtsmonopole, die der Gruppe der Naturmonopole gegenübersteht. Wir werden jetzt diese verschiedenen Arten gesondert betrachten. α.α. Das natürliche Monopol Das natürliche Dienstmonopol
ist sozialökonomisch von sehr geringer Bedeutung, mag aber der
systematischen Vollständigkeit halber mit angeführt werden. Es ist die Verfügungsgewalt über einen dringend bedurften Dienst unter Umständen, die die Konkurrenz anderer Dienstleistender aus nicht rechtlichen Ursachen ausschließen oder beschränken. Der Monopolgewinn stellt sich hier i. d. R . als verbrecherische Erpressung dar. Wenn ζ. B. ein am sonst menschenleeren Ufer in Sicherheit befindlicher Mann einem Ertrinkenden seine Hilfe nur unter der Bedingung einer ungeheuren Belohnung leistet, so erpreßt er den Monopolgewinn eines Monopoldienstes, den „Monopolistenlohn", wie wir ihn nennen wollen, um ihn vom Monopollohn zu unterscheiden, der unter entgegengesetzten Umständen besteht und eine Entlohnung unter dem „pretium justum infimum" darstellt. Ubergroße Honorare berühmter Arzte und Anwälte können zum Teil solche Monopolistengewinne sein; zum anderen Teile sind sie, und in der Regel ganz, Lohn höchst qualifizierter Arbeit. Die Monopole dieser Art gehören ausnahmslos der Kinetik an, kommen in der Statik nicht vor. Das natürliche Gwismonopol ist die Verfügung über ein dringend bedurftes Gut unter Umständen, die die Konkurrenz anderer Produzenten des Gutes aus nicht rechtlichen Ursachen ausschließen oder beschränken. Es kommt in der Kinetik sehr häufig vor; auf jedem Markte befinden sich die Käufer bei überwiegendem Angebot, und die Verkäufer bei überwiegender Nachfrage ihren Kontrahenten gegenüber in der Stellung von Monopolisten; das kann bei Paniken geradezu zur Auswucherung führen; aber unter normalen Umständen werden die Preise doch kinetische Konkurrenzpreise sein, d. h. die Untergrenze des infimum bzw. die Obergrenze des summum nicht überschreiten, so daß man hier nur in einem weiteren Sinne von einem „Monopol" sprechen kann. Viel länger dauernd, aber noch immer der Kinetik angehörig ist das Gutsmonopol, wenn der Verkäufer sein „Marktgeheimnis" zu bewahren versteht, oder so lange er der einzige Besitzer der sämtlichen Fundstellen eines Gutes ist. So ζ. B. hatte das Haus Rothschild lange Zeit das Monopol des Quecksilbers, bis die Erschließung neuer amerikanischer Minen dem ein Ende machte.
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Natürliche Gutsmonopole der Statik sind solche dringend begehrten Güter, bei denen aus dauernden natürlichen Ursachen die Konkurrenz nicht eingreifen kann. Hierher gehören die überall wiederholten Beispiele aller älteren Theorie: der Besitz von Weinbergen, die ein Edelprodukt tragen, und von Schöpfungen verstorbener Großmeister der Kunst, ferner Autographen berühmter Toter, alte Geigen und Möbel, seltene Naturschätze, ζ. B. ein Archäopteryx oder das eine existierende Ei des Äpyornis, das Wasser von Heilquellen, seltene Münzen oder Briefmarken usw. ß.ß. Das Oligopol Als Oligopol wollten wir diejenigen Machtpositionen bezeichnen, die darauf beruhen, daß ein „von Natur aus" im Verhältnis zum Bedarf reichlich vorhandenes unvermehrbares Gut durch Aussperrung seitens der Eigentümer aufgrund ihres Eigentumsrechts künstlich unter der dringenden Nachfrage gehalten wird. Solche Oligopole kommen in der Kinetik namentlich bei einer Teuerung vor, sei es, weil nach einer schlechten Ernte die Zufuhr aus Bezirken besserer Versorgung aus irgendwelchen ökonomischen Gründen unmöglich, die Nahrung also „unvermehrbar" ist, sei es, weil die Zufuhr in eine belagerte Festung oder ein blockiertes Land abgeschnitten ist. Hier kann der Preis weit über das „summum", die Obergrenze des Konkurrenzpreises, auf einen erdrückenden Wucherpreis getrieben werden. In einer ähnlich günstigen Lage befinden sich vorübergehend städtische Eiswerke, wenn eine schwere „Hitzewelle" über das Land zieht. Die New Yorker Eiswerke wurden 1911 mit Recht oder Unrecht beschuldigt, ihre derartig entstandene Machtposition ohne Rücksicht auf die erschreckend steigende Säuglingssterblichkeit ausgebeutet zu haben. Kinetische Oligopole sind auch die sogenannte Corners oder Schwänzen, die auf den Versuch hinauslaufen, eine fungible, börsengängige Ware auszusperren. Der Spekulant kauft im stillen alle „sichtbaren Vorräte" auf und schließt gleichzeitig mit anderen Börsenbesuchern Verträge auf Lieferung zu einem bestimmten Preise und Termine. Wenn der Lieferungspflichtige sich „eindecken will", zeigt es sich, daß keine Ware am Markte ist; seine dringliche Nachfrage schraubt den Preis auf unerschwingliche Höhe, und er muß sich, wenn er es vermag, mit der „Differenz" seine Befreiung aus der „Ecke" (corner) erkaufen, in die er geraten ist. Hier kommt es dann zu den dramatischen Kämpfen zwischen den „bulls" und „bears", d. h. den Haussiers und Baissiers. Ein weit berühmtes, übrigens zuletzt gescheitertes Unternehmen der Art, den Lewis Leiterschen Getreidecorner, hat Norris in seinem „Pit", dem zweiten Teile seines „Epos des Weizens", sehr eindringlich geschildert. Solche Schwänzen in „Produkten" (z. B. Getreide, Kupfer) oder „Effekten" der Fondsbörse sind namentlich in Wallstreet beliebte Mittel der Milliardäre, um gelegentlich an den berüchtigten „schwarzen Tagen" die ganze Börse auszusäckeln. Sie sind aber so alt wie der Kapitalismus: schon die erste Periode des deutschen Kapitalismus im 16. Jahrhundert sah Schwänzen in Kupfer, Pfeffer, Quecksilber und sogar in gemünztem Gelde. Wo ein Gutsmonopol an reichlich vorhandenen Gütern besteht, greifen die Eigentümer gelegentlich auch zu dem Mittel, die Konkurrenz - aber dieses Mal nicht der Personen, sondern der Produkte selbst - dadurch einzuengen, daß sie einen Teil der Erzeugung vernichten. Das sollen die ostindischen Kompanien öfter mit einem Teil der Gewürze getan haben, die ihnen ihre hart ausgebeuteten indischen und javanischen Kulis lieferten, und das gleiche wurde mit Recht oder Unrecht noch im 19. Jahrhundert von der griechischen Regierung in bezug auf überreiche Rosinenernten behauptet. Ein solches (heute zur allgemeinen Praxis gewordenes) Verfahren nennt Effertz nach dem römischen Recht „den Dardanariat" 1 und bezeichnet es als „rentable Destruktion", die er als
1
Vgl. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 2. Auflage, Gießen 1803, §§ 441ff.: „Dardanariat ist unerlaubte Verteuerung der zum Lebensunterhalt notwendigen beweglichen Sachen. Alle Waren, unbewegliche Sachen und Waren des Luxus ausgenommen, sind Gegenstand dieses Ver-
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ein besonders charakteristisches Merkmal der kapitalistischen Wirtschaft der rentablen Produktion gegenüberstellt. Es ist auch theoretisch möglich und vielleicht praktisch vorgekommen, daß Spekulanten dieses unschöne Verfahren gegen die für ihre Zwecke allzu reichlichen Produkte anderer anwenden: nordamerikanische Baumwollspekulanten wurden wenigstens einmal beschuldigt, gewisse Insekten, Baumwollschädlinge, einführen zu wollen, um die Ernte der Südstaaten zu vernichten. So viel von den durch Sperrung entstandenen Monopolen, den Oligopolen der Kinetik. Von unendlich viel größerer Bedeutung ist das große Oligopol der Statik·, der Grund und Boden. Er ist bisher fast regelmäßig für ein „natürliches Monopol" gehalten worden, beruhend darauf, daß das dringend bedurfte Gut in einem im Verhältnis zur Nachfrage unzureichenden Maße vorhanden sei. Er ist aber, wie wir sofort zeigen werden, unzweifelhaft ein Oligopol: der Vorrat ist jetzt und für unabsehbare Zeit hinaus überreich, aber er ist durch das Eigentumsrecht der Oberklasse in der Rechtsform des großen Grundeigentums gegen den Bedarf der Unterklasse gesperrt und dadurch in ein Monopol verwandelt worden. Wenn das alte Recht nicht klüglicherweise die unbeweglichen Sachen ausdrücklich aus dem Tatbestande des Dardanariats ausgeschlossen hätte, so fiele dieses Verfahren unzweifelhaft unter den Begriff jener strafbaren Handlung, wenn nicht der dolus fehlte. Denn der Besitz an Grund und Boden ist ein fast ebenso notwendiges Lebensmittel wie die Nahrung. Hier ist die einzige Stelle, wo die von uns vorgetragene Theorie von der der Klassik in einem entscheidenden Punkte abweicht. Sie wird sofort, in der Lehre von den auf diesem Oligopol beruhenden Klassenmonopolen, noch weiter zu erörtern sein. Ob ein Oligopol an Diensten in der Kinetik entstehen kann, bleibe dahingestellt; uns ist kein Fall bekannt; in der Statik ist es undenkbar, da die Dienste aller Art beliebig produzierbar sind, soweit es sich nicht um Singularitäten handelt, die aber unter das Rubrum der Qualifikation oder allenfalls unter das des natürlichen Dienstmonopols gehören. γ.γ. Das öffentlich-rechtliche Monopol Das öffentlich-rechtliche oder „verliehene" Dienstmonopol ist zunächst das, gewissen besonders qualifizierten Personen durch Gesetz vorbehaltene Recht auf Ausübung gewisser Dienstleistungen. Das sind approbierte Ärzte, Zahn- und Tierärzte, Hebammen, früher Feldscherer und Kurschmiede, also das gesamte höhere und niedere „Heilpersonal"; ferner Anwälte und vereidete Notare, Patentanwälte, Lehrer aller Stufen, Maurer-, Zimmermeister und Schornsteinfeger, festangestellte Sachverständige und Dolmetscher, vereidete Sensale und Makler usw. Ferner gehören hierher die Dienste, die die öffentlichen Körperschaften ihren Monopolverwaltungen vorbehalten: der Dienst der Nachrichtenübermittlung im Post- und Telegraphen-, zuweilen auch im Telephonwesen, der Dienst der Beförderung von Personen und Gütern im Fahrpost- und Eisenbahnwesen, das von einigen Gemeinden monopolisierte Recht des Straßenbahnwesens usw. Was das öffentlich-rechtliche Gutsmonopol betrifft, so kommen hier zunächst in Frage die, einzelnen Personen verliehenen oder durch Gesetz ohne ausdrückliche Verleihung zustehenden, Rechte auf Ausschluß der Konkurrenz auf eine gemessene Zeit. Zu der ersten Gruppe gehören vor allem Patent und Musterschutz, zu der zweiten die Rechte der Autoren. Man kann hier zweifelhaft sein,
brechens. Wenn die zur Ernährung des Körpers bestimmten Sachen Gegenstand des Verbrechens sind, so heißt es crimen fraudatae annonae." Nach § 443 kann die Handlung geschehen durch bewirkte Seltenheit der Waren, indem man die Zufuhr derselben verhindert oder die Waren aufkauft und unterdrückt (Propolium, Auf- und Fürkauf) oder selbst eigene Früchte zurückbehält, um zur Zeit der Teuerung damit wuchern zu können. Nach § 444 ist das Dardanariat durch Auf- und Vorkauf mit Konfiskation des Vermögens und Landesverweisung zu bestrafen.
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ob man diese Rechte als der Kinetik oder der Statik angehörig ansehen will. So lange das Recht währt, ist es statisch: da es aber befristet ist, ist es auch wieder kinetisch. Wohin es zu rechnen ist, wird von dem Zwecke der gerade unternommenen Untersuchung abhängen. Hierher gehören auch die Privilegien der früheren Handelskompanien. Noch mehr statisch sind die Monopole an Gütern, die die öffentlich-rechtlichen ökonomischen Personen selbst in ihren Monopolverwaltungen produzieren: Salz, Spirituosen, Tabakfabrikate der staatlichen Regale, die Lieferung von Gas, Wasser, Elektrizität usw. durch einige Kommunen. δ.δ. Das privatrechtliche Monopol Wir kommen jetzt zu unserer letzten Gruppe: den Monopolen an beliebig reproduzierbaren Wertdingen, die durch Vertrag der Produzenten entstehen, des Inhalts, daß sie sich verpflichten, die Produktion einzuschränken, um den Preis über den Konkurrenz- auf einen Monopolpreis zu treiben. Hier ist also der privatrechtliche Vertrag der Entstehungs- und Existenzgrund des Monopols; es besteht nur so lange, wie der Vertrag besteht und gehalten wird. Dieser Umstand hat zu einem weitverbreiteten Irrtum Anlaß gegeben, dem sogar ein so vortrefflich theoretisch ausgebildeter Kopf wie Joseph Schumpeter verfallen ist.1 Der Irrtum besteht darin, daß man glaubt, überall dort, wo mehrere Besitzer eines dringend begehrten Gutes vorhanden sind, sei ihre vertragsmäßige Bindung auf eine gemeinsame Produktions- und Preispolitik erforderlich, damit das Produkt über den Konkurrenz- auf einen Monopolpreis getrieben werden könne. Sie wenden diesen Satz vor allem auf das „Oligopol" des Grund und Bodens an und bestreiten mit diesem Argument die von uns aus diesem unserem Kernsatz gezogenen Folgerungen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Anschauung falsch ist. Man braucht nur das charakteristische Oligopol der Kinetik, den Brotwucher in einer blockierten Festung, anzuschauen, um zu erkennen, daß dringende Nachfrage nach unvermehrbaren Waren auch ohne Verabredung der Eigentümer zu einem Monopolpreise führen muß. Es ist die dringende Nachfrage der Käufer, die sich gegenseitig überbieten, die hier den Preis rastlos treibt. Und das gleiche gilt auch für die Statik, und zwar ebensowohl für die natürlichen Monopolgüter, wie für das Oligopol an solchen unvermehrbaren Gütern, die an sich, von Natur aus, überreichlich vorhanden sind. Darüber ist sich denn auch alle gute Theorie einig. Lexis schreibt in seinem oben angeführten Aufsatz: „Das natürliche Monopol beruht auf der natürlichen objektiven Seltenheit des Monopolgegenstandes innerhalb des für die gegebene Nachfrage in Betracht kommenden Verkehrsbereiches. Auch wenn mehrere selbständige Teilnehmer an dem Monopole vorhanden sind,2 so ist doch eine Konkurrenz, wie bei beliebig vermehrbaren Waren, durch die natürliche Beschränktheit der Vermehrbarkeit des Monopolgegenstandes ausgeschlossen [...] Wenn aber eine solche natürliche Grundlage gegeben ist, so werden die sämtlichen Teilnehmer im Bewußtsein dieser Tatsache immer die übereinstimmende Neigung haben, mit dem Preise in die Höhe zu gehen, und es kann dann durch eine stillschweigende Koalition annähernd derselbe vorteilhafteste Punkt erreicht werden, wie in dem Falle einer ausdrücklichen Vereinbarung."3
1
2
3
Vgl. unsere von ihm aufgegebene Diskussion (Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 42, Heft 1, S. 1-88, Bd. 44, Heft 2, S. 487-494 und Bd. 47, Heft 3, S. 866-875, [siehe auch Oppenheimer, Das Bodenmonopol, im vorliegenden Band, S. 105-110; A.d.R.]. Dieselbe falsche Auffassung hat v. Wieser (Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft, Tübingen 1924, S. 249). Vorher hat er geschrieben: „Der Monopolinhaber kann übrigens, statt einer Einzelperson, auch eine Gruppe von mehreren sein, die in ihrer Gesamtheit das Angebot oder die Nachfrage beherrschen und eine einheitliche Preisstatistik befolgen. [Lexis, Artikel: Monopol, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 6; A.d.R.]
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Zuckerkandl schreibt: „Bringt der Monopolist eine bestimmte Menge von Gütern auf den Markt, [...] dann bildet sich der Preis genau so, wie wenn dieselbe Menge von verschiedenen Verkäufern auf den Markt gebracht worden wäre. [...] Entscheidend ist die Menge, die zum Verkaufe bestimmt wird, ,ob aber eine bestimmte Quantität einer Ware von einem Monopolisten allein oder von mehreren Konkurrenten im Anbote zur Veräußerung gebracht wird, hat keinen Einfluß (Menger)'."1 Der Weinberg, der Johannisberger Kabinett trägt, könnte also fünfzig verschiedenen Eigentümern gehören, die nicht miteinander verbündet wären, und dennoch stünde der Wert des Produkts über dem natürlichen Preise; - und dasselbe gilt von allen öffentlich-rechtlichen Verleihungsmonopolen, wo mehrere privilegierte Produzenten miteinander konkurrieren, während der weitere Kreis ausgeschlossen ist; die Zunftmeister einer Kantonswirtschaft der beginnenden Neuzeit konkurrierten untereinander in voller Freiheit, und dennoch stand der Tauschwert ihres Produktes oberhalb des natürlichen Preises. Das wichtigste Beispiel solchen Rechtsmonopols, an dem viele Berechtigte partizipieren, ist das Grundeigentumsrecht unserer Gesetzbücher: Ein ungeheurer Kreis von Monopolisten steht unter sich in voller Konkurrenz, und dennoch erzielt jedes Stück Boden, Substanz wie Nutzung, einen weit über dem natürlichen Werte stehenden Monopolpreis. Denn hier kann nirgend die Kraft eingreifen, die bei allen nicht monopolisierten Waren im zeitlich-räumlichen Zusammenhang aller Märkte den Preis auf den natürlichen Wert fixiert: die durch den hohen Gewinn eines oder einiger Märkte herangelockte Konkurrenz beliebig vieler Außenstehender. Diese unbeschränkte Konkurrenz ist durch den Begriff des Monopols ausgeschlossen; wo sie möglich ist, besteht kein Monopol: aber die beschränkte Konkurrenz zwischen mehreren Monopolisten läßt den Monopolgewinn bestehen. Nach dieser Verwahrung können wir daran gehen, die verschiedenen Unterarten dieser privatrechtlichen Monopole zu betrachten: Was zunächst das privatrechtlich geschaffene Dienstmonopol anlangt, so sind die Gewerkschaften (Gewerkvereine, trade-unions) der Arbeiter der kapitalistischen Gesellschaft der Hauptsache nach Verbände zu dem Zwecke, den Markt der Dienste ihrer besonderen Qualifikation monopolistisch zu kontrollieren mit der gleichen Absicht, die Konkurrenz zwischen ihren Berufsgenossen einzuschränken und dadurch den Lohn über den Konkurrenzpreis zu treiben. Sie suchen das zu erreichen in einigen Fällen durch sehr scharfe Bestimmungen über die Heranziehung neuer „Konkurrenten", d. h. über die Lehrzeit und sonstige Zulassungsbedingungen von Lehrlingen, - die siebenjährige Lehrzeit einiger alter englischer trade-unions: Reste aus der Verfassung der Zunft, die auch ein, und zwar öffentlich-rechtlich konstituiertes Monopol besaß. Im allgemeinen aber, und das ist der Typus der modernen Gewerkschaften, wirken sie auf die ökonomische Seltenheit der Dienste dadurch erhöhend ein, daß sie erstens die „Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses" seitens der Arbeiter herabsetzen, und zwar durch Versicherung gegen Arbeitslosigkeit; - und daß sie zweitens das Angebot zu vermindern bestrebt sind, und zwar durch Unterstützung für Wanderung und Auswanderung. Beide Methoden zusammen erreichen ihren höchsten Wirkungsgrad im organisierten Strike, (Ausstand), der Zurückziehung der Arbeiter in ihrer Gesamtheit vom Markte der Dienste und ihrer Unterstützung durch die aufgesammelten Mittel des Verbandes. Auf der anderen Seite versuchen die Unternehmerkoalitionen, die ökonomische Seltenheit der Dienste durch das Mittel des Lockout, der Aussperrung, zu vermindern, indem sie - einerseits die Nachfrage auf Null reduzieren und andererseits die „Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses" auf der Arbeiterseite dadurch ad maximum vermehren, daß sie alle Arbeiter des Gewerbezweiges, und unter Umständen auch anderer, gleichzeitig auf die Kassen der Gewerkschaften loslassen. 1
Zuckerkandl, Zur Theorie des Preises, Leipzig 1889, S. 381.
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Ganz das gleiche wie in diesen sozusagen akuten Kämpfen und Krisen versuchen sie chronisch durch andere Privatverträge: die Organisationen der Arbeiter zu sprengen, die Konkurrenz zwischen ihnen herzustellen und dadurch den Lohn auf seinen „natürlichen Satz" herabzudrücken. Solche Privatverträge werden entweder zwischen den Unternehmern untereinander - oder zwischen diesen und den Arbeitnehmern abgeschlossen. Die erste Kategorie betrifft das verrufene System der „schwarzen Listen", die mit gewissen geheimen Zeichen versehenen Entlassungs- und „Abkehr"-Scheine, und vor allem die gegenseitige Verpflichtung einer ganzen Kapitalistengruppe, die Arbeiter nur durch Vermittlung eines bestimmten, einseitig von ihren Angestellten geleiteten Arbeitsnachweises anzustellen. Das System liefert jeden Gewerkschaftler und namentlich jeden Führer als „Agitator" ans Messer und muß, wo es gelingt, die Organisation zerstören, das Privatmonopol der Gewerkschaft brechen und den Lohn auf den Preis herabdrücken, den er bei der unbeeinflußten Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses hat. Die zweite Kategorie betrifft solche Verträge zwischen den Unternehmern und den Arbeitnehmern, die diese verpflichten, keiner Gewerkschaft beizutreten oder aus ihr auszuscheiden. Diese Verpflichtung wird oft noch gefestigt durch die sogenannte „Wohlfahrtsunternehmungen" der großen Werke: Arbeiterhäuser, Alters- und Pensionskassen usw. Wer der Gewerkschaft beitritt, „fliegt" und verliert seine Wohnung, oft binnen wenigen Tagen, und jedenfalls alle seine mühselig erworbenen, oft bedeutenden, Anrechte an das Vermögen der Wohlfahrtskassen. Diese „Wohlfahrtseinrichtungen" mit ihrer Tendenz, die Freizügigkeit der Arbeiter dadurch einzuschränken, daß man sie mit materiellen Interessen an die einzelne Unternehmung fesselt, leitet über zu denjenigen Privatverträgen der zweiten Kategorie, die den Lohn unter seinen „natürlichen" Satz dadurch herabzudrücken suchen, daß man die Freizügigkeit einschränkt, indem man den Arbeitnehmer vertragsmäßig verpflichtet, während einer gemessenen Frist nicht „bei der Konkurrenz" in Arbeit zu treten. Das ist die berechtigte „Konkurrenzklausel", die oft genug bei den höheren Angestellten durch ehrenwörtliche Verpflichtung bekräftigt werden muß: ein geradezu infamer Mißbrauch der Zwangslage! Diese Verträge setzen auf das gesellschaftliche Klassen-Monopolverhältnis, das ohnehin schon zwischen den Besitzenden und den Arbeitnehmern besteht, noch ein privatrechtliches „Ubermonopol" - und es ist eine Hauptaufgabe der Gewerkschaften, dieses Ubermonopol zu brechen. Schließlich seien hier noch Verbände erwähnt, die eine Vereinigung von Kapitalisten mit ihren Arbeiterschaften darstellen, die modernen „Alliances". Hier verpflichten sich die Unternehmer, nur Mitglieder des Gewerkvereins anzustellen und die „fair wages", die „anständigen Löhne", der Tarifvereinbarung zu zahlen; dagegen verpflichten sich die Arbeiter, bei keinem „Schleuder-" oder „Schmutzkonkurrenten" Stellung zu nehmen, garantieren also ihrerseits dem Kapitalisten „fair prizes", anständige Preise, Auch hier entsteht ein Monopol, dieses Mal zu Lasten der Konsumenten, das aber unter Umständen ganz segensreich sein mag. U m nun zu dem privatrechtlichen Gutsmonopol überzugehen, so ist es in der letzten Zeit des Hochkapitalismus in Gestalt der „Konventionen", „Ringe", „Syndikate", „Kartelle", „Trusts" von sehr großer, zum Teil gefährlicher Bedeutung geworden, weil dies die Formen sind, in denen das allmächtige „Finanzkapital" namentlich der großen Banken, die unter sich auch wieder kartelliert und syndiziert sein können und oft sind, sich die ganze Gesellschaftswirtschaft und leider auch sehr oft den Staat zu unterwerfen begonnen hat. Diese kapitalistischen Verbände mit der Tendenz zur Monopolisierung des Marktes betreffen fast immer die Produktion von Gütern, und zwar sowohl ihre Erzeugung: Fabrikationsverbände (Halbzeug-, Träger-, Drahtsyndikate usw.), der amerikanische Zuckertrust, Fleischtrust, Petroleumtrust, wie auch ihren Transport und Vertrieb (Handelssyndikate). Sie können in seltenen Fällen von nicht so großer sozialer Bedeutung auch wohl einmal Dienste betreffen: in der Syndizierung von Theatern, Kinos, Zeitungen usw.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
Wie weit es alle diese Verbände durchsetzen können, das Monopol des Marktes zu erlangen und zu bewahren, das hängt von verschiedenen Umständen ab. Vor allem von der Zahl und Macht der „Outsiders", der Außenstehenden. Wenn sie ihre Produktion schnell genug vermehren können, so sind die Innenstehenden die Leidtragenden. Denn diese erfreuen sich zwar zur Zeit ebenfalls höherer Preise an der Wareneinheit, haben aber dennoch einen empfindlich geschmälerten Gesamtprofit, da sie um so weniger absetzen, je mehr die Outsiders verkaufen; und sie ziehen sich auf die Dauer mächtige Konkurrenten groß, die an höheren Preisen bei gesteigertem Absatz fett werden. Darum ist ein Trust oder eine Gewerkschaft kaum möglich in Berufskreisen mit zahlreichen selbständigen Produzenten von Gütern oder Diensten: ein Welt-Getreide-Trust ist undenkbar, und noch nie ist es in der Neuzeit gelungen, eine Gewerkschaft der Unqualifizierten auf die Dauer zusammenzuhalten. Die Zahl der Outsiders ist zu groß, die unter Arbeitern „Blacklegs", „Rauhbeine" heißen. Die Zahl der Outsiders hängt wieder eng zusammen mit der Natur des Produkts. Je höher seine natürliche Seltenheit ist, um so weniger Produzenten und daher mögliche Outsiders gibt es. Produkte wie Weizen und unqualifizierte Dienste sind zu gemein, um monopolisiert werden zu können. Indessen lassen sich doch auch Naturdinge von geringer natürlicher Seltenheit monopolisieren, wenn sie große geographische Seltenheit haben, d. h. wenn sie nur an relativ wenigen Stellen des Planeten, hier aber in großer Menge, gefunden werden. Ein Naturding von geographischer Seltenheit und natürlicher Unseltenheit ist das Petroleum: wären die Fundstellen sehr zahlreich, so könnte der Rockefeller-Trust niemals versucht haben, sie alle „unter eine Kontrolle zu bringen". Mit der Natur des Produkts hängt wieder eng zusammen die Möglichkeit, daß ganz andere Produkte bei einem gewissen Preisstande in die Konkurrenz eintreten. Petroleum kann im allgemeinen nicht über den „Spirituspunkt" oder „Gaspunkt" getrieben werden: von einem gewissen Preise an werden Ersatzmittel konkurrenzfähig. Vor allem aber hängt die Möglichkeit, den Markt zu kontrollieren, von der Stellung ab, die der Monopolsüchtige zum „Klassenmonopol der Staatsverwaltung" hat, ob nämlich der „Staat" das Schwergewicht seiner Macht für oder gegen ihn in die Schale wirft. Ohne die hohen Schutzzölle, mit denen der Staat fremdländische Konkurrenten fernhält, wären die meisten kapitalistischen Monopole harmlos oder unmöglich; wenn der österreichische Staat nicht eingegriffen hätte, hätte Rockefeller seiner Zeit die galizische Petroleumindustrie aufgeschluckt. Ohne den Schutz, den Polizei und stehendes Heer den Kapitalisten gewähren, während sie die Arbeiterverbände drangsalieren und verfolgen, würden die Gewerkschaften die Sondermärkte ihrer Dienste viel wirksamer unter Kontrolle halten. h.b. Der Monopolpreis Zur Erinnerung: wir sprechen von Monopolpreis, Monopolgewinn und Monopolrente nur beim Tauschmonopol, wo der Preis einen Aufschlag über den Konkurrenzpreis hat, nicht aber bei den Produktionsmonopolen, wo die Preise Konkurrenzpreise sind, und die Gewinne Differentialgewinne heißen. Zunächst: Wie bildet sich der Monopolpreis? Nun, das ergibt sich aus unserer allgemeinen Formel des Marktpreises, die natürlich auch für den Marktpreis der statischen Wirtschaft gilt, für den Tauschwert. Derjenige, der mit einem Monopolisten um den Preis kämpft, befindet sich genau in der Lage eines Käufers in der Kinetik, der eine Ware produziert hat, die im Uberangebot vorhanden ist, um dafür eine Ware zu kaufen, die im Unterangebot vorhanden ist. Ein solcher Käufer ist, wie wir wissen, gezwungen, einen geringen Preis zu akzeptieren und einen hohen zu leisten, wie denn überhaupt die Stellung der Tauschenden auf einem isoliert gedachten Markt in der Regel eine Art des Monopolverhältnisses darstellt, in dem der Produzent der relativ (d. h. im Verhältnis zur Nachfrage) seltenen Ware den Monopolisten agiert und den Monopolgewinn einstreicht.
Das Kapital: Erster Abschnitt
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Nur ist dieses Verhältnis bei völlig freier Konkurrenz ein kurz dauerndes, das sich im normalen Verlauf der Dinge im zeitlich-räumlichen Zusammenhange der Märkte umkehren und dadurch auf die Dauer und im Durchschnitt ausgleichen wird. Wo aber die Konkurrenz, weil sie auf die Dauer ausgeschlossen oder doch beschränkt ist, die relative Seltenheit des Monopolwertdinges nicht ausgleichen kann, da ist auch ein dauerndes Monopolverhältnis gegeben, da „ist die Konkurrenz immer auf Seiten der Käufer", wie Ricardo sich ausdrückt, und da steht der Preis dauernd über dem Konkurrenzpreise. Danach bestimmt sich nun die Höhe des Monopolpreises auf das einfachste. Derjenige Punkt, wo sich wirksames Angebot und wirksame Nachfrage genau decken, ist der Preis der Monopolware wie jeder anderen Ware. Der Monopolist ist nicht anders motiviert, wie jeder andere Verkäufer, er strebt nach dem größten Gesamtprofit. Dieser Gesamtprofit ist, wie dargestellt, der Profit an der Wareneinheit, der Einzelprofit, multipliziert mit der Zahl der verkauften Wareneinheiten. Nun wächst der eine Faktor dieses Multiplikationsexempels, der Einzelprofit, wie der Preis; der andere Faktor, die Zahl der verkauften Einheiten, wächst aber umgekehrt wie der Preis; denn, wie wir wissen: je höher der Preis, um so geringer ist die wirksame Nachfrage, je niedriger der Preis, um so höher ist die wirksame Nachfrage. Irgendwo existiert hier ein Optimum des Gesamtprofits - und dieses Optimum ist der statische Preis, ebenso gut für die Monopolware, wie für die Nicht-Monopolware; nur steht diese auf, die Monopolware aber über ihrem Konkurrenzpreise. Wenn nur ein Monopolist die Verfügungsgewalt über die Monopolware besitzt, so ist es seine Aufgabe, dieses Optimum herauszuspekulieren oder allmählich herauszuprobieren. Hinzugefügt muß werden, daß der eine Monopolist, sei es nun eine individuelle oder eine kollektive ökonomische Person, sich diesem Optimum auch dadurch nähern kann, daß er, wie v. Wieser sagt, „die Nachfrage klassifiziert"1. Er stuft seine Leistungen ab. Der Verleger bringt zuerst eine Luxus-, dann eine Volksausgabe heraus, ein Tabakmonopol bietet verschiedene Sorten für die höchste Ausnützung der Kaufkraft der verschiedenen Schichten der Staatsbevölkerung. Oder: ein kapitalistischer Konzern unter Zollschutz verkauft im Inlande teuer und verwendet einen Teil des hier gewonnenen Monopolgewinns zum „Dumping abroad", d. h. zum Verkauf seiner Produkte unter dem auswärtigen Konkurrenzpreise - er zahlt sich selbst aus seinem Inlandsgewinn Exportprämien. Ein anderes Beispiel solcher Abstufung ist die Einrichtung der verschiedenen Eisenbahnklassen. Wenn mehrere Monopolisten in beschränkter Konkurrenz miteinander konkurrieren, so wird eben durch ihren Wettbewerb um den Absatz auf die Dauer und im Durchschnitt das Optimum erreicht. Hier kommen selbstverständlich nur Monopolisten des Naturmonopols, des Oligopois und des öffentlich-rechtlichen Verleihungsmonopols in Frage, nicht aber solche des privatrechtlichen Monopols. Denn diese konkurrieren ja eben nicht miteinander, ihr Vertrag bezweckt ja gerade die Aufhebung der Konkurrenz. Ihr Verband stellt eine einzige „ökonomische Kollektivperson", also einen Monopolisten dar. „Der Monopolwert hängt also nicht ab von einem besonderen Prinzip, sondern ist nur eine bloße Varietät des gewöhnlichen Falles von Nachfrage und Angebot."2 Dort natürlich, wo überhaupt keine Konkurrenz von Seiten des Angebots stattfindet, nicht einmal in der inneren Spekulation des einen Monopolisten, bei der sozusagen mehrere Produkteinheiten um ihren Absatz kämpfen - da ist der Monopolgewinn auch nicht einmal in allgemeinster Formel angebbar. Das ist der Fall bei einer Singularität. Eine solche erhält, wie wir wissen, ein „pretium affectionis", einen „Liebhaberpreis", der von nichts weiter abhängig ist, als von der Schätzung der
1 2
v. Wieser, Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft, S. 276. Mill, Principles of Political Economy, III. Bd., II. Kap., § 5.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
reichsten der um den Kauf konkurrierenden Personen. Wenn heute ein Tizian oder Greco eine Million Dollar bringt, so sind das Liebhaberpreise, die die Wissenschaft nicht bestimmen kann, aber auch nicht zu bestimmen braucht, weil sie keine gesellschaftliche Bedeutung haben. Wir wollen nur das eine bemerken, daß solche Liebhaberpreise eine, absolut betrachtet, enorme Höhe nur in einer Gesellschaft erreichen können, in der die Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtproduktes sehr ungleich ist. Nur die Beteiligung der moderner Multimillionäre an der Konkurrenz um seltene Kunstwerke treibt heute ihren Preis zu Fabelhöhen - in einer Gesellschaft mit gleichmäßiger Verteilung der Einkommen würde er wahrscheinlich sehr viel niedriger sein, da dort in der Regel nur die Kollektivpersonen des öffentlichen Rechtes, die Staaten, Gemeinden usw. als Wettbewerber auftreten könnten. Und ganz unzweifelhaft würden die Preise für gewisse Monopolgüter, z. B. für edle Weine bestimmter Lage, hier um ein viel geringeres den Konkurrenzpreis überschreiten, als heute, wo ihr Besitz das starke Bedürfnis einer überreichen Klasse nach sozialer Auszeichnung befriedigt, d. h. eine viel tiefere Stufe auf der Skala der Dignität bedeckt, als sogar das Bedürfnis hohen Wohlgeschmacks ist. Diese Dinge werden begehrt, weil sie teuer sind, und werden daher immer teurer. 1 U m nach dieser Abschweifung wieder auf die regelmäßig zu Markte gebrachten und vom Markte genommenen Monopolwertdinge zurückzukommen, so stellt sich uns jetzt, nachdem wir die allgemeinen Gesetze der Bildung des Monopolpreises aufgefunden haben, eine zweite Frage: Wie hoch ist der Monopolpreis?
Oder, was dasselbe sagt, wie hoch ist der Monopolgewinn,
der dem uns bekannten Konkurrenzpreise der objektiven Äquivalenz auf die Dauer und im Durchschnitt, also in der Statik, zugeschlagen wird? Das läßt sich mit genügender Genauigkeit bestimmen. Nach unten ist der Monopolpreis selbstverständlich durch den Konkurrenzpreis begrenzt. Wenn er ihn erreicht oder gar unterschreitet, so ist das Monopol keine „gesellschaftswirtschaftliche Machtposition" mehr, ist, wirtschaftlich gesehen, kein Monopol mehr, wie z. B. eines der unzähligen patentierten Güter, die keiner entsprechenden Nachfrage begegnen. Nach oben aber ist der Monopolpreis, wie wir schon andeuteten, begrenzt durch den Konkurrenzpreis der Surrogate und Ersatzmittel. Petroleum ist heute ein Monopolgut, da der Markt fast ganz durch den Rockefeller-Trust und Royal Shell kontrolliert wird; aber, wäre auch gar keine Konkurrenz vorhanden: der Trust könnte den Preis keinesfalls über den „Spiritus-Punkt", „GasPunkt" oder „Elektrizitäts-Punkt" treiben, d. h. den Preispunkt, wo das Lichtbedürfnis der Konsumenten sich an einem Produkt mit einem Konkurrenzpreise befriedigen könnte, der zwar höher ist, als der Preis des Monopolproduktes sich unter den Voraussetzungen freier Konkurrenz stellen würde, aber doch geringer, als der Monopolpreis getrieben werden könnte, wenn eben der Kontrahent das Ersatzmittel nicht hätte. Mithin erkennen wir, daß der Monopolpreis bei allen Monopolgütern, für die Surrogate oder Ersatzmittel existieren, nach oben und nach unten hin durch den Konkurrenzpreis begrenzt wird, nach unten durch den eigenen Konkurrenzpreis, nach oben durch den Konkurrenzpreis des nicht monopolisierten Ersatzmittels. Solche Ersatzmittel existieren aber schon in der Realität notorisch zunächst für alle solchen wichtigeren Monopolgüter, die als letzte Güter der unmittelbaren Verwendung dienen. Noch viel enger als bei den letzten Verwendungsgütern ist schon in der Realität das Maximum des Monopolpreises solcher Güter an den Konkurrenzpreis gebunden, die nicht dem Verzehr, sondern der Beschaffung dienen, der „Produktionsmittel",
wenn sie dazu dienen sollen, solche Produkte
herzustellen, die schon seit längerer Zeit im Markte sind und ihren Konkurrenzpreis haben. Der Monopolpreis solcher Produktionsmittel kann niemals völlig bis zu der Grenze getrieben werden,
1
Vgl. Oppenheimer, Allgemeine Soziologie, in: System der Soziologie, Bd. I, 2. Teilbd., S. 595ff.
Das Kapital: Erster Abschnitt
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wo ihrem Käufer keine Ersparnis mehr übrig bleiben würde: seine Obergrenze ist mithin bestimmt durch den Konkurrenzpreis des fertigen Produktes einerseits und durch die Konkurrenzpreise der bisher verwandten Beschaffungsgüter andererseits. In der Statik aber kann es sich per definitionem um nichts anderes handeln als um Produktivmittel zur Herstellung solcher Güter, die schon längere Zeit im Markte sind und ihren statischen Konkurrenzpreis haben. Nicht eher kann die Konkurrenz zur Ruhe kommen, als bis einem neu als Monopolisten auftretenden Produzenten solcher Produktivmittel, die zur Herstellung neuartiger Produkte bestimmt sind, alle Vorteile abgejagt sind, die nur „Konjunkturgewinne" am laufenden Preise sind, in der Statik aber auf den statischen Monopolgewinn reduziert werden. Das geschieht durch Herstellung von nichtmonopolisierten Ersatz-Produktivmitteln. Mehr noch: der mögliche Monopolpreis der Produktivgüter wird in den meisten Fällen tief unter diesem äußersten Punkte des Konkurrenzpunktes liegen, nämlich überall dort, wo - und das ist ja die Regel - eine Erfindung die Produktivität stark steigert. Hier ist der Monopolist gezwungen, den Preis nicht nur so tief anzusetzen, daß er das mit den älteren Methoden hergestellte Produkt bei den alten Konsumenten verdrängt, sondern viel tiefer, nämlich tief genug, um in der Kinetik so viel neue Konsumenten zu gewinnen und in der Statik festzuhalten, wie er braucht, um seine größeren und kostspieligeren Erzeugungsanlagen auszunutzen. Aus diesem Grunde hätte selbst eine patentbewaffnete Spinnerei der kapitalistischen Anfänge den Preis des Garns tief unter dem Konkurrenzpunkt der Handspinnerei ansetzen müssen; und aus demselben Grunde hat jeder Eisenbahngründer, trotzdem er faktisch, wenn auch nicht immer rechtlich, eine Zeitlang Monopolist war, den Fahrpreis und die Fracht trotz der größeren Geschwindigkeit nach den alten Konkurrenzpreisen der Post oder noch darunter bestimmen müssen: die kostspielige Anlage hätte sich ohne das nicht rentiert. Noch beträchtlich näher, schon zu fast exakter Bestimmbarkeit, können wir dem Monopolpreis bei allen Gütern der Verwendung und Beschaffung dort kommen, wo sich der sogenannte objektive Gebrauchswert messen läßt. Und das ist überaus häufig und wieder gerade bei den wichtigsten Klassen der Produkte der Fall. Wir können die Geschwindigkeit verschiedener Beförderungsmittel für Personen, Güter und Nachrichten exakt messen, können für verschiedene Brennmaterialien den Grad ihrer Heizkraft, für verschiedene Beleuchtungsmaterialien den Grad ihrer Leuchtkraft exakt messend vergleichen, können das gleiche für die Zerreißfestigkeit (ζ. B. bei Transmissionen), Bruchfestigkeit (ζ. B. bei Metallen), Wetterfestigkeit (ζ. B. bei Baustoffen) usw. usw. ausführen: Es ist klar, daß der Monopolpreis von Monopolgütern überlegenen objektiven Gebrauchswertes sich zu dem Konkurrenzpreise von Artikeln geringeren objektiven Gebrauchswertes höchstens verhalten kann, wie der höhere objektive Gebrauchswert zum geringeren. Höchstens! Aus schon angeführten Gründen wird er in der Regel wesentlich tiefer stehen. Gilt das schon von den öffentlich-rechtlichen Monopolen, so gilt es in verstärktem Maße für die privatrechtlichen. Denn hier kommt noch etwas hinzu, was den Monopolpreis noch viel enger an den Konkurrenzpreis bindet, nämlich die mögliche Konkurrenz gleichartiger Produkte. Das privatrechtliche Monopol beruht auf dem Vertrag zwischen Produzenten des gleichen Produktes, die Produktion willkürlich einzuschränken, um den laufenden, und auf die Dauer den statischen Preis über dem Konkurrenzpreise zu halten. Diese Einschränkung hat ihre Grenzen. Die eine haben wir schon in einem anderen Zusammenhange betrachtet: eine gewisse Ausdehnung der Erzeugung ist für jede bestehende Anlage notwendig; sonst wachsen, da die Generalspesen nicht proportional eingeschränkt werden können, die Kosten der Produkteinheit schneller als der Monopolaufschlag auf den Preis, d. h. die Einschränkung bringt Verlust statt Gewinn. Die zweite Grenze besteht nicht für die öffentlich-rechtlichen Monopolprodukte, wohl aber für die privatrechtlichen. Je höher der Monopolist oder Monopolistenverband den Preis über dem
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Konkurrenzpreise festsetzt, um so mehr droht die Gefahr, daß Außenstehende die Konkurrenz aufnehmen und das Monopol sprengen. Mag noch so viel Kapital dazu gehören: ist der zu erhoffende Gewinn nur groß genug, so wird es aufgebracht werden. Darum kann kein noch so starker Trust den Preis seiner Produkte, 1 darum kann keine noch so starke Arbeitergewerkschaft den Preis der Dienste ihrer Mitglieder erheblich hoch über dem Konkurrenzpreis festsetzen. Hier ist die Abhängigkeit noch fester als bei den öffentlich-rechtlichen Monopolen. Wenn wir alles, was wir soeben ausgeführt haben, zusammenfassen, so ergibt sich die Feststellung, daß die Höhe des Monopolaufschlages auf den statischen Preis der Güter in ziemlich engen Grenzen bestimmt ist durch die Möglichkeit der Konkurrenz. Diese Feststellung klingt einigermaßen paradox. Sind denn Monopol und Konkurrenz nicht einander ausschließende Wechselbegriffe? Durchaus nicht. Freie Konkurrenz und Monopol schließen sich aus; aber beschränkte Konkurrenz und Monopol sind miteinander verträglich. Unsere Definition lautet: „Ein Monopol ist eine Vorzugsposition im Preiskampf, beruhend darauf, daß die Konkurrenz nicht völlig frei spielen kann oder darf." Wo die Konkurrenz völlig frei spielen kann und darf, bildet sich der statische Konkurrenzpreis. Wo sie überhaupt nicht spielen kann oder darf, ist dem Monopolpreis keine andere Grenze gesetzt, als in dem Preise, den der „reichste Kaufwerber" bewilligt. Wo sie aber in beschränktem Maße spielen kann oder darf, da verhindert sie zwar das Entstehen eines Monopolpreises nicht ganz, aber hält ihn doch, und zwar ziemlich nahe, am Konkurrenzpreise fest, als seine Funktion. Selbst dort, wo ein Monopol im strengsten Sinne besteht, wo ein einziger Monopolist als Anbieter der Nachfrage gegenübersteht, wirkt, wie gesagt, wenn es sich nicht um Singularitäten, sondern um mehrere Exemplare handelt, auf seine wirtschaftliche Handlung dasjenige ein, was ich oben Konkurrenz mehrerer Produkteinheiten um ihren Absatz genannt habe, nämlich der Wunsch, womöglich alle Exemplare des Vorrates zu verkaufen: das Streben nach dem Optimum. In allen anderen Fällen aber wirkt die „beschränkte Konkurrenz": die faktische Konkurrenz andersartiger Ersatzgüter, namentlich von Produktivmitteln, bei öffentlich-rechtlichen und natürlichen Monopolen, die mögliche Konkurrenz gleichartiger Güter bei den privatrechtlichen Monopolen. Damit haben wir den Zuschlag des Monopolgewinnes mit für unsere Aufgabe genügender Genauigkeit bestimmt. Was nämlich ist unsere Aufgabe? Was ist das Zentralproblem unserer Wissenschaft? Die Aufklärung der Gesetze der Distribution auf die Dauer und im Durchschnitt, und in specie die Erklärung des Kapitalprofits: eine Aufgabe also der Statik. Nun gehören aber alle irgendwie bedeutsamen Monopole nur der Kinetik an. Alle an Privatpersonen verliehenen öffentlich-rechtlichen Monopole, wie die Patente usw., sind befristet, und alle privatrechtlichen Monopole sind labil, weil von der Konkurrenz der Outsiders bedroht, und sind auch faktisch, in der Realität, nur relativ kurzlebig, gehören also im Rahmen der hier gestellten Aufgabe, die sehr lange Perioden ins Auge faßt, nicht der Statik an. Was übrigbleibt, sind die öffentlich-rechtlichen, von den öffentlichen Körperschaften selbst verwalteten Monopole, die keinerlei theoretisches Problem stellen, und die Gruppe der „natürlichen Monopole", die Edelweine und Werke verstorbener Künstler usw. Und für diese gilt allerdings
1
Clark, Economic Studies, Vol. 1 (1896). "The Theory of Economic Progress" sagt: "Up to the limit, at which the latent power of competition is likely to become active, prizes may be raised above a normal level [...] there are remainders of monopoly gain accruing to trusts."
Das Kapital: Erster
Abschnitt
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Ricardos Wort: „Diese machen aber nur einen sehr geringen Teil der Gütermasse aus"; sie können als quantité négligeable behandelt werden. Vor allem aber: nicht der theoretisch unerhebliche, weil nicht problematische, Überprofit des Monopolisten ist das Problem, sondern der normale Profit des mit keinem Personalmonopol ausgestatteten Kapitalisten. c.c. Der Monopoltribut Woher stammt der Monopolgewinn? Die ältere Theoretik hat sich diese Frage meines Wissens niemals vorgelegt. Dafür sind zwei Gründe maßgebend gewesen. Erstens hatte die bürgerliche Theoretik gute Gründe, den Monopolbegriff als eine quantité négligeable zu behandeln. Denn ihre sozialistischen Angreifer bezeichneten das bürgerliche Eigentum regelmäßig als Monopol und die daraus fließenden Einkommen, Grundrente und Kapitalprofit, als Monopolisteneinkommen. Daher lag es im bürgerlichen Klasseninteresse, den Begriff des Monopols ex professo auf einige harmlose Ausnahmen zu beschränken und, wie namentlich Ricardo tat, bei der theoretischen Erörterung im übrigen darüber fortzugleiten. Zweitens aber läßt sich die Frage nach der Herkunft des Monopolgewinnes gar nicht beantworten, so lange man im Bannkreis der relativen Wertvorstellungen, namentlich der Geldpreise bleibt. Wenn ich erfahre, daß jemand ein paar Stiefel für zwanzig Mark verkauft, um für den Erlös ein Monopolgut, z. B. einen Patentartikel zu kaufen, der zwanzig Mark „wert ist", so scheint alles durchaus gerecht und äquivalent. Der Monopolgewinn scheint dann nichts anderes zu sein, als ein harmloser Aufschlag auf den Konkurrenzpreis. Wenn man fragen wollte, woher dieser Aufschlag kommt, d. h. wer ihn in letzter Instanz bezahlt, oder: wo das Minus steckt, das doch schließlich irgendwo das Plus kompensieren muß, dann würde man sich hilflos im Kreise drehen: es tauschen sich immer gleiche „Werte". Dieser täuschende Schein der Äquivalenz kann nur weichen, wenn man mit der Kategorie des absoluten Wertes an die Erscheinungen herantritt, wie ihn uns unsere Lehre von der objektiven Äquivalenz enthüllt hat. Dann zeigt sich z. B., daß das Paar Stiefel und daher die zwanzig Mark den Arbeitswert von je zwanzig Stunden durchschnittlicher Qualifikation, der Patentartikel aber nur von fünf hat, und es tritt klar zutage, daß sich unter der scheinbaren Äquivalenz eine krasse Inäquivalenz verbirgt. Und dann stellt sich die Frage sehr dringend - wer bezahlt den Aufschlag? Das ist ganz klar: den Monopolgewinn des Monopolisten zahlt sein Kontrahent. Was jener als Monopolgewinn mehr, das vereinnahmt dieser als Monopolverlust oder -tribut weniger. Niemals hat vor mir merkwürdigerweise jemand gefragt, auch Marx nicht, was der Kontrahent erhält, wenn er mit einem Monopolisten tauscht. Man hat immer nur beachtet, daß dieser gewinnt, aber niemals, daß jener verliert; daß der Monopolgewinn bei ihm als Monopoltribut erscheint. Wir werden diese Dinge zunächst an dem einen Hauptfall studieren, wo der Kontrahent von dem Monopolisten Güter oder Dienste einkauft. Dann werden wir den zweiten Hauptfall untersuchen, wo der Kontrahent an den Monopolisten Güter oder Dienste verkauft. a.a. Der Monopoltribut der Käufer (Das Verkaufsmonopol) Da das Verkaufsmonopol an Diensten in der Statik kaum vorkommt und wenig Bedeutung hat, sprechen wir im folgenden nur vom Verkaufsmonopol an Gütern. Das Gutsmonopol besteuert immer nur den Konsumenten letzter Verwendungswerte mit dem Monopoltrìbut. Zum leichteren Verständnis wollen wir, entsprechend den alteingebürgerten Ausdrücken „Nominallohn" und „Reallohn", die Begriffe „Nominal-" und „Realeinkommen" einführen. Dann zeigt sich leicht, daß weder das Nominal-, noch das Realeinkommen des Käufers monopolisierter Produktivgüter durch den Monopolgewinn vermindert wird. Er hat den höheren Preis nur
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
„vorzustrecken", aber nicht endgültig zu tragen. Vielmehr erhöht sich sein Kostensatz pro Einheit um den Monopolaufschlag; und sein Einkommen bleibt, in Geld und in Arbeitswertstunden ausgedrückt, also nominal wie real, das gleiche. Der Monopoltribut wird auf seinen Kontrahenten, den Konsumenten des Verwendungsgutes, „abgewälzt". Wenn wir nun diesen „letzten Zehrer" ins Auge fassen, so zeigt sich, daß zwar sein Nominaleinkommen unverändert bleibt, daß aber sein Äea/einkommen vermindert wird, wenn er Monopolgüter kauft. Er erhält für eine Arbeitswertstunde weniger als eine Arbeitswertstunde. Wenn er ζ. B. ein Monopolgut vom statischen Monopolpreise 300 kauft, das genau das Doppelte seines statischen Konkurrenzpreises kostet, so ist sein Realeinkommen nur 2.850 Arbeitswertstunden oder Mark, wenn sein Nominaleinkommen 3.000 ist. Und wenn er unglücklicherweise gezwungen ist, lediglich Monopolgüter zu verwenden, die sämtlich mit 100 Prozent Monopolaufschlag verkauft werden, so ist sein Nominaleinkommen immer noch 3.000, aber sein Realeinkommen ist auf 1.500 gefallen. In dieser Gestalt sieht unser Ergebnis nicht besonders erstaunlich aus. Es bekommt aber ein sehr wunderliches Ansehen, wenn man den Wert der Arbeit des Monopolisten und seines Kontrahenten miteinander vergleicht. Unterstellen wir der Bequemlichkeit halber, der Kontrahent sei gezwungen, alle Güter seines Lebensbedarfes von einem einzigen Monopolisten zu beziehen, der nur ihn als Abnehmer hat. Beide seien durchschnittlich qualifiziert. Der Monopolaufschlag ist 100 Prozent. Dann ist das Realeinkommen des Kontrahenten 1.500, das des Monopolisten 4.500, genau dreimal so groß. Das aber heißt - denn wir messen den Wert der Arbeit ja an dem realen Einkommen, das sie sich beschafft - , daß der Wert der A rbeit des Monopolisten dreimal so groß ist wie der seines Kontrahenten. Das aber ist ein sehr erstaunliches Ergebnis. Per definitionem sind beide Kontrahenten gleich qualifiziert; ihre Leistung, verkörpert in ihren Produkten, ist mithin sachlich durchaus gleich. Und doch ist die eine dreimal so viel wert wie die andere. Der Satz der Identität kommt ins Wanken; der Satz, daß gleiche Dinge auf dem gleichen Markte den gleichen Preis haben müssen, wird durch eine kolossale Ausnahme durchlöchert! Und doch ist unsere Rechnung nicht nur formal, sondern auch material unbestreitbar. Wir wissen, daß es Monopole gibt, daß Monopolgewinne sich realisieren und zu Monopoleinkommen zusammensetzen, und daß es nach der Formel geschieht, die wir gewonnen haben. In der Tat, wir stehen hier vor einer Art von „Hexen-Ein-Mal-Eins", und man könnte fast zu der Vermutung kommen, daß Goethe an den modernen Kapitalismus gedacht hat, als er seine berühmten Verse schrieb „Du mußt verstehn Aus Eins mach Zehn, Und Zwei laß gehn, Und Drei mach gleich, So bist du reich!" Um die Schwierigkeiten leichter zu überwinden, die sich uns hier entgegenstellen, wollen wir uns an einem Tatsachenkomplex orientieren, der ähnlich paradoxe Resultate ergibt und dennoch in seinem Mechanismus völlig klar ist: an der Waage. Das Bild der Waage ist unzählige Male angewendet worden, um die Wirkung der Konkurrenz auf die Bildung des relativen Wertes zu veranschaulichen. Hat doch das Spiel von Angebot und Nachfrage wirklich große Ähnlichkeit mit dem Spiel der Waage bei verschiedener Belastung; namentlich das Verhältnis von laufendem Preis und statischem Preis ist dadurch sehr gut zu illustrieren, nur bei ganz bestimmter Belastung der beiden Schalen steht das Zünglein auf dem Mittelpunkt der Skala, dem statischen Preise, während jede Mehrbelastung auf der Angebots- oder Nachfragesei-
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te es abweichen läßt. Aber der Vergleich läßt sich auch sehr gut für die Veranschaulichung der verschiedenen /Vewbildungsprozesse gebrauchen. Wenn zwei Produzenten gleicher Qualifikation unter freier Konkurrenz tauschen, so vollzieht sich dasselbe, wie wenn auf einer richtigen Waage zwei Dinge gleichen spezifischen Gewichtes gegeneinander ausgewogen werden, etwa zwei Flüssigkeiten. Dann äquilibrieren sich gleiche Gewichte, dargestellt durch gleiche Mengen, ζ. B. Liter. Das entspricht dem Austausch gleicher Arbeitswengen, gemessen an der Zeit, d. h. Arbeitszezre«. Wenn zwei Produzenten ungleicher Qualifikation unter freier Konkurrenz tauschen, so vollzieht sich dasselbe, wie wenn auf einer richtigen Waage zwei Dinge ungleichen spezifischen Gewichts gegeneinander ausgewogen werden, ζ. B. Äther gegen Quecksilber. Dann äquilibrieren sich zwar gleiche Gewichte, aber ungleiche Mengen, in unserem Beispiel ein Liter gegen wenige Kubikzentimeter. Das entspricht dem Austausch gleicher Arbeitswerteinheiten. Wird schließlich unter einem Monopolverhältnis getauscht, so vollzieht sich dasselbe, wie wenn auf einer unrichtigen Waage gewogen wird. Auch eine unrichtige Waage kann so belastet werden, daß der Wiegebalken horizontal, und das Zünglein auf dem Mittelpunkt der Skala steht. Sie kann, brauchen wir das Wort in diesem Sinne, äquilibriert werden. Aber in diesem Falle sind es eben nicht Äquivalente, die sich das Gleichgewicht halten. Auch hier kann man „aus Eins Zehn machen", und das tun wir bekanntlich in der Konstruktion der Dezimalwaage: ein Kilo am langen Arm äquilibriert zehn Kilo am kurzen. Ganz dasselbe gilt für die Marktwaage. Die ganze Schwierigkeit des Wertproblems beruht darin, daß man sich den Markt immer als eine unter allen Umständen richtig funktionierende Waage vorgestellt hat. Er ist eine Waage und funktioniert als solche - aber es gibt eben auch unrichtige Waagen, d. h. solche, auf denen sich Nichtäquivalente dennoch äquilibrieren. Der Wert ist immer der Preispunkt, wo sich zwei Werte äquilibrieren, - aber nicht immer der Preispunkt, wo sie sich äquivalieren. Wo der Markt völlig frei ist, da äquilibrieren sich in der Statik äquivalente Produkte, wo ein Monopol besteht, da äquilibrieren sich nichtäquivalente Produkte. Wenn der Monopolist χ Arbeitswertstunden auf seine Waagschale am langen Hebelarm legt, so muß sein Kontrahent χ + m Stunden auf seine Schale am kurzen Arm legen, damit das Zünglein sich auf den Nullpunkt des statischen Preises einstelle. ß.ß. Der Monopoltribut der Verkäufer (Das Einkaufsmonopol) Bei dem Verkaufsmonopol wird, wie wir sahen, der Kontrahent nur als Konsument besteuert; was er als Produzent an Monopolgewinnen zu bezahlen hat, wälzt er auf den letzten Käufer ab. Bei dem Einkaufsmonopol wird umgekehrt der Kontrahent als Produzent besteuert und hat keine Möglichkeit der Abwälzung auf andere. Das Einkaufsmonopol gegenüber den Güterproduzenten, den Selbständigen, ist im Vergleich zu dem gegenüber den Diensteproduzenten, den Unselbständigen, ohne viel volkswirtschaftliche Bedeutung, kann aber dennoch zu sehr großer privatwirtschaftlicher Ausbeutung führen. Wenn ein selbständiger Güterproduzent gezwungen ist, sein ganzes Arbeitserzeugnis einem Monopolisten oder einer Gruppe von Monopolisten zu verkaufen, so kann er furchtbar leiden. Wir haben krasse Beispiele solcher Lage in der Heimindustrie: die „Weber" Hauptmanns standen unter dem Einkaufsmonopol des Verlegers Dreißiger. In noch großartigerem Stile wurde das Einkaufsmonopol von den nordamerikanischen Lebensmittel-Trusts im Bunde mit den Eisenbahn-Gesellschaften gegen die Korn- und Viehproduzenten des Landes ausgebeutet.1
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Das hat Norris in seinem „Octopus", dem ersten Teile seines „Epos des Weizens", erschütternd dargestellt, [vgl. Norris, The Octopus. The Epic of the Wheat. A Story of California, Leipzig 1901; A.d.R.]
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
W i r studieren den Mechanismus, der uns interessiert, am besten an diesem Einkaufsmonopol gegenüber dem Güterproduzenten, wobei wir sofort feststellen wollen, daß alles davon zu sagende auch von dem Diensteproduzenten, vor allem dem „Unselbständigen" gilt. Hier waltet gegenüber dem Verkaufsmonopol der Unterschied ob, daß nicht nur das Realeinkommen, sondern auch das Nominaleinkommen vermindert ist. Hier zahlt nämlich der Monopolist mit Geld, während er beim Verkaufsmonopol das Geld empfängt. Wenn der amerikanische Trust oder der schlesische Verleger seinen Kontrahenten kraft seines Einkaufsmonopols ihr Produkt für die Hälfte des statischen Konkurrenzpreises abpreßt, um es dann zu seinem eigenen statischen Konkurrenzpreise 1 wieder zu verkaufen, so zahlt er eben nur den halben Geldpreis, und das Verhältnis, das beim Verkaufsmonopol noch undeutlich war, ist hier ganz deutlich. Der Kontrahent erhält nur das halbe Nominaleinkommen seiner Qualifikationsklasse, d. h., wenn er durchschnittlich qualifiziert ist, statt E nur ViE. W i r haben oben den Fall erwogen, wo ein Mitglied unserer statischen Gesellschaft unglücklicherweise gezwungen wäre, seine sämtlichen Verwendungsgüter (Einkommensgüter) mit 100 Prozent Aufschlag auf ihren Konkurrenzpreis von Monopolisten zu kaufen. Dann hätte er zwar das Nominaleinkommen 3.000 Gramm, aber nur ein Realeinkommen von 1.500 Wertarbeitsstunden. Genau in dieser Lage findet sich der Verkäufer von Diensten oder Gütern, der unglücklicherweise gezwungen ist, seine sämtlichen Produkte mit 50 Prozent Abschlag an Monopolisten zu verkaufen. Auch sein Realeinkommen ist nur 1.500 statt 3.000 Gramm: aber auch sein Nominaleinkommen
ist nur 1.500 Gramm. Wir sehen, daß hier überall das „naturrechtlich" an sich ganz legitime, sittlich unanfechtbare Verhältnis des Tausches bzw. Kaufes einen dem Naturrecht widersprechenden Inhalt erhält. Die äußere Form des Vertrages ist die gleiche, wie die des äquivalenten Tausches: aber sein Inhalt ist eben nicht mehr der „gerechte", äquivalente, sondern der „ungerechte" Tausch durch einseitige Festsetzung des Verhältnisses zwischen Wert und Gegenwert unter dem Monopolverhältnis. Derartige Verträge zwischen zwei Kontrahenten, von denen der eine die „Notlage" des anderen ausnutzt, der eines von ihm bedurften Gutes dringend bedarf, nennt man „wucherisch". Im Substantiv heißt die Beschaffungshandlung „Wucher", wenn es sich um Miete und Darlehen handelt, „Ausbeutung", wenn es sich um Dienstverträge handelt. Das Wort bedeutet ursprünglich die wirtschaftlich-legitime Ausbeutung von Naturschätzen (Minen, Forsten usw.), ebenso das von Marx gern gebrauchte Wort „Exploitation". In der Agitation und agitatorischen Schriften nennt man die Monopolisten des Dienstvertrages oft „Ausbeuter" oder „Exploiteure". Hier erschließt sich uns eine Möglichkeit, den Mehrwert abzuleiten, die sich Karl Marx noch verschloß. Er untersucht dort, wo es sich um diese Ableitung handelt, nur den einen möglichen Fall, daß alle Kapitalisten den gleichen Aufschlag auf den Selbstkostenpreis fordern und erhalten, und kann dann allerdings leicht zeigen, daß dabei per Saldo kein Gewinn für einen von ihnen herauskommen kann, weil sie als Käufer verlieren, was sie als Verkäufer gewonnen hatten. Er hat den anderen entscheidenden Fall nicht bedacht, daß ein Teil der Wirtschaftspersonen als Monopolisten mit Aufschlag verkaufen oder mit Abschlag einkaufen kann und darf, der andere Teil, die „freien Arbeiter", aber nicht. 2
1
Das heißt nicht etwa, daß er zu 50 kauft und zu 100 verkauft. Sondern er kauft zu 50 und verkauft zu, sagen wir 125. Denn der statische Preis, den der Wiederverkäufer erhält, ist auch ohne Monopolgewinn höher als der, den der Erzeuger erhält. Er erhält diesen, und darüber den Aufschlag der eigenen Kosten und desjenigen Einkommens, das dem Wiederverkäufer entsprechend seiner Qualifikation zusteht.
2
Auch dieses geschmälerte Nominaleinkommen kann, was vielleicht nicht überflüssig ist zu bemerken, sich als noch stärker verringertes Realeinkommen in Verwendungsgütern verwirklichen, wenn die ökonomische Person nicht ausschließlich beliebig reproduzierbare Produkte zu ihrem Konkurrenzpreise einkauft. Kauft
Das Kapital: Erster Abschnitt
515
Die von ihm selbst gebrachte Erklärung ist unbestreitbar falsch. Sie beruht auf einer Äquivokation mit dem Begriffe „Arbeitskraft".1 Von dem Standpunkt aus, den wir jetzt gewonnen haben, sieht das Problem hoffnungsvoller aus. Wenn es uns gelingt, nachzuweisen, daß die freien Arbeiter mit dem Angebot ihrer Dienste in der Tat immer einem Einkaufsmonopol gegenüberstehen, werden wir das erste Hauptproblem der Distribution völlig gelöst haben, das von der Ursache des Kapitalprofits. Die nächste Frage wird dann die nach seiner Höbe sein. Diesem Nachweis wenden wir uns jetzt zu. Wir werden zeigen, daß die sämtlichen Kapitalisten die Nutznießer von Klassenmonopolen sind. Die freien Arbeiter müssen ihnen ihre Dienste anbieten. Die Folge ist der Mehrwert, der „normale Kapitalprofit".
ß.
Die Klassenmonopole
Die Klassenmonopole sind, wie sich zeigen wird, die eigentlichen Störenfriede der Gesellschaftswirtschaft. Im Vergleich mit ihnen können die Personalmonopole als harmlos bezeichnet werden. Sie verursachen auch in der politischen Ökonomie keine allzugroßen sozialökonomischen Schädigungen.2 Darunter verstehe ich solche Schäden, die größere Gruppen von ökonomischen Personen gleichzeitig auf lange Dauer empfindlich benachteiligen. Das Personalmonopol benachteiligt aber nur einzelne Personen auf längere Zeit, und größere Gruppen nur vorübergehend, in empfindlichem Maße. Und zwar gilt auch das letzte nur von dem Monopol sensu strictissimo, dem Gutsmonopol. Das Produktionsmonopol ist in allen seinen Arten sozialökonomisch sehr harmlos: es gewährt nur einigen Begünstigten Vorteile, die kaum je zum unmittelbaren Schaden einiger Konkurrenten ausschlagen. Und die andere Abart des Tauschmonopols, das Dienstmonopol, trifft gar überhaupt nur Einzelne vorübergehend und gehört eher in die Kriminalistik als in die Ökonomie. Nicht ganz so unschuldig ist das Gutsmonopol, das wir aus diesem Grunde noch etwas näher in seiner kapitalistischen Ausgestaltung betrachten wollen. Hier ist das Monopol an verkäuflichen Verwendungsgütern eine vergleichsweise harmlose Erscheinung. Es ist entweder zeitlich sehr eng begrenzt, nämlich auf Novitäten oder auf vorübergehende Notzeiten eines einzelnen oder einer Gesamtheit: so ζ. B. der Monopolpreis des Getreides in einer Hungersnot oder einer belagerten Stadt. Oder es ist zwar dauernd, aber sachlich sehr eng begrenzt auf eine kleine Gruppe von Gütern, die für den Bedarf der großen Masse nicht in Betracht kommen, von Singularitäten. - Nicht das Personalmonopol, sondern nur das Klassenmonopol bringt es fertig, von notwendigen Verwendungsgütern der großen Masse auf die Dauer den Mono-
sie nämlich außerdem noch als Konsument Monopolprodukte, so sinkt ihr Realeinkommen um den Minderwert in absoluten Werteinheiten unter ihr so bestimmtes Nominaleinkommen, und zwar nach der oben aufgestellten Formel. Auf diese Weise wird das Realeinkommen des Kontrahenten in der Tat sehr oft und empfindlich noch einmal verkürzt, namentlich durch das städtische Bodenmonopol, das ihm seine Wohnung zu einem Monopolpreise vermietet, durch Verteuerung seiner Unterhaltsmittel, durch Zölle und Trusts, und früher durch das jetzt fast überall verbotene System des Truck, das ist der Verkauf von Lebensmitteln, Spirituosen usw. in Läden des Unternehmers an seine Arbeiter. 1 2
Vgl. Oppenheimer, Weder Kapitalismus noch Kommunismus, Jena 1932, S. 116ff. Hasbach sagt in seiner Anzeige zu Diehls „Erläuterungen zu Ricardos Grundgesetzen" (Schmollers Jahrbuch, Neue Folge 36, 1906, S. 380f.): „Nachdem der Fortschritt der theoretischen Forschung zur Erkenntnis der zahlreichen Monopolpreise im System der freien Konkurrenz geführt hat, die daher auch eine breite Ausführung in der Preislehre erfordern, sollte in der Einkommenlehre dem Monopoleinkommen ein besonderer Platz angewiesen werden."
516
Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
polpreis zu erlangen: so die Zölle auf Korn, Fleisch, Baumwolle, die Monopole auf Salz, Tabak, Spiritus usw. Im Gegensatz zu den Verwendungsgütern sind diejenigen Beschaffungsgüter, die zu Monopolgütern werden können, in der Regel unverkäuflich. Nicht immer, es gibt Ausnahmen: mit dem Beschaffungsgut des Saatgetreides kann in der Zeit einer Teuerung ein sehr übler Wucher getrieben werden. Aber auch das ist, wenn es auch ganze Gruppen treffen kann, nur kurz dauernd. Zumeist aber sind die Monopolgüter der Beschaffung unverkäuflich, und der Monopolgewinn realisiert sich als Aufschlag auf den Mietpreis bei Selbständigen oder als Abzug vom Arbeitslohn bei Unselbständigen, als „Wucher" oder „Exploitation". Der Wucher kann einzelne Selbständige schwer schädigen und sogar wirtschaftlich vernichten. Aber das bleibt sozialökonomisch bedeutungslos; nur die Bewucherung ganzer Gruppen hat uns zu interessieren. Und solche Bewucherung hat in der Form des Vieh- und Geldwuchers, des Hypothekenwuchers und der Gütermetzgerei in der Tat ganze Bauernbezirke schwer geschädigt. Wir werden aber sofort sehen, daß dieser „epidemische Wucher" nur da vorkommen kann, wo das Klassenmonopol die Bedingung dafür liefert. Dasselbe gilt von der Exploitation, der Ausbeutung Unselbständiger durch die Eigentümer der Beschaffungsgüter („Produktionsmittel"). Auch sie ist in sozial ökonomisch bedenklicher Weise nur da möglich, wo das Klassenmonopolverhältnis besteht.
Zweiter Abschnitt: Das Klassenmonopolverhältnis I.
Die „reine" und die „politische" Ökonomie
Mit der Lehre von den Klassenmonopolen haben wir die Stelle erreicht, wo unsere eigene Theorie in scharfem Winkel von der der Klassiker und ihrer Nachfolger abzweigt. Was wir bisher gebracht haben, war nichts als die klassische Theorie in ihrer Essenz, gesichert, gereinigt und ergänzt. Von hier aus gehen wir durchaus eigene Wege und kommen zu durchaus neuen Erklärungen für die großen Probleme der Ökonomik. Wir haben bisher mit den Klassikern unterstellt, daß die Beschaffung von Wertdingen für die Personalwirtschaften erfolgt ausschließlich durch die vor dem Richterstuhl der Ethik legitimen Verfahren der eigenen Arbeit und des äquivalenten Tausches eigener Erzeugnisse gegen fremde. Wir wollen diese Verfahren in der Folge zusammenfassen als das „ökonomische Mittel" der wirtschaftlichen Bedürfnisbefriedigung. Die Klassiker blieben bei dieser Annahme stehen. Sie wußten selbstverständlich, daß in geschichtlichem Aspekt die Beschaffung nicht nur durch das ökonomische, sondern auch durch das „politische" Mittel erfolgt ist, nämlich durch „außerökonomische Gewalt" in Gestalt von Raub, Krieg, Eroberung, Unterwerfung, Versklavung, Wucher, Mißbrauch der Amtsgewalt usw. Selbst ein Apologet wie Bastiat weiß, daß diese Dinge, zu denen er richtig auch das Monopol rechnet, existiert haben und fortexistieren: er unterscheidet klar genug zwischen der „production" und der „spoliation",1 Wenn es aber zu dem Aufbau der Theorie kam, war das alles vergessen. Die Klassik und ihre Nachfolger gehen immer so vor, als sei, wie ich es ausgedrückt habe, „die Geschichte nicht gewesen". Sie deduzieren immer nur von der Voraussetzung, daß nur das ökonomische Mittel auf die Entstehung und Entfaltung der Wirtschaftsgesellschaft eingewirkt habe. Die psychologische Erklärung ist, daß sie sämtlich gutgläubige Klassenvertreter waren, kraft ihrer „persönlichen Gleichung". Und der logische Grund ist, daß sie sich durch eine gefährliche Formel täuschen ließen. Beide Verfahrensweisen nämlich, das ökonomische und das politische Mittel, dienen gleichmäßig der „ökonomischen Bedürfnisbefriedigung", und das heißt: der Bedürfnisbefriedigung nach dem Prinzip des kleinsten Mittels. Und so konnte leicht die Vorstellung entstehen, daß dieses kleinste Mittel immer das ökonomische ist. So ist denn niemals hier ein eigenes Problem gesehen worden, bis mich im Jahre 1902 ein gutes Geschick darauf aufmerksam machte. Von hier aus lassen sich alle Rätsel der Ökonomik auf das einfachste lösen. Das „kleinste Mittel" kann unter Umständen die Arbeit und der Tausch sein, muß es aber nicht sein. Wo er der Stärkere war, hat sich der Mensch in seiner gesamten historischen Vergangenheit niemals lange besonnen, sich des Raubes als seines kleinsten Mittels zu bedienen, um sich die Wertdinge, nämlich die fremde Arbeitskraft selbst, und ihre Erzeugnisse, die Güter, gewaltsam anzueignen. Raub! Gewaltsame Aneignung! Uns Zeitgenossen einer entwickelten, gerade auf der Unverletzlichkeit der Person und des Eigentums aufgebauten Kultur klingen beide Worte nach Verbrechen und Zuchthaus; und wir werden diese Assoziation auch dann nicht los, wenn wir uns klarmachen, daß Land- und Seeraub unter primitiven Lebensverhältnissen gerade so wie das Kriegs-
1
Der Ausdruck findet sich schon bei Quesnay (Œuvres, hrsg. von A . Oncken, Frankfurt/Paris 1888, S. 342).
518
Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
„Handwerk" - das ja lange auch nur organisierter Massenraub ist - die weitaus angesehensten Gewerbe darstellen. Aus diesem Grunde habe ich die neutralen, scharf gegeneinander klingenden Ausdrücke, ökonomisches und politisches Mittel, vorgeschlagen.
a. Das ökonomische Mittel 1. Das unentfaltete
ökonomische
Mittel (Arbeit und Tausch)
Nur dort, wo das unentfaltete oder entfaltete politische Mittel nicht anwendbar ist, bedient sich der Mensch zur Beschaffung derjenigen Güter, die ihm zur Befriedigung seiner Bedürfnisse dienen sollen, des ökonomischen Mittels. Das ist in den vorstaatlichen Wirtschaftsstufen der Sammler, Jäger und Fischer und der Hackbauern die Regel. Hier existiert weder ein Vorrat eigener Güter, bei deren Verwaltung fremde Arbeitskräfte gebraucht werden könnten, noch ein Vorrat von solchen fremden Gütern, die zur Anwendung des politischen Mittels reizen könnten. Was kann der Bauer dem Bauern nehmen? Abgesehen von einzelnen Raubzügen, die aus Anlaß von Grenzstreitigkeiten usw. vorkommen mögen, ist hier also die eigene Arbeit das kleinste Mittel. Im Staat bis zu seiner höchsten Stufe empor bleiben Arbeit und Tausch das kleinste Mittel der beherrschten Klasse. Die Herrenklasse unterdrückt im Interesse der Prästationsfähigkeit der Untertanen (das Wort stammt noch aus der friderizianischen Zeit) nicht nur allzu starke Appetite ihrer eigenen Mitglieder, sondern vor allem auch die Gelüste gewaltsamer Aneignung bei den Untertanen. Raub und Diebstahl sind Verbrechen, die das Recht mit äußerster Schärfe verfolgt, so daß nur ausnahmsweise jemand diesen überaus gefährlichen Weg zu beschreiten wagt. So bleibt als das Mittel der unmittelbaren Beschaffung von Gütern eben nichts anderes als die eigene Arbeit, die Bewirtschaftung der Natur mit Ausschluß des Menschen selbst. Aber als Mittel der mittelbaren Beschaffung von Gütern hat der Mensch ein zweites, friedliches, d. h. in unserem Ausdruck ökonomisches Mittel: den Tausch. Nicht als ob nur solche Güter vertauscht würden, die durch die Arbeit beschafft sind: davon kann gar keine Rede sein. Im Gegenteil! Einen Hauptgegenstand des ursprünglichen Handels bilden solche Güter, die durch das politische Mittel beschafft wurden: schon die Nomaden treiben einen außerordentlich schwungvollen Handel namentlich mit den erbeuteten Sklaven und den übrigen Beutestücken ihrer Raubzüge, um dafür durch Tausch andere Dinge zu beschaffen, die ihnen höher gelten. Aber der Tauschakt selbst, gleichgültig, wie die von beiden Seiten angebotenen Güter beschafft sein mögen, ist friedliches, ist ökonomisches Mittel.
2. Das entfaltete ökonomische (Die Gesellschaftswirtschaft
Mittel der Wirtschaftsgesellschaft)
Zum Zwecke des höchsten Erfolges des kleinsten Aufwandes treten die wirtschaftenden Individuen immer mehr in Kooperation, d. h. in Arbeitsteilung und -Vereinigung. Sie bilden immer größere, d. h. immer mehr integrierte und gleichzeitig immer mehr differenzierte Wirtschaftsgesellschaften zum Zwecke der Gesellschaftswirtschaft als des kleinsten Mittels der individuellen Bedürfnisbefriedigung. Solche Wirtschaftsgesellschaften finden sich in naturwüchsiger Gestalt schon bei einer Anzahl von Tieren, die miteinander kooperieren. Auch die Menschen leben von allem Anfang an zunächst in ganz ähnlichen naturwüchsigen Wirtschaftsgesellschaften. Allmählich aber entwickelt sich aus
Das Kapital: Zweiter
Abschnitt
519
diesem Anfangsstadium die entfaltete Wirtschaftsgesellschaft, die um einen Markt, als den Inbegriff aller Tauschbeziehungen in Raum und Zeit, zentriert ist.
b. Das politische Mittel 1. Das unentfaltete politische Mittel (Der Raub) Der Raub ist keine Erfindung des Menschen. Scharf gesehen „arbeitet" nur die Pflanze, von den Parasiten und fleischfressenden Arten abgesehen: sie allein zieht aus der toten Natur ihre Nahrung. Aber schon die Weidegänger „rauben" die Arbeit der Pflanze. Sie eignen sich die von ihr in ihrer Substanz aufgehäufte Energie an. Und die Raubtiere eignen sich wieder die energiehaltige Substanz der Pflanzenfresser an. Und auch die gewaltsame Aneignung fremder „Güter" kommt im Tierreich überall da vor, wo schon eine „Verwaltung" von Gütern existiert. Der Fuchs stänkert den Dachs aus seinem Bau, der Sperling raubt das Nest des Staren, und selbst die in allen Fabeln gepriesenen Musterbilder „emsiger" Arbeit, die „Emsen", d. h. die Ameisen, ebenso die Termiten und die Honigbienen, ziehen überall da, wo das als das kleinste Mittel erscheint, den Raub der Arbeit vor. Nach Maeterlinck überfallen Honigbienen Stöcke der Nachbarschaft, die durch Krankheit geschwächt oder durch Verlust des Weisels verwirrt sind, und rauben den Honig, statt ihn in mühsamer Tracht anzusammeln. Ja, sie sollen nach solchen glücklichen Expeditionen sogar den Geschmack an der Arbeit leicht ganz verlieren und sich in gewerbsmäßige Räuber verwandeln: eine für die historische Massenpsychologie überaus wichtige Beobachtung. Nicht anders handelt der Mensch dem Menschen gegenüber. Homo homini lupus! Zuweilen greift der Mensch nach der energiehaltigen Körpersubstanz des Nebenmenschen, er frißt ihn, kannibalisch, eine Handlungsweise, die in der Tierwelt selten zu sein scheint: kaum je tötet ein Raubtier ein Tier der gleichen Art, um es zu verzehren. Auch beim Menschen kommt der Kannibalismus wohl nur auf höherer Zivilisationsstufe vor, und zwar nicht so sehr als Ausfluß des Nahrungstriebes, wie als Auswirkung des religiösen Bedürfnisses, gewisser magischer Vorstellungen. Wo aber bereits durch Arbeit ein Gütervorrat angehäuft ist, da greift der Mensch ohne Bedenken nach ihm, eignet ihn sich ohne Entgelt an, und nicht nur die Güter, sondern auch ihre Quelle, die Arbeitskraft selbst, überall da, wo sie ihm als Mittel zu seinem Zwecke dienen kann. Beides ist in der alten Welt, d. h. bei allen für den großen Gang der Weltgeschichte in Betracht kommenden Völkern, erst auf der Hirtenstufe der Fall. Hier greift der Nomade, der, wie Ratzel hervorhebt, sich überall mit Stolz als Räuber bezeichnet, zunächst nach den Herden der Nachbarstämme und nach ihren Mitgliedern, um sie als Weideknechte zu bewirtschaften. Jetzt erst kann die Sklaverei entstehen: der Jäger, der den gefangenen Feind nicht wirtschaftlich ausnutzen kann, adoptiert ihn als Blutsbruder in den Stamm oder tötet hin. Aber noch viel lieber greift der Nomade nach den „kostenden Dingen", die jenseits der Grenzen seiner Steppen und Wüsten in den Niederungen der großen Ströme durch die Arbeit von Bauernschaften und Stadtbürgern aufgehäuft sind: nach der Arbeitskraft selbst, indem er die Nachbarn zu Sklaven oder Hörigen macht, und nach den von ihnen beschafften und verwalteten Gütern. Ich kann an dieser Stelle auf die Entwicklung des Prozesses nicht näher eingehen; in meiner Abhandlung: Der Staat1 ist er ausführlich dargestellt. Hier muß ich mich mit Andeutungen begnügen. 1
Oppenheimer, Der Staat, (Die Gesellschaft, Bd. 14/15), 6.-10. Tausend, Frankfurt 1919 (Neudruck, Jena 1929). Vgl. dazu Wagner, Artikel: Staat, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 7, S. 731. Ausführlicher in: Oppenheimer, Der Staat, in: System der Soziologie, Bd. Π, Jena 1926 [siehe auch die Erstfassung von 1907, in der vorliegenden Edition, Bd. Π: Politische Schriften, Berlin 1996, S. 3 0 9 - 3 8 6 ; A.d.R.].
Zweiter Teil: Marktwirtschaft
520
2. Das entfaltete politische Mittel (Der Staat) Durch eine Reihe von unterscheidbaren Stadien hindurch, von denen jedes folgende sich als das kleinere Mittel gegenüber dem vorhergehenden kennzeichnet, entwickelt sich aus dem räuberischen Grenzkriege als das kleinste Mittel der ökonomischen Bedürfnisbefriedigung zuletzt der Staat. Er ist eine von einer erobernden Menschengruppe einer unterworfenen Menschengruppe gewaltsam aufgezwungene Rechtseinrichtung, mit dem Inhalt, die Unterworfenen zugunsten der Sieger derart zu besteuern, daß die Bedürfnisse der Herrenklasse mit möglichst geringem Aufwande ihrer eigenen Arbeit möglichst vollkommen auf die Dauer befriedigt werden. Aus diesem Grunde übernimmt die Herrenklasse sofort nach der Staatsgründung den Grenzschutz nach außen und den Rechtsschutz nach innen, ersteren aus demselben Motiv, aus dem der Imker seinen Bienenstock gegen den Bären schützt, letzteren als das kleinste Mittel, einerseits die Leistungsfähigkeit der Untertanen zu erhalten: Rechtsschutz gegen die Ubergriffe der Herrenklasse; andererseits den möglichst ungestörten Bezug des „Herreneinkommens", wie Rodbertus es nennt, zu sichern: Rechtsschutz gegen die Unterworfenen. Das Steuerrecht der Herrenklasse objektiviert sich in zwei Formen des Eigentums, d. h. in zwei gesellschaftlichen Institutionen: erstens im Eigentum am Menschen selbst, dem Träger der Arbeitskraft, der Quelle aller Güter; und zweitens in der Bodensperre, d. h. der Institution des großen Eigentums an dem Grund und Boden, der die Bedingung aller Arbeit in Freiheit und wirtschaftlicher Selbständigkeit ist. Hier setzt unsere letzte systematische Unterscheidung ein. Wir nennen die Gesellschaftswirtschaft der entfalteten Wirtschaftsgesellschaft, die im Rahmen des historischen Staates, der „Politischen Gesellschaft" (W. Wundt) sich vollzieht, die „Politische Ökonomie". Wir setzen als Gegenbegriff den der „Reinen Ökonomie"·, darunter verstehen wir die Wirtschaft einer Gesellschaft, in der jene beiden vom Staate geschaffenen Institutionen, die Unfreiheit und die Bodensperre in der Rechtsform des großen Grundeigentums mit ihren Folgeerscheinungen nicht existieren - und solche Gesellschaft ist nicht etwa nur ein Wunschbild, sondern hat in einer ganzen Reihe von Exemplaren auch in der neuesten Zeit bestanden.1 Politische Ökonomien waren unbestritten die Antike mit ihrer Sklavenwirtschaft und das Mittelalter mit seiner Hörigenwirtschaft. Aber die Gesellschaftswirtschaft der Neuzeit, der sogenannte „Kapitalismus" gilt der „bürgerlichen Theorie" als reine Ökonomie, weil die persönliche Unfreiheit nicht mehr besteht. Wir werden beweisen, daß dies ihr grundlegender Irrtum und die Wurzel aller ihrer Schwierigkeiten ist. Auch der Kapitalismus ist politische Ökonomie, weil die Bodensperre aus der Vorperiode übernommen worden ist. Sie ist „Gewalteigentum" und erzwingt ihre „Gewaltanteile" (Dühring) an dem Erzeugnis der Gesellschaftsarbeit. Diese Erkenntnis taucht, soweit wir zu sehen imstande sind, zuerst in dem frühen englischen Sozialismus zur Zeit Cromwells auf. Die „wahren Gleichmacher" (true levellers), geführt von Gerrard Winstanley und William Everard, eine an den angeblich kommunistischen Urchristengemeinden orientierte Sekte, die das private Großeigentum an Grund und Boden bekämpfte, brachten zwei von den genannten Führern verfaßte Streitschriften heraus, in denen das Recht der Sachsen gegen die Normannen reklamiert wird. Die Grundeigentümer seien die Nachkommen der Eroberer;
1
Vgl. Oppenheimer, Die „Utopie als Tatsache", [in: derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. Π: Politische Schriften, S. 3 - 1 4 ; A.d.R.] und derselbe, [Weder so - noch so] Der dritte Weg, Zweiter Abschnitt: „Die Tatsachen" [siehe ebenda, S. 118-128; A.d.R.]. Ferner: derselbe, System der Soziologie, Bd. IV, 3. Teilbd.: Stadt und Bürgerschaft. Die Neuzeit, Jena 1935, passim.
Das Kapital: Zweiter Abschnitt
521
nachdem jetzt der Rechtsnachfolger Wilhelms des Eroberers, Karl I., hingerichtet worden sei, fordere das beraubte Volk sein unverlierbares Recht zurück.1 Die Schriften verschollen, der Gedanke lebte aber in einer ähnlichen Zeit des Kampfes und der Revolution wieder auf. Wie jene Levellers den alten Gegensatz von Sachsen und Normannen, so machte in der französischen Umwälzung der Graf Saint-Simon, der Gründer zugleich der neuzeitlichen Soziologie und des neuzeitlichen Sozialismus, den Gegensatz von Franken und Kelten für die Verteilung des Grundeigentums und die Entstehung der Klassenunterschiede verantwortlich. Von ihm hat mindestens einer der einflußreichen deutschen Sozialisten, Karl Rodbertus, den Gedanken übernommen und seiner Gesellschaftslehre zugrunde gelegt,2 wie Heinrich Dietzel nachgewiesen hat. Dann hat weiland Ludwig Gumplowicz, der bedeutende Grazer Staatsrechtslehrer, den Gedanken als „die soziologische Staatsidee" in den Mittelpunkt seines Systems gestellt. Ich selbst habe der fast nur staatsrechtlichen Konstruktion die notwendige staatswirtschaftliche Ergänzung gegeben. Diese politische Ökonomie, diese entfaltete Gesellschaftswirtschaft einer in einen historischen Staat eingeschlossenen und von seinen gewaltgeschaffenen Institutionen beeinflußten und - verzerrten kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft ist der eigentliche Gegenstand unserer wissenschaftlichen Untersuchung. Auch in den historisch gegebenen politischen Ökonomien können die „Wertdinge" nur durch Arbeit „hergestellt" werden. Aber die „Beschaffung" der Wertdinge für die einzelne Personalwirtschaft erfolgt hier nicht nur durch eigene Arbeit oder durch äquivalenten Tausch, d. h. durch das ökonomische Mittel, sondern auch durch unentgoltene Aneignung, d. h. durch das politische Mittel. Nach Konstituierung des Staates als Rechtsstaat wird das unentfaltete politische Mittel zum Verbrechen, während es vorher dem Fremden gegenüber legitimer Erwerb war und noch lange, bis zur Konstituierung der internationalen Rechtsgemeinschaft durch das Völkerrecht, gegenüber Angehörigen fremder Staaten für erlaubt gilt. Das unentfaltete politische Mittel beschafft sich die von der Personalwirtschaft seines Anwenders bedurften Wertdinge entweder durch offene Aneignung mittels Gewalt oder Drohung mit Gewalt: Mord, Raub, Erpressung (von Gütern), Nötigung (zu Diensten), Notzucht (zu einem Geschlechtsdienste), oder durch heimliche Aneignung: Diebstahl und, bei anvertrauten Gütern: Unterschlagung, Untreue. Oder durch Handlungen, die irgendeine Äquivalenz zwischen Leistung und Gegenleistung „vorspiegeln": Vorspiegelung falscher Tatsachen: Betrug, Falschmünzerei; Vorspiegelung gleicher Risiken: Falschspiel, Falschwetten; Vorspiegelung hoher Risiken als niedere: Uberversicherung von Schwerkranken oder bei der Absicht des Selbstmordes, des Mordes, der Brandstiftung, der Herbeiführung einer Schiffskatastrophe usw. Diese Dinge gehören in die Kriminalistik. Dagegen werden die politischen Ökonomien entscheidend beherrscht von dem entfalteten politischen Mittel, dem Staate und dem von ihm begründeten und gewährleisteten politischen Eigentum; wie er entstanden ist als das „kleinste Mittel" der Eroberer zur dauernden Befriedigung ihrer Bedürfnisse, so ist er auch heute noch das kleinste Mittel der dauernden Beschaffung unentgoltener Werte für die herrschende Klasse als Ganzes und die Personalwirtschaft ihrer einzelnen Mitglieder; ist er heute noch die auf die Dauer berechnete Bewirtschaftung der unteren Klasse durch die herrschende.
1 2
Adler, Geschichte des Sozialismus und Kommunismus von Plato bis zur Gegenwart, Bd. I, Leipzig 1899, S. 230. Derselbe, Artikel: Sozialismus und Kommunismus, rev. von Gustav Mayer, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 7, S. 614.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
Man kann den Staat auffassen als eine ökonomische Kollektivperson der herrschenden Klasse, die sich die Arbeitskraft der Untertanen als „Wertding" beschafft hat·, natürlich ist es ihre Aufgabe, diesen beschafften Wert bis zur Verwendung pfleglich zu verwalten, d. h. vor Verlust und Verderb zu bewahren; das ist wie gesagt die ratio essendi des Grenz- und Rechtsschutzes und aller später vom höheren Staate übernommenen gemeinnützigen Funktionen: die Erhaltung der Untertanen bei möglichst hoher Prästationsfähigkeit. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, zu zeigen, wie der Staat sich im Laufe der Entwicklung immer mehr zu einer Einrichtung entwickelt, die tatsächlich den gemeinen Nutzen aller Staatsbürger anstrebt. Das gehört in die Staatslehre. Hier kann nur angedeutet werden, daß das politische Mittel mehr und mehr vom ökonomischen zurückgedrängt und ersetzt wird, und daß die Tendenz der Entwicklung unzweifelhaft dahin geht, den durch das Gewaltrecht entstandenen Staat zuletzt ganz in eine nur vom Naturrecht beherrschte Ordnung umzuwandeln, die aussehen wird, als sei sie wirklich durch einen „Gesellschaftsvertrag" entstanden. Was die Naturrechtler, vor allem JeanJacques Rousseau, an den Anfang seiner Entwicklung setzten, wird ihr Endergebnis sein: die „Freibürgerschaft", wie ich diese Staatsform genannt habe.1 Noch ist dieses Ziel, die Sehnsucht aller Menschenfreunde, längst nicht erreicht; noch ist der Staat zu einem großen Teile ökonomische Kollektivperson der oberen Klassen zur unentgoltenen Beschaffung von Teilen des Arbeitsertrages der unteren Klassen. Nur diese Seite des Staatswesens hat uns hier zu beschäftigen. Wir wollen aber, wenn wir seine partie honteuse behandeln, niemals vergessen, daß dieses zwieschlächtige Wesen auch eine partie honorable hat: als Organisation des Gemeinnutzens im reinen Sinne des Wortes, d. h. des Nutzens aller Bürger, nicht nur einer oder einiger Klassen. Hier ist eine Zwischenbemerkung zu machen. Der Anarchismus geht in die Irre, weil er nur die eine Seite der Dinge sieht, die „partie honteuse", den Staat als Klassenorganisation. Daher seine Staatsfeindschaft: er will das „boshafte Tier", wie der Staat einmal genannt wurde, ganz ausrotten und gibt sich entweder der utopischen Hoffnung hin, eine große Gesellschaft könne sich ohne eine mit Zwangsgewalt ausgestattete Autorität selbst lenken; - oder er verzichtet bewußt auf alle Vorteile gesellschaftlicher Kooperation im großen und strebt die Zersplitterung der Gesellschaft in unzählige kleine Gruppen an, d. h. er verzichtet um der Freiheit willen auf den Reichtum. Beides ist falsch: hier werden, wie fast immer, Führerschaft und Herrschaft miteinander verwechselt;2 eine mit Zwangsgewalt ausgestattete Autorität der Lenkung ist unentbehrlich - aber sie ist auch der Freiheit nicht gefährlich, wenn das politische Mittel nicht mehr hineinspielt: und darum ist kein Verzicht nötig, weder auf die Freiheit, noch auf den Reichtum. Auf der anderen Seite sieht der Legitimismus - so wollen wir die Klassentheorie der herrschenden Klassen nennen - nur die andere Seite der Dinge, die „partie honorable", den Staat als Organisation des Gemeinnutzens. Das ist ebenso einseitig und falsch, und diese Ansicht der Dinge haben wir vor allem zu bekämpfen, weil sie das wissenschaftliche Verständnis der bestehenden Gesellschaftswirtschaft unmöglich macht.
1
2
Vgl. Oppenheimer, Der Staat, 1. Auflage, Jena 1907, Schlußwort; ferner derselbe, Allgemeine Soziologie, in: System der Soziologie, Bd. I, S. 386 und vor allem llOlff., und ebenda, Bd. Π: Der Staat, Schlußkapitel [siehe auch Bd. Π der vorliegenden Edition, S. 381-385; A.d.R.]. Vgl. derselbe, Allgemeine Soziologie, in: System der Soziologie, Bd. I, S. 370.
Das Kapital:
Zweiter
Abschnitt
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II. Das öffentlich-rechtliche Klassenmonopol der Staatsverwaltung Die herrschende Klasse als Totalität, als Kollektivperson, bedient sich erstens des Staates als einer Verwaltungsorganisation, um unentgolten einen Teil des Arbeitsertrages der unteren Klassen an sich zu ziehen. Vor Errichtung des bürgerlichen Verfassungsstaates, in den politischen Ökonomien der Sklavenwirtschaft und der feudalen Wirtschaft, geschieht die Aneignung de jure, kraft öffentlichen Rechtes; der Sklave gehört ganz, der Hörige zum Teil seinem Herrn - und wem der Arbeiter gehört, dem gehört natürlich auch die Arbeitskraft und der Arbeitsertrag. Ferner hatten die feudalen Herren zu gewissen Zeiten auch nutzbare Rechte gegenüber persönlich freien Subjekten, die in ihrem Machtbereich verweilten. Der Grundsatz: „nulle terre sans seigneur" unterwarf alle, auch die freien Eingesessenen ihrem Gerichts- und Steuerrecht, ihren Bann- und Jagdrechten. Und selbst gegenüber Fremden, namentlich Kaufleuten, besaßen sie die verschiedensten nutzbaren Rechte: das Zoll-, Brücken- und Fährenrecht, das Strand- und Grundruhrrecht, das Geleit- und Durchfuhrrecht usw. Das ist die charakteristische Mischung zwischen öffentlichem und privatem Recht, die das Feudalrecht kennzeichnet. Sie beruht nicht etwa, wie manche glauben, auf einer ungenügenden Fähigkeit der Juristen jener Zeit, beides säuberlich zu trennen, sondern ist die notwendige Folge des Rechtszustandes selbst, der darin bestand, daß eine Anzahl von Individuen öffentliche Souveränitätsrechte besaßen, die sie privatwirtschaftlich ausnutzen durften. Außer diesen nutzbaren Rechten Einzelnen gegenüber gewährleistete das vorbürgerliche Staatsrecht den herrschenden Klassen das Privileg, das „Vor-Recht", der Staatsverwaltung ebenfalls de jure. Alle ehrenvollen und gut besoldeten Stellungen waren ihnen vorbehalten: im Hof-, Militär-, Verwaltungs- und Regierungsdienst. Und aufgrund dieses Privilegs verwalteten sie denn auch den Staat ganz offen und ohne Skrupel lediglich im Interesse ihrer Klasse, teils durch eine formelle Klassengesetzgebung, durch die sie ihre nutzbaren Rechte und Privilegien befestigten und erweiterten, teils durch eine bloß faktische Klassenpolitik, Klassenverwaltung und Klassenjustiz. Durch die Gesetzgebung statuieren sie ζ. B. ihr Recht der Steuerfreiheit. Ihre Klassenpolitik führt in der Außenpolitik den Staat zu Kolonialerwerbungen und Kriegen, deren Geld- und Blutlast die Masse trägt, während ihre Vorteile der herrschenden Klasse zufließen: neues Grundeigentum, wenn die Grundbesitzer den Staat lenken, neue Märkte und Plantagen und Sklavenreviere, wenn die Kaufleute die Herren sind. Die ganze Staatsaußenpolitik, der eine Hauptteil der Staatengeschichte, liegt in diesen Sätzen beschlossen: man könnte, wenn man es nicht wüßte, aus der Zerstörung von Korinth und Karthago ohne weiteres schließen, daß um die Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts der Handelsstand einen Hauptteil der herrschenden Klasse des römischen Staates bildete: und die Geschichte der Conquista in Amerika ist nur verständlich aus dem Klasseninteresse einer feudalen Grundbesitzerklasse. Das gleiche Klassenmonopol äußert sich in der inneren Politik: in der Handels- und Zollpolitik, indem es zu Lasten der Masse Verträge schließt, die die herrschende Klasse bereichern; in der Finanzpolitik, indem es Anleihen für Zwecke der Herrenklasse aufnimmt, die die Masse verzinsen und tilgen muß; in der Steuerpolitik, indem es alle Lasten nach unten abwälzt, usw. usw.; und sichert das alles durch immer neue Klassenrechte, die dann die Klassenjustiz so wendet, daß die scharfe Schneide immer nach unten, der stumpfe Rücken immer nach oben gekehrt ist. Seit der Errichtung des bürgerlichen Verfassungsstaates hat sich formell vieles geändert und alles geklärt. Öffentliches und privates Recht sind voneinander geschieden worden. Jetzt hat nur noch der Staat selbst und die den Staat zusammensetzenden, ihm untergeordneten politischen Körperschaften (Gemeinden, Kreise, Provinzen usw.) das Recht, aufgrund einseitiger Zwecksetzung von
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Privatpersonen Leistungen in Gütern (Steuern) oder Diensten (Militärdienst, Dienst im Ehrenamt als Schöffen, Geschworene, Vormünder usw.) zu beanspruchen. Aber keine Privatperson hat mehr ein nutzbares Recht an die andere, es sei denn aufgrund zweiseitigen Vertrages oder kraft eines Rechtes, ζ. B. auf Versorgung (Alimentation), wie es zwischen nahen Blutsverwandten oder aufgrund einer Haftpflicht usw. besteht. Und dennoch ist grundsätzlich alles beim alten geblieben. Auch im bürgerlichen Verfassungsstaate wird, mehr weniger kraß, mehr weniger verhüllt, nach wie vor die Außen- und Innenpolitik im Interesse der herrschenden Klasse auf Kosten der unteren Klassen geführt, gestützt auf noch immer bestehende und zuweilen sogar erweiterte Reste der Klassengesetzgebung, und gesichert durch Klassenverwaltung und Klassenjustiz. Nur die sozialen, fast sozialistischen Demokratien Australiens, und unter ihnen vor allem Neuseeland, bilden allenfalls die Andeutung einer Ausnahme: alle anderen Kulturstaaten der Welt sind nach wie vor zu einem bedeutenden Teile „Klassenstaaten", d. h. ökonomische Kollektivpersonen der herrschenden Klasse zur unentgoltenen Aneignung von Teilen des Arbeitsertrages der beherrschten Klassen. Und zwar sind sie es noch immer zu einem Teile kraft öffentlichen Rechtes, kraft des Rechtes der Verfassung. Die herrschenden Klassen haben, auch in den Staaten des Repräsentativsystems, noch fast überall im Staate und seinen Untergliedern das formelle Privileg der Verwaltung, dank den von ihnen erlassenen Wahlrechten (Oberhaus, Zensuswahlsystem, Wahlkreisgeometrie), die sie nur zögernd, nur unter stärkstem Druck, zugunsten der unteren Klassen erweitern. Und das sogar geschieht fast immer und überall nur dann, wenn die inneren Gegensätze zwischen den verschiedenen Interessentengruppen, die die herrschende Klasse zusammensetzen, ihre Widerstandskraft lähmen. Wir verdanken unser bißchen bürgerlicher Freiheit viel weniger der Kraft der Masse als dem Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Grundbesitzern (moneyed und landed interest), ganz wie Europa sein bißchen Geistesfreiheit in der Hauptsache dem Gegensatz zwischen weltlicher und geistlicher Macht, zwischen Kaisertum und Papsttum verdankt. Duobus litigantibus tertius gaudet! Wo aber das formelle Recht nicht auslangt, um ihr Verwaltungs- und Regierungsmonopol aufrecht zu erhalten, da besinnt sich die herrschende Klasse selten lange, es ohne, und im Notfall wider den Sinn und sogar den Wortlaut des Gesetzes aufrecht zu erhalten oder die Verfassung selbst aufzuheben, im Notfall durch bewaffnete Revolution und Bürgerkrieg wie jetzt eben in Spanien. Wir beobachten täglich, wie „Wahlen gemacht werden", und zwar nicht nur in den Donaustaaten, nicht nur in den Kleinstaaten Südamerikas, nicht nur in Rußland, sondern auch in Frankreich, den Vereinigten Staaten und anderswo. Nur die Methoden wechseln, je nach dem geltenden Rechte und dem Zustande der öffentlichen Meinung und der Gesamtkultur: Aber das gleiche Ziel der Monopolisierung der Staatsverwaltung wird fast überall erreicht: durch den Terrorismus des Knüppels oder der Flinte, des Beichtstuhls oder der Kanzel, oder der Bedrohung mit wirtschaftlicher Schädigung (Aussperrung, Boykott, d. h. Achterklärung); - oder durch Bestechung mittels Geld oder sozialer Vorteile (Titel, Rang, Orden), oder wirtschaftlicher Vorteile (Kreisbahnen, Garnisonen, besonders großartig in dem Milliardensegen, den die demokratische Regierung der United States in der Politik des „New Deal" herniederregnen läßt: Subventionen, Silbergesetzgebung, Dollarabwertung, Veteranen-Bond usw.); und, wenn alle Stränge reißen, wohl auch durch unmittelbare Fälschung der Wahlergebnisse. Aufgrund dieses politischen Monopols der Verwaltung und Regierung hält die herrschende Klasse nach wie vor „die Staatskrippe" besetzt und läßt niemanden als die Klassengenossen heran, abgesehen von einigen schandenhalber zugelassenen „Konzessionsschulzen", wie man charakteristischerweise die bürgerlichen Offiziere nannte, die in die „feudalen" „erstklassigen", dem Adel vorbehaltenen deutschen Regimenter aufgenommen wurden. Darin ändert sich auch nichts, wenn die ältere herrschende Klasse des Grundadels sich notgedrungen durch Aufnahme des neuen Geldadels ergänzt: so weit, wie der Konnubialverband reicht, reicht auch jeweils das Klassenmonopol; wer,
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etwa aus Gründen des von der „Staatskirche" abweichenden Bekenntnisses, nicht in den Konnubialverband aufgenommen wird, ist auch vom Klassenmonopol der Staatsverwaltung ausgeschlossen. Dieses Klassenmonopol des öffentlichen Rechtes würde aber in kürzester Zeit dahinfallen, wenn es nicht auf das festeste verankert wäre in einem Klassenmonopol des Privatrechts.
III. Das privatrechtliche Klassenmonopol des politischen Eigentums1 Dieses Privatmonopol ist „politisches Eigentum", das „Gewalteigentum" Eugen Dührings; er versteht darunter solches ursprünglich durch außerökonomische Gewalt entstandenes Eigentum, das seinem Besitzer „Gewaltanteile", ein „Herreneinkommen" (Rodbertus), an der gesellschaftlichen Gesamterzeugung abwirft: mit anderen Worten es gestattet ihm, aus dem Arbeitsertrage der beherrschten Klasse unentgolten bestimmte Teile vorweg an sich zu ziehen. Es unterscheidet sich formell von dem Verwaltungsmonopol dadurch, daß es kein öffentlichrechtliches, sondern ein privatrechtliches, kein politisches, sondern ein ökonomisches Monopol ist, ein Monopol im engeren Sinne, während man jenes eher als „Privilegium" zu bezeichnen pflegt. Inhaltlich unterscheidet es sich von dem Verwaltungmonopol dadurch, daß jenes der ganzen herrschenden Klasse als einer Totalität, einer Kollektivperson, als Beschaffungsmittel dient, während dieses unmittelbar den einzelnen Mitgliedern der Klasse dient, die sich im Besitze des Monopols befinden. Oder vielmehr, umgekehrt: Wer sich im Besitze des politischen Eigentums befindet, gehört eo ipso, wenn er konnubialfähig ist, zur herrschenden Klasse. Es gibt nur ein „primäres" politisches Eigentum; alle anderen Formen sind nur „sekundär", sind aus dem primären erwachsen, wie die Aste aus dem Stamm und der Wurzel, und können daher nur mit ihm existieren, müssen aber auch mit ihm zugrunde gehen.
a. Das primäre politische Eigentum (Das Großgrundeigentum) Dieses primäre politische Eigentum ist das durch außerökonomische Kräfte, also durch das politische Mittel, entstandene Großgrundeigentum in seiner Gesamtheit. „Vereinzeltes Großgrundeigentum wäre sehr harmlos, nur massenhaftes Großgrundeigentum, das in seiner Gesamtheit die Bodensperre konstituiert, wird als der Störenfried der gesellschaftlichen Ordnung angeklagt." 2 Auch dieses Eigentum gilt der bürgerlichen Auffassung als naturrechtlich-legitim. Sie läßt es gleich seinen anderen Arten aus der Konkurrenz zwischen Gleichen und Freien nach dem „Gesetz der ursprünglichen Akkumulation" entstehen.
1 2
Vgl. dazu Oppenheimer, Allgemeine Soziologie, in: System der Soziologie, Bd. I, 2. Teilbd., S. 999ff. Aus unserer Bearbeitung des Adolph Wagnerschen Artikels: Der Staat in national-ökonomischer [Hinsicht], in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Auflage, Bd. 7, Jena 1926, S. 757-779 [siehe in der vorliegenden Edition, Bd. Π: Politische Schriften, S. 485-516; A.d.R.].
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
1. Das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation Das angebliche Gesetz ist eine Theorie von der Entstehung der sozialen Klassen. Danach sollen sie sich aus einem Zustand der vollen politischen Freiheit und wirtschaftlichen Gleichheit durch nichts als die Wirkung wirtschaftlicher Tugenden, ohne jeden Eingriff außerökonomischer Gewalt, entwikkelt haben.
A. Angriff und
Verteidigung
Daß diese Auffassung mit der wirklichen Geschichte nicht übereinstimmt, hat wenigstens Adam Smith, der ein tüchtiger Historiker war, sehr genau gewußt. Man braucht nur seine Darlegungen im dritten Buche vom zweiten Kapitel an zu studieren, um daran nicht mehr zu zweifeln. Aber er hat diese Erkenntnis in den theoretischen Abschnitten seines Werkes nicht verwertet; und seine Nachfolger, von denen der weitaus bedeutendste, Ricardo, gewiß kein historischer Kopf war, haben es noch viel weniger getan. Und so ist diese völlig haltlose Konstruktion immer weitergegeben worden. Erst die Sozialisten haben sie angegriffen; wir nannten schon Saint-Simon und seine Schule, ferner Rodbertus, Proudhon usw. Keiner aber hat mit größerem Grimm, stärkerer Betonung der geschichtlichen Tatsachen und schärferem Sarkasmus dieses „bürgerliche Idyll", diese „Kinderfibel von der ursprünglichen Akkumulation" zerfetzt als Karl Marx. Die Abschnitte im ersten Bande des „Kapital", in denen die wirkliche Geschichte der Bildung des europäischen Kapitalismus dargestellt ist, gehören zu den herrlichsten des gewaltigen Werkes: hier spricht der Prophet und gleichzeitig der wahre Historiker, der die Schleier der klassenmäßigen Täuschung der früheren Geschichtsschreibung endgültig zerrissen hat. „Diese ursprüngliche Akkumulation spielt in der politischen Ökonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie. Adam biß in den Apfel und damit kam über das Menschengeschlecht die Sünde. Ihr Ursprung wird erklärt, indem er als Anekdote der Vergangenheit erzählt wird. In einer längst verflossenen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite, und auf der anderen faulenzende, ihr alles, und mehr, verjubelnde Lumpen [...] So kam es, daß die ersten Reichtum akkumulierten und die letzten schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigene Haut! Und von diesem Sündenfall datiert die Armut der großen Masse, die immer noch, aller Arbeit zum Trotz, nichts zu verkaufen hat als sich selbst, und der Reichtum der Wenigen, der fortwährend wächst, obgleich sie längst aufgehört haben zu arbeiten. Solche fade Kinderei kaut Herr Thiers ζ. B. noch mit staatsfeierlichem Ernst, zur Verteidigung der propriété, den einst so geistreichen Franzosen vor. Aber sobald die Eigentumsfrage ins Spiel kommt, wird es heilige Pflicht, den Standpunkt der Kinderfibel als den allen Altersklassen und Entwicklungsstufen allein gerechten festzuhalten. In der wirklichen Geschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle. In der sanften politischen Ökonomie herrschte von jeher die Idylle. Recht und Arbeit waren von jeher die einzigen Bereicherungsmittel, natürlich mit jedesmaliger Ausnahme von ,diesem Jahr'. In der Tat sind die Methoden der ursprünglichen Akkumulation alles andere, nur nicht idyllisch [...] Die geschichtliche Bewegung, die die Produzenten in Lohnarbeiter verwandelt, erscheint einerseits als ihre Befreiung von Dienstbarkeit und Zunftzwang; und diese Seite allein existiert für unsere bürgerlichen Geschichtsschreiber. Andererseits aber werden diese Neubefreiten erst Verkäufer ihrer selbst, nachdem ihnen alle ihre Produktionsmittel und alle durch die alten feudalen
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Einrichtungen gebotenen Garantien ihrer Existenz geraubt sind. Und die Geschichte
dieser
ihrer
Expropriation ist in die A nnalen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer. Wie sich diese Gewaltpolitik, deren „Grundlage die Expropriation der Volksmasse von Grund und Boden" 2 ist, im einzelnen vollzog, ist hier nicht der Ort, an Hand des Meisters zu verfolgen. Genug, daß sie in einem Prozeß von Jahrhunderten mit allen Mitteln der staatlichen Klassenpolitik und des privaten, aber straflosen Unrechts den „freien", d. h. politisch freien und zugleich von allen seinen Produktionsmitteln gelösten Arbeiter, und damit erst die Vorbedingung der kapitalistischen Ausbeutung, des Mehrwerts, erschuf. Was uns hier interessiert, ist zweierlei. Erstens, daß dieser gewaltige Kritiker der bürgerlichen Historik selbst sein Leben lang nicht von der Kinderfibel loskam: wir werden zeigen, daß sie die einzige gedankenmäßige Grundlage für seinen Kommunismus war und blieb, ohne daß er sich freilich dieses Zusammenhanges, dieser „uneingestandenen Prämisse" bewußt gewesen wäre. Und zweitens, daß seine Kritik denn doch stark genug war, um die bürgerliche Historik in ihren besseren Vertretern zur Preisgabe ihres alten Axioms zu veranlassen. Das kommt sehr deutlich zum Ausdruck in einem nachgelassenen Werke des bedeutenden Historikers und Ökonomisten, eines der streitbarsten Protagonisten der bürgerlichen Ordnung: Gustav Schmollers. Schmoller sah sehr deutlich, wo der Schlüssel der strategischen Stellung seiner Partei war; und so hat er noch aus seinem Grabe heraus, in einer von seiner Frau herausgegebenen Schrift 3 , die alte bürgerliche Lehre in einem Abschnitt von ungefähr 200 Seiten neu zu fundieren versucht. Und hat
sie bei diesem Versuch endgültig zerstört! Er bleibt dabei, daß nichts als überlegene Begabung die Ahnen der heutigen Oberklasse emporgebracht habe. Uberragende persönliche Qualifikation ist die causa causans; freilich haben, das wird nicht verschwiegen, auch Gewalt, List und Rechtsbruch dabei mitgewirkt, aber sie erscheinen doch nur als Nebenursachen; und vor allem: auch sie werden aufgefaßt als Kräfte, die in der Hauptsache dem geschichtlichen und sozialen Fortschritt gedient haben, der ohne sie nicht hätte entstehen können. Wir bringen eine der entscheidenden Stellen im Wortlaut: „Die drei Gruppen der Gesellschaft, Priester, Krieger, Händler, bleiben die Grundtypen aller Aristokratie. Die betreffenden Individuen und Gesellschaftsgruppen steigen durch Kräfte
eigentümliche
und Vorzüge empor, erringen durch sie die größere Ehre, die größere Macht, das größere
Einkommen und Vermögen. Sie steigen in harten Daseinskämpfen auf, denen Gewalt, Betrug, Mißbrauch so wenig fehlen können, wie allem Menschlichen. Die Priester haben Dokumente gefälscht, um ihren Besitz zu mehren, die Ritter haben widerrechtlich Bauern von ihren Hufen getrieben, die Händler haben mit List und Betrug, mit Wucher und oft auch mit Gewalt ihren Besitz vergrößert. Sie alle haben stets gesucht, ihre Stellung um jeden Preis zu befestigen, sie haben die übrige Volksmasse herabgedrückt, sie ihrer Leitung und Gewalt unterstellt. Diese
Unterstel-
lung war aber ein unabweisbares Bedürfnis der gesellschaftlichen Organisation. Größere politische und wirtschaftliche Körper konnten nur entstehen, indem die führenden und gehorchenden Kreise sich schieden. Auch die künftige Emporhebung und Erziehung der Massen konnte nur so vorbereitet werden, obwohl zunächst damit Härten und Mißbildungen aller Art eintraten." 4 W i r wollen nicht fragen, woher der Historiker die Sicherheit gewonnen hat, mit der er sein Credo vorträgt, daß nur durch Unterdrückung und Gewalt größere Körper entstehen konnten. Uns 1 Marx, Das Kapital. Zur Kritik der politischen Ökonomie, 4. Auflage, Hamburg 1890, [Bd. I], S. 679-681. 2 Ebenda, S. 692. 3 Schmoller, Die soziale Frage, Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf, München/Leipzig 1918. 4 Ebenda, S. 289 (im Original nicht kursiv).
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
scheint hier seine „persönliche Gleichung"1 sehr stark mitzusprechen, und wir könnten auf einige Tatsachen aufmerksam machen, die seine Auffassung nicht bestätigen, und einige Schriftsteller nennen, die anderer Meinung sind. Wir können ζ. B., in den nicht eben seltenen adligen Familien, die ihre Standeserhöhung nur der Nachgiebigkeit gegen fürstliche Geschlechtsappetite verdanken, mit dem besten Willen keine Beispiele für die These erblicken, daß es immer „Vorzüge" gewesen sind, die die Herrschenden von den Gehorchenden schieden; und können in den nicht seltenen großen Vermögen, die notorisch auf Neger- oder Mädchenhandel oder Kriegsschiebungen oder Schmuggel und dergleichen zurückführen, 2 auch nur sehr schwer das zugrunde liegende segensreiche Geschichtsprinzip erkennen. Gustav Freytag, der auch einiges von Geschichte wußte, hat mit besonderem Nachdruck, vor allem in seinen „Ahnen", darauf hingewiesen, daß in diesem geschichtlichen Prozeß ganz regelmäßig die gemeineren menschlichen Eigenschaften in die Höhe, und die edlen in die Tiefe kommen, ja, daß die alten edlen Familien in den Bürgerstand versinken, während ihre Knechte und Leibeigenen zu Landesfürsten, mindestens zu ritterlichen Ministerialen werden. Aber wir haben hier keine Geschichte zu treiben, und wir brauchen auch keine historischen Argumente. Mag Schmoller recht haben, mag der Weg der geschichtlichen Notwendigkeit auch der der immanenten Notwendigkeit gewesen sein; mag alles, was ist, in diesem Sinne auch „vernünftig" sein: Schmoller hat mit seiner Rechtfertigung der bürgerlichen Theorie dennoch den Bärendienst erwiesen; er hat sie umgebracht. Was er verteidigt, ist nicht mehr, wie er annimmt, das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation, sondern das Gegenteil: indem er seine Gegner zu bekämpfen glaubt, gibt er ihnen alles zu, was sie für ihre Beweisführung brauchen. Denn jenes Gesetz behauptet nicht, daß irgendwelche Eigenschaften, die man je nach seiner persönlichen Stellung zu den großen Problemen der Gesellschaft als Zeichen einer besonders hohen oder besonders niederen Qualifikation auffassen mag, den Ausschlag bei der Entstehung der Klassen gegeben haben, sondern es behauptet klar und bestimmt, daß sie die Folge ganz bestimmter Eigenschaften gewesen ist, ganz bestimmter Tugenden, und zwar wirtschaftlicher Tugenden. Was hier sprach, war im frühkapitalistischen England die Moral des Calvinismus, der alle Gewalt, List, Betrug, usw. als Laster unbedingt verwarf und nichts gelten ließ, als die bürgerlichen Tugenden des Fleißes, der Pünktlichkeit und der Sparsamkeit. Nur aus dieser Voraussetzung lassen sich die Konsequenzen ziehen, die die bürgerliche Soziologie gezogen hat: aus der Schmollerschen Variante folgt genau das Gegenteil. Die Folgerungen der bürgerlichen Soziologen aus ihrer Prämisse der ursprünglichen Akkumulation sind nämlich diese: weil die Klassenordnung aus nichts als Tugenden hervorgegangen ist, ist sie gerecht; und weil die Zusammensetzung der menschlichen Gruppen aus Tugendhaften und nicht Tugendhaften aller Wahrscheinlichkeit nach immer die gleiche sein wird, so ist sie auch ewig. Das heißt: es mag irgendeine Umwälzung für eine kurze Frist die Gleichheit der Anfänge wiederherstellen, so wird doch binnen kürzester Zeit das unwiderstehliche Walten der gleichen psychologischen Gesetze, die in der geschichtlichen Vergangenheit zu der Klassenbildung geführt haben, den heutigen Zustand wiederhergestellt haben - und dann ist es schade um die Zerstörung von Blut und Reichtum, die mit solcher Umwälzung notwendig verbunden ist. Das ist die Gestalt, die das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation unter den Händen von Malthus erhielt, dessen ganze, von dem Bürgertum seiner Zeit so über alle Maßen bewunderte Leistung in nichts anderem bestand, als daß
1
„Persönliche Gleichung" ist ein von Herbert Spencer in die soziologische Fachsprache eingeführter Terminus. Es bedeutet den Inbegriff der Vorurteile, Wertungen und Handlungsantriebe, die der Soziologe unbewußt an seine wissenschaftliche Arbeit heranträgt, so wie ihn seine „Gruppe" „sozialpsychologisch determiniert hat".
2
Vgl. Myers, Geschichte der großen amerikanischen Vermögen, deutsche Ausgabe, 2 Bde., Berlin 1916.
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Abschnitt
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er das Gesetz von der Vergangenheit auf die Ebene der Zukunft projizierte, um die Forderungen und Hoffnungen des Sozialismus abzutun. Diese beiden, für die Verteidigung der kapitalistischen Ordnung entscheidenden, Folgerungen lassen sich aus der Schmollerschen Variante offenbar nicht mehr ziehen, und es ist merkwürdig, daß er selbst das nicht gesehen hat, sondern allen Ernstes geglaubt zu haben scheint, er habe mit seinen Darlegungen dem Sozialismus ein für alle Male das Wasser abgegraben. Erstens läßt sich eine zugestandenermaßen wesentlich aus Gewalt und List entstandene Ordnung nicht mehr länger mit ethisch-naturrechtlichen Gründen verteidigen. Das Zugeständnis, daß sie ihrem Ursprung nach ungerecht ist, ist schon sehr bedenklich für ihren Bestand und ihre Verteidigung. Schon damit hört das Gesetz auf, das zu sein, was es durch mehr als ein Jahrhundert war, das gute Gewissen des Bürgertums. Zweitens läßt aber sich nun auch nicht mehr behaupten, daß die kapitalistische Ordnung ewig sei. Selbst wenn der Klassengegner zu dem Zugeständnis gebracht werden könnte, daß die Menschheit sich auf gar keine andere Weise zu Kultur und Zivilisation hätte entwickeln können, als durch die harte Erziehung des Klassenregiments - ein Zugeständnis, das nicht, weder durch historische noch durch logische Mittel als unvermeidlich erzwungen werden kann -, selbst dann folgt daraus nichts weiter als die Feststellung, daß Herrschaft, Zwang, Klassenregiment, Ausbeutung usw .für die Erziehung des Menschengeschlechts notwendig waren: aber es folgt keineswegs daraus, daß diese Erziehung immer noch nötig ist, oder gar, daß sie niemals, solange es menschliche Gesellschaften gibt, ihr Ende erreichen kann und soll. Sondern es ist der Schluß mindestens möglich, daß diese zugestandenermaßen ungerechte Ordnung jetzt ihren pädagogischen Dienst geleistet habe; daß überlegene Gewalt heute abzubrechen berechtigt sei, was überlegene Gewalt in Vorzeiten aufzubauen berechtigt war; und daß durch geeignete Maßnahmen dafür Sorge getragen werden könne, daß nicht von neuem List und Gewalt eine neue Klassenscheidung herbeiführen können. Um zu resümieren, so hat Schmoller gerade das geopfert, worauf alles ankam, das Gesetz als ein ewiges „Naturgesetz" aller menschlichen Gesellschaft. Und, wenn man genau hinschaut, sieht man deutlich, daß er es zurückverwandelt hat aus dem bürgerlichen in das feudale Verteidigungsinstrument: was er vorträgt, ist nichts als „Legitimismus", der nicht auf das natürliche, sondern auf das geschichtliche Recht pocht,1 und der sich nicht auf Verdienste, sondern auf überlegene Begabung, namentlich kriegerische Begabung als Rechtfertigung seiner Rechte beruft. Schmollers Auffassung steht Gobineau unendlich viel näher als Quesnay, Smith und Mill; er braucht ahnungslos zur Verteidigung des Bürgertums genau die gleichen feudalen Argumente, gegen die das Bürgertum in der Zeit seines Kampfes um die Macht mit den naturrechtlich-ethischen Gründen anging, die Schmoller heute mit dem mitleidigen Lächeln des überlegenen Historikers beiseite schiebt. Die „Feudalisierung" des Bürgertums kann kaum deutlicher zur Darstellung kommen, als durch diesen Frontwechsel seines ersten Vorkämpfers. Wir kennen nur aus der schönen Literatur noch ein Beispiel von ähnlich eindrucksvoller Wucht: den Fabrikbesitzer aus Björnsons „Uber unsere Kraft". Er kann sich den ihm sympathischen Trotz eines ihm mit Schärfe entgegentretenden Arbeiters gar nicht anders erklären als mit der Annahme, daß der Mann durch „Bastardierung", wie Gobineau sagen würde, „gutes Blut" in seinen Adern habe! Das ist der Standpunkt, von dem aus seit Urzeiten der Adel, auch der von gestern, in allen Ländern und Zonen, und bei allen Rassen, seine Vorrechte gegen die Ansprüche der Enterbten verteidigt hat.
1 Hier wird die „romantische" Wurzel des ökonomischen Historismus deutlich erkennbar.
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B. Induktive
Zweiter Teil: Marktwirtschaft Widerlegung
Das Großgrundeigentum ist unbestreitbar und unbestritten die Schöpfung des politischen Mittels, der außerökonomischen Gewalt. Und zwar in seinem Kern des unentfalteten politischen Mittels, der Eroberung. Wir wissen das mit vollkommener Sicherheit von allen Ländern oder Staaten der Alten und einigen der Neuen Welt. In Griechenland und auf Kreta waren es die Dorier, die die Voreinwohner zu Periöken und Heloten herabdrückten: in Italien und auf seinen Inseln waren es im Süden hellenische Wikinge und später die Karthager, in [der] Toskana die Etrusker, im Norden die Gallier; in Gallien erst die Kelten, dann die Römer, dann Germanen, in Spanien und Nordafrika erst die Phönizier, dann die Kelten, dann die Römer, dann die Gothen und die Araber; in West- und Süddeutschland wieder erst Kelten, dann Römer, zuletzt Germanen; in Norddeutschland waren es die Sachsen, die die Thüringer unterwarfen: die „Frilinge" sind die Periöken, die Servi die Heloten; in Osteuropa waren es zuerst Wikinge, Normannen, die auf allen in die Ostsee mündenden Strömen von der Oder bis zur Düna eindrangen, später die Deutschen im Westen, die Chazaren, Tataren, Türken im Osten der Slawenwelt. Nordägypten wurde von Südägypten, dann von den Hyksos, Griechen, Römern, Arabern, Mamelucken; Iran, Indien, China, Siam, Birma, Annam wurden ebenso wie die Insulinde von einem Erobererstamm nach dem anderen überrannt. Nicht anders in Mexiko, in Peru, in Brasilien, wo den Azteken, den Inka, den Maya die Spanier und Portugiesen folgten. Und überall wurde neben der Verknechtung der Voreinwohner als das große Mittel der Beherrschung, der dauernden wirtschaftlichen Ausbeutung der Unterklasse sofort die Bodensperre im größten Maßstabe eingeführt. Adam Smith schildert, ohne es zu wissen, nur den ganz allgemeinen Typus, wenn er von der germanischen Völkerwanderung sagt, die Könige und Häuptlinge der Eroberer hätten alles Land, das unbebaute wie das bebaute, an sich gerissen. Im Anfang waren überall noch zahlreiche freie Kleinbesitzer vorhanden, zumeist aus der Eroberergruppe. Aber nach dem von mir aufgestellten „Gesetz der Agglomeration um vorhandene Vermögenskerne" wuchs dieses Großgrundeigentum durch Vernichtung der Kleinen ins Maßlose, - und zerstörte die Kraft der Völker und die Macht der Staaten. Für die Antike hat das trübe Wort des Plinius allgemeine Geltung: „Latifundia Romam perdidere", und für das Mittelalter habe ich jüngst in einer Ubersicht über alle Staaten des europäisch-vorderasiatisch-nordafrikanischen Kulturkreises zeigen können, daß die fortschreitende Expropriation der Bauern durch den Adel, d. h. das Großgrundeigentum, die fast einzige, wenn nicht überhaupt die einzige Ursache der politischen Krisen und des wirtschaftlichen Verfalls gewesen ist.1 Danach dürfte es auf den ersten Blick nicht als allzu paradox und gewagt erscheinen, wenn wir die gleiche verderbliche Institution für die Hauptschuldige auch der Krisen der politischen Ökonomie der Neuzeit, des Kapitalismus, erklären. In die europäischen Kolonien der Neuzeit ist die Klassenscheidung samt der Bodensperre sofort nach ihrer Gründung durch die Spanier, Portugiesen, Holländer, Franzosen, Engländer eingeführt worden, entweder durch kriegerische Unterwerfung der Voreinwohner oder durch Import einer unfreien oder halbfreien Arbeiterbevölkerung (Neger aus Afrika, Kontraktarbeiter und Verbrecher aus Europa nach Amerika, von Melanesiern in die Plantagen der Südsee), wo die Urbevölkerung fehlte oder auswich oder unter dem Druck der Knechtschaft ausstarb. Als die Bodensperrung vollendet war, brauchte man die Unfreiheit nicht mehr: denn von da an war auch der freie Mann hilflos dem Monopol ausgeliefert. Und die Folgen waren die selbstverständlichen, errechenbaren: mittelal-
1
Vgl. für die Antike im allgemeinen und das republikanische R o m im besonderen Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. II: Der Staat [siehe auch in der vorliegenden Edition, Bd. II, S. 309-385; A.d.R.]; für Spätrom: ebenda, Bd. IV, 1. Teilbd.: R o m und die Germanen; für die Staaten des Mittelalters: ebenda, Bd. IV, 2. Teilbd.: Adel und Bauernschaft.
Das Kapital: Zweiter Abschnitt
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terlich-feudal in Südamerika, Mexiko und den Südstaaten der Union, kapitalistisch in den Nordstaaten, in der Neuzeit in Indien, Japan, Insulinde usw. Die Ausdehnung der Kerne des Großgrundeigentums auf Kosten der Bauern geschah überall, wie wir zeigen konnten, durch Mißbrauch des Klassenmonopols der Staatsverwaltung, und zwar dort, wo seine Machtstellung dem Adel Straffreiheit sicherte, oft genug gegen das Gesetz, sonst aber durch skrupellose Klassenpolitik, Klassengesetzgebung und Klassenjustiz. So ζ. B. überall im holländischen und britischen Indien; hier haben die europäischen Herren teils aus Unverstand, weil sie das heimische Bodenrecht nicht begriffen, teils aber auch geleitet von dem alten Eroberergrundsatz: „Divide et impera" die Bauern dem Feudaladel der Zemindars völlig ausgeliefert, indem sie das urrechtlich geteilte Obereigentum des Adels als römisch-rechtliches ungeteiltes absolutes Eigentum behandelten. Ahnliches hat auch zu dem grauenhaften Elend der irischen Kleinbauern sein bedeutendes Teil beigetragen. Eine besondere Berühmtheit erlangte das Schicksal der hochschottischen Clans. Der Patriarch, der Than, hatte nach allgemeinem Urrecht die Verfügung über den gemeinsam besessenen Boden im Interesse der Gesamtheit auszuüben. Allmählich wurde daraus das absolute Eigentumsrecht, und dieses wurde derart „absolut", daß in der Neuzeit die hochadligen Großgrundbesitzer Schottlands ihre Clangenossen vielfach massenhaft expropriierten, d. h. einfach ins „Elend" - Elend heißt Ausland - schleuderten. Das ist das von Sismondi, Spencer, Stuart Mill, Dove u. a. und Marx mit ebenso großer wie berechtigter Entrüstung gegeißelte Verfahren des „clearing of estates", der „Reinigung des Grundbesitzes", wie es namentlich die Herzogin von Sutherland übte; sie fegte zwanzigtausend gälische Bauern in die See, um das Ackerland in Schafweiden und Hirschparks zu verwandeln,1 - und fand mit diesem Verfahren den Beifall vieler sogenannter liberaler Ökonomisten: denn dadurch erhöhte sie die Rentabilität ihres Grundeigentums ganz ungeheuer - und diesen Volkswirten erschien die Erhöhung der privatwirtschaftlichen Rentabilität immer als gleichbedeutend mit volkswirtschaftlichem Vorteil. Das geißelte Sismondi als „Chrematistik": Profitwut und Profitwissenschaft. Diese Entwicklung wird von einigen als Beweis gegen die sonst ganz allgemein angenommene Meinung angezogen, daß Großgrundeigentum nur durch außerökonomische Gewalt entstehen kann. Denn hier wissen wir nichts Bestimmtes von fremder Eroberung. Aber auch hier vollzog sich die Entwicklung durch fremde Waffengewalt, und zwar unter dem Schutze der englischen Bajonette: dem britischen „Staat", d. h. seiner Herrenklasse, zu der seit der Union auch der schottische Adel als ein Hauptbestandteil gehört, beliebte es, das Patriarchenrecht
1
Diese schönen Dinge gehen noch immer in Großbritannien vor sich. Wir entnehmen Fliirscheims „Not aus Uberfluß" folgende Mitteilung der „Barrier Truth": „Eines Millionärs Launen. Mull, eine Insel an der Küste von Schottland, ist Eigentum des Earl Beauchamp. Sie hat eine Flache von 237.000 Acres und eine Bevölkerung von 4.691, welche in 1.030 Häusern wohnen. Zu ihren Produkten gehören Gerste, Hafermehl und Kartoffel. Die Einwohner betreiben auch einen nicht unbedeutenden Exporthandel in Schafen und Großvieh. Ein Millionär hat sich kürzlich das alleinige Eigentumsrecht der Insel gesichert und wünscht sie in einen Wildpark zur Unterhaltung für sich und seine Freunde zu verwandeln. E r hat daher der ganzen Bevölkerung gekündigt und das Niederreißen aller Häuser befohlen." Der gleichen Quelle entnehmen wir die folgende Statistik: „Die Wildparkfläche in Schottland nimmt zu. Vor 15 Jahren belief sie sich in den Highland Countries auf 1.711.892 Acres, letztes Jahr (1897) waren es 2.287.297 Acres. Diese Ziffern sind exklusive gewisser Wälder, wie Clencannich und N o r t h Affaric, worüber Angaben nicht gemacht worden sind. 1904 war die Fläche der Wildparks in 5 Counties auf 2.920.097 gestiegen." - „Sie haben Grundeigentum, um damit zu spielen", heißt es in dem kurz vor dem Weltkriege auf Veranlassung Lloyd Georges herausgegebenen "The Land. The Report of the land enquiry committee" ( L o n d o n / N e w Y o r k / T o r o n t o 1913), S. X L V I I I / I X ) . [Auf] S. X X V heißt es klipp und klar: „Kein Grund wirtschaftlicher Notwendigkeit kann Bedingungen rechtfertigen, die offenbar vom menschlichen und völkischen Standpunkt verurteilt sind."
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
als absolutes römisches Eigentumsrecht aufzufassen und den großen Herren das organisierte politische Mittel, Polizei und Armee, für die Durchführung dieses „Rechtes" zur Verfügung zu stellen.1 Zwischen diesem Verfahren und dem der fremdländischen Eroberung im wortwörtlichen Sinne ist nicht mehr Unterschied als zwischen räuberischer Erpressung und Raub; ob ich mit der Waffe drohe oder sie anwende, ist subjektiv völlig dasselbe: hängt es doch nur von der Widerstandskraft des anderen ab, welches Verfahren ich zuletzt brauchen werde. Der britische „Staat", d. h. in diesem Sinne die ökonomische Kollektivperson der herrschenden Klasse, und nicht die Wohlfahrtsorganisation der Gesamtheit, tat für seinen englischen Bestandteil ganz dasselbe wie für seinen schottischen, nur in etwas anderen juristischen Formen. Hier wurden die „Commons", die alten Gemeindeländereien, „eingehegt" und nach dem Rezept der partitio leonina unter alle Berechtigten verteilt. Durch diese berüchtigten „Inclosures of commons" wurde dem selbständigen Bauernstande das Rückgrat gebrochen (denn er verlor seine Viehwirtschaft zum großen Teile), und die Großgrundbesitzerklasse ungeheuer bereichert. Schon Anfang des 16. Jahrhunderts nannte Thomas Morus England das schreckliche Land, „wo die Schafe die Menschen fressen". Damals begannen die Inclosures, um aus Ackerland Schafweide zu machen. Was die Einhegungen des 19. Jahrhunderts anlangt, so stellt Wilhelm Hasbach, einer der besten Kenner der Zeit und des Landes zu der Zeit, fest,2 daß nicht einmal die Landeskultur durch diese grandiose Expropriation gewonnen habe, in deren Interesse sie angeblich erfolgte: denn was der Getreidebau gewann, verlor die Viehzucht und Geflügelzucht mindestens. Vor allem aber klagt er, und mit Recht, diese Maßregel an, eine der Hauptursachen für das furchtbare Elend gewesen zu sein, das der Frühkapitalismus über das englische Volk brachte: die vom Lande gefegten Bauern waren eine der Hauptquellen jenes unversieglichen Stromes habloser Proletarier, die sich in London, Liverpool und Manchester zu Notlöhnen verkaufen mußten, um nicht zu verhungern.3 Und doch geschah das alles ganz „legitim", d. h. formell unanfechtbar nach „Recht und Gesetz". Jede einzelne Einhegung erfolgte auf Parlamentsbeschluß der erwählten Vertreter angeblich der ganzen britischen Nation; die Ausweisung der gälischen Clanverwandten der Herzogin von Sutherland erfolgte aufgrund legitimer Kündigung ihrer vom Gericht und Gesetzbuch als solche erklärten „Pacht"-Verträge; und eben dasselbe legitime Verfahren lieferte die indischen Ryots ihren Grundherren, die freien brandenburgischen Bauern unter den bayrischen und luxemburgischen Markgrafen ihren benachbarten „Junkern" aus und entzog ihnen bei der Hardenbergschen Ausführung der Steinschen Emanzipationsgesetze noch einmal gut die Hälfte ihres Ackers, und einer großen Zahl alles, mit der unverhohlen ausgesprochenen Absicht, dem vergrößerten Rittergutsbesitz die Land-
1
„Ohne Beihilfe der staatlichen Macht, die nur der im Staate herrschenden Klasse zuteil wird, ist wohl zu keiner Zeit das Bauernlegen in größerem Umfange gelungen. Einer der berühmtesten Fälle dieser Art ist die Entstehung des Großgrundbesitzes im schottischen Hochland. Als die Engländer nach der Schlacht von Culloden daran gingen, die alte Clanverfassung der Gaelen zu zerstören, taten sie es so, daß sie einfach die Clanhäuptlinge für Eigentümer des ganzen, bisher eine Gemeinschaft bildenden Stammesgebietes erklärten. Der Großgrundbesitz in Bengalen geht auf einen Irrtum der Engländer zurück, die im XVIII. Jahrhundert die Grundsteuer für einen Pachtzins und die grundsteuerpflichtigen Bauern für Pächter des Maharadscha gehalten haben. Die Entstehung des Großgrundbesitzes durch staatliche Einflüsse ist in seiner Natur durchaus unzweideutig. Indem der Staat den Großgrundbesitz schuf, handelte er nur als Verband des mächtigen kriegerischen Adels [...]" (Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, München 1913, S. 306ff.).
2 3
Hasbach, Die englischen Landarbeiter in den letzten 100 Jahren und die Einhegungen, Leipzig 1894. Und wieder das gleiche gilt von dem dritten Teile Großbritanniens, dem unglücklichen Irland, das freilich zuerst durch Waffengewalt unterworfen wurde. Gustav Schmoller (Die soziale Frage, S. 564) schreibt: „Mit der gegen 1700 vollendeten Unterwerfung begann eine Regierung und Verwaltung ohne alle Weisheit und ohne alle Gerechtigkeit [...]. Die alte irische Verfassung und das alte irische Recht behandelte man als verwirkt [...]. Fast alle Pächter sanken für den englischen Richter zu jährlich vertreibbaren Inhabern herab, während der Kelte sich immer noch für unabsetzbar hielt."
Das Kapital: Zweiter Abschnitt
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arbeiterklasse, neben dem „Landmann ohne Dienst" den „Dienstmann ohne Land" (Knapp) zu schaffen, ohne die er ein Messer ohne Klinge und Heft ist.1 Alles ganz legitim, in aller Form Rechtens: und doch nennt der Konservative Sismondi, freilich ein Schweizer Bürger, das Verfahren gegen die Hochschotten „un cruel abus des formes légales, une usurpation inique": „einen grausamen Mißbrauch der gesetzlichen Formen, eine unbillige Usurpation"2. Wir haben hier einige der bekanntesten, aber nicht einmal der krassesten Beispiele dafür, wie sich das Klassenmonopol der Staatsverwaltung durch die Mittel der Klassenpolitik, Klassengesetzgebung und Klassenjustiz umsetzt in das Privatmonopol des politischen Eigentums. Nur einige Beispiele: die Bücher der Geschichte sind voll von solchen mit Blut geschriebenen Daten: und nicht immer sind die Expropriationen in gesetzlicher Form erfolgt: schon die Bibel erzählt von Naboths Weinberg, und die deutsche Geschichte weiß von unzähligen ähnlichen: von der Niederwerfung der vollfreien Bauernschaft nach der Völkerwanderungszeit bis auf die Expropriationen des Abtes von Kempten und seiner Standesgenossen, die zuletzt die großen Bauernkriege und Deutschlands Sturz herbeiführten, bis auf den Ubermut des Adels in den „Adelsrepubliken" Ost-Holstein, Mecklenburg, Schwedisch-Pommern, Polen, Livland usw. („itzund doet man dat man wille", schreibt der alte Gramzow mißbilligend in der Neuzeit).
C. Deduktive Widerlegung (Das Divisionsexempel)
Uns erscheinen bereits die induktiven Argumente gegen das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation von so durchschlagender Kraft, daß es als völlig widerlegt zu gelten hat. Aber eine Hydra hat ein zähes Leben, und man weiß, daß man ihre Köpfe nicht nur abschlagen, sondern auch ausbrennen muß. Wir wollen daher ein übriges tun. Das „Gesetz" ist deduktiv gewonnen, und es ist eine alte Erfahrung, daß kraft des „Selbstvertrauens der Vernunft" ein mit logischen Mitteln gewonnener Satz wirklich überzeugend auch nur mit logischen Mitteln widerlegt werden kann. „Moors Geliebte kann nur durch Moor sterben." Wir werden zeigen, daß aus dem Gesetz der ursprünglichen Akkumulation, wie es die bürgerlichen Theoretiker von jeher vorgetragen haben, die Bildung der Klassengesellschaft, mit der wir in der Soziologie im allgemeinen und der Ökonomik im besonderen zu tun haben, überhaupt nicht abgeleitet werden kann, weil der Schluß mit der Prämisse in unversöhnlichem Widerspruch steht.
1
Nach Schmidt, [Zur Agrargeschichte Lübecks und Ostholsteins], Zürich 1887, S. 30) haben hier die Grundherren trotz des Verbots v o m Dezember 1804 bis in die achtziger Jahre hinein immer von neuem Hufen und ganze Dörfer niedergelegt. Nach Anna Neumann, der wir diese Tatsache entnehmen (Die Bewegung der Löhne der ländlichen „freien Arbeiter" im Zusammenhang mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung im Königreich Preußen, Berlin 1911, S. 167), war es dem oberschlesischen Adel durch Herbeiführung des nur für Schlesien geltenden Gesetzes von 1827 gelungen, die Regulierung der Robotgärtner sehr zu erschweren; so waren bis zum Jahre 1850 nicht mehr als 50 solcher Stellen reguliert - die übrigen waren teils eingezogen worden, teils waren ihre Inhaber in dem alten Dienstverhältnis verblieben (ebenda, S. 217).
2
Das gleiche gilt für Rumänien. Dies mag hervorgehoben werden, weil Karl Marx in einem Brief v o m 30. Oktober 1856 an Friedrich Engels schreibt: „Interessant diese A r t der Entwicklung, weil hier die Entstehung der Leibeigenschaft auf rein ökonomischem Wege, ohne das Zwischenglied der Eroberung und des Rassendualismus nachzuweisen." Die Dioskuren hätten es gar zu gut brauchen können, wenn sich auch nur ein einziges derartiges Beispiel in der Geschichte nachweisen ließe. Denn sie waren beide, Marx unbewußt, Engels ganz unverhohlen, Anhänger der doch von Marx so erfolgreich bekämpften „Kinderfibel von der ursprünglichen Akkumulation". Vgl. dazu Oppenheimer, Allgemeine Soziologie, in: System der Soziologie, Bd. I, S. 900f., ferner Bd. ΙΠ, S. 209f. und derselbe, Kapitalismus, Kommunismus, wissenschaftlicher Sozialismus, Berlin/Leipzig 1919, Exkurs, S. 219ff.
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
In allen Darstellungen des Gesetzes nämlich ist die Entstehung der Klassenscheidung an eine bestimmte
Bedingung
geknüpft:
diese Bedingung ist aber niemals, solange es Geschichte gibt, erfüllt
worden. Und so kann auch die Klassenscheidung nicht nach dem von dem Gesetze behaupteten Typus entstanden sein. Die Bedingung ist: „ Vollbesetzung"
des gesamten, der betreffenden Gesellschaft zur Verfügung
stehenden Grund und Bodens durch selbstwirtschaftende
kleine
Bauern.
Hier können wir uns auf den Consensus sapientium berufen. Rousseau sagt in seiner berühmten Untersuchung über die Ungleichheit der Menschen: „Nicht eher kann Ungleichheit entstehen, als bis alle Hufen (héritages), einander sämtlich berührend, das ganze Land bedecken." Er schließt also die Ungleichheit des anfänglichen Grundeigentums ausdrücklich aus. Einer der beiden großen Köpfe der Physiokraten, Turgot, schreibt unmißverständlich: „In dieser ersten Zeit, wo jeder arbeitsame Mann so viel Boden fand, wie er wollte, konnte niemand sich bewogen fühlen, für andere zu arbeiten." Adam Smith schreibt ebenso kurz und klar als über eine Sache, die gar nicht angezweifelt werden kann: „In jenem ursprünglichen Zustand der Dinge, der weder Landerwerb noch Kapitalansammlung kannte, gehörte das ganze Produkt der Arbeit dem Arbeiter allein. Er hatte weder Gutsbesitzer noch Arbeitgeber, mit denen er zu teilen brauchte." Aber nicht nur die liberalen Größen, auch der Führer des wissenschaftlichen Sozialismus, Karl Marx, steht auf dem gleichen Standpunkt. Im 25. Kapitel des ersten Bandes seines „Kapital" erklärt er klipp und klar, daß in „freien Kolonien" mit für jedermann zugänglichem Boden kapitalistisches Großeigentum unmöglich ist. (Wir werden die Stelle in anderem Zusammenhang noch genauer zu betrachten haben.) Die apodiktische Kürze, mit der die Meister den Grundsatz aufstellen, zeigt, daß sie sich keines möglichen Einwandes gewärtig waren. In der Tat: solange noch Zugang zu freiem Boden vorhanden ist, kann offenbar eine Klasse vermögensloser Arbeiter ebensowenig entstehen wie eine Klasse von Reichen, die von Renten leben. Denn, mag Fleiß und Sparsamkeit einen noch so großen Stamm von Gütern aufhäufen: wenn es keine Klasse von Menschen gibt, die von allen eigenen Produktionsmitteln entblößt sind, so kann dieser Reichtum nicht „verwertet", d. h. derart bewirtschaftet werden, daß seinem Besitzer arbeitsloses Einkommen von irgendwelchem Belang, also „Mehrwert" oder „Herrenrente" (Rodbertus) daraus zufließt. Denn in einer solchen Gesellschaft ist selbstverständlich das absolute Minimum des Lohnes, den irgend jemand fordern wird, das Einkommen eines freien Landwirtes auf ausreichendem unverschuldeten Boden. D e r Gegenstand ist von so großer Wichtigkeit, daß wir uns auf einige Einwände einlassen wollen, obgleich sie prima vista unsinnig sind. Der erste Einwand ist der, daß der durchschnittliche Mensch so dumm und träge sei, daß er aus lauter Stumpfsinn auch dann die halbe Sklaverei des Lohnarbeiters auf sich nehme, wenn in erreichbarer Nähe freies Land und mit ihm die Selbständigkeit und der Wohlstand erlangt werden könnten. Diese grobe Torheit ist in der Regel die letzte Zuflucht des in die Enge getriebenen Legitimismus und Absolutismus, der die Wurzeln seiner Existenz mit Recht bedroht findet, wenn der durchschnittliche Mensch als ein rationell handelndes Wesen anerkannt werden muß, das sein Interesse zu erkennen die Intelligenz, und zu verfolgen die Entschlußkraft besitzt. Wir können diesen ersten Einwand nur mit historisch-statistischen Gründen abtun. Und da genügt allerdings die imposante Tatsache, daß allein während des 19. Jahrhunderts die weitaus größte Völkerwanderung aller bekannten Geschichte etwa zwanzig Millionen von Menschen aller Rassen und Sprachen, und zwar vor allem von Menschen der elendesten und gedrücktesten Unterklassen, allein in die Vereinigten Staaten von Nordamerika geführt hat. Zwischen der Heimat der wandernden Massen und ihrem Ziele lag eine Strecke zwischen einem Drittel und einem Viertel des Erdumfangs, lag ein großer Ozean, der wenigstens in den ersten Jahrzehnten dieses gigantischen Vorgangs
Das Kapital: Zweiter Abschnitt
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nur mit den größten Gefahren, Beschwerden und Kosten überschritten werden konnte: und dennoch flöß dieser Riesenstrom bis zum Weltkriege in immer zunehmender Mächtigkeit. U n d das ist nur ein einziges, allerdings das bisher gewaltigste Beispiel der Wanderungen ganzer Völker, die den ungeheuren Rahmen aller bisherigen Geschichte ausmachen und jedem nicht völlig Blinden beweisen, daß in der Tat der durchschnittliche Mensch dem Prinzip des kleinsten Mittels überall gerade so folgt, wie das Tier, das, gleichfalls wandernd, sich immer und überall den besseren Nahrungsraum sucht, wie Ratzel in seiner Studie „Der Lebensraum" feststellt. Diese Dinge vollziehen sich wie elementare Geschehnisse, so daß es ihnen gegenüber in der Tat erlaubt ist, das Prinzip des kleinsten Mittels als das „Gesetz der Strömung" auszudrücken: „Die Menschen strömen vom Orte des höheren sozialen und wirtschaftlichen Druckes zum Orte des geringeren sozialen und wirtschaftlichen Druckes auf der Linie des geringsten Widerstandes." Diese Formel, die von dem Verfasser geprägt ist, bedeutet nichts anderes als eine andere Formel für unsere Behauptung, daß das Sollgesetz des kleinsten Mittels von allen normalen Menschen so unfehlbar befolgt wird, daß man es ohne Fehler auch als ein Seinsgesetz des Verhaltens, der Handlung ausdrücken kann. Ein zweiter Einwand geht dahin, daß bei freier Zugänglichkeit des Bodens einzelne Schlauköpfe so große Teile des Landes für sich okkupieren werden, daß sie den Rest der Gesellschaftsmitglieder von diesem unentbehrlichen Produktionsmittel absperren und dadurch zwingen, sich ihnen als Arbeiter zu vermieten, die unter Abtretung eines Teiles des Ertrages an diese „ersten Okkupanten" diesen selben Boden bestellen. Es scheint in der Tat, daß einige der schlimmeren Vertreter der schlimmsten Vulgärökonomik sich die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in dieser Weise vorgestellt haben. 1 Dann erscheinen diese glücklichen Spekulanten als die mit der wirtschaftlichen Tugend der „Voraussicht" in besonderem Maße ausgestatteten und daher wirtschaftlich besonders hoch qualifizierten Personen. Die Vorstellung ist womöglich noch törichter als die zuerst abgetane. Erstens wird keine Gesellschaft der Freien und Gleichen, von der wir ja hier ausgehen, eine solche Usurpation ihrer Existenzgrundlage dulden; und zweitens sind die psychologischen Voraussetzungen für solche Handlung offenbar nicht gegeben. Das erste wird wieder durch die Beobachtung der Tatsachen bestätigt. In allen genossenschaftlichen Gesellschaften besteht das Recht der Okkupation lediglich für dasjenige Ausmaß an Land, das der Okkupant selbst mit eigenen Kräften zu nutzen imstande ist, und nur für die Zeit, in der er es wirklich nutzt. Emile de Laveleye hat in seinem vortrefflichen, durch Karl Bücher auf das wertvollste ergänzten Buch über das „Ureigentum" die Tatsache über allen Zweifel hinaus als das Urrecht des Bodens festgestellt. Ungenütztes Land fällt nach einer sehr kurzen Respektfrist überall der Gesamtheit wieder anheim und darf von jedem ihrer Mitglieder in Nutzung genommen werden, ohne daß der frühere Bearbeiter das geringste Recht auf Entschädigung oder Rücknahme hätte: sein Recht ist verfallen, durch „Dereliktion". Dieser ganze Inbegriff von Rechten hat in der germanischen Rechtssprache den Namen der „Rückennutzung". Wäre aber selbst jene vorausgesetzte, in diesen Verhältnissen undenkbare Rechtsordnung gegeben, so würden die psychologischen Voraussetzungen ihrer Ausnützung für spekulative Zwecke dennoch völlig fehlen. Wenn wir heute, sagen wir, 100.000 ha Land an 100 Familien überweisen, so wird sich jede 1.000 ha nehmen; denn jeder weiß, daß in absehbarer Zeit, wenn die Bevölkerung durch Zuwanderung oder durch Nachwuchs vermehrt ist, das Land einen Seltenheitswert erhalten wird, und daß er dann in der Lage sein wird, als sein Herr von den späteren Abkömmlingen ein arbeitsfreies Ein-
1
Vorausgegangen ist freilich kein Geringerer als der große John Locke. Vgl. Oppenheimer, Der Staat, in: System der Soziologie, Bd. Π, S. 68ff. [siehe auch in der vorliegenden Edition, Bd. Π, S. 309-385; A.d.R.].
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
kommen, die Grundrente, zu beziehen. Die Vorstellung ist unhaltbar, daß die Mitglieder der Urgesellschaft von den gleichen Erwägungen beseelt waren und darum so viel Land, wie nur irgend möglich, für sich „okkupierten". Wo wenig Menschen und viel Land vorhanden ist, da ist der Boden „freies Gut", wie Luft und Wasser und hat daher keinen Wert. Niemand aber „wirtschaftet" mit dem Wertlosen. So wenig wie heute jemand auf den Gedanken kommen kann, sich einen Vorrat von Luft oder Wasser hinzulegen, so wenig kann er unter den hier vorgestellten Verhältnissen den Gedanken fassen, sich einen Vorrat von Land hinzulegen, mit anderen Worten: Terrainspekulant zu werden. Auf unabsehbare Zeit hinaus ist nach der Voraussetzung jedem künftigen Mitgliede einer noch so vermehrten Volkszahl die Besitznahme eines eigenen Grundstückes für seine Zwecke aus dem unendlichen Landvorrat gewährleistet. Solange das aber der Fall ist, kann das „hingelegte" Terrain keinerlei Wert erhalten. Selbst wenn also, ja, gerade wenn der Ursiedler bereits die Motivation eines modernen Spekulanten hätte, würde er diese Spekulationsidee als zwecklos fallen lassen. Man kann nun aber solches Terrain auch nicht dadurch nutzen, daß man andere für sich arbeiten läßt: es gibt ja keine Arbeiter! Danach ist es also auch aus rein ökonomischen Gründen unmöglich, daß das Maß der Urhufe größer ausfalle, als der Arbeitskraft einer bäuerlichen Familie entspricht. Ja, nicht einmal das Maximum der durch diesen Faktor bestimmten Größe ist denkbar. Denn wozu sollte der Urbauer sich anstrengen, um Überschüsse hervorzubringen? Man kann Getreide, und noch dazu unter so primitiven Verhältnissen, nicht lange aufbewahren: es geht schnell zugrunde. Man kann aber hier auch Getreide nicht verkaufen. Es gibt noch keinen Markt. Die paar Handelskarawanen, die vielleicht schon durch das Land ziehen, handeln noch kein Korn ein, sondern Pelze, Hörner, Elfenbein, Goldkörner und derartige Seltenheiten. Demnach bestimmt sich also, unter den hier vorausgesetzten Verhältnissen, das Maß der Urhufe noch nicht einmal nach dem Maximum der Arbeitskraft einer bäuerlichen Familie, sondern lediglich nach dem Maximum ihres Bedarfes. Das absolute Maß wird sich je nach Kopfzahl, Bodengüte und Beschaffenheit der Werkzeuge usw. verschieden gestalten: aber unter keinen Umständen wird es den Umfang eines heutigen mittelbäuerlichen Betriebes überschreiten. Aus dieser Betrachtung geht unseres Erachtens mit vollkommenster Sicherheit hervor, daß die Bildung irgendeines, dieses sehr bescheidene Maß irgendwie erheblich überschreitenden, Großgrundeigentums unter der Voraussetzung der „previous accumulation" unmöglich ist, solange freies Land noch verfügbar ist. Die Wirklichkeit entspricht auch hier der Deduktion wieder vollkommen, wie denn grundsätzlich die Voraussetzung aller Wissenschaft ist, daß „die Welt richtig geht", daß also ein richtig aus wahren Prämissen abgeleiteter Schluß unter allen Umständen zu „wahren" Ergebnissen führen muß. Das Maß der Urhufe ist überall sehr gering: das Maß der germanischen Urbauernhufe scheint, nach Laveleye, das der ganzen ackerbauenden Welt in allen Zonen zu sein. Es betrug bekanntlich im Durchschnitt 30 Morgen, gleich 7Vi ha, fiel in besonders fruchtbarer und schon damals mit einigem städtischen Verkehr begabter Gegend, im Mosellande, bis auf die Hälfte, und stieg andererseits in steinigem, hochgelegenen Gebirgslande, wie in der Hocheifel, bis über 100 Morgen. Ein dritter möglicher Einwand: der Viehzüchter, d. h. der Nomade, und noch viel mehr der Jäger brauchen durchschnittlich für die Familie eine ungleich größere Fläche. Wenn nun einige dieser Okkupanten sich weigern, den Ubergang zur höheren Wirtschaftsstufe mitzumachen und anstatt dessen ihr „Eigentum" behalten, dann ist die Besitzverschiedenheit sofort gegeben. Darauf ist zu erwidern, daß unter primitiven Bedingungen, wie wir sie hier durchgängig voraussetzen, das Jagdgebiet und Weidegebiet niemals in einzelne, den Individuen der Gesellschaft gehöri-
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ge Eigentumssphären aufgeteilt ist, sondern dem Stamme zur gesamten Hand gehört, wie sich das aus den ganzen Lebensbedingungen einer solchen, auf gegenseitigen Schutz und straffstes Zusammenhalten angewiesenen Gruppe von selbst versteht. Außerdem ist auf dieser Stufe der Vorrat von Land im Verhältnis zu der Zahl der Menschen noch so ungeheuer groß, daß Jagd bzw. Viehhaltung neben dem so wenig Boden beanspruchenden Ackerbau betrieben werden können, ohne ihn im mindesten zu stören. Und allmählich drängt der vorgeschrittenere Betrieb, einfach weil er das kleinere Mittel ist, den rückständigen im Kreise der ganzen Gruppe zurück. Auch dieses Argument kann also nicht anerkannt werden. Auf welche Weise und durch welche Kräfte hat denn nun dieser glückliche Zustand sein Ende gefunden? Am ausführlichsten äußert sich Turgot, der schon das ganze Gesetz der ursprünglichen Akkumulation vorträgt: „Aber endlich fand jedes Stück Land seinen Herrn, und jene, welche keinen Grundbesitz erwerben konnten, hatten zuerst keinen anderen Ausweg, als den, ihrer Hände Arbeit gegen den Uberfluß an Gütern des landbauenden Grundbesitzers einzutauschen. Da das Land indessen dem Besitzer, der es bearbeitete, nicht allein seinen Unterhalt gewährte, und dazu, wessen er bedurfte, um auf dem Tauschwege die Mittel zur Befriedigung seiner anderen Bedürfnisse zu erwerben, sondern überdies noch einen beträchtlichen Überschuß abwarf, so konnte er damit Leute bezahlen, die seinen Boden bearbeiteten, und für die Lohnarbeiter war es gleichgültig, ob sie ihren Unterhalt in diesem oder jenem Berufe gewannen. Das Grundeigentum mußte sich also von der Bodenbearbeitung trennen und tat es auch bald. Die ersten Grundeigentümer nahmen, wie bereits gesagt, zunächst so viel Boden in Beschlag, wie sie mit ihrer Familie bearbeiten konnten. Ein Mann, der stärker, arbeitsamer und um die Zukunft besorgter war, nahm mehr als einer von entgegengesetztem Charakter: und derjenige, dessen Familie zahlreicher war, der also mehr Arme zur Verfügung hatte, dehnte seinen Besitz weiter aus. Das war schon eine erste Ungleichheit. Nicht aller Boden ist gleich fruchtbar; zwei Personen, die gleich viel Land besitzen und gleich viel arbeiten, können davon doch einen sehr verschiedenen Ertrag erzielen: zweite Quelle der Ungleichheit. Die Besitzungen, die von den Vätern auf die Kinder übergehen, teilen sich in mehr oder minder kleine Teile, je nachdem die Familie mehr oder weniger zahlreich ist. In dem Maße, als die Generationen einander folgen, teilen sich die Erbgüter noch weiter, oder sie vereinigen sich aufs neue durch Aussterben der Linie: dritte Quelle der Ungleichheit. Der Kontrast zwischen der Einsicht, der Tatkraft und vor allem der Sparsamkeit der einen und der Sorglosigkeit, Untätigkeit und Verschwendung der anderen bildet einen vierten Grund der Ungleichheit, und zwar den mächtigsten von allen." 1 Wir haben hier die „Kinderfibel" zwar noch in ihrem Unschuldszustande, wo sie noch nicht als ein Kampfmittel der Bourgeoisie gegen den Sozialismus diente, aber doch schon in ihrer ganzen naiven Torheit. Die beiden ersten Quellen der Ungleichheit, die Turgot anführt, bestehen nicht. Der erste Grund versieht die Psychologie des modernen Wirtschaftsmenschen in die des Ursiedlers hinein. Wir haben schon gesagt, daß unter diesen Verhältnissen nicht das Maß dessen, „was eine Familie bearbeiten konnte", das Maximum des Landbesitzes bestimmen mußte, sondern das Maß dessen, was eine Familie brauchtel Es gibt weder Tauschhandel mit Getreide, noch die Möglichkeit, einen Überschuß vor Verlust und Verderb zu bewahren: es ist bekannt, daß die hackbauenden
1
[Ohne Quellenangabe, vermutlich: Turgot, Betrachtungen über die Bildung und Verteilung des Reichtums, eingeleitet von Heinrich Waentig, Jena 1903; A.d.R.]
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Zweiter Teil:
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Neger den Überschuß einer reichen Ernte schleunigst in Bier verwandeln, als das einzige Mittel, ihn vor der Vernichtung durch Ameisen usw. zu bewahren. Unter solchen Umständen wird auch der „stärkste, arbeitsamste und um die Zukunft besorgteste" Wirt nicht daran denken, mehr als das ungefähre Minimum zu erzeugen und mehr als das dazu erforderliche Minimum an Land in Besitz zu nehmen. Wenn er eine zahlreiche Familie hat, so zerfällt das Grundstück auch in mehr ideale, und bei der Erbteilung in mehr reale Teile. Die zweite Quelle der Ungleichheit ist nach Turgot die verschiedene Fruchtbarkeit des Bodens. Auch das ist falsch gesehen: der Ursiedler nimmt von geringerem Boden entsprechend mehr; die Annahme, daß im Anfang zwei Personen gleich viel Land von verschiedener Fruchtbarkeit bebauen, steht also im Widerspruch mit der Voraussetzung, daß beliebig viel Land zur Verfügung steht. Dagegen beziehen sich die unter drei und vier angegebenen Gründe auf die Zeit nach der Vollbesetzung, und hier ist einzuwenden, daß Turgot sich nicht gefragt hat, ob unter seinen eigenen Voraussetzungen dieser Zeitpunkt der Krise überhaupt schon eingetreten sein konnte. War sie es nicht, so zerfallen die Erbgüter aus dem Grunde nicht in kleine Teile, weil die Nacherben männlichen Geschlechts sich selbstverständlich eigenes Land genügender Größe nehmen, während die Töchter in Bauernstellen hineinheiraten. Und ebensowenig ist dann Vereinigung mehrerer Stellen durch „Aussterben des Geschlechts" möglich, weil Großbesitz ohne abhängige Arbeitskräfte nicht ausgenutzt werden kann, die unter der Voraussetzung nicht vorhanden sind. Wir möchten noch bemerken, daß die Tendenz, die Klassenunterschiede auf Unterschiede der wirtschaftlichen Tugend zurückzuführen, schon hier auf das stärkste hervortritt: die Vorstellung findet sich unter Grund eins und vier, und wird hier noch einmal als „der mächtigste von allen" besonders hervorgehoben. Hier spricht noch der Vertreter des arbeitsamen Bürgertums gegen den faulenzenden Hofadel Frankreichs; es ist eine Ironie der Geschichte, daß die gleichen Argumente eine Generation später gegen die am schwersten mit Arbeit überlastete Gruppe der Bevölkerung herhalten mußten. Adam Smith faßt sich wesentlich kürzer. Er schreibt: „Aber dieser ursprüngliche Zustand der Dinge, in welchem der Arbeiter das gesamte Erzeugnis seiner Arbeit allein genoß, konnte nicht über das erste Auftauchen des Grunderwerbes und der Kapitalansammlung hinaus andauern. Er war deshalb lange Zeit vor dem Auftreten der bedeutendsten Verbesserungen in den erzeugenden Kräften der Arbeit bereits zu Ende, und es würde zwecklos sein, die Wirkungen, die er auf den Arbeitslohn gehabt hätte, noch weiter auszuführen." Karl Marx lehnt die „Kinderfibel" ex professo ab; in dem angeführten Kapitel berichtet er aus den Kolonien Tatsachen über die „Verschleuderung des Bodens", weiß also gut genug, daß die „Vollbesetzung" nicht durch Nebeneinandersiedlung von lauter kleinen Bauern, sondern durch Sperrung erfolgt ist. Aber leider steht das alles nicht in dem ersten, sondern in dem allerletzten Kapitel des gewaltigen Werkes, einem Anhang, sozusagen einem Satyrspiel nach der Tragödie. Wenn es in dem ersten Kapitel stünde, hätte die ganze Theorie anders ausfallen müssen. Aber Marx, der gleiche Denker, der die Kinderfibel so erfolgreich zerfetzt hat, blieb dennoch sein ganzes Leben von ihr abhängig. Er ging als überzeugter Kommunist an das Studium der sozialen Verwicklungen heran, und hat sich niemals klar gemacht, daß aller Kommunismus keine andere logische Grundlage hat, als den Glauben daran, daß die freie Konkurrenz zur Ausbeutung der Massen führen muß. Gerade das aber Grundlage des Kommuist der Inhalt der Lehre, die er bekämpfte. Sie ist die einzige verstandesmäßige nismus-, es gibt außerdem nur noch gefühlsmäßige Gründe, nämlich die „Imitation par opposition" Gabriel Tardes und die Hungerphantasien der Enterbten. Marx ist offenbar dem gleichen Trugschluß zum Opfer gefallen, der auch seinen Meister Ricardo und alle anderen Bürgerlichen in die Irre führte.
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Seit undenklichen Zeiten besteht die Klassenscheidung mit ihren Folgen. Also muß der Boden seit undenklichen Zeiten „vollbesetzt" sein. Und so nahm man ohne Prüfung an, er sei nach dem naturrechtlichen Schema besetzt worden, während es geboten war, zu untersuchen, ob er nicht naturrechtswidrig, durch Gewalt, gesperrt worden war. Dieser notwendigen Prüfung wenden wir uns jetzt zu. Das Problem ist das folgende: ist überhaupt, und wenn, wann ungefähr ist durch Nebeneinandersiedlung selbständiger Bauern der verfügbare Boden der Erde im ganzen oder eines der großen Kulturvölker besetzt worden? Oder mit anderen Worten: ist die Voraussetzung der hier behandelten Schriftsteller wahr, daß das Ausmaß der von der Natur dargebotenen Fläche fruchtbaren Landes kleiner ist als der Bedarf einer Bevölkerung heute oder schon in einem früheren Zeitpunkt ihrer Geschichte? Die Frage ist kaum je gestellt und noch niemals mit vollgültigen Argumenten beantwortet worden. Der erste, der hier ein wichtiges Problem sah, das er aber dann wieder fallen ließ, war kein Geringerer als Thomas von Aquino. Er sagte, „daß die ursprüngliche Bodenteilung in viele kleine Parzellen, welche einer Familie ein kleines unbewegliches Besitztum sichert, sehr lobenswert, hingegen die Konzentration der Grundstücke in einigen wenigen Händen verderblich sei, indem es nicht nur leicht Ubermacht und Gewalt begründet, sondern auch zur Verminderung der Bevölkerung führt."1 Weiter bereits sah einer der größten Denker alle Zeiten, John Locke. In seiner „Treatise of Government" spricht er es aus, daß aus allgemeinen naturrechtlichen Gründen die Erde selbstverständlich allen Menschen gemeinsam gehöre, - da aber jeder Mensch ein Eigentum an seiner eigenen Person habe, so gebühre es sich, daß das, was er durch seine Hände geschaffen, sein eigen werde. „Aber", sagt er, „dasselbe Gesetz der Natur, das uns auf diese Weise Eigentum gibt, begrenzt auch dieses Eigentum: soviel jemand zu irgendwelchem Nutzen für sein Leben verwenden kann, ehe es verdirbt, soviel darf er durch seine Arbeit als Eigentum aussondern, - was darüber hinausgeht, ist mehr als sein Anteil und gehört den anderen."2 Demnach ist eine Bodenfläche, die so groß ist, daß ein Mann sie bebauen kann, sein Eigentum, durch seine Arbeit sondert er dies Bodenstück gleichsam aus dem Gemeingut ab! „Das Maß des Eigentums des Menschen hat die Natur deutlich gegeben mit der Ausdehnung seiner Arbeit und seiner Bedürfnisse: keines Mannes Arbeit könnte alles bezwingen oder sich aneignen; noch könnten seine Genüsse mehr als einen kleinen Teil davon konsumieren, so daß es unmöglich für einen Menschen wäre, auf diese Weise in die Rechte eines anderen überzugreifen oder zum Nachteil seines Nächsten ein Eigentum zu erwerben. Dieses Maß beschränkte in den ersten Zeitaltern der Welt den Besitz jedes Menschen auf eine sehr bescheidene Grenze, auf soviel, als er für sich erwerben konnte, ohne jemand zu schädigen. Und heute noch, so voll auch die Welt erscheinen mag, könnte man ohne Nachteil jedermann Eigentum in diesem Umfange zuerkennen,"3 Hier ist die Methode, wie man das Problem lösen könnte, bereits angegeben, aber nicht ausgeführt. Man muß den Vorrat an Land durch den Landbedarf dividieren, um die Zahl freier Kleinbauern festzustellen, die möglich sind, ehe das Land vollbesetzt ist. Weiter ist auch David Hume noch nicht
1 2 3
Vgl. Kautz, [Theorie und Geschichte der Nationalökonomik, 2 Bde., Wien 1858-60], S. 214f. [Locke, Treatise of Government, (erstes der T w o Treatises of Government von 1689), ohne Seitenangabe; A.d.R.] [Ohne Quellenangabe; A.d.R.]
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
gelangt. Er sagt: „Wer mehr Land besitzt, als er selbst bebauen kann, teilt es mit denen, die kein Land besitzen, unter der Bedingung, daß die Bodenbebauer ihm einen Teil ihrer Ernte abgeben."1 Der erste, der, soweit wir sehen können, das Divisionsexempel wirklich angestellt hat, war der bedeutende Ökonomist und Statistiker der Cromwell-Zeit, Sir William Petty. Er schreibt in „Verbum sapienti": „Es kommen in England mehr als vier Acres Pflug-, Wiesen- und Weideland auf jede Seele, von solcher Ertragsfähigkeit, daß die Arbeit eines Mannes für zehn die Lebensnotdurft davon erarbeiten kann. Es liegt also nur an dem Mangel an Ordnung (discipline), daß es in England Armut gibt, und daß deswegen die Einen Hunger leiden und Andere sich hängen lassen müssen!" 1 Der nächste Name in dieser Ehrenliste ist der des Abbé de Cournand, Professor am Collage de France, der im Jahre 1791 eine Schrift unter dem Titel: „Vom Eigentum oder die Sache der Armen, vertreten vor dem Richterstuhl der Vernunft, der Gerechtigkeit und der Wahrheit" erscheinen ließ. Er schlug ein Ackergesetz vor, durch das alle Einwohner Frankreichs mit Grundbesitz ausgestattet werden sollten. Er berechnete das Nutzland Frankreichs auf 25.000 französische Quadratmeilen, die Bevölkerung auf 21-22 Millionen Köpfe und kam so auf die Quote von 7 Morgen je Kopf. 3 Wenig später machte einer der größten Männer des Sozialismus, der Arzt Charles Hall, das gleiche Divisionsexempel zur Grundlage einer grundsätzlich schon fast erschöpfenden sozialen Theorie.4 Ein Schüler von Adam Smith, der ja ebenfalls schon gelegentlich ausgeführt hatte, daß die Grundrente ein Monopolgewinn sei, „so hoch, wie er irgend erpreßt werden könne", macht er mit dieser Äußerung des in dieser Beziehung sehr wenig konsequenten Meisters Ernst und führt allen Mehrwert auf die Sperrung des Bodens zurück. Er zeigt, 60 Jahre vor Marx, warum in Amerika keine Armut aufkommen könne: die Armen können dem Drucke der Reichen ausweichen, solange noch freies Land verfügbar ist. Und er beweist, daß diese glücklichen Verhältnisse auch im Mutterlande noch bestehen könnten, wenn das Land richtig verteilt sei. Er dividiert die Fläche Englands durch die Zahl der Familien und zeigt, daß auf jede von ihnen nicht weniger als 36 Acres (ungefähr 14 ha) kommen würden, über und über genug, um alle im Wohlstande zu erhalten. Und er knüpft daran die Bemerkung, die zeigt, wie tief er in die sozialen Zusammenhänge hineingeblickt hat: „Und damit wäre die ganze Arbeit getan, um den gleichen Zustand unter den Menschen zuerst herbeizuführen und dann aufrechtzuerhalten; denn dies allein würde ausreichen, um allen anderen Besitz auf so gleicher Höhe zu erhalten, daß alle gegenwärtigen Schwierigkeiten vermieden werden; und das ist sicher weder unmöglich noch unausführbar.5"6 Hall ist sicherlich eines der bedeutendsten Phänomene in der Geschichte der Ökonomik. Freilich muß man anerkennen, daß er der Wahrheit noch näher stand, als die Zeit nach ihm, die ganz und gar „industriezentrisch" orientiert war, weil die Erscheinungen der städtischen Verhältnisse sich
1
Zitiert nach Georg Adler, Einleitung zu Hall, Die Wirkungen der Zivilisation auf die Massen, (Hauptwerke des Sozialismus und der Sozialpolitik, Bd. 4,) Leipzig 1905, S. 10.
2
Petty, The Economic Writings of Sir William Petty, Bd. 1, Cambridge 1899, S. 118.
3
Nach Aulard, Politische Geschichte der französischen Revolution, München/Leipzig 1924, S. 73f.
4
Hall, Die Wirkungen der Zivilisation auf die Massen, Leipzig 1905.
5
Nassau W . Senior hat das Exempel angestellt (Industrial Efficiency [and Social Economy], ed. by Leon Levy, N e w Y o r k 1928, S. 335ff.). Er kommt für die Zeit um 1830 auf einen Durchschnitt von 33,5 Acres Kulturland, wovon 13,5 Acres Pflugland, je agrarische Familie. Für Irland errechnet er für die gleiche Zeit, d. h. noch vor der furchtbaren Entvölkerung der dreißiger Jahre, 15 Acres Nutzland, wovon 5,5 Acres Pflugland, für jede der fast eine Million betragenden agrarischen Familien.
6
Hall, Die Wirkungen der Zivilisation auf die Massen, S. 80.
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Abschnitt
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allmächtig in den Vordergrund der Aufmerksamkeit drängten. Erst ein Jahrhundert später hat ein anderer phänomenaler Denker, H e n r y George, der ebenfalls in einem noch stark agrarischen Gemeinwesen, im Kalifornien der Jahrhundertmitte, lebte, die Zusammenhänge wenigstens geahnt. Leider war er durch die inzwischen ausgebaute Grundrententheorie Ricardos, die er völlig mißverstand, so verwirrt, daß er der Wahrheit nicht so nahe kommen konnte, wie sein genialer Vorgänger in England. A u c h H e n r y George hat gesehen, daß die Bodensperrung der Hauptgrund des sozialen Elends war, ein Gedanke, der sich in dem damals noch fast leeren, sehr fruchtbaren Lande aufdrängen mußte: aber er kam zu keiner konsequenten Lösung des Problems. 1 W i r wollen jetzt die von Locke angedeutete und von den Vorgängern zuerst aufgrund unsicherer statistischer Grundlagen angewendete Methode mit den uns heute zur Verfügung stehenden sicheren Ziffern durchführen. W i r stellen das Problem noch einmal mit voller Deutlichkeit auf: Es ist festzustellen, ob die Behauptung des Gesetzes der ursprünglichen Akkumulation wahr ist, daß die Klassenscheidung sich vollzog, nachdem der verfügbare Boden durch Nebeneinandersiedlung von lauter kleinen und mittleren Bauern voll besetzt war? U m diese Frage zu beantworten, ist offenbar der durchschnittliche Landbedarf einer Bauernfamilie unter den verschiedenen Zuständen der Kultur zu bestimmen, und mit dieser Größe in die vorhandene Nutzfläche zu dividieren. W i r beginnen selbstverständlich mit der vorgestellten Urgesellschaft der Freien und Gleichen, die sich im weiten menschenleeren Lande ausbreitet. Das unter diesen Umständen erforderte Durchschnittsmaß der Hufe haben wir bereits festgestellt, etwa acht Hektar. Rechnen wir, da diese primitiven Familien sehr kopfstark zu sein pflegen, einen ha je Kopf als Bedarf. Wie groß ist die zur Verfügung stehende Fläche? D a in diesem Zustande keine politischen Grenzen angenommen werden dürfen, können wir hier nur mit dem Nutzlande des gesamten Planeten rechnen. Die Gesamtoberfläche der Erde beträgt rund 510 Millionen qkm. Davon sind Landflächen 29,2 %, also rund 150 Millionen qkm. N a c h Abzug der Steppen, Wüsten und Polarkappen bleibt eine Nutzfläche von 134 Millionen qkm oder 13,4 Milliarden ha (Lämmel). Lassen wir alles andere außer der Rechnung, obgleich der Ozean Nahrung hergibt, und in Steppen, Wüsten und Polarzonen Menschen wohnen. Rechnen wir ferner höchst ausschweifend die volle Hälfte der Fläche für Forsten und Unland ab, so bleiben noch immer sieben Milliarden ha als reines Nutzland übrig. U n t e r der nicht minder ausschweifenden Annahme, daß es auf der ganzen Erde nicht einen einzigen Bergmann, Fischer, Schiffer, Kaufmann, Handwerker gäbe, wäre also Platz für sieben Milliarden Menschen. Die Erdbevölkerung hat aber die Zweimilliardengrenze kaum erreicht. Wenn der Boden nach dem naturrechtlichen Schema überall frei zugänglich gewesen wäre, so müßte die Zahl der Menschen sich verdreifachen, ehe die Ungleichheit in Gestalt grober, klassenbildender Unterschiede der E i n k o m m e n und Vermögen beginnen könnte. Man sieht, schon dieses Ergebnis ist für das angebliche Gesetz nicht sehr günstig. Immerhin kann man bei einigermaßen bösem Willen, wenn nicht Argumente, so doch Ausflüchte finden. Man könnte sagen, daß nicht alle Klimata für alle Rassen bewohnbar sind (als wenn wir nicht die Neger und die Kulis der Tropen in unsere Rechnung mit aufgenommen hätten); man könnte behaupten, daß sich der Ausbreitung unüberwindliche Hindernisse in den Weg stellen (als ob nicht die Tatsachen der Verbreitung des Menschengeschlechts über alle Zonen und seiner Anpassung an alle Klimata das Gegenteil bewiesen) usw.
1
Vgl. Oppenheimer, Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 1, München 1924, S. 265ff. und seinen Aufsatz: Irrtum und Wahrheit bei Henry George, in: Zeitschrift für schweizerische Statistik und Volkswirtschaft, 73. Jg., Heft 1 (1937).
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
Wir wollen darum die Rechnung an den Verhältnissen eines zivilisierten Landes aufmachen. Wir haben zuerst zu fragen: Wie groß ist hier der Landbedarf? Wir dürfen hier selbstverständlich nicht alle Einwohner als Bedürfende für Bodenbesitz annehmen. Denn der Begriff „zivilisiert" bedeutet eine in Landwirtschaft, Gewerben und Handel kooperierende Wirtschaftsgesellschaft. Nutzland ist also hier nur für die agrarische Bevölkerung notwendig; die anderen sind mit viel weniger für Wohnung und Werkstatt zufriedengestellt und finden diesen Raum sehr oft auf landwirtschaftlich unbrauchbarem Boden, den wir ja überreichlich aus unserer Rechnung lassen. Wie viel Nutzland braucht also der freie Bauer einer zivilisierten Gesellschaft zu mittelständischer Selbständigkeit? Ein paar von überall her zusammengeraffte Daten aus aller Welt: Alvin Johnson, einer der besten Fachkenner und Agrarpolitiker der Vereinigten Staaten, schreibt von der Landschaft der südatlantischen Region. „Jedermann kann auf fünf Acres (zwei ha) eine Existenz gründen, ein guter Mann auf zehn, ein Napoleon auf zwanzig." Vom Mittelwesten sagt er: „Jedermann hätte hier auf vierzig Acres und weniger bestehen können." Viele gingen aber zugrunde, weil sie in der Periode des Großbesitz-Wahnsinns (large-scale madness) viel zu viel Land genommen hätten. „Von 1.000 Acres hätte selbst ein Napoleon als Unterstützungsempfänger nach St. Helena flüchten müssen."1 Nach dem von Präsident Calles für Mexiko erlassenen Agrargesetz erhält die Familie vom besten bewässerten Lande 2-3 ha, von Land zweiter Klasse, halb bewässert, 3-4 ha zuzüglich 2-3 ha „feuchten" Bodens. Im Regengebiet, wo keine künstliche Bewässerung besteht, ist das Maß bei Boden erster Klasse 3-4 ha, bei zweiter Klasse 5-7, und bei dritter Klasse 7-9 ha. Nach Morison2 sind in Nordindien die Pachtungen im allgemeinen 4-5 Acres groß. Sismondi, ein Schwärmer für den kleinen Grundbesitz, ruft angesichts der nur von halbwilden Büffelherden und fast ebenso wilden Hirten bewohnten Campagna aus, daß hier in alter Zeit „cinq arpents nourrissaient une famille et formaient un soldat"5. Gilbert Slater4 berichtet, daß 30 Acres (12 ha) im feudalen England das Maximum einer Hufe darstellten. Das war "a yoke or virgate of land". Aber sie geht oft bis auf 5-6 Acres herab, und dabei hatte der Hintersasse noch für den Grundherrn zu arbeiten.5 Das rumänische Gesetz von 1830 (règlement organique) bewilligte bei der Regulierung der Bauern den Spannfähigen mit vier Ochsen in der fruchtbaren Moldau 4,40 ha, in der ärmeren Walachei im Maximum 7,5 ha; außerdem 1.400 bzw. 1.790 qm für Hof und Garten. Diejenigen, die nur zwei Ochsen besaßen, erhielten 4,93 bzw. 2,80, diejenigen, die kein Vieh hatten, 3,35 bzw. 2,25 ha. Plügge6 schreibt über Neuseeland: „Zum rentablen Betriebe der Molkereiwirtschaft ist - abgesehen von guter Wegverbindung oder der Nähe einer Faktorei - eine Mindestgröße der Güter von
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Johnson, Homesteads and subsistence homesteads, in: The Yale Review, No. XXIV (März 1935). Morison, The economic transition in India, London 1916. Sismondi, Nouveaux Principes S. 235, zitiert nach Gide et Rist, Histoire des doctrines économiques, Paris 1909, S. 220). Ein arpent hat nicht ganz 34 ar. 117 ha reichten also für eine Familie. Slater, Historical outline of land-ownership in England, in: The Land, Report of the Land Enquiry Committee, London 1913, S. LXI. Pettersen (in: Landwirtschaftliches Jahrbuch, Bd. XIX, S. 601) berechnet nach alten englischen Quellen die G r ö ß e der Erntefläche für Brotgetreide für die siebenköpfige Familie auf 10 Acres; für moderne Verhältnisse rechnet er auf Mittelboden 8 ha, auf Weizenboden 6 ha, bei Fruchtwechselwirtschaft noch weniger (S. 610). Plügge, Innere Kolonisation in Neuseeland (Probleme der Weltwirtschaft, Schriften des Kgl. Instituts für Seeverkehr und Weltwirtschaft a. d. Universität Kiel, Kaiser-Wilhelm-Stiftung, hrsg. von Professor Dr. Bernhard Harms, Nr. 26), Jena 1916, S. 106.
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etwa 20 Acker die Voraussetzung. Kleinere Stellen müssen sich anders behelfen. Schafe zum Zwekke der Fleischproduktion können auch auf Gütern von unter 50 Ackern gehalten werden." 1 Schachner2 gibt an, daß in Südaustralien und in Viktoria der Obstbau auf 10-15 Acres (4-6 ha) eine Familie ernährt. Wenn in Ländern wie Rumänien und Neuseeland mit ihrer unentwickelten Technik, ihrem schlechten Wegewesen und ihren geringen Preisen so wenig Land für einen Familienbedarf ausreicht - und der Neuseeländer macht recht hohe Ansprüche! - dann wird man nicht erstaunen, zu hören, daß alle agrarischen Autoritäten selbst für den Norden Europas zu nicht höheren Sätzen kommen. Sering3 sagt: „Lange Zeit schob man alle Schuld an dem zunehmenden Elend der russischen Bauernschaft ausschließlich auf die ungenügende Landausstattung, die sie bei der Emanzipation erhalten hatte. Es ist aber festgestellt, daß nur 23 % aller Bauernwirtschaften im Jahre 1905 weniger als 5 ha umfaßten. Das Land wird eben nicht richtig ausgenutzt."4 Auch Skalweit5 gibt 5 Deßj. (5 ha) als die Untergrenze, und 10 ha6 als die günstigste Größe an. Dabei sind die Erträge an Brotkorn und Kartoffeln noch nicht halb so groß wie sogar in Ostpreußen. An der gleichen Stelle berichtet Dr. Frost-Christiania über die agrarischen Verhältnisse der drei skandinavischen Staaten. Er sagt: „Die Grenze für die Selbständigkeit eines landwirtschaftlichen Betriebes liegt unter den rauheren klimatischen Bedingungen des Nordens naturgemäß höher als bei uns im Westen (Deutschlands) oder gar in den westlichen Nachbarländern, wie Holland oder Belgien, wo schon ein Betrieb von 2 ha unter Umständen selbständig sein kann. Im Norden kann man als Selbständigkeitsgrenze etwa 4 - 5 ha annehmen. In Dänemark etwas weniger, in Schweden und Norwegen etwas mehr." 7
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Plügge, Innere Kolonisation in Neuseeland, S. 108. Ein Acker = ca. 2/5 ha. Schachner, Australien in Politik, Wirtschaft, Kultur, Jena 1909, S. 257. Politik der Grundbesitzverteilung in den großen Reichen, Veröffentlichung des Königlich Preußischen Landesökonomie-Kollegiums, Heft 9 (1912), S. 20. Sering hält demnach auch für Rußland 5 ha durchschnittlich für ausreichend. Ich habe sogar 6-8 ha angenommen (siehe, Oppenheimer, Die soziale Frage und der Sozialismus, Jena 1919, S. 12f. [siehe ebenso in der vorliegenden Edition, Bd. Π, S. 632; A.d.R.]). Tugan-Baranowski erklärt diese Fläche für russische Verhältnisse als viel zu klein (in: Annalen für Sozialpolitik, ΠΙ. Jg., 1914, S. 477-481). Herkner stützt sich auf diese Kritik gegen mich (Die Arbeiterfrage, Bd. Π, 6. Aufl., Berlin 1916, S. 215). Es ist ihm leider entgangen, daß ich (Revue de Politique International, 1914. No. 9/10: „Le paysan russe") Tugan mit einer Replik gedient habe, die in ihm, wie ich annehme, die Lust zu einer Duplik nicht aufkommen lassen wird. Der russische Bauer hatte, soweit er wirklich mehr Land als das von mir angegebene Maß besaß, erstens nicht ausschließlich Akkerland, wie ich fordere, sondern Gesamtfläche, zu der vielfach große Stücke geringen Waldes, geringer Weide und Ödlandes (Torfland) gehören. Er lebte ferner nicht „unter halbwegs gesunden wirtschaftlichen Verhältnissen" wie ich weiter fordere: er besaß sein Land zumeist nicht in gutem wirtschaftlichen Zusammenhang, sondern zerfetzt in meilenweit auseinanderliegenden Teilstücken. Durch die ungeheure Breite der Raine ging ihm außerdem ein unverhältnismäßig großer Teil der Nutzfläche verloren. Und schließlich und hauptsächlich: der russische Bauer lebte wahrlich auch nicht „unter halbwegs gesunden staatlichen Verhältnissen": die Ablösungszahlungen, die Staatsabgaben und die Erpressungen der staatlichen und dörflichen Beamten und Wucherer nahmen ihm den allergrößten Teil seines Einkommens. Unter solchen Umständen würden auch 1.000 ha nicht für eine mittelständische Existenz hinreichen. Ich kann nicht umhin, Tugans Kritik als geradezu flüchtig zu bezeichnen. Skalweit, in: Die Landwirtschaft in den litauischen Gouvernements. Ihre Grundlagen und Leistungen, Jena 1918, S. 11. Ebenda, S. 163. Frost-Christiania, ebenda, S. 37.
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Zweiter Teil:
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Wir sind danach berechtigt anzunehmen, daß auch in Deutschland, an dem wir unser Divisionsexempel anstellen wollen, etwa fünf ha je Stelle, ein ha je Kopf, durchschnittlich zu mittelständischer bäuerlicher Existenz ausreichen. Das geht auch aus einer sehr einfachen Überlegung hervor: Wenn der germanische Urbauer, der wenigstens ein Drittel seiner siebenundeinhalb ha jährlich in der Brache liegen ließ, von seinen verbleibenden fünf ha den Nahrungsbedarf für seine viel zahlreichere Familie erzielen konnte, so muß das für die viel weniger kopfstarke Familie des modernen Bauern um so leichter möglich sein, weil sich inzwischen die Technik und der Ertrag in fast unvorstellbarer Weise gehoben haben. So ζ. B. ist die Brache in Deutschland so gut wie verschwunden. Freilich hatte der Urbauer noch die Jagd und den Fischfang und die Viehweide in den Wäldern. Wir werden dem gerecht, indem wir wieder die Fläche der Forsten und Weiden aus der Rechnung lassen. Dann ist ohne weiteres klar, daß die unvergleichlich höheren Erträge ausreichen müssen, um die bäuerliche Familie nicht nur zu ernähren, sondern zu befähigen, an allem Bedarf und Behagen einer höheren Gesittung teilzunehmen. Wie groß ist die agrarische Bevölkerung Deutschlands? So viele Hektare, wie sie Köpfe zählt, werden gebraucht. Wir wählen wieder die uns ungünstigste Ziffer aus der Zeit, wo Deutschland noch mehr als die eigene Nahrung erzeugte und Getreide exportierte. Das hatte etwa 1876 sein Ende erreicht. Seine Gesamtbevölkerung belief sich damals auf rund 43 Millionen,1 die agrarische Bevölkerung nach der Berufszählung von 1882 auf 18,7 Millionen.2 Zu ungefähr dieser Höhe war sie langsam seit Anfang des Jahrhunderts gestiegen, um dann ziemlich stark zu sinken, bis 1895 auf 17,8 Millionen, bis 1907 wieder um mehr als 800.000 Köpfe.3 (Wir geben die Ziffern für die Landwirtschaft im engeren Sinne, ohne Gärtnerei, Tierzucht, Forstwirtschaft und Fischerei.) Damit haben wir den Divisor festgestellt. Wie groß ist der Dividendus? Deutschlands Nutzfläche vor dem Weltkriege wurde von der älteren Statistik auf rund 34 Millionen ha von im ganzen rund 54 Millionen angegeben. In den letzten Jahren ist man strenger verfahren, hat die geringeren Weiden ausgeschlossen. Das Nutzland umfaßte rund 32 Millionen (genau: 31.834.874) ha: Ackerland, Wiesen, reiche Weiden, Nutzgärten, mit Ausschluß aller geringen Weiden, allen „Unlandes", zu dem auch rund 3 Vi Millionen kultivierbarer Moore gehören, und aller Forsten mit rund 17 Millionen ha. Es konnten also damals in Deutschland rund 32 Millionen Menschen in bäuerlicher Selbständigkeit leben. Es lebten aber im ganzen in der Landwirtschaft nur höchstens 18,7 Millionen, und davon war die starke Hälfte unselbständig! Es gab noch 1907 Unselbständige der Berufsgruppe A überhaupt insgesamt 9.670.000, also rund 9% Millionen in der Landwirtschaft allein, davon 9 Ά Millionen „landwirtschaftliche Arbeiter" mit ihren Angehörigen, d. h. Menschen, die entweder überhaupt kein Land oder nur ganz wenig besitzen. Wenn sich also die Besiedlung Deutschlands nach dem Schema der „Kinderfibel" vollzogen hätte, dann hätte jeder Landwirt ungefähr doppelt so viel Boden, wie er unter den Verhältnissen der heutigen Intensität bestellen könnte, oder fast die Hälfte des Landes stünde noch für die freie Besiedlung offen; Deutschland wäre heute noch eine „freie Kolonie", und die Klassenscheidung könnte noch nicht begonnen haben! Nun war aber zweifellos im Deutschland von 1876 die Klassenscheidung sehr weit gediehen. Das war nur möglich, wenn der Boden besetzt war. Nach dem Schema des Gesetzes der ursprünglichen Akkumulation ist er nicht besetzt worden, wie wir soeben nachgewiesen haben: also muß er auf andere Weise besetzt worden sein. Auf welche Weise? 1 2 3
[Ohne Autor], Artikel: Bevölkerungsstatistik, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 2, S. 879. [Ohne Autor], Artikel: Berufsstatistik, ebenda, S. 801. Quelle: Statistisches Jahrbuch des Deutschen Reichs, Berlin 1914, S. 14.
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„Wir haben gesehen, daß ein kleiner Teil des Volkes in diesen Staaten von dem Land, dem Viehstand darauf und allem, was es hervorbringt, zuerst Besitz ergriffen und dann vermittels dieses Besitzes die Herrschaft über die Arbeit des Volkes erlangt hat [...] Die Macht, in deren Besitz sie sind, verschafft ihnen die Mittel, sich sowohl diese selbst wie den Reichtum, der ihre Grundlage bildet, zu sichern [...] Davon ist der erste Schritt der, daß sie das Recht in Anspruch nehmen, Gesetze ohne Mitwirkung des Volkes zu geben, die aber das ganze Volk binden [...] Da die Dinge, die dem Volk genommen sind, nämlich das Land und seine Produkte, im höchsten Grade notwendig für das Wohlsein, ja die bloße Existenz des Volkes sind, so werden, um die Reichen instand zu setzen, diese Dinge zu wahren, harte und strenge Gesetze erforderlich sein."1 Was sagt nun die Statistik? Hier ist zuvor ein Warnungszeichen aufzurichten. Die statistischen Ziffern der einzelnen Länder sind nicht ohne weiteres miteinander vergleichbar, weil einige, ζ. B. Deutschland, nur die landwirtschaftliche Nutzfläche, andere, ζ. B. Frankreich, die Gesamtfläche betreffen, d. h. Wald, geringe Weide usw., mit einbeziehen. Vor allem aber haben wir fast überall nur Betriebs-, aber nicht Eigentumsstn'istik, und zwar aus guten, klassenpolitischen Gründen. Die Bodenherren wollen sich nicht zählen lassen, um ihre unverhältnismäßig geringe Zahl nicht bekannt werden zu lassen, gerade wie man, umgekehrt, es in Alt-Rom ablehnte, die Sklaven durch eine besondere Kleidung kenntlich zu machen: sie sollten sich ihrer unverhältnismäßig großen Zahl nicht bewußt werden. Die Betriebsstatistik aber fälscht das Bild sehr stark: das Großgrundeigentum erscheint viel kleiner als es ist. In Großbritannien ζ. B. gibt es kaum Großbetriebe überhaupt; die riesigen Besitzungen sind in lauter kleinen und mittleren Pachten ausgegeben, die nun als eigene Betriebe gezählt werden; ähnlich liegt es in Belgien und im westelbischen Deutschland. Mein Schüler Theodor Häbich hat in einer mühsamen Untersuchung („Deutsche Latifundien") feststellen können, daß dank dieser Tarnung wenige Latifundien mit einer Fläche von Millionen Hektar statistisch als Zehntausende von bäuerlichen Betrieben auftreten. Hinzu kommt noch, daß selbst dort, wo Ansätze zu einer Eigentumsstatistik bestehen, fast immer nicht die Eigentümer, sondern die Güter gezählt werden, so daß der Eigentümer von hundert Rittergütern hundertmal in der Statistik erscheint. Man muß, wo entsprechende Zahlen vorliegen, versuchen, aus den Angaben über Eigentumsund Pachtland sich ein einigermaßen zutreffendes Bild zu verschaffen. Aber selbst die Betriebsstatistik ergibt die Tatsache einer ganz ungeheuren Bodensperre in fast der ganzen bewohnten Welt. Was also sagt die Deutsche Betriebsstatistik, die nur den Anteil der Großbetriebe am landwirtschaftlichen Nutzlande, aber nicht ihren gleichfalls sehr bedeutenden Anteil am Deutschen Waldbestande angibt? Es gab 1907 2,4 Millionen „Hauptbetriebe" in der Landwirtschaft, die zusammen 28,7 Millionen ha der Nutzfläche belegten. Davon hatten die schwache Hälfte (1.180.000) mit einer Fläche von höchstens 5 ha zusammen etwas über 1/10 der Gesamtfläche in Besitz; der Durchschnitt war unter 2Vz ha. Zieht man die kleinen Mittelbauern von 5-10 ha mit dazu, so ergibt sich, daß etwa % aller Hauptbetriebe zusammen etwa ein Viertel der Nutzfläche einnehmen. Der Durchschnitt ist dann erst auf 4 ha gestiegen. Wir müssen auch noch die nächste Klasse, die großen Mittelbauern mit 10-20 ha Nutzfläche, also eine Klasse hinzuziehen, die bereits im Durchschnitt über das Maximum hinausragt, das selbst auf geringem Boden in schlechter Verkehrslage ohne fremde Hilfskräfte bewirtschaftet werden kann (der Durchschnitt dieser Klasse ist 14 ha).
1
Hall, Die Wirkungen der Zivilisation auf die Massen, S. 46.
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Alle diese Parzellen- und Zwergbetriebe, kleinbäuerlichen und kleinen und großen mittelbäuerlichen Betriebe zusammen sind volle 90 % aller deutschen landwirtschaftlichen Hauptbetriebe. Aber sie haben nur 44 % der Nutzfläche! Durchschnittlich fällt auf jeden von ihnen erst 5,8 ha. W i r haben also unsere Grenze kaum überschritten, und noch sind 56 % des deutschen Bodens frei. Diese 56 % des Bodens waren „okkupiert" von 10 % der Betriebe, und zwar rund 6,6 Millionen ha von rund 219.000 „kleinen" und 2,4 Millionen ha von rund 35.000 „großen" Großbauern (jene von 2050, diese von 50-100 ha), der Rest von rund 23.000 Großbetrieben über 100 ha mit rund 7 Millionen ha. Nach der neuesten Reichsstatistik entfallen auf die Zwerg- und Kleinbetriebe bis 5 ha Nutzland, zusammen 4 Millionen, rund 80 % aller Betriebe, nur 17,6 % der Nutzfläche; dagegen auf die rund 219.000 Großbauern- und Großbetriebe 46,6% der Fläche. Dort ist der Durchschnitt 1,1 ha, hier 60 ha; auf die Großbetriebe über 100 ha entfallen durchschnittlich 280, auf die größeren Großbetriebe über 200 ha 410 ha. Betrachten wir noch die Verteilung der Bevölkerung auf dieser Fläche. Die Kleinbetriebe von 0,5 bis 5 ha beschäftigten nicht weniger als 7.363.000 Menschen auf ihrer Fläche von 4.512.000 ha also mehr als 1,63 Kopf je ha. Demgegenüber beschäftigten die Großbauern- und Großbetriebe nur 2.733.000 Menschen, also 0,228 Köpfe je ha. Bei den Mittelbetrieben kamen 0,46 Arbeitskräfte auf den ha, das doppelte des Großbauernbetriebes, fast das Zweieinhalbfache des Großbetriebes. Der Kleinbetrieb hat also die siebenfache Fassungskraft für Menschen. Auch diese Ziffern bestätigen unsere Ansicht, daß Deutschland leicht die doppelte Zahl seiner agrarischen Bevölkerung in mittelständischer Lage ernähren könnte, wenn das ganze Land an Bauern oder Bauerngenossenschaften aufgeteilt würde. Wenn wir etwas in der Geschichte genau wissen, so wissen wir, wie diese Landverteilung zustande gekommen ist. Der Großbesitz verdankt seine Entstehung der Eroberung, und der Großbauernbesitz zumeist dem Bedürfnis des ostelbischen Adels, sich nach der Steinschen Gesetzgebung eine abhängige Arbeiterschaft zu sichern. Zu dem Zwecke gaben sie das Land, das sie doch einmal abzugeben hatten, an möglichst wenige der ehemaligen Erbuntertanen in möglichst großen Stükken, damit so viele wie möglich nichts oder nicht genug zur Selbständigkeit erhalten möchten: sie schufen, wie Knapp sich treffend ausdrückt, auf der einen Seite den „Landmann ohne Dienst", und auf der anderen Seite den „Dienstmann ohne Land". Diese ganze Landverteilung ist ohne jeden Zweifel Schöpfung nicht des ökonomischen, sondern des politischen Mittels in seinen krassesten Formen als Eroberung, Klassengesetzgebung und Klassenverwaltung. Was für das dicht besiedelte Deutschland gilt, gilt natürlich für alle anderen weniger dicht besiedelten Länder des Planeten (und es gibt wenige noch dichter besiedelte) mit verstärkter Kraft. Vom übrigen Europa ist ein statistisches Bild nur sehr unvollständig zu gewinnen. Italien und Spanien, beides bekanntlich Länder mit ungeheurem Latifundienbesitz, haben „weder eine Grundbesitz- noch Betriebsstatistik, aus denen man die Größe der einzelnen Betriebe erkennen kann" 1 . Die Staaten Mittel- und Osteuropas sind durch den Weltkrieg in ihren Grenzen und vielfach durch Agrarreformen in ihrem sozialen Aufbau überaus stark verändert worden; die Tschechoslovakei ist als selbständiger Staat erst neu entstanden, in Rußland ist das ehemals ungeheure Großgrundeigentum verschwunden. Es bedarf keiner Statistik, um zu beweisen, daß auch in Ungarn, Österreichisch-Polen und Rumänien ein kolossaler Großgrundbesitz bestand. Einige Stichproben werden genügen: In den Bezirken Böhmen, Schlesien und Mähren der heutigen Tschechoslovakei (ohne das Hultschiner Ländchen) hatten 1896 rund 1,33 Millionen Betriebe bis zu 10 ha (89 % der Zahl) rund
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Ritter, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Ergänzungsband, S. 463 u. 470.
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1,8 Millionen ha (23 % der Fläche) inne. Dagegen besaßen 2308 Betriebe über 100 ha (0,16% der Zahl), 38 % der Fläche. Davon waren über 2.000 ha groß 236 Betriebe (0,016 % der Zahl) mit 28 % der Fläche. In Polen besaßen vor dem Kriege bis zu 5 ha 61 % der Betriebe, die 13,4 % der Fläche einnahmen. Unter Einrechnung sämtlicher Mittelbauern bis zu 20 ha Fläche besaßen 95 % der Zahl 44 % der Fläche. Genau so viel besaßen die Betriebe über 100 ha, die aber nur 0,8 % der Zahl ausmachten. Nach dem Kriege, 1921, besetzten 87% der Betriebe bis zu 10 ha 33 % der Fläche, aber die Besitzungen von 1.000 ha und mehr (0,06 % der Zahl) 21 % der Fläche. In Rumänien nahmen vor dem Kriege die Besitzungen mit mehr als 100 ha 48,6 % der Fläche ein. Was Großbritannien anlangt, so ist seine Betriebsstatistik aus den Eingangs angeführten Gründen gänzlich irreführend. Es ist aber allgemein bekannt, in wie ungeheurem Maße die Latifundien in allen Teilen des Vereinigten Königreichs überwiegen. Nur in Irland hat in den letzten Jahrzehnten eine starke Bodenreform das Großgrundeigentum beträchtlich verkleinert. Nach K. Ritter hat Arnold errechnet, daß 1873 vier Fünftel der Gesamtfläche Großbritanniens und Irlands 7.000 Besitzern gehörten. 1 Da es im Jahre 1874 in England rund 963.000, in Schottland rund 130.000 Eigentümer unter 200 ha gab, kann man ungefähr ermessen, wie viel für sie übrigblieb. Ein reines Bauernland ist nur Norwegen, das nur 26 Betriebe über 100 ha mit zusammen 3.443 ha Nutzland aufweist. Nicht viel ungünstiger stehen Dänemark, Bulgarien und Alt-Serbien. Dagegen besteht sowohl in Frankreich wie in der Schweiz und Holland eine starke Bodensperre, wenn sie auch init der in Mittel-, Süd- und Osteuropa bestehenden nicht zu vergleichen ist. Frankreich wird vielfach als ein überwiegendes Bauernland betrachtet, weil die große Revolution bedeutende Teile des feudalen Großgrundeigentums beseitigt hat. Aber gesperrt ist der Boden dennoch auch hier: mehr als zwei Fünftel des Landes liegen in Besitzungen von über 40 ha. Und von dieser Größe an rechnet man dort mit Recht das Großeigentum, soviel besser als in Deutschland ist durchschnittlich der Boden, und soviel günstiger sind das Klima und die Markt- und Verkehrsverhältnisse. 2-2 Vi ha sind hier, wie wir erfuhren, durchschnittlich ausreichend für bäuerliche Selbständigkeit, während in Deutschland 4-5 ha erforderlich sind. Das 20-fache dieser Größe gilt hier wie dort als Großeigentum. Das Land hatte 1908 rund 5,5 Millionen Betriebe auf einer Fläche von rund 50 Millionen ha, davon hatten 4,6 Millionen Betriebe bis zu zehn ha (84 % der Zahl) rund 12,8 Millionen ha, (25,6 % der Fläche). Über 40-100 ha hatten 108.000 Betriebe (2 % der Zahl) mit 6,23 Millionen ha (12,5 % der Fläche). Über hundert ha hatten 29.547 Betriebe (0,53 % der Zahl), auf 16,2 Millionen ha (32 % der Fläche), also die Großbetriebe zusammen, 2,53 % der Zahl, 44,5 % der Fläche. Fast die Hälfte der bebauten Fläche liegt außerdem unter Pachtbetrieb. In der Schweiz gab es (1905) rund 244.000 Betriebe „mit gutem Besitzrecht" auf 2.088.000 ha, also im Durchschnitt 8,6 ha, davon hatten bis zu 10 ha 82,5 % der Zahl auf 35 % der Fläche. Über 71 ha hatten 1,1 % der Zahl mit 29,7 % der Fläche. Von den Betrieben mit nicht gutem Besitzrecht, also überwiegend Zeitpachtungen, existierte damals keine Statistik. Die Niederlande wetteifern mit den besten Teilen Frankreichs an Fruchtbarkeit und Verkehrsgunst. Das Land hat rund 2,5 Millionen ha guten Acker- und Weidelandes. Es gab (1921) Betriebe unter ein ha rund 63.400, über ein ha rund 222.000 zusammen 285.640. Somit ein Durchschnitt von 9 ha je Betrieb, das Dreifache, mindestens das Doppelte des hier für bäuerliche Selbständigkeit
1
Nach Sering (Die agrarischen Grundlagen der Sozialverfassung: Großbritannien, Deutschland, Südslawische Länder. In: Probleme des deutschen Wirtschaftslebens, Berlin 1937, S. 824) besaßen damals 4.200 Personen mehr als die Hälfte der Gesamtfläche von England und Wales, 580 Personen vier Fünftel derjenigen von Schottland. 1931 betrug die agrarische Bevölkerung nur noch 5,4% der Gesamtbevölkerung Großbritanniens.
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Erforderlichen. Es gab aber Betriebe von 1-5 ha 113.000 auf 274.000 ha, also durchschnittlich nur 2,4 ha. Es waren 51 % der Zahl aller Betriebe über einen ha auf nur 14 % der Fläche. Zieht man die Bauern bis zu 10 ha mit heran, so bewirtschafteten 72 % der Zahl nur 31 % der Fläche. Dagegen gab es rund 2.900 Betriebe über 50 ha (1,3 % der Zahl), die 15 % der Fläche belegten. 44 % der Zahl und 48 % der Fläche waren Pachtungen, tarnten also das Großgrundeigentum. Unser Divisionsexempel hat ein völlig eindeutiges Resultat ergeben. Das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation ist nicht nur induktiv, durch die Tatsachen, sondern auch deduktiv, aus seiner eigenen Voraussetzung heraus, widerlegt. Wir werden jetzt daran gehen, die notwendigen Folgerungen zu ziehen.
2. Konstituiert das Großgrundeigentum ein Monopol? Wir haben gezeigt, daß das bisher unlösbare Problem des Kapitalprofits sich sehr leicht löst, wenn gezeigt werden kann, daß die „freien Arbeiter" der Gegenwart sich beim Verkauf ihrer Dienste immer Monopolisten gegenüber befinden. Diesem Nachweis sind wir jetzt ein großes Stück näher gekommen. Denn ohne Zweifel stellt die Bodensperre ein Monopol dar. Das Land ist nicht ein beliebig vermehrbares, sondern ein unvermehrbares Gut. Das bißchen Boden, der durch Deichbauten, Moorkultur, artesische Brunnen und sonstige Bewässerung usw. neu gewonnen werden kann, kann vernachlässigt werden. Mithin kann auch ohne Verabredung der zahlreichen Eigentümer am Boden ein „Oligopol" bestehen. Das hat Schumpeter in seiner Kritik meiner Lehre nicht beachtet. Er schreibt: „Die behauptete Unvermehrbarkeit schließt aber Konkurrenz unter den Grundeigentümern keineswegs aus, und es wurde mit Recht hervorgehoben, daß von einem Monopole nur dort die Rede sein könne, wo ein Wirtschaftssubjekt das Angebot eines Gutes vollständig beherrscht." 1 / 2 Schumpeter hat ausdrücklich zugegeben, daß gegen meine Lehre kein Einwand mehr erhoben werden könnte, wenn in der Tat nachgewiesen werden könnte, daß das Bodenmonopol bestehe.3 Nur bestehe es eben nicht! Ich verteidigte meine Auffassung, in dem ich Schumpeters irrige Lehre vom Monopol angriff 4 er replizierte 5 , ich duplizierte 6 und seitdem ist nichts weiteres erfolgt. Ahnliche Erwägungen spielen gewiß auch bei v. Wieser ihre Rolle, der die gleiche falsche Theorie vorträgt. 1 Er kommt von hier aus sogar dazu, den Monopolcharakter des städtischen Wohnbo-
1 2
Schumpeter, Wesen und Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, Leipzig 1908, S. 371. Vgl. ebenda, S. 263: „[Unter Monopol] verstehen wir die völlige Beherrschung entweder der Nachfrage nach einem oder des Angebots an einem Gute durch ein Individuum oder eine Kombination von solchen, wenn die letztere eine gemeinsame Preispolitik zur Folge hat und jede Konkurrenz zwischen ihren Mitgliedern ausschließt." Auf S. 269 hat er freilich die richtige Erkenntnis, daß auch im Falle „beschränkter Konkurrenz" ein Monopolpreis nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich ist, auch ohne Verabredung. Aber diese Erkenntnis bleibt, wie die oben im Text angeführte Stelle zeigt, ohne Konsequenz.
3
Derselbe, Das Grundprinzip der Verteilungslehre, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. 42 (1916/17), S. 24f. Oppenheimer, Das Bodenmonopol. Zu Joseph Schumpeters Das Grundprinzip der Verteilungslehre, ebenda, Bd. 44 (1917/18), S. 487-494 [siehe im vorliegenden Band, S. 105-110; A.d.R.]. Schumpeter, Das Bodenmonopol. Eine Entgegnung auf Dr. Oppenheimers Artikel, ebenda, S. 495ff. Oppenheimer, Das Bodenmonopol, ebenda, Bd. 47 (1920/21), S. 866ff. Der Abdruck dieser Duplik wurde jahrelang verzögert, weil die Redaktion auf Schumpeters Antwort wartete - vergeblich!
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dens zu leugnen, den fast alle uns bekannten Autoren anerkennen, unter ihnen Männer wie Carl Bücher und Adolph Wagner. Dieser spricht aber auch öfter von allem Boden ohne Einschränkung als einem Monopol.2 Böhm-Bawerk1 erklärt den gesamten Grund und Boden für ein Monopolgut, ebenso wie Patente, Autorenrechte und natürliche Rechts- und Seltenheitsgüter. v. Wiesers Auffassung beruht zum Teil auf der oben als irrtümlich nachgewiesenen Auffassung von Ricardos Theorie in bezug auf die beliebig reproduzierbaren und die Monopolgüter. Sie bedarf keiner Widerlegung weiter. Dagegen klingt hier ein Einwand an, der einer eigenen Besprechung bedarf: „so weit freie Bodenklassen noch zur Verfügung stehen, wie es ja die Regel ist". Wenn das der Fall ist, wenn dem Siedlungsbedürfnis auch nur die geringsten Bodenklassen noch „zur Verfügung" stehen, dann allerdings ist der Boden kein Monopol. Aber es ist nicht der Fall! v. Wieser, der auch hier wieder in den ersten Sätzen scharf gegen Ricardo polemisiert, wo dieser unzweifelhaft recht hat, akzeptiert in den letzten Sätzen eine Teillehre Ricardos, die offenbar falsch ist. Wo Ricardo von „noch freiem Boden" spricht, meint er immer ungenutzten, niemals aber herrenlosen Acker;4 und er spricht niemals von der Möglichkeit, daß noch ungenutzter Acker dennoch schon zum Zwecke spekulativer Sperrung appropriiert sein könnte. Dadurch verriegelt er sich den einzigen Weg zur vollen Klärung der Phänomene, um die es sich handelt, und v. Wieser folgt ihm gerade hier ohne Bedenken. „Freie Bodenklassen" sind zwar noch sehr reichlich vorhanden, und zwar Böden noch geringerer Rentierung als der „Grenzboden" überall, auch in alt angebauten Ländern, und massenhaft Boden aller Qualitätsklassen in noch nicht erschlossenen Gebieten des Planeten. Aber dieses vorhandene Land ist für die Landlosen der Unterklasse wirtschaftlich nicht verfügbar, „steht nicht zur Verfügung", wie v. Wieser annimmt. Wir zitieren hier einen Satz Carl Mengers: „Verfügbar im wirtschaftlichen Sinne des Wortes ist jemandem ein Gut, wenn er dasselbe zur Befriedigung seiner Bedürfnisse heranzuziehen in der Lage ist. Dem können physische oder rechtliche Hindernisse entgegenstehen."5 Nun, was das noch ungenutzte Land in alt angebauten Gebieten betrifft, so steht seiner „Heranziehung zur Befriedigung der Bedürfnisse" der Landlosen aus der Unterklasse das „rechtliche Hindernis" der Appropriation entgegen. Es ist völlig appropriiert.6 Mehr als das! So weit wie in absehbarer Zeit die wirtschaftlichen Beziehungen reichen werden, ist alles Land zwar noch nicht wirtschaftlich, wohl aber schon rechtlich besetzt, durch Spekulanten monopolisiert, wie wir sofort darstellen werden. Aller Boden aber, der noch jenseits dieses „schmalen Randes" liegt, ist wohl physisch, aber nicht wirtschaftlich vorhanden: er könnte ebensowohl auf dem Mars vorhanden sein. Daß solche spekulative Sperrung freier Güter theoretisch denkbar ist, dafür kann ich mich auf Autoritäten berufen, die meiner Auffassung sonst feindlich gegenüberstehen. Zunächst auf Marx
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v. Wieser, Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft, S. 249. Vgl. ζ. B. Wagner, Grundlegung der politischen Ökonomie, Bd. 2, S. 350, wo er ohne Einschränkung vom „Monopolcharakter des Bodens" spricht. Vgl. auch derselbe, Theoretische Sozialökonomik, S. 248. Böhm-Bawerk, Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien, Innsbruck 1884, S. 530. Vgl. Oppenheimer, David Ricardos Grundrententheorie, Berlin 1909, S. 66 [siehe in der vorliegenden Edition, Bd. I: Theoretische Grundlegung, S. 514; A.d.R.]. Menger, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Wien 1871, S. 70. Was das aber zu bedeuten hat, erkannte sogar der oberste aller bürgerlichen Apologeten, Nassau W. Senior: „Wo die Hilfe der Kräfte, die wir mit dem allgemeinen Namen Naturkräfte bezeichnet haben, Gegenstand eines Besitztitels geworden ist, ist das Resultat wertvoller als das Produkt gleicher Arbeit und Abstinenz, die ohne solche Hilfe geblieben sind. Ein so produziertes Gut wird Gegenstand eines Monopols genannt, und der Eigentümer heißt Monopolist." (Senior, Political Economy, 3. Auflage, London/Glasgow 1854, S. 103).
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und Kautsky. Marx sagt: „Man gebe der jungfräulichen Erde einen vom Gesetz der Zufuhr unabhängigen künstlichen Preis, welcher die Einwanderer zwingt, längere Zeit zu lohnarbeiten." Und Kautsky bestätigt: „Gewaltsame Trennung des Arbeiters von den Produktions- und Lebensmitteln und künstliche Erzeugung einer überschüssigen Arbeiterbevölkerung." Das ist genau das, was ich behaupte. Da nun der Charakter eines Bodens als „jungfräulich" doch unmöglich an sich die Eigenschaft haben kann, die „Kapitalwerdung" von Geld und Produktionsmitteln zu verhindern, - da es sich vielmehr offenbar um nichts anderes handeln kann, als um das ziffernmäßige Verhältnis des Bodenvorrates zu der Zahl der landbedürftigen Menschen: so wird man doch wohl einmal mein so tief verachtetes „Divisionsexempel" nachrechnen müssen. Wir können uns außer auf Marx auch auf Carl Menger berufen. Er schreibt: „Umgekehrt können Güter, welche den Menschen von Natur aus in einer ihren Bedarf übersteigenden Quantität verfügbar sind, doch für die Konsumenten derselben den ökonomischen Charakter erlangen, wenn ein Gewalthaber die übrigen wirtschaftenden Subjekte von der freien Verfügung über diese Güter ausschließt." Und er fügt auf der folgenden Seite hinzu: „Wenn die verfügbare Quantität eines nicht-ökonomischen (d. i. freien) Gutes sich fortdauernd verringert, bzw. der Bedarf an demselben sich fortdauernd vermehrt, und das Verhältnis zwischen beiden ein solches ist, daß der endliche Übergang des nicht-ökonomischen Charakters des in Rede stehenden Gutes in den ökonomischen vorausgesehen werden kann, so pflegen die wirtschaftenden Individuen konkrete Teilquantitäten desselben, auch wenn das den nicht-ökonomischen Charakter des Gutes begründende Quantitätenverhältnis noch tatsächlich vorliegt, mit Rücksicht auf künftige Zeiträume, doch bereits zu Gegenständen ihrer Wirtschaft zu machen und unter sozialen Verhältnissen sich ihren individuellen Bedarf durch Besitzergreifung entsprechender Quantitäten sicher zu stellen."1 In kurzen Worten: ein freies Gut kann durch spekulative Sperrung den Charakter eines ökonomischen Gutes, und zwar selbstverständlich eines Monopolgutes erlangen. Die Möglichkeit liegt also vor, daß das Monopol an dem freien Gute „Boden" ein künstliches Rechtsmonopol ist. Und ebenso liegt die Möglichkeit vor, die Frage durch eine einfache Rechnung zu entscheiden. Diese Rechnung vorzunehmen sind namentlich die Grenznutzentheoretiker verpflichtet. Sie stimmen - selbstverständlich! - darin überein, daß dem nicht bevorzugten Boden so lange kein Wertteil des Ertrages „zuzurechnen" ist, wie er noch „freies Gut" ist. Aber auch sie fragen niemals, unter welchen Verhältnissen von Vorrat und Bevölkerung er noch freies Gut ist. Böhm-Bawerk schreibt ζ. B.: „Bei dünner Bevölkerung können natürlich die Bodennutzungen [...] überschüssig vorhandene freie Güter sein; aber in unseren Verhältnissen [...] sind sie durchweg wirtschaftliche Güter." 2 Ich bitte um Verzeihung: Was heißt das: „dünne Bevölkerung"? Wie viele Köpfe auf den Quadratkilometer? Ein weiterer Einwand, der mir gemacht worden ist, ist der folgende: nimm an, daß irgendwo viele Großgrundbesitzer wenigen freien Arbeitern gegenüberstehen; dann kann von einem Monopolcharakter des Bodens offenbar nicht die Rede sein.
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Menger, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, S. 64; im Original nichts kursiv. Böhm-Bawerk, Positive Theorie des Kapitals, Innsbruck 1909, S. 146, Anm.
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Richtig, und sogar von mir selbst schon in den ersten Auflagen meines Lehrbuchs ausdrücklich festgestellt. Aber wir theoretisieren nicht, wie die bürgerlichen Schulen, im luftleeren Räume, sondern uns handelt es sich jedes Mal darum, eine bestimmte geschichtliche Situation in Fachausdrücken darzustellen, mit denen die Deduktion rechnen kann. Auch hier wieder ist die Ökonomik soziologisch bedingt. Diese Situation war aber und ist genau die umgekehrte: wenige Großgrundbesitzer standen und stehen noch immer vielen freien Landarbeitern gegenüber. Und damit ist die „einseitige Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses", die das Monopolverhältnis konstituiert, gegeben.1 Das hat ein letzter Autor übersehen (ich will seinen Namen schonungsvoll verschweigen), der in seiner tiefsten Not seine Zuflucht dazu nahm, das Monopol überhaupt zu leugnen, und zwar mit der geistreichen Begründung, der Monopolist brauche seine Kontrahenten gerade so gut wie diese ihn. Von der Konkurrenz „ganz auf einer Seite", einem der ältesten Bestandteile der Theorie, war hier jeder Schatten einer Erinnerung geschwunden. Man könnte mit ganz dem gleichen Rechte sagen, daß alles Wiegen sinnlos ist, weil man ja doch auf beide Waagschalen schwere Objekte bringt. Dabei könne nichts herauskommen. Es kommt auch beim Monopol nur darauf an, welche Gewichte von beiden Seiten auf die Waage gebracht werden: ihr Verhältnis bestimmt an der Skala den Wert oder Preis. Diese allgemeine Bestimmung, die ernsthaft gar nicht bezweifelt werden kann, ohne den Zweifler sofort durch tausend Tatsachen des uns umgebenden Lebens ad absurdum zu führen, gilt nun auch für den uns hier interessierenden Sonderfall des auf der Sperrung beruhenden Bodenmonopols. Nichts ist klarer, als daß die Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses unter dem Bodenmonopol überwiegend auf Seite der Unterklasse ist. Sie muß verhungern, wenn sie nicht den gebotenen Lohn annimmt, die Oberklasse aber müßte lediglich arbeiten und sich mit geringerem Einkommen begnügen, wenn sie keine Lohnarbeiter fände; und so muß unter nicht durchaus ungewöhnlichen Umständen der Monopolgewinn des Kapitalprofits herausspringen. Fassen wir unsere These zusammen: aller wirtschaftlich in Betracht kommende Grund und Boden, das unproduzierte Produktionsmittel der kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft, ist im Besitz eines kleinen Teils der Bevölkerung. Ein weiterer, ebenfalls kleiner Teil ist im Besitz größerer Stämme von produzierten Produktionsmitteln oder „Kapital im volkswirtschaftlichen Sinne". Der größte Teil der Bevölkerung ist ohne jedes Produktionsmittel und daher gezwungen, unselbständige Dienste auf dem Markt anzubieten. Offenbar konstituiert diese gesellschaftliche Lagerung zwischen der Oberklasse, die die Produktionsmittel besitzt, und der „freien" Unterklasse ein gesellschaftliches Monopolverhältnis·, und zwar handelt es sich um ein Einkaufsmonopol gegenüber den Produzenten von Diensten. Lexis sagt ausdrücklich: „Der großkapitalistische Unternehmer hat seinen Arbeitern gegenüber eine Art von Einkaufsmonopol im Bezug der Arbeit."2 Zuckerkandl sagt: „Die Arbeitslöhne werden wegen der größeren wirtschaftlichen Macht der Käufer der Arbeit zugunsten dieser letzteren gestellt."' Etwas Ahnliches konstatiert sogar v. Wieser:
1
Vgl. Smith, Wealth of Nations, I. Buch, Kap. 8: "In all such disputes the masters can hold out much longer [...] In the long run the workman may be as necessary to his master as his master is to him; but the necessity is not so immediate."
2
Lexis, Artikel: Monopol, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 6, S. 769.
3
Zuckerkandl, Zur Theorie des Preises, S. 309.
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„Der gleiche Fall - wie beim Wucher - ereignet sich beim Lohnvertrag, den ein rücksichtsloser Unternehmer mit Arbeitern abschließt, welche, weil ihnen die Mittel zum Widerstande fehlen, sich gegen einen Hungerlohn zu erschöpfender Arbeitsleistung verpflichten."1 Er spricht hier allerdings von wucherischen Ausschreitungen bei dem sonst als normal betrachteten Arbeitsvertrage. Da er aber kein Mittel besitzt, um den normalen Arbeitslohn abzuleiten,2 so ist die Frage gestattet, ob nicht bereits der normale kapitalistische Arbeitsvertrag eine derartige Ausbeutung mit sich bringt.3 Der Beweis ist geführt. Der Boden kann nach der guten Theorie Gegenstand eines Monopols sein, auch der wirtschaftlich noch nicht genützte jenseits des europäischen Kulturkreises. Und er ist es tatsächlich innerhalb dieses Kreises. Es bleibt uns noch zu zeigen, daß er auch außerhalb des Kulturkreises tatsächlich gesperrt ist, namentlich in den überseeischen Kolonien der Europäer.
3. Die Bodensperre Zunächst einiges aus der Besiedlungsgeschichte des größten und reichsten Siedlungsgebietes der weißen Rasse, der Vereinigten Staaten von Nordamerika: Wir beginnen mit dem Anfang, indem wir im wesentlichen Gustavus Myers' „Geschichte der großen amerikanischen Vermögen" folgen: „Fast alle Kolonien wurden von privilegierten Gesellschaften besiedelt. [...] Diese Korporationen waren mit ungeheuren Rechten und Privilegien ausgerüstet, die sie tatsächlich zu unumschränkten Regenten machten. Die geldbedürftigen Edelleute und Herren, die sich ζ. B. nach Virginien einschifften, fanden keine Schwierigkeit, weite Ländereien verliehen zu bekommen [...] nur störte sie der Mangel an Arbeitskräften. Diesem Notstande wurde sofort abgeholfen durch den Ankauf weißer Dienstverpflichteter in England, die an den Meistbietenden verkauft wurden [...] Dann fing man an, so viele Leute aus den ärmeren Klassen Englands, als man unter irgendeinem Vorwande dazu pressen konnte, zusammenzuscharren und als leibeigene Arbeiter hinüberzuschicken. Arme Teufel, die man wegen irgendeines der zahlreichen Vergehen, die damals schwer bestraft wurden, verurteilt hatte, wurden als Verbrecher in die Kolonien transportiert oder als Sklaven für einen Zeitraum von Jahren verkauft [...] Diese Methode, den ,Abschaum' fortzuschaffen, wurde für notwendig und berechtigt gehalten."4 Aber diese Zufuhr von Arbeitern langte dennoch nicht hin, und so kam es zur Einführung der Negersklaverei. Jetzt konnte dieses neufeudale Großgrundeigentum sich nach Belieben ausdehnen: „Pflanzungen von 50-60.000 Acres waren nicht ungewöhnlich".
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v. Wieser, Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft, S. 246. Schumpeter (Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, S. 267f.) gibt ausdrücklich zu, daß mit den Mitteln der Grenznutzenschule ein Monopolpreis ziffernmäßig nicht abgeleitet werden kann.
3
Böhm-Bawerk macht in einer Anmerkung zu seiner Kritik von v. Thünen (Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorie, S. 207) die folgende nachdenkliche Bemerkung: „Daraus, daß die Gesellschaft im ganzen imstande ist, mit Hilfe des Kapitals dieses selbst zu erneuern, und doch darüber hinaus mehr Produkte zu erzeugen, folgt noch gar nichts für die Existenz eines Kapitalzinses. Denn dieses Plus könnte ebensogut als Mehrlohn an die Arbeiter, die ja zur Erzielung desselben ebenso unentbehrlich waren als das Kapital, statt als Zins an die Kapitalisten erfolgt werden."
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Myers, Geschichte der großen amerikanischen Vermögen, S. 3f.
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Das gleiche geschah im damals noch niederländischen Norden. Nach dem Gesetz von 1629 sollte jeder, dem es gelänge, eine Kolonie von 50 „Seelen" zu gründen, deren jede mehr als 15 Jahre alt sein mußte, sofort ein „Patron" werden mit allen Rechten der Lordschaft. Ihm wurde gestattet, 16 Meilen an der Küste oder auf einer Seite eines schiffbaren Flusses in Besitz zu nehmen; oder aber, er konnte 8 Meilen auf einer Seite eines Flusses nehmen und das zugehörige Land so weit bis ins Innere, wie die Lage der Besitzergreifenden zulassen wird. Der Rechtsanspruch wurde dem Patron für immer verliehen.1 Das Gesetz von 1635 erweiterte diese Rechte und ermäßigte die Bedingungen noch mehr. Der Patron erhielt ganz allein und ohne Berufung die „hohe, niedere und mittlere Rechtsprechung" und zwar aufgrund der von ihm selbst ohne Beschränkung erlassenen Gesetze. Von diesen glänzenden Möglichkeiten machten vor allem die großen, aber plebejischen und von ihrem heimischen alten Adel über die Achsel angesehenen Kaufleute des Mutterlandes Gebrauch, die auf diese Weise nicht nur gute Geschäfte machen, sondern zu so unumschränkter Feudalgewalt emporsteigen konnten, wie sie in Europa außer im Osten schon lange nicht mehr existierte. Einer der Direktoren der Kolonialgesellschaft, die diese ungeheuren Rechte zu vergeben hatte, der holländisch-westindischen Kompanie, Adriaen van Rensselaer, kaufte 1630 durch seine Agenten (er selbst scheint niemals drüben gewesen zu sein) den Indianern für einige Wolltuche, Äxte usw. eine Besitzung von 24 Meilen Länge und 48 Meilen Breite am Westufer des Hudson ab. Sie umfaßte die jetzigen Grafschaften Albany, Rensselaer, einen Teil der Grafschaft Columbia und einen Streifen des heutigen Massachusetts. Auch seine Kollegen Godyn und Bloemart wurden Eigentümer großer Feudalstaaten. Einer davon, worin jetzt New Jersey liegt, umfaßte 64 Quadratmeilen. „Wie ein kleiner Monarch hatte jeder Patron seine Flagge und seine Abzeichen; jeder versah sein Gebiet mit Festungswerken, mit Kanonen und Söldnertruppen. Die Kolonisten waren bloße Untertanen, die den Eid der Treue zu leisten hatten. Die Macht der Patrone war fast unbeschränkt. Niemand, ,weder Mann noch Frau, Sohn oder Tochter, Knecht oder Magd' konnte den Dienst bei einem Patron, außer mit seinem schriftlichen Einverständnis, während der ausgemachten Zeit aufgeben, - wieviel Mißbräuche und Kontraktbrüche der Patron auch begehen mochte."2 Die freien Einwanderer, die dem Bodenmonopol im alten Lande zu entrinnen hofften fanden „die begehrenswertesten Teile des Landes, die zugänglichsten an der Küste und den Flußufern, schon vergeben. Das einzige, was sie in den meisten Fällen tun konnten, war, das kleinere Übel zu wählen und Pächter der großen Grundherren oder ihre Arbeiter zu werden."3 Als solcher war der Siedler kaum etwas Besseres als ein hart bedrückter Leibeigener; er konnte die Bürgerrechte nicht erwerben, die nach einem Gesetz von 1659 nur gegen Zahlung von 1.000 Gulden (!) erworben werden konnten, in einer Zeit, in der der Arbeitslohn 2 Schillinge betrug. Nach der Eroberung durch England (1664) wurde es unter demokratischer Maske eher schlimmer als besser. „Meile auf Meile in New York, die noch nicht verkauft waren, wurden von dem königlichen Gouverneur Fletcher in unverschämter Weise gegen Bestechung weggegeben, und es wird vermutet, wenn es sich auch nicht beweisen läßt, daß er auch in Pennsylvanien während der Zeit,
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Myers, Geschichte der großen amerikanischen Vermögen, S. 6, zitiert nach O'Callaghans, [History of New Netherland, 2. Auflage, New Y o r k 1855]. Ebenda, S . l l . Ebenda, S. 12.
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als er auf königlichen Befehl William Penn in der Regierung dieser Provinz ablöste, mit Besitzungen schacherte." 1 Das war in der Zeit, in der Penn dreimal wegen angeblicher Verbindung mit den Stuarts vor Gericht stand; seine Methode der Gerechtigkeit gegenüber seinen „roten Kindern", den Indianern, hatte zwar den Erfolg, daß in seiner Quäkerkolonie der Frieden zwischen den Ureinwohnern und den Einwanderern kaum je gestört wurde, aber man konnte mit dieser Methode nicht schnell genug reich werden: das „Politische Mittel" ist wirksamer und schneller als das ökonomische. Und da findet sich immer ein Vorwand, um die Keime möglicher menschlicher Gerechtigkeit und möglichen Glücks auszurotten: als ein böses Beispiel! So hier, so im Jesuitenstaat von Paraguay, so in Utah, der Mormonenkolonie mit dem besten Bodenrecht der Welt und daher ohne Armut, Proletariat und Kapitalismus, einer echten genossenschaftlichen Ansiedlung. 2 Die skrupelloseste Klassenpolitik in jeder denkbaren Beziehung war die selbstverständliche Folge. Die Landtage waren ganz in der Hand der Grundherren und der mit ihnen verschwägerten und versippten Kaufleute; wie überall setzten die Magnaten auch hier ihre Steuerfreiheit durch, und so mußte, um wieder Myers zu zitieren „in einem neuen Lande mit außerordentlichen Bodenschätzen die Armut Wurzel fassen und sich immer mehr ausbreiten. Die Steuerlast fiel gänzlich auf die Klassen der Farmer und Arbeiter"'. „Es kam zu Unruhen und Aufständen, mehrmals in New York, zu Bacons Revolution in Virginia, nach der Restauration Karls Π., als dieser König große, der Kolonie gehörige Ländereien an seine Günstlinge verschenkte 4 und später, 1734, brach ein heftiger Aufstand in Georgia aus, sogar unter der milden Magnatenherrschaft des Philanthropen Oglethorpe."11 Wahrlich, der Amerikaner Ross hat recht, wenn er schreibt: „Wir sollten den Schluß ziehen, daß die Kolonien ihre Demokratie nicht ihrer Neuheit, sondern ihrem freien Lande verdanken. Schlechthin alles hängt von dem Verhältnis zwischen Land und Volkszahl ab. Es ist, durch die Verleihung fürstlicher Eigentumsrechte an die Wenigen, möglich, den Feudalismus sogar in der Wildnis Wurzel schlagen zu lassen."'' Um zu der Geschichte der amerikanischen Freistaaten zurückzukehren, so hatte noch 1700 der königliche Gouverneur Graf von Bellomont den Anspruch eines Obersten Samuel Allen abzuwei-
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[Myers, Geschichte der großen amerikanischen Vermögen, ohne Seitenangabe; A.d.R.] Vgl. Oppenheimer, Die „Utopie als Tatsache", in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Bd. Π (1899), S. 190ff. [siehe auch in der vorliegenden Edition, Bd. Π, S. 3 - 1 4 ; A.d.R.] und Smythe, The Conquest of arid America, New Y o r k 1903, S. 5 1 - 7 6 . Myers, Geschichte der großen amerikanischen Vermögen, S. 16. Hier handelt es sich wahrscheinlich um die Aufstände in Carolina, von denen Weber (Weltgeschichte Bd. ΧΠΙ, [ohne O r t und Jahr], S. 202) berichtet. Karl II. hatte acht adligen Herren in der alten, unter den Auspizien Colignys begründeten, nach Karl IX. benannten Kolonie den südlichen Teil v o m 36. Breitengrad bis zum Fluß San Matheo gegen einen kleinen jährlichen Lehenszins mit voller Souveränität zu Eigentum gegeben (1663). Für dieses Gebiet arbeitete kein Geringerer als John Locke die Verfassung aus, derselbe Mann, der fast als erster unser „Divisionsexempel" vorgenommen hatte. Eine „Verfassung, welche die feudalaristokratischen Einrichtungen des Mutterlandes, mit Ausnahme der staatskirchlichen, in das junge Land verpflanzen wollte, nur das Interesse der Grundherren beachtend" (ebenda, S. 202f.). Myers, Geschichte der großen amerikanischen Vermögen, S. 16. Ross, The foundations of sociology, S. 326, im Original nichts kursiv. Marx sagt (Einleitung zu einer Kritik der politischen Ökonomie von 1857, hrsg. v. Kautsky, 2. Auflage, Stuttgart 1903, S. XIX: „Sie (die Ökonomisten) vergessen, daß das Faustrecht ein Recht ist, und daß das Recht des Stärkeren unter anderen Formen in ihrem .Rechtsstaat' fortlebt."
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sen, kraft Rechtens der einzige Besitzer des ganzen heutigen Staates New Hampshire zu sein. Er hatte dem Inhaber des Privilegs ganze 1.250 Dollar dafür bezahlt. Allen ließ sich 1692 zum Gouverneur des Staates ernennen und drohte, aufgrund seines Eigentumsrechtes, die inzwischen niedergelassenen freien Ansiedler auszutreiben, wenn sie ihm nicht den Monopoltribut bezahlten! Wir verstehen jetzt leichter, wie bei solchen Uberlieferungen die Praxis der kalifornischen Eisenbahngesellschaften entstehen konnte, die die Farmer aufgrund ähnlicher „Rechte" mit Gewalt unter Billigung der Rechtsbehörden einfach austrieben: Norris in seinem „Octopus" hat das erschütternd geschildert. Und wir verstehen jetzt auch, daß in einem so weiten, so fruchtbaren und so leeren Lande kein Boden mehr für den kapitallosen Einwanderer vorhanden war, und daß aus New York eine starke Auswanderung nach New Jersey und Pennsylvanien einsetzte.1 Kam die nächste Periode, die der Unabhängigkeit von England. Wurde es besser? Durchaus nicht! Sering schreibt: „Zur selben Zeit, wo die französischen Bauern die Güter des Adels untereinander teilten, trieb die Regierung der amerikanischen Freistaaten einen krämerhaften Handel mit dem ihr anvertrauten Gute, dem Lande der Nation. [...] Das grundlegende Gesetz vom 19. Mai 1796 bestimmte, daß, sobald eine gewisse Fläche vermessen sei, diese an den Meistbietenden, aber nicht billiger als für zwei Dollar pro Acre und nicht in kleineren Stücken als 9 englische Quadratmeilen (23,3 qkm) verkauft werden sollte."2 Wahrlich, ein probates Mittel, um dem kleinen Manne den Zugang zu Grund und Boden sicher zu sperren. Er muß nicht weniger als 1.650 Dollar auf den Tisch legen können, um auch nur mitbieten zu dürfen! George Washington war einer der größten Grundbesitzer im Lande. Er hinterließ 9.774 Acres in Virginia am Ohio, 3.075 am großen Kenawa und auch anderwärts Grund und Boden in Virginia, Maryland, New York, Kentucky, in der Stadt Washington und an anderen Orten. Auch Benjamin Franklins für seine Zeit bedeutendes Vermögen stammte nicht aus Fabrikation und Erfindungen, sondern aus Landbesitz. Man sieht, wie wenig wahr die fromme Sage ist, daß alles Land der großen Republik über dem Atlantik von frommen freien Bauern von der Art der „Pilgrim fathers" besiedelt worden ist. Die bewährte Praxis wurde in immer größeren Maßstabe fortgeübt, je weiter die junge Republik ihre Riesenglieder dehnte. 1833 waren nicht einmal für vier Millionen Dollar Staatsländereien verkauft worden, 1836 aber schon für 24,8 Millionen. Tugan-Baranowsky berichtet in seinen „Handelskrisen" nach W. Sumners „History of american currency": „Die Käufer hatten meistens keine Absicht, Ackerbau zu treiben, sondern erwarben das Land mit dem ausschließlichen Zwecke des Wiederverkaufs."3 Nur eines hatte sich inzwischen geändert: „Jetzt konnten ganz kapitallose Leute spekulieren, da die Regierung Bonds nahm, die ihnen die Banken bereitwillig borgten."4 Tugan zeigt, daß namentlich vor jeder Krisis die Landspekulationen einen ganz gewaltigen Umfang annahmen.5 Man sieht deutlich, daß jetzt hier nicht mehr das landed, sondern das moneyed interest die Herrschaft besaß und seine Interessen wahrnahm. Dem kleinen Mann borgten die Banken nicht!
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Myers, Geschichte der großen amerikanischen Vermögen, S. 18. [Sering, Die agrarischen Grundlagen der Sozialverfassung, ohne Seitenangabe; A.d.R.] Tugan-Baranowsky, [Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England], Jena 1901, S. 87. Ebenda, S. 88. Ebenda, S. 125.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
Was für die alten Kolonien im Osten des Kontinents galt, galt 50 Jahre später für den neu erschlossenen Westen. Henry George, der nach der Mitte des 19. Jahrhunderts Zeuge des Prozesses war, fragt: „Nun, warum kann diese unbeschäftigte Arbeit auf dem Lande keine Verwendung finden? Nicht weil alles Land in Benutzung wäre. Obgleich alle Anzeichen, die in älteren Ländern als Beweise von Übervölkerung angesehen werden, sich schon in San Franzisko bemerkbar machen, ist es müßig, von Übervölkerung in einem Staate zu sprechen, der, bei größeren Hilfsmitteln der Natur als Frankreich, noch nicht eine Million Einwohner hat. Innerhalb weniger Meilen von San Franzisko ist unbenutztes Land genug, um jedem Manne Beschäftigung zu geben, der ihrer bedarf. Ich will keineswegs sagen, daß jeder unbeschäftigte Mann Landmann werden oder sich ein Haus bauen könnte, wenn er das Land hätte, wohl aber, daß genug dies tun könnten und würden, um den übrigen Beschäftigung zu geben. Was ist es also, das die Arbeit verhindert, sich auf diesem Lande zu beschäftigen? Einfach, daß es monopolisiert und auf Spekulationspreisen gehalten wird, die nicht nur auf den gegenwärtigen Wert begründet sind, sondern auf den erhöhten Wert, der mit dem künftigen Wachstum der Bevölkerung erst kommen soll."1 Wir entnehmen dem letzten Census der Vereinigten Staaten die folgenden Ziffern: Von der Gesamtfläche des Landes (ohne Alaska) von rund 784 Millionen Hektar wurde 1930 genützt in Farmen etwas über die Hälfte, nämlich 414 Millionen ha. Davon war „crop-land", d. h. unter dem Pfluge, nur etwa 20 % der Gesamtfläche, weniger als 42 % der Farmfläche. Davon aber wurden 1829 nicht weniger als 18 Millionen ha nicht abgeerntet. Die Farmen bis zu 49 Acres (20 ha) machten fast 38 % der Zahl aller Farmen aus, besetzten aber nur 5,7 % der Fläche. Alle Farmen bis zu 99 Acres (40 ha), insgesamt fast 60 % der Zahl, hatten nur 15,7 % der Fläche inne. Dagegen besetzten die Riesenbetriebe über 1.000 ha, 1,3 % der Zahl, nicht weniger als 28 % der Fläche. Die Kleinfarmen sind zu einem ungeheuren Teil nicht in dem Eigentum ihrer Bebauer: 42,4 % waren Pächter; sie hatten zusammen aber nur 31,1 % der Fläche in Betrieb. Außerdem gab es noch 2,73 Millionen Lohnarbeiter. Die Dichte der Landbevölkerung ist sehr gering: nur 6,6 Seelen auf den qkm. Das Land ist fast siebzehnmal so groß wie Deutschland mit seinen 471.000 qkm, die gesamte Farmfläche vierzehnmal so groß wie die deutsche, die Fläche unter dem Pfluge fast achtmal so groß: 160 gegen 21 Millionen ha; die Wiesen und Weiden fast zwanzig mal so groß: 159 gegen 8,2 Millionen ha. Lassen wir auch hier die Wiesen und Weiden und den Wald ganz aus der Rechnung, so kommen auf den Kopf der gesamten Bevölkerung (1933: 127,5 Millionen) fast einundeinhalb ha allein an Pflugland, gegen nur 0,44 in Deutschland. Auf den Kopf der agrarischen Bevölkerung (30,45 Millionen mit Angehörigen und Lohnarbeitern) kommt mehr als 5 ha, auf die Familie also 20-25 ha allein an Pflugland, und das doppelte an Nutzland überhaupt, zehn ha je Kopf, 40-50 je Familie, gegen weniger als 2 bzw. 10 ha in Deutschland. Bei den ausgezeichneten Verkehrsverhältnissen des Landes und der relativ sehr großen Kaufkraft seiner Bevölkerung sollte auch hier ein ha je Kopf ausreichen, wie wir auch durch Alvin Johnson erfuhren. Aber das Land wird eben, wie Sering von Rußland sagte, „nicht richtig ausgenutzt". Die meisten Farmer sind gleichzeitig Agrarspekulanten, die auf höheren Verkaufspreis rechnen oder früher rechneten, und Agrarfabrikanten, die nur eine einzige „Monokultur" betreiben. So ein Mann zieht etwa nur Erdbeeren und kauft seine Eier, sein Fleisch, sogar Milch und Butter im Warenhaus!
1
[Ohne Quellenangabe. Siehe George, Fortschritt und Armut, 5. Auflage, Berlin 1892; A.d.R.]
Das Kapital: Zweiter
Abschnitt
557
In Kanada gibt es rund 285.000 Klein- und Mittelbetriebe bis zu 40 ha auf rund 6,9 Millionen ha. Das sind 40 % der Zahl auf 12 % der Fläche. Über 81 ha gibt es rund 196.000 Betriebe auf 35,6 Millionen ha. Das sind 27,6 % der Zahl auf 63 % der Fläche. Davon sind über 121 ha rund 165.000 mit 32,5 Millionen ha; das sind 23 % der Zahl auf 56 % der Fläche. Einige Daten über die wichtigsten Einwanderungsländer Südamerikas: Argentinien hat rund 2,8 Millionen qkm Gesamtfläche. Das Land ist in ungeheuerlichem Maße durch das Großgrundeigentum gesperrt. Die aus der Zeit der Entdeckung stammenden gewaltigen feudalen Latifundien haben sich an Zahl und Größe noch sehr vermehrt, da der Staat das öffentliche Land fast ganz an die herrschende Klasse vergeudet hat. Ihm bleiben, wie Siewers1 mitteilt, nur noch 75 Millionen ha, natürlich der geringeren Ländereien. Alles andere ist von Privatleuten und spekulativen Gesellschaften, namentlich auch hier von Eisenbahngesellschaften, akkapariert [sie] worden. In der Regel wurde ja dem Käufer die Verpflichtung auferlegt, für die Erschließung des Landes, vor allem durch innere Kolonisation, Sorge zu tragen. Aber „diese Verpflichtung ist so gut wie immer unerfüllt geblieben"2. So gab es ζ. B. 1901 im Staate Cordoba 215 Besitzungen von über 100.000 ha. Hier hatte der Kleinbesitz, der hier von 51-200 ha (!) rechnet, nur 12 % der Fläche inne. Im Gebiet der Viehzucht finden sich Besitzungen bis zu 2,5 Millionen ha. Von etwa der Jahrhundertwende an setzte die europäische Nachfrage nach Getreide und mit ihr die Masseneinwanderung ein. Zwischen 1900 und 1913 wanderten rund 3,1 Millionen Menschen ein, zumeist Landproletarier aus Spanien, Portugal und Italien, von denen etwas weniger als die Hälfte in ihre Heimat zurückkehrten. Die Landpreise stiegen schwindelnd: zwischen 1903 und 1921 in der Provinz Buenos Aires von rund 38 auf 257 Pesos je ha, in Entre Rios von 21 auf 225, Santa Fé von 20 auf 118, Cordoba von 14 auf 105, La Pampa von 10,6 auf 53 Pesos je ha. Seitdem hat die Agrarkrisis die Mehreinwanderung in Mehrauswanderung verwandelt, und die Wucherpreise für den Boden sind scharf zurückgegangen. Inzwischen waren aber viele der neugegründeten Kolonien an den viel zu hohen Bodenpreisen zugrunde gegangen. Immerhin sind neue Klein- und Mittelbetriebe in nicht unbeträchtlicher Zahl entstanden; die Riesenbetriebe sind entsprechend eingeschrumpft; aber noch immer nehmen sie einen ganz unverhältnismäßig großen Teil der Fläche in Anspruch, selbst in der zentralen Getreideregion, wo die innere Kolonisation weitaus die stärkste war. Diese Provinzen - es sind die soeben genannten - haben bei rund 83 Millionen ha Gesamtfläche 67 Millionen ha reines Nutzland, wovon über 50 Millionen ha Pflugland. Sie sind die fruchtbarsten und am dichtest bevölkerten Teile des Landes; dennoch hat die ländliche Bevölkerung auch hier nur eine Dichte von 6,5 Seelen auf den qkm erreicht. Es gab hier 1915 rund 76.000 Betriebe von 10-50 ha und rund 70.600 von 51-300 ha, die zum größten Teile in Pachtungen vergeben waren. Dennoch nahmen die Betriebe von über 1.000 ha hier mindestens 60 % der Fläche in Anspruch.3 Im ganzen Lande gab es im Jahre 1914 Betriebe bis 50 ha 135.000 (44 % der Zahl) auf einer Fläche von 2,3 Millionen ha (1,4 % der Fläche). Dagegen gab es Betriebe über 1.000 ha 25.231, 8 % der Zahl, auf 78 % der Fläche. Davon waren über 5.000 ha groß 5.133 auf 79 Millionen ha; 0,016 % hatten 49 % der Fläche. Davon wieder hatten 506 Betriebe (0,0016 % der Zahl) 29 Millionen ha oder 18 % der Fläche.
1 2 3
Siewers, Les possibilités de colonisation en Argentine, in: Revue Internationale du Travail, vol. X X X , no. 4 (octobre 1934). Ebenda, S. 26. Ebenda, S. 14.
558
Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
Man rechnet in Argentinien den Kleinbetrieb bis zu einer Betriebsgröße von 500 ha (!) aufwärts. Unter dieser Voraussetzung besetzten die „Kleinbetriebe", 267.000 an der Zahl, 26 Millionen ha, aber die 39.000 Großbetriebe 136,5 Millionen ha. Jene, 88 % der Zahl, hatten 18 %, diese, 12 % der Zahl, hatten 82 % der Fläche inne. Jene waren im Durchschnitt 97,5, diese 3.500 ha groß. Auch hier besteht die extremste Monokultur mit ihren verderblichen Folgen. Dieses vorwiegend agrarische Land importierte im Jahre 1930 nicht weniger als 10 Millionen kg frische Eier und rund 703.000 kg kondensierte Milch. Die auf ganz kurze Pacht gestellten Kleinpächter halten in aller Regel nicht einmal Hühner, geschweige denn Kühe, ganz wie in den Vereinigten Staaten.1 Brasilien hat nach Paula Lopes2 rund 8,5 Millionen qkm Gesamtfläche. Die Dichte der Bevölkerung war 1927 im Durchschnitt 3,6, in Rio Grande del Sul, dem höchst entwickelten der Staaten, 9,2 Seelen je qkm. Die Verteilung des Bodens ist noch ärger als in Argentinien. In ganz Brasilien hatte der Kleinbesitz unter 40 ha, 49 % aller Besitzer, zusammen 3,5 % der Fläche; der Mittelbesitz von 40-100 ha, 22 % der Zahl, 5,5 %, der Großbesitz über 100 ha 91 % der Fläche. Es gibt in allen Staaten noch sehr zahlreiche Riesenbesitzungen von über 5.000, von über 10.000 ha. In Chile besetzt der Klein- und Mittelbetrieb bis zu 50 ha, 79 % der Zahl, 3,1 % der Fläche. Die Betriebe über 1.000 ha machten 2,3 % der Zahl aus, belegten aber 80 % der Fläche. Darunter waren 559 über 5.000 ha (0,6 der Zahl) die 66 % der Fläche belegten. Uberall in diesen Kolonien gilt, was Karl Bolle von Brasilien sagt: „Die Großen und Mächtigen erwerben unter irgendwelchen Scheintiteln Latifundien in der Größe kleiner Fürstentümer, und hier wollen sie mit Arbeitern wirtschaften, nicht jedoch selbstwirtschaftende Bauern zu Nachbarn haben, die sich nicht wenigstens zur Ernte bei ihnen verdingen." Betrachten wir jetzt den zweiten neuen Erdteil, den das Zeitalter der Entdeckungen den Europäern erschloß, Australien und seine Inseln. Nach Schachner3 „finden sich ungeheure, in extensiver Viehwirtschaft betriebene Besitzungen, deutschen Königreichen gleich, in allen australischen Ländern. Wo Tausende sich mit arbeitslustigen Händen in Ackerbau und intensiver Viehwirtschaft mühen, Herde schaffen, Familien gründen, und eine Nation aufbauen könnten, treiben einige reitende Hirten das Vieh im Dienste fremder Herren, die in England sitzen oder allerwärts verstreut die Aktiencoupons schneiden. Es ist das die schlimme Frucht einer jahrhundertelangen verfehlten und korrupten Landpolitik." 4 Die erste Landverordnung von 1787 behielt das Land den Sträflingen vor, die ihre Strafe abgebüßt hatten: Kleinbesitz, 30 Acker für den Ledigen, 50 für den Verheirateten, für jedes Kind 10 mehr. Schon 2 Jahre später erhielten die Offiziere und Kapitulanten das Recht auf 100 Acker gegen eine „Pfefferkornrente" - ein Recht, das auch auf freie Ansiedler ausgedehnt wurde. Bedingung war der Anbau. Aber sie wurde nicht gehalten und nicht durchgesetzt. Das war der Anfang der gleichen Korruption und Günstlingswirtschaft wie in Amerika. 1823 wurde die Grundstücksgröße auf 2.650 Acker heraufgesetzt; „daneben behielt sich der Staatssekretär in England das Recht vor, bis zu 20.000 Acker zu vergeben"5. 1831 trat an die Stelle der feudalen Landverleihungen auch hier das kapitalistische System der öffentlichen Versteigerung im großen zu Bedingungen, die den kleinen Mann ausschlossen; vielleicht hatte man das schöne Vorbild in den
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Vgl. Siewers, Les possibilités de colonisation en Argentine, S. 17. Lopes, in: Revue Internationale du Travail, vol. ΧΧΧΙΠ, no. 2 (février 1936). Schachner, Australien in Politik, Wirtschaft, Kultur, S. 249ff. Der Erdteil hat rund sechs Millionen Einwohner. Sein Fassungsvermögen wird auf sechzig Millionen geschätzt. Schachner, Australien in Politik, Wirtschaft, Kultur, S. 249.
Das Kapital: Zweiter Abschnitt
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United States gefunden. Der einzelstehende Landwirt konnte 4.000 Acker, die Familie 5.000 erwerben; des Mindestpreis betrug zuerst 5, von 1839 an 12 Schilling der Acker. „So ging das wertvollste Land zu einem Spottpreis in die Hände der landeskundigen Spekulanten, die von Kultivierungsbedingungen sich nicht bedrücken ließen. Seit 1842 wurde es nur noch gestattet, nicht vermessene Landstriche im Umfang von 20.000 Acker und mehr zu erwerben [...] Der Minimalpreis war damals auf 1 Pfund den Acker angesetzt. Noch schlimmer war, daß man im Jahre 1847 zum Pachtsystem schritt, wobei man nicht nur während des Laufes der Pachtzeit dem Pächter das ausschließliche Erwerbsrecht zu jenem Mindestpreise gewährte, sondern ihm auch nach Ablauf der Pachtzeit ein Vorkaufsrecht zugestand. Die Pachtabgabe war ein halber Penny für jedes Schaf, die Mindestabgabe aber hatte für 4.000 Stück entrichtet zu werden. Diese Bodenpolitik hatte im Bereich des heutigen Neusüdwales von 1787-1861 7.146.579 Acker in Privatbesitz gebracht, von dem nur 265.389 Acker bebaut waren. Alle die Bedingungen, die immer wieder zur Kultivierung des Landes auferlegt waren, blieben unerfüllt. Die besten Teile des Landes waren ausgesucht und heckten in den Händen der Spekulanten, die meistens in London saßen, Mehrwert." Allein die Australian Agricultural Co. hatte in Neusüdwales Besitz von über einer Million Acker, darunter 500 Acker des wertvollsten Kohlenbesitzes des Staates. „ Weniger bemittelte Landwirte konnten sich nicht um Land bewerben, da ihnen ebenso die Mittel fehlten, die hohenVermessungskosten zu tragen, als Blöcke im Umfang von 20.000 und mehr Acker zu erwerben, noch konnten sie Pächter werden, wo ihnen die Mindestausgabe für 4.000 Schafe auflag." Ganz die gleichen ungeheuerlichen Mißstände herrschten und herrschen noch immer in Victoria, Queensland, Tasmanien, in Süd- und Westaustralien und Neuseeland. „Wie sehr das Gesamtinteresse darunter gelitten hatte, dafür sprach die Statistik eine eherne Sprache: noch 1861 war in keiner Kolonie auch nur ein Prozent des Gesamtlandes intensiver Bewirtschaftung, sei es durch Ackerbau oder Graswirtschaft zugeführt worden."1 Man versuchte, nachdem es auch hier zu Unruhen gekommen war, Reformen, die zuerst völlig scheiterten. Niemand sollte mehr als 640 Acker erhalten: man kaufte für oder durch Strohmänner („dummyism"), so viel man wollte; es wurde die Verpflichtung des Anbaus festgesetzt: man täuschte die Inspektoren durch das Mittel Potemkins, indem man das „wandernde Ansiedlerhaus" bald da bald dort aufstellte. Man verlangte nur noch ein Viertel bare Anzahlung: und begünstigte auch dadurch wieder nur die großen Spekulanten, die nun viermal so viel Land erwerben konnten. Nach einigen Jahren besaßen 1891 in Neusüdwales 669 Kompanien und Einzelpersonen die Hälfte (28V4 Millionen Acker!) des verkauften Landes, und es war weniger als ein halbes Prozent des Staatsgebietes bebaut. „In Südaustralien besaßen im gleichen Jahre 539 Eigentümer 63Λ, in Victoria 863 Eigentümer 7 Millionen Acker, in Neuseeland gab es 1894: 470 Eigentümer mit einem Bodenbesitz im Werte von 15 Millionen Pfund, denen 38.456 Grundbesitzer mit 23 Millionen Pfund Sterling reinen Bodenwerts gegenüber standen."2 Dort ist der Durchschnitt rund 32.000, hier rund 600 Pfund.
1 2
Schachner, Australien in Politik, Wirtschaft, Kultur, S. 252f. [ebenso die vorherigen Zitate; A.d.R.]. Ebenda, S. 254.
560
Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Selbstverständlich war dieses weite leere Land unter solchen Umständen „übervölkert", d. h. hatte keinen Raum für neue Siedler. Bei einer Dichte der Bevölkerung in ganz Australien von 1,24 Seelen auf die Quadratmeile (2,6 qkm) also 0,5 auf den qkm (die größte Dichte in Victoria mit rund 13 die Quadratmeile, also rund 5 den qkm) mußte der Versuch, den ζ. B. Queensland mit der Hereinziehung von 200.000 Einwanderern unternahm, scheitern. Sie konnten kein Land finden, „so daß sie in Städten blieben, hier und auf dem Lande den Arbeitsmarkt überfüllten,1 Gold gruben oder hoffnungslos wieder weiter wanderten" 2 . Und Queensland hat eine Dichte von 0,59 auf die Quadratmeile oder 0,23 auf den qkm! Wir können hier nicht die fast verzweifelten Bemühungen der australischen Staaten schildern, einen Ausweg aus diesem, Volk und Land verwüstenden Latifundiensystem zu finden. Seit den neunziger Jahren schreiten diese Maßnahmen. Rückkauf der Großbesitze, ihre schwerere Besteuerung namentlich wo es sich um Absenteebesitz handelt, Begünstigung der kleinen Siedlung usw., die zuerst in Neuseeland unternommen und dort auch am konsequentesten durchgeführt worden sind, zum großen Segen der herrlichen Insel und ihrer Bewohner, sehr langsam und schwerfällig gegen den zähen Widerstand der Magnaten vor. Die neueste Statistik (1924/25), die uns zugänglich ist, zählt nur die in Privateigentum befindlichen Betriebe. Es gibt im Bereich des Commonwealth 74.300 Kleinbetriebe bis zu 40 ha auf rund 1.050.000 ha. Das sind 36 % der Zahl auf 2 % der Fläche. Über 405 ha sind 32.000 Betriebe (15 % der Zahl) die - 68 % der Fläche einnehmen. Davon sind über 2.023 ha 3334 (1,3 % der Zahl), die 30 % der Fläche inne haben. Verweilen wir noch einen Augenblick bei Neuseeland, das wohl einer eigenen Betrachtung wert ist. Nirgends in der Welt öffnen sich der geplagten Menschheit bessere Aussichten als hier. Wir folgen hier W. Plügge 3 : Neuseeland ist ein Land vom Klima, der Gestalt und fast der Größe Italiens. Es hat die Größe von fast genau 270.000 qkm, ist also halb so groß wie Deutschland vor dem Weltkriege. Während Deutschland auf seiner Fläche ca. 68 Millionen Einwohner und darunter nicht weniger als rund 17 Millionen landwirtschaftlicher Bevölkerung samt Angehörigen ernährte, beträgt die gesamte Bevölkerung von Neuseeland wenig über 1 Million (1911: 1.003.000) Menschen. Oder mit anderen Worten: während Deutschland eine Bevölkerungsdichte von über 120 pro qkm hat, hat Neuseeland eine solche von 3,7. Dabei handelt es sich im Gegensatz zu dem australischen Kontinent um ein Gebiet von größter natürlicher Fruchtbarkeit, das, von alpenähnlichen Gebirgen durchzogen, überaus reich bewässert ist, schmal und lang, im warmen Ozean gelagert - es reicht aus dem subtropischen Gebiet im Norden bis in das Gebiet der warmen gemäßigten Zone im Süden, hat es ozeanisches Klima und infolgedessen eine ganz besondere Graswüchsigkeit, vergleichbar Irland und Südengland. Seine Weiden haben nach Schachner die neunfache Nährkraft derjenigen des australischen Kontinents; in vielen Bezirken reichen bereits 2 Acres (ungefähr 0,8 ha) für die Ernährung einer Kuh aus, etwa die Hälfte dessen, was man auf gutem Boden in Deutschland rechnet. Dem entsprechend ist der Prozentsatz der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche enorm groß. Von den 27 Millionen ha werden 20 bis 22 Millionen als landwirtschaftlich nutzbar bezeichnet. Und trotzdem herrscht in diesem weiten, fruchtbaren, lächerlich dünn besiedelten Gebiete Landmangel! So starker Landmangel, daß zeitweilig eine im Verhältnis enorm starke Auswanderung stattfinden
1
Man sieht, daß es doch offenbar nicht auf die Jungfräulichkeit" des Bodens ankommt und daß sogar unter solchen Verhältnissen die Bodensperrung „freie Arbeiter" und mit ihnen die Bedingung allen Kapitalismus, die „Reservearmee" der unbeschäftigten „freien Arbeiter", erschaffen kann.
2 3
Schachner, Australien in Politik, Wirtschaft, Kultur, S. 254. Plügge, Innere Kolonisation in Neuseeland, Jena 1916.
Das Kapital: Zweiter
Abschnitt
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mußte! „Von 1885-1891 haben 19.938 Menschen die Kolonie verlassen."1 Es handelt sich freilich in der Hauptsache um Arbeiter, die nach großen Streiks der Insel den Rücken kehrten: aber wie können in solchem Lande kapitallose Arbeiter überhaupt existieren? Man hat von Neuseeland so oft als von dem „Lande der sozialen Wunder" gesprochen: hier liegt in der Tat ein soziales Wunder vor. Was ist des Rätsels Lösung? Sehr einfach: das fruchtbare Land ist da und wartet der Bebauer, aber es ist nicht „verfügbar"; es ist gesperrt. Wie überall, so hat auch in Neuseeland eine kleine Minderheit von Spekulanten das Land gegen die Besiedlung durch die Masse gesperrt, und die Rechtsform dieser Sperre ist das Großgrundeigentum. Die Statistik von 1925 berichtet das folgende über alle Betriebe über 1 Acre (0,4 ha) Größe: Klein- und Mittelbetriebe bis zu 40 ha (47,5 % der Zahl) hatten 3 % der Fläche inne. Dagegen hatten die Riesenbetriebe über 2023 ha (1,3 % der Zahl) 41 % der Fläche. Davon waren 59 Betriebe über 20.234 ha, 0,07 % der Zahl, mit über 2 Millionen ha, 11 % der Fläche. Unerhörte Latifundien, sagt Plügge, bis zur Größe mittlerer deutscher Fürstentümer, bis nahezu an 1.000 qkm, haben einzelne Privatleute für sich mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln erworben. Alle die Tricks, die wir aus anderen Kolonialgebieten kennen, sind auch hier angewendet worden - Ausbietung des Kronlandes in so großen Stücken und zu solchen Bedingungen, daß der kleine Mann unmöglich dazu gelangen kann. Aber hier kommen noch einige neue Feinheiten hinzu. Die Spekulanten haben doch nicht das ganze vorhandene freie Land aufnehmen können oder wollen. Der Vorrat an Kronland ist immer noch sehr bedeutend. 1892 gab es noch 3 Millionen ha Kronland, das für Klein- und Mittelsiedlungen geeignet war, und Millionen ha der Krone gehörigen Weidelandes. Privateigentum gab es nur ungefähr 5 Millionen ha, in Eigentum und Pacht zusammen waren besetzt ungefähr 12Ά Millionen ha, und über 8 Millionen ha verwendungsfähigen Landes waren überhaupt noch nicht in Verwendung genommen, auch nicht für den extensivsten Weidebetrieb. Aber die Minorität der Latifundienbesitzer hat es verstanden, ihren Besitz so zu legen, daß das andere Land, wenn auch nicht rechtlich, so doch faktisch gegen die Besiedlung gesperrt war: „Die großen Landeigentümer hatten alle Vorderfronten längs der Wege und Flüsse und um Wasserplätze oder am Beginn der Täler, alle Flußebenen, Wasserfurchen, jeder Strom, jede Landstraße war weggenommen. Dies machte den Zugang zum Lande tatsächlich unmöglich, oder machte das Land wertlos, auch wenn es zugänglich war, sobald es vom Wasser abgeschnitten war. Hinter diesen Fronten waren Millionen Acker Hinterland, die die Eigentümer der Fronten unter Staatspacht hielten und die für niemand als für sie Wert hatten. Diese Pacht sollte 1896 aufhören, und die Kolonie hatte dann diese Millionen Acker zur Verfügung, die sie niemand anders verpachten oder verkaufen konnte, als den Eigentümern der Großgüter [...], bis ein Weg gefunden war, durch ihren Ring zu brechen." 2 Man sieht: ein mit teuflischer Kunst erdachtes System, um die Masse vom Lande abzusperren, und dadurch selbst in diesem Paradiese an Fruchtbarkeit, in dem Schafherden jährlich um mindestens 75 bis 111 % wachsen, das Unterordnungsverhältnis der Menge unter die Bodeneigentümer und dadurch in weiterer Folge unter die Kapitaleigentümer aufrecht zu erhalten. Solange die Partei der Großgrundbesitzer Ober- und Unterhaus der Kolonie beherrschte, war keine Änderung dieses unerhörten Zustandes möglich. Alle Gesetze zur Durchbrechung des Ringes, zur inneren Kolonisation und zur Einengung dieser erdrückenden Machtposition auf dem Wege der Latifundienbesteuerung wurden immer wieder abgeschafft oder illusorisch gemacht. Seit 1892 aber besteht das feste Bündnis zwischen den Liberalen und der Arbeiterpartei, das die weit berühmten
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Plügge, Innere Kolonisation in Neuseeland, S. 53. Ebenda, S. 40, zitiert nach Lloyd, Newest England, [New York 1903].
Zweiter Teil: Marktwirtschaft
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„sozialen W u n d e r " ermöglicht hat: jene vorbildliche Gesetzgebung der obligatorischen Schiedsgerichte mit bindender Entscheidung, die Streiks und Lockouts so gut wie ganz ausgerottet haben, die soziale Versicherung usw. 1 Nebenbei gesagt scheint diese Politik, trotz ihrer Kostspieligkeit und trotz der immer wiederholten Klagen und Anklagen der städtischen Unternehmerkreise dem Lande sehr gut b e k o m m e n zu sein: denn Plügge kann berichten, daß die Kolonie sich seit Jahren v o m britischen Geldmarkt hat unabhängig machen können. Die winzige Bevölkerung hat mit anderen W o r t e n die enormen Kosten dieser sozialen Leistungen, die allein für innere Kolonisation in den letzten 20 Jahren ca. 130 Millionen Mark, das heißt 650 M a r k pro Familie von 5 Köpfen betrugen, aus ihren eigenen Mitteln aufbringen können. Seit jenem Bündnis arbeitet die Kolonie mit Kraft und Konsequenz daran, das B o d e n m o n o p o l zu brechen, das ihren Aufschwung niederhält. D i e Männer, die dieses W e r k in die Hand genommen haben, wurden nach englischer Weise im wesentlichen durch die Bedürfnisse der Praxis und nur wenig durch theoretische Erwägungen geleitet. Immerhin scheint es unzweifelhaft, daß vor allem J o h n Stuart Mill die Anregung zu den einzelnen gesetzgeberischen Aktionen verdankt ist. Dieser Kirchenvater der bürgerlichen Ö k o n o m i k wurde bekanntlich in seiner letzten Periode in vielen Beziehungen ein Abtrünniger von der allein seligmachenden Lehre des Manchestertums und gelangte zu bodenreformerischen, nahezu agrarsozialistischen Anschauungen und Forderungen. H i e r ist also die Politik eines im besten Sinne demokratischen Staates mit aller Tatkraft darauf gerichtet, das aus früheren Zeiten noch vorhandene kapitalistische Großgrundeigentum einzuengen und womöglich zu vernichten. D i e Folgen für die Gesundheit des sozialen Körpers sind denn auch fast wunderbar zu nennen. Hier herrscht nahezu die „reine Wirtschaft" meiner Terminologie, d. h. der „rationelle Sozialismus". W e n n die hier ausschlaggebende Arbeiterpartei nicht an J o h n Stuart M i l l orientiert wäre, könnte der Fortschritt ein unvergleichlich schnellerer sein. A b e r sie haben mit seinem Agrarsozialismus auch seine Furcht vor der „Übervölkerung" geerbt und erschweren aus diesem Grunde die Einwanderung, die sie im Gegenteil mit allen möglichen Mitteln, schon aus dem Grunde der sonst kaum vermeidlichen Eroberung durch Japan, fördern sollten, zum mindesten die von bäuerlichen Elementen. So erweist sich auch hier wieder das „Gesetz der ursprünglichen Akkumulation", dessen einer Ausdruck der Malthusianismus ist, als die „soziologische Wurzel aller Ü b e l " , wie ich es genannt habe. Solange die Bevölkerung so dünn bleibt, ist die Erreichung einer hohen Staffel der Kooperation mit ihren segensreichen Folgen nicht möglich. A b e r dem läßt sich durch eine bessere Einsicht in die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge und Gesetze, als Mill sie besaß, abhelfen: und dann mag vielleicht der weißen Rasse von diesem irdischen Paradiese mit seiner selbstbewußten Bevölkerung noch einmal die Erlösung von den Ü b e l n k o m m e n , die sie heute mit Vernichtung bedrohen. U m nun, nachdem wir die europäischen Kolonien in Amerika, Australien und Asien (Indien) einer kurzen Betrachtung unterzogen haben, auch noch den letzten der Erdteile zu erwähnen, so hat der radikale Abgeordnete Lagrosilliére am 24. N o v e m b e r 1911 in der französischen K a m m e r das folgende über Tunesien ausgeführt: „Nach mohammedanischem Gesetz gehört der Boden den Stämmen gentum
und darf nicht in
Privatei-
umgewandelt werden. N a c h französischem Zivilrecht aber besitzen die Stämme keine
Rechtspersönlichkeit, so daß sich ihnen der Staat substituiert und aus seiner Machtvollkommenheit das R e c h t herleitet, den Boden zu veräußern. D i e auf diese Weise zum Verkauf gelangten G ü t e r sollen seit Jahrzehnten zu Spottpreisen einflußreiche Persönlichkeiten der französischen
1 2
an Mitglieder
des französischen
Presse vergeben
Vgl. auch Métin, „Le socialisme sans doctrines", Paris 1901. Lagrosilliére, in: Bodenreform, Ausg. ΧΧΠ, Heft 24 (1911).
worden sein." 2
Parlaments
und an
Das Kapital: Zweiter
Abschnitt
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Zum Schluß unserer Übersicht noch einige Daten über die beiden ostasiatischen Großstaaten. Zunächst China. Nach dem Bericht der Bodenkommission des Zentralvollzugsrats der Kuo-Min-Tang vom 22. April 19221 beträgt die chinesische Bevölkerung 420-450 Millionen Köpfe. Davon leben etwa 80 % auf dem Lande. Nach Abzug der Dorfhandwerker usw. bleiben rund 70 % als reine Agrarbevölkerung. Die chinesische Familie zählt durchschnittlich 6 Köpfe: es gibt also auf dem Lande 56 Millionen Familien, wovon rund 50 Millionen landwirtschaftliche. Das in den Jahren 1914-16 bebaute Land umfaßt eine Fläche von rund 1.500 Millionen Mu = rund 100 Millionen Hektar. Es kämen also bei gleichmäßiger Verteilung auf jede Familie zwei Hektar, ungerechnet die jetzt noch nicht kultivierten aber anbauwürdigen Flächen, die gewiß vorhanden sind. Zwei Hektar aber sind bei der Fruchtbarkeit des Bodens und der traditionellen, fast gärtnerischen Intensität des Anbaus weit mehr als genügend für mittelständische Existenz. Es wird berichtet, daß ein Pächter auf 30 Mu (2 ha) wohl bestehen kann, obgleich er die Hälfte der Ernte als Pacht abzuliefern hat. Bauern mit mehr als 30 Mu werden denn auch von der Statistik bereits als „reich" gezählt. Es gibt aber unter allen denen, die Eigentümer sind, nur 16 % solcher reicher Bauern. 44 % „arme Bauern" haben bis zu 10, 24 % „mittlere Bauern" 10-30 Mu. Dann gibt es noch „kleine Grundbesitzer" 11 % der Gesamtzahl, mit einer Fläche von 50-100 Mu, und die „großen Grundbesitzer", 5 % der Gesamtzahl, mit mehr als 100 Mu. Der größere Grundbesitz, von dem der reichen Bauern aufwärts, wird kaum je im Großbetriebe bewirtschaftet, sondern parzellenweise zu Wucherpreisen verpachtet. 40 % der Landbevölkerung sind Pächter, 9 % Landarbeiter, 6 % Berufslose, zusammen 55 % Landlose. Besitz in Mu Arme Bauern Mittlere Bauern Reiche Bauern Kleine Besitzer Große Besitzer
unter 10 10-30 30-50 50-100 über 100
% der Besitzer 44 24 16 11 5 100
% der Landbevölkerung 20 12 7 4 2 45
% der Nutzfläche 6 13 17 21 43 100
Daraus geht hervor, daß die landbedürftige Bevölkerung, nämlich die armen Bauern, die Pächter und die landlosen Arbeiter und Berufslosen, zusammen 75 % der Agrarbevölkerung, nur 6 % des Bodens zu Eigentum besitzen. Die Mittelbauern haben eine Nutzfläche, die ungefähr ihrer Zahl entspricht, aber die größeren Besitzer von mehr als 30 Mu (2 ha), 13 % der Zahl, eignen nicht weniger als 81 % der Nutzfläche. Im Wirtschaftsprogramm Sun-Yat-Sen's heißt es klar genug: „Die stärkste Ursache aller wirtschaftlichen Ungleichheit besteht darin, daß sich der Grund und Boden in den Händen einer kleinen Minderheit befindet, die ihn zum Nutzen ihrer privaten Interessen beherrscht." Die von ihm geforderte Bodenreform ist in China so wenig wie sonst irgendwo durchgeführt worden. Man versteht jetzt leicht, woher die Räuberbanden stammen, und was den Kriegslords die Macht, und den Kommunisten das Agitationsmaterial liefert. Japan ist ein gebirgiges Land, dessen Boden angeblich nur zu etwa 15 % kultivierbar ist. Die landwirtschaftlich genutzte Fläche beträgt rund 5,5 Millionen ha, die landwirtschaftliche Bevölkerung wurde (1926) auf 5,55 Millionen Familien ermittelt. Es kommt also statistisch ein ha auf die Familie. 1
Vgl. Kuo/Hinkel, 4600 Jahre China, Göttingen 1930.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
In Wirklichkeit ist die Bodenverteilung nach den Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft und Forsten die folgende: unter Vi ha >/z-l ha 1-2 ha 2-3 ha 3-5 ha über 5 ha
1.951.000 1.888.000 1.190.000 321.000 134.000 72.000 5.553.000
Familien Familien Familien Familien Familien Familien Familien
= = = = = = =
35 % 34 % 21,3 % 6% 2,4% 1,3% 100%
Über 10 ha bewirtschaften 45.000 (0,8 %) der Landwirte, über 50 ha 4200 (0,07 %). Man rechnet allen Besitz über zehn ha als Großbetrieb, und mit Recht. Denn es handelt sich um eine Kulturart, die der gärtnerischen sehr ähnlich und an Intensität eher noch überlegen ist: zugviehloser Terrassenbau bei sorgfältigster Pflege der einzelnen Pflanze. Auch in Europa ist ein Gartenbetrieb von zehn ha ein Großbetrieb, der zahlreicher besoldeter Arbeitskräfte bedarf, und ist ein ha ungefähr das äußerste, was ein familienhafter Gärtnerbetrieb bei einiger Intensität bewältigen kann. Wie unsere Zahlen zeigen, bearbeitet mehr als ein Drittel (35 %) der japanischen Bauern weniger als einen halben ha, und fast volle 7/10, (69 %) weniger als einen ha. Was aber die Lage dieser Kleinsten noch ins Ungeheuerliche erschwert, ist die Tatsache, daß mehr als die Hälfte auf Pachtland wirtschaften: 28 % haben nur Pachtland, weitere 40 % haben zu ihrem Eigenlande noch zugepachtet. Von der Nutzfläche sind etwa 45 %, von dem wertvollsten Boden, dem Reislande, sogar 52 % Pachtland. Und die Pächter werden in furchtbarer Weise ausgebeutet. Die Pacht beträgt 40-60 % der Ernte, in manchen Gegenden angeblich bis zu 70 %. Da die Bauern die Sachkosten der Bestellung selbst zu leisten haben, schließt der Feldbau fast immer mit einem Verlust ab. Sie haben sich lange durch die Seidenzucht über Wasser gehalten, die aber durch die Kunstseide hart bedrängt wird. Die Preise sind katastrophal gefallen, und die Regierung hat im Interesse ihrer imperialistischen Expansion die Fabrikation von Kunstseide im Lande selbst zu forcieren begonnen. Hier wie auch in China ist eine ungeheuerliche Abwanderung in die Städte die notwendige Folge gewesen, die in den maßlos aufgedunsenen Industriezentren einen nicht minder ungeheuerlichen Kapitalismus herbeigeführt hat. Seine Produktion ist weit über die Kaufkraft hinausgewachsen, die der innere Markt zu seiner besten Zeit je besaß, und noch viel weiter über die Kaufkraft, die er nach der Verelendung der Bauernschaft heute noch besitzt. Daher der aggressive Export, mit dem Japan jetzt die europäischen Märkte überfällt und in Krisen stürzt, die zu schwersten internationalen Verwicklungen zu führen drohen. Um militärisch für sie vorbereitet zu sein, muß das Land den Kern seines Volkes, die Bauernschaft, auch noch mit Steuern zermalmen. Das Bodenmonopol überspannt also die ganze Welt. Und wenn heute ein neuer Erdteil aus dem Meere tauchte, flugs würde eine Flagge gehißt, und der Staat dieser Flagge lieferte, kraft seines Hoheitsrechtes der ersten Okkupation, sich selbst, d. h. seiner Herrenklasse, das Land aus, um es zu sperren, ehe es noch für Kulturmenschen möglich sein würde, dort von ihrer Arbeit ein einigermaßen erträgliches Dasein zu führen. Das Monopol ist allgegenwärtig wie die Luft, ist allmächtiger als Dschinghis-Khan; es ist der Götze Dschaggernaut, dessen schwerer Prunkwagen seit Jahrtausenden über Milliarden zuckender Menschenleiber zermalmend dahinfährt, Naben und Speichen von Blut und Gehirn überspritzt. Man nennt das „private" Grundeigentum wohl auch das „privative" oder „quiritische". Beide Namen sind bezeichnend: privativ heißt wörtlich: „beraubend" - und kein Tyrann von Aschanti hat jemals in allen Jahren seiner Regierung so viel Glück und Gut geraubt, wie das Bodenmonopol täglich raubt. Und „quiritisch" stammt von Quirit: so hieß der römische Vollbürger nach seiner Leibwaffe, dem Spieße. Mit der Waffe wurde das Monopol aufgerichtet, mit der Waffe aufrechter-
Das Kapital: Zweiter
Abschnitt
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halten; und das blutigste und roteste Eroberervolk der Weltgeschichte, das Römervolk, hat dieses Recht des Unrechts zugeschliffen so fein und spitzig wie den Stahl seiner weltbeherrschenden Speere: fast seine einzige Leistung, die geblieben ist! Und jetzt, wo er zu dem Kernpunkte seiner gesamten, nicht nur ökonomischen, sondern soziologischen Auffassung gelangt ist, wird dem Verfasser ein Wort in eigener Sache erlaubt sein. Weil das Bodenmonopol in der Tat das charakteristische Kennzeichen der europäischamerikanischen Zivilisation ist, darum kann der Gedanke, es zum Hauptverantwortlichen für die Leiden der Welt zu machen, nicht von vornherein als abwegig betrachtet werden. Aber gerade das geschieht mir seit mehr als einem Menschenalter, trotz allen Gewichts der Gründe, die für diese Auffassung sprechen, und trotz der offenkundigen Schwäche der entgegenstehenden Lehren. Es ist fast, als handle es sich um unanständige Dinge, von denen man in guter Gesellschaft nicht spricht: so scheu weichen bürgerliche wie marxistische Theoretiker jeder ernsthaften Diskussion über diese doch wahrlich bedeutungsschweren Tatsachen aus. Nun ist aber das, was ich lehre, im Grunde nichts anderes, als daß ich zwei völlig gesicherte Lehren zusammengefügt habe: die alte gute Theorie der Ökonomik vom Monopol und die Erkenntnis der Rechtsphilosophie, daß es zwei durchaus verschiedene, ethisch entgegengesetzt zu bewertende Formen des Eigentums gibt, und daß das bäuerliche Eigentum zu den sittlich legitimen Formen, das große Grundeigentum aber zu den sittlich illegitimen Formen gehört, ja, ihr klassischer Repräsentant ist. Fast ohne Ausnahme haben alle irgendwie bedeutenden Vertreter der Ökonomik im Grundeigentum den Schädling gesucht: Adam Smith,1 Ricardo, James und Stuart Mill, 2 Walras, Gossen und zahlreiche andere, um von den Sozialisten gar nicht zu reden.3 Meine Lehre weicht von der ihren nur insofern ab, als sie nicht das Grundeigentum in Bausch und Bogen, sondern eben nur jenes von der Ethik verurteilte große Grundeigentum angreift; und weiter freilich auch darin, aber das ist eine rein akademische Frage, daß sie nicht die „Grundrente" als Differentialeinkommen, sondern den Kapitalprofit auf diese Ursache zurückführt. Meine Gegner aber stellen sich an, als ob ich eine bisher nie erhörte, prima facie unmögliche Behauptung aufstellte. Sie selber aber wollen die Gesellschaftswirtschaft der Gegenwart erklären, indem sie von ihrer Vergangenheit völlig abstrahieren und unterstellen, daß so ungeheure Tatsachen wie Krieg, Unterwerfung, Klassenbildung, Aneignung der Naturgaben, gar keine fortwirkenden Folgen haben!
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Er sagt, die Fideikommiß-Gesetze „beruhen auf der widersinnigsten aller Voraussetzungen, daß nämlich jede folgende Generation nicht das gleiche Recht auf die Erde und alles was sie trägt, besitzt" (Smith, Wealth of Nations, ΠΙ. Buch, Kap. 2). „Die gesellschaftliche Verfassung des heutigen Europa nimmt ihren Ausgangspunkt von einer Verteilung des Eigentums, die nicht das Ergebnis gerechter Teilung und nicht durch Erwerbstätigkeit erworben, sondern das Ergebnis von Eroberung und Gewalt war, und obwohl die Arbeit von Jahrhunderten das W e r k der Gewalt verändert hat, behält das System noch heute manche starke Spuren seines Ursprungs bei. Die Eigentumsgesetze haben sich bisher nirgend den Prinzipien angepaßt, auf denen die Rechtfertigung des Eigentums beruht. Es besteht Eigentum an Dingen, an welchen niemals Eigentum hätte bestehen sollen, und unbeschränktes, w o nur eingeschränktes angebracht wäre [...] Absichtlich hat man Ungleichheiten begünstigt und verhindert, daß alle unter gleichen Bedingungen beginnen." Das gelte vor allem v o m Grundeigentum. Es sei nur insoweit berechtigt, wie es der Eigentümer durch seine eigene Arbeit kultiviert hat. Aber kein Mensch schaffe das Land neu: „Es ist ursprünglich das Erbe des ganzen Menschengeschlechts. Seine Aneignung ist im Ganzen eine Frage des allgemeinen Nutzens. Ist das Privateigentum am Boden nicht nützlich, so ist es ungerecht" (Mill, Grundsätze der politischen Ökonomie, Jena 1913, S. 314 und 348ff.). Vgl. Oppenheimer, Zur Geschichte der Bodenreform, in: Zeitschrift für schweizerische Statistik und Volkswirtschaft, 72. Jg., Heft 3 (1936).
Zweiter Teil:
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Marktwirtschaft
b. Das sekundäre politische Eigentum 1. Die,, freien
A rbeiter
"
Wie die Klassenscheidung entstanden ist, haben wir ausführlich dargestellt. Solange die Bodensperre nicht voll durchgeführt war, war das notwendige wirtschaftliche Korrelat des gewaltgeschaffenen Großeigentums der unfreie Arbeiter. Als das große Werk aber gelungen und vollendet war, ist die Sklaverei und die Hörigkeit mit ihrer Bindung des Arbeiters an die Scholle überflüssig geworden. Man kann ihm die „Freiheit" geben und gibt sie ihm. Der Zweck, ihn zu jenem Tribut zu zwingen, ist jetzt auch, und sogar noch besser, gesichert, wenn der Mann persönlich frei ist. Sein Arbeitsmittel, soweit ihm irgend erreichbar, ist gegen ihn gesperrt, er muß die Bedingung annehmen oder verhungern. Und ¿las gilt heute für den ganzen Planeten·, soweit irgendein Kulturmensch noch ein Fleckchen Erde suchen mag, wo er seine Arbeitskraft beschaffend einsetzen könnte, ohne gänzlich den Zusammenhang mit der Zivilisation aufzugeben; d. h. an jeder Stelle, bis zu der die Beziehungen des Weltmarktes reichen, ja, weiter hinaus: an jeder Stelle sogar, bis zu der sie in irgend absehbarer Zeit reichen werden - findet er den Boden weithin gesperrt durch papierene Rechtstitel eines Eigentums, hinter dem das entfaltete politische Mittel, die Gewalt des Staates, drohend Wache hält. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als aus der Zivilisation auszuwandern, auf alle Kooperation mit ihren unendlichen Vorteilen zu verzichten, um, zwar in Freiheit, aber in jämmerlicher Armut und Verlassenheit zu vegetieren, fast zum Tierzustande zurückzukehren, - oder aus dem Leben auszuwandern, wenn er sich nicht entschließen kann, sich selbst, d. h. seine Arbeitskraft, in die Knechtschaft eines Lohnvertrages zu verkaufen. Derart verwandelten sich die unfreien Arbeiterklassen der Vergangenheit in die neuzeitliche Klasse „freier" Arbeiter, d. h. solcher Wirtschaftspersonen, die nicht nur politisch frei sind, so daß sie das Recht haben, ihre Dienste im freien Arbeitsvertrage zu verkaufen, sondern auch wirtschaftlich frei, d. h. „los und ledig von allen zur Verwirklichung ihrer Arbeitskraft nötigen Sachen" (Marx). In unserem Ausdruck: sie entbehren der eigenen Werkgüter, vor allem des Grund und Bodens, des entscheidenden Produktionsmittels der Urerzeugung, haben infolgedessen keine Güter anzubieten und müssen ihr einziges Produkt, ihre Dienste, anbieten, müssen, wie Marx sagt „ihre eigene Haut zu Markte tragen". Und „haben dafür nichts anderes zu erwarten als - die Gerberei". Betrachten wir zunächst nur das Verhältnis zwischen dem Großgrundbesitzer und seinen nunmehr „frei" gewordenen Arbeitern, die als solche jetzt freilich das Recht haben, sich anderen Großbesitzern anzubieten, dabei aber nichts gewinnen können. Sie stehen, wo immer sie anklopfen, immer dem gleichen privatrechtlichen Monopol gegenüber, das in der Regel noch durch das fortbestehende öffentlich-rechtliche Klassenmonopol der Staatsverwaltung verstärkt ist. Und dieses Monopolverhältnis beruht auf einem Austauschbedürfnis von solcher Dringlichkeit, wie es sonst nur in einer Hungersnot die Konsumenten gegenüber den Eigentümern der Nahrungsmittel zu Objekten der gröblichsten Ausbeutung macht. Wir haben oben1 die Bedingungen dargestellt, von denen die „Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses" abhängt. Die erste war „der individuelle Begehr des Tauschbedürftigen nach dem Gegenwert. Je geringer der Grad seiner Sättigung mit dem Gegenwert, und je höher dieser in der Wertskala seines Bedarfs steht, um so dringlicher ist ihm der Tausch." Wir sehen, daß diese Charakteristik im höchsten Maße auf den freien Arbeiter zutrifft: der Grad seiner Sättigung mit dem Gegenwert, dem Lohngelde, ist fast Null - und es ist ihm der einzige Zugang zu den Gütern höchster Dignität, den Befriedigungsmitteln der baren Notdurft. 1
[Siehe oben, Seite 481, (S. 25 im Original).]
Das Kapital: Zweiter Abschnitt
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Die zweite Bedingung war, die „individuelle Natur der Ware". Ein „Dienst" ist noch leichter verderblich als Milch; er verliert mit jeder Minute der Arbeitslosigkeit eine Minute Tauschwert; hier ist Zeit wahrhaft Geld. Die dritte Bedingung war „die Beschaffenheit des Marktes. Je höher das Angebot der eigenen Warenart, je geringer das Angebot der begehrten Warenart, und je weiter zeitlich und räumlich der nächste Markt ist, auf dem ein größerer Vorteil erwartet werden kann, um so dringlicher ist der Tausch." Nun, was die erreichbaren Märkte angeht, so haben wir gezeigt, daß nirgends andere, grundsätzlich bessere Marktverhältnisse bestehen, weil der Boden überall gesperrt ist. Was aber „das Angebot der eigenen Warenart im Verhältnis zu dem der fremden Warenart" anbetrifft, so ist nichts gewisser, als daß die Besitzer des Bodens zwar der „Dienste", die die Arbeiter anbieten, gleichfalls bedürfen, aber mit viel geringerer Dringlichkeit. Sie haben einen Stamm für lange Zeit ausreichender Verwendungsgüter und können ärgstenfalls mit den von ihnen besessenen Werkgütern in eigener Arbeit einen Teil ihres Landes bestellen, so daß sie auch für alle weitere Zukunft gedeckt sind. Unter diesen Umständen muß der Lohnvertrag zwischen einem größeren Grundeigentümer und einem freien Arbeiter dem ersten einen Monopolgewinn bringen, den der zweite sich von seinem Lohn abziehen lassen muß. Dieser Lohn wird nun der Normallohn, und dieser Profit wird nun der Normalprofit, jener der sämtlichen freien Arbeiter, dieser der sämtlichen Unternehmer der ganzen Wirtschaftsgesellschaft, deren Boden gesperrt ist, auch der städtischen Arbeiter und der Unternehmer in Industrie und Handel. Und zwar geschieht das durch die Konkurrenz. Nach unserer Voraussetzung ist der Arbeiter politisch frei, besitzt die Freizügigkeit und sucht infolgedessen den besseren Markt seines Produkts, der „Dienste". Er bietet sie jedem in erreichbarer Nähe vorhandenen Besitzer von Werkgütern an, der willens ist, fremde Arbeiter daran zu beschäftigen. Dieses Angebot ist ebenso dringlich, wie das soeben betrachtete gegenüber dem Großgrundeigentümer, und ist ebenso „einseitig": denn auch der städtische Eigentümer von „Kapital im volkswirtschaftlichen Sinne" kann leben, braucht nicht zu verhungern, wenn er sich ohne fremde Arbeiter behilft. Und so muß auch hier auf der einen Seite der Monopolgewinn des Profits, auf der anderen Seite der um diesen Monopoltribut gekürzte „Monopollohn" herauskommen. Damit haben wir das erste Hauptproblem der Verteilungslehre vollkommen gelöst, das von der Ursache des Kapitalprofits·. Der Kapitalist kauft das Produkt „Dienst" - und d. h. eine Arbeitsleistung von bestimmter Zeitdauer und Qualifikation - unter seinem statischen Konkurrenzpreise. Das heißt: er kauft beispielsweise 12 Stunden durchschnittlicher Arbeitszeit mit einer Anweisung in Geld auf Verwendungsgüter, die nur 6 Stunden gleichqualifizierter Arbeitszeit gekostet haben. Wenn 3.000 Mark wieder das Einkommen einer durchschnittlich qualifizierten Person ist, die unter keinem Monopolverhältnis steht, und wenn der Monopolabschlag wieder 50 % ist, so hat der gleichqualifizierte „freie" Arbeiter 1.500 Mark Nominaleinkommen auf das Jahr, mithin auf jede Arbeitsstunde statt einer nur eine halbe Mark. Seine Arbeitsstunde setzt aber dem Rohstoff eine ganze Mark Wert zu und wird von dem Kapitalisten auch zu diesem Preise in dem Produkt verkauft. Er kauft also eine ganze Stunde Arbeit für eine halbe, und verkauft sie wieder für eine ganze, geradeso wie der Lebensmitteltrust eine Menge Weizen, die 40 Dollar wert ist, für 20 kauft und für 40 (samt Zuschlag) weiter verkauft. Der Kapitalist manipuliert am langen Hebelarm der unrichtigen Marktwaage eines Käufers unter dem Monopolverhältnis und äquivaliert zwar nicht, aber äquilibriert zwei durch eins. Wenn er dann weiter verkauft, das Gut oder den im Gut materialisierten Dienst, so manipuliert er an der richtigen Marktwaage der freien Konkurrenz, erhält zwei für zwei, und auf diese Weise hat er zuletzt zwei für eins, und seine „Mehrwertrate" ist 100 %.
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Die hier aufgedeckten Zusammenhänge sind ältester Bestandteil unserer Wissenschaft. Man hat immer gewußt, daß Mehrwert nicht eintreten kann, solange es noch „terra libera" gibt. Nur hat man fast niemals gefragt, warum es keine mehr gibt. Schon Turgot schreibt (§ 9): „In dieser ersten Zeit, wo jeder arbeitsame Mann so viel Boden fand, als er wollte, konnte niemand sich bewogen finden, für andere zu arbeiten. Jeder Eigentümer mußte also sein Feld selbst bearbeiten oder es ganz aufgeben. (§ 10): Aber endlich fand jedes Stück Land seinen Herrn, und jene, welche keinen Grundbesitz erwerben konnten, hatten zuerst keinen anderen Ausweg als den, ihrer Hände Arbeit unter Leitung der besoldeten Klasse' gegen den Uberfluß an Gütern des landbauenden Grundbesitzers einzutauschen." 1 Die „besoldete Klasse" (classe stipendiée) ist bekanntlich der Stand der gewerblichen Unternehmer. Hier ist also der Ursprung der gewerblichen Arbeiterklasse durch die Vollbesetzung des Bodens erklärt. Turgot fährt fort (§11): „Da das Land indessen dem Besitzer nicht allein seinen Unterhalt gewährte, nicht allein, wessen er bedurfte, um auf dem Tauschwege die Mittel zur Befriedigung seiner anderen Bedürfnisse zu erwerben, sondern überdies noch einen beträchtlichen Uberschuß abwarf, so konnte er damit Leute bezahlen, die seinen Boden bearbeiteten, und für die Lohnarbeiter war es gleichgültig, ob sie ihren Unterhalt in diesem oder jenem Berufe gewannen." Adam Smith schreibt: „In jenem ursprünglichen Zustand der Dinge, welcher weder Landerwerb noch Kapitalansammlung kannte, gehörte das ganze Produkt der Arbeit dem Arbeiter allein. Er hatte weder Gutsbesitzer, noch Arbeitgeber, mit denen er zu teilen brauchte [...] Aber dieser ursprüngliche Zustand der Dinge, in welchem der Arbeiter das gesamte Erträgnis seiner Arbeit allein genoß, konnte nicht über das erste Auftauchen des Grunderwerbes und der Kapitalansammlung hinaus andauern." 2 Wir haben hier die Turgotsche Darstellung, leider bereits ein wenig verdorben durch den spezifisch Smithschen Gedanken, daß das „Kapital" ein durch Ersparnis aus einer früheren Produktionsperiode aufgehäufter Stamm von Produktivgütern und als solcher, weil für jede höhere Produktion unerläßlich, zum Bezüge von Profit berechtigt ist. Die Lehre ist unhaltbar, wie ich an anderer Stelle nachgewiesen habe.3 Wir haben das später zu betrachten. Hier genügt es, festzustellen, daß auch Smith die Entstehung einer Arbeiterklasse nicht für möglich hält, solange noch freier Boden vorhanden ist. Ganz besonders interessant ist es nun, daß auch Marx auf dem gleichen Standpunkt steht. Leider hat er die völlig klare Erkenntnis, die er besaß, nicht zur Grundlage seiner Theorie gemacht und demgemäß in dem ersten Kapitel seines „Kapital" dargestellt, sondern hat sie nur als Nebensache behandelt und demgemäß in das Schlußkapitel verwiesen. Wir sprechen von dem 25. Kapitel des 1. Bandes: „Das moderne Kolonialsystem".
1 2 3
Turgot, Betrachtungen über die Bildung und Verteilung des Reichtums, deutsche Ausgabe von Waentig, Jena 1903, S. 8; im Original nicht kursiv. Smith, Natur und Ursache des Volkswohlstandes, [Berlin 1879], I. Buch, Kap. 8; im Original nicht kursiv. Oppenheimer, David Ricardos Grundrententheorie, S. 11 Iff. [siehe auch in der vorliegenden Edition, Bd. I: Theoretische Grundlegung, S. 538ff.; A.d.R]; vgl. auch Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. I, 2. Teil, S. 811ff. Die Widerlegung hat übrigens schon Rodbertus durchgeführt.
Das Kapital: Zweiter Abschnitt
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„Es ist das große Verdienst E. G. Wakefields, nicht irgend etwas Neues über die Kolonien, aber in den Kolonien die Wahrheit über die kapitalistischen Verhältnisse des Mutterlandes entdeckt zu haben. Er entdeckte, daß das Kapital nicht eine Sache ist, sondern ein durch Sachen vermitteltes Verhältnis zwischen Personen. ,Herr Peel, jammert er uns vor, nahm Lebensmittel und Produktionsmittel zum Belauf von 50.000 Pfund Sterling nach dem Swan River, Neuholland, mit.' Herr Peel war so vorsichtig, außerdem 3.000 Personen der arbeitenden Klasse, Männer, Weiber und Kinder, mitzubringen. Einmal am Bestimmungsplatz angelangt,,blieb Herr Peel ohne einen Diener, sein Bett zu machen oder ihm Wasser aus dem Fluß zu schöpfen.' Unglücklicher Herr Peel der alles vorsah, nur nicht den Export der englischen Produktionsverhältnisse nach dem Swan River! Man sah: die Expropriation der Volksmasse von Grund und Boden bildet die Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise. Das Wesen einer freien Kolonie besteht umgekehrt darin, daß die Masse des Bodens noch Volkseigentum ist, und jeder Ansiedler daher einen Teil davon in sein Privateigentum und individuelles Produktionsmittel verwandeln kann, ohne den späteren Ansiedler an derselben Operation zu verhindern. [...] Die große Schönheit der kapitalistischen Produktion besteht darin, daß sie [...] beständig den Lohnarbeiter als Lohnarbeiter reproduziert [...] Aber in den Kolonien reißt der schöne Wahn entzwei. Die absolute Bevölkerung wächst hier viel rascher als im Mutterland, [...] und dennoch ist der Arbeitsmarkt stets untervoll. Der Lohnarbeiter von heute wird morgen unabhängiger, selbstwirtschaftender Bauer oder Handwerker. Er verschwindet vom Arbeitsmarkt, aber - nicht ins Workhouse [...] Nicht nur bleibt der Exploitationsgrad des Lohnarbeiters unanständig niedrig. Der letztere verliert obendrein mit dem Abhängigkeitsverhältnis auch das Abhängigkeitsgefühl vom entsagenden Kapitalisten. [...] Wie nun den antikapitalistischen Krebsschaden der Kolonien heilen? [...] Man gebe von Regierung wegen der jungfräulichen Erde einen vom Gesetz der Zufuhr unabhängigen künstlichen Preis, welcher den Einwanderer zwingt, längere Zeit zu lohnarbeiten, bis er genug Geld verdienen kann, um Grund und Boden zu kaufen und sich in einen unabhängigen Bauern zu verwandeln.'"' Mir scheint, der Gedanke ist vollkommen klar: wo freies Land verfügbar ist, kann weder eine Lohnarbeiterklasse, noch infolgedessen Mehrwert in irgend erheblichem Maße entstehen. Dazu bedarf es eines „künstlichen Preises", d. h. der Monopolisierung der „jungfräulichen", d. h. herrenlosen Erde. Das aber ist der Grundgedanke meiner Lehre. Karl Kautsky, Marx' getreuer Schildknappe, hat mich mit tiefer Verachtung einen „Bodenreformer" genannt, aber trägt dennoch just meine Auffassung als original marxisch vor, und zwar mit Recht. Er gibt die Quintessenz des eben zitierten 25. Kapitel mit noch viel größerer Schärfe und Bestimmtheit, als ich es wagen dürfte, ohne mich dem hergebrachten Strafregime auszusetzen.2 Freilich ist diese Hauptsache auch bei ihm nicht nur in das Schlußkapitel, sondern sogar in eine Anmerkung unter dem Strich verbannt: „Die Illusionen, welche diese Herren zu erwecken suchen, werden zu nichte gemacht in den Kolonien, das heißt in solchen mit jungfräulichem Boden, die durch Einwanderer kolonisiert werden. Wir finden da volle Freiheit des Arbeitsvertrages, das Eigentum des Arbeiters an seinen Produkten, also am Ertrage seiner Arbeit, wir finden da überhaupt die Verhältnisse, welche unsere Ökonomen als die der kapitalistischen Produktionsweise hinstellen: aber sonderbarerweise hört unter diesen Verhältnissen das Kapital auf, Kapital zu sein!
1 Marx, Das Kapital, Bd. I, S. 730ff.; im Original nicht kursiv. 2 Kautsky, Karl Marx' ökonomische Lehren, 14. Aufl., Stuttgart 1912, S. 265.
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
In solchen Kolonien ist noch freies Land im Überfluß vorhanden, und der Zugang dazu steht allen offen. Jeder Arbeiter kann da in der Regel selbständig produzieren, er ist nicht gezwungen, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Infolgedessen zieht es jeder vor, für sich zu arbeiten, anstatt für andere. Damit hören Geld, Lebensmittel, Maschinen und andere Produktionsmittel auf, Kapital zu sein. Sie verwerten sich nicht. Dieselben Ökonomen, welche in den kapitalistischen Ländern so pathetisch von der Heiligkeit des Eigentums und der Freiheit des Arbeitsvertrages deklamieren, verlangen daher in jungen Kolonien, damit das Kapital daselbst gedeihen könne, Ausschließung der Arbeiter vom Grundeigentum1 und Beförderung ihrer Einwanderung von Staats wegen oder auf Kosten der früher angekommenen Arbeiter selbst, mit anderen Worten, gewaltsame Trennung des Arbeiters von den Produktions- und Lebensmitteln und künstliche Erzeugung einer überschüssigen Arbeiterbevölkerung, die tatsächlich nicht frei, sondern gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Und wo eine gefügige Arbeiterklasse - namentlich wenn von einer zurückgebliebenen Rasse - vorhanden, der man das bieten darf, proklamiert man die unverhüllte Zwangsarbeit, die Sklaverei." Mir scheint, der Zusammenhang ist hier noch schärfer dargelegt als bei Marx selbst. Wo „noch freies Land im Überfluß vorhanden ist, und der Zugang dazu allen offen steht, hören Geld und andere Produktionsmittel auf, Kapital zu sein". Das ist genau das, was ich ex professo behaupte; nur mache ich auch noch die Umkehrung die Kautsky wird annehmen müssen: nur dort, wo kein freies Land mehr im Überfluß vorhanden ist, fangen Produktionsmittel an, Kapital zu sein. Dieses gesellschaftliche Verhältnis zwischen den Bodenbesitzenden und den nicht Bodenbesitzenden nennt Marx gelegentlich klipp und klar ein „Monopol": „In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Grundeigentümer (das Monopol des Grundeigentums ist sogar Basis des Kapitalmonopols) und der Kapitalisten."2 Wie aber wirkt denn ein Monopol? Auch das hat natürlich Marx, der die Geschichte der Dogmen und die Begriffe der Ökonomik besser kannte als die meisten der Herren, die heute in seinem Namen das kritische Richtschwert handhaben, ganz genau gewußt: „Damit die Preise, wozu Waren sich gegenseitig austauschen, ihren Werten annähernd entsprechen, ist nichts nötig, als daß 1. der Austausch der verschiedenen Waren aufhört, ein rein zufälliger oder nur gelegentlicher zu sein; 2. daß, soweit wir den direkten Warenaustausch betrachten, diese Waren beiderseits in den annähernd dem wechselseitigen Bedürfnis entsprechenden Verhältnismengen produziert werden, was die wechselseitige Erfahrung des Absatzes mitbringt, und was so als Resultat aus dem fortgesetzten Austausch selbst herauswächst; 3. soweit wir vom Verkauf sprechen, daß kein natürliches oder künstliches Monopol eine der kontrahierenden Seiten befähige, über den Wert zu verkaufen oder sie zwinge, unter ihm loszuschlagen."' Die ersten beiden Punkte bestimmen mühsam den Begriff der „statischen Preisrelation", schließen Täusche außerhalb des regelmäßigen Marktes, und auf ihm Novitäten und Singularitäten aus; der dritte Punkt enthält die ganze Theorie des Monopols, wie wir sie vorgetragen haben, in nuce: Natur- und Rechts- (künstliches) Monopol, Verkaufs- und Einkaufsmonopol, Monopolgewinn der Monopolisten und Monopoltribut des Kontrahenten. Zusammengenommen ergeben die obigen Sätze meine gesamte Theorie. Wir fassen zusammen: Die Tatsache, daß eine Klasse freier Arbeiter als solche, d. h. als eine Klasse existiert, die der eigenen Produktionsmittel ermangelt und daher gezwungen ist, sich den Besit-
1 Das heißt doch wohl: Sperrung des Bodens gegen die Arbeiter?! 2 Marx, Kritik des Parteiprogramms, in: Neue Zeit, IX. Ausg., Heft 1, S. 561ff. 3 Derselbe, Das Kapital, Bd. m, 1. Teil, S. 156; vgl. auch Bd. III, 2. Teil, S. 157.
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zern der Produktionsmittel für einen Lohn anzubieten, der ihren Anwendern einen Mehrwert läßt, - diese Tatsache ist keine „natürliche", sondern ist rechtlich bedingt, ist durch außerökonomische Gewalt, durch das politische Mittel verursacht. Es handelt sich also nicht um eine immanente, sondern um eine historische Kategorie: nach dem Satz „cessante causa cessât effectus" müssen mit der juristischen Bodensperrung das gesellschaftliche Klassen-Monopolverhältnis und daher die Arbeiterklasse als solche, d. h. als eine Klasse von Tributpflichtigen, verschwinden, und mit ihr jede Form des Mehrwerts. Solange es aber besteht, erhält in einer Wirtschaftsgesellschaft der politischen Freiheit und Freizügigkeit nicht nur das Großgrundeigentum, sondern auch jedes andere Großeigentum an Produktionsmitteln den Mehrwert. Denn die Freizügigkeit verteilt die Arbeiter über das gesamte Gebiet der Wirtschaftsgesellschaft·, sie konkurrieren untereinander um die Beschäftigung bei jedem Mitglied der Oberklasse, das sie an seinem produktiven Eigentum beschäftigen kann und will, - und so werden alle Produktionsmittel „sekundäres politisches Eigentum", das seinem Eigentümer „Mehrwert" abwirft. Wir verstehen also, um es zu wiederholen, unter sekundärem politischen Eigentum alles nicht unmittelbar durch erobernde Gewalt geschaffene Großeigentum an Produktionsmitteln in einem Wirtschaftskreise, dessen gesamter Grund und Boden angeeignet ist. Seine erste Klasse ist das sekundäre politische Eigentum am Grund und Boden, und hier sind wieder drei Unterarten zu unterscheiden: das koloniale Großgrundeigentum, das großbäuerliche Grundeigentum in den Kolonien und den ehemaligen Feudalländern und das städtische Grundeigentum. Die zweite Klasse ist das Eigentum an beschafften Beschaffungsgütern, dem sogenannten Kapital. Auch hier werden wir zweckmäßig drei Unterarten unterscheiden: das Wucherkapital, das Kreditkapital und das industrielle sogenannte produktive Kapital.
2. Das sekundäre politische Eigentum an Grund und Boden A. Das koloniale
Großgrundeigentum
Streng genommen ist bereits der größte Teil des modernen kolonialen Großgrundeigentums sekundäres Gewalteigentum. Wir haben in der Darstellung der letzten Seiten die Wirtschaftsgesellschaft als ein einheitliches Gebilde aufgefaßt und haben darum das koloniale Großgrundeigentum bereits mit in die Betrachtung einbeziehen müssen. Jetzt werden wir die Tatsache, daß die Wirtschaftsgesellschaft der Gegenwart aus einer Anzahl vorerst nur schwach integrierter kleinerer Wirtschaftsgesellschaften besteht, in Rechnung ziehen und die kinetischen Zusammenhänge zwischen ihnen etwas schärfer betonen. Da ergibt sich als erste entscheidende Tatsache, daß ohne das Vorhandensein massenhaften, in der Feudalepoche durch erobernde Gewalt gesetzten Großgrundeigentums im alten Lande (wir werden es von jetzt an das feudalkapitalistische Großgrundeigentum nennen) die Entstehung ähnlicher, modernkapitalistischer Bildungen im neuen Kolonialgebiete unmöglich hätte erfolgen können. Der Wirt okkupiert nur dann große Flächen Landes, wenn er die Aussicht hat, in absehbarer Zeit den Monopolgewinn davon zu beziehen. Das aber ist nur dort möglich, wo Sklaverei besteht, oder massenhafte freie Arbeiter sich auf dem Markt anzubieten gezwungen sind. Diese Bedingung aber ist im neuen, weiten, schwach bevölkerten Kolonialgebiet nur dann gegeben, wenn eine starke Zuwanderung aus dichter bevölkerten Gebieten stattfindet. Die Bodenspekulation im kolonialen Gebiet setzt mit anderen Worten die Existenz einer Klasse von freien Arbeitern in einem, damit in wirtschaftlichem Austausch von Gütern und Diensten stehenden, anderen Wirtschaftsgebiete des gleichen Gesamtwirtschaftskreises voraus. Wo diese Bedingung nicht gegeben ist, fehlt
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
jedes Motiv, das den Wirtschaftsmenschen zur juristischen Okkupation großer Strecken veranlassen könnte. Wo nämlich ein weites Gebiet nur wenig Menschen beherbergt, da kann offenbar nur unter einer Bedingung hoher Monopolgewinn von rechtlich freien Arbeitern „erpreßt" werden: wenn ein Mann alles Land besitzt; dann sind auch spärlich gesäte Arbeiter „Ryots" (so heißen die Hintersassen der indischen Rajah)1 und müssen sich allen Bedingungen des fürstlichen Grundherrn fügen, um nicht zu verhungern. Diese Voraussetzung gilt aber nicht für die kapitalistische Verkehrswirtschaft. Wo jedoch viele Grundeigentümer, wenn auch noch so großer Latifundien, das menschenarme Land unter sich teilen, da konkurrieren sie um die wenigen freien Arbeiter; die Konkurrenz steht „ganz auf ihrer Seite", wie Ricardo sich ausdrückt, und der Arbeitslohn steht dicht am Arbeitsertrage, d. h. der Gewinn steht dicht an Null. In dieser Lage befindet sich aber jede Grundeigentümerklasse in einem weiten, menschenarmen Gebiete auf unabsehbare Zeit hinaus, wenn die Arbeiterbevölkerung nur durch ihren natürlichen Nachwuchs zunimmt. Denn jede Steigerung des Getreidepreises auf dem Zentralmarkte, und vor allem jede Verminderung der Frachtkosten vermehrt die mit dem Zentralmarkt verbundene Fläche viel schneller, als die Bevölkerung selbst zu wachsen vermag. Man denke an die unendlichen Ackergebiete, die die nordamerikanischen Transkontinentalbahnen oder die sibirische Bahn oder jede argentinische Strecke neu erschlossen hat. Hier könnte also niemals irgend jemand auf den Gedanken kommen, Land zu Spekulationszwecken auszusperren, - der homo lombardstradarius2 am wenigsten; denn hier wäre niemals ein Geschäft zu machen - wenn nicht die freien Arbeiter in genügender Anzahl von auswärts einströmten. Das römische Recht der unbeschränkten Okkupation ist nur die Bedingung, die Masseneinwanderung aber die Ursache der Bodenspekulation und somit des Gewinns. Wo aber diese Einwanderung gegeben ist, da sperrt die herrschende Klasse alles neue unbebaute Land immer wieder durch rechtliche Okkupation ab, sobald die Möglichkeit eines Gewinnes in solche Nähe rückt, daß eine Bodenspekulation aussichtsvoll erscheint. Die Spekulation ist eine sehr einfache: in so und so vielen Jahren wird voraussichtlich dieser bestimmte Teil des Landes an den beständig wachsenden Weltmarkt für Getreide angegliedert sein. Der Hektar wird so und so viel Zentner Korn tragen, die auf dem zentralen Markte durchschnittlich den und den Preis bringen werden. Davon gehen ab höchstens Transport- und Produktionskosten von der und der Höhe. In diese Produktionskosten sind einbegriffen die Arbeitslöhne für eine berechnete Anzahl zuwandernder Arbeiter, die immer zu mieten sind, wenn man den Lohn ihres Herkunftsortes um ein geringes überbietet. Folglich ist der Ankauf dieses Geländes zu dem und dem Preise bereits eine aussichtsvolle Spekulation. Hierbei ist wohl zu beachten, daß schon bei einer merklichen Verlangsamung der Einwanderung die Spekulation fehlschlagen muß. Denn irgend etwas hat der Spekulant ja immer für sein Grundeigentum bezahlt, und in der Regel wird er auch für Überwachung, Steuern usw. einige laufende Kosten haben. Diese Kosten vermehren sich in der ersten Zeit nur sehr langsam durch die aufzuschlagenden Zinsen, verdoppeln sich bei fünf Prozent bekanntlich erst in 14 % Jahren. Aber der Verlust an Zins und Zinseszins wächst mit jeder neuen Epoche immer stärker und schließlich ins Ungeheuerliche. Schon nach 50 Jahren ist das Anlagekapital bei 5 % auf das Iliache, nach 80 auf das 50fache, nach 100 auf das 131fache gestiegen, bei 6% gar auf das 340fache. Hieraus wird klar, daß
1 2
Vgl. de la Mazelière, Essai sur l'évolution de la civilisation indienne, Bd. I, Paris 1903, S. 52 und 291. Alles Land gehört dem Staate, Rente und Steuer ist eins. So nennt Sombart den aufs schärfste kalkulierenden vollkommenen Wirtschaftsmenschen. Die Lombard Street ist das Finanzzentrum Londons.
Das Kapital: Zweiter Abschnitt
573
eine gewisse ÂfîWesieinwanderung die conditio sine qua non einer solchen Spekulation ist: ist sie geringer als dieses Minimum, so steigt der Bodenpreis langsamer, die Löhne bleiben höher - und der Verlust an Zins und Zinseszins schwillt an. Unter solchen Umständen wird gerade der genau rechnende Spekulant nicht daran denken, ein derartig verlustreiches Geschäft zu unternehmen. Wenn er aber, von jetzt nicht mehr vorhandenen Voraussetzungen aus, es schon unternommen hatte, so wird er es so schnell wie möglich liquidieren, um „nicht das Lebendige auf das Tote zu werfen". Ganz die gleichen Erwägungen gelten auch für städtisches Spekulationsgelände.
B. Das städtische
Großgrundeigentum
Daß die städtische Mietrente ein Monopolpreis ist, ist eine fast nirgends bestrittene Tatsache. Adam Smith schreibt klipp und klar: „daß die Hausmieten in London teuer sind, entsteht [...] hauptsächlich aus der Teuerung der Grundrente, indem jeder Grundbesitzer wie ein Monopolist handelt". Dieselbe Anschauung vertreten heute die meisten lebenden Ökonomisten. Der Mechanismus, durch den die städtische Mietrente sich bildet, ist ein genaues Analogon zu den Verhältnissen, unter denen die Rente des modern-kapitalistischen Großgrundeigentums im Kolonisationsgebiet sich bildet: Die Zunahme der städtischen Bevölkerung durch ihren eigenen Geburtenüberschuß ist im Verhältnis zu dem vorhandenen Baulande viel zu klein, selbst unter den denkbar günstigsten hygienischen Verhältnissen, als daß jemals ein erheblicher Gewinn hier entstehen könnte. Niemand, und sei er der homo sapiens lombardstradarius in der höchsten Potenz, wird da, wo keine Zuwanderung stattfindet, auf den Gedanken kommen, Spekulationsterrain hinzulegen, d. h. gegen die sofortige Bebauung mit Mietshäusern abzusperren: denn, wie lange er auch warten möge, niemals wird er in dem erzielten Verkaufspreise seinen eigenen Anschaffungspreis samt Zins und Zinseszins, seinen „Buchpreis", wieder erhalten. Und wo er nicht starke Aussichten hat, mehr als den Buchpreis zu realisieren, da „spekuliert" gerade der Lombardstradarius nicht. Auch hier kann nur die Massenzuwanderung von landlosen Wohnbedürftigen den Monopoltribut ermöglichen. Der Zusammenhang ist genau der gleiche wie im neuen Kolonialagrargebiet: Die Massenwanderung ist die Ursache der Spekulation mit dem Grund und Boden, das Recht der Okkupation beliebig großer Flächen ist nur ihre Bedingung. Sobald die Massenzuwanderung in die Städte zur dauernden gesellschaftlichen Erscheinung geworden ist, können spekulative Köpfe den Zeitpunkt mit einiger Genauigkeit berechnen, in dem ein beliebiges Grundstück der Peripherie für das Wohnbedürfnis der Bevölkerung wird herangezogen werden müssen, und den Mietpreis, den es unter der Annahme einer bestimmten Bauordnung mindestens bringen wird. Wenn der danach berechnete Verkaufspreis (der kapitalisierte Monopolgewinn der Zukunft) bedeutend größer ist, als der höchste voraussichtliche Buchpreis (Erwerbspreis des Grundstückes samt Zins und Zinseszins, Steuern, Kosten usw. für die längste wahrscheinliche Wartezeit): dann „legt der Spekulant das Terrain hin". Sobald die ländlichen Eigentümer erst hinter diese Art von Spekulation gekommen sind, verwandeln auch sie sich in Menschen mit der Psychologie vom Lombardstreet. Und so wird die wachsende Stadt durch einen Ring von „Terrains" umschlossen, die so lange gegen die Bebauung gesperrt werden, bis sie „ihren Preis" bringen. Und zwar stuft sich der Bodenpreis nach außen so ab, daß - bei sonst gleicher Annehmlichkeit der Lage, Güte der Wohnung, Bequemlichkeit der Versorgung mit anderen Lebensbedürfnissen usw. - der Mietbedürftige an jedem Punkte dieses Ringes ungefähr die gleiche Last zu tragen hat, natürlich nicht in Miete allein, wohl aber in Mietgeld und Transportlast an Fahrgeldern und Zeitverlust zusammengenommen. Nur, daß von innen nach außen der Bodenpreis sich so abstuft, daß gerade noch ein genügendes „Gefälle" bleibt.
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Genau so wenig wie im Kolonialgebiet kann der Bedürftige sich hier dem Monopol entziehen. Allerdings ist in der weiteren Umgebung der Stadt jenseits der Grenze, bis zu der die Spekulation noch auf einen Gewinn rechnen kann, Bauland in ungeheurer Menge für billigsten Preis zu haben, gerade so wie im Kolonialgebiet jenseits der Grenze, bis zu der die Spekulation rationellerweise greift, unendliches freies Ackerland vorhanden ist. Aber sowenig der kapitallose Einwanderer dieses Ackerland besiedeln kann, weil er dadurch auf unabsehbare Zeit hinaus den Zusammenhang mit dem Markte aufgeben müßte: sowenig kann der Arbeiter jenes Bauland besiedeln, weil er dann den Zusammenhang mit der Stadt, seinem Arbeitsmarkte, aufgeben müßte. Denn von jenseits des Ringes ist seine Arbeitsstätte mit den ihm verfügbaren Mitteln an Zeit und Geld nicht mehr regelmäßig täglich erreichbar. Es bleibt ihm also, wie dem Siedler im Kolonisationsgebiet, nichts anderes übrig, als dem Monopolisten den Monopoltribut zu zahlen. Aus dieser Erwägung geht hervor, wie leicht es wäre, dieses sekundäre Monopol zu brechen, womit dann gleichzeitig seine Eigenschaft als „künstliches", rechtliches Monopol über jeden Zweifel hinaus sichergestellt ist. Man braucht nur den „schmalen Ring" durch eine Transporteinrichtung zu durchbrechen, die ein jenseits desselben gelegenes genügend großes Baugelände in die noch erträgliche „ökonomische Entfernung" bringt: die Entfernung, ausgedrückt nicht in Kilometern, sondern in den wirtschaftlich allein erheblichen Daten des Zeit- und Geldaufwandes. Wenn man ζ. B. in der entsprechenden Entfernung von einer Großstadt ein Gelände erwirbt, das 40-50.000 Familien aufnehmen kann, so kann der von hier zum Arbeitsmarkte in die Stadt gehende Personenverkehr bereits eine schnell, häufig und zu billigem Abonnentenpreise verkehrende elektrische Schnellbahn rentabel halten. Wenn das zum Ackerpreise erworbene Grundstück genossenschaftlich besessen und gegen spekulative Ausbeutung auf die Dauer geschützt wird, verliert alles „Terrain" zwischen ihm und der Stadt sofort seinen Spekulationswert und muß schleunigst sehr billig zu Markte gebracht werden. Und in der Stadt selbst würde der Monopolpreis der Wohnungen und Bauböden sehr tief stürzen.
C. Das großbäuerliche
Grundeigentum
Nur unter derselben Voraussetzung der Verfügung über eine fluktuierende Arbeiterklasse können die Eigentümer von im Verhältnis kleinem landwirtschaftlichen Grundeigentum Gewinn beziehen: die Großbauern, wie man sie nennen könnte. Jedoch sei bemerkt, daß der Begriff hier nicht im mindesten im Sinne der Statistik gefaßt werden soll, als Besitzer einer irgendwie absolut bestimmten Quantität Landes. Sondern ökonomisch ist als großbäuerlich zu bezeichnen jedes Grundeigentum, das seinem Eigentümer die regelmäßige Haltung von fremden Arbeitskräften und den Bezug von Mehrwert an ihrer Arbeit erlaubt. Dieses „Großgrundeigentum kleineren Umfanges", wie ich es einmal genannt habe, umfaßt daher nicht nur den Großbauern der Statistik, der mit zahlreichem festen Gesinde wirtschaftet, sondern auch einen bedeutenden Teil der von der Statistik als mittelbäuerliche Betriebe gezählten Eigentümer; und sogar solchen kleinen Grundbesitz im statistischen Sinne, der mit besonderer Arbeitsintensität bebaut wird, weil er in besonders günstiger Verkehrslage sich befindet. Ein Handelsgärtner ζ. B., der auf einer Fläche von 2-3 ha mit 6-10 Gehilfen den intensivsten Gemüsebau treibt, besitzt geradeso ein „Großgrundeigentum kleineren Umfanges", wie der friesische Marschbauer auf 100 ha, der mit ebensoviel Knechten wirtschaftet. Wäre nicht die Verfügung über „freie" Arbeitskräfte auch diesen großbäuerlichen Eigentümern gegeben, so könnte sich kein Eigentum von diesem Umfang halten. Es würde im Generationswechsel immer wieder auf diejenige Größe reduziert werden, die der Wirtschaftsstufe und Verkehrslage entspricht, oder es müßte durch Genossenschaftler bewirtschaftet werden, die den Ertrag untereinander verteilen. Der kapitalistische Großbauernbetrieb ist genau so wie der kapitalistische Groß-
Das Kapital: Zweiter
Abschnitt
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grundbesitz im Kolonialbezirk nur möglich unter der Voraussetzung, daß eine Klasse freier Arbeiter existiert.
3. Das Kapitaleigentum Wir haben festgestellt: „Solange das gesellschaftliche Monopolverhältnis besteht, erhält in einer Gesellschaft der politischen Freiheit und Freizügigkeit nicht nur das Großgrundeigentum, sondern auch jedes andere Großeigentum an Produktionsmitteln den Mehrwert. Denn die Freizügigkeit verteilt die Arbeiter über das ganze Gebiet der Wirtschaftsgesellschaft: sie konkurrieren untereinander um die Beschäftigung bei jedem Mitgliede der Oberklasse, das sie an seinem produktiven Eigentum beschäftigen kann und will, und so werden alle Produktionsmittel ,sekundäres politisches Eigentum', das seinem Eigentümer Mehrwert abwirft." Das gilt wie für das „modern-kapitalistische" Großeigentum an Grund und Boden, so auch für das Großeigentum an „Kapital".
A.
Zur Geschichte des Begriffs
Das Kapital erscheint zuerst als Leihe- oder Kreditkapital, und zwar schon auf sehr primitiven Stufen der Gesittung. Bei den höheren Fischern Nordwestamerikas und bei den meisten Nomaden ist das Darlehen in stark wucherischer Form gebräuchlich: der Schuldner wird dem Gläubiger hörig, bis er gezahlt hat. Einige leiten das Wort „Feud" (französisch: féod) von dem germanischen „fee-od", Vieheigentum ab, und erblicken eine der Wurzeln des Feudalsystems in Viehleihe und Viehwucher. Auch das Wort „Kapital" wollten einige von „caput", Viehhaupt, ableiten. Es bedeutet aber die „Hauptsumme" (summa capitalis) des Darlehens zur Unterscheidung von den „Interessen" oder Zinsen. Das durch solche Darlehen konstituierte Verhältnis bietet dem Verständnis einer Zeit, die wie die unsere gezwungen ist, sich mit wirtschaftlichen Problemen zu befassen, nicht die geringste Schwierigkeit. Es ist ein gesellschaftswirtschaftliches Verhältnis zwischen Personen, und zwar ein Monopolverhältnis. Der Kreditsuchende ist „arm", weil in Not, der Kreditgeber „reich", weil zur Zeit mit mehr als dem Notwendigen versorgt; die Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses ist ganz auf der einen Seite, und so muß der Monopolgewinn, das „Interesse"1 oder das „Gebrauchsgeld" (usura)2 herausspringen. Beide Ausdrücke stammen als Bezeichnungen für den Leihezins aus der mittelalterlichen Praxis; die Zinsnahme war zwischen Christen als unbrüderlich von der Kirche verboten, und so suchte man nach Entschuldigungen, weil selbstverständlich nur wenige christlich genug dachten, um ohne Zins Darlehen zu gewähren; - und man fand sie in der Fiktion, daß hier gewisse Rechtsverhältnisse vorlägen, für die die Jurisprudenz die Kategorien vorrätig hatte, entweder eine Interessenverletzung, weil der Kreditgeber in der Zeit bis zur Rückzahlung des Darlehens sich etwaige günstige Chancen entgehen lassen muß, oder in der Konstruktion, daß er ja für das
1
Interesse bedeutet nach Klöppel (Staat und Gesellschaft, Gotha 1887, S. 276) „die sinngemäße Bezeichnung für den Unterschied zwischen dem Vermögensstande desjenigen, der eine Rechtsverletzung erlitten hat, vor und nach Eintritt derselben - also des vollen Nachteils, den er erlitten hat, und der ihm zu erstatten ist".
2
Usura gleich Gebrauchsgeld für den „Quasi-Usufructus" nach Gajus (Böhm-Bawerk, Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien, S. 308f., Anm.).
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Geld auch einen fruchttragenden Eigentumstitel, vor allem an Grund und Boden, hätte erwerben können. Hier vor allem lagen für jene ökonomisch noch nicht erzogene Zeit die Schwierigkeiten des Verständnisses. Da niemals an der sittlichen Legitimität der Bodenrente, der wirtschaftlichen Grundlage der damaligen Oberklasse, gezweifelt wurde (sowenig wie die Sklavenhalter der Antike oder der neuzeitlichen Kolonien an der sittlichen Legitimität der Einrichtung zweifelten, auf denen ihre Vorzugsstellung beruhte, oder sowenig unsere Bürgerklasse imstande ist, an der sittlichen Legitimität des Kapitaleigentums und des Profits zu zweifeln), war wenig dagegen einzuwenden, wenn ein um ein Darlehen angegangener Reicher außer der, bei Notdarlehen in der Regel sehr hohen, Risikoprämie noch denjenigen Gewinn beanspruchte, den er bei Anlage des Kapitals in Grund und Boden gehabt haben würde. So wurde denn auch sogar von der Kirche die „Satzung": der Scheinverkauf von Grundeigentum mit Rückkaufsrecht zu dem durch die Zinsen vermehrten Darlehen, als erlaubt zugelassen. Aber beim reinen Gelddarlehen blieb die Kirche ex professo lange Zeit hindurch fest, wenn auch die Stifter und Klöster und nicht minder die päpstliche Camera selbst sich in großartiger Weise an Kreditgeschäften beteiligten. Trotzdem galt das zinstragende Darlehen bis in die Neuzeit hinein als Sünde; man folgte hier Aristoteles, der den Zins (das „Geheckte", griechisch: τόκος) als naturwidrig angesehen hatte, weil das leblose Geld keine Jungen werfen könne wie ein Tier.1 Diese grundsätzlich feste Stellung zu dem Problem geriet hoffnungslos ins Wanken, als eine ganz neue Erscheinung der Gesellschaftswirtschaft auftrat, sich ausbreitete und in überraschendem Maße klassenbildend zu wirken begann: jene Erscheinung, um die herum, wie wir dargestellt haben sich die Ökonomik als Wissenschaft entwickelte, und die ihr Grundproblem geblieben ist bis auf den heutigen Tag: der Unternehmerprofit. Er wurde zuerst zum praktischen Problem, und zwar stieß sich das Interesse jetzt der Kreditsuchenden selbst auf das Empfindlichste an dem kanonischen Zinsverbot. Eine ganz neue Klasse von Kreditsuchern war auf dem Markte erschienen: Personen, die das Darlehen brauchten, nicht, um sich aus einer Notlage zu befreien, sondern im Gegenteil, um eine günstige Chance noch besser ausnützen zu können, indem sie ihr Anlagekapital durch Hereinnahme fremden Geldes vermehrten. Sie waren durchaus bereit, einen Teil des davon erhofften Mehrgewinns abzutreten, empfanden diese Abgabe nicht im mindesten als Bewucherung und drängten auf Aufhebung der obsolet gewordenen kirchlichen Vorschrift. In den derart entbrannten Kämpfen mußte sich die Notwendigkeit mehr und mehr herausstellen, den Unternehmerprofit, aus dem der Profit des nicht mehr „konsumtiven", sondern „produktiven" Leihekapitals abgezweigt wurde, auch theoretisch zu erklären und dadurch gleichzeitig zu rechtfertigen. Wie überall suchte man auch hier zuerst nach verwandten Erscheinungen, um den Oberbegriff zu gewinnen, dem die neue Spezies einzuordnen war, und fand sie in der alten Praxis der Geldleihe. Der Unternehmergewinn wurde ganz richtig als ein naher Verwandter des Geldzinses erkannt: es fragte sich nur, wer der Darleiher, und wer der Schuldner war. Und da kam man zu einer sehr seltsamen Konstruktion: Der Unternehmer streckt sich selbst, d. h. als Privatmann seinem Betriebe, eine Summe Geldes vor, kauft damit Arbeitsmittel in Gestalt von Werkgut aller Art und Werkdiensten und zahlt sich selbst, d. h. der Betriebsinhaber an den Privatmann den Zins für das vorgestreckte Kapital.
1
Er erklärt (Aristoteles, Politik, I. Buch, 3,5) Fischerei, Jägerei und, charakteristisch, Raub und Krieg als „natürliche", Handel und Geldgeschäfte als „unnatürliche" Erwerbsarten.
Das Kapital: Zweiter Abschnitt
577
Diese Auffassung wurde durch die längst eingebürgerte doppelte italienische Buchführung erleichtert: hier erscheint ja das Privatvermögenskonto des Inhabers als der Kreditgeber, der „per" Betriebskonto für die eingeschossene Geldsumme „erkannt" wird, während das Betriebskonto als der Debitor erscheint, der „an" Vermögenskonto „belastet" wird. Daher stammt der eigentümliche Sprachgebrauch, wonach der Unternehmer das „Kapital" „vorschießt", oder „vorstreckt"; schon in der physiokratischen Lehre ist überall von den „avances foncières, primitives und annuelles" die Rede, und auch in der englischen Fachsprache ist es der Unternehmer, der den „stock", das Kapital, „advances". Von hier aus ist dann später, als der Sozialismus seine Anklagen erhob, die seltsame Vorstellung erwachsen, daß der Unternehmer sein „Kapital" seinen Arbeitern vorschieße, während doch in der ganzen Welt die Arbeiter vorleisten und ihren Lohn erst nach Ablauf des Dienstvertrages erhalten. Da es nun in der kaufmännischen Bilanz völlig gleichgültig ist, in welcher Form, ob als Werkgüter, Waren oder bare Kasse, die Aktiva vorhanden sind, nannte man von da an die mit dem „Vorschuß" angekauften Werkgüter selbst „Kapital". Diese unaufhörliche Verschiebung des Problems hat eine wissenschaftliche Verwirrung gestiftet, die noch heute, nach mehr als anderthalb Jahrhunderten, nicht geklärt ist; freilich wirken hier nicht nur sachliche Schwierigkeiten, sondern auch und vor allem der Umstand, daß dieser Begriff das „gute Gewissen" der Bourgeoisie ist und darum mit aller Verzweiflung auch gegen die stärksten Argumente verteidigt wird. In dem Begriff stecken namentlich folgende Fehler: Erstens: Niemand kann sich ernstlich selbst rechtlich verpflichtet sein. Die Fiktion der doppelten Buchführung ist praktisch bewährt, aber sie konstituiert nicht ein wirkliches Rechtsverhältnis, das ja immer nur zwischen zwei verschiedenen Personen möglich ist. Von hier aus konnte man nicht mehr erkennen, daß in der Tat auch das Unternehmerkapital wie das Wucherkapital ein Verhältnis zwischen Personen ist, und verriegelte sich die Möglichkeit, es als das zu erkennen, was es in Wahrheit ist, ein Monopolverhältnis zwischen dem Unternehmer und seinen Arbeitern: eine Erkenntnis, die von dem Ausgangspunkte aus, den man gewählt hatte, sehr leicht zu gewinnen gewesen wäre, sobald erst einmal der wissenschaftliche Begriff des Monopols erlangt worden war. Statt dessen erschien von jetzt an das Kapital als ein Verhältnis zwischen einer Person und seiner Sache, nämlich den „produzierten Produktionsmitteln" - oder vielmehr, diese selbst erschienen jetzt als „Kapital". Von hier aus war es aber, wie sich zeigen wird, nicht möglich, das Problem des Unternehmerprofits mit logisch einwandfreien Mitteln zu lösen. Zweitens: Hier sind zwei Dinge als völlig gleich behandelt worden, die toto coelo verschieden sind, ein Eigentumsrecht und der Komplex von Sachen, auf die das Eigentumsrecht radiziert ist. Für diese Auffassung werden die erzeugten Werkgüter, also Sachen und das Recht daran schlechthin identisch; sie erscheinen nur noch als verschiedene Ansichten des gleichen Dinges, einmal vom Standpunkt der Personalwirtschaft aus, als Eigentum, einmal vom Standpunkt der Marktwirtschaft aus, als im Strome der Gesellschaftswirtschaft wirkende Sachen. Nur das erste aber ist eine soziologische, das zweite ist eine technologische Kategorie, und das sind sehr verschiedene Dinge. Von hier aus ist die Neigung, die Ökonomik mit der Technik zu verwirren, die viele Theoretiker in die Irre geführt hat, nur noch verstärkt worden. Drittens aber: Selbst wenn man sich über diese unüberschreitbare logische Kluft zwischen einem Recht auf Sachen und diesen Sachen selbst fortsetzen wollte, bleiben dennoch immer noch unüberwindliche neue Schwierigkeiten. Denn die beiden Dinge sind auch äußerlich nicht identisch. Es gibt Eigentumskapital, das nicht auf Sachkapital an „produzierten Produktionsmitteln" radiziert ist, und umgekehrt Sachkapital, das seinem Eigentümer keinen Unternehmerprofit abwirft. Bedeutende Schwierigkeiten macht es schon, daß es Güter gibt, die zweifellos Teile des Privatkapitals ihres Besitzers, und ebenso zweifellos dennoch nicht produzierte Produktionsmittel, sondern produzierte „Konsummittel", d. h. Verwendungsgüter, sind. Das sind Mietshäuser und die
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
Läger gebrauchsfertiger Waren beim Erzeuger und Groß- und Kleinhändler. Ferner wird bares Geld, das zwar produziert, aber kein Produktionsmittel ist, von den meisten Theoretikern als privates Kapital angesprochen. Aus diesen Gründen definiert Böhm-Bawerk das Kapital mit einer scheinbar nur leichten, in Wirklichkeit aber schwerwiegenden Wendung als „Komplex produzierter iTrwerfomittel"1; und auch Gustav Cassel muß den Begriff nach dieser Richtung hin ausweiten, um sein Beweisziel zu erlangen. Ferner: Es gibt Rechtsvorgänge, bei denen sich das Recht auf das unproduzierte Produktionsmittel, den Grund und Boden, unmittelbar in „Kapital", und die Grundrente in „Profit" oder Zins verwandelt, und zwar dann, wenn Teile des Eigentums an Dritte auf dem Wege der Grundverschuldung übertragen werden, ohne daß diese Dritten durch Hingabe der eingetragenen Summe gegengeleistet haben. Das ist der Fall bei Schenkungen und Stiftungen, vor allem aber bei der Erbund A ussteuerverschuldung. Wenn ein Grundstück im Erbgang nicht naturaliter geteilt wird, so hat der bleibende Erbe seine Miterben abzufinden, und zwar nach dem Gesamtwert der Hinterlassenschaft. In diesen Gesamtwert geht auch der nackte Bodenwert als wichtiger Bestandteil ein, und zwar mit einer um so höheren Summe, je stärker das Klassenmonopolverhältnis auf die Arbeiterklasse drückt. Nur in den seltensten Fällen wird genügendes Barkapital vorhanden sein, um alle Erben abzufinden; in den meisten Fällen wird der bleibende Erbe gezwungen sein, seinen Miterben ihr Erbteil hypothekarisch einzutragen. Diese Hypotheken sind für sie „Kapital", nämlich eine rechtliche „Machtposition", die ihnen einen Zins einträgt. Ebenso entsteht neues „Kapital" aus der Kaufverschuldung des Grundeigentums. Der Käufer zahlt in der Regel nur einen Teil des vereinbarten Kaufpreises bar aus - und dieser Teil ist dann lediglich Kapitalsübertragung - ; einen anderen, und oft, namentlich bei großstädtischem Hauseigentum, sehr großen Teil läßt er als „Resthypothek", „Restkaufgeld", zugunsten des Verkäufers ins Grundbuch eintragen - und dieser Teil ist für den Verkäufer „Kapital", ein Kapital, das weder aus seiner Arbeit noch aus seiner Ersparnis stammt. Sachlich ganz das gleiche ist der Zuwachs an Wert, der solche Grundstücke betrifft, die bereits ganz in „Kapital" verwandelt sind. Das ist der Grundbesitz namentlich der Aktiengesellschaften und hier wieder vor allem der Berggesellschaften. Hier figuriert das Grundeigentum in der Bilanz bereits als ein Teil des Kapitals: wenn sein Wert durch Verdichtung der Bevölkerung und Hebung der Kooperationsstaffel oder durch glückliche Bergfunde oder durch Maßnahmen des Klassenmonopols der Staatsverwaltung wächst, so wächst auch das Kapital der Aktionäre oder Gewerken, auch ohne Produktion neuer Produktionsmittel und keinesfalls im Verhältnis dazu - erscheinen doch auch diese als neue Kapitalposten in der Bilanz! Die Kurse steigen, und die Aktionäre können den Zuwachs ihres Kapitals durch Verkauf ihrer Effekten jederzeit realisieren. Handelt es sich hier noch um eine „dinglich-radizierte", d. h. auf Grundeigentum beruhende Neubildung von Kapital durch Gunst der Konjunktur, so entstehen andere Kapitalzuwächse ohne jede dingliche Radizierung ebenfalls aus Konjunkturgewinnen ohne jede „Ersparung" und ohne „Produktion von Produktionsmitteln. Jede Hebung des Kurses einer Aktie oder eines Staatsschuldscheins usw. aus allgemeinen Gründen der Konjunktur schafft neues Kapital, und jede Senkung vernichtet altes Kapital. Wir haben es ja staunend und erschüttert erlebt, wie unter der Wirkung einer maßlosen Inflation mit Papiergeld der größte Teil des ersparten Kapitals eines großen Teiles der zivilisierten Menschheit sich in Rauch aufgelöst hat, obgleich die produzierten Produktionsmittel sich nicht oder nicht entscheidend und entsprechend vermindert hatten.
1
Böhm-Bawerk, Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien, S. 7. Vgl. auch Oppenheimer, Artikel: Kapital, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften.
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Ferner: Jedes Patent, jeder Musterschutz und jedes Autorenrecht stellt, wenn es sich um stark begehrte Dinge handelt, an sich und unabhängig von allen Produktionsmitteln schon ein Kapital dar. Wenn ein Patentinhaber nichts tut als Lizenzen verkaufen, so ist sein Eigentumskapital auf kein ihm gehöriges - und nur darauf kommt es ja an - Sachkapital radiziert. Ein charakteristisches Beispiel, wie ein „Recht" unmittelbar zum „Kapital" wird: Die Berliner Aufsichtsbehörden wollten seinerzeit die übelriechenden Benzindroschken ausrotten und führten für sie den numerus clausus ein, um die Einführung der Elektromobile zu befördern. Diese waren aber in Anschaffung und Betrieb wesentlich teurer als die Benzinwagen: so stellte der Besitz der Konzession auf einen der letzteren ein durch Ausschluß der vollen Konkurrenz entstandenes Monopol dar - und dieses war ein „Kapital". Die wenigen verkäuflichen „Nummern" wurden auf dem Markte aller Kapitale, der Börse, gehandelt und erzielten je nach der Marktlage einen Preis (der Substanz) von 8.000 bis 10.000 Mark. 1 Auf der anderen Seite sind produzierte Produktionsmittel nicht immer und unter allen Umständen ein Kapital im Eigentumssinne, d. h. ein Rechtstitel, der Profit abwirft. Marx sagt mit Recht, daß „zersplitterte Produktionsmittel nicht Kapital sind", und es ist in der Tat der Gipfel der Lächerlichkeit, wenn die bürgerlichen Ökonomisten sich bemühen, die Waffe des Urjägers oder das Netz und Boot des Urfischers als ein profittragendes Kapital darzustellen. Hier ist kein Geringerer als David Ricardo vorangegangen und zwar mit einer Konstruktion, die nicht anders als kindisch genannt werden kann. Man muß sich die allmächtigen sozialpsychologischen Gesetze schon sehr lebendig ins Gedächtnis zurückrufen, die Gesetze, die auch die ehrlichsten und klügsten Köpfe immer dann beherrschen, wenn das Interesse ihrer Klasse in Frage steht, um zu begreifen, daß ein theoretischer Kopf von dieser Größe sich zu solcher Torheit hinreißen lassen konnte. Wir haben im ersten Bande unseres Systems der Soziologie2 die Stelle schon einmal angeführt, um zu zeigen, auf welchen lächerlichen Gedankengrundlagen die ökonomische Abart der „Kinderfibel von der ursprünglichen Akkumulation" beruht. Sie findet sich im ersten Hauptstück „Vom Werte" in der dritten Abteilung: „Alle zur Erlegung des Bibers und Hirsches notwendigen Gerätschaften könnten auch einer einzigen Klasse von Menschen angehören, und das Geschäft der Erlegung könnte von einer anderen versehen werden. [...] Unter verschiedenen Verhältnissen von Uberfluß oder Mangel an Kapital, in Vergleichung mit der Arbeit, unter verschiedenen Verhältnissen von Uberfluß oder Mangel an Nahrungs- und sonstigen wesentlichen Lebensbedürfnissen dürften diejenigen, die einen gleichen Tauschwert in Kapital [...] geliefert haben, die Hälfte, einen vierten oder achten Teil des Erzeugnisses in Beschlag nehmen, der Rest würde als Arbeitslohn an diejenigen bezahlt, die die Arbeit geleistet haben." Hier, so haben wir dazu bemerkt, ist erstens die politische ΑΓ/íijjenscheidung dadurch erschlichen, daß sie einer rein ökonomischen Berufsschichtung gleichgesetzt wird. Wo Adam Smith korrekt „order" (Stand) sagt, sagt Ricardo „class", und das bedeutet in seiner Sprache nicht einander übergeordnete, sondern nebengeordnete Schichten. Zweitens liegt eine grobe petitio principii vor, weil das hier verstohlen eingeschmuggelte Gesetz der ursprünglichen Akkumulation verstohlen durch sich selbst, nämlich in seiner Gestalt als Malthussches Gesetz der Bevölkerung bewiesen wird („Mangel an Nahrungs- und sonstigen wesentlichen Lebensbedürfnissen"); und schließlich und hauptsächlich ist die ganze Auslassung mit der sonst überall zugrunde liegenden Hauptlehre der bürgerlichen Ökonomie, der Lehre von der Konkurrenz, in unversöhnlichem Widerspruch. Denn die Konkur-
1 Nach Eschwege, in: Bodenreform, 22. Jg., Nr. 22 (1911), S. 708ff. 2 Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. I, S. 989f.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
renz tendiert nach dieser Lehre dahin, zwischen den verschiedenen Berufsgruppen die Gleichheit Einkommen
der
herzustellen; wenn es sich hier nicht darum gehandelt hätte (selbstverständlich gut-
gläubig) das „Kapital" in seiner Bedeutung als profittragendes Eigentum zu erschleichen, so hätte Ricardo folgendes entwickelt: „Würde die Herstellung und Vermietung von Jagdgeräten einmal eine Zeitlang mehr Einkommen bringen als die Jagd, so würden sich mehr Produzenten jener, weniger dieser Beschäftigung zuwenden, die Mietpreise dort würden sinken, die Wildbretpreise und damit die Jägerlöhne' hier würden steigen, bis, wie Smith sagte, alle Vorteile wieder auf einer Linie wären. Alle Reineinkommen wären gleich, das,Kapital' erhielte nur seinen Ersatz, aber keinen Profit." So kindisch es an sich ist, die komplizierten Verhältnisse einer hoch entfalteten Gesellschaftswirtschaft an den primitiven Verhältnissen eines kleinen, noch dazu aus der Phantasie gegriffenen Jägerstämmchens ableiten zu wollen, so läßt sich doch, wie man sieht, sogar auch hier bei genügender Aufmerksamkeit und Konsequenz die Kinderfibel widerlegen. Soviel wir aber sehen können, hat kein Kritiker Ricardos an dieser sicherlich schwächsten Stelle des Gedankenbaus gestutzt, auch Diehl 1 in seinem „Kommentar" nicht. „Wenn uns die Konsequenzen einleuchten, nehmen wir die Prämissen gern in Kauf" sagt einmal Hasbach. 2 Das ist die ganze Grundlage
der bürgerlichen
Lehre von der Entstehung der Klassen und dem
Wesen
des Kapitals! Wenn selbst ein Ricardo, der schärfste Kopf der Schule, so unsagbaren Puerilitäten zum Opfer fallen konnte, wird man sich nicht mehr wundern, daß seine so viel geringeren Nachfolger diese Lehre noch immer verzweifelt verteidigen. Aber nicht nur zersplitterte Produktionsmittel sind nicht „Kapital", sondern es können auch unter gewissen Umständen große Stämme von richtig zusammengestellten „komplementären" Werkgütern ihre Kapitaleigenschaft einbüßen. Das hat uns Marx am Beispiele des H e r r n Peel am Swan River gezeigt. Solche Stämme sind Kapital, d. h. werfen Profit ab nur unter ganz bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen: nur, wenn die Klassenscheidung besteht, wenn infolgedessen „freie Arbeiter" sich massenhaft den Besitzern solcher Produktionsmittel anbieten müssen, um nicht zu verhungern. W i r wollen uns an einem Gedankenexperiment orientieren. Stellen wir uns vor, daß irgendein Geist von der Lampe Aladdins ein riesiges Werk, etwa Krupp-Gruson, mit allen seinen Berg-, Hütten· und Walzwerken, seinen Bessemerbirnen und Hochöfen, seinen Arbeitssälen usw., zugleich mit allen für eine lange Erzeugungsperiode ausreichenden Roh- und Hilfsstoffen samt dem Besitzer, aber ohne die Arbeiter, des Werkes in irgendeine menschenleere, sogar fruchtbare Landschaft versetzte. Ist diese riesige Masse von Beschaffungs- und Verwaltungsgütern noch „Kapital"? N i c h t einmal mehr Wert! Der Eigentümer muß alle seine Schätze nutzlos liegen lassen und wie ein Tier von reiner Okkupation leben, um nur nicht zu verhungern. U n d nun stellen wir uns zweitens vor, daß - und dazu gehört kein Geist von der Lampe! - eines Tages die Sperrung des Ackerlandes der Welt durch das Monopol aufhört, d. h. das Großgrundeigentum verschwindet. Niemand erhält mehr Acker, als er dauernd bewirtschaftet, aber so viel erhält auch jeder, der sich meldet und, wie wir wissen, es bleibt noch für ungezählte Generationen „unbesetztes" Land übrig. Was wird aus Krupp-Gruson, wenn er auch ruhig in Essen und Magdeburg sitzen bleibt? Ist sein Eigentum noch Kapital? Kaum! Denn jetzt hat das Ackerland alle „freien" Arbeiter eingeschluckt. Sie sind nicht mehr „frei", nicht mehr nackt und bloß, los und
1 2
[Diehl, Sozialwissenschaftliche Erläuterungen zu David Ricardos Grundgesetzen der Volkswirtschaft und Besteuerung, 2. Aufl., Leipzig 1905; A.d.R.] Vgl. Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. I, S. 959.
Das Kapital: Zweiter Abschnitt
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ledig, haben nicht mehr nötig, sich zu einem Lohn anzubieten, der ihrem Anwender den Monopolgewinn des Profits übrig läßt. Mit anderen Worten: das „Kapital" ist verschwunden, als solches verschwunden, was übrigbleibt, ist der Materie und der technischen Form nach unverändert; es sind noch dieselben Werkgüter: Gebäude, Maschinen, Vorräte, Transporteinrichtungen; aber es ist kein Kapital mehr, weil es kein Klassenmonopol mehr gibt, weil es keinen Profit mehr abwirft. Um aus diesen Schwierigkeiten herauszukommen, haben die besseren Vertreter der Theorie von Rodbertus an die beiden grundverschiedenen Dinge, die Sache und das Recht auf ein Eigentum, terminologisch unterschieden. Sein Schüler Adolph Wagner schied das „volkswirtschaftliche" oder „Kapital im volkswirtschaftlichen Sinne" schon ziemlich scharf von dem „privatwirtschaftlichen" oder „Kapital im privatwirtschaftlichen Sinne".1 Aber auch dieser bedeutende Kopf kam doch nicht von der Vorstellung los, die wir soeben gekennzeichnet haben, daß es sich bei dieser Unterscheidung doch schließlich nur um das gleiche Ding handle, gesehen einmal von der Personal-, das andere Mal von der Marktwirtschaft aus. Hier liegt die letzte große Schwierigkeit des Verständnisses. Wir haben sie aus dem Wege räumen können, indem wir zeigten, daß hier in der Tat in allen den Fällen, und das ist die überwiegende Mehrheit, in denen das Privatkapital auf einen Stamm von Werkgütern radiziert ist, und in denen der Eigentümer weder ein Produktions- noch ein Tauschmonopol hat, jene hartnäckig geglaubte Identität wirklich besteht. Freilich nicht die immer angenommene Identität der Substanz - denn wie könnte ein Recht und eine Sache jemals substanzidentisch sein? - wohl aber die Identität des Wertes! In der Statik ist der Additionswert (der „autogene Wert") der Bestandteile eines „normalen" volkswirtschaftlichen Kapitals genau gleich dem Kapitalisierungswert des mit diesem Kapital gewonnenen Ertrages. Eher kann die Konkurrenz nicht ruhen. Wir werden diese Zusammenhänge weiter unten entwickeln. Leider versucht die bürgerliche Apologetik, die ihr Ziel der Rechtfertigung des Kapitalismus unmöglich erreichen kann, wenn sie nicht mehr im Trüben unsauberer Begriffe fischen darf, immer wieder, diese klare Unterscheidung zu verwischen. Noch in der letzten Zeit hat, wie wir sahen, v. Böhm-Bawerk als Kapital, statt, wie üblich, die produzierten Produktionsmittel, die produzierten „Erwerbsgüter" bezeichnet, um das Geld und die kaufmännischen Läger mit unter den Begriff zu bekommen.
B. Das
„Kapitalverhältnis"
Hier kann nichts anderes zur Klarheit helfen als eine entschlossene Reform der Terminologie. Wir werden von nun an den Begriff „Kapital" nur noch in seiner ursprünglichen, eigentlichen Bedeutung als Zins oder Profit tragenden Eigentumstitel anwenden, für das volkswirtschaftliche Kapital aber den Terminus „gesellschaftliches Werkgut" oder „Beschaffungsgut" anwenden.
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Rodbertus unterscheidet ganz streng zwischen dem realen Kapital, bestehend aus den naturalen Kapitalgegenständen, und dem Kapital besitz (Kapitaleigentum, Kapitalvermögen). Wagner unterscheidet (in: Grundlegung der politischen Ökonomie, 1. Teil, S. 315f.): „I. Kapital als reinökonomische Kategorie, also wieder unabhängig betrachtet von den geltenden Rechtsverhältnissen für den Kapitalbesitz, ist ein Vorrat solcher wirtschaftlicher, zunächst beweglicher Güter - ,naturaler Güter' - , welche aus einer früheren Produktion herrühren und als technische Mittel für die Herstellung neuer Güter in einer Wirtschaft dienen können, und dafür erforderlich sind: es ist Produktionsmittelvorrat, oder ,Volks-, Nationalkapital', - ,Sozialkapital' [...] 2. Kapital im historisch-rechtlichen Sinne oder Kapitalbesitz ist derjenige Teil des zunächst beweglichen Vermögensbesitzes einer Person, welcher derselben als Erwerbsmittel zur Erlangung eines Einkommens aus ihm (Rente, Zins) dienen kann, also zu diesem Zwecke von ihm besessen und erstrebt wird, bestimmungsmäßig ein ,Rentenfonds '."
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Das Kapital in diesem einzig wissenschaftlich haltbaren Sinne ist also ein „politisch-ökonomisches Verhältnis". Die Formel verdanken wir Karl Marx; er zuerst befreite sich einigermaßen - leider nicht gänzlich - von der Suggestivkraft der alten Anschauung und nannte das Kapital „ein durch Sachen vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen". Er benützte hier eine Formel, die von dem geistreichen Abbé Galiani, einem der letzten und gewiß einem der feinsinnigsten der Merkantilisten, für ein anderes gesellschaftliches Verhältnis gefunden worden war. Vor allem aber danken wir Marx die genaue Bestimmung, wie dieses Verhältnis beschaffen ist: zwischen der Klasse der Besitzer aller, der produzierten und unproduzierten, Produktionsmittel einerseits - und der Klasse der „freien Arbeiter" andererseits. Und das ist eines seiner größten theoretischen Verdienste. Wir haben aber auch schon vordeutend gesagt, daß der große Denker doch nicht imstande war, seinen Gedanken ganz zu Ende zu führen. Er nennt, Galiani folgend, auch Wert und Geld1 und andere Dinge „gesellschaftliche Verhältnisse zwischen Personen, vermittelt durch Sachen"; er hätte also die Aufgabe gehabt, diesen Begriff als Oberbegriff zu verstehen und ihm durch Feststellung der differentiae specificae seine Unterbegriffe zu bestimmen. Das hat er versäumt, aus seinem kommunistischen „Vor-Urteil" heraus,2 aus jenem „Dogmatismus" heraus, der die bürgerliche Gesellschaft „in Bausch und Bogen", nicht nur Kapital und Grundeigentum, Profit und Grundrente, sondern auch den Markt, die Konkurrenz, den Preis und das Geld verwirft. Uns war es ein leichtes, hier zu scheiden zwischen den „natürlichen" und den „politischen Verhältnissen", zu denen das Kapital gehört. Und wir haben diese jetzt näher bestimmt als Klassenmonopolverhältnisse. Auch das hat Marx im Grunde schon geleistet: er hat das „gesellschaftliche Kapitalverhältnis" als Monopolverhältnis unzweifelhaft beschrieben, zuweilen auch so genannt, nur leider nicht an den für seine Beweisführung entscheidenden Stellen als solches in seine Rechnung eingesetzt. Von hier aus ist seine ganze Theoretik und namentlich seine Prognose aufzurollen. Wir sagten soeben, daß wir Marx die prachtvolle, gedrungene Formel verdanken. Wenn wir nämlich genau hinschauen, so finden wir, daß der Grundgedanke von Anfang an bestanden hat, es handle sich hier um ein gesellschaftliches Klassenmonopol. Alle bürgerlichen Denker haben dessen Bestand als ihren selbstverständlichen Ausgangspunkt genommen, verführt durch die „Kinderfibel", zuerst in ihrer Urform, dann verstärkt durch ihre Neugestaltung als Malthusianismus. Die Erklärung war, wie wir wissen, falsch: aber an der Existenz des Klassenmonopolverhältnisses haben weder Turgot noch Smith einen Augenblick gezweifelt. Smith hat sogar schon fast den Ausdruck. Ebenso falsch ist, wie wir an anderer Stelle glauben unwiderleglich nachgewiesen zu haben, die Marxsche Erklärung. Danach ist das gesellschaftliche Kapitalverhältnis zwar durch „außerökonomische Gewalt" (d. h. das politische Mittel) produziert worden, wird aber, einmal vorhanden, im kapitalistischen Produktionsprozeß immer wieder reproduziert durch einen Mechanismus, den ich vorläufig mit einer rohen Formel als die Behauptung charakterisieren will, die Maschine setze den Arbeiter frei. Auch diese Erklärung ist so falsch wie die bürgerlichen. Sie suchen sämtlich die causa causans in den Verhältnissen einer hochentwickelten Verkehrswirtschaft mit dichter Bevölkerung und weit entfalteter Kooperation und Marktwirtschaft. Aber sie wurzelt in viel primitiveren Beziehungen: das „Kapitalverhältnis" ist nur die entfaltete Auswirkung des primären, mit dem Staate sofort bei seiner Begründung gesetzten gesellschaftlichen „Klassenmonopolverhältnisses". Das hat uns die Siedlungsgeschichte der Kolonien unzweideutig dargetan. Und darum läßt es sich auch bereits an der primitivsten Form der Wirtschaftsgesellschaft, der Zweiergesellschaft, beobachten. Wenn der eine
1 Marx, ζ. B. in: Elend der Philosophie, S. 58, sowie in: Das Kapital, Bd. I, S. 49. 2 [Vgl. oben, S. 538 (im Original S. 107).]
Das Kapital: Zweiter Abschnitt
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v o n zwei Einsiedlern den ganzen Boden sperren kann, so hat er das Monopolverhältnis statuiert und kann den Monopolgewinn des Mehrwertes in irgendeiner ihm beliebigen F o r m erpressen. Orientieren wir uns daher nach alter Methode an Robinson und Freitag, trotz allem Spott, den Friedrich Engels, Karl M a r x ' Adjutant, Apostel und Testamentsvollstrecker, in völliger Verkennung ihres Wertes über diese A r t der Betrachtung ausgeschüttet hat. R o b i n s o n lebt mit Freitag in genossenschaftlichem Wirtschaftsverbande; sie tauschen nicht Güter, sondern nur Dienste und fragen nicht nach der Äquivalenz. Jeder gibt, was er kann, und n i m m t , was er braucht, als Mitglieder einer durch die N o t geschaffenen Familie. A b e r R o b i n s o n könnte, statt des genossenschaftlichen Systems, auch das der Sklaven- und Hörigenwirtschaft, oder das des kapitalistischen Systems, und hier für sich die Rolle des Kapitalisten oder des Mietagrariers oder des Grundbesitzers wählen. E r könnte erstens, und zwar im besten Glauben an die Gerechtigkeit seiner Gründe, folgendes sagen: „Freitag dankt mir sein Leben; ohne meine Hilfe hätten ihn die Kannibalen getötet. Also gehört sein Leben mir: und er selbst ist davon durchdrungen, daß ich völlig gerecht handle, wenn ich ihn zu meinem Sklaven mache. Ich habe ihn mir als ,Beschaffungsgut' mit eigener Lebensgefahr beschafft; er ist meine Sache, wie meine Lamas, und ich gebe diesem menschlichen Haustier alles, was i h m z u k o m m t , wenn ich es ausreichend füttere und so gut behandle, wie sein Betragen das gestattet." U n s scheint das nicht „gerecht": und doch war es genau der ethische Standpunkt und der daraus sich ergebende Verteilungsschlüssel der gesamten Antike. D e r Sklave dankte sein Leben seinem H e r r n - denn dieser hätte das R e c h t gehabt, ihn zu töten, statt ihn gefangen zu nehmen; und H e r r und Sklave hielten das Verhältnis für durchaus „gerecht": erst die Entwicklung aus dem „engen" zum weiten R ä u m e und namentlich das hier entstandene Christentum 1 hat dem Abendlande den Begriff gebracht, daß die Sklaverei an sich sittlich verwerflich sei; keiner der zahllosen Sklavenaufstände des Altertums setzte das Hochziel der Abschaffung der Sklaverei über sich; und ein D e n k e r wie Aristoteles hält sie nicht nur für politisch und ökonomisch unentbehrlich, sondern auch für naturrechtlich „gerecht". D i e „Barbaren" nämlich, nicht nur die Farbigen Nordafrikas und des Sudan, nein, auch die weißen, heute als die nächsten Rasseverwandten der Hellenen anerkannten Thraker, Daker, Skythen usw., die die Sklavenheere der Griechen rekrutierten, galten ihnen als Menschen geringeren Ranges, schlechterer Rasse, als geborene Diener der geborenen Herren der Welt, als „Sklaven von N a t u r " . Unfähig, sich selbst zu regieren, unfähig, aus eigener Kraft zu höheren Kulturstufen aufzusteigen, seien sie von der Natur selbst zu allen jenen niederen Diensten bestimmt, die den καλός κάγαθός erniedrigen würden. W i r begegnen diesem Argument noch heute überall, w o ein V o l k oder gar nur eine Klasse ein anderes V o l k oder eine andere Klasse knechtet und ausbeutet. Das ist das Feigenblatt, mit dem die Ausbeutung überall ihre Blöße bedeckt - aber mit gutem Gewissen! M i t völlig gutem Gewissen namentlich dann, wenn es sich u m Menschen anderer Farbe handelt! D i e f r o m m e n Katholiken der spanischen und portugiesischen Conquista haben die Verf e c h t u n g und Ausbeutung der Indios und dann der importierten Neger geradezu für ein gottgefälliges W e r k gehalten, und ganz ebenso die Feudalherren der nordamerikanischen Südstaaten, die auch gute Christen waren. R o b i n s o n , wäre er statt in England in Alabama oder Louisiana aufgezogen worden, hätte es für durchaus gerecht halten können, Freitag zu seinem Sklaven zu machen, weil er einer Sklavenrasse angehörte. U n d er hätte sich auch hier wieder auf das eigene Zugeständnis des Knechtes berufen können, der ja die fremdartige Erscheinung, den bärtigen weißen Mann in der seltsamen Tracht, als höheres Wesen anerkannte und verehrte. 1
Vgl. Oppenheimer, Allgemeine Soziologie, in: System der Soziologie, Bd. I, 2. Teilbd., S. 688.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
Indessen: Robinson ist als Christ in einem Lande aufgewachsen, in dem die Sklaverei als verwerflich gilt. Er weist also den Gedanken, Freitag zu seinem Sklaven zu machen, weit von sich. Er will ihn, als freien Kontrahenten, gerecht nach der Sitte seiner Heimat behandeln, in der nur freie Menschen in freiem Verkehr miteinander kontrahieren. Hier gilt das Recht des bürgerlichen Eigentums an Grund und Boden und an Kapital, mit ihrem Anspruch auf Grundrente und Kapitalprofit. Robinson, der, so wollen wir annehmen, die „Naturrechtler", von Turgot an über Adam Smith bis auf Ricardo und Malthus studiert hat, hält beide Formen des Eigentums für legitime Schöpfungen des Naturrechts; und hält darum Profit und Grundrente für ebenso legitime Anteile an dem Gesamterzeugnis. Er hat daher nicht im mindesten das Bewußtsein, Freitag „auszubeuten", wenn er ihm folgenden Vortrag hält: „Nach dem Rechte der ersten Okkupation gehört mir diese ganze Insel. Ich, als Grundeigentümer, verbiete dir, darauf zu jagen, zu fischen, zu pflanzen, zu wohnen. Ich bin aber bereit, dir die Erlaubnis zu alledem zu geben, ja sogar, dir meine von mir gefertigten Werkzeuge und Waffen dazu zu leihen, wenn du mir den größten Teil deines Arbeitsertrages abtrittst. Willst du das nicht, so magst du als freier Mann, der du bist, dem Glück anderswo suchen." Worauf Freitag erwidern müßte, daß er ja gar nicht „anderswohin" gehen könnte, wenn Robinson ihm nicht gestatten wollte, sich wenigstens ein Boot zu zimmern, wozu er Nahrungsmittel, Werkzeuge und einen Baumstamm benötige. Er sei also völlig in der Lage eines Sklaven, und seine sogenannte „Freiheit" sei keinen Pfifferling wert. Im Gegenteil, als Sklave habe er wenigstens einen sittlichen Anspruch darauf, im Alter oder während Krankheiten ernährt zu werden: Robinson möge ihn also lieber zum Sklaven machen. Aber Robinson weist diesen Vorschlag mit Entrüstung von sich und spielt statt dessen mit seinem „freien Kontrahenten" alle Tragödien des politisch-ökonomischen Monopolverhältnisses durch. Zuerst macht er ihn nach irisch-englischem System zu seinem Pächter und setzt als Grundherr die Pacht fest. Dann kündigt er ihm die Pacht und mietet ihn, nach osteuropäischem System, gegen einen von ihm festgesetzten Lohn als Tägelöhner für die eigene Landwirtschaft. Dann beschäftigt er ihn ebenfalls gegen einen von ihm festgesetzten Lohn als industriellen Arbeiter. Und zuletzt läßt er ihn sich als industriellen „Unternehmer" etablieren und setzt ihm die Miete für die Werkstatt und die Hütte und den Zins für das „Leihkapital" fest, das er ihm - in Gestalt von Werkgütern - „vorstreckt". Wir erkennen, daß, wenn Robinson seinen Anspruch durchsetzen kann, der Eigentümer der ganzen Insel zu sein, er einen „Monopolgewinn" einstreichen kann, der, wenn er will, Freitags ganzen Arbeitsertrag, außer der unbedingten Lebensnotdurft, verschlingt. Als Schüler Ricardos und Malthus' wird er ihm, streng nach dem „ehernen Lohngesetz" (denn augenscheinlich ist die Insel „übervölkert", auch wenn sie eine Million Quadratkilometer des fruchtbarsten Landes umfaßt: es gibt ja keinen „freien Boden" mehr!) gerade das Existenzminimum zuweisen. Es bleibt immer derselbe Sklavenunterhalt, gleichgültig, ob er als Futter eines menschlichen Arbeitstieres oder als Lohn eines Arbeiters bezeichnet wird; und es bleibt immer derselbe Mehrwert, gleichgültig, ob ihn die Theoretik als „Herreneinkommen" eines sklavenhaltenden Großoikenbesitzers oder als Grundrente eines Grundherren, als Zins eines Leihkapitalisten, oder als Profit eines industriellen Unternehmers zu registrieren hat. Wenn nun aber Robinson seinen Anspruch nicht durchzusetzen vermag? Freitag könnte ja auf Robinsons Anspruch folgendes erwidern: „Ich weigere mich, deinem Verbot zu gehorchen. Du selbst hast gesagt, daß du ein Wesen gleich mir bist: ich fürchte darum deine Zauberkraft nicht mehr. Ich bin stärker und gewandter als du,
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und nur die Dankbarkeit verhindert mich, daß nicht ich dich zu meinem Sklaven mache. Ich will mich dem Spruche des Rechtes unterwerfen, das du mir als oberste Regel aller Sittlichkeit darstellst. Danach reicht das Recht eines Menschen nur so weit, wie dadurch das gleiche Recht des Nebenmenschen nicht leidet. Die Insel ist groß genug für uns beide; bleibe du im Besitze deines Gartens und deiner Herde, deines Hauses und deiner Werkzeuge - ich werde mir das alles selbst beschaffen. Wenn du versuchen solltest, mich daran zu verhindern, so werde ich Gewalt mit Gewalt abwehren." Dieser Logik würde sich Robinson nicht verschließen können und erkennen, daß seine Lehrer in der Ökonomik doch keine ganz richtigen Anschauungen über das „Eigentum" gehabt haben können. Was hier an der Zweiergesellschaft demonstriert wurde, gilt auch für die entfaltete Wirtschaftsgesellschaft unter dem Klassenmonopolverhältnis. Die Klassiker haben oft den ganzen Planeten als eine „ökonomische Insel" aufgefaßt. Nun, die Arbeiterklasse aller Länder befindet sich in der Lage Freitags, der die ganze Insel Robinsons durch dessen „Recht der ersten Okkupation" gesperrt findet: auch sie muß verhungern oder den Monopolgewinn abtreten, da ihr Recht, „ihr Glück als freie Leute wo anders zu suchen", ebenso illusorisch ist, wie das seine; oder sie muß das Monopolverhältnis brechen, indem sie die Bodensperrung beseitigt. Das ist die ganze Sozialpolitik in nuce. Wenn der hier bestehende, m. E. sonnenklare Zusammenhang bisher niemals durchaus erkannt worden ist, so liegt das, wie ich glaube, außer an den soeben dargestellten und widerlegten Irrtümern, an zwei Mängeln der bisherigen Lehre vom Monopol. Der erste Mangel ist der, daß man fast immer nur vom Verkaufsmonopol spricht und immer nur daran denkt.1 Vom Einkaufsmonopol ist ja hier und da die Rede, aber mehr der systematischen Vollzähligkeit halber als aus wahrem Interesse. Es wird als eine wenig bedeutsame Kuriosität behandelt. Vor allen Dingen mußte, bis die Lehre vom Monopoltribut des Kontrahenten eines Monopolisten entwickelt war, die entscheidende Erkenntnis fehlen, daß ein Einkaufsmonopol unmittelbar nicht nur das Realeinkommen, sondern auch das Nominaleinkommen herabsetzt, weil der monopolistische Einkäufer unter dem Konkurrenzgeldpreise kauft. Der zweite Mangel liegt in der falschen „Zurechnung". Dieser Gegenstand erfordert eine kurze Auseinandersetzung. Die Monopole bilden, wie wir wissen, eine der zwei Unterarten einer charakteristischen Gruppe von Wertdingen, die man im allgemeinen als „Rechte und Verhältnisse" zusammenfaßt. Sie haben das gemeinsame, daß sie wirtschaftliche Machtpositionen darstellen, die ihrem Inhaber das formelle Recht („Rechte") oder die faktische Macht („Verhältnisse") gewähren, von gewissen anderen Wirtschaftspersonen Leistungen in Gütern, Geld oder Diensten unentgeltlich zu erlangen. Man studiert den Mechanismus am besten an den „Rechten", weil er hier noch ganz unverschleiert ist, und hier wieder an den Steuerrechten des Staates oder halb-privater Rechtssubjekte, wie die feudale Jurisprudenz sie häufig verzeichnete. Wenn der Staat von seinen Bürgern Steuern oder persönliche Leistungen (als Soldaten, Schöffen usw. usw.) fordert, so geschieht das aufgrund eines nutzbaren Rechtes, das er gegen alle Bürger besitzt. Daß dafür Gegenleistungen in Gestalt von Rechtsschutz, Grenzschutz usw. gewährt werden, ist begrifflich nicht erfordert, kommt auch praktisch auf den primitiveren Stufen des Staates nicht in Frage. Hier ist der Tribut, den der „Staat", d. h. die herrschende Oberklasse, von der Unterklasse einzieht, der ganze Inhalt der Staatsverwal-
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„Unter M o n o p o l versteht man in der Regel stillschweigend ein Ker&aa/smonopol, jedoch gibt es auch An¿¿«/¿monopole, die nicht ohne volkswirtschaftliche Bedeutung sind" (Lexis, Artikel: Monopol, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 6, S. 769).
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
tung. 1 Daß eine Gegenleistung nicht zum Begriffe des nutzbaren Rechtes gehört, daß also das Einkommen daraus grundsätzlich unentgeltlich ist, geht auch daraus hervor, daß von solchen Gegenleistungen im feudalen Privatrecht keine Rede ist. Das „droit de passage", das „Grundruhr-" und das „Strandrecht" der Feudalherren war ein ganz einseitiges Recht der Grundherren gegen den Kaufmann, der ihr Gebiet berührte. In diesen Fällen wird das Einkommen aus der Machtposition dem Rechte „zugerechnet". Der Baron sagt: „mein Durchfuhrrecht bringt mir jährlich so und so viel ein". Wir haben in unserem modernen Recht noch einen analogen Fall, und zwar in dem Patentrecht. Wenn der Patentinhaber sein ausschließliches Recht der Herstellung der patentierten Ware nicht selbst ausübt, sondern nur Lizenzen verkauft, so rechnet er den Ertrag seinem nutzbaren Rechte zu. In diesen Fällen liegt alles noch völlig klar. Wir haben ein durch das Recht bestimmtes Verhältnis zwischen Personen, einer berechtigten, und einer oder mehreren, die durch ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Rechtskreise (so bei den Staatssteuern), oder durch elementare Gewalt (so bei dem Strandrecht) oder schließlich aus eigener freier Wahl (so bei dem Durchfuhrrecht oder dem Patent) dem Rechtsinhaber leistungsverpflichtet geworden sind. Nun kann es aber vorkommen, daß der Rechtsinhaber gute Gründe hat, seinerseits Kosten aufzuwenden, um seine Einnahme aus dem nutzbaren Rechte zu vergrößern. Er mag ζ. B. eine Straße bauen oder verbessern, oder eine Stromschnelle durch einen Kanal umgehen, oder einen Treidelweg anlegen, damit die Kaufleute bewogen werden, lieber sein Gebiet als das eines benachbarten Feudalherren zu betreten. In diesem Falle liegt bereits eine Gegenleistung vor. Durchaus keine gleichwertige Gegenleistung, wie wohl zu beachten ist, aber doch eine Gegenleistung! Die Ursache des Einkommens bleibt nach wie vor im Rechte verankert, und es ist zu einem gewissen Teil immer noch unentgeltlich gewonnen; nur von dem jetzt durch den Kostenaufwand gewonnenen Mehreinkommen ist ein Teil entgeltlich: nur ein Teil-, denn der Rechtsinhaber wird Kosten nur dann aufwenden, wenn der dadurch gewonnene Mehrertrag die Kosten zu übersteigen verspricht. Hier ist der Sachverhalt schon einigermaßen verschleiert, und die „Zurechnung" schon zweifelhaft. Der Rechtsinhaber wird zweifeln, ob er sein Einkommen zur Gänze dem Rechte oder dem Aufwande, oder: welche Teile er dem einen und dem anderen zuzurechnen hat.2 Völlig verschleiert aber wird der Sachverhalt dort, wo ein gewisser Aufwand die unerläßliche Bedingung dafür ist, daß das nutzbare Recht sich in einem Einkommen realisiert. Das beste Beispiel dafür ist das feudale Recht der Bannmühle, Bannkelter usw. Will der Seigneur dieses Recht nutzen, so muß er eine Mühle oder Kelter unterhalten. Und in diesem Falle wird er das ganze Einkommen dem Aufwande, und nicht mehr dem Rechte zurechnen. Er wird sagen: „Die Mühle bringt mir so und so viel", statt zu sagen, wie es richtig wäre: „Das Mühlenrec^i bringt mir roh so und so viel und nach Abzug der Aufwandskosten rein so und so viel!" Mit diesem Beispiel sind wir bereits in das Gebiet des Kapitals gelangt: denn die Bannmühle ist ein charakteristisches „Kapital im volkswirtschaftlichen Sinne". Und nun verstehen wir auch die Zurechnung des Profits überhaupt: Der Unternehmerkapitalist muß einen Stamm von Sachen, von produzierten Produktionsmitteln, besitzen, um das bestehende Klassenmonopolverhältnis unmittelbar für sich nutzbar machen zu können. Dieses sachliche Substrat spielt etwa die Rolle des Hypomochlion beim Hebel. Es ist
1 2
Vgl. Oppenheimer, Der Staat, [2. Auflage, Frankfurt 1908; siehe auch in der vorliegenden Edition, Bd. Π, S. 309-386; A.d.R.]. Hier sei eine sehr charakteristische Stelle von Schumpeter angeführt (Schmollers Jahrbuch, Bd. 31, S. 617). Er versucht, das Monopol wegzudiskutieren, weil sich alles „um die Preislehre dreht" und bemerkt dazu: Beim staatlichen Tabakmonopol wird das Plus im höheren Preise dem Tabak zugerechnet: würde er nur auf Staatsdomänen gebaut werden können, so würde das Plus dem Lande zugerechnet.
Das Kapital: Zweiter Abschnitt
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nichts anderes als der archimedische Punkt des δός μοι που στώ. Wie es für die Wirkung des Hebels völlig gleichgültig ist, welcher materielle Gegenstand als Unterlage dient, wenn er nur die nötige Tragfähigkeit besitzt, - und wie das namentlich für die Quantität der Hebelwirkung gleichgültig ist, - so ist auch die Materie des Substrats für die Bildung und vor allem für die Höhe des Kapitalgewinns gleichgültig. Vor allem besteht nicht die geringste funktionale Beziehung zwischen dem Werte des sachlichen Substrats einerseits und der Höhe seines Gewinnes andererseits. Auf breitester materieller Basis kann sich ein winziger, auf kleinster Basis ein ungeheuerlicher Kapitalgewinn aufbauen. Dieser ist immer so hoch, wie er, um mit Adam Smith zu sprechen, „irgend erpreßt werden kann". Das hängt lediglich ab von der „relativen Austauschbedürftigkeit" auf beiden Seiten, aber grundsätzlich nicht im mindesten von dem statischen Konkurrenzpreise der Sachgüter, die das sachliche Substrat, den Druckpunkt der Hebelwirkung darstellen. U m noch ein anderes Bild zu brauchen, so kann man passend das materielle Substrat eines Privatkapitals mit der Hülle eines Luftballons vergleichen. Sie ist an sich ein toter Gegenstand, ist schwerer als Luft und daher sogar für den gewollten mechanischen Effekt des Auftriebes eine tote, störende Last. Aber man kann sie nicht entbehren, um die eigentlich tragende und hebende Substanz, das leichte Gas, zusammenzuhalten. Erst durch das Gas erhält der Ballon seine Form und seinen Auftrieb, wird das ganze System leichter als Luft. Dennoch hat man von jeher, um bei unseren Bildern zu bleiben, die Hebelwirkung dem Material der Unterlage, oder den Auftrieb der Hülle „zugerechnet". Weil der Kapitalist seinen Gewinn auf den Wert seines Kapitals im volkswirtschaftlichen Sinne berechnet, hat die Wissenschaft geglaubt, den Gewinn diesem „Kapital" zurechnen zu sollen und hat in unzähligen Theorien versucht, den hier vermuteten Zusammenhang aufzuklären. Jetzt wird hoffentlich klar geworden sein, daß dieses Bemühen ohne jeden Erfolg bleiben mußte. Es war ein Suchen wie nach der Quadratur des Zirkels: Wie hoch der statische Preis der Sachgüter, „des Kapitals im volkswirtschaftlichen Sinne", sich stellt, ist in jeder Gesellschaft verschieden, je nach der Staffel der Kooperation, daher den technischen Bedürfnissen der Produktion usw.; und wie hoch der Monopolgewinn sich stellt, das ist gleichfalls in jeder Gesellschaft verschieden je nach der „Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses" auf beiden Seiten, also namentlich je nach der Dichte der Bevölkerung, nach ihrer Verteilung auf Landwirtschaft und Industrie, nach der Verteilung des Bodens, ob unter viele oder wenige Eigentümer, nach dem Stande der landwirtschaftlichen und industriellen Technik, d. h. nach dem Bedarf an Arbeitern, nach dem Verhältnis von Einfuhr und Ausfuhr usw. usw. Es kann ebensogut vorkommen, daß für den einzelnen Kapitalisten ein an Umfang und Wert sehr geringes sachliches Substrat (Kapital) ausreicht, während der quotale Anteil am Klassenmonopolgewinn enorm ist, wie es umgekehrt vorkommen kann, daß das notwendige Substrat an Umfang und Wert sehr groß, der Monopolgewinn aber sehr klein ist. Im ersten Falle steht der Profitsatz sehr hoch, im zweiten sehr tief. Beide Male aber wird fälschlich dem Substrat, der Bedingung, „zugerechnet", was in der Tat Wirkung der Ursache, des Klassenmonopolverhältnisses, und dessen Ursache, des Bodenmonopols ist. Von diesem Standpunkt aus erscheinen also die Beschaffungsgüter selbst als das Kapital: und dann ist es unmöglich, sie als Monopolgüter aufzufassen. Denn produzierte Produktionsmittel sind (wo nicht ein Patent oder derartiges vorliegt, und das ist kein Problem) beliebig vermehrbar. Solche Güter aber können nach der guten Theorie nur dann Gegenstand eines Monopols sein, wenn ihre Produzenten sich zu gemeinsamer Produktions- und Preispolitik verpflichtet haben. Von einer solchen Vereinbarung kann keine Rede sein: folglich können die Beschaffungsgüter nicht Gegenstand eines Monopols sein. Wir glauben, daß hier der logische Grund zu suchen ist, warum Marx, der die Theorie beherrschte wie kaum je ein anderer, und der sich, wie wir belegen konnten, über die Bedingungen und Wirkungen des Monopols durchaus im Klaren war, den naheliegenden
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
Gedanken nicht weiter verfolgte, es könne sich auch beim Kapitalverhältnis um ein Monopol handeln. Wenn man aber, wie es korrekt geschehen muß, den Profit nicht aus dem gesellschaftlichen Werkgut, sondern dem gesellschaftlichen Klassenverhältnis, dem Kapitalverhältnis, und dieses aus dem Bodenmonopol ableitet, so existiert diese Schwierigkeit nicht mehr: denn der Boden ist ein unvermehrbares Gut, an dem auch ohne Vereinbarung der Eigentümer ein Oligopol entstehen kann. Was wir hier vom Kapital feststellen, gilt vor allem „rentierenden Eigentum". Wir werden hoffen dürfen, den schwierigen Gegenstand noch besser aufzuklären, wenn wir an der Klasse beobachten, was soeben an einer Art konstatiert werden konnte. Wir haben an allem rentierenden Eigentum zwei völlig verschiedene Dinge auf das schärfste zu unterscheiden: das materielle Substrat - und den Rechtstitel des im Staatsrecht begründeten Privateigentums, den juristischen Ausweis auf einen idealen Anteil am Klassenmonopol. Jenes ist eine naturwissenschaftlich-technologische, dieses eine gesellschaftlich-ökonomische Kategorie. Am klarsten läßt sich das am „Kapital" erkennen. Hier besteht das materielle Substrat aus den „produzierten Produktionsmitteln", einem Inbegriff von Gebäuden und Werkgütern aller Art, dem „Kapital im volkswirtschaftlichen Sinne". Auf diesem Substrat ruht der ideale Anteil am Klassenmonopol, das „Kapital im privatwirtschaftlichen Sinne". Daß diese beiden Dinge gänzlich verschieden sind, erkennt man am besten an einer Kapital-, ζ. B. einer Aktiengesellschaft. Hier stellt die einzelne Aktie den Unteranteil des Aktionärs an dem Gesamtanteil dar, den die Gesellschaft aller Aktionäre an dem Klassenmonopol zu eigen hat: und dieser Unteranteil, lediglich ein nutzbares Recht auf Leistung unmittelbar gegen die Aktiengesellschaft, mittelbar aber gegen die Arbeiterklasse als Totalität, ist sowohl der Form wie dem Inhalt, d. h. dem Werte nach etwas ganz anderes als der Anteil an dem Sacheigentum der Gesellschaft. Der Form nach ist dieses ein Güterstamm, jenes ein Dokument, ein verbrieftes Recht; - und dem Werte nach handelt es sich um verschiedene Geldbeträge. Denn zwar ist der Buchwert des Substrats in der Statik gerade so groß wie der Marktwert des zugehörigen Normalkapitals: aber der Marktwert eines unter irgendeinem Personal-Monopolverhältnis tauschenden oder produzierenden Kapitals ist größer als der Buchwert seines Substrates. Und selbst beim Normalkapital zeigt sich beim schleunigen Verkauf, ζ. B. im Falle eines Konkurses, daß der Marktpreis des Substrats viel tiefer steht, als er zu Buche stand: es kann nur mit großen Verlusten „zu Gelde gemacht werden". Dieser Marktpreis des Substrats im Falle schleunigen Verkaufs bildet die Untergrenze, bis zu der der Anteilswert fallen kann; eine Aktie sinkt nie dauernd unter diesen ihren „Schmelzpunkt"; aber sie steht in der Regel höher, oft um das Vielfache höher als der Schmelzpunktwert. Die beiden Arten des Kapitals gehören mithin zwei ganz verschiedenen Bereichen an, haben ganz verschiedene äußere Form und ebenso verschiedenen ökonomischen Inhalt: und deshalb ist es so verkehrt wie möglich, beide als Unterbegriffe eines Oberbegriffs darzustellen. Man muß sie aufs schärfste terminologisch trennen, als „Werkgut" und als „Kapital", sonst muß man in Trugschlüssen endigen. Fast ebenso deutlich unterscheiden sich der Rechtstitel und das materielle Substrat des Sacheigentums beim großstädtischen rentierenden Grundeigentum. Hier besteht zwischen dem Umfang des Substrats und seiner Rente oft ein so ungeheuerliches Mißverhältnis - und, vor allem, hier vollzieht sich die Steigerung der Mietrente und des Bodenpreises oft mit so reißender Geschwindigkeit vor den Augen der Zeitgenossen, und zwar so augenscheinlich ohne jede Gegenleistung seitens des Eigentümers, daß selbst sehr trübe Augen den Sachverhalt, wenn auch verschleiert, erkennen müssen. Nichts ist hier klarer, als daß die Gewinne nicht aus den Eigenschaften der kleinen Bodenparzelle, sondern aus einem im Privateigentumsrecht fundierten nutzbaren Anteil an einem Klassenmonopolverhältnis fließen.
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Abschnitt
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Dagegen ist der Tatbestand bei den meisten Formen des agrarischen Grundeigentums viel schwerer durchschaubar. Noch am leichtesten dort, wo Großgrundeigentum fast nur durch Verpachtung rentabel genützt wird, wie in Großbritannien und Italien. Dort bestehen ähnliche Verhältnisse wie beim städtischen Grundeigentum: sprungweise erfolgende, wenn auch niemals so ungeheure Zuwächse der Grundrente und des Bodenwertes ohne jede erkennbare Gegenleistung des Eigentümers. Darum ist denn auch die britische Theorie die dem Großgrundeigentum feindlichste: nicht nur die Agrarsozialisten, wie Hall und Spence, und die Bodenreformer von Ogilvie an bis auf John Stuart Mill in seiner letzten Periode: auch Smith und Ricardo betrachten es mit sehr mißtrauischen Augen, und der moderne Sozialismus hat seine schärfsten Waffen gegen das Institut aus ihren Zeughäusern entlehnt. Aber der Tatbestand wird fast völlig undurchsichtig dort, wo nicht das Pachtsystem, sondern die Selbstbewirtschaftung die vorwiegende Methode ist, um großes agrarisches Eigentum rentabel zu nutzen, wie in Ostdeutschland und (früher) den meisten Slawenländern. Hier besteht fast überall eine ununterbrochene Stufenleiter, die vom parzellenbesitzenden Häusler über den Klein-, Mittelund Großbauern zum Großgrundbesitzer und Magnaten emporführt. Uberall wird mit gleichen technischen Methoden (von den Differenzen der Intensität und Intelligenz kann hier abgesehen werden) der Acker bewirtschaftet; überall werden die gleichen Produkte erzeugt, die zu gleichen Preisen auf den gleichen Märkten verkauft werden, und überall besteht das Einkommen des Wirtes aus seinen Gewinnen an diesen Preisen; hier bedarf es bereits eines sehr scharfen und durch andere Erwägungen auf den springenden Punkt gelenkten Blickes, um zu erkennen, daß diese scheinbar aus den gleichen Quellen fließenden Einkommen sich sehr verschieden zusammensetzen: sie sind bei allem Kleineigentum reines, zuweilen durch ein wenig Profit vermehrtes Arbeitseinkommen, das oft genug sogar durch einen Monopoltribut zugunsten von Hypothekengläubigern oder Wucherern gekürzt ist - aber sie enthalten bei allem Großgrundeigentum (großen und kleinen räumlichen Umfanges) außer dem Arbeitseinkommen des Wirtes auch den Klassenmonopolgewinn. Diesen Tatbestand zu erkennen ist bei allem Grundeigentum noch aus einem anderen Grunde sehr schwer: hier sind das materielle Substrat und der Anteil am Klassenmonopol, sind, um den Ausdruck aus dem Nachbargebiet zu variieren, Grundeigentum im volkswirtschaftlichen und Grundeigentum im privatwirtschaftlichen Sinne gar nicht formell und nur sehr viel schwerer begrifflich auseinanderzuhalten und gegeneinander zu stellen, als beim Kapital, wo sie ganz offensichtlich und unzweifelhaft zwei verschiedene Dinge sind. Hier besteht nämlich ein durchgreifender Gegensatz: vom Grundeigentum ist jedes nicht zu kleine Stück an sich Monopolgut; jedes kann für sich allein als Tragfläche eines Anteils am Klassenmonopol dienen, erhält seinen Mehrwert und repräsentiert daher seinen Wert. Wenn daher ζ. B. eine Terraingesellschaft ihr rentierendes Sacheigentum in natura unter ihre Mitglieder verteilt, erhält bei einigermaßen geschicktem Verfahren jeder seinen vollen Anteil. Und darum scheint es, als sei das Sacheigentum und das Monopolverhältnis das gleiche, oder vielmehr: das letztere versteckt sich hinter dem ersten. Dadurch ändert sich der Tatbestand nicht, aber er wird so stark verschleiert, daß er fast unerkennbar wird: dies der logische Grund, warum die Naturrechtler das Großgrundeigentum nicht als Schöpfung des politischen Mittels erkannt haben. Dennoch verhält es sich hier ganz so wie mit dem Kapitaleigentum. Der Grund und Boden ist nur das materielle Substrat, auf dem der Anteil am Klassenmonopol ruht, und das eigentliche Eigentum ist auch hier der Rechtstitel, der das Sacheigentum gewährleistet. Dieses ist nur die Hülle, die durch das Gas des unter dem Klassenmonopolverhältnis erpreßten Mehrwerts aufgebläht und in ihre Form gebracht wird. Wo dieses gesellschaftliche Distributionsverhältnis verschwindet, verschwindet auch der Mehrwert und bald auch das Grundeigentum, obgleich das materielle Substrat bleibt, und auch dann, wenn sich technologisch nichts ändern sollte. Ein Beispiel: wir haben in allen Großstädten ganze Straßenzüge, in denen die Grundrente gefallen ist, weil die ehemals vornehme Wohngegend diesen ihren Charakter durch die City-
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
und Vorortbildung verloren hat, ohne daß doch schon die Straße zur Geschäftsstraße geworden wäre. Hier ist alles unverändert, das Grundstück und das auf ihm errichtete Haus: Nur eins hat sich geändert, das Monopolverhältnis des Eigentümers zu den Mietbedürftigen, und darum ist seine Grundrente und als Folge davon der Wert des Grundstücks gefallen, während hundert Meter weiter das Monopolverhältnis sich zugunsten der Eigentümer verschoben, und Grundrente und Wert enorm zugenommen haben mögen. Beim Kapital liegen die Dinge ungleich klarer: das Werkgut einer Fabrik ist nur als Totalität, als Inbegriff zweckmäßig zusammengestellter Komplementärgüter, an denen kooperierende Arbeit freier Arbeiter ansetzen kann, eine geeignete Tragfläche für einen Anteil am Klassenmonopol, erhält nur als solcher Mehrwert und hat daher nur als solcher Monopolwert. Auseinander gerissen sinkt sein Wert auf den „Schmelzpunkt" herab. Wenn etwa eine Textilfabrik auf Aktien ihr Sacheigentum in natura an ihre Gesellschafter aufteilen und ihrem einen Aktionär einen Dampfkessel und dem anderen einen Webstuhl als seinen Anteil am „Kapital" ausscheiden wollte, so würde ihm der Unterschied zwischen dem Kapital als volkswirtschaftliche und als privatwirtschaftliche Kategorie schmerzlich klar werden. Ich habe einmal versucht, das Kapitalverhältnis durch einen Vergleich zu illustrieren: ein Beduinenstamm ist Eigentümer einer Oase in der Wüste. Ein Teil, bewaffnet, erhebt den Preis für das Wasser der Zisterne: das sind die „Unternehmer"; und die Gebühr, die die Karawanen zahlen müssen, wenn sie nicht verdursten wollen, ist der „Unternehmerprofit". Den Karawanenkaufleuten entsprechen die „freien Arbeiter" der kapitalistischen Gesellschaft; sie müssen den Preis zahlen, wenn sie nicht verhungern wollen: auch bei ihnen ist die Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses unendlich viel größer als bei ihren monopolistischen Kontrahenten. Ich will den Vergleich hier weiter führen: jeder Mann des Stammes, der die zurzeit übliche Bewaffnung aufbringen kann, ist anteilsberechtigt. Die Bewaffnung ist das „sachliche Substrat", das das Monopolverhältnis vermittelt. Es entspricht dem „Kapital im volkswirtschaftlichen Sinne", den Produktivgütern. Offenbar besteht zwischen der Substanz oder dem Werte der Bewaffnung einerseits und dem quotalen Einkommen aus dem Wasserzins nicht das geringste funktionale Verhältnis. Unter gewissen Umständen mag es genügen, wenn der Stamm sich mit rohen Keulen bewaffnet, die den Arbeitswert weniger Stunden haben, und unter anderen Umständen mag kostspielige Eisenrüstung oder die Bewaffnung mit modernen Präzisionsgewehren erforderlich sein. Ganz unabhängig davon ist das auf die Gesamtheit und pro Kopf entfallende Einkommen: es ist groß, wenn viele und reiche Karawanen gezwungen sind, die Wasserstelle aufzusuchen, und klein im umgekehrten Falle. Die bisherige Nationalökonomie läßt nun den Beduinen den Wert des auf ihn fallenden Wasserzinses dem Wert seiner Waffe „zurechnen" und sagen: meine Keule oder meine Büchse werfen mir jährlich so und so viel tausend Prozent ab.
C. Die Entstehung des
Kapitalisten
Um die Ursachen der Entstehung des Kapitalisten und seiner Periode, des Kapitalismus, geht ein langer alter Streit. Für uns gibt es hier keine Schwierigkeit und kein Schwanken: wo immer eine Klasse „freier Arbeiter" vorhanden ist, und das ist überall und nur dort der Fall, wo Bodensperre und Freizügigkeit nebeneinander bestehen, da ist Kapitalismus. Historisch gesehen: wo zur Freizügigkeit die Bodensperre, oder zur Bodensperre die Freizügigkeit tritt, entsteht Kapitalismus, wo eine der beiden Bedingungen fortfällt, hört er auf zu bestehen. Diese Behauptung ist von solcher Präzision, daß ihre Bestätigung oder Widerlegung durch einen unvoreingenommenen Historiker ohne weiteres möglich sein sollte. Wir glauben, den induktiven Beweis für ihre Wahrheit für die
Das Kapital: Zweiter Abschnitt
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gesamte europäische Wirtschaftsgeschichte schlüssig erbracht zu haben. 1 Andere Forscher haben hier ein eigenes Problem gesehen. Werner Sombart fragt, welche Art von Geistesbeschaffenheit die ersten Menschen gehabt haben müssen, die auf den Gedanken kamen, einen Stamm von Produktionsmitteln „zu verwerten", wie er sich marxisch ausdrückt. Mit diesem Gedanken entstand der „kapitalistische Geist", den er nicht für die Folge, sondern für die Ursache des Kapitalismus hält. Wir haben diese Ansicht in unserer allgemeinen Soziologie 2 erörtert und als irrig erwiesen. Wir werden später noch einmal auf den Gegenstand zurückkommen und den Beweis antreten, daß der kapitalistische Geist und sein Antipode, der „genossenschaftliche Geist", nicht letzte Ursachen, sondern die Folgen sind einer ganz genau bestimmten Lagerung der beobachteten Gruppen. Diese Lagerung ist uns schon jetzt bekannt: wo infolge von Bodensperre freie Arbeiter als Klasse existieren, besteht der kapitalistische, wo das nicht der Fall ist, der genossenschaftliche Geist. Der eingeweihte Dogmenhistoriker erkennt in Sombarts Konstruktion leicht die „Kinderfibel" wieder.' Die ersten Kapitalisten waren Menschen von besonderer, eigentümlicher „Begabung". Andere haben gefragt, woher die ersten Kerne des Kapitals stammten, oder, was dasselbe ist, aus welchen Kreisen des Berufs oder Standes die ersten Kapitalisten hervorgegangen sind. Diese Frage ist theoretisch irrelevant, wenn auch historisch wichtig genug. Theoretisch kann man sagen, daß, die Bedingungen des Kapitalismus einmal gegeben, auch ein winziger Stamm von Werkgütern zum Kern eines durch die Akkumulation des gewonnenen Mehrwertes gewaltig wachsenden Kapitals werden kann, so etwa, wie in einer gesättigten Mutterlösung das Einfallen eines Staubkörnchens ausreicht, um die Substanz sofort zum Auskristallisieren zu bringen. Wenn ζ. B. einem Webermeister wie dem ersten Fugger sich plötzlich unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen die vorher sehr seltenen und daher teuren Gesellen zu billigem Lohne anbieten, so mag er im ersten Jahre so viel Mehrwert gewinnen, daß er davon einen neuen Webstuhl und das für eine Periode nötige Mehr an Rohmaterial einkaufen kann. Daran kann er im zweiten Jahre wieder einen Gesellen mehr beschäftigen, wieder den Mehrwert anhäufen, im nächsten Jahre zwei neue Stühle beschaffen usw. So kann das Kapital durch Potenzierung in kürzester Zeit von fast Null auf sehr große Höhe wachsen. Aber wirtschaftshistorisch ist es in der Tat von Interesse, den Ursprung der ersten Privatkapitale zu untersuchen. Auch aus dem Grunde, weil auch hier das alle Felder der Soziologie verheerende Unkraut auszurotten ist. Die Kinderfibel von der ursprünglichen Akkumulation läßt selbstverständlich alles Kapital aus jenem fabelhaften Zustande der allgemeinen Gleichheit heraus, den sie als Anfang des Gesellschaftslebens postuliert, durch Sparsamkeit entstehen: es ist das Ergebnis überlegener wirtschaftlicher Tugenden: höherer Begabung, größeren Fleißes, charaktervoller Entsagung. In der Tat können gewisse Privatkapitale auf diese Weise entstehen und sind im geschichtlichen Verlauf so entstanden, haben namentlich einen Teil desjenigen Kapitals gebildet, das zu Beginn der modernen kapitalistischen Wirtschaft vorhanden war und den Keimling des riesenhaften Kapitals der Gegenwart dargestellt hat. Einzelne „Hersteller", namentlich gutsituierte größere Bauern, Kunsthandwerker und Künstler, hatten überdurchschnittliche Einnahmen, aus denen sie bei sparsamer Lebensführung ein kleines Kapitälchen zurücklegen konnten; und vor allem waren es größere Händler, die bei gutem Glück stattliche Ersparnisse machen konnten.
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Oppenheimer, Großgrundeigentum und soziale Frage, Historischer Teil, für Deutschland [siehe in der vorliegenden Edition, Bd. I, S. 122-280; A.d.R.]; derselbe, System der Soziologie, Bd. IV, 3. Teilbd.: Stadt und Bürgerschaft. Die Neuzeit, für Italien, Spanien, Frankreich, die Niederlande, England, Polen. Ebenda, Bd. I, S. 676 und 778ff. Vgl. ebenda, Bd. IV, 3. Teilbd., S. 1135ff.
592
Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
Karl Marx und viele andere erblicken in den Handels- und Wuchergewinnen sogar die Hauptwurzel des modernen Kapitals. Das ist entschieden eine Ubertreibung. Nur selten verfügte in der vorkapitalistischen Zeit ein Kaufmann über Mittel von genügender Größe, um selbständig einen Handel zu unterhalten, der viel mehr einbrachte als den damals als anständig betrachteten Unterhalt; die Märkte wurden meistens von Genossenschaften vereinigter Kaufleute beschickt, von denen jeder nur eine für unsere Begriffe überaus geringe Menge eigener Waren besaß. Wir werden dem Sachverhalt recht nahe kommen, wenn wir uns auch den Fernhandel jener Zeit als einen genossenschaftlich organisierten Hausierhandel vorstellen.1 Vereinzelte große Konjunkturgewinne sind gewiß vorgekommen, mußten aber bei dem ungeheuren Risiko, das die politische Unsicherheit, die schlechte Beschaffenheit der Straßen und die Gefährdung der schwachen Schiffe durch Stürme mit sich brachte, in den meisten Fällen bald wieder verschwinden. Jedenfalls unterliegt es keinem Zweifel, daß der weitaus größte Teil der privaten Kapitale, mit denen die kapitalistische Wirtschaft begann, nicht durch Ersparnis aus den Erträgen eigener Arbeit gebildet worden ist, nicht dem ökonomischen, sondern dem politischen Mittel seine Entstehung verdankte. Es ist nämlich historisch sichergestellt, daß in der präkapitalistischen Epoche größere Kapitale sich vor allem durch das unentfaltete politische Mittel, durch den kriegerischen Raub, bildeten. Die Italiener und Südfranzosen verdankten die Schätze, aufgrund deren sie vom 12. Jahrhundert an die Bankiers von ganz Europa wurden, im wesentlichen der Ausplünderung der gesamten Levante während der Kreuzzüge. Namentlich Venedig, Florenz, Genua und Cahors haben sich an dieser Beute gemästet. Hier hat denn auch der Wucher seine Rolle gespielt, insofern kluge Kaufleute den in ihrem plötzlichen Reichtum übermütig gewordenen Rittern den Raub abjagten. Andere große Geldvermögen sind entstanden aus akkumulierter Grundrente kraft des entfalteten politischen Mittels, des Staatsrechtes. Weltliche und geistliche Grundherren, die klug zu wirtschaften oder, um mit den alten Bourgeoisökonomen zu sprechen, zu „entsagen" verstanden, häuften aus den Tributen ihrer Hintersassen große Kammervermögen an und verstanden es, durch Darlehen und Hypotheken die Güter der weniger vorsichtigen Standesgenossen zu erwerben. Es ist charakteristisch, daß die beiden Herrschergeschlechter, die bis zu dem großen Kriege das Gebiet des alten römischen Reiches deutscher Nation unter sich teilten, Habsburger und Hohenzollern, als feudale Beamte zweier der reichsten Städte des mittelalterlichen Deutschland zu dem Geldvermögen gelangt sind, das der goldene Schlüssel zur Pforte des politischen Erfolges für sie geworden ist: die Habsburger2 als Stadthauptleute von Straßburg, die Hohenzollern als Burggrafen von Nürnberg. Mit der Geldwirtschaft und ihren Finessen vertraut, sammelten sie die Schätze, mit denen ein glücklicher Erbe hier die Kaiserwürde, dort die Mark Brandenburg kaufte. Ganz analog haben sich auch in der kapitalistischen Epoche selbst zu allen Zeiten neue Kapitale aus den Ersparnissen gebildet, die die Eigentümer von feudal-kapitalistischem und modern-kapitalistischem „Großgrundeigentum", ländlichem und städtischem, aus dem Monopoltribut der ihnen gesteuerten Grundrente machten und noch machen. Handelt es sich in allen diesen Fällen um „Ersparnis" von einem „Einkommen", das allerdings in den entscheidenden Fällen nichts weniger als ein Einkommen aus eigener Arbeit war, so sind andere Privatkapitale ohne jede „Entsagung" unmittelbar aus dem politischen Mittel entstanden; zunächst als Abspaltungen aus dem Grundeigentum: Erbhypotheken usw.
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Vgl. Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. IV, 3. Teilbd., S. 1067. Rudolf von Habsburgs Großmutter stammte aus der römischen ehemals jüdischen Bankiersfamilie Pierleoni (Löwenstein). Vgl. Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. IV, S. 844.
Das Kapital: Zweiter Abschnitt
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Wir erkennen also: Schon die Bildung der Kerne des Kapitals vollzieht sich nur in seltenen Fällen nach dem Typus, den die klassische Doktrin für den einzig existierenden hielt: durch Ersparung am eigenen Arbeitsertrage, d. h. durch das ökonomische Mittel. Ein viel größerer Teil entsteht durch das unentfaltete und das entfaltete politische Mittel, zum Teil durch Ersparung an Monopolgewinnen, zum Teil nicht einmal dadurch, sondern als Aneignung gesellschaftlicher Vorteile durch Einzelne. Schon diese Kerne sind bereits fast ohne Ausnahme unter dem Klassenmonopolverhältnis beschaffte Monopolgewinne. Das gleiche gilt nun aber vor allein für die ungeheuren Massen von Kapital, die sich im Laufe der kapitalistischen Epoche um jene Kerne herumgelagert, „akkumuliert" haben. Das heutige Privatkapital ist zum größten Teile aufgehäufter Monopolgewinn, nämlich „ersparter" Profit. Die bürgerliche Theorie versieht auch hier wieder eine ungeheure Heterometrie für die Normalität. Ich habe darüber geschrieben: „Nichts ist gewisser, als daß diese ,Entsagung', die den Kapitalismus mit seiner Klassenscheidung erzeugen soll, ihn vielmehr voraussetzt. Ein genialer oder besonders glücklicher Handwerker kann in einer Gesellschaft, in der es keine Klasse .freier Arbeiter' gibt, gewiß eines Wohlstandes genießen, der ihn merklich über seine Klassengenossen hebt: aber zu großem klassenbildendem Reichtum kann er hier unmöglich kommen. Wenn aber die Krupp und Stumm, die Heckmann usw. in zwei Generationen zu fürstlichem Reichtum aufsteigen konnten, so war das nur möglich, weil sie bereits in der vollentfalteten kapitalistischen Periode begannen. Sie fanden die ,freien Arbeiter' bereits vor; jeder ihrer Gehilfen steuerte ihnen Mehrwert; diesen Mehrwert konnten sie zum großen Teile akkumulieren und an diesem ,Kapital' neue Arbeiter beschäftigen, von denen sie wieder Mehrwert bezogen. So wuchs ihr Kapital und ihr Einkommen durch Potenzierung auf die erstaunliche Höhe, die unser Problem ist. Die Kinderfibel serviert als ,Genielohn'1, was offenbar zum allergrößten Teile nichts anderes als Mehrwert ist. Und sie erklärt daher im Kreisschluß. Sie leitet den Kapitalismus und seine Klassenscheidung aus Erscheinungen ab, die nur im voll entfalteten Kapitalismus auftreten können."2 Wir möchten nicht mißverstanden werden. Selbstverständlich ist so viel an der bürgerlichen Auffassung richtig, daß es zumeist Männer von einer gewissen besonderen „Begabung" sind, die sich unter solchen Umständen zu großem Reichtum aufschwingen. Und oft genug sind es in der Tat „wirtschaftliche Tugenden", die den Sieg bringen: technisches oder kaufmännisches Genie, Nüchternheit, Sparsamkeit, Zuverlässigkeit usw. Wir werden zu zeigen haben, daß sich im Einkommen des Unternehmers schon in der Statik zwei Bestandteile mischen, einer, der der reinen Ökonomie angehört: der Lohn hochqualifizierter Arbeit, der sogenannte „Unternehmerlohn', und einer, der der politischen Ökonomie angehört: der reine Kapitalprofit. Dazu tritt in der Kinetik, also in der Regel, noch ein dritter, ebenfalls rein ökonomischer Bestandteil, der gewöhnlich als „Risikoprämie" bezeichnet wird, den wir aber besser „Pionierlohn" nennen werden. Denn der Ausdruck „Risikoprämie" legt die Vorstellung nahe, daß es sich um eine Art von Wette handle, bei der notwendigerweise die einen so viel verlieren müssen, wie die anderen gewinnen: aber das ist nicht der Fall. Selbstverständlich müssen in der Kinetik bei den spekulativen Wetten über zukünftige Konstellationen die Einen verlieren, was die anderen gewinnen: aber es gibt in einer an Zahl und Reichtum fortschreitenden Gesellschaft immer sichere Chancen, die ein hervorragend begabter Wirt eher erkennt als seine Mitbewerber; hier geht er als Pionier voran und „schöpft den Rahm ab", bis die Konkurrenz nachgegriffen hat und dem ersten seine Vorteile abjagt, die sich von da an, in Gestalt
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Von hier aus ist die „hero-worship" der neueren bürgerlich-apologetischen Ökonomik (Julius Wolf, Ehrenberg, Reinhold, auch Schumpeter) entstanden; vgl. Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. I, S. 760. Oppenheimer, Kapitalismus, Kommunismus, Wissenschaftlicher Sozialismus, S. 37f.
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
billigerer Preise oder reichlicherer Versorgung, auf die Gesamtheit verteilen. Der Pionierlohn ist der Entgelt, den die Gesellschaft für diese Vorteile gewährt. In leider sehr vielen anderen Fällen aber ist es zwar „Begabung", aber nicht im mindesten wirtschaftliche Tugend, die zum Erfolge führt: nicht Sparsamkeit, sondern harter Geiz, der namentlich den abhängigen Menschen, Angestellten und Arbeitern, auch dem Staate (durch Steuerflucht) die „Entsagung" auferlegt; oder die Spekulation richtet sich nicht auf neue Chancen, die der ganzen Gesellschaft Vorteile zu bringen versprechen, sondern auf die Ausnützung von Chancen, die aus einer Notlage der Gesellschaft entstehen; sehr viele große Vermögen verdanken ihren Ursprung dem Getreidewucher in Hungersnöten und vor allem den Zeiten schwerer Kriege, wo Heereslieferanten, und andere Kriegs- und Friedensgewinnler ihre Ernten auf fremden Äckern schnitten. Oder sie verdanken ihre Entstehung solchen Chancen, die aus der minderen Geschäftserfahrung oder der gutgläubigen Vertrauensseligkeit anderer Menschen sich ergeben, die skrupellos so weit ausgeräubert werden, wie das sehr weite Gewissen und die für solche Existenzen bekanntlich sehr weitmaschigen Gesetze es erlauben. Schließlich aber sind einige der allergrößten Kapitalvermögen geradezu aus moralisch anrüchigen und selbst verbrecherischen Unternehmungen hervorgegangen. Handel mit Sklaven und halbversklavten Kontraktarbeitern, namentlich in der Frühzeit des englischen Kapitalismus mit hilflosen Waisenkindern, Mädchenhandel, Schwarzhandel mit Alkohol (Bootleggers), mit Rauschgiften (Opium, Kokain, Heroin, Haschisch usw.), Kaperei, Schmuggel und Seeraub, gemeiner Wucher, verdächtiger Erwerb von öffentlichen Privilegien und namentlich Ländereien durch Beamtenbestechung und Vetternwirtschaft, Mißbrauch des öffentlich-rechtlichen Monopols der Staatsverwaltung zum Zwecke der legitimen Enteignung der Volksmasse (wir haben soeben eine Reihe der krassesten Beispiele dafür kennen gelernt): das ist der wahre Ursprung des Kapitals und der Kapitalisten, und nicht jenes „bürgerliche Idyll", wie Karl Marx die Kinderfibel nennt. Seine Entstehungsgeschichte ist „in den Büchern der Weltgeschichte eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer" (Marx).
D. Die Formen des Kapitals Das Kapital erscheint in drei verschiedenen Formen, die wir jetzt zu untersuchen haben. Die erste ist das Unternehmerkapital·, es ist unmittelbarer Anteil an dem Klassenmonopolverhältnis; die zweite Form ist das „produktive Kreditkapital": es ist mittelbarer, vom ersten abgezweigter Anteil an jenem Klassenverhältnis; die dritte Form ist das Wucherkapital, das kein Klassen-, sondern ein Personalund zwar ein Tauschmonopol ist. Wir werden es dennoch hier abzuhandeln haben, weil wir beweisen wollen, daß der Wucher nur unter den Verhältnissen der kapitalistischen Wirtschaft gesellschaftlichen Schaden anzurichten vermag.
α. Das Unternehmerkapital Uber das Wesen und die Entstehung des Unternehmerkapitals ist alles Nötige bereits in den letzten Abschnitten gesagt worden. Hier soll noch eine Frage geklärt werden, die für unsere kritische Stellungnahme zu den älteren Lehren vom Kapital und seinem Profit von Bedeutung ist. Es handelt sich um die Größe des Unternehmerkapitals. Alle älteren Lohntheorien, nicht nur die bürgerliche, sondern auch die Marxsche, sind Varianten einer Lehre, die wir als die „Lohnfondstheorie im weiteren Sinne" bezeichnen wollen. Sie gehen, und das ist als erste Annäherung korrekt - von der Voraussetzung aus, daß der Lohn, als der Preis der „Dienste", sich wie alle anderen Preise zunächst als das Verhältnis von Angebot und Nachfrage,
Das Kapital: Zweiter
Abschnitt
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auf dem Markte bildet. Und sie suchen nun nach den Größen, die in diesem Falle sich als Angebot bzw. Nachfrage verhalten. Die Antwort ist, daß das „gesellschaftliche Gesamtkapital" (Smith) oder ein besonders qualifizierter Teil dieser Größe („zirkulierendes" Kapital bei Ricardo, „variables" bei Marx) die Nachfrage auf dem Markte der Dienste darstellt, dem als Angebot die Zahl der arbeitsfähigen und arbeitswilligen Mitglieder der Arbeiterklasse gegenübersteht. Der Lohn erscheint derart als der Quotient eines Bruches, in dessen Zähler jenes Kapital oder jener Kapitalbestandteil, in dessen Nenner die Arbeiterzahl steht: L = K:p. Diese Lehre ist nicht nur vollkommen falsch, sondern auch, eine seltene Ausnahme in dem Zustande der Zersplitterung, in dem sich die Ökonomik befindet, von allen Schulen wenigstens ex professo aufgegeben. Kein Geringerer als John Stuart Mill, das geistliche Oberhaupt der manchesterliberalen Kirche, sah sich gezwungen, den von Rodbertus, Longe, Walker und anderen vorgebrachten unwiderleglichen Gründen zu weichen und in einem Sensation machenden Aufsatz die Lehre und mit ihr, streng genommen, die ganze bürgerliche Theorie preiszugeben.1 Seitdem wagt kein ernsthafter Theoretiker mehr, sie offiziell zu halten, aber sie spukt noch immer gespenstisch in Gestalt ihrer Konsequenzen in vielen Lehrbüchern. Der Nenner, die Arbeiterzahl, ist mit genügender Genauigkeit zu bestimmen, aber der Zähler, das „Kapital", enthüllt sich dem ersten kritischen Blick als eine nicht existierende Größe, weil ein Unbegriff. In ihm mischen sich die beiden uns bekannten Kapitalbegriffe in fast unentwirrbarem Knäuel. Dem leitenden, schon von Adam Smith vorgetragenen Gedanken nach muß der Unternehmer, bevor er ein Werk beginnt, den gesamten erforderten Stamm an Beschaffungsgütern in der Hand haben. Um aus dieser Voraussetzung den Unternehmerprofit nicht nur abzuleiten, sondern auch zugleich zu rechtfertigen, wurde zweitens angenommen, daß dieses Kapital nur durch tugendhafte Ersparung aus dem Reineinkommen des puren ökonomischen Mittels, durch „Entsagung", zustande gekommen sei. Zu solcher Entsagung aber entschließe sich der Mensch nur, wenn ihm dafür eine Belohnung winke: darum müsse die Gesellschaft, die das für ihre Fortschritte notwendige Kapital auf keine andere Weise bilden könne, dem Sparer die Belohnung des Profits gewähren. Im ersten dieser Sätze ist vom Privatkapital die Rede, das in der Tat nur durch Ersparnis entstehen kann, freilich nicht bloß - wir haben es ausführlich genug geschildert - durch tugendhafte Entsagung am Erzeugnis der eigenen Arbeit, des ökonomischen Mittels, sondern viel öfter als ein ohne jede Entsagung übrig gebliebener Teil eines aus dem politischen Mittel, also aus der Entsagung Anderer, stammenden Einkommens. Im zweiten Satze aber ist von dem volkswirtschaftlichen „Kapital", unserem „gesellschaftlichen Beschaffungsgut", die Rede: denn offenbar ist es nicht privates Vermögen, sondern sind es Werkgüter: Werkzeuge, Maschinen, Roh- und Hilfsstoffe, deren die Gesellschaft bedarf, um höhere Staffeln der Kooperation zu ersteigen. Dieses Beschaffungsgut entsteht nun offenbar nicht aus Ersparnis, sondern durch Arbeit. Das würde nichts gegen die Lehre beweisen, gegen die wir hier kämpfen, wenn ihre Voraussetzung richtig wäre, daß der ganze, für die Vollendung eines Werkes nötige Stamm von Beschaffungsgütern vor Beginn angehäuft sein muß. Denn, solange nicht etwa die Gemeinschaft auf dem Steuerwege
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W i r haben die Lehre im Zusammenhang mehrfach dargestellt und kritisch erörtert. A m ausführlichsten mit zahlreichen Belegen dafür, daß die neuere Wissenschaft die Theorie in der Tat aufgegeben hat, in: Oppenheimer, David Ricardos Grundrententheorie, S. 11 Iff. [siehe auch in der vorliegenden Edition, Bd. I, S. 5 3 8 542; A.d.R.], dann in: Kapitalismus, Kommunismus, wissenschaftlicher Sozialismus, S. 138ff., und in: System der Soziologie, Bd. I, S. 818ff.
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
eine nicht tugendhafte und deshalb nicht lohneswürdige Entsagung zwangsmäßig auferlegt,1 wird jeder Privatmann in der Tat seine Arbeit statt auf die Erzeugung von Produktionsmitteln auf die von Genußmitteln lenken, wenn ihm aus jener Enthaltsamkeit kein Vorteil erwächst. (Die Lehre übersieht freilich in ihrem Eifer, den Profit abzuleiten und als rein ökonomische, „ewige Kategorie" jeder entfalteten Gesellschaftswirtschaft zu rechtfertigen, ganz, daß der Mensch überall sein Gerät rastlos zu vermehren und zu verbessern geneigt ist, nicht nur aus seinem „instinct of workmanship" 2 heraus, sondern weil ihm jede Verbesserung Arbeit spart oder mehr Güter beschert, oder beides. Wir wollen dieses Ubersehen, so kraß es ist, hier nicht weiter urgieren.) Aber die Grundvoraussetzung ist absolut falsch: es ist nicht im mindesten erforderlich, daß alle für die Vollendung eines Werkes nötigen Werkgüter vor Beginn vorrätig seien. Hier ist Smith der Robinsonfabel zum Opfer gefallen, hätte aber bei richtiger Überlegung auch hier sogar sehen können, daß die Werkgüter, mit denen der Einsiedler z. B. sein Boot fertigt, nicht aus einer früheren, vergangenen Wirtschaftsperiode angespart, sondern in der gleichen Periode durch Arbeit
neu
erzeugt
werden. Was er braucht, um anzufangen, ist ein Satz Werkzeuge und Nahrung für einige Stunden; um das Werk, das ihn viele Monate kostet, zu vollenden, „tritt er sozusagen mit sich selbst in Kooperation", indem er etwa nur die Nachmittage an dem Boote schafft, aber die Vormittage der Nahrungserzeugung in Wald, Feld und Garten widmet und von Zeit zu Zeit einen Arbeitstag für die Wiederherstellung oder Neuerzeugung verbrauchter Werkzeuge einlegt. Noch viel unsinniger ist die Grundvoraussetzung für die entfaltete Gesellschaftswirtschaft mit ihrer Arbeitsteilung und Vereinigung. Hier braucht niemand sein Werk zu unterbrechen: der Bergmann und der industrielle Produzent leben von der gleichzeitigen
Arbeit der Urproduzenten,
und diese ersetzen ihre Werkgüter aus den gleichzeitig vom Bergmann, Industriellen und Kaufmann „hergestellten" Erzeugnissen. 3 Das gilt gleichmäßig für Gesellschaften jeder denkbaren politischen und ökonomischen Gliederung. Am einfachsten lassen sich die Verhältnisse in einer indischen Dorfgemeinschaft übersehen. Hier sind der Schmied und der Priester Angestellte der Gesamtheit, leisten ihre Arbeit und werden in naturalibus besoldet, aus dem Ertrage der gleichzeitigen Feldwirtschaft. Nicht anders im feudalen Patriarchalstaat! König Menkuruh von Ägypten soll 40 Jahre an seiner Pyramide gebaut haben: es war durchaus nicht erforderlich, daß alle für den Bau dieses Riesenmonumentes erforderlichen Steine vor Beginn der Bauperiode gebrochen, behauen und angefahren, alle Werkzeuge geschmiedet, und die für die Ernährung, Bekleidung und Behausung der Fronbauern und Kriegsgefangenen erforderlichen Vorräte angehäuft waren; es genügte vollkommen, wenn eine verfügungsberechtigte Gewalt einen gewissen Teil der Gesamtarbeitskraft des ägyptischen Volkes und einen gewissen Teil ihres Gesamterzeugnisses auf Jahre hinaus für den Bau anwies. Die Fronar-
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In dieser Weise löst Theodor Hertzka in seiner Utopie „Freiland" [Freiland. Ein soziales Zukunftsbild, Leipzig 1890; A.d.R.] die Frage, woher das erforderliche Beschaffungsgut kommen soll, ohne daß doch Zins oder Profit bestände. Diese mögliche, aber gewaltsame Konstruktion ist unnötig. Vgl. Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. I, S. 261. „In der Tat ist so auch der wirkliche Verlauf der nationalen Produktion: Erst während die Arbeiter auf irgendeiner oder auf allen Produktionsstufen die Arbeit vornehmen, für die sie nach einem Tage, einer Woche oder einem Monat gelohnt werden, werden zugleich, in derselben Zeit, während desselben Tages, derselben Woche oder desselben Monats auf der letzten Produktionsstufe auch die Lohn- oder Einkommensgüter fertig, mit denen sie für diesen Zeitraum gelohnt werden. Gegen diese wird das Produkt, das sie in der betreffenden Produktionsperiode, bei der es fraglich ist, ob der Lohn dafür zum Einkommen oder auch zum Kapital gehört, herstellen, vertauscht. Sie werden mithin erst von dem Produktwert, den sie in der betreffenden Periode herstellen, aber nicht von einem, der bereits beim Beginn der selben hergestellt wäre, gelohnt" (Rodbertus, Das Kapital, Berlin 1884, S. 297).
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beiter, die die letzten Terrassen der Pyramide mörtelten, lebten nicht von einem Getreide, das vor 40 Jahren gedroschen war, sondern von solchem der letzten Ernte; und die Steine, die sie fugten, waren auch erst soeben in den libyschen Steinbrüchen gewonnen worden. Wenn wir diese Vorgänge in unsere modernen ökonomischen Kategorien einkleiden, so erkennen wir, daß vor Beginn des Werkes nur ein sehr bescheidener Teil des erforderlichen „Kapitals" (Werkguts) vorhanden war. Der weitaus größte Teil wurde im Laufe der Vollendung selbst neu geschaffen und durch Zwangsanweisung für diesen Zweck zur Verfügung gestellt. Schließlich erkennen wir, daß auch in der kapitalistischen Verkehrswirtschaft bei lange währenden Unternehmungen mit großem Kapitalbedarf ganz das gleiche geschieht: auch beim Bau des Simplontunnels waren nur die für den ersten Anfang des Werkes erforderlichen „Kapitalien" vorhanden; die für seine Vollendung nötigen Werkzeuge, Roh- und Hilfsstoffe aber wurden Jahr für Jahr, Tag für Tag, aus der gleichzeitigen Erzeugung des westeuropäischen Kulturkreises ausgeschieden und für dieses Werk bereitgestellt, zwar nicht durch königliches Dekret, aber auf dem Wege der modernen Kreditanweisungen. Selbstverständlich muß der Unternehmer der entfalteten Gesellschaftswirtschaft, gerade wie Robinson, bei Beginn eines neuen Werkes einen gewissen Stamm von Beschaffungsgütern in der Hand haben. Aber, genau wie bei Robinson, ist dieser Stamm nur ein kleiner Bruchteil der für die Fertigung des Werkes erforderten Güter. Den Rest liefert ihm die gleichzeitige Erzeugung und Produktion anderer Unternehmer, und zwar in der Regel auf dem Wege des Kredits, in ungefährer Maximalhöhe des bereits neugeschaffenen Wertes; so ζ. B. in den sogenannten Bauhypotheken auf unfertige Häuser oder Seeschiffe, bei Teilzahlungen von Behörden an Unternehmer, die in ihrem Auftrage, aber auf eigene Gefahr und Verantwortung, öffentliche Tief- und Hochbauten übernommen haben, oder einfach in Form des Bankkredits oder Warenkredits im Wechselverkehr. Nun wird man sagen, daß ein Unternehmer, um erst einmal anfangen zu können, und dann, um Kredit zu finden, ein eigenes „Kapital" besitzen muß. Einverstanden. Aber wir haben bisher vom „volkswirtschaftlichen" Kapital gesprochen - und ist jetzt nicht wieder plötzlich vom Práwfkapital die Rede? Sicher: und das muß ein Unternehmer in der Regel allerdings besitzen, um die ersten Werkgüter anzukaufen und Kredit zu finden. Nicht einmal immer: ein wohlbekannter Fachmann findet ausnahmsweise auch wohl einmal den nötigen Kredit, wenn er ganz vermögenslos ist. Das beweist bereits, daß die Gesellschaft nicht durchaus auf die private Tugend der Sparsamkeit angewiesen ist. Aber vor allem: auch dieses Privatkapital des Unternehmers ist nur ein kleiner Bruchteil der Wertsumme, die während der Betriebsperiode durch seine Unternehmung ein- und ausfließt. Er mag, um ein willkürliches Zahlenbeispiel zu wählen, eine Million im Vermögen haben, und doch während eines Jahres für fünfzig Millionen Güter und Dienste dem Markte entnehmen. Sein Privatkapital spielt, wie geistreich bemerkt worden ist, nur „die Rolle des Windkessels an der Feuerspritze": es verwandelt den stoßweise erfolgenden Zufluß der Werkgüter und -dienste in einen kontinuierlichen Abfluß. Im Besitze dieser Erkenntnis vermögen wir erst recht einzusehen, wie grundfalsch jede Variante der Lohnfondstheorie ist. Was sie, scheinbar mit arithmetischer Präzision, in den Zähler ihres Bruches setzt, ist eine völlig unbestimmbare Größe; und zwar nicht etwa nur eine de facto, mit statistischen Mitteln, nicht genau zu bestimmende, sondern eine überhaupt grundsätzlich unbestimmbare Größe - ungreifbar, weil auf einem Unbegriff aufgebaut. Wäre die Smithsche Annahme richtig gewesen, daß der Lohnfonds oder das gesellschaftliche Gesamtkapital aus einer zu einer bestimmten Zeit, sagen wir am Jahresanfang, vorhandenen Menge von Werkgütern und Lohngütern bestehe, so hätten wir eine zwar statistisch kaum genau zu schätzende, aber doch prinzipiell bestimmbare Größe einzusetzen gehabt. Jetzt aber wissen wir nicht im mindesten, wovon eigentlich die Rede ist: von dem Stamm von Beschaffungsgütern, über die ein Unternehmer zu Anfang seiner Betriebsperiode verfügen muß, oder von seinem ersparten Privatkapital, das auch der Wertgröße nach nicht mit
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jenem identisch ist: denn dazu gehören ζ. B. noch unangebrochene Vermögensreserven, während andererseits Schulden auf die Werkgüter hier abzurechnen wären und so fort. Oder ist die Rede von dem Gesamtkapital im volks- oder im privatwirtschaftlichen Sinne, den Summen also jener Einzel„kapitale", die ebenfalls nicht einmal ihrem Werte nach identisch sind? Am besten erkennt man die Wertlosigkeit der Vorstellung und der aus ihr gewonnenen mathematisierenden Formel, wenn man sich klar macht, - was vor uns niemand gesehen zu haben scheint - daß sie nicht einmal angibt, für welche Periode sie gelten soll. Welcher Lohn wird durch sie be-
stimmt, der Tages-, Wochen-, Monats• oder Jahreslohni Mit diesen Erörterungen ist die Smithsche Lohnfondstheorie (und ihre sämtlichen Ableitungen) deduktiv, aus ihren eigenen Voraussetzungen heraus, endgültig widerlegt. Da sie aber noch immer unter allen möglichen Masken in der modernen Theorie spukt (noch Gustav Cassel trägt sie wieder vor), wollen wir sie auch noch durch Tatsachen widerlegen. Es gibt in der Wirtschaftsgeschichte unzählige Beispiele dafür, daß ganz arme Leute, echte Proletarier, „freie Arbeiter", mit keinem anderen „Kapital" in der Hand als den primitivsten Werkzeugen, große Grundflächen in hohe Kultur brachten, d. h. das erforderliche bedeutende Kapital in der Tat aus den Früchten der gegenwärtigen, nicht der vergangenen Arbeit aufbrachten. Eines dieser Beispiele mag hier nach Sismondi dargestellt werden, der es in seinem zehnten Essai über politische Ökonomie beschrieben hat.1 In der Campagna, nahe Rom, liegt das ehemalige Colonnasche Kastell Zagarolo. Es zählte um das Jahr 1800 „drei- bis viertausend armselige Einwohner", die viel zu wenig Land in Erbpacht hatten, als daß sie davon hätten leben können, und die darum „in schlechten Jahren die Straßen Roms als Bettler überschwemmten". Am Fuße des Hügels, auf dem die Stadt lag, befand sich eine „wüste und von Fiebern heimgesuchte Ebene" von großer Ausdehnung, im Besitz des reichen römischen Fürsten Rospigliosi. Jahrhundertelang hatte keiner der großen Besitzer das Kapital aufbringen können, das nötig gewesen wäre, um diese Wüste in Kultur zu bringen, und auch der jetzige Fürst war dazu außerstande.2 Da nahmen die armen Einwohner von Zagarolo das Land gegen eine, den damals sehr hohen Kornpreisen entsprechende, schwere Geldrente in Erbpacht. Und diese gleichen halben Lumpenproletarier, „die man für so arbeitsweich, für so ganz und gar unfähig erachtet hatte, die großen Anstrengungen zu ertragen, die mit der Landarbeit in einem so glühenden Klima verknüpft sind", urbarten und besäten sofort das Gelände. Während mehrerer Jahre hatten sie keine anderen Einnahmen, von denen sie leben und die Pacht zahlen konnten, als die Körnerernte; „aber sie beschränkten sich nicht auf das bloße Ackern, sondern sie nutzten im Interesse der Zukunft jeden ihnen gegebenen Augenblick und gaben alle in ihnen steckende Arbeitsenergie aus: sie umgaben ihre Parzellen mit Mauern, regulierten die Wasserläufe, und pflanzten Oliven, Feigen, Obstbäume aller Art, vor allem aber Reben. Fünf oder sechs Jahre hindurch hatten sie zu entbehren, aber die Hoffnung hielt sie aufrecht. Dann begannen die Reben ihren vollen Ertrag zu geben, und dieser allein deckt seitdem die Pacht."3 Jetzt ist auf dem Gelände selbst eine stattliche Ansiedlung aufgeblüht, die Bevölkerung hat sich mehr als verdoppelt, während sie soviel wohlhabender geworden ist, die Melioration ist wenigstens doppelt so viel wert wie das Grundstück war, „und so haben die armen Leute die nach der Meinung kapitallos waren, im Laufe von 30 Jahren ein Kapital in den Boden gesteckt, zweimal größer als der
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Sismondi, [Etudes sur l'économie politique], Bd. 2, Paris 1838, S. 119ff. Vgl. ebenda, S. 121. Ebenda, S. 120f.
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Wert des ihnen überlassenen Eigentums"1. Sie haben, sagt Sismondi spöttisch, „der Landwirtschaft Vorschüsse gemacht, die die großen Herren nicht aufbringen konnten". Uns will scheinen, daß dieser Bericht keines Kommentars bedarf.
ß. Das produktive Kreditkapital Nach Ableitung des Unternehmerprofits ist es leichtes Spiel, den Profit des Kreditkapitals zu erklären. Er ist mittelbarer Monopolgewinn an unselbständigen Dienstleistenden wie jener unmittelbarer ist. Er ist ein aus dem Unternehmergewinn abgespaltener Teil. Je mehr materielle Produktionsmittel ein Unternehmer im Vergleich zu anderen desselben Zweiges besitzt, um so mehr Mehrwert kann er ziehen. Denn um so mehr Arbeiter beschäftigt er, und um so höher wächst, dank den Vorteilen der Kooperation, die er unter sonst gleichen Umständen allein einstreicht, der Mehrwert an jedem einzelnen Arbeiter. Denn höhere Kooperation bedeutet, wie wir wissen, höhere Produktivität des Einzelnen. Diese Vorteile sind so groß, daß der Unternehmer nicht nur so viel von seinem Profit erspart, wie er „entbehren" kann, sondern auch geneigt ist, fremdes Geld aufzunehmen, um seine materiellen Produktionsmittel, seine Werkgüter, zu vermehren. Er bewilligt dem Darleiher gern einen Teil des mit diesem „Kapital" mehr beschafften Monopolgewinns, den er an seinen Arbeitern realisiert. Dieser Kredit, der dazu dient, Produktivmittel, d. h. Beschaffungsgüter, zu erwerben, trägt den Namen „Produktivkredit". Das durch ihn konstituierte Verhältnis zwischen dem Gläubiger und dem Schuldner ist eine Kategorie der reinen Ökonomie: denn der Schuldner gibt hier in der Tat nur einen Teil des durch das Kapital beschafften Mehrwertes ab, wenigstens der Regel nach; in einzelnen Fällen kann natürlich auch hier wucherische Ausbeutung Platz greifen. Das Monopolverhältnis besteht nicht zwischen dem kreditgebenden Kapitalisten und dem Unternehmer, sondern zwischen diesem und seinen Arbeitern. Aus diesem Grunde hat sich denn auch der Produktivkredit erst von dem Augenblick an zu einer bedeutungsvollen ökonomischen Erscheinung entfaltet, wo die kapitalistische Wirtschaft einsetzte. Das war in Deutschland zweimal der Fall: das erste Mal gegen 1370, als bei fortbestehender Freizügigkeit das seit etwa dem Jahre 1000 verschwundene Klassenmonopolverhältnis neu konstituiert wurde, indem der Grundadel östlich der Elbe im Kolonisationsgebiet und den Slawenländern allen freien Boden sperrte. Damit hatte die „reine Wirtschaft" des hohen Mittelalters ihr Ende erreicht; die Abwanderung der freien Arbeiter in die Städte setzte ein, und der Kapitalismus erlebte seine erste große Blüteperiode in dem Aufschwung namentlich der Verleger der Textilindustrie und der Bergherren, der Fugger, Welser, Römer usw. Die Periode war nur kurz, denn die herrschenden Klassen hatten die Macht, die Freizügigkeit fast völlig zu vernichten: der Grundadel verhinderte durch die Schollenbindung den freien Zug vom Lande, die Zunftmeister durch die Zunftsperre den freien Zug in die Städte. Dann brach der Liberalismus 1810/1811 die Fesseln der Freizügigkeit, und sofort setzte die Wanderbewegung der freien Arbeiter wieder ein, und der Kapitalismus erlebte seine zweite Blüteperiode. Seine Existenzbedingungen waren wieder gegeben: zu dem fortbestehenden Klassenmonopolverhältnis trat jetzt die Freizügigkeit. Seitdem ist die Masse und der Einfluß des Kreditkapitals dauernd gewachsen. Es kann im großen eben nur bestehen als Geschäftsteilhaber am Monopolgewinn des Unternehmerkapitals.
1 Sismondi, [Etudes sur l'économie politique], Bd. 2, S. 121.
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Für diese Zusammenhänge charakteristisch ist die Tatsache, daß fast aller regelmäßige, als ehrenhaft betrachtete Kredit der präkapitalistischen Zeit ebenfalls wirkte als Geschäftsteilhaber am Monopolgewinn eines politischen Eigentums. Wir haben im Mittelalter nur wenige solche, von der Kirche erlaubte, Formen des Kredits, vor allem die „Satzung", eine Art von hypothekarischer Beleihung des Grundeigentums in Form des Kaufes. Hier wurde die „Rente" verpfändet - die aber war in den meisten Fällen, überall wo es sich um Grundeigentum des Adels handelte, unzweifelhaftes „Herreneinkommen", d. h. Monopolgewinn, Abgabe der Hintersassen kraft öffentlich-rechtlicher Verpflichtung. Gerade so ist auch der Profit des heutigen Kreditkapitals abgezweigter Monopolgewinn, der von, zwar nicht rechtlich, aber tatsächlich Verpflichteten gesteuert werden muß. Wir haben soeben das Kapitalverhältnis an dem Besitz eines Beduinenstammes an einer Oase zu verdeutlichen gesucht. Die Beduinen stellten die Kapitalistenklasse, ihre Waffen das Kapital, die des Wassers dringend bedürftigen Karawanenkaufleute die Arbeiterklasse dar. Wir können auch das Verhältnis der Kreditkapitalisten zu den Unternehmern an diesem Gleichnis verdeutlichen: nehmen wir an, ein Teil des Stammes beteilige sich nicht an der Bewachung der Brunnen, sondern leihe den Kriegern das Geld, um die Waffen zu kaufen, die Beschaffungsgüter des politischen Mittels, also das „volkswirtschaftliche Kapital", mit dem sie „wirtschaften". Diese zahlen ihnen dafür einen Teil ihres Unternehmerprofits unter dem Titel „Leihezins" aus: das sind die „Geldkapitalisten". Die Mitgliedschaft an diesem Stamme gewährt ein bestimmtes nutzbares Recht an dem Gesamterträgnis. Er ist eine latente Aktiengesellschaft, jedes Mitglied hat eine „unsichtbare Aktie", wie Justus Moeser sich einmal in bezug auf die Markgenossenschaft ausdrückte. Nehmen wir an, jedes Mitglied habe das Recht, seinen Anteil an Fremde zu veräußern. Dann hat zu gegebener Zeit jeder dieser Anteile einen bestimmten Wert abhängig einerseits von der Größe des auf ihn fallenden Unternehmerprofits, andererseits von dem Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage auf diesem Markte. Danach wird er „kapitalisiert". Dieser Wert des Anteils heißt „Kapital". Wenn nun im Laufe der Entwicklung die Bevölkerung der Randgebiete dichter, und ihr Wohlstand größer wird, dann ziehen mehr Karawanen vorbei, und die Profitmasse schwillt immer mehr an. Um so größer ist der einzelne Anteil, und um so größer daher auch unter sonst gleichen Umständen das Kapital. „Die Aktie steigt im Kurse." Die Wissenschaft hat bisher immer angenommen, daß das Kapital den Profit erzeugt. Es ist viel richtiger, zu sagen, daß umgekehrt der Profit das Kapital erzeugt. Nicht etwa nur, weil das sogenannte materielle Kapital an Geld und Werkgütern zum großen Teil aus aufgehäuftem Profit entsteht, sondern weil das Kapital im eigentlichen Sinne, als Anteil an einem Klassenmonopol, nichts anderes ist, als „kapitalisierter Profit".
γ. Das Wucherkapital Wenn der Unternehmerprofit unmittelbarer, der Kreditprofit mittelbarer Monopolgewinn an unselbständigen Dienstleistenden ist, so ist der Wucherprofit, meistens „Wucherzins" genannt, Monopolgewinn an Selbständigen, selbst wenn es sich um Borger handelt, die „im Hauptberufe" unselbständig sind: denn als Kontrahent eines Darlehens ist jedermann selbständig. Der Wucher als privatwirtschaftliches Monopolverhältnis zwischen einzelnen ökonomischen Personen steht dem Verbrechen nahe, wenn er es nicht ist. Er kann, wie das Verbrechen, in jeder Gesellschaftsordnung vorkommen, wo immer sich Menschen finden, die es auf die Strafe oder auf die öffentliche Verachtung ankommen lassen. Es wurde bereits erwähnt, daß sich oberhalb der Stufe der primitiven Jäger und Fischer der Wucher sehr häufig in großer Verbreitung findet; im christlichen Mittelalter war er das Privilegium odiosum der Juden, da das kanonische Zinsverbot die
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Christen meistens - nicht immer! - von diesen Geschäften fernhielt: natürlich entsprach dem ungeheuren Risiko, das die rechtlosen Juden liefen, ein ungeheurer Zins, um so mehr, als es sich nicht um Produktivkredit, sondern um „Notkredite", „Konsumtivkredite", handelte, die an sich viel weniger sicher sind. Der Wucher der Gegenwart unterscheidet sich in nichts grundsätzlichem von dem aller Vergangenheit und voraussichtlich aller Zukunft. Er hat, solange es sich um einzelne handelt, kaum sozialökonomische Bedeutung. Der Ruin einiger unglücklicher oder leichtsinniger Menschen durch Bewucherung berührt die Gesundheit des sozialen Organismus so wenig, wie die Vernichtung einiger Körperzellen durch eine leichte Quetschung die Gesundheit des physischen Organismus berührt. Nur in einer einzigen Form hat der Wucher sozialökonomische Bedeutung, wenn er nämlich epidemisch auftritt, als Bewucherung ganzer Volksklassen und Landesteile. Das ist der Fall bei der bereits erwähnten Auswucherung von Bauernschaften durch gewissenlose Händler und Winkelbankiers in den Formen des Viehwuchers, Geldwuchers und Landwuchers, der „Güterschlächterei". Und auch diese einzig bedeutsame Form des Wucherprofits kann nur entstehen unter dem Klassenmonopolverhältnis! Der epidemische Wucher kann nämlich nur eine schon geschwächte, „disponierte" Bauernschaft befallen, wie auch im Organischen die Parasiten nur geschwächten Organismen gefährlich werden: die Reblaus kann wilden Reben, der Tuberkelbazillus kräftigen Menschen nichts anhaben. Eine solche „Disposition" zur Erkrankung findet sich aber nur dort, wo eine Bauernschaft in einem Staatswesen besteht, in dem das Klassenmonopolverhältnis in Kraft ist. In rückständigen Staatswesen kann das „Klassenmonopol der Staatsverwaltung" durch übermäßige Ausbeutung den Bauernstand seiner Widerstandskraft gegen den Wucher berauben. Das war ζ. B. im zaristischen Rußland der Fall, wo eine verbrecherische Herrenklasse den Bauernstand auf der niedersten Stufe der Intelligenz und Wirtschaft zurückhielt, während sie ihn zugleich mit Steuern und Diensten überlastete, die ihrer Klassenpolitik allein dienten. In entwickelten kapitalistischen Verhältnissen aber, wo derartige Ausschreitungen nicht mehr bestehen, kann eine bäuerliche Bevölkerung als Totalität nur erschüttert werden durch die überall in gleichem Maße in die Erscheinung tretende Tatsache der Überschuldung des Bodens. Die Uberschuldung ihrerseits ist wieder nichts anderes als eine Folge der rechtlichen Bodensperrung. Wo sie nicht besteht, ist der, nicht durch ein Produktionsmonopol begünstigte, Boden freies Gut, wie Luft und Wasser, hat keinen Wert, und das Wertlose kann weder verkauft noch verschuldet werden. Wenn diese Folgerung, die uns keines Beweises bedürftig erscheint, dennoch einer Stütze bedürfen sollte, so mag Adam Smith sprechen. Er schreibt: „In Europa verhindern Erstgeburtsrecht und Fideikommisse aller Art die Zerteilung großer Landgüter und dadurch die Vermehrung der kleinen Grundbesitzer. [...] Diese Gesetze entziehen dem Markte so viel Land, daß stets mehr Kapitalien zum Kaufe da sind als Land zum Verkaufe, und letzteres mithin stets zu einem Monopolpreise verkauft wird." Und wenige Zeilen weiter: „Boden ist in Nordamerika beinahe umsonst [...] zu haben, ein in Europa wie in jedem Lande, wo der sämtliche Boden lange Zeit im Privatbesitz war, ganz unmögliches Vorkommnis. Vererbte sich Grundbesitz jedoch unter allen Kindern zu gleichen Teilen, so würde bei dem Tode jedes Eigentümers, der eine zahlreiche Familie hinterläßt, das Gut in der Regel verkauft werden. Es käme dann soviel Boden auf den Markt, daß er den Monopolpreis nicht länger behaupten könnte."
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Diese bisher von niemandem außer mir1 für die Theorie verwertete überaus wichtige Auslassung des Meisters enthält die richtige Auffassung über das Entstehen und die Wirkung der Grundrente gegenüber der unhaltbaren Ricardoschen Erklärung. Aber das eine ist festzuhalten, daß nur unter der Voraussetzung des gesellschaftlichen Klassenmonopolverhältnisses unbegünstigter Grund und Boden überhaupt „Gut", Wert, werden und daher verschuldet werden kann. Wo das Monopolverhältnis nicht besteht, hat er keinen Wert, und eine Verschuldung kann nur die mit dem Boden verbundenen, durch Arbeit beschafften Werte: Gebäude, Meliorationen, Inventar usw. erfassen. Wenn das aber der Fall ist, so ist der Krebsschaden, der heute allein den sonst geradezu wundersamen Aufschwung unserer Bauernschaften zurückhält, viele Einzelne zugrunde richtet und hier und da ganze Distrikte verwüstet, so ist die Uberschuldung als allgemeine Epidemie unmöglich. Die Uberschuldung entsteht - abgesehen von Not- und Luxusschulden, die nur Einzelne betreffen - immer beim Besitzwechsel der Grundstücke. Und zwar laboriert der Bauernstand alten Bestandes vor allem an der Erb- und Aussteuerverschuldung, der Großbesitz und der Neubauernstand an der Kaufverschuldung. In der politischen Ökonomie muß ein „bleibender Erbe", der einen Bauernhof im Werte von sage 80.000 Mark übernimmt, seinen - nehmen wir an, drei - Geschwistern, den „weichenden Erben", den Betrag von etwa 60.000 Mark herauszahlen oder hypothekarisch eintragen und keucht sein ganzes Leben unter der Last dieser furchtbaren Verschuldung, die oft genug selbst einen fleißigen und tüchtigen Mann zu Boden reißt: in Wilhelm v. Polenz' „Büttnerbauer" ist diese Tragödie des überschuldeten Großbauern in erschütternder Wahrheit dargestellt. In der reinen Ökonomie ist die Überlastung des bleibenden Erben mit Erb- und Aussteuerschulden undenkbar. Hier wird er zwar ebenfalls seinen Geschwistern ihren Anteil an dem Werte des väterlichen Erbes herauszuzahlen oder hypothekarisch zu sichern haben: aber dieser Wert wird ein viel kleinerer sein als heute, denn in ihn geht der „Monopolpreis des Bodens" selbst nur mit dem, wie wir zeigen werden, sehr kleinen Betrage ein, den die Kapitalisierung eines Produktionsmonopols ausmacht. Derselbe Hof wird hier, wo der Bodenwert nicht mitzählt, und nur Inventar, Gebäude und Melioration geschätzt werden, nur den Betrag von sage 20.000 Mark wert sein; die Anteile der Geschwister werden sich nur auf 15.000 Mark belaufen, und diese Last kann der Erbe leicht verzinsen und schnell tilgen. Die weichenden Erben aber stehen um nichts schlechter, wenn sie nur gleichfalls Bauern werden wollen: denn ihnen steht nach der Voraussetzung ungenütztes Land, wenn nicht im Inlande, so doch im Auslande unentgeltlich zur Verfügung, das sie mit ihrem Erbteil einrichten können. Nur dann, wenn sie als Gewerbetreibende oder Händler in die Städte übersiedeln, sind sie schlechter gestellt als heute - und das ist gut so! Denn heute saugt das als Hypothekenschuld abgespaltene Erbkapital die Landwirtschaft in verderblicher Weise aus und verzögert ihre Entfaltung und damit in letzter Linie auch die der Industrie und des Handels, die nur blühen können, wo jene blühen. Ganz das gleiche gilt von der Kaufverschuldung. Da, dank der Sperrung durch das Großgrundeigentum, nur so wenig Boden am Markte ist, muß jeder Landwirt, der sich neu ansiedelt, einen Preis auch für den nackten unbegünstigten Boden bezahlen. Daher die Kaufverschuldung unserer Neubauern und vor allem unserer Rittergüter, mit denen ein ungeheurer Schacher getrieben wird: „Nach Rodbertus sind im Laufe eines Menschenalters (1835-1864) auf je 100 Rittergüter in Schlesien 229 Besitzveränderungen erfolgt, in Posen 222, in Pommern 204, in der Neu- und
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Vgl. Oppenheimer, David Ricardos Grundrententheorie [siehe in der vorliegenden Edition, Bd. I, S. 469-613; A.d.R.].
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Kurmark 202 bzw. 151, also eine durchschnittliche Besitzdauer von 14-15 Jahren! Einschließlich Sachsens und Westfalens erlitten die von ihm gezählten 4.471 Rittergüter 23.654 Besitzveränderungen, darunter 6 1 % freiwillige Verkäufe, 3 3 % Vererbungen, 6 % notwendige Subluxationen."1 Daran hat sich seit seiner Zeit nichts geändert. Da in der Regel jeder freihändige Verkauf und jede Vererbung einen Zuwachs der Verschuldung bringt, so ist es kein Wunder, wenn unsere Großlandwirtschaft leidet. Das ist ja das Tragikomische an diesen Verhältnissen, daß die Landwirtschaft, verstanden als Beruf, unter nichts so schwer leidet als unter der „Landwirtschaft", verstanden als Großeigentum. Auch die Neubauern, d. h. die auf parzellierten Bauern- oder Rittergütern angesetzten kleinen und mittleren Landwirte, haben schwer mit der Uberschuldung durch Resthypotheken zu kämpfen, selbst wenn sie von öffentlichen oder gemeinnützigen Körperschaften (Ansiedlungskommission in Posen und Westpreußen, Ansiedlungsgesellschaften in Pommern und Ostpreußen) oder von anständigen Landbanken kolonisiert worden sind. Wenn sie aber skrupellosen „Güterschlächtern" in die Hände gefallen sind, dann kann, trotz aller Eigentumsfreude und Arbeitslust, der Landwucher und Viehwucher als epidemische Krankheit unter ihnen grassieren, die viele wirtschaftlich tötet. Auch hier ist also das Klassenmonopolverhältnis der einzig Schuldige. Mit diesen Betrachtungen sind wir dem Ziele des Verständnisses ein Stück näher gekommen. Aber täuschen wir uns nicht über die Tragweite des Erreichten! Noch haben wir das große Problem der Güterverteilung, das Kernproblem der Ökonomik, kaum erst berührt. Wir wissen vorläufig nicht mehr, als daß unter den Bedingungen des „Klassenmonopolverhältnisses" Mehrwert möglich, sogar wahrscheinlich, vielleicht sogar unvermeidlich ist. Aber wir wissen noch nicht, ob er nicht vielleicht auch noch aus anderen Wurzeln wächst. Ob unsere Erklärung völlig genügt, werden wir erst beurteilen können, wenn wir die Höbe der einzelnen Anteile, die von Grundrente, Profit und Lohn beansprucht werden, allein aus ihr, ohne Hilfshypothesen, in Ubereinstimmung mit den Tatsachen, abzuleiten imstande sein werden. Dieser Untersuchung, dem Kernproblem unserer Wissenschaft, wenden wir uns nunmehr zu.
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[Ohne Quellenangabe. Sering, Innere Kolonisation im östlichen Deutschland, Leipzig 1893; A.d.R.]
Dritter Abschnitt: Die Statik der Marktwirtschaft I. Das Problem Der Gesamtertrag einer Wirtschaftsgesellschaft an genußreifen „letzten" Wertdingen (Verwendungsgüter und Verwendungsdienste in meiner Terminologie) verteilt sich, wie uns die Beobachtung zeigt, in jeweilig bestimmten Verhältnissen zwischen drei Klassen von Produzenten: die Arbeiter erhalten im Lohn, die Kapitalisten im Profit oder Zins, die Grundeigentümer in der Grundrente ihre Anweisung auf den durch die gesellschaftliche Kooperation geschaffenen Vorrat jener letzten Wertdinge. Diese Klasseneinkommen setzen sich offenbar zusammen aus der Addition gewisser Preise: der Lohn aus dem Preise der geleisteten Dienste; Profit und Zins aus dem Preise der Kapitalnutzungen, realisiert unmittelbar als Zins, oder mittelbar als Gewinn am Preise der verkauften Produkte als Profit; und die Grundrente aus dem Preise der Bodennutzungen, realisiert unmittelbar als Miete oder Pacht, oder mittelbar als Gewinn am Preise der verkauften Urprodukte. Daraus ergibt sich, daß das Problem der sogenannten „Zurechnung" ein Preis- respektive Wertproblem ist.1 Wieviel vom Preise respektive Werte eines Produktes, an dessen Herstellung zum Markte Arbeit, Kapital und Boden kooperiert haben, ist jedem dieser „Produktionsfaktoren" zuzurechnen? Das ist das wissenschaftlich streng gestellte Problem der Distribution. U n d zwar ist es offenbar für das Verständnis des Prozesses ohne Belang, wie sich der laufende Preis dieser drei Produkte: Arbeit, Kapitalnutzung und Bodennutzung sozusagen zufällig auf einem einmaligen Markte einstellt. Sondern, wir wollen das Gesetz kennen lernen, das im Mittel und im Durchschnitt diese Preise, als statische Preise, bestimmt. U n d dieses Problem zerfällt wieder in zwei bisher kaum jemals unterschiedene Teilprobleme. Das erste ist das Problem der eigentlichen Statik. Sie erfaßt einen zeitlosen und daher veränderungsfreien Idealdurchschnitt des Marktzusammenhanges, das „dynamische Gleichgewicht" einer als unveränderlich gedachten Wirtschaftsgesellschaft. Das zweite ist das Problem der komparativen Statik. Sie beobachtet, ebenfalls unter völliger Vernachlässigung der laufenden Preise und ihrer Schwankungen, die Eigenbewegung der Mittelpreise in einer an Volkszahl und Kooperationsstaffel wachsenden Wirtschaftsgesellschaft, um die „ Tendenz der Bewegung" zu erforschen, d. h. festzustellen, ob und wie das Verhältnis wechselt, in dem Arbeit, Kapital und Boden an dem statischen Preise des Gesamtproduktes Anteil nehmen dürfen. Das ist das höchste und wichtigste Problem, dasjenige, dem ein Ricardo, ein Carey, ein Marx, ein Lorenz Stein vor allem nachgegangen sind. Von ihm hängt die Prognose der gesellschaftlichen Entwicklung ab.2 U m uns an einem Bilde zu orientieren, so sucht die eigentliche Statik das Normalniveau der Preise zu bestimmen, wie die Ozeanographie das Normalniveau, das dynamische Gleichgewicht der Meeresflächen. Wie wir nicht eher die Höhe der Gezeiten und der Windwellen und etwa die Höhe der Böschung messen können, mit der der Ozean schon in der Ruhelage aus der Kugelfläche an den
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Nach Böhm-Bawerk hat Menger zuerst „das Zinsproblem endgültig aus einem Produktionsproblem, das es nicht ist, übergeführt in ein Wertproblem, das es in der Tat ist". Diese methodologischen Begriffe der Statik, Kinetik und komparativen Statik sind in: Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. I: Allgemeine Soziologie, S. 71ff. ausführlich entwickelt worden.
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Abschnitt
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Kontinenten emporsteigt, deren gewaltige Massen das Wasser nach dem Gesetz der Gravitation anund emporziehen, bevor wir das Normalniveau nicht festgelegt haben: also können wir die Höhe der einzelnen Preisschwankungen des laufenden Preises um den statischen, und die Höhe des statischen Monopolpreises über dem statischen Konkurrenzpreise nicht eher messen, ehe wir nicht diesen letzteren, das Normalniveau, festgelegt haben. Und das gerade ist unsere Aufgabe. Die komparative Statik aber sucht zu bestimmen, ob, wie und in welchen Zeiten das Normalniveau an bestimmten Küsten oder etwa auf dem Planeten im ganzen sich gesenkt oder gehoben hat, um daraus Schlüsse auf die Tendenz der Entwicklung in die Zukunft hinein zu ziehen. Das sind die beiden Probleme, denen die Preislehre vor allem zu dienen hat.
a. Der Lösungsversuch der subjektivistischen Schule Daß alle ökonomische Theorie von der Statik auszugehen hat, hat Schumpeter sehr hübsch aufgezeigt. Er vergleicht mit einem wahrscheinlich Bergsons „Schöpferische Entwicklung" entnommenen Bilde die statische Methode mit der Momentphotographie, „deren Zweck eben ist, uns einen Zustand der Ruhe vor Augen zu stellen; wenn wir auch dann diesen Bann lösen und einen Teil des Bildes beleben, so halten wir doch für einen anderen - und den weitaus größeren - jenen Ruhestand fest. [...] Sind nun alle diese Annahmen, welche jedem unserer Sätze anhaften, nur Redensarten, die man ebensogut auch weglassen könnte? Die Antwort lautet natürlich verneinend. Wir gehen nicht aus Laune oder Willkür so vor, sondern einfach, weil wir nicht anders können. Und nicht nur wir können nicht anders verfahren, sondern jeder Theoretiker im engeren Sinne ist in dieser Lage, mag er es anerkennen oder nicht. [...] Niemand, der ein rein theoretisches Thema behandelt, kann sich diesen Festsetzungen entziehen, welche freilich nur selten ausdrücklich formuliert werden. Aber sie liegen ja schon dann vor, wenn jemand ohne weiteres im Laufe seines Gedankenganges von dem ,vorhandenen Lande', ,Kapital' usw. spricht oder irgendwelche Momente mittelst des ,ceteris paribus' ausschaltet. Dieses letztere Hilfsmittel - ich möchte es das Motto der Isoliermethode nennen - ist allerdings unentbehrlich, nicht nur für uns, sondern für jede Disziplin, gerade wie auch die Isoliermethode selbst." 1 Wir stimmen ebenfalls durchaus überein, wenn Schumpeter die Geschichte der nationalökonomischen Theorie unter diesem Gesichtspunkt darstellt. In der Tat ist alle gute Theorie bisher essentiell statisch gewesen. „Die Physiokraten griffen direkt und unmittelbar nach der großen Tatsache des wirtschaftlichen Kreislaufs. [...] Den Kreislauf schildern heißt aber ipso facto die statische Wirtschaft schildern beschreiben wie irgendwelche, aber stets gegebene Produktivkräfte ihren gewohnten Weg nach ihrer Bestimmung zurücklegen." 2 Auch bei Smith ist „überall dort, wo sein Gedankengang festes Gefüge zeigt, seine Beobachtungsweise essentiell statisch" 3 .
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Schumpeter, Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, S. 177. [Ebenda, ohne Seitenangabe; A.d.R.] Derselbe, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, München/Leipzig 1912, S. 93.
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
„Sein natürlicher Wert und natürlicher Preis ist statischer Wert und statischer Preis. [...] Noch viel klarer aber wird es bei den späteren Autoren, daß der Kern der Theoretik eine Statik der Wirtschaft ist, so vor allem bei Ricardo [...] In dieser abstrakten Präzisierung gewisser Prinzipien liegt die Leistung Ricardos [...] Wenn überhaupt, so kann die in den Gütern enthaltene Arbeitsmenge ihren Tauschwert nur im Gleichgewichtszustände der Konkurrenz bestimmen, und auf die Erfassung dieses Zustandes ist seine ganze Betrachtungsweise eingestellt. Nur durch Datenveränderung wird er gestört, nur seine Reaktion auf Datenänderungen wird unter dem Begriff des .progress' erfaßt."1 „Ricardos Epigonen von James Mill bis Cairnes und Nicholson haben [...] in der Ausarbeitung der von ihm überkommenen Prinzipien, also der ökonomischen Statik, ihr Arbeitsfeld gefunden [...] Bei dieser Ausarbeitung trat die Erkenntnis vom statischen Charakter des ökonomischen Lehrgebäudes immer bewußter hervor. Den größten Dienst hat der Auffassung [...] John Stuart Mill geleistet, indem er die entscheidenden Sätze aussprach: 'The three preceding parts include as detailed a view as our limits permit, of what [...] has been called the Statics of the subject. We have surveyed the field of economic facts, and have examined how they stand related to one another as causes and e f f e c t s [...] We have thus obtained a collective view of the economical phenomena - considered as existing simultaneously. We have ascertained the principles of their interdependence: and when the state of some of the elements is known, we should now be able to infer [...] the contemporaneous state of most of the others. All this, however, has only put us in possession of the economical laws of a stational and unchanging society. We have still to consider the economical condition of mankind as liable to change [...] thereby adding a theory of motion to our theory of equilibrium - the Dynamics of political economy to the Statics.,2"3 Schumpeter fügt hinzu: „Klar also, daß nicht ich erst etwa in die klassische Theorie hineinlege, was ihrem Wesen fremd ist."4 Er fährt auf der nächsten Seite fort: „Die große Reform der Theorie durch die subjektive Wertlehre ließ den statischen Charakter des Lehrgebäudes unberührt [...] keine Darstellung ist ,statischer' als die Léon Walras' [...]. Die Autoren der österreichischen Schule legen formell kaum Gewicht auf das, was wir den statischen Charakter der Theorie nennen, aber auch sie schildern natürlich nichts anderes als den Kreislauf der Wirtschaft. Formell wird darauf in Amerika viel Gewicht gelegt, nach dem Vorgang Prof. J. B. Clarks. Dieser Autor hat einen wesentlichen Schritt über den erwähnten Standpunkt Mills hinausgetan und den statischen Zustand sorgfältig definiert und die Bedingungen seines Eintretens untersucht, so daß man die bewußte Scheidung von Statik und Dynamik wohl vor allem an seinen Namen knüpfen muß [...] Diese Ubersicht wird dem Leser gezeigt haben, daß unsere Auffassung keineswegs so sehr abseits vom Wege liegt [...] nur über die Grenzen und einzelnen Merkmale der Statik kann heute noch ein ernstlicher Zweifel bestehen."5
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Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, S. 94f. [Zitat im Zitat: Mill, Principles of Political Economy, IV. Buch, Kap. 1, im Original nicht kursiv; A.d.R.]. [Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, ohne Seitenangabe] Mill hat diese methodische Einstellung von dem von ihm hoch verehrten Auguste Comte übernommen, dem sie als Mathematiker und Physiker gelaufig war. Ein anderer großer Mathematiker, der sich mit ökonomischen Problemen beschäftigt hat, Cournot, schreibt (Principes de la théorie des richesses, Paris 1838, S. 139): „On se trompe si l'on considère le principe de la liberté économique comme un théorème établi scientifiquement. Ce qui reste vrai c'est qu'il est un postulat nécessaire à l'établissement de la science économique."
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Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, S. 99. Ebenda, S. 100.
Das Kapital: Dritter Abschnitt
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Wir gehen auch dort noch ohne Widerspruch mit, wo Schumpeter die Methode, so weit sie in der theoretischen Nationalökonomie angewendet werden soll, näher folgendermaßen bestimmt: „Im statischen Zustand müssen wir die Wertfunktionen als konstant annehmen, denn sie sind notwendige Daten unserer Probleme. Keine Überraschung, kein Fortschritt zu neuen Produktionen darf stattfinden, da das unser System von Grund auf ändern würde. Alle Produktionen müssen genau so und mit genau dem Erfolge vor sich gehen, den man voraussah, und alle Produktions- und Konsumtionskombinationen müssen ein für alle Mal fixiert sein. Sie spiegeln sich in den Wertfunktionen wider, auf denen unsere Resultate beruhen, ebenso wie alle Tatsachen der Bedürfnisse, Anlagen, der umgebenden Natur usw. Fügen wir noch hinzu, daß auch alle Tauschakte vorher gesehen, und das System der Wertfunktionen nach ihnen adjustiert sein muß, so ist alles gesagt."1 Wir stimmen schließlich mit Schumpeter insoweit überein, wie er diesen Zustand ohne Veränderung, diese Statik, folgendermaßen als einen Zustand des Gleichgewichts bestimmt: „Den Gleichgewichtszustand der ökonomischen Quantitäten zu beschreiben - und gewisse Variationen desselben - ist das Problem der Ökonomie. Alle Tauschakte tendieren danach, ihn zu realisieren, in dem keine Veränderung der Quantitäten mehr erfolgt, der sich daher zu erhalten strebt, und deshalb besonders interessant ist. Und in diesem Zustande, in dem die Tauschakte aufhören, müssen uns unsere Funktionen, welche eben die Beschreibung der Veränderungen zum alleinigen Zweck haben, für weitere Veränderungen die Größe Null ergeben. Dadurch ist der Gleichgewichtszustand definiert und deshalb heißt es so. Und die Differentialrechnung lehrt uns, daß an dieser Stelle, an der gewisse Differentialquotienten, welche eben das Maß der Veränderungen darstellen, gleich der Null sind, verschwinden, gewisse Funktionen - das sind in unserem Falle die Wertfunktionen - einen Maximalwert annehmen. Das ist eine Tatsache, die von jeder Interpretation dieser Funktionen unabhängig ist: Das Aufhören weiterer Tauschakte, d. h. Veränderungen in den ökonomischen Quantitäten, und das Maximumwerden der Funktionen ist gleichbedeutend, und der Gleichgewichtszustand kann ebenso durch das erstere, wie durch das letztere Moment charakterisiert werden. Im ersteren Falle können wir ihn als den Ruhezustand, im letzteren als den Maximumzustand bezeichnen: beide Ausdrücke besagen dasselbe, sind synonym. Das ist unser Prinzip-, alles weitere dient nur seiner Erläuterung. Der exakte Inhalt des Maximumtheorems, der Kern alles dessen, was über dieses viel umstrittene Problem jemals gesagt wurde, ist also nichts anderes als dieser Satz: Im Gleichgewichtszustande liegt keine Tendenz zu weiteren Veränderungen vor. Und die Rolle, die dieser Satz spielt in der Theorie, ist lediglich die, den Gleichgewichtszustand, also das, was zu untersuchen unsere Hauptaufgabe ist, zu definieren und sodann, uns zur Feststellung jenes Preises zu helfen, welcher bestehen muß, wenn Gleichgewicht herrschen soll."2 So erfreulich nun auch immer diese Übereinstimmung im grundsätzlichen ist: angebrachtermaßen müssen wir starke Bedenken anmelden. Schumpeter bleibt nämlich bei der genaueren Bestimmung des Gleichgewichtszustandes gänzlich oder doch fast gänzlich im Personalökonomischen stecken, in der Betrachtung der Wirtschaft der einzelnen ökonomischen Person. Als Ausgangspunkt ist das ja durchaus richtig. Die alte Theorie hat sich um die Statik der Personalwirtschaft fast gar nicht gekümmert. Sie begnügt sich damit, die personalökonomischen Daten als gegeben hinzunehmen, indem sie sagt, daß „Angebot und Nach-
1 Schumpeter, Wesen und Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, S. 255. 2 Ebenda, S. 198f., vgl. auch S. 203.
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frage" als konstant angenommen seien. Hier hat Hermann Gossen 1 uns in der Tat viel weiter gebracht, indem er uns zeigte, wie jede einzelne ökonomische Person danach strebt, ihre Versorgung mit Wertdingen niederer Ordnung derart einzurichten, daß, soweit wie das überhaupt möglich ist, also bei allen teilbaren „Vorräten", alle Grenznutzen gleich groß sind - und andererseits ihre Erwerbsarbeit so weit zu spannen, bis die „disutility" der letzten Minute so groß geworden ist, wie die „utility" des letzten Zuwachses. Damit war die personalökonomische Grundlegung des Problems breit und tief verankert. Auch hier können wir nichts besseres tun, als Schumpeters meisterhafte und, wie wir glauben, endgültige Formulierung anzunehmen: „Ein Gürtel von Gleichungen begrenzt den wirtschaftlichen Machtbereich des Individuums. Man kann sich denselben als einen Kreis vorstellen, in dessen Mitte das letztere steht, und auf dessen Peripherie die Grenzpunkte des Güterwertes liegen. Sie alle stehen dem Individuum gewissermaßen gleich nahe. Psychologisch gesprochen, alle Grenzmengen sind, in demselben Maße ausgedrückt, ihm gleichviel wert, so daß er keine derselben für einen gleich großen Zuwachs an einem anderen Gute aufzugeben geneigt wäre, wie immer sich sein wirtschaftliches Handeln sonst gestalten mag. Und das - und nur das - besagt die Redensart, daß das Individuum im Gleichgewichtszustande ein Maximum der Bedürfnisbefriedigung erreiche." 2 Das ist, wie schon zugestanden, bester Gossen und an sich untadelig. Aber der Ubergang von hier zum Überindividuellen, zum Marktwirtschaftlichen, zur Nationalökonomik, ist keinem Grenznutzentheoretiker geglückt - wie er nach meiner Meinung niemals glücken kann. Auch Schumpeter trägt hier schwer an der Erbschaft der Schule, der er entstammt, und die er doch nicht so weit abgestreift hat, wie er glaubt. Was als Brücke in das Nationalökonomische hinübergeschlagen werden soll, reicht nicht hin. „Das soziale Wert- und Preissystem zentriert in einem bestimmten Zustande, in einem bestimmten Mengenverhältnis aller Güter bei den einzelnen Wirtschaftssubjekten. Wie die individuellen Wertsysteme zum sozialen, so verhalten sich die individuellen Gleichgewichtszustände zum sozialen. Dieses soziale Gleichgewicht ist der ideale Zustand, in dem die wesentlichsten Tendenzen der Volkswirtschaft soweit zum reinsten, vollkommsten Ausdruck kommen. Bedürfnisse, in Beziehung gesetzt zu einer bestimmten physischen und sozialen Umwelt, halten sich in ihm die Wa[a]ge."3 Wie rein personalökonomisch das gemeint ist, geht nicht nur daraus hervor, daß von der entscheidenden Wahrheit, der Tendenz auf die Gleichheit der Einkommen, nirgend auch nur eine Andeutung sich findet, nirgend auch nur eine Ahnung besteht, sondern auch aus dem klaren Wortlaut vieler Sätze. „Das einzelne Wirtschaftssubjekt [...] wird so lange verschiedene Tauschmöglichkeiten erproben, bis es schließlich zu derjenigen sich durchgetastet hat, die von seinem Standpunkt aus das beste Resultat gibt. Im konkreten Fall mag dies anders sein, aber im Prinzip ist es sicher so. Dann wird
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Gossen, Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln, Braunschweig 1854. Schumpeter, Wesen und Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, S. 132. Wir haben diese personalökonomische Statik in unserem Lehrbuch (Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. ΙΠ: Theorie der reinen und politischen Ökonomie, 1. Teilbd., S. 115) entwickelt und in dreifacher Gestalt graphisch dargestellt. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, S. 86.
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er seine Wirtschaft danach einrichten und immer dieselben Tauschmöglichkeiten aufzusuchen streben." 1 Die Statik besteht dann, wenn „sich Arten - und Qualitäten - sowie die Verwendungsarten der Güter gar nicht ändern", und wenn „jene häufigsten Mengen derselben sich tatsächlich immer und genau so herausstellen, daß keine Tendenz zu Änderungen besteht". 2 Von hier aus versucht er dann, die Statik der Marktwirtschaft abzuleiten, bleibt aber völlig im Personalökonomischen stecken, wenn er von den in die Marktwirtschaft verflochtenen, in meinem Ausdruck „abhängigen" Wirtschaftspersonen schreibt: „Immer hängen die Grenzpunkte des Gütererwerbs eines Individuums von einander ab; nur kommt im zweiten Falle noch hinzu, daß sie auch von den analogen Grenzpunkten des Gütererwerbes aller anderen Individuen abhängen. So kann man denn ohne weiteres weitergehen und auch für die Volkswirtschaft ein eindeutiges bestimmtes Grenznutzenniveau annehmen. A m einfachsten macht man sich das Bestehen eines solchen klar, wenn man die Volkswirtschaft als ein Wirtschaftssubjekt betrachtet - John Bull & Co. z. B. - und sich dieselbe mittels einer repräsentativen Firma versinnlicht nach dem Vorgange A. Marshalls." 3 Daß das nicht ausreicht, fühlt Schumpeter selbst, indem er unmittelbar anschließend fortfährt: „Allein dieses Bild ist inadäquat und verdeckt die wesentlichen Charakterzüge der Verkehrswirtschaft; nur für die geschlossene', verkehrslose Wirtschaft paßt es ganz. Für die erstere kann die Konstruktion nur ein präliminares Bild geben; [...] aber sonst spricht man besser von einem System von Grenznutzenniveaus in der Volkswirtschaft." 4 Dennoch - er kommt eben von hier aus doch nicht weiter, als bis zur Addition der personalökonomischen Daten. Es ist aber gerade die Aufgabe der Nationalökonomik, die Statik der Marktwirtschaft an sich, ohne Rücksicht auf die hier als gegebenes Datum in den Voraussetzungen stehende Bedarfsdeckung der Personalwirtschaften zu untersuchen, als einen Mechanismus, der zwar von ihnen aus seine bewegende Kraft erhält und nur ihnen, ihrer Bedarfsdeckung nach dem Grenznutzen, dient, aber diesen Dienst eben nur durch eine Organisation leisten kann, auf deren Beschreibung und Verständnis es gerade ankommt. Wenn ein Bild gestattet ist: es ist natürlich wahr, daß das Licht und die Kraft, die ein von einer Wasserturbine getriebener Dynamo erzeugt, nichts anderes sind als die mechanische Arbeit des fallenden Wassers: aber die Umwandlung der Kraft fordert doch wohl eine genauere Beschreibung der Einrichtung und der Arbeit der Dynamomaschine? Das hat Schumpeter verfehlt; darum hat er zwar auf die eigentlich nationalökonomischen Fragen keine grundsätzlich falsche Antwort gegeben, wie seine klassischen und nachklassischen Vorgänger, die die Statik des Marktes unrichtig oder unvollständig beschreiben und erklären - aber darum hat er auch darauf verzichten müssen, auf sehr viele und sehr bedeutsame Fragen überhaupt eine Antwort zu geben. Sein ganzes erstes Hauptwerk ist voll von Resignation, und zum Glück von einer falsch angebrachten Resignation. Man kann sehr viel weiter kommen, wenn man die Statik nicht nur personalökonomisch, sondern eben auch nationalökonomisch so bestimmt, wie es uns gelungen ist. ]a, man kann bis zum Ende aller wahrhaft interessanten Probleme, bis zur vollen Lösung kommen.
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Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, S. 62, vgl. auch S. 13. Derselbe, Wesen und Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, S. 128. [Ohne Quellenverweis; A.d.R.] [Ohne Quellenverweis; A.d.R.]
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Hier vor allem enthüllt sich der grundsätzliche Mangel der Grenznutzenlehre mit schonungsloser Deutlichkeit. Sie geht immer von einem gegebenen Vorrat oder wenigstens von einer gegebenen „Aufwendungsmöglichkeit" („Istbudget") aus. Wenn dieses als gegeben gilt, so ist es leicht, nach Gossens Gesetzen das „Sollbudget", die „Wertskala des Bedarfs" aufzustellen. Aber das Istbudget ist nur in Ausnahmefällen gegeben, und die Grenznutzenschule hat mit ihrer kaum schon personalökonomischen, eigentlich noch rein psychologischen Betrachtungsweise keine Möglichkeit, es zu bestimmen. Das ist nur möglich durch die „nationalökonomische", vom Ganzen der Gesellschaft ausgehende Auffassung. Von ihr aus bestimmt sich das Istbudget jedes Gesellschaftsgliedes in der Statik auf das einfachste derart, wie wir das im ersten Kapitel entwickelt haben: als das für alle tendenziell gleiche Einkommen, das nur insofern verschieden ist, wie Unterschiede der Qualifikation und der Stellung zu Monopolverhältnissen die volle Gleichheit verhindern. Damit haben wir den Rahmen gewonnen, innerhalb dessen sich der Wirt nach der Grenzwertschätzung sein Sollbudget aufstellt, und erst damit die Möglichkeit des Verständnisses für den Prozeß als ganzen. Das führt zu zwei wichtigen Schlüssen. Erstens: es ist nicht nur angebrachtermaßen, sondern grundsätzlich unmöglich, die Statik der Marktwirtschaft aus einer Kombination der sämtlichen Personalwirtschaften zu entwickeln, wie Schumpeter es versucht; und zweitens: auch hier zeigt sich wieder, daß die Probleme der Ökonomik nur mit der soziologischen Methode der integralen, vom Ganzen der Gesellschaft ausgehenden Betrachtungsweise angefaßt werden können. Wenn man derart vorgeht, zeigt sich sofort, daß kein Grund vorhanden ist, gleich Schumpeter so überaus skeptisch in bezug auf die Möglichkeit streng wissenschaftlicher Erklärung der marktwirtschaftlichen Erscheinungen zu sein. Auch die Statik der Marktwirtschaft läßt sich durch einen Gürtel von Gleichungen eindeutig und exakt bestimmen, als ein Gleichgewichtszustand, in dem „keine Tendenz zu weiteren Veränderungen vorliegt"; in dem die Gesellschaft als Ganzes „das Maximum der Bedürfnisbefriedigung erreicht", wo „gewisse Differentialquotienten verschwinden und gewisse Funktionen einen Maximalwert annehmen". U m diesen Gleichgewichtszustand zu finden, dazu gehörte allerdings weniger die Beschäftigung mit methodologischen, psychologischen und höhermathematischen, als mit spezifisch nationalökonomischen Dingen - und das war immer die schwache Seite der Grenznutzentheoretiker. Sie sind individualistisch-atomistisch: den marktwirtschaftlichen Prozeß als Ganzes, integral, aufzufassen, war von ihrem Ausgangspunkt aus wohl sehr schwierig, fast unmöglich. 1
b. Die objektivistische Lösung 1. Die
Daten
Geht man aber vom Ganzen statt vom Individuum aus, so erkennt man ohne weiteres, daß die Marktwirtschaft gerade so auf einen eindeutig bestimmten Gleichgewichtszustand hin tendiert, wie die Personalwirtschaft auf den ihren. Aus dieser Erkenntnis ergeben sich eine große Anzahl neuer
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Carl Menger (Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Wien 1872, S. 240) begnügt sich mit der ganz leeren Formel von „dem der allgemeinen ökonomischen Sachlage entsprechenden Preise". Was das für ein Preis ist, dafür fehlt jede Andeutung, die M. auch nicht geben konnte, weil er die Brücke zur Kostenwerttheorie nicht geschlagen hatte. Das taten erst seine Schüler, freilich auf Kosten der Logik, wie wir nachgewiesen haben; aber sie machten doch dadurch eine Theorie möglich. Vgl. auch v. Wieser, Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft, S. 272, wo er ohne weitere Bestimmung von einem „im Ruhezustand befindlichen Markt" spricht. Auf Seite 164f. entwickelt v. Wieser Anschauungen über die statische Betrachtung seiner Vorgänger, die nichts als Mißverständnisse sind.
Das Kapital: Dritter Abschnitt
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Gleichungen, genau soviel Gleichungen, wie wir Unbekannte haben,1 und zwar Gleichungen, die das Problem des statischen Preises vollkommen lösen, ohne daß es nötig wäre, noch wieder auf psychologische, subjektive Wertempfindungen und -Schätzungen zurückzugreifen. Sie ergeben einen Gleichgewichtszustand, der durchaus von objektiven Kräften beherrscht wird und zu einer rein objektiven nationalökonomischen Wertlehre führt. Wenn wir nun unsererseits den Zustand der Statik genau darstellen sollen, so dürfen wir uns bei der Statik der Personalökonomie kurz fassen, da wir uns in allem wesentlichen Schumpeters erschöpfende Darstellung zu eigen machen können. Nur einige Zufügungen, die aber durchaus im Geiste seiner eigenen Auffassung sind. Wir sind durchaus nicht darauf angewiesen, „bloß die streng wirtschaftlichen Erscheinungen zu erklären, in unseren besonderen Fällen diejenige Preisbildung, wo beide Teile den größten möglichen Tauschvorteil erstreben" 2 : „Unsere Theorie ist" durchaus nicht „nur unter der Voraussetzung richtig, daß Käufer und Verkäufer bloß von wirtschaftlichen Erwägungen geleitet werden"; gilt also nicht „nur für große, wohlorganisierte Märkte, auf denen Kaufen und Verkaufen als Geschäft betrieben wird" 5 . Es stört uns nicht, daß „in den meisten Tauschfällen die Käufer, wenn auch nicht den größten möglichen, so doch einen Tauschvorteil zu machen beabsichtigen und von der striktesten Verfolgung ihres Interesses absehen, weil sie dazu entweder keine Zeit finden, oder weil es ihnen nicht der Mühe wert erscheint, oder weil es nicht für richtig gehalten wird, zu feilschen usw." 4 Das alles läßt sich „in die Nachfragefunktion aufnehmen", wie Schumpeter einmal richtig bemerkt, 5 und unter der Rubrik „Qualifikation" ohne Fehler verbuchen. Wer im Preiskampf als Käufer von Verwendungsgütern aus irgendwelchen Gründen vor Erreichung des höchsten Vorteils kapituliert, ist in diesem Betracht eben minder qualifiziert und büßt es an seinem Realeinkommen, da sein Geldeinkommen sich in weniger Gütern realisiert. Und so stören uns auch nicht solche Preise, die nicht durch die Konkurrenz, sondern durch Festsetzung, als Tax- oder Tarifpreise zustande kommen, wie z. B. Steuern und Gebühren, die der Staat erhebt, Monopolpreise, die wieder der Staat als Inhaber eines Verkaufsmonopols (Salz, Tabak, Eisenbahntarife usw.) oder eines Ankaufsmonopols (Sold der Soldaten, Schöffen, Abgeordneten usw.) bestimmt; oder die Preise, die ein Privatmonopolist, z. B. ein Trust, festsetzt. Wir haben sie nicht zu erklären, sondern sie nur als Daten in unser System aufzunehmen, und zwar als, solange die Beobachtung dauert, konstante Daten. Der Staat darf der Voraussetzung nach seine Steuer- und Preispolitik nicht ändern, ebensowenig der Trust, dessen Preispolitik so beschaffen sein muß, daß ihm kein Outsider Konkurrenz machen will; Taxen und Gebühren sind gleichfalls als konstant anzusetzen. Unter diesen Voraussetzungen sind Angebot und Nachfrage ebenfalls konstantes Datum der Untersuchung, und mehr brauchen wir nicht. Was nun die Statik der Marktwirtschaft anlangt, so verstehen wir darunter die Wirtschaft einer entfalteten, d. h. um ihren Markt zentrierten Wirtschaftsgesellschaft, die in ihrem Gleichgewichtszustande funktioniert. Also nicht einen Zustand der Ruhe, sondern einen Zustand der Bewegung, der vollen Funktion, den aber während der Beobachtungszeit keine einzige „Störung" durch Veränderung der gegebenen Daten trifft. Man hat die Statik unzählige Male mit einer im dynamischen Gleichgewicht ruhenden Wassermasse verglichen, deren Oberfläche daher einen vollkommenen
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Damit ist dann das Problem „eindeutig bestimmt". Vgl. Schumpeter, Wesen und Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, S. 261f. Bisher aber scheiterte jeder Versuch der Lösung des Problems daran, daß immer eine Unbekannte mehr vorhanden war als Gleichungen. Zuckerkandl, Zur Theorie des Preises, S. 2, vgl. auch S. 297. Ebenda, S. 43. Ebenda, S. 308. Schumpeter, Wesen und Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, S. 271.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
Spiegel, eine vollkommene Kugelfläche darstellt. Clark, der das Bild akzeptiert, paßt es mit einer sehr geschickten Wendung besser dem an, was die Ökonomik braucht, indem er sagt, die Masse sei nicht gefroren, sondern durchaus flüssig. Das Bild hinkt noch immer, weil eine Wasserfläche im dynamischen Gleichgewicht eben ruht: ein besseres Bild wäre das dynamische Gleichgewicht der Himmelskörper, die sich zwar regelmäßig bewegen, aber dennoch, solange unsere Beobachtung reicht, keine Veränderung der gegenseitigen Lage erlitten haben, die nicht im voraus zu berechnen gewesen wäre. Ein noch besseres Bild bietet das Eisenbahnsystem eines Landes. Die Statik ist der dem Fahrplan entsprechende Verkehr der Züge, jede Abweichung von ihm gehört als „Störung" unter Kinetik. Wenn man zwei Fahrpläne aus verschiedenen Zeiten miteinander vergleicht, hat man die „komparative Statik", bei der gleichfalls von allen Störungen abgesehen wird. Dieser Gleichgewichtszustand, die „Statik" des Marktes, ist selbstverständlich in der Realität unmöglich. Hier, selbst in einer von den Störungen durch das politische Mittel frei gedachten Gesellschaft, sind Störungen anderer Art unausbleiblich. Das Land trägt nicht alle Jahre exakt die gleiche Masse von Nahrungsmitteln; dadurch treten Verschiebungen aller Preisrelationen ein. Und ferner können wir uns eine gesunde Wirtschaftsgesellschaft nur schwer ohne wachsende Bevölkerung denken. Wo aber die Bevölkerung wächst, wächst auch der Grad der Kooperation, und verschieben sich ebenfalls alle Preisrelationen gegeneinander. Aus diesen und anderen Gründen kann in einer realen Gesellschaftswirtschaft nur zufällig einmal für kurze Zeit der Marktpreis einer Ware mit ihrem statischen Preis zusammenfallen. Die Regel ist im Gegenteil, daß sie voneinander abweichen. So ist also auch unsere Statik der Marktwirtschaft, wie jede andere Statik, eine irreale Konstruktion; aber sie ist, wie gezeigt, für alle wissenschaftlichen Zwecke unentbehrlich. Jede Erklärung irgendeines Prozesses muß von der „Fiktion" im Sinne der Vaihingerschen „Philosophie des Als-Ob" ausgehen, daß der Prozeß, der als solcher immer nur die Tendenz hat, sich in den Zustand des Kräftegleichgewichts zu stellen, diesen Zustand wirklich erreicht habe. Nur darf man nie vergessen, daß eine solche Fiktion ihrem Wesen nach niemals „verifiziert", sondern nur als „heuristisches Prinzip" durch ihren theoretischen Erfolg „justifiziert" werden kann. Die „gegebenen Daten" sind: die Anzahl, die ethische Haltung, die Geschmacksrichtung und die soziale Lage der Bevölkerung, daher der Kollektivbedarf, daher die Staffel der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und -Vereinigung, daher die Konstanz der Produktion von Wertdingen niederer Ordnung und ihrer Verteilung. In jeder statischen Gesellschaft muß Geburt und Tod sich im ganzen und zwar derart ausgleichen, daß der Altersaufbau und die Geschlechtszusammensetzung der Bevölkerung exakt die gleichen bleiben. In einer kapitalistischen Verkehrsgesellschaft muß außerdem noch jeder durch Tod oder Alter oder Krankheit usw. ausscheidende Kapitalist, Grundrentner und Arbeiter momentan durch einen anderen seiner Klasse ersetzt werden: nur unter dieser Bedingung kann Produktion und Distribution als unveränderlich gedacht werden. Neues Land wird nicht geurbart, neues privatwirtschaftliches Kapital wird nicht akkumuliert, sondern wechselt nur allenfalls seinen Besitzer; neue Werkgüter („volkswirtschaftliches Kapital") werden nur in genau dem Maße ihres „faktischen" Verschleißes erzeugt: von „moralischem Verschleiß" kann hier keine Rede sein, da neue Erfindungen nicht gemacht und jedenfalls nicht in neuen technischen Veranstaltungen ausgenützt werden. Unter diesen Voraussetzungen gibt es nur „gesellschaftlich notwendige Arbeit" und ebenfalls nur „gesellschaftlich durchschnittliche Arbeit"; all das ist in der - als Datum eingesetzten! - Qualifikation einbegriffen. Und daher steht hier der Preis aller „beliebig reproduzierbaren Produkte" durchaus auf dem statischen Satze, den der Grenzproduzent erhalten muß, um das ihm zustehende Einkommen zu erlangen; und zwar ist hier der „Reproduktionspreis" exakt gleich dem „Produktionspreise". Er ist Grenzbeschaffungspreis, bestimmt durch den unter den ungünstigsten Verhältnissen produzierenden Produzenten, dessen Produkt der Markt noch braucht. Unter „ungünstigsten Ver-
Das Kapital: Dritter
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hältnissen" ist zu verstehen erstens: der Grenzproduzent besitzt kein „Produktionsmonopol" gegenüber seinen Konkurrenten; und zweitens: der Grenzproduzent ist der Anlage nach durchschnittlich qualifiziert, nur daß diese Anlage durch Ausbildung erhöht worden sein mag. Und zwar gilt das für alle Produkte, landwirtschaftliche und industrielle. Für die Landwirtschaft hat Ricardo es meisterhaft bewiesen: der Preis des Urproduktes bestimmt sich nach den Gestehungskosten des Grenzproduktes auf dem Grenzboden resp. durch das Grenzkapital, und zwar, wie ohne weiteres ersichtlich, für den durchschnittlich qualifizierten Landwirt. Und genau so steht es um alle Produkte, die der Industrielle oder Händler zu Markte bringt. Stellen wir uns dieses Niveau als erreicht vor, so kennzeichnet es sich als diejenige Relation aller Preise, bei der die Konkurrenz ihren Ruhezustand erreicht hat, weil der bestehende Preis der Produkte keinem der Produzenten Anlaß gibt, seine Produktion entweder einzuschränken oder auszudehnen, und keinem der Konsumenten, seine Nachfrage zu ändern. Eben diesen Preis des einzelnen Produktes, bei dem die Konkurrenz ruht, nennt die alte Theoretik seinen Wert oder Tauschwert, und nennen wir seinen statischen Preis, und darum nennen wir das Verhältnis aller dieser Preise im Ruhezustande der Konkurrenz die statische Preisrelation. Bisher haben wir nicht mehr als eine Beschreibung davon, wie die statische Preisrelation sich einstellt. Aber das Problem stellt höhere Aufgaben. Erstens: wo stellt sich die Preisrelation ein? Mit anderen Worten: Warum tauschen sich im Ruhezustand χ Einheiten der Ware a gegen y Einheiten der Ware b? Das ist das Problem des relativen Wertes. Und zweitens: warum stellt sich jede Ware, für sich betrachtet, gerade auf diesen Wertpunkt ein? Das ist das Problem des absoluten Wertes. Man hat oft gesagt, die Konkurrenz tendiere auf Ausgleichung der Preise. Das ist nur eine Teilwahrheit, und eine recht gleichgültige. Die Konkurrenz tendiert auf Ausgleichung der Preise nur zwischen Produzenten der gleichen Waren, die auf gleichem Markte natürlich den gleichen Preis erhalten. Aber das Problem des statischen Preises ist ja die Frage nach dem Preise eines Produktes, ausgedrückt in anderen Produkten. Hier ist eine wichtige Zufügung zu machen. Wir sind bisher immer so vorgegangen, als wäre der „Markt" ein einheitliches Gebilde. Wir wissen aber, daß er aus unzähligen, räumlich und zeitlich durch die uns bekannte Kinetik der Konkurrenz verknüpften, Einzelmärkten, Lokalmärkten, besteht, d. h. Ortlichkeiten, wo die Käufer und Verkäufer zusammentreffen. Die zeitliche Trennung hat uns hier, wo wir noch mit dem Gedankenbilde der statischen Wirtschaft rechnen, nicht zu kümmern. Denn in ihr ist der gesamte Beschaffungswert einer Ware an jedem gegebenen Orte zu allen Zeiten gleich. Dagegen bedingt die räumliche Trennung der einzelnen Lokalmärkte auch in der statischen Gesellschaft Unterschiede der Beschaffungskosten, und zwar durch die verschiedene Höhe der Transportwiderstände, die zu überwinden sind, um die erzeugten Waren vom Orte ihrer Erzeugung auf die verschiedenen Lokalmärkte zu transportieren. Je größer der Transportwiderstand, d. h. ceteris paribus die Entfernung, ein um so höherer Gesamtwert der Ware muß in ihrem Preise Ersatz finden. Getreide hat in Berlin den statischen Preis des Getreides in Colorado zuzüglich Fracht und Zoll. Der slawische Erntearbeiter, den wir in Deutschland brauchten, kostete uns den „natürlichen" Preis seines Lohnes in Ruthenien zuzüglich Agentengebühren, Reisekosten, Impfung usw. Es ist daher ungenau, zu sagen, daß alle Einheiten des gleichen Produkts auf dem Markte denselben Wert haben. Man muß vielmehr sagen, daß sich der Wert jedes Produkts räumlich abstuft nach der „ökonomischen Entfernung", die es zu überwinden hat. Unter „ökonomischer Entfernung" wollen wir verstehen nicht die räumliche Distanz, sondern die Transportwiderstände, ausgedrückt in der Menge von Zeit- und Geldeinheiten, die zu ihrer Überwindung erforderlich sind, etwa in Minuten und Pfennigen oder in Tagen und Mark. Da für den Wirt Zeit Geld ist, weil jede Stunde ein bestimmtes Einkommen bringen muß, sind beide Größen sehr leicht auf einen Generalnenner zu bringen.
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Wenn also von zwei Produzenten der gleichen Ware der eine fünfzig Kilometer vom Markt entfernt wohnt, der andere nur fünfzehn; wenn aber dieser mitten im Kreise, fern von Chaussee, Wasserverbindung und Bahn sitzt, jener aber am Kanal oder an der Bahnstation oder beiden - so kann für die Produktion bestimmter, namentlich schwerer und billiger Waren (ζ. B. Kies) die ökonomische Entfernung des räumlich Entfernteren dennoch bedeutend geringer sein. Die Bestimmung, wie sich der Tauschwert eines Produktes auf den verschiedenen räumlich getrennten Lokalmärkten einstellt, ist sehr einfach in dem Falle, wo es sich um ein Produkt handelt, das nur an einem Orte erzeugt wird. Dann ist sein „Herstellungswert" an jedem Orte gleich seinem „Erzeugungswert" am Orte der Erzeugung (loco) zuzüglich der Transportaufwände, die zur Überwindung der ökonomischen Entfernung erforderlich sind. Wenn aber das Produkt an verschiedenen Orten erzeugt wird, so kompliziert sich das Bild. Dann konkurrieren die Erzeuger der verschiedenen Orte um den Absatz, und jeder Ort beherrscht das Gebiet, innerhalb dessen er billiger sein kann als der andere. Diese Gebiete haben ihre Grenzen dort, wo die Gesamtkosten für die Produzenten zweier Erzeugungsorte gleich hoch sind. Innerhalb eines jeden solchen durch die ökonomische Entfernung bestimmten Herrschaftsgebietes eines Ortes in bezug auf ein bestimmtes Erzeugnis gilt der oben formulierte Satz, daß dessen Wert an jedem Ort des Gebietes gleich ist seinem Erzeugungswerte zuzüglich der besonderen Transportaufwände. Er steigt vom Erzeugungsorte bis zur Grenze des Gebietes regelmäßig mit der ökonomischen Entfernung. Diese Bestimmung ist namentlich für eine Ware von großer Wichtigkeit, für das Urprodukt. Es ist am billigsten am Orte desjenigen Grenzproduzenten, der auf dem Boden ungünstigster verkehrsgegebener Rentierung das Grenzprodukt erzeugt, das den Grenzbedarf des Marktes bedeckt, und steigt im Preise von Meile zu Meile mit der ökonomischen Entfernung bis an die Grenze des Herrschaftsgebietes dieses Grenzortes. Diese Grenze, wo sich im Durchschnitt das amerikanische und russische Getreide begegneten, lag vor dem Weltkriege in Westeuropa ungefähr auf einer Linie, die zwischen Weser und Rhein südwärts über Thüringen führt. Hier war es am teuersten, weil mit den höchsten Transportkosten beladen; am billigsten war es in den seefernsten Provinzen Argentiniens, Nordwestamerikas und Rußlands, die den westeuropäischen Markt mit ihren Zufuhren noch erreichen konnten, weil der Preis ihren Erzeugungswert loco samt den Transportkosten deckte. Wo aber das Urprodukt billiger ist, da ist unter sonst gleichen Umständen auch jedes gewerbliche Produkt billiger. Denn die Konkurrenz kommt nicht eher zur Ruhe, als bis alle Produzenten das gleiche reale Einkommen genießen, d. h. das gleiche Einkommen, ausgedrückt in Befriedigungsmitteln, und das kann nur der Fall sein, wenn dort, wo die Nahrung billiger ist, das Nominaleinkommen, ausgedrückt in Geld, entsprechend geringer ist als dort, wo die Nahrung teurer ist. Jeder Produzent von gewerblichen Erzeugnissen wird daher an solchen Orten, die dem Grenzbezirk der Urproduktion näher liegen, gezwungen, einen entsprechend geringeren Gewinn in Geld auf seine Produkte aufzuschlagen, und darum sind auch diese entsprechend billiger. Diese genauere Bestimmung setzen wir in Zukunft immer stillschweigend voraus, wenn wir von dem „Markte" reden. Um nun zur Relation der statischen Preise aller Waren zurückzukehren, so ist es nichts Besseres als eine Redensart, zu sagen, daß hier die Konkurrenz auf Ausgleichung der Preise tendiert. Welches Gleichgewicht ist denn erreicht, wenn z. B. 6 Gramm Gold (etwa 20 Mark) sage 100 Liter Benzin oder 60 Meter Kaliko oder 1.000 Kilowatt elektrischer Energie oder 20 Maurerarbeitsstunden oder 100 Kilo Roggen „gleichwertig" sind? Nein, nicht auf Ausgleichung der Preise, sondern der Einkommen tendiert die Konkurrenz. Ein Knabe bei der Berufswahl, der entweder Bäcker oder Schmied werden kann, entscheidet sich nicht für den Schmied, weil dieser für ein Hufeisen 1 Mark, der Bäcker für ein Brot nur Vi Mark erhält, sondern weil er erkennt, daß der Schmied seines Städtchens besser lebt als der Bäcker. Und
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ein Kapitalist, der sich mit einer Million etablieren will, wird die Produktion eines Pfennigartikels wählen, wenn er glaubt, daß er daraus ein größeres Einkommen ziehen wird, als aus der Herstellung kostbarer Produkte, wie ζ. B. Automobile oder Konzertflügel. Unsere Darstellung der marktwirtschaftlichen Statik bedeutet, wie sich zeigen wird, einen entscheidenden Fortschritt. Bis dahin kam die Theorie über die rein definitorische Formel nicht hinaus, daß die Statik den „Gleichgewichtszustand der Konkurrenz" bedeutet. Worin aber dieses Gleichgewicht besteht, wie der Zustand beschaffen ist, auf den die Konkurrenz als auf ihren Ruhezustand hin tendiert, das haben, so weit wir zu sehen vermögen, vor uns nur Adam Smith und Johann Heinrich von Thünen klar erkannt. Wir haben die Formeln oben1 bereits angeführt; sie seien hier wiederholt. Bei Smith heißt es: „Die gesamten Vor- und Nachteile der verschiedenen Beschäftigungen von Arbeit und Kapital müssen in derselben Gegend entweder völlig gleich sein oder beständig auf Gleichheit tendieren."1 Und Thünen sagt noch präziser: „Wenn durch den Preis der Ware die Arbeit von gleicher Qualität in allen Gewerben gleich hoch gelohnt wird, so findet das Gleichgewicht statt. Leider hat auch er die notwendigen Folgerungen auf das Wertproblem und die Verteilung überhaupt nicht gezogen. Die Nachfolger aber hatten nicht einmal mehr die vage Annäherung. Bei ihnen kommt die Erklärung immer wieder darauf hinaus, daß die Konkurrenz ruht, wenn Angebot und Nachfrage einander aufwiegen. Und das ist entweder ein rein analytischer Satz, weil man den Ruhezustand gar nicht anders definieren kann, oder gar eine petitio principii, wenn man glaubt, damit etwas erklären zu können. Das ist der tiefste Grund, warum alle Erklärung aus Angebot und Nachfrage nur „Schalen, aber nicht den Kern" (Böhm-Bawerk) gibt.
2. Die Wertformel Wir haben jetzt alle Mittel in der Hand, um die so lange vergeblich gesuchte Formel des „Wertes", d. h. des statischen Preises (auf die Dauer und im Durchschnitt), mit vollkommener Genauigkeit aufzustellen. Wir nennen das statische Einkommen einer Wirtschaftsperson von durchschnittlicher Qualifikation wieder E. Es setzt sich zusammen aus n - (v - s), wenn η die Zahl der verkauften Produkte, ν ihren statischen Preis, und s die Selbstkosten je Stück bezeichnen. Dann ist V
E t h5 η
Hieraus läßt sich die Wertformel auch für die Produkte derjenigen Produzenten aufstellen, deren Qualifikation über oder unter dem Durchschnitt steht, und ebenso derjenigen, die unter einem Monopolverhältnis, sei es als Monopolisten, sei es als ihre Kontrahenten, tauschen: «
Diese Formel gilt sogar für alle laufenden Preise. Man ist ja berechtigt, die Situation von Verkäufern auf einem Markte mit ungenügendem Angebot, und von Käufern auf einem Markte mit ungenügender Nachfrage als eine schwache und schnell sich umkehrende Monopolstellung aufzufassen. Die Formel enthält nicht ein Atom „subjektiver" Wertschätzung. Alles ist objektiv, gesellschaftlich bestimmt, nicht nur Ε, η und 5, sondern auch q und m. Die Formel gilt für alle Dienste und
1
[Siehe oben, S. 470f. (im Original S. 9)]
2
Smith, Wealth of Nations, 1. Buch, 10. Kap., Anfangsworte.
3
Thünen, Der isolierte Staat, S. 529.
Zweiter Teil: Marktwirtschaft
616
Güter, nicht nur für alle Verwendungs-, sondern auch für alle Beschaffungsgüter und für vollwichtiges Metallgeld. Diese Formel macht mithin bereits die sehr komplizierten und darum an sich logisch verdächtigen Deduktionen des Preises seitens der „subjektivistischen Schulen"gegenstandslos. Wir können nun diese schon sehr einfache Grundformel noch viel mehr vereinfachen, indem wir die Größe E näher bestimmen und die Größen q, m und $ eliminieren. Wir bestimmen E, indem wir auf der Abszisse eines Koordinatenkreuzes die verschiedenen Stufen des Einkommens, und auf der Koordinate die Zahl der Empfänger dieser verschiedenen Stufen eintragen. Dann erhalten wir eine binomiale Kurve, deren Medianwert die gesuchte Größe E ist. E
Um q und m zu eliminieren, müssen wir uns daran erinnern, daß die einzige, der Wissenschaft gestellte Aufgabe darin besteht, den statischen Preis der beliebig reproduzierbaren Güter zu deduzieren. Nun wissen wir bereits, daß in der Statik bei der Produktion dieser Güter der Preis immer bestimmt wird durch den Grenzproduzenten, der per definitionem durchschnittlich qualifiziert ist. Die Qualifikation hat also keinen Einfluß auf den Preis, und q kann eliminiert werden. Was aber die Größe m anlangt, so ist unsere Aufgabe nicht, den Monopolpreis zu deduzieren; sie ist unmöglich lösbar, und es genügt für alle unsere Zwecke, ihn zwischen die uns bekannten Grenzen des statischen Konkurrenzpreises unten und des Konkurrenzpreises nicht monopolisierter Ersatzgüter oben eingeschlossen zu haben. Es bleibt uns also als die gesuchte Schlußformel des absoluten Wertes :
,
Ε V = — +s η Folglich ist die Formel des relativen Wertes: E + Si JU n, Bleibt noch die Größe s zu eliminieren. Das ist sehr einfach, sobald man sich klar macht, daß alle J aus ν bestehen, nämlich den statischen Preisen für eingekaufte Dienste und Güter. Die Rechnung, die sich in „Wert und Kapitalprofit"1 befindet, ergibt: 1
«4
1 [Siehe im vorliegenden Band, S. 231-286; A.d.R.]
Das Kapital: Dritter Abschnitt
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In Worten: Die statischen Preise der beliebig reproduzierbaren Güter verhalten sich umgekehrt wie die Gesamtsumme der an ihrer Produktion beteiligten Produktivitätsziffern. Nun verhält sich die Produktivitätsziffer ihrerseits umgekehrt wie die für das Produkt aufgewendete Arbeitszeit, die wir t nennen. Je mehr Produkte in der Zeiteinheit hergestellt werden, um so kleiner, je weniger, um so größer ist die in ihnen „vergegenständlichte" Arbeitszeit. Also ist: ν. _ Σ ti ν»
Σevölkerung in ihrer Masse. Denn die Preissteigerung und Druckminderung kommt nur den Grundeigentümern zugute. Die Landarbeiter sind von ihr ausgeschlossen. Sie erhalten nach wie vor ihren Lohn. Zwar steigt dieser Lohn langsamer oder schneller, in dem Maße, wie die Wanderung die
Das Kapital:
Vierter
Abschnitt
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ökonomische Seltenheit der Landarbeit vermehrt; aber diese Lohnsteigerung hat mit der Preissteigerung des Urprodukts unmittelbar nichts zu tun: diese ist vielleicht hier und da ihre
Bedingung,
weil die Grundeigentümer dadurch in die Möglichkeit versetzt werden, höhere Löhne zu bezahlen, aber keinesfalls ihre Ursache-, und darum stehen die beiden Erscheinungen auch niemals in fester Quantitätsbeziehung zueinander. Es ist ebenso gut möglich, daß die Grundeigentümer bei fallenden Produktenpreisen höhere Löhne zu zahlen gezwungen sind, wenn eine sehr starke Wanderung die Reihen ihrer Hintersassen lichtete, wie daß sie bei stark steigenden Preisen die Löhne herabsetzen oder doch halten können, wenn eine Bevölkerungsstauung sie begünstigt. Die in der reinen Ökonomie gegebene Verknüpfung von steigendem Produktenpreise und steigendem Einkommen der gesamten Landbevölkerung fehlt hier durchaus, der Preis kommt nur einem um so kleineren Teile dieser Bevölkerung zugute, ein je größerer Teil der Fläche vom Großgrundeigentum besetzt ist.1 Wenn man die aus ganz anderen Ursachen erfolgende Steigerung der Landarbeiterlöhne vernachlässigt, kann man sagen, daß die Landarbeiterbevölkerung unter konstantem wirtschaftlichem Druck steht. Dank dem ursprünglich durch außerökonomische Gewalt, das unentfaltete politische Mittel, geschaffenen gesellschaftlichen Klassen-Monopolverhältnis, das durch den Staat, das entfaltete politische Mittel, geschätzt und gewährleistet wird, fließt grundsätzlich jeder Vorteil höherer Kooperation den Eigentümern des Bodens zu, während die Arbeiter auf ein Fixum angewiesen bleiben. Sie haben immer das gleiche Einkommen, stehen also unter konstantem wirtschaftlichem Druck. Das aber bedingt eine viel massenhaftere Wanderbewegung, als sie in der reinen Ökonomie möglich ist. Denn hier gleicht sich, wie wir sahen, der Druckunterschied aus durch Vergrößerung des Druckes über der Stadt und gleichzeitige
Verminderung
des Druckes über dem Lande. Das kann hier
nicht geschehen, weil der Druck über der Landarbeiterbevölkerung konstant ist. Das Gefalle muß sich also ausgleichen allein durch Vermehrung des Druckes über der Stadt, mit anderen Worten, die Abwanderung muß ungemein viel stärker sein. Das gleiche gilt auch für die Auswanderung. Sie ist aus demselben Grunde ebenfalls viel stärker als in der reinen Ökonomie. Dieser Gegensatz muß sich natürlich auch innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft zeigen, wenn man vorwiegend kleinbäuerliche Bezirke mit solchen vergleicht, die vorwiegend vom großen Grundeigentum besetzt sind, in denen mithin der Hauptteil der Landbevölkerung aus Arbeitern besteht. Hier muß die Wanderbewegung außerordentlich viel massenhafter sein als dort. Man wird nicht allzu fern von der Wahrheit bleiben, wenn man das Sachverhältnis mit der von mir geprägten, wieder nicht als exakte Quantitätsbezeichnung gemeinten Formel verdeutlicht: die Wanderbewegung in ihnen enthaltenen
aus verglichenen agrarischen Bezirken verhält sich wie das Quadrat
des
Großgrundeigentums.
Wir haben die Bedeutung dieser Wanderbewegung für die Entstehung und Erhaltung des städtischen Kapitalismus bereits gewürdigt. Jetzt können wir in härtester kürzester Formel den Wesensgegensatz der beiden Ökonomien des freien Verkehrs feststellen: Die reine Ökonomie ist eine fortschreitende Gesellschaftswirtschaft mit allseitig
sinkendem
Druck. Die kapitalistische Ökonomie ist eine fortschreitende Gesellschaftswirtschaft mit einseitig sinkendem Druck.
1 Anna Neumann (Die Bewegung der Löhne der ländlichen „freien Arbeiter", S. 174) schreibt: Jedenfalls hat sich unwiderleglich gezeigt, daß sich die Geldlöhne nicht [...] im Laufe der Zeit nach der Bewegung der Roggenpreise und der Lebensmittel richten."
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Diese pathologisch übertriebene Wanderbewegung der Landarbeiter ist nun, und das interessiert uns hier vor allem, die Ursache einer räumlichen Verteilung der Bevölkerung, die von derjenigen der reinen Ökonomie sehr stark abweicht. Die überaus starke Auswanderung bedingt eine entsprechende Uberdehnung des gesamten Wirtschaftskreises, d. h. eine durchschnittlich viel geringere Dichte der Bevölkerung. Der „Grenzproduzent" wohnt viel weiter vom Zentrum des Marktes entfernt, als unter reinen Verhältnissen erforderlich wäre; aus diesem Grunde muß die Wirtschaftsgesellschaft viel größere Mengen von „Kapital" in Transporteinrichtungen festlegen, und eine viel größere Anzahl von Arbeitskräften für Transport und Verkehr ausscheiden, d. h. der Erzeugung eigentlicher Verwendungsgüter entziehen. Diese Uberdehnung des Wirtschaftskreises mit ihren Folgen wird dadurch gesteigert, daß die Flächeneinheit unter der Regie des Großgrundeigentums auf die Dauer geringere Erträge bringt, weil der Lohnarbeiter nicht entfernt mit der Sorgfalt und dem Fleiße tätig ist, wie der Eigentümer. Innerhalb dieses überdehnten Kreises gestaltet sich nun vor allem die städtische Entwicklung im Großgrundbezirk ganz anders wie in der reinen Ökonomie oder im Bauernbezirk. Die Kaufkraft des städtischen Absatz- und Herrschaftsgebietes wächst, wenn überhaupt, nur sehr langsam. Denn die Landarbeiter können an Zahl kaum je wachsen, im Gegenteil, sie pflegen abzunehmen. Und die Kaufkraft des einzelnen wächst auch nur sehr langsam mit dem Lohne. Die großen Magnaten aber pflegen ihre „Zuwachsrente", das „unearned increment", nicht in der nächsten Kleinstadt in Gewerbsprodukte umzusetzen: sie finden die hochwertigen Luxuserzeugnisse, deren Ankauf ihnen ihr Herreneinkommen gestattet, nur in den großen Zentren, wo alle Waren und alle Spezialisten der Kunst und des Kunsthandwerks zusammentreffen. Folglich bleibt der Markt der Kleinstädte konstant oder wächst nur sehr langsam; sie stagnieren, und die segensreiche Intensivierung der benachbarten Landwirtschaft kann nicht eintreten. Statt dessen wendet sich die abwandernde Landbevölkerung natürlich dorthin, wo die agrarische Zuwachsrente ihre Nachfrage ausübt, nach den Großstädten. Diese schwellen maßlos an, werden Riesengebilde deutlich pathologischen Charakters, ebenso bedenklich vom Standpunkt der Hygiene, der Ästhetik, der Moral, der Kriminalistik, wie der politischen Stabilität. Die Bildung solcher Riesenstädte ist der reinen Ökonomie fremd-, sie können nur in der kapitalistischen Wirtschaft entstehen, und zwar ebensowohl in der Sklaven- wie der modernen Verkehrswirtschaft. Für diese Riesenstädte wird ihr agrarisches Nachbargebiet bald zu klein, und sie fangen an, ihre Nahrungsmittel aus ferneren Gegenden zu beziehen, wobei sie sich natürlich nur nach der „ökonomischen Entfernung" richten. Da die ökonomisch näheren agrarischen Produktionsgebiete häufig im politischen Auslande gelegen sind, so importieren die Städte von dorther und zahlen natürlich mit Exportwaren; und so geht häufig genug der heimischen Landwirtschaft auch noch ganz oder zum Teil die Intensivierung verloren, die sonst in der Nachbarschaft eines wachsenden Zentrums stattfindet. Das ist das Bild, das die Pathologie der Wirtschaftsgesellschaft darbietet: Atrophie hier, Hypertrophie dort, krankhaftes Wachstum im ganzen, Schwäche im einzelnen, mangelhafte Integration der Organe und Funktionen - während die reine Ökonomie und annähernd sogar das reine Bauernland das gesundeste Gleichmaß des Aufbaus und der Leistung zeigen: einen überall gleich vollkommen entwickelten, straff zusammengegliederten, gedrungenen, überaus leistungsfähigen Organismus. Und das ist nicht nur das Ergebnis einer „leeren" Deduktion, sondern das ist eine Tatsache, die jedermann vor Augen hat.
Das Kapital: Vierter Abschnitt
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ß. Induktiver Beweis: Die Landflucht Seit fast 50 Jahren hat die Wissenschaft das grundlegende Gesetz in der Hand. Nur die Klassenverblendung ihrer führenden Vertreter und der betrübende Tiefstand der theoretischen Besinnung hat es verschuldet, daß es trotz aller meiner Bemühungen nicht längst für die Erklärung der kapitalistischen Wirtschaft verwertet worden ist. Von der Goltz schreibt 1893 klipp und klar: „Mit dem Umfang des Großgrundbesitzes parallel und mit dem Umfang des bäuerlichen Besitzes in umgekehrter Richtung geht die Auswanderung." Hier ist der Sachverhalt noch nicht einmal in seiner ganzen quantitativen Bedeutung erfaßt. Man kommt ihm näher mit der Formel, die wir soeben durch reine Deduktion aus dem „Gesetz der Strömung" gewonnen haben: „Die Wanderbewegung aus verglichenen agrarischen Bezirken verhält sich wie das Quadrat des in ihnen enthaltenen Großgrundeigentums." Wer die Malthusische Weise liebt, mag auch sagen: Wo das Großgrundeigentum in arithmetischer Reihe wächst, wächst die ländliche Wanderung in geometrischer Reihe. Dieser Zusammenhang zeigt sich überall, wie Max Weber einmal sagte, mit einem „überaus seltenen statistischen Eigensinn". Der Sachverhalt, den diese Formeln bezeichnen wollen, ist uns allen bekannt, ohne daß wir ein statistisches Buch aufzuschlagen brauchen. Wir wissen, daß die Landflucht als Massenerscheinung beschränkt ist auf die Gebiete mit Großgrundeigentum. Wir wissen, daß ζ. B. in Deutschland die sehr dicht besiedelten kleinbäuerlichen und mittelbäuerlichen Bezirke des Südens und Westens regelmäßig und zum Teil bedeutend an Bevölkerung zunehmen, während die äußerst dünn besiedelten Großgutsbezirke des deutschen Ostens in einem ganz ungeheuerlichen Maße ihren Nachwuchs einbüßen, so daß sie vielfach, trotz großer Fruchtbarkeit ihrer Bewohner, absolut an Volkszahl verlieren. Eine einzige Zahl zur Illustration: zwischen 1885 und 1890 hat der Süden und Westen Deutschlands 30 %, der Nordwesten 13 %, der Osten 75 % seines Geburtenüberschusses in die Industriebezirke abgegeben.1 Die auffällige Differenz zwischen dem Süden und Westen einerseits und dem Nordwesten andererseits ist eine neue Bestätigung unserer Auffassung. Jener nämlich ist überwiegender Sitz des Zwerg- und Kleinbetriebs, dieser des Mittel- und Großbauernbetriebes. Warum aber ist dort die agrarische Bevölkerung allzu dicht zusammengedrängt, derart, daß viele nicht genug Land besitzen? Weil im Osten und Nordosten Deutschlands das Land, durch das Großeigentum gesperrt, allzu schwach besetzt ist. Hier „Bodensperre", dort „Bodenenge", hier „Raum ohne Volk", dort „Volk ohne Raum". Das Gesetz bezieht sich sowohl auf die Auswanderung außerhalb der Landesgrenze, wie auf die Abwanderung in die Städte. Nur daß die Abwanderung überall den ungleich größeren Teil der Massenbewegung ausmacht. Selbst in der Zeit, wo Deutschland noch jährlich über 100.000 Menschen ausstieß, war die inländische Abwanderung aus den Großgüterbezirken 4-5 mal so zahlreich. Aber schon die Ziffern der Auswanderung genügen, um das hier wartende Gesetz auf das deutlichste zu zeigen: im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts sind rund 20 Millionen Europäer in die Vereinigten Staaten von Nordamerika eingewandert. Von dieser größten Völkerwanderung aller bekannten Weltgeschichte entstammt der weitaus überwiegende Teil solchen Gebieten, in denen das Großgrundeigentum vorherrscht, und zwar wuchs die Wanderung „im Quadrate seines prozentualen Anteils". An der Spitze steht das Vereinigte Königreich mit seinem gigantischen Großgrund-
1
Sombart sagt von diesen Ziffern, sie bewiesen, daß die Wanderung eine „allgemeine Erscheinung" sei, die „gleichermaßen" vom Großgrundbezirk wie vom Bauernbezirk erfolge. Ein schielender Ausdruck, gewählt, weil er doch nicht wagen durfte zu sagen, sie finde „gleichmäßig" statt (vgl. Sombart, Der moderner Kapitalismus, Bd. Π, Leipzig 1902, S. 151).
Zweiter Teil: Marktwirtschaft
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eigentum; es hat rund 5 Vi Millionen abgegeben. Hier gehört bekanntlich der allergrößte T e i l des nationalen Bodens wenigen hundert ungeheuer reichen Magnaten. U n d von den drei Teilen des britischen Reiches hat wieder Irland, der am dünnsten bevölkerte, in dessen Boden sich nur wenige Feudalherren teilten, die größte Masse ausgestoßen; trotz ungeheurer proletarischer Vermehrung sank hier die Bevölkerung in dem einen Jahrzehnt 1 8 4 0 - 5 0 von 8,1 auf 5,1 Millionen Köpfe. 1 - A n zweiter Stelle steht Deutschland. Hier hat das dicht bevölkerte klein- und mittelbäuerliche Süd- und Westdeutschland weniger als eine halbe Million, das sehr dünn bevölkerte Ostdeutschland, das Land des Großgrundeigentums, über 3 Millionen über den Atlantic gesandt. Als Deutschland, dank der Entwicklung der Industrie, für die noch immer anhaltende enorme Wanderbewegung seiner ostelbischen Landbevölkerung im Inlande R a u m geschaffen hatte, wuchs die italienische Wanderbewegung zu einer wahren H o c h f l u t an, und zwar waren es auch hier wieder die Söhne des v o m Großgrundeigentum besetzten Südens und Venetiens, die zu Hunderttausenden abströmten, während der klein- und mittelbäuerliche Nordwesten sich nur sehr schwach beteiligte. D a n n ergriff die Wanderbewegung die Bezirke des osteuropäischen
Großgrundeigentums:
Rußland, Ungarn und
Donaustaaten, aus denen die Menschenmassen wieder wie aus Staubecken abströmten,
die
deren
Schleusen plötzlich geöffnet werden. A b e r während dieses ganzen langen Jahrhunderts ist die proletarische Wanderbewegung aus den bäuerlichen Ländern Europas, namentlich aus Frankreich, der Schweiz 2 , Dänemark, überaus gering gewesen. Das ist zunächst nichts als eine Tatsache. Tatsachen werden erst Wissenschaft, wenn man sie erklärt hat. N u n , und diese Erklärung ist uns vollkommen geglückt: das Großgrundeigentum stellt für die Landarbeiter einen O r t konstanten
wirtschaftlichen Druckes dar, und darum strömen sie
massenhaft in alle O r t e regelmäßig sinkenden
wirtschaftlichen Druckes ab: in den kolonialen
Agrarbezirk, in den heimischen Bauernbezirk und vor allem in die Städte, in die Gewerbe.
Damit ist der Ring geschlossen, die entscheidende Deduktion induktiv bestätigt, die hier vorgetragene Gesamttheorie unerschütterlich bewiesen! Diese zuerst von mir deduzierten Zusammenhänge haben sich in den letzten Jahrzehnten i m m e r mehr dem wissenschaftlichen Bewußtsein der induktiven Forscher aufgedrängt. Ich habe die Freude erlebt, in der offiziellen Denkschrift der Preußischen Ansiedlungskommission über das Germanisierungswerk in den polnischen Provinzen meine Gedanken über den Zusammenhang zwischen der Eigentumsverteilung auf dem platten Lande und der städtischen Entwicklung wiederzufinden, und der bekannte Statistiker Rauchberg schrieb 1901 in seinem großen W e r k e über die deutsche Berufsund Gewerbezählung von 1895 wörtlich folgendes: „ H o h e spezifische Dichtigkeit der landwirtschaftlichen Bevölkerung, kräftige Entfaltung von Gewerbe, Handel und Verkehr und infolge des industriellen Uberbaues auch eine erhebliche Steigerung der Besiedelung über die agrarische Basis hinaus sind also die Merkmale einer gesunden und kräftigen Volksentwicklung, wie sie im Westen der Elbe ganz überwiegend zutreffen und glücklicherweise bestimmend gewesen sind für die Entwicklung des deutschen Volkes überhaupt. Hingegen hat sich die Arbeitsverfassung östlich der Elbe unfähig gezeigt, eine derartige Wirtschaftsentwicklung zu zeitigen, ja auch nur die Überschüsse der Bevölkerung festzuhalten: der Abstand zwischen den Lebens- und Arbeitsbedingungen der östlichen Landwirtschaft und der industriellen Kultur des Westens hat eine Spannung hervorgerufen, welche schließlich zur Abwanderung führen mußte. [...] Ist es nötig, die Ziffern noch weiterhin zu kommentieren? Sie
1 2
Nach Schmoller, Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Bd. Π, München/Leipzig 1919, S. 469. Die Schweiz hat, eine ansehnliche, aber nur zum kleinen Teile proletarische Wanderung.
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lehren eindringlicher, als Worte es vermögen, was die Agrarverfassung des Ostens für die Entwicklung des deutschen Volkes bedeutet. Eine eiserne Fessel ist sie ihm geworden, da es nun in erneuter Jugend seinen gewaltigen Leib recken will."1 Man sieht, die statistische Induktion muß eine richtige Deduktion schon bestätigen! Das ist in summarischer Kürze die Ursache, warum die am meisten untervölkerten Bezirke der Kulturländer, diejenigen des Großgrundeigentums, am stärksten „übervölkert" sind, d. h. unvergleichlich mehr Menschen abstoßen, als die dichter bevölkerten bäuerlichen Kreise unter sonst gleichen Verhältnissen des Klimas, der Bodenqualität und der Absatzverhältnisse.
2. Die sekundäre A rbeitsteilung: Die berufliche Disposition der
Bevölkerung
Innerhalb des durch diese Kräfte gespannten Rahmens der primären Arbeitsteilung und -Vereinigung zwischen Urerzeugung und städtischem Gewerbe steuert nun weiterhin die Gesamtpreisrelation die Disposition der wachsenden Bevölkerung auf die einzelnen Zweige der Urerzeugung und Gewerbe in sekundärer Arbeitsteilung und -Vereinigung.
A. Der Standort der Urerzeugung: Der „isolierte Staat" Der erste, der diesem Problem seine volle Aufmerksamkeit geschenkt hat, war der mecklenburgische Großgrundbesitzer Johann Heinrich von Thünen, einer der wenigen genialen Ökonomisten, die die Neuzeit, und namentlich Deutschland, hervorgebracht hat. Ein ebenso warmherziger Menschenfreund wie tiefer Denker, widmete er sein vornehmes Leben der praktischen und theoretischen Lösung des sozialen Problems, praktisch in einem der ersten Versuche der Gewinnbeteiligung der Arbeiter auf seinem Gute Tellow, theoretisch durch seine Bemühungen, die Formel für den natürlichen Arbeitslohn zu entdecken. Die Formel, der Stolz seines Lebens, j/üT , schmückt seinen Grabstein. Die Formel ist falsch, und den natürlichen Lohn hat er nicht festzustellen vermocht, da auch er in der „Kinderfibel" befangen war. Aber die logischen Substruktionen, die er dafür schuf, sind ein κτήμα ές αεί, ein Gewinn für die Ewigkeit. Sie sind enthalten in seinem Meisterwerke: „Der isolierte Staat". Hier untersucht Thünen, wie die Urproduktion durch ihren Standort beeinflußt wird. Um reine Verhältnisse zu haben, macht er ein Gedankenexperiment, das ihn als deduktiven Kopf allerersten Ranges kennzeichnet und seinen neuesten Anbeter, Richard Ehrenberg-Rostock, den Herausgeber des „Thünen-Archivs", ad absurdum führt, der ihn durchaus als induktives Genie präkonisieren wollte, weil er - wie jeder große Denker - das Ergebnis seiner Deduktion an der quaestio facti der Wirklichkeit kontrollierte und dazu die Wirtschaftsbücher des eigenen Gutes benutzte. Ehrenberg hielt die Kontrolle für die Hauptsache und empfahl deshalb urbi et orbi als alleinseligmachende Methode der Ökonomik die Untersuchung privater Wirtschaftsbücher! Das Gedankenexperiment, das Thünen in Anlehnung an eine Ricardosche Ausführung anstellte, schuf Bedingungen, unter denen auf die Entschließungen des Landwirts nichts anderes einwirkt als seine Entfernung vom Markte. Er unterstellte zu dem Zwecke einen „isolierten Staat", der irgendwo auf einer unendlichen, völlig gleichartigen Ebene angesiedelt ist; es gibt keine Unterschiede der
1
[Rauchberg, Die deutsche Berufs- und Gewerbezählung vom 14. Juni 1895, Berlin 1901, o. Seite; A.d.R.]
718
Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Bodenbonität, keine natürlichen Hindernisse des Transportes in Bodenerhebungen, aber auch keine natürlichen Vorteile des Transports in Gestalt von Kanälen oder schiffbaren Flüssen; es gibt keine Eisenbahnen, nur Fahrstraßen. Es gibt keinen Nachbarstaat, mit dem irgendein Verkehr gepflogen würde, und es gibt nur eine zentral gelegene Stadt, den einzigen Markt für das Urprodukt. Das ist vielleicht die kühnste Konstruktion, die sich im Umkreis der älteren deduktiven Ökonomik auffinden läßt. Unter diesen Voraussetzungen muß das Ackerland im ganzen die Stadt in einer mathematischen Kreisfigur umgeben, deren Peripherie von den Grenzproduzenten eingenommen ist, deren Grenzprodukt der Markt noch braucht. Innerhalb des Kreises aber stuft sich die Urproduktion in konzentrischen „Zonen" ab, von denen jede dem Mittelpunkt nähere eine um einen Grad höhere Intensität besitzt. Und zwar wird diese Abstufung erzwungen durch die privatwirtschaftliche Rentabilitätsrechnung des Landwirts, der nur so zu dem Optimum des Reinertrages kommen kann. Je weiter er vom Markte entfernt ist, ein um so größerer Transportaufwand geht ihm am Marktpreise verloren, oder, was das gleiche ist, ein um so geringerer Erzeugungspreis loco fällt ihm zu. Danach muß er seine Kalkulation stellen, und aus ihr ergibt sich die Betriebsrichtung und Betriebsart mit Notwendigkeit, d. h. ergibt sich, welche Produkte, und mit welcher Intensität er sie erzeugen muß. Produkte von großem relativem Transportwiderstand müssen in den marktnäheren Zonen erzeugt werden. Darum erfüllt der Gartenbau, dessen Produkte bei gleichem Gewicht von geringerem Wert und außerdem leicht verderblich sind, die erste Zone. Dann folgt in Thünens Konstruktion die Zone der Forstwirtschaft, die das zu seiner Zeit relativ billige, schwere Massengut Holz herstellt: in der Zeit der Eisenbahnen und des Holzpapiers der wälderfressenden Zeitungen hätte diese Zone weiter hinaus ihre Stelle gefunden. Dann kommt der eigentliche Ackerbau in Zonen immer abnehmenden Intensitätsgrades. Und zwar folgt das aus dem Gesetz der sinkenden Ackererträge. Intensivere Kultur heißt Aufwand von mehr Kapital und Arbeit auf die Ackereinheit. Solche Aufwände geben aber in der Urproduktion einen weniger als proportionalen Mehrertrag; sie rentieren daher erst bei einem bestimmten Minimalpreise loco. Da nun jeder nähersitzende Produzent einen höheren Erzeugungspreis loco erhält, als jeder fernersitzende, so kann - und d. h. in der Statik muß - er um so intensiver wirtschaften, um so mehr „Zusatzkapitale" investieren, je näher er sitzt. Darum folgen der Forstzone von innen nach außen die verschiedenen Intensitätsstufen der landwirtschaftlichen Betriebssysteme. Wir würden heute etwa folgende Stufenreihe erwarten: Industriewirtschaft, Fruchtwechselwirtschaft, Koppel-, Dreifelder-, wilde Feldgras-, Brandwirtschaft. Noch weiter außen folgt dann die Zone der reinen Weidewirtschaft, der nomadischen Viehzucht, und noch weiter die Zone der „Okkupation", der Jäger und Sammler. Von diesen Zonen kommen Produkte sehr geringen relativen Transportwiderstandes zu Markte: Vieh ist teuer und transportiert sich selbst, und die Produkte der Jäger und Sammler: Pelze, Kristalle, Edelsteine, Edelmetall usw. haben überaus geringen Transportwiderstand. Wir haben hier nicht näher auf die Einzelheiten dieser Konstruktion einzugehen. Es mag nur angedeutet werden, daß Thünen nach Festlegung der Grundergebnisse sein Gedankenexperiment mehrfach variierte und z. B. beobachtete, wie sich die Absatz- und Standortverhältnisse gestalten, wenn ein schiffbarer Strom vorhanden ist, wenn mehrere Städte um die Urprodukte konkurrieren usw. Wir haben unsererseits hinzuzufügen, daß in der reinen Ökonomie die Vorteile der geringeren ökonomischen Entfernung auf die Dauer durch die Herstellung der natürlichen Hufengröße kompensiert werden; denn hier, wo es keine Arbeiter gibt, kann man große Marktnahe Feldstücke nicht anders mit entsprechender Intensität bebauen, als daß man sie seihst naturaliter teilt, oder daß man ihren Ertrag pro rata der Arbeitsleistung teilt, d. h. unter irgendeiner juristischen Form den ökonomischen Inhalt der Produktivgenossenschaft verwirklicht. Das hat Thünen nicht erkannt.
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In der politischen Ökonomie aber fallen die Vorteile der geringeren ökonomischen Entfernung als Grundrente dem Eigentümer zu. Darum bleibt die gleiche Stufenfolge der Betriebssysteme dennoch bestehen, da das Interesse der privaten Rentabilität die Grundeigentümer hier mit gleicher Kraft in die gleiche Richtung drängt.
B. Der Standort der Gewerbe und des Handels: Theorie der
Städtebildung
Es gehört zu den merkwürdigsten Tatsachen der an solchen Merkwürdigkeiten überreichen Dogmengeschichte der Ökonomik, daß mehr als ein halbes Jahrhundert darüber hingegangen ist, ehe jemand auf den Gedanken kam, die Thünensche Methode nach der anderen Seite hin auszubauen, d. h. zu untersuchen: nicht, wie sich bei gegebenem Zentralmarkt mit gegebenem Preise für das „Getreide" der Standort und die Betriebsart der Urproduktion gestaltet, sondern umgekehrt, zu untersuchen: wie sich bei gegebenem Zustande der Urproduktion der Standort und die Betriebsart der Gewerbe und des Handels, kurz der städtischen Produktion, gestaltet. Das ist um so merkwürdiger, weil sich die Elemente einer solchen „Theorie der Städtebildung" bereits bei Adam Smith finden, wie überhaupt fast alle Elemente der endgültigen Theoretik.1 Der Meister schöpft überall aus dem vollen einer alles umspannenden soziologischen Weltanschauung; nur, daß er es noch nicht vermochte, die überwältigende Fülle des auf ihn eindringenden Stoffes gedanklich völlig zu beherrschen. Erst sein Schüler Carey hat die hier angedeuteten Gedanken etwas weiter geführt, Careys Schüler Eugen Dühring noch etwas weiter. Dann hat sich mir im Jahre 1898 zuerst die klare Erkenntnis erschlossen, daß hier ein eigenes Problem vorliegt, und ich habe die Grundzüge seiner Lösung im ersten Teile meines Werkes: „Großgrundeigentum und soziale Frage" zu skizzieren versucht: Wir wissen bereits, wo in der reinen Ökonomie der Standort der ersten Städte im eigentlichen Sinne, der Gewerbsstädte, sein muß, nämlich in den naturgegebenen Orten des niedersten sozialen Druckes: in den „natürlichen Minima". Wir wissen: die Menschen strömen wie Gase und Flüssigkeiten vom Orte höheren zum Orte geringeren Druckes auf der Linie des geringsten Widerstandes; dieses mein „Gesetz der Strömung" ist nur eine andere, für soziologische Erörterungen brauchbarere, Fassung des „Prinzips des kleinsten Mittels". Wir haben dann gesehen, daß die Menschen solchen Orten des geringeren Druckes immer in so großer Zahl zuströmen, daß ihre Vorteile mit denen aller anderen an Orten größeren natürlichen Druckes „wieder auf eine Linie kommen", wie Smith sagte; die Konkurrenz reguliert überall, wo kein Monopolverhältnis einspielt, die Gewinne zur vollen Ausgleichung der realen Einkommen. Das haben wir an den Urprodukten bereits beobachtet. Wir sahen, daß die Hufe sich der Größe nach ohne weiteres der Gunst des Bodens und der Verkehrslage anpaßt, wo das Land noch nicht okkupiert ist. Hier mag angemerkt werden, daß es sehr von den Verhältnissen abhängt, welcher Boden der „beste" ist. Carey hat sich, wie gezeigt, bemüht, induktiv nachzuweisen, daß unter primitiven Verhältnissen mit schwacher Kooperation und daher geringer technischer Ausstattung der leichte Sandboden baumfreier Abhänge derjenige ist, den der Siedler bei freier Wahl zuerst besetzt, nicht
1
Die erste Andeutung finde ich bei Steuart [An Inquiry into the Principles of Political Economy, London 1767, Kap. IX]: Die Rentner können wohnen, wo sie wollen, die Industriellen dort, wo sie müssen, d. h. vor allem am Sitz der Rentner und der Regierung. Andere, namentlich Manufakturen, haben ihren Wohnsitz an Wasserkräften, an Orten, wo Feuerung und Rohmaterial vorkommt, und wo Lebensmittel wohlfeil sind. Auch bei Thünen ist das Problem gestellt (v. Thünen, Der isolierte Staat, Jena 1921, S. 426), aber nicht weitergeführt.
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aber der tiefgründige Ackerboden der Flußtäler. Denn der muß in der Regel erst gerodet und entwässert werden, und dazu gehört hohe Kooperationsstaffel. Die Lehre ist sehr plausibel und wahrscheinlich für die Mehrzahl der primitiven Ansiedlungen wahr. Auf höchster Kooperationsstaffel ziehen dann die intensivsten Betriebe, die Gärtnereien der innersten Zone, wieder den leichten Boden vor. Der Gärtner „macht seinen Boden selbst", und dazu ist milder, lehmiger Sand ein besseres Substrat als schwerer Lehmboden, den der Bauer vorzieht, wo der Untergrund nicht naß ist. Ganz wie sich bei der primitiven Besiedlung die natürlichen Minima der im augenblicklichen Zustand der Gesellschaft günstigeren Böden dichter mit Menschen auffüllen, ganz so füllen sich die noch viel tieferen natürlichen Minima der für die Gewerbe prädestinierten Standorte mit noch viel mehr Menschen bis zur Ausgleichung auf. Es sind das solche Orte, wo natürliche Schätze gewonnen werden: Bergprodukte wie Salz, Eisen, Kupfer, Edelmetalle, Edelsteine - oder reiche Fischplätze; und ferner solche Orte, wo der Handel seine naturgegebenen Sammelorte findet: an Häfen, an Furten, an Kreuzungsstellen, an Bergpässen usw. Versuchen wir, uns den Prozeß der Städtebildung unter ganz reinen Verhältnissen vorzustellen: in einer reinen Ökonomie, die als geographisches Gebiet Thünens isolierten Staat besetzt hält. Wir nehmen dabei mit ihm an, daß die Zentralstadt der einzige Ort ist, wo Mineralien und andere Naturschätze gefunden werden. Hier entsteht die erste Stadt, sobald der Kollektivbedarf groß genug geworden ist, um die sekundäre Arbeitsteilung zwischen Stadt und Landbezirk zu gestatten. Kann es bei der einen Stadt bleiben, und wenn nicht, wo entstehen die neuen Städte? Lassen wir das Wachstum der Bevölkerung immer weiter gehen; der Anbaukreis wächst unaufhörlich, alle Zonen verbreitern sich. Die Transportkosten, die dem Erzeugungswerte des Grenzprodukts zugeschlagen werden, wachsen dauernd, der Marktpreis des „Getreides", ausgedrückt in Gewerbsprodukten, steigt in einer regelmäßigen Kurve. Und zwar steigt er langsamer als die Zahl der Bevölkerung. Denn ein gegebener Zuwachs von Köpfen besetzt immer genau die gleiche Fläche in Gestalt eines neuen Kreisringes. Je weiter entfernt aber vom Zentrum der Ring ist, um so geringer wird seine Höhe (ein schmalerer äußerer Ring hat dieselbe Flächengröße wie ein breiterer innerer Ring): und nur die Höhe vermehrt die ökonomische Entfernung und die Transportkosten. Diese, und daher der zentrale Marktpreis des Urprodukts, wachsen daher langsamer als die Bevölkerung. Wenn wir in irgendeinem gegebenen Augenblick die Gesellschaft beobachten, so finden wir, daß von der Peripherie zum Zentrum hin der Preis des Urprodukts regelmäßig steigt. Er ist an der Peripherie der Erzeugungspreis loco und vermehrt sich zentralwärts immer um den immer wachsenden Aufschlag an Transportkosten. Daraus folgt, wie wir in der „Statik der Preisrelation" feststellten, daß auch die Geldeinkommen aller Produzenten sich genau in derselben Weise abstufen müssen, außen am geringsten, innen am größten sind. Denn die Konkurrenz kann nicht eher zur Ruhe kommen, ehe die sachlichen „realen" Einkommen überall gleich sind. Der Ort, der geringere Nahrungskosten hat, muß auch geringere „nominale" Arbeitseinkommen in Geld haben, sonst wäre der Gewinn größer. Und das bedingt in der statischen Wirtschaft, daß alle Befriedigungsmittel, die am Orte erzeugt werden, um so billiger sind, je näher der Ort der Peripherie liegt. Denn ihre Tauschwerte lösen sich sämtlich auf in geringere nominale Arbeitseinkommen. Daraus ergibt sich, daß bei wachsender Bevölkerung ein Zeitpunkt eintreten muß, wo eine sekundäre Stadt in einer Anzahl von Produktionen in erfolgreichen Wettbewerb mit der Zentralstadt eintreten kann. Ihr Standort und der Zeitpunkt ihrer Entstehung lassen sich mathematisch genau berechnen. Der Ort, wo der erste gewerbliche Produzent möglich ist, ist derjenige, wo das erste Produkt billiger abgegeben werden kann als in der Hauptstadt, d. h. wo es geringeren Tauschwert loco hat.
Das Kapital: Vierter Abschnitt
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Aller Tauschwert setzt sich, wie wir wissen, zusammen aus Selbstkosten und Gewinn. Der Produzent draußen hat auf die Wareneinheit höhere Selbstkosten zu verwenden, weil er der Vorteile der Kooperation ermangelt, die sein Konkurrent in der Stadt hat: folglich ist er möglich an der Stelle, wo seine höheren Selbstkosten um ein Differential überkompensiert werden durch seinen geringeren Gewinnaufschlag. Das ist der ökonomische Ort der neuen Gewerbsstadt. Ihr Keim, der erste Produzent, kann natürlich nur dasjenige Produkt herstellen, das in der Hauptstadt auf der geringsten Kooperationsstaffel erzeugt wird, also die höchsten Selbstkosten hat. Das ist der erste Gewerbszweig, der außerhalb der Hauptstadt an diesem Orte möglich ist. Diese Produkte wird jeder Wirt bei ihm kaufen, der sie, alle Transportkosten eingerechnet, zu einem um ein Differential geringeren Beschaffungspreise bis an den Ort ihrer Verwendung erhalten kann. Diese Bestimmung begrenzt genau das Gebiet des möglichen Absatzes; die Linie derjenigen ökonomischen Orte, wo der Beschaffungswert des Produkts gleich hoch ist, ob es von dort oder von hier bezogen werde, grenzt die Einflußsphäre unseres Produzenten ab. Der Zeitpunkt aber, wo er in Tätigkeit treten kann, ist der Augenblick, wo der Kollektivbedarf dieser Einflußsphäre groß genug angewachsen ist, um einen çigenen spezialisierten Produzenten zu ernähren. Neben diesen Produzenten setzt sich, wenn der Kollektivbedarf weiter wächst, ein zweiter, ein dritter. Die Arbeitsteilung setzt ein und ermäßigt auch hier die Selbstkosten. So entsteht allmählich eine sekundäre Stadt, oder vielmehr, es entstehen eine Anzahl von ganz gleich entfalteten sekundären Städten in gleicher Entfernung vom Zentrum an den radiär zur Peripherie ziehenden Straßen. Und bei weiterem Wachstum entstehen tertiäre usw. Gewerbszentren nach den gleichen Gesetzen. Diese Deduktion ist das abstrakteste und irrealste, was sich erdenken läßt. Denn in der Realität entfaltet sich die Wirtschaft nicht von einem Punkte, sondern von vielen Zentren aus, deren Kreise dann zusammenwachsen; in der Realität finden sich Naturschätze nicht nur an einer Stelle, sondern an vielen: Holz ζ. B. ist fast überall vorhanden, und Metall, namentlich Eisen, sehr gemein, so daß schon früh in jedem größeren Dorfe wenigstens ein Universalhandwerker sowohl der Holz- wie der Metallbranche die Existenzbedingungen findet: dennoch gilt auch von dieser Deduktion, was von der Thünenschen feststeht, daß sie die allgemeine Formel angibt, die, mit den benannten Zahlen der empirischen Wirklichkeit erfüllt, korrekte Resultate ergibt. Wo immer ein Ort geringeren wirtschaftlichen Druckes gegeben ist oder im Wachstum der Gesellschaft entsteht, d. h. wo immer ein Gewerbetreibender bei gleichem realen Einkommen, d. h. gleichem Einkommen an Befriedigungsmitteln, trotz geringerem nominalen Einkommen in Geld, billiger produzieren kann als sein Konkurrent, da ist der ökonomische Ort einer neuen Gewerbsansiedlung, ganz gleichgültig, aus welchen Ursachen sein Vorteil folgt, ob aus der Verfügung über billigere Werkgüter oder billigere Dienste oder geringere Transportkosten usw. Und sie entsteht immer in dem Augenblick, wo ihr ökonomisches Absatzgebiet kaufkräftig genug ist, um wenigstens einen spezialisierten Produzenten zu ernähren. In diesem Prozeß stuft sich die gewerbliche Produktion so ab, daß die großen Zentren nur noch für ihr nächstes Gebiet die Waren produzieren, die auf geringer Kooperationsstaffel erzeugt werden, und nur noch für ein etwas weiteres Gebiet diejenigen Waren, die auf mittlerer Staffel erzeugt werden; dagegen versorgen sie ein großes, bzw. im isolierten Staate das ganze Gebiet mit allen Produkten höchster Staffel. Entsprechend sind die Versorgungsgebiete der sekundären, tertiären usw. Zentren beschaffen: eine Arbeitsteilung, die überall mit dem kleinsten Mittel den größten gesellschaftlichen Gesamterfolg herbeiführt, eine reiche, untadelhaft ineinander greifende Gliederung zahlreicher Zentren von der Groß- und Weltstadt abwärts bis zum Dorfe: jedes mit einem ihm durch Transportwiderstand, Lebensmittelpreise und Kollektivbedarf wohl zugemessenen konkurrenzfreien Versorgungsgebiet. Und jedes umgeben durch Thünensche Zonen, deren Höhe und Fläche abhängig ist von dem Kollektivbedarf der Stadt. Hier besteht das Wechselverhältnis, das wir
Zweiter Teil:
722
Marktwirtschaft
soeben dargestellt haben: je größer der durchschnittliche Marktbedarf nach Gewerbswaren jedes einzelnen Konsumenten in dem Versorgungsgebiete, um so größer ist die Stadt; und je größer die Stadt ist, eine um so kräftigere Nachfrage nach dem Urprodukte übt sie aus, und um so höher sind dadurch sein Preis und die Kaufkraft ihrer bäuerlichen Abnehmer.
3. Die internationale
Arbeitsteilung
Wir haben bisher die Wirtschaftsgesellschaft immer als ein einheitliches Gebilde betrachtet. Jetzt müssen wir uns noch um einen Schritt weiter der Wirklichkeit nähern, indem wir der Tatsache Rechnung tragen, daß die Wirtschaftsgesellschaft der Gegenwart in eine Anzahl von politisch unabhängigen Staaten geschieden ist. Dadurch ändert sich grundsätzlich nichts an den Ergebnissen der rein-theoretischen Betrachtung. Es würde genügen, zu erwähnen, daß die Politik der Staaten, namentlich unter der Leitung des öffentlich-rechtlichen Klassenmonopols der Staatsverwaltung, in der Lage ist, vielfach durch außerökonomische Gewalt in den Ablauf der Selbststeuerung störend einzugreifen. Sie kann auf die verschiedenste Weise der Bewegung der Menschen und Güter politische Transportwiderstände in den Weg stellen. Im Kriege durch die Sperrung der Grenzen gegen die Einfuhr aus dem Auslande (Einfuhrverbot aus Feindesland) oder durch ihre Sperrung gegen die Ausfuhr aus dem Inlande (Verbot der Ausfuhr von Nahrungsmitteln, Pferden usw.), oder durch die Sperrung der Seestraßen durch Kaperschiffe oder Blockaden. Im Frieden können solche Transportwiderstände geschaffen werden durch Zölle, durch Sperrung aus hygienischen Gründen oder Vorwänden (Quarantänen, Viehsperren, Untersuchung, Impfung usw. von Einwanderern, Rücksendung Kranker, ζ. B. Trachomkranker durch die Vereinigten Staaten); durch das Verbot der Einwanderung von Analphabeten, notorischen Verbrechern, Prostituierten, Farbigen, Anarchisten, Kontraktarbeitern; durch Maßnahmen der staatlichen Eisenbahn-, Fluß-, Kanal- und Hafenverwaltungen, die ihre Sätze für Ausländer erhöhen usw.; durch schikanöse Paßvorschriften oder ihre schikanöse Auslegung gegenüber gewissen Ausländern (Japaner in Westamerika, Juden im früheren Rußland), Ausschluß von Europäern überhaupt in manchen, namentlich mohammedanischen Ländern, früher in Japan und China, heute noch in Tibet. Andere Störungen der internationalen Selbststeuerung können ζ. B. entstehen durch die Währungspolitik der Staaten, ζ. B. bei Verschlechterung ihrer Valuta durch Ausgabe von massenhaftem uneinlöslichem Papiergeld mit Zwangskurs; durch die Finanzpolitik, ζ. B. durch Staatsbankerott oder durch einseitige Herabsetzung des vertragsmäßigen Zinsfußes der Anleihen auf dem Wege einer Talonsteuer oder durch Devisensperre; durch die Steuerpolitik, indem ζ. B. ausländische Reisende mit höheren Aufenthaltssteuern gebrandschatzt werden, oder dadurch, daß eine unerträgliche Besteuerung die eigene Bevölkerung zu Hunderttausenden aus dem Lande wirft, wie im zaristischen Rußland. Unmöglich, alle die Maßnahmen anzuführen, die die Staaten bereits ersonnen haben und noch ersinnen können, um, angeblich im Dienste des gemeinen Nutzens, faktisch aber meistens im Dienste des kurzlebigen Klassennutzens der regierenden Schicht, die Selbststeuerung der internationalen Wirtschaftsgesellschaft zu beeinflussen. Die reine Theorie hat wenig mit alledem zu tun: ihre Gesetze gelten über die politischen Grenzen fort; es macht keinen Unterschied ob die „ökonomische Entfernung" durch natürliche oder politische Ursachen bestimmt ist. Dagegen sind diese Dinge von der größten Bedeutung für die politische Ökonomie und die Wirtschaftspolitik.
Das Kapital: Vierter Abschnitt
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A. Die Handelsbilanz α. Der Merkantilismus Der Begriff der „Handelsbilanz" bildet das Zentrum der merkantilistischen Theorie, soweit man hier schon von einer Theorie sprechen kann. Es handelt sich vielmehr um wirtschaftspolitische Tendenzen, die hier und da in einigen theoretischen Gedanken einen gewissen Unterbau erhielten, um gegen die Einwände der Klassengegner geschützt zu sein. Denn natürlich ist auch hier alles Klassentheorie, und zwar diejenige des aufkommenden Unternehmerstandes und des zur Zeit mit ihm verbündeten Hofadels des Ancien regime, die sich gegen die Feudalgewaltigen zu verteidigen hatten. 1 Die präkapitalistischen, sehr prächtigen und sehr verschwenderischen Hofhaltungen, vor allem die der englischen Stuarts und der französischen Bourbonen, aber in kleinerem Maßstabe auch die der deutschen und slawischen Dynastien, waren dank ihrem großen Domänenbesitz und den daraus fließenden Naturalabgaben ihrer „Kronbauern" überreich mit allen Mitteln des groben Behagens ausgestattet. Aber sie begehrten die Befriedigungsmittel des verfeinerten Geschmacks und des perversen Luxus und hatten daher erstens das Interesse, im Lande selbst ein starkes Gewerbe heranzuziehen, und zweitens, das bare Geld zu erhalten, das gebraucht wurde, um die Hofhaltung selbst in ihrer raffinierten Pracht aufrechtzuerhalten, um die adligen Parasiten zu füttern, die keine andere Existenzquelle hatten, als ihre Pensionen, und nicht zuletzt, um die endlosen Kriege zu führen, in die das Gloriabedürfnis, die dynastischen Familieninteressen und die konfessionellen Superstitionen die Reiche verwickelten. Da Westeuropa, in dem der Merkantilismus blühte, nur wenig ergiebige eigene Gold- und Silberminen besaß, auch, mit Ausnahme Spaniens, keine nennenswerten Metallschätze in seinen damaligen Kolonien hatte, so konnte man Geld nur auf dem Wege entweder der Anleihen oder der Warenausfuhr herein bekommen, wenn die Waren mit barem Gelde, nicht aber mit anderen Waren, bezahlt wurden. Das aber erschien den Interessenten und den wissenschaftlichen Vertretern ihrer Interessen nicht nur als möglich, sondern als das erstrebenswerteste aller Ziele. Denn das Geld galt ihnen infolge einer Blendung, die noch heute nicht von allen Augen, nicht einmal allen fachmännischwissenschaftlichen Augen, gewichen ist, nicht etwa nur als ein Teil des „Reichtums der Nation", sondern als der wichtigste Teil dieses Reichtums, ja, manchem als der Reichtum schlechthin. Und darum strebten sie mit allen Mitteln des Klassenmonopols der Staatsverwaltung darauf hin, eine günstige Handelsbilanz zu erzeugen, d. h. es zu ermöglichen, daß auf die Dauer mehr Waren aus- als eingeführt wurden, so daß die Differenz in Gestalt von Geld ins Land kommen und darin bleiben mußte. Zu dem Zwecke wurden die Erzeugungskosten der Industrie nach Möglichkeit herabgesetzt: durch Fabrikations- und Handelsprämien, durch Zuschüsse zum Bau neuer Fabriken und Manufakturen, durch Vergünstigungen bei der Besteuerung z. B. solcher qualifizierter Einwanderer, die als Werkleute oder Werkmeister ins Land gezogen wurden; durch Schutzzölle gegen fremde Konkurrenz usw. Und auf der anderen Seite suchte man der Industrie billige Löhne zu sichern, indem man
1
„Das Merkantilsystem war nichts anderes als wirtschaftlicher Machiavellismus [...] Die Merkantilisten gingen allerdings davon aus, festzustellen, aus welchen Ursachen dieses oder jenes Volk zu wirtschaftlicher Blüte gelangt sei; der Schwerpunkt ihrer Schriften aber liegt in den Vorschlägen, die sie daran knüpfen, welche Maßnahmen man ergreifen solle, um ein Volk zu wirtschaftlicher Blüte zu führen. Und in der Praxis wurde daraus eine Politik, welche im Innern die wirtschaftlichen Interessen derjenigen Kreise, die man aus politischen Gründen zu gewinnen suchte, förderte, die der übrigen schädigte, und die nach außen von dem Geiste des Roßtäuschers erfüllt war, der nur in der Benachteiligung des Gegenkontrahenten seinen Vorteil sieht." (Brentano, Wie studiert man Nationalökonomie?, München 1911, S. 9f.)
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
die Arbeiter durch Regulative und Gesetze, durch Lohntaxen aller Art, zwang, für einen Mindestlohn zu arbeiten, und indem man die Landwirtschaft unmittelbar für Industriezwecke besteuerte, wie durch die Armengesetze Englands, oder mittelbar heranzuziehen versuchte, wie durch das Verbot der Getreideausfuhr, das billige Preise und dadurch billige Löhne erzielen sollte. Das war das handels-, gewerbe-, agrar- und sozialpolitische System des Merkantilismus, das übrigens in jedem Lande seine eigene Ausprägung erhielt, je nachdem dieses eigene Edelmetall-Minen besaß, die Seefahrt beherrschte usw.; es erhielt seine folgerichtigste Ausgestaltung durch den französischen Minister Colbert und wird daher auch als Colbertismus bezeichnet. Als praktisches System zur Erziehung einer Industrie kann es verteidigt werden und hat als solches in Frankreich eben unter Colbert und ζ. B. in Preußen unter Friedrich Π. gewiß mehr Segen als Unheil gebracht: aber theoretisch ist es augenscheinlich unsinnig. Man kann nur verkaufen, wenn und so viel man kauft. Nun ist es ja natürlich möglich, daß eine Volkswirtschaftsgesellschaft sich darauf kapriziert, statt letzter Güter oder Werkgüter Edelmetall zu kaufen. Das ist unpraktisch, denn man kann Gold nicht essen, kann sich mit Gold nicht kleiden usw. Aber es ist möglich. Die Gesellschaft spielt dann eben die Rolle des monomanischen Geizhalses, der in seinem Horte wühlt und für dieses sterile Vergnügen auf jeden wirklichen Genuß verzichtet. Denn auch sie dürfte ihren Metallhort nur thesaurieren: wollte sie ihn in natura oder auch nur in Gestalt vollgedeckter gegen Metall einlösbarer Noten in den Verkehr bringen, um dafür Wertdinge zu kaufen, so würde sie ihn sofort wieder abströmen sehen. Wo nämlich aus irgendwelchen Ursachen der Metallgeldvorrat einer einzelnen Staatswirtschaftsgesellschaft größer wird, als dem allgemeinen Durchschnitt des gesamten Kreises der Gesamtwirtschaftsgesellschaft entspricht, da sinkt Geld in der Preisrelation gegen alle anderen Waren. In dieser Lage befand sich, wie oben erwähnt, lange Zeit Spanien, das die Silber- und Goldtribute seiner Kolonien durch allerhand, aus merkantilistischem Geiste geborene, Maßnahmen im Lande festzuhalten versuchte. Wo aber Geld billiger ist als an anderen Stellen, da versucht der Ausländer, es gegen Waren zu kaufen und zwar womöglich gesetzlich im offenen Markte oder, wenn das verboten ist, ungesetzlich auf dem Wege des Schmuggels. Für den auswärtigen Importeur stellt sich die Kalkulation natürlich umgekehrt dar: er erzielt für seine Waren im Lande der „Geld-Plethora" (Plethora heißt Uberfüllung, medizinisch Vollsaftigkeit), höhere Geldpreise als anderswo und sucht natürlich diesen günstigsten aller Märkte auf; er macht sich nicht klar, daß er Geld billig kauft, sondern glaubt, Ware teuer zu verkaufen. Daher findet ein gewaltiger Import von Waren statt, der mit Geld, statt mit anderen Waren bezahlt wird. Das aber hat nicht nur für die Volkswirtschaft die gleichgültige Folge, daß das überschüssige Geld abströmt, sondern auch die ihr sehr schädliche Folge, daß der heimische Gewerbefleiß schwer gestört und vielleicht zerstört wird. Er kann die Konkurrenz des Auslandes nicht bestehen, weil er mit viel teureren Geldlöhnen und Geldpreisen aller heimischen Werkgüter zu rechnen hat. Das Geld aber strömt unaufhaltsam ab, sobald es in den Verkehr tritt, und zwar teils in Gestalt barer Zahlungen, teils als Saldierung des Kreditgeldverkehrs. Wenn nämlich das Ausland viel mehr Waren in das Land der Geld-Plethora sendet als empfängt, so laufen viel mehr Wechsel auf das letztere als umgekehrt. Die „Devisen" auf das Ausland erhalten also ein Agio, steigen über den „Goldpunkt", und der Saldo wird durch Goldversendung ausgeglichen. Das Plethoraland aber behält nicht mehr Edelmetall, als es bei dem Stande der Kooperation braucht, um seine Täusche zu vermitteln und das Gewerbe zu versorgen: nur wird nach einem solchen unsinnigen Experiment die Kooperation wesentlich tiefer stehen als vorher, weil der heimische Gewerbefleiß schwer geschädigt ist.
Das Kapital: Vierter Abschnitt
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ß. Der Neo-Merkantilismus Trotz dieser unzweifelhaften und kaum je bestrittenen Zusammenhänge strebt eine moderne Schule, die wohl auch als Neo-Merkantilismus bezeichnet wird, immer noch nach einer günstigen Handelsbilanz als einem sehr wünschenswerten Ziele. Es sind das gewisse schutzzöllnerisch gerichtete Wirtschaftspolitiker, die von dieser Theorie aufrechterhalten möchten, was sich irgend halten läßt, weil ihnen das praktische System in vieler Beziehung als noch heute brauchbar erscheint, und sei es auch nur zur Erziehung neuer nationaler Industrien. Darüber kann hier nicht ausführlich gehandelt werden. Nur die Andeutung, daß in der reinen Ökonomie jeder Schutzzoll schädlich wirken muß, während er in der kapitalistischen, namentlich in ihren Anfängen, mit Friedrich List als Erziehungszoll wohl verteidigt werden kann. Denn in der reinen Ökonomie, wo alle Vorteile der gesteigerten Kooperation sich gleichmäßig auf alle Mitglieder der Gesellschaft verteilen, kann der Import billigerer auswärtiger Produkte wohl einige Gewerbetreibende vorübergehend schädigen, muß aber der Volkswirtschaftsgesellschaft im ganzen die größten Vorteile bringen und dadurch auch die Geschädigten kraft der Tendenz zur „absoluten Äquivalenz" bald wieder in bessere als die verlorene wirtschaftliche Lage bringen. Wird nämlich ein bedeutender Teil des Kollektivbedarfs billiger vom Auslande importiert, so wird zwar Arbeitskraft, aber auch Kaufkraft freigesetzt; letztere verlangt Befriedigung durch neue Produkte, und an ihrer Produktion findet die freigesetzte Arbeitskraft alsbald lohnendere Beschäftigung: lohnendere, denn die höhere internationale Kooperation bedeutet immer höhere Produktivität. In der kapitalistischen Ökonomie aber kann ein Schutzzoll wenigstens in den Frühzeiten als Erziehungsmaßnahme sehr wertvoll sein. Denn hier, wo alle Vorteile gesteigerter Kooperation fast nur der Oberklasse zufließen, kann durch den Angriff einer höher entfalteten ausländischen Industrie der heimische Gewerbefleiß mit einem Schlage aus dem Markte geworfen werden, wie es den Webern aller Welt durch die Konkurrenz der englischen Baumwollgewebe geschah. Und dann wird der Druck auf dem Markte der Dienste ungeheuer vermehrt, erstens, weil diese expropriierten Selbständigen zu arbeitsuchenden Proletariern geworden sind, und zweitens, weil die Landproletarier nicht mehr in gleichem Maße in die Industrie abströmen können wie bisher. Dagegen wird ein Schutzzoll es erreichen können, daß das heimische Gewerbe seine Arbeitskräfte nicht nur festhält, sondern sogar stark vermehrt, und dadurch wird das Landproletariat in steigendem Maße abgesaugt, und sein Lohn steigt und mit ihm der Lohn der Stadtproletarier. Wenn die Neomerkantilisten ihre Handelspolitik mit diesen Gründen verteidigten, so ließe sich darüber reden. Es wäre in jedem Falle zu untersuchen, ob eine nach Schutzzoll lüsterne Interessentengruppe noch eines auf gemessene Frist gewährten Erziehungszolles bedarf oder nicht. Statt dessen rechtfertigen sie ihre Politik mit Argumenten, die nicht Stich halten, und machen sich dadurch gutgläubig zu Verfechtern mächtiger Interessengruppen, die unter der Maske des gemeinen Nutzens ihren Privatvorteil erstreben, obgleich die produktiven Kräfte dadurch viel mehr gelähmt als gefördert werden. Indes, darüber kann man verschiedener Meinung sein. Aber keinesfalls dürfen die Ziffern der Handelsstatistik herangezogen werden, um eine „ungünstige Handelsbilanz" herauszurechnen und mit ihr die Schutzzollpolitik zu begründen. Denn für diesen Zweck ist die Statistik ganz unbrauchbar. Die nackten Zahlen ohne Kommentar beweisen nichts, wie aus folgender reductio ad absurdum hervorgeht, die mit Recht gegen die Theorie und ihre statistische Begründung angewendet worden ist. Unterstellen wir, daß sämtliche Handelsschiffe eines Landes während eines Jahres untergehen, ehe sie den fremden Hafen erreicht haben.1 Dann gehen Milliarden aus, nichts ein, und der Aktiv-
1
Ähnlich List, Das nationale System der politischen Ökonomie, Stuttgart/Tübingen 1841, S. 240.
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Saldo der Bilanz ist maximal. Statistisch würde sich also eine so ungeheure Katastrophe als die günstigste Handelsbilanz darstellen. Daraus geht hervor, daß die Zahlen an sich nichts beweisen; sie bedürfen mindestens immer eines Kommentars. Ferner sind sie nicht vergleichbar, weil die einzelnen Zollbehörden verschiedene Schätzungsmethoden anwenden, um den Wert zu ermitteln. Schon darum können die Ziffern der Handelsbilanz kaum zu etwas anderem dienen, als mit sich selbst verglichen zu werden, d. h. um die Bewegung des auswärtigen Handels einer Volkswirtschaftsgesellschaft, für sich betrachtet zu verfolgen, zu sehen, wie sich Einfuhr und Ausfuhr im ganzen, und Ein- und Ausfuhr bestimmter Warengruppen im einzelnen verschieben, um daraus gewisse Schlüsse auf Fortschritt oder Rückschritt, vermehrte oder verminderte Integration mit dem Kreise der Internationalwirtschaft zu ziehen. Vor allem aber kommt sogar für das, was hier bewiesen werden soll, nicht die Handelsbilanz, d. h. die Ziffer der ausgetauschten Güter, sondern zunächst die Zahlungsbilanz, d. h. die Ziffer der ausgetauschten Wertdinge in ihrer Gesamtheit, in Betracht.
B. Die
Zahlungsbilanz
Die Handelsstatistik kann nämlich nicht einmal die zwischen zwei nationalen Wirtschaftsgesellschaften ausgetauschten Güter in ihrer Gesamtheit ohne Rest erfassen, und ganz entziehen sich ihrer Zählung die ausgetauschten Dienste und Machtpositionen, namentlich die Kapitalstücke. Was die Güter anlangt, so kann sie vor allem die Summen in barem Gelde oder Kreditgeld nicht erfassen, die Reisende der fremden Nation im Lande gegen Güter, Dienste und ev. Machtpositionen vertauschen. 1 Diese Wertsumme müßte in der Handelsbilanz die Ausfuhrziffer vermehren. 2 Ferner gehen zwar die Steinkohlen und die Nahrungsmittel aus, die die Schiffe für Heizung und Verproviantierung aus den Häfen mitnehmen, aber sie gehen in kein fremdes Land ein. Dasselbe gilt, wie Giffen einmal betonte, von den Schiffen selbst. Ferner wird ein beträchtlicher Teil des Exports von Geld (in Noten, Schecks usw.) und von Gütern, die als Warenproben oder Muster ohne Wert durch die Post verschickt werden, von den Statistikern nicht gezählt. Von den Diensten schlagen am stärksten die Transportdienste zu Buche; durch die Unmöglichkeit, sie zu erfassen, wird die Handelsbilanz völlig unbrauchbar für den ihr von den Neomerkantilisten zugedachten Gebrauch. Denn der Wert eines Exportgutes ist im Ankunftsorte um die Fracht samt Versicherung höher als im Heimatorte. Unterstellen wir, daß zwei Länder miteinander derart im überseeischen Handelsverkehr stehen, daß der Wert der beiderseitigen Exportgüter im Heimathafen völlig gleich ist; unterstellen wir ferner, daß je die Hälfte dieses Wertes von Verfrachtern jedes Landes befördert werde - so haben doch beide eine „ungünstige" Handelsbilanz. Denn in jeden Ankunftshafen kommt mehr Wert ein als ausging, und nur den kann die Zollbehörde feststellen. Nicht feststellen aber kann sie die von beiden Ländern ausgegangenen und in sie eingegangenen niederen Wertdinge der Dienste der Verfrachtung und Assekuranz, die die scheinbare Differenz im Werte der Güter hier so völlig bilanzieren, daß keinerlei Goldbewegung erforderlich ist, um die „Spitze" auszugleichen.
1 2
Den Reingewinn Italiens aus dem Fremdenverkehr schätzte Michels auf jährlich weit über 500 Millionen Lire (in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 3. Kriegsheft, S. 605). Dazu kommen Barversendungen ins oder v o m Auslande. Nach Flürscheim (Not aus Uberfluß. Beitrag zur Geschichte der Volkswirtschaft der Boden-Reform, Leipzig 1909, S. 181) gingen aus den Vereinigten Staaten 1907 allein an Postanweisungen fast 84 Millionen Dollar aus. Schecks sind kaum statistisch zu erfassen, die für Familienunterstützung, Peterspfennig, Mitgiften usw. ausgehen.
Das Kapital: Vierter Abschnitt
III
Wenn aber von den beiden Ländern nur das eine das Geschäft der Verfrachtung usw. ausführt, so erscheint natürlich seine Handelsbilanz noch viel ungünstiger. Denn das andere Land zahlt diese Dienste mit Gütern - und so übersteigt die von der Zollbehörde im Verfrachterland gezählte Wertmasse des Eingangs an Gütern den Ausgang um noch viel größere Beträge. Weniger zu Buche schlagen andere Dienste, die Wirtschaftspersonen des einen solchen des anderen Landes leisten: Versicherung, Vermittlerdienste von Agenten, Börsenmaklern usw., 1 von Konsulenten in Rechtsangelegenheiten, von Erziehern, die Kinder der fremden Nation beherbergen und unterrichten, von Ärzten, die zum Konsilium berufen werden, von Patentanwälten, die fremde Patente vertreten usw. Was aber die Zahlungsbilanz noch entscheidender beeinflußt, als diese Täusche solcher Wertdinge niederer Ordnung, die nicht von der Statistik erfaßt werden, ist der Tausch von Machtpositionen und ihren Nutzungen. Kapitalkräftige Länder, wie Großbritannien, Belgien, Frankreich, Deutschland vor dem Weltkriege, nach ihm vor allem die Vereinigten Staaten haben gewaltige Summen fremden „Kapitals" erworben, sei es durch Leihe, sei es durch Kauf.2 Viele Milliarden von Aktien, Kuxen und anderen Anteilen an ausländischen Unternehmungen aus allen Zweigen der Produktion befinden sich in den Händen ihrer Oberklasse; vielleicht noch größere Werte sind in fremdländischen Staats- und Eisenbahnanleihen in Hypotheken usw. angelegt. Die Dividenden und Zinsen dieser Papiere, die Grundrente des auswärtigen Großgrundeigentums, der auswärtigen Bergwerke, Diamantengruben, Goldminen usw. fließt ins Land und zwar nur zum kleineren Teile in Form von barem Gelde, vorwiegend in Form von Gütern, zum Teil auch in Form von Diensten, ζ. B. Transportdiensten, und schließlich wieder in Form von Machtpositionen, von neuen Rechtstiteln auf fremdes Kapital- oder Grundeigentum. Deutschland gab ζ. B. für den russischen Roggen, den es importierte, als Gegenwert ungeheure Beträge von Kupons der russischen Staatsanleihen und Eisenbahnobligationen. Je reicher also ein Land im Vergleich zu einem anderen ist, je mehr es „Gläubigerland" ist, um so mehr übersteigt seine Einfuhr seine Ausfuhr; je ärmer es ist, je mehr es „Schuldnerland" ist, um so mehr übersteigt seine Ausfuhr seine Einfuhr. Wenn man daher aus den Vergleichen einen Schluß ziehen will (was immer nur mit vorsichtiger Bewertung jeder einzelnen Zahl geschehen darf, weil sie das Ergebnis der verschiedensten Kombinationen günstiger und ungünstiger Umstände sein kann), dann ist eine „ungünstige" Handelsbilanz ein günstiges, und eine „günstige" Handelsbilanz ein ungünstiges Zeichen für den relativen Wohlstand einer Nation.3 Diese Dinge haben mithin keine ernste wissenschaftliche Bedeutung. Sie sind pure Klassen- und Interessenadvokatie, die sich wissenschaftlich drapiert, um Anhänger zu werben. Noch eine Bemerkung zum Schlüsse: man hört vielfach die Meinung äußern, daß ein Land nur dadurch Gläubigerland mit „ungünstiger", dauernd passiver Handelsbilanz werden könne, wenn es vorher aktive Handelsbilanz gehabt habe. Denn offenbar könne es die Kapitalstücke im Auslande
1
Die Provisionen der „Bill-brokers" in London, die die Wechsel des großen internationalen Handelsverkehrs zum bedeutenden Teile mit ihrem Giro versehen (die Pfund-Devise herrscht auch heute noch fast unbeschränkt), schlagen allerdings mit gewaltigen Summen in der Zahlungsbilanz zu Buch (vgl. Helfferich, Das Geld, Leipzig 1903, S. 50; ferner Withers, Geld und Kredit, dt. Ausgabe, Jena 1911, S. 82f.).
2
Das wußte Steuart auch schon. Vgl. derselbe, A n Inquiry into the Principles of political Economy, Bd. II, Kap. 30. Nach Helfferich (Das Geld, S. 504) schätzte Giffen die Einnahmen Englands aus Zinsen und Unternehmergewinnen von ausländischen Kapitalanlagen auf 90 Millionen £, aus internationalen Zwischenhandelsdiensten auf 18, aus Schiffahrtsdiensten für das Ausland auf 70 Millionen £, zusammen aus diesen drei Posten auf 178 Millionen Pfund, während das Passivsaldo der englischen Handelsbilanz nur 150.175 Millionen Pfund betrug.
3
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nur erworben haben durch Ausfuhr von Geld oder anderen Gütern. So ζ. B. habe Deutschland einen großen Teil seiner russischen Anlagen gekauft gegen Eisenbahnwagen, Lokomotiven, Schwellen und Schienen, die es exportiert habe, ohne in anderen Gütern Gegenwerte erhalten zu haben: damals müsse also seine Handelsbilanz im russischen Handel aktiv gewesen sein. Wir wollen davon absehen, daß diese Erwägung die Dienste vernachlässigt. Mit dieser Einschränkung könnte man sie als richtig zugeben - wenn zwischen Personen und Nationen eben nur die Beziehungen des ökonomischen Mittels bestanden. Aber es bestehen auch zwischen den Nationen die Beziehungen des politischen Mittels, und das wirkt auf Handels- und Zahlungsbilanz mit starker Kraft ein. Was ζ. B. die Kreuzfahrer aus der Levante, die Conquistadoren aus Westindien, Peru und Mexiko, und die Offiziere des Lord Hastings aus Ostindien an erbeuteten Schätzen mit nach Hause brachten, war ein Import von Gütern, dem kein Export gegenüberstand; das gleiche war der Fall mit den englischen Subsidiengeldern, die Friedrich der Große während des Siebenjährigen Krieges erhielt, mit der Kriegsentschädigung von fünf Milliarden, die Frankreich 1871 an Deutschland, und den ungeheuren Beträgen, die Deutschland an die siegreiche Entente zahlen mußte. 1 U n d das gleiche gilt von Machtpositionen. Die riesenhaften Latifundien, die britische Gentlemen in Nordamerika, später in Australien und Neuseeland für ein paar Ellen bunten Kattuns „kauften"; das Arbeitsvermögen der Indios und Neger, die man zu Sklaven machte, waren unentgoltene Aneignung kraft politischen Mittels; und die Einnahmen von diesem politischen Eigentum, die in Gestalt von Gütern ins Land flössen, machten die Handelsbilanz von vornherein passiv. Alle diese Beziehungen, ökonomische und politische, friedliche und kriegerische, drücken sich in der Zahlungsbilanz aus. Dazu kommt der internationale Leiheverkehr kurzfristiger Kapitalanlagen. Wenn in einem Lande die Konjunktur günstiger ist oder scheint als in einem anderen, so kauft das erste von dem zweiten Beschaffungsgüter: bares Geld und Werkgüter, gegen Kapitalstücke, indem es Finanzwechsel begibt oder eigene Effekten lombardiert (in Pension gibt) und seine Tratten nach Möglichkeit prolongiert, d. h. durch neue Tratten ersetzt, statt mit Waren zu zahlen. Und umgekehrt: wenn in einem Lande das Produktivkapital sinkende Erträge hat, weil die Kaufkraft nicht ausreicht, so sucht die „Ausscheidung" Anlagen in fremdem Kapital. Hier walten ganz die Gesetze, die wir in der als einheitlich betrachteten Wirtschaftsgesellschaft festgestellt haben. Dieser gesamte Verkehr läßt sich statistisch nur zum kleinsten Teile und auch hier vielfach nur in gröbster Annäherung schätzungsweise erfassen. Irgendwelche praktischen Schlüsse auf die Handelspolitik lassen sich daraus nicht ziehen.
c. Die Selbststeuerung der wachsenden Gesellschaftswirtschaft: Die Disposition der Wertdinge in Produktion und Distribution Wie die Wirtschaftsgesellschaft, so steuert sich auch die Gesellschaftswirtschaft im räumlichzeitlichen Zusammenhang der Märkte durch den Preis: beides zusammen stellt den Gesamtprozeß dar, durch den dort die Arbeitskräfte, hier die Wertdinge zu Produktion und Distribution disponiert werden. Die der wachsenden Gesellschaftswirtschaft gestellte Aufgabe ist die Deckung des Kollektivbedürfnisses. Wie unterscheidet sich das Kollektivbedürfnis einer wachsenden von dem einer statischen Gesellschaftswirtschaft?
1
N a c h Helfferich p a s Geld, S. 511) war die vorher aktive deutsche Handelsbilanz 1872/74 mit 3.446 Millionen passiv, die vorher passive Handelsbilanz Frankreichs aber stark aktiv.
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Abschnitt
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Orientieren wir uns noch einmal an einer beliebigen statischen Wirtschaft, einer reinen oder politischen. Betrachten wir sie, als wäre sie eine einzige Kollektivperson. Sie hat genau so zu disponieren wie ein einzelner Wirt. Sie tritt in eine neue Einkommensperiode mit einem bestimmten Eigentum und Vermögen1 ein und darf nur so viel von ihrem Roheinkommen verzehren, daß sie am Ende der Periode den Stamm unvermindert besitzt. Ihr Roheinkommen ist der gesamte Betrag von Wertdingen niederer Ordnung, den ihre Mitglieder produzieren. Wollte die Gesellschaft diesen gesamten „Eingang" auf Verwendungswerte disponieren, so stände sie am Ende der Periode völlig entblößt da und hätte nicht einmal mehr die Roh- und Hilfsstoffe des Anfangs, um weiter produzieren zu können. Sie muß daher einen Teil ihrer Mittel an Arbeitskraft und Gütern zu Beschaffungsdiensten und -gütern bestimmen, um den Bestand immer wieder zu ersetzen. Ebenso muß sie „Abschreibungen" machen; d. h. hier: genügend Güter und Dienste für die Ausbesserung und Neubeschaffung des vernutzten Werkgutes bestimmen und muß ferner „Rückstellungen" für die Vernutzung der menschlichen Körpermaschinerie machen, um die nicht mehr voll Arbeitsfähigen zu ernähren. Dagegen sind hier, wo alles als statisch betrachtet wird, Rückstellungen für das Veralten der mechanischen Werkzeuge und Reservefonds für Notzeiten überflüssig. In Summa: die Gesellschaft muß ihre produktiven Kräfte so disponieren, daß ihre produzierenden Mitglieder außer den für sie selbst bedurften Verwendungsgütern auch die für die nicht alimentationsberechtigten Nicht-Produzenten bedurften Verwendungsgüter beschaffen und darüber hinaus das gesellschaftliche Beschaffungsgut und Gebrauchseigentum in seinem Anfangsstande wieder beschaffen. In der nicht-statischen, wachsenden und von anderen Störungen nicht freien realen Gesellschaft kompliziert sich diese Aufgabe der Disposition. Wachsende Volksdichte bedeutet unter sonst gleichen Umständen nach dem „Gesetz der Beschaffung" steigende Kooperation. Diese aber fordert und erlaubt nicht nur absolut vermehrtes, sondern relativ vermehrtes und verbessertes, der höher gestaffelten gesellschaftlichen Arbeitsteilung und -Vereinigung entsprechendes Werkgut. Zu seiner Beschaffung muß die Gesellschaft daher einen wachsenden Teil ihrer disponiblen Kräfte und Güter ausscheiden, oder, mit anderen Worten der Beschaffung letzter Güter entziehen. Da aber der Wirkungsgrad der gesellschaftlichen Arbeitskraft durch die steigende Kooperation im geometrischen Verhältnis wächst, während die Bevölkerung nur im arithmetischen wächst - das „Güteverhältnis" steigt -, so ist dennoch das Schlußergebnis steigender durchschnittlicher Wohlstand: die Gesamtbeschaffung an letzten Verwendungsgütern wächst so stark, daß durchschnittlich jedes Mitglied der Gesellschaft über ein größeres Reineinkommen an mehr und besseren Verwendungsgütern zu verfügen hat; und das ist ja der Zweck und das Wertergebnis steigender Arbeitsteilung. Der Vergleich zwischen mehreren aufeinanderfolgenden Perioden der gleichen wachsenden Wirtschaftsgesellschaft würde also ergeben, daß in jeder späteren Periode ein geringerer Prozentteil der Produzenten mit der Herstellung letzter Güter, ein größerer Prozentteil mit der Herstellung von Beschaffungsgütern, namentlich Werkgütern, beschäftigt ist, und daß dennoch pro Kopf, nicht etwa nur der Produzenten, sondern aller Mitglieder der Gesellschaft, eine größere Menge von Verwendungsgütern beschafft wird. Und zwar gilt das nicht etwa nur für die privatrechtlichen ökonomischen Personen, die als Einzelproduzenten oder Teilhaber an Kollektivpersonen der Beschaffung ein höheres Reineinkommen genießen, sondern selbstverständlich auch für die öffentlich-
1
Unter „Vermögen" verstehe ich denjenigen Teil des „Eigenturas", der seinem Inhaber ein Einkommen abwirft.
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
rechtlichen Personen des Gemeinen und des Klassennutzens: auch ihnen fließt ein höheres abgeleitetes Reineinkommen zu. Danach läßt sich das Kollektivbedürfnis einer wachsenden Gesellschaft folgendermaßen bestimmen: Es besteht eine wachsende Nachfrage nach vermehrten und verbesserten Verwendungswerten für alle produzierenden Mitglieder der Gesellschaft und die öffentlichen Körperschaften. Dazu kommen die summierten Marktbedarfe nach Verwendungswerten aller derjenigen Personen, die mehr als ihr reines Einkommen dieser Periode auf Verwendungswerte ausgeben, d. h. ihr Vermögen angreifen oder verzehren. Das sind nicht nur Verschwender und Stifter usw., sondern hier auch solche ökonomischen Personen, die in früheren Perioden „Rückstellungen" für den Ersatz veralteten Werkgutes und „Reservefonds" für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit durch Invalidität, Krankheit oder Alter und für ungünstige Zeiten angelegt haben, um sie jetzt zu verbrauchen. Diese Reservefonds waren entweder in dauerhaften, wertbeständigen Gütern (Juwelen, Edelmetall, Sammlungen) oder in Wertdingen höherer Ordnung angelegt und werden jetzt gegen Verwendungsgüter vertauscht. Daneben besteht ein bestimmtes Kollektivbedürfnis nach vermehrten und verbesserten Beschaffungswerten (Gütern und Diensten), und zwar nach Werkgütern und Werkdiensten, um jenen Kollektivbedarf an letzten Gütern zu beschaffen, und nach Metallgeld, das ceteris paribus bei steigender Bevölkerung und Kooperation ebenfalls in wachsenden Mengen beschafft werden muß, um die immer zahlreicheren Täusche immer größerer Waren- und Wertmengen abzuwickeln. Ceteris paribus! Wir wissen, daß bei steigender Kooperation die Gegentendenz besteht, das gemünzte Geld immer mehr durch Kreditgeld zu ersetzen; ja, daß sie bestehen muß, weil sich immer mehr räumliche und zeitliche Widerstände zwischen den Tausch: Wertding gegen Wertding einschieben. Welche von beiden Tendenzen, die auf Vermehrung oder Verminderung, überwiegt, hängt von vielen verschiedenen Umständen ab, die sich nicht auf eine Formel bringen lassen. Wir werden erst im Kapitel von den Krisen unsere Ansicht begründen können, daß der Bedarf nach Gold in der reinen Ökonomie viel geringer ist als in der kapitalistischen. Denn dort ist fast jeder kreditfähig und bleibt es, weil keine groben Schwankungen der Konjunktur vorkommen können, darum ist dort das Gold als Geld nur Wertmesser und bleibt es immer, während es in der kapitalistischen Ökonomie bei den hier häufigen Konjunkturschwankungen in seinen Charakter als Ware umschlägt. Jedenfalls muß dort, wo das Kollektivbedürfnis nach Gold wächst, ein Teil der Kollektivarbeit auf seine Beschaffung disponiert werden, indem man es entweder aus eigenen Fundorten erzeugt oder durch Tausch aus dem Auslande einhandelt. Wo das Kollektivbedürfnis nach Gold sinkt, kann umgekehrt ein Teil gegen andere Wertdinge ins Ausland verkauft werden. Schließlich besteht ein bestimmtes Kollektivbedürfnis nach Wertdingen niederer und höherer Ordnung, in denen die „Ausscheidungen" angelegt werden können, entweder als „Horte" oder in Machtpositionen. Und zwar wächst auch dieses Kollektivbedürfnis: denn der Standard of life wächst dauernd, und so muß auch die Kollektivausscheidung wachsen, um jedermann in der Zeit der Arbeitsunfähigkeit im gewöhnten, gegen frühere Zeiten gesteigerten, Komfort erhalten zu können.
1. Die Produktion der Wertdinge niederer
Ordnung
Ein Teil der für alle diese Zwecke erforderlichen Kollektivausscheidung wird durch die außerökonomische Gewalt des Staates und seiner Unterglieder bewirkt. Die Steuern und Dienste, die er fordert, decken einen Teil der öffentlichen und in einzelnen Staaten auch einen Teil der privaten Bedürfnisse: die deutsche Kranken-, Invaliditäts- und Altersversicherung bewirkt durch solche
Das Kapital: Vierter Abschnitt
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Zwangsausscheidung aus dem Einkommen der beteiligten Arbeiter und Unternehmer die Bildung von Rückstellungen für die Reparatur der menschlichen Maschinerie und von Reservefonds für vermeidliche und unvermeidliche Notfälle. Es wäre denkbar, daß ein gemeinnütziger Staat die ganze erforderliche Kollektivausscheidung auf diesem Wege bewirkte. Wie schon einmal erwähnt, hat Theodor Hertzka in seiner Utopie „Freiland"1 diesen Weg gewählt. Der Staat zieht einen enormen Teil des allerdings enormen Einkommens jedes seiner Untertanen für die wachsenden öffentlichen Zwecke des gemeinen Nutzens und nicht minder für die privaten Zwecke der Vermehrung und Verbesserung des Werkgutes, und schließlich für die reichliche Alimentation aller Rekruten und Invaliden der schaffenden Arbeit ein. Das wäre vom rein ökonomischen Standpunkt nicht unmöglich, wenn auch vielleicht politisch sehr bedenklich. Hier wäre jedes Einkommen nach Abzug dieser ungeheuren Einkommensteuer das absolute „Reineinkommen", und jede private Ausscheidung wäre überflüssig. Hertzka wählt diesen Weg, weil er den Zins des Kapitals in jeder Höhe und unter allen Umständen für eine Kategorie der politischen Ökonomie, um in unserer Sprache zu reden: für einen „Klassen-Monopolgewinn", einen „Gewaltanteil" hält. Wir stehen nicht auf diesem Standpunkt. Der Zins kann als kinetische Erscheinung auch in der reinen Ökonomie vorkommen und ist so lange unbedenklich, wie er weder aus einem Klassen- noch aus einem Personal-Monopol stammt, d. h. so lange wie er nur einen Teil des Mehrertrages für sich beansprucht, den die durch das übernormale Betriebskapital befruchtete Arbeit erzielt. Jedenfalls kann der Staat der realen Wirtschaftsgesellschaft seine sämtlichen Bedürfnisse nicht durch die Zwangsausscheidung der Steuern decken: es wäre eine Unbill, die Kosten für werbende Anlagen, wie ζ. B. Eisenbahnen, Häfen, Kabel usw., deren Vorteil der Zukunft zufließt, auf die Schultern der Gegenwart zu wälzen. Heute freilich, unter dem Einfluß des Klassenmonopols und seiner ewigen Devise „Après nous le déluge", begeht der Staat in ungeheuerlichem Maße die entgegengesetzte Unbill: er belastet die Zukunft mit den Kosten für gewaltige Ausgaben der Gegenwart. Das Wachstum unserer Staatsschulden durch die Ausgaben für den bewaffneten Frieden ist zum Teil ein solcher Raubbau an dem Volkswohlstande, der die Früchte der Zukunft in der Gegenwart verschwendet.2 Was der Staat nicht durch Zwangsausscheidung erlangen kann oder will, müssen die privaten ökonomischen Personen auf dem Wege der freiwilligen Ausscheidung zur Verfügung stellen, und ebenso alles das, was an vermehrtem und verbessertem Werkgut und an Verwendungsgütern von solchen Personen bedurft wird, die mehr als ihr Reineinkommen verzehren. Diese Ausscheidung erfolgt durch die Selbststeuerung der Marktwirtschaft mittels des Preises. Wir haben eine absolut stark steigende Nachfrage nach Verwendungsgütern. Das drückt sich aus in steigenden Preisen und Gewinnen dieser Güter; d. h. ihr Produzent empfängt die Order des Marktes, mehr von ihnen zu produzieren. Dazu braucht er mehr und bessere Beschaffungsgüter: Werkgüter an Roh- und Hilfsstoffen, verbesserte Maschinerie, und ceteris paribus auch mehr von dem Beschaffungsgut des baren Geldes, um die größeren Täusche zu „effektuieren". Alle diese Dinge treten neu in sein Sollbudget ein, und er tritt seinerseits mit seiner Nachfrage nach ihnen auf den Markt. Dadurch erhalten auch ihre Preise steigende Tendenz und veranlassen ihre Produzenten ebenfalls, ihre Produktion auszudehnen, ihre Maschinerie zu vermehren und zu verbessern und neue „Dienste" von Selbständigen und Unselbständigen als Beschaffungsdienste anzukaufen. Das setzt sich rückwärts in alle Beschaffungszweige hinein so lange fort, bis fallende Gewinne zeigen, daß das Kollektivbedürfnis nach neuen Verwendungsgütern, und daher auch nach Beschaffungsgütern zur Zeit gesättigt ist. 1 2
[Hertzka, Freiland, Leipzig 1890.] Wörtlich übernommen.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschafi
Auf diese Weise reguliert die wachsende Marktwirtschaft die Produktion des notwendigen gesellschaftlichen Beschaffungsgutes, des Geldes und in spezie des gesellschaftlichen Werkgutes, des „Kapitals im volkswirtschaftlichen Sinne". Ebenso reguliert sie durch die Selbststeuerung der Preisrelation die Produktion derjenigen Wertdinge niederer und höherer Ordnung, in denen die Ausscheidungen der produzierenden Mitglieder der Gesellschaft Anlage suchen. Soweit das in Gestalt von „Horten" geschieht, ist nichts Neues darüber zu sagen. Die Nachfrage nach Juwelen, Gold, Sammlungen erscheint verstärkend auf dem Markte der Güter und befördert ihre Produktion respektive erhöht ihren Preis und bei Monopolgütern auf die Länge ihren Wert.
2. Die Produktion der Wertdinge höherer Ordnung Soweit aber die Anlage in Machtpositionen erfolgt, konstituiert das eine gewisse Nachfrage, der in einer gegebenen Gesellschaft ein gegebenes Angebot gegenübertritt; aus ihrem Verhältnis bildet sich nach den uns bekannten Gesetzen der Fuß der Kapitalisierung und der Preis; und auch in der wachsenden Gesellschaftswirtschaft steuert sich, wie in der statisch gedachten, die Produktion der Werkgüter einerseits, der Machtpositionen andererseits dadurch, daß der Tauschwert eines normalen Produktivkapitals „im volkswirtschaftlichen Sinne" auf die Dauer gleich sein muß dem Kapitalisierungswert des damit beschaffbaren Kapitals „im privatwirtschaftlichen Sinne".
A. In der reinen
Ökonomie
In der reinen Ökonomie weicht die private Kollektivausscheidung aus mehreren Gründen stark von derjenigen ab, die wir um uns herum beobachten; erstens, weil hier alle ökonomischen Personen während einer langen Periode produktiv Arbeitende sind, und zweitens, weil das Einkommen sehr gleichmäßig verteilt, lediglich nach der Qualifikation abgestuft, und so hoch ist, daß jeder Reservefonds von ausreichender Höhe zu legen imstande ist [sie]. Diese Ausscheidungen wachsen von Epoche zu Epoche mit der steigenden Kooperation und dem steigenden Reichtum nicht nur in absoluter Masse, sondern auch im Verhältnis zur Zahl der Bevölkerung. So weit sie nicht in Gestalt von dauerhaften Verwendungsgütern, wie Häuser, Mobiliar, Fruchtgärten, oder als Horte angelegt werden, werden sie auch in der reinen Ökonomie Anlage in Machtpositionen suchen, und zwar, da hier die Grundstücke nur in seltenen Ausnahmefällen rentierendes Sacheigentum sein können, in Kapitalstücken. In Anleihen der öffentlichen Körperschaften einerseits und der Unternehmungen andererseits; Hypotheken auf „nacktes" Grundeigentum sind ebenfalls nur in Ausnahmefällen denkbar. Voraussichtlich wird die Ausscheidung im Laufe der Entwicklung unvermerkt auf folgende Weise in Kapital verwandelt werden. Die großen Betriebe können hier in der Regel, unter irgendeiner rechtlichen Form, faktisch nur Produktivgenossenschaften sein. Die Genossen werden in dem Maße, wie das Unternehmen sich ausdehnt, nicht nur von ihrem Roheinkommen die Abschreibungen, Rückstellungen und Reservefonds absetzen, sondern auch aus ihrem Reineinkommen gewisse Beträge für die Vermehrung und Verbesserung des Werkgutes zur Verfügung stellen. Für die letztangeführte, die wirkliche Ersparnis, wird ihnen die Genossenschaft verzinsliche Schuldscheine mit kurzer Tilgungsfrist ausstellen. Das ist nur gerecht, denn der Zins ist hier eine Kategorie der reinen Wirtschaft: ein Teil des Mehrertrages, den das übernormale Betriebskapital dem Betriebe abwirft. Die älteren Genossen werden daher nicht nur bei gleicher Qualifikation ein etwas höheres Einkommen genießen als die jüngeren, sondern sie werden im Laufe ihrer Arbeit auch ein gewisses Kapital anhäufen.
Das Kapital: Vierter Abschnitt
733
Daneben werden voraussichtlich andere Teile des privaten Reineinkommens Anlage in der kollektiven Ersparnis suchen: in Büchern der Sparkassen und Policen der Versicherungsgesellschaften. Und diese Institute werden die ihnen im kleinen zufließenden Mittel im großen für die Befriedigung des Gesamtbedürfnisses der öffentlichen Körperschaften und solcher Unternehmungen zur Verfügung halten, die aus den Ersparnissen ihrer Genossen die gesamten erforderlichen Werkgüter nicht sofort werden aufbringen können, namentlich also der in Neugründung befindlichen. Während der Ubergangsperiode wird daneben auch noch das aus der kapitalistischen Epoche eingebrachte werbende Sacheigentum eine bedeutende Rolle spielen; große Rentner werden ihre Werkgüter und ihr Gold gegen Anleihen der Genossenschaften vertauschen; aber im Laufe einiger Generationen werden diese Erbvermögen pulverisiert sein, und die berufsmäßige Kreditgewährung durch Privatleute wird kaum noch eine große Rolle spielen. Dagegen werden die flüchtigen, nicht zur dauernden Anlage bestimmten, sondern nur für nahe Ausgaben bereitgehaltenen Ausscheidungen sich in Genossenschaftsbanken sammeln, die dafür Kapitalstücke in Form verzinslicher Forderungen geben werden.
B. In der politischen
Ökonomie
In der kapitalistischen Ökonomie liegen die Dinge wesentlich anders. Hier ist das Reineinkommen sehr ungleichmäßig verteilt; hier ist es bei der übergroßen Mehrzahl der ökonomischen Personen nicht groß genug, um Reservefonds von ausreichender Höhe anzulegen. Und hier sind vor allem gerade unter den reichsten Personen viele nicht produktiv Arbeitende. Es gibt zahlreiche Personen, die entweder nichts als Rentner oder wenigstens „im Nebenberufe" Rentner sind: Eigentümer von abgespaltenen Erb- und Abfindungskapitalen, namentlich von Obligationen oder Anteilen von Familiensozietäten, und solche Personen, die ihren Kapitalbesitz oder Grundbesitz verkauft und sich zur Ruhe gesetzt haben usw. Für alle diese Personen ist ihr Roheinkommen aus Kapital, abgesehen von einigen unbedeutenden Verwaltungsspesen, mit ihrem Reineinkommen identisch. Würden diese Rentner einmal zeitweilig ihr gesamtes Reineinkommen verzehren, so würde augenscheinlich die Kollektivausscheidung zu gering sein, um die wachsende Wirtschaftsgesellschaft mit demjenigen neuen öffentlichen Gebrauchseigentum und demjenigen neuen gesellschaftlichen Werkgut auszustatten, das die dem Wachstum des Volkes und des Kollektivbedarfs entsprechende Kooperation ermöglichen würde. Dann würde der Kapitalisierungsfuß fallen, d. h. der Zinsfuß steigen und die Rentner veranlassen, einen genügenden Teil ihres Einkommens auszuscheiden und gegen Machtpositionen, die sie nachfragen, auszubieten. Daneben geht die Ausscheidung der Produzenten in Gewerbe, Handel und Landwirtschaft. Auch die Unterklasse beteiligt sich daran mit Beträgen, die für den einzelnen freien Arbeiter nicht ausreichende Reservefonds darstellen können, die aber in ihrer Gesamtheit dennoch in fortschreitenden Gesellschaften allmählich ungeheure Summen zusammensetzen. Leider kommen diese Beträge, statt den Arbeitern selbst, der Oberklasse zugute: die in den Sparkassen, Genossenschaften, Gewerkschaften usw. aufgehäuften Milliarden dienen mit dazu, in Hypotheken, Wechseln, Schuldscheinen, Anleihen usw., angelegt zu werden und die Festung des Kapitalismus zu verstärken. Wenn die Arbeiterschaft erst lernt, ihre Ersparnisse in Unternehmungen anzulegen, die ihr nicht nur den spärlichen Zins des sichersten Kreditkapitals eintragen,1 sondern den Kapitalismus in seiner Wurzel, dem großen Grundeigentum, angreifen, dann hat seine letzte Stunde geschlagen.2
1 2
Wie unsicher selbst diese Anlagen sind, hat die Nachkriegszeit gezeigt. Das hat in Amerika und noch mehr in Schweden mit einiger Kraft bereits eingesetzt. Die Arbeiterbanken
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Die Unterklasse Deutschlands legt ihre gesamten Ausscheidungen in relativ großen Mengen als flüssiges Kapital an, und zwar auf den Sparkassen, die kleinere Summen sofort, größere nach kurzer Kündigungsfrist auszahlen: da aber auch ihre Reservefonds dabei sind, die erst für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit zur Verwendung bestimmt sind, und ihre Ersparnisse, die für die Kinder gemacht werden und überhaupt während des Lebens der Einleger nicht zur Verwendung bestimmt sind, kann die Sparkasse als ökonomische gemeinnützige Kollektivperson der Verwaltung ihrerseits feste Anlagen auf den Leihe- oder Kaufmärkten der Machtpositionen nachfragen. In anderen, höher entfalteten Ländern suchen auch die Sparer der Unterklasse unmittelbar den Markt langfristiger Anlagen mit veränderlichem Werte auf: sie kaufen Schuldverschreibungen des Staates oder der Kommunen auf dem Leihemarkte oder gar Anteile von Kapitalgesellschaften auf dem Kaufmarkte des Kapitals, in Frankreich ist die Staatsrente die beliebteste Anlage, in England spekuliert auch der kleine Mann in großem Umfange in den dort zulässigen Pfundaktien aller möglichen Gesellschaften. Handelt es sich bei den Ausscheidungen der Unterklasse um wirkliche „Entsagung" aus ihrem allzu kleinen Arbeitseinkommen, so ist die Ausscheidung der Produzenten der Oberklasse nur zum kleinsten Teil die Frucht solcher „wirtschaftlichen Tugend"; sie ist zum größten Teil Rückstellung vom rohen Einkommen und, insofern es wirkliche Ersparnis vom reinen Einkommen ist, dennoch keine Entsagung, sondern ersparter Uberfluß aus bedeutendem Mehrwert. In den ersten Anfängen des Kapitalismus freilich, so lange noch wenig reines Rentnerkapital gebildet war, haben die britischen Unternehmer in der Tat sehr bescheiden gelebt: es war „Stil", galt als Kennzeichen des soliden Geschäftsmannes, so viel wie möglich von dem Einkommen der abgelaufenen Produktionsperiode wieder in den Betrieb zu stecken.1 Auch das wieder ein Beispiel, wie sich die Ideologie einer Gruppe determiniert durch den Zwang, den das sozialökonomische Milieu auf sie ausübt. Wir haben einige Notizen dafür, wie stark dieser Zwang damals war, weil nur erst schwache Mengen von Leihkapital gebildet waren. Alfred Krupp hat in seiner ersten Kampfzeit einmal das Tischsilber verkaufen müssen, um die junge Fabrik über Wasser zu halten, und hat von da an bis zu seinem Tode der Erinnerung halber nur noch Alfenide benutzt. Und der Begründer des großen Reeder- und Bankhauses Parish in Hamburg hätte einmal fast seinen Bankerott anmelden müssen, weil er zwar das Portefeuille voll der besten, unzweifelhaft „guten" Kundenwechsel, aber kein bares Geld hatte, um seinen Verpflichtungen nachzukommen. Ihm half ein reicher israelitischer Geschäftsfreund aus der Klemme: heute wäre eine solche Verlegenheit bei so hohem Aktivsaldo der Vermögensbilanz undenkbar. Denn es hat sich allmählich reines Leihkapital in immer größerer Massen in den Händen einer immer zahlreicheren Menge von Rentiers angesammelt: durch Abspaltung aus Erbschaften, durch Verkauf von industriellen und landwirtschaftlichen Unternehmungen, deren frühere Eigentümer sich zurückzogen, durch Ersparnisse aus Arbeitseinkommen und Mehrwert, durch Abspaltung des Bodenwertzuwachses in Form von Hypotheken usw. In dem Maße, wie dies sich ausbildete, wurde die spartanische Lebensführung der Anfänge überflüssig, und die Ideologie der Klasse verlangte von jetzt an repräsentatives Auftreten. Wenn wir der Einfachheit halb er einmal von der Nachfrage nach Grundeigentum absehen wollen, so bildet diese gesamte Kollektivausscheidung die Nachfrage nach Kapital in der wachsenden Gesellschaft der politischen Ökonomie; und zwar bildet die Ersparnis am Reineinkommen die Nachfrage nach neuem Kapital, d. h. an Tributrechten.2
und viele Genossenschaften, ζ. B. für Kraftstoff, sind mit einigem Erfolge zum Angriff auf das Großkapital 1 2
vorgegangen. Max Weber hat gezeigt, wie stark das calvinistische Bekenntnis dazu mit gewirkt hat. Das wird ganz klar an der Praxis der französischen Staatsanleihen. Die Regierung verkauft eine Rente zu einem durch die jeweilige Geschäftslage bestimmten Kapitalisierungspreise, nicht den Anspruch auf eine
Das Kapital: Vierter
Abschnitt
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In Parenthese: Diese Nachfrage nach Kapital wird in der Regel als Angebot von Kapital aufgefaßt: das beste Zeichen der grenzenlosen Begriffsverwirrung, die hier, und nicht nur bei Praktikern, sondern auch in der Theorie besteht. Es ist aber Angebot von Wertdingen niederer Ordnung, die unmittelbar, sehr oft ohne den flüchtigen Zwischentausch des Geldes, gegen Kapitalstücke umgetauscht werden, zumeist von Gütern, aber auch von Diensten: der Beamte, der sich sein Gehalt auf Scheckkonto anweisen läßt, tauscht unmittelbar, ohne den Zwischentausch des Geldes, Dienste gegen Kapital. Dieser Nachfrage nach neuem Kapital tritt nun in der wachsenden Wirtschaftsgesellschaft ein Angebot von neuem Kapital entgegen, das, kraft derselben Begriffsverwirrung, Praktikern und Theoretikern als Nachfrage nach Kapital erscheint. Dieses Angebot von neuem Kapital wird gebildet durch den Zuwachs des Gesamt-Mehrwerts, der im Wachstum einer kapitalistischen Gesellschaft ihrer Oberklasse als Totalität, als ökonomischer Kollektivperson zufließt. Wir haben bei der Betrachtung, wie das Kapital sich bildet, bereits festgestellt, daß in dem Maße, wie die Kooperation sich mit der Marktgröße und Volksdichte staffelt, unter sonst gleichen Umständen jeder Anteil am Klassenmonopol an Wert zunimmt. Denn unter sonst gleichen Umständen bleibt die Arbeiterklasse auf ihren Monopollohn beschränkt, und der gesamte Zuwachs an Produktivität fließt den Eigentümern der Produktionsmittel zu. Auch in der realen kapitalistischen Wirtschaft der Gegenwart, wo der Reallohn, das Einkommen der Arbeiter in Verwendungswerten, dank der Landflucht, langsam steigt, fließt immer noch der Hauptteil der Produktionssteigerung der Oberklasse zu, vermehrt ihr Einkommen und daher den Wert ihres politischen Eigentums. Das ist das „unearned increment", der „unverdiente Wertzuwachs", meine „Zuwachsrente" die die Bodenreformer strenger Georgescher Observanz „wegsteuern" wollen: sie findet sich aber nicht nur beim Boden-, sondern auch beim Kapitaleigentum: auch die Anteile von Kapitalgesellschaften steigen bei höherer gesellschaftlicher Kooperation im Werte, und ebenso Anleihen ehemals „fauler" Staaten, die „fein" wurden, weil ihre Volkszahl, Kooperation und Produktivität zunahm. Es ist wichtig, das festzustellen, weil einige Advokaten der bürgerlichen Gesellschaft versuchen, allen Kapitalwertzuwachs als Belohnung für das übernommene Risiko und die dabei bewiesene Intelligenz auszugeben; sie behaupten, daß der eine Kapitalist nur gewinnen könne, was der andere verliere. Das ist falsch: Alle Machtpositionen, Grundeigentum und Kapital, steigen im Gesamtwert, wenn mit der Volkszahl und Kooperation der Gesamtmehrwert wächst. Diese Zuwächse brauchen nicht als Angebot auf dem Kapitalmarkt zu erscheinen, können es aber, und das geschieht oft. Ein Spekulant will seinen Kursgewinn „realisieren" und bietet seine Anteile an; ein Grundbesitzer in Stadt oder Land will sein unearned increment realisieren und bietet das Gut auf dem Kaufmarkte der Grundstücke an oder sucht auf dem Leihemarkte des Kapitals eine Hypothek anzubringen. Dazu tritt nun das Angebot solcher kapitalistischer Unternehmer, die ihr Beschaffungsgut nicht in der vollen erforderlichen Höhe aus der Ersparnis am eigenen Reineinkommen erwerben können und daher Leihkapital in Gestalt von Obligationen, Prioritäten, Vorzugsaktien, Hypotheken oder Bankkredit, oder Kaufkapital in Gestalt von Beteiligungen, Aktien, Anteilen, Kuxen anbieten, um dafür die nötigen Beschaffungsgüter zu erhalten. Der Zweck dieser Tauschgeschäfte ist immer, einen vermehrten oder einen neuen Anteil am Monopolgewinn des Klassenmonopols zu erlangen. Das erste gilt für solche Unternehmungen, die sich auf erhöhter technischer Stufenleiter einrichten, d. h. ihr Beschaffungsgut vermehren und verbessern, das zweite für solche, die zum ersten Male als Neugründungen in den Konkurrenzkampf eintreten. Nominal-Geldsumme samt Zinsen. Es kommt praktisch auf das gleiche hinaus, ist aber formell klarer gedacht.
Zweiter Teil:
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Marktwirtschaft
Der Zuwachs des Gesamtmehrwerts bei steigender Volkszahl fließt nämlich unmittelbar als Einkommen den Besitzern der Produktionsmittel zu. Kein anderer hat Anteil daran, wenigstens nicht unmittelbar. Von der Steigerung aber des Anteils, den die mittelbaren, abgeleiteten Einkommen der Familienmitglieder, der Stiftungen usw., und vor allem des Staates dank seinem Steuerrecht daraus ziehen, kann hier abgesehen werden: sie ist kein Problem. Nun kann aber in der kapitalistischen Wirtschaft, in der die Freizügigkeit die freien Arbeiter zur Disposition jedes stellt, der sie produktiv an einem Stamm zweckmäßig zusammengestellter komplementärer Werkgüter beschäftigen will und kann, jedermann, der einen solchen Stamm von Werkgütern zusammenzubringen vermag, Kapitalist werden und im Konkurrenzkampf mit den anderen Kapitalisten seinen Anteil am Zuwachs des Gesamtmehrwerts erringen. Auch diese Nachfrage nach Werkgütern, soweit die neu auftretenden Kapitalisten sie nicht aus eigenem Eigentum zu erwerben imstande sind, tritt demnach als Angebot neuen Leihe- oder Kaufkapitals auf den Markt. Das ist das Spiel von Angebot und Nachfrage, das auf dem Gesamtmarkte aller Wertdinge in der wachsenden kapitalistischen Gesellschaft den Kapitalisierungswert der Machtpositionen einerseits, und den autogenen Wert der Güter und Dienste andererseits in ihr richtiges Verhältnis einstellt, und dadurch die Gesellschaft selbst „steuert".
d. Die Gesamtsteuerung 1. In der reinen
Ökonomie
Die Gesellschaftswirtschaft der reinen Wirtschaftsgesellschaft funktioniert in voller Harmonie aller ihrer Organe. Die Produktion gehorcht ohne Vorzug den Orders, die der Markt durch seine Preisgestaltung erläßt: steigender Gewinn ruft sofort Ausdehnung, sinkender Gewinn sofort Einschränkung des betroffenen Produktionszweiges hervor; aus wirtschaftlichen Ursachen kann es unmöglich jemals zu einem groben Mißverhältnis zwischen Nachfrage und Angebot kommen, und die Störungen, die aus außerwirtschaftlichen Ursachen stammen, können das Gleichgewicht ebensowenig empfindlich und auf die Dauer stören, wie unwirtschaftliche Handlungen Einzelner. Verhängnisvolle Preisschwankungen sind unmöglich, das Einzelinteresse läuft überall dem Gesamtinteresse parallel: die einzelne ökonomische Person kann ihr Privatinteresse möglichst hoher Rentabilität nur befriedigen, wenn sie dem Gesamtinteresse möglichst hoher Produktivität dient. Die Distribution vollzieht sich, abgesehen von einigen harmlosen, oder sogar gemeinnützigen Personalmonopol-Verhältnissen natürlicher oder rechtlicher Art (Patente), durchaus nach der Formel des vollen Arbeitsertrages, abgestuft lediglich nach der Qualifikation des Körpers, Geistes und Willens. Die Vorteile steigender Kooperation verteilen sich automatisch mit voller Gleichmäßigkeit auf alle arbeitenden Mitglieder der Gesellschaft, so daß alle Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen so reichlich mit Befriedigungsmitteln versorgt sind, wie das der Stand der Kooperation gestattet, und daß der Wohlstand Aller dauernd mit ihr wächst. Im Verhältnis schließlich zwischen Produktion und Distribution sind grobe Störungen aus wirtschaftlichen Gründen ausgeschlossen. Diese wenigen Sätze werden erst ihre Bedeutung erhalten, wenn sie sich kontrastierend von der Folie der pathologischen Wirtschaft, der politischen Ökonomie des Kapitalismus, abheben werden, die wir jetzt in ihren Hauptsymptomen zu zeichnen unternehmen. „Gesundheit" ist eben ein im wesentlichen negativer Begriff; wüßten wir nichts von Krankheit, Schmerz und Tod, so würden wir niemals darauf gekommen sein, über die Gesundheit nachzudenken. So werden wir auch die reine
Das Kapital: Vierter Abschnitt
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Wirtschaft erst recht verstehen lernen, wenn wir erkannt haben werden, welche Erscheinungen der uns umgebenden Welt lediglich der kapitalistischen eigen sind.
2. In der politischen
Ökonomie
Kaum eine Behauptung der klassischen Deduktion ist soviel angegriffen worden1 wie die, daß die Produktion dank dem Regulator des Marktpreises sich dem Kollektivbedürfnis dadurch anpasse, daß alle Produzenten bei sinkendem Preise ihre Herstellung einengen, bei steigendem ausdehnen. Das sei gar nicht in diesem Umfange möglich! Ein Betrieb sei auf Herstellung einer bestimmten Warenart eingerichtet und könne nicht ohne große Verluste zur Herstellung einer anderen Warenart übergehen. Er müsse zeitweise sogar mit Verlust weiterarbeiten, um die größeren Verluste zu vermeiden, die aus einer Umwälzung entstehen müßten: Verlust der Kundschaft, Verderben und Veralten der Maschinerie, Verlust vor allem der eingearbeiteten, für diesen Betrieb besonders qualifizierten Arbeiterschaft usw. In der Tat hat sich hier die klassische Deduktion besonders arge Ubertreibungen zuschulden kommen lassen. Einzelne ihrer Schriftsteller sind so weit gegangen, den Zusammenhang derart darzustellen, als könne man ein in einer Unternehmung investiertes Gesamtkapital ohne weiteres auf einen anderen Zweig der Herstellung übertragen, etwa wie ein Bankguthaben von einem Konto auf das andere.2 Das geht natürlich nicht! Was in Grundstücken, Gebäuden und Maschinen angelegt ist, das sogenannte „stehende" oder „fixe Kapital", läßt sich nur zum Teil, oft gar nicht, für einen andersartigen Betrieb verwerten, und auch das „zirkulierende" Kapital, soweit es in Vorräten von Roh- und Hilfsstoffen besteht, ist in ungünstigen Konjunkturen nur mit großem Verlust zu verwerten. Nur das Geld läßt sich schnell übertragen, aber es bildet in der Regel nur einen sehr kleinen Teil des zirkulierenden Kapitals eines Betriebes. Indessen sind das Dinge, die wenigstens den großen Meistern der Deduktion gerade so gut bekannt und gegenwärtig waren wie ihren neueren Kritikern. Sie hielten sich nur nicht dabei auf, den Reibungskoeffizienten genau zu bestimmen, der den Ablauf der von ihnen studierten mechanischen Vorgänge hemmte. Ihnen kam es nur auf das Schlußergebnis des Prozesses an, auf die Formel, die ihn erklärte. Und in der Tat setzt sich der Prozeß im großen und ganzen sogar in der kapitalistischen Ökonomie, trotz aller Reibung, dennoch nach dieser Formel durch, wenn auch nicht glatt, wenn auch nicht ohne empfindliche Verluste einzelner ökonomischer Personen. Es knackt und knirscht in den Kugellagern, aber schließlich läuft die Maschine doch und erreicht ihren Effekt für die Gesellschaftswirtschaft im ganzen. Und zwar vollzieht sich das auf verschiedene Weise: Erstens gibt es, wie wir wissen, in jeder Wirtschaftsgesellschaft eine Anzahl von ökonomischen Personen, deren Personalwirtschaft noch einen hohen Grad relativer Autarkie besitzt. Das sind vor allem die kleinen Landwirte. Sie bringen nur einen im Verhältnis zu anderen geringen Teil ihrer Erzeugung zu Markte, den Rest verwenden sie in eigener Wirtschaft. Sie sind in der Lage, sich dem kollektiven Bedürfnis sehr weit dadurch anzupassen, daß sie jeweils diejenigen Erzeugnisse „produzieren", die hohen Preis haben, und diejenigen selbst verwenden, die niederen Preis haben. Sie verkaufen Milch und Schweinefleisch, wenn das Korn billig ist, und verzehren jenes, verkaufen aber Korn, wenn es teuer ist.
1 2
Zuerst, wie es scheint, von Sismondi. Vgl. Gide et Rist, Histoire des doctrines économiques, S. 208. Diese Vorstellung mußte Ricardo als Bankier besonders naheliegen.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
Andere Betriebe lassen sich schnell und ohne wesentliche Verluste der Marktlage entsprechend einrichten. Auch hier wieder geht die Landwirtschaft mit ihrem vielfältigen, vielseitigen Betriebe voran. Man hat ζ. B. beobachtet, daß die Fläche, die in den Vereinigten Staaten mit Weizen bestellt ist, auf und ab schwankte mit den Weizenpreisen der europäischen Produktenbörsen. Jeder Schilling, den das Getreide mehr trug, drückte sich in so und so vielen hunderttausend Acres Zuwachs zum Weizenareal der folgenden Epoche aus und umgekehrt. Ebenso hebt und senkt sich ζ. B. der Bestand an Schweinen, die bekanntlich in dreiviertel Jahren schlachtreif werden, mit dem Preise für Schweinefleisch; und der Bestand an den übrigen Schlachttieren folgt zögernder, aber auf die Dauer ebenso sicher der Marktlage. Ahnliches gilt für unzählige gewerbliche Betriebe. Fast alle selbständigen Handwerker sind in der Lage, sich mehr oder weniger der Konjunktur anzupassen. Selbst dann, wenn ein Gewerbe plötzlich seinen Markt fast ganz verliert, wie das der Panzerschmiede nach Einführung der Feuergewehre oder der Perückenmacher, können die Betroffenen den Sprung zum Büchsenschmiede oder Friseur ohne allzu schweren Schaden machen. Noch leichter ist ein solcher Wechsel natürlich überall da, wo eine Ware nur langsam ihren Markt verliert, oder wo sie nur zeitweilig unter schlechter Konjunktur zu leiden hat. Da wird der intelligente und tatkräftige Handwerker wohl immer einen Notausgang finden; er wird mit seiner professionellen Geschicklichkeit und seinen Werkzeugen irgend etwas zu produzieren wissen, das den Ausfall einigermaßen deckt. Noch viel leichter ist die Anpassung für alle Betriebe, deren Beschaffungsgut im wesentlichen das Geld ist, also für alle Handelsbetriebe. Sie können sich ohne große Schwierigkeit von dem Handel mit ungünstigen Waren ab- und dem mit günstigen zuwenden. Und dasselbe gilt wieder für alle Dienstleistenden, Selbständige und Unselbständige, des Transportes und der übrigen Herstellungsund Verwendungsdienste. Auch das wird für einen Hauptteil der unselbständigen Dienstleistenden, die Arbeiter, lebhaft bestritten. Ein Mechaniker könne nicht ohne weiteres Bäcker oder Matrose werden. Richtig! Aber das wird auch selten seine einzige Rettung sein. Er wird in verwandten Gewerben eine seiner Qualifikation einigermaßen entsprechende Beschäftigung, wenn auch mit geringerem Lohn finden, bis der Markt, sich wieder „hebt", oder er wird binnen wenigen Wochen „angelernter" Arbeiter, der ein nur um ein Geringes kleineres Lohneinkommen hat.1 Schlimmstenfalls hat er eine Zeitlang unqualifizierte Muskelarbeit gegen den entsprechend niederen Lohn zu leisten. Vor allem aber erfolgt die Anpassung der Produktion an die Marktlage aber dadurch, daß sich jeweils die eben reif werdenden Arbeitskräfte, und daß sich die gesellschaftlichen Ersparnisse an Beschaffungsgütern natürlich immer den blühenden Zweigen der Herstellung mehr zuwenden als den darniederliegenden. So bleibt schließlich als schwer der Anpassung fähig nur eine relativ geringe Anzahl von solchen Betrieben übrig, die mit großem fixem Kapital nur eine Art von Waren herstellen und sich nur schwer oder gar nicht auf eine Änderung der Produktion einrichten können. Es sind das nur wenige, aber allerdings sehr große, wirtschaftlich und vor allem politisch sehr einflußreiche Betriebe: die großen industriellen Unternehmungen. Sie können bei schlechter Konjunktur schwer leiden. Ein charakteristisches Beispiel: die Reedereien der Welt haben nach der Hochkonjunktur der Kriegsjahre infolge der maßlosen Vermehrung der Frachtschiffe und der Verminderung der Frachten infolge der Verarmung Ost- und Mitteleuropas sehr schwere Verluste erlitten.
1
Vgl. Heiß, Auslese und Anpassung der Arbeiter in der Berliner Feinmechanik, [ohne O r t und Jahr], S. 159. Henry Ford berichtet in seinem Buche „Mein Leben und mein Werk", daß er fast nur angelernte Arbeiter beschäftigt.
Das Kapital: Vierter
Abschnitt
739
Auf diese Weise paßt sich sogar in der politischen Ökonomie auf die Dauer immer wieder die Produktion an die Marktlage an. Auf die Dauer! Aber dazwischen kommen Perioden, in denen auf dem Markte sowohl der Güter wie der Dienste alle Werte niedere Preise erzielen, so niedere Preise, daß die Produzenten schwer leiden. Die Produzenten der Waren, namentlich die kleineren, erleiden schwere Verluste, häufig Schiffbruch, werden „aus dem Markt geworfen", - und die Produzenten der Dienste, namentlich die der niederen Dienste, werden arbeitslos oder erhalten Löhne, die kaum die Notdurft, und zuweilen nicht einmal die Notdurft decken. Das sind die Zeiten der „Depression", der „allgemeinen Baisse", der „Absatzstockung"; und sie treten oft genug in Gestalt von Taifunen, von wirtschaftlichen Wirbelstürmen, auf, als die Krisen, die zeitweise zur „Déroute" der Märkte der Güter, der Arbeit und der Machtpositionen führen; viele Arten von Werten werden gänzlich unverkäuflich, das Preisgebäude bricht in Paniken nieder, die Arbeitslosigkeit wird zur allgemeinen Katastrophe. Diese schweren Störungen der Selbststeuerung, die in gemessenen, sehr kurzen Zwischenräumen, etwa alle Jahrzehnte einmal, auftraten, machten bisher allerdings immer wieder Perioden des „Aufschwungs", der „Hochblüte", der „Hochkonjunktur" Platz; und die Kräfte, die die Wirtschaft aus dem Abgrunde auf diese Gipfel führen, sind allerdings die Kräfte, die die Selbststeuerung bewegen: aber trotzdem sind die Wirtschaftskrisen und Depressionen doch nicht als normale Wirtschaftserscheinungen aufzufassen. Hier wird die vielberufene „Anarchie der Produktion" reale Tatsache und verlangt ihre wissenschaftliche Erklärung. Damit sind wir zu den besonderen Problemen der kapitalistischen wachsenden Gesellschaftswirtschaft gelangt.
Fünfter Abschnitt: Der Kapitalismus I.
Der Begriff des Kapitalismus
Wir haben an verschiedensten Stellen dieses Buches die schlimmen Folgen dargestellt, die die Verwirrung der beiden Begriffe des „volkswirtschaftlichen" und des „privatwirtschaftlichen" Kapitals gehabt hat. Diese Verwirrung macht auch über den abgeleiteten Begriff des „Kapitalismus" die Verständigung fast unmöglich. Solange man annimmt, daß es nur eine Art von Kapital gebe, muß man auch glauben, daß es nur eine Art von Kapitalismus geben kann. Er erscheint dann, von der Seite der Volkswirtschaft, der Produktion, aus gesehen, als eine hoch gestaffelte Wirtschaftsgesellschaft mit weit entwickelter Kooperation, voll entwickelt erst von dem Zeitpunkt an, wo die Elementarkraft des Dampfes in den Dienst der menschlichen Wirtschaft gezwungen wurde. - Und er erscheint andererseits, von der Distribution, der Personalwirtschaft, her gesehen, als eine Ordnung, in der alle Produktionsmittel sich in den Händen einer relativ kleinen Oberklasse befinden, der ein gewaltiges Einkommen zuströmt, während eine besitzlose Klasse von Arbeitern in ihrem Dienste für kargen Lohn jenes volkswirtschaftliche Kapital handhabt. Diese beiden Bestimmungen erscheinen noch heute der großen Mehrzahl aller gelehrten Volkswirte, und zwar den sozialistischen nicht minder wie den bürgerlichen, als unlösbar zusammengehörig, eben als die kennzeichnenden Eigenschaften eines und desselben Wesens, als die konstituierenden Charaktere eines und desselben Begriffs von diesem Wesen: es gibt ihnen zufolge keine Gesellschaft hoher technischer, auf die Elementarkräfte aufgebauter Kooperation ohne Kapitalistenklasse; und es gibt andererseits Kapitalisten und Kapitalgewinn in keiner anderen als einer solchen Gesellschaft. Der Bürgerliche, der diese Auffassung vertritt, ist wenigstens konsequent: der Sozialist aber sollte sich doch klar machen, daß er sie nicht ohne Inkonsequenz vortragen kann. Denn, mit einziger Ausnahme romantischer Schwärmer wie Ruskin, die den Maschinismus verwerfen und zum reinen Kunsthandwerk zurückstreben, erwarten sie ja alle eine Gesellschaft höchster technischer Kooperation und fabelhafter Beherrschung der Naturkräfte, in der es dennoch keinen „Mehrwert" geben soll. U m wenigstens im gröbsten zu einer Verständigung zu gelangen, sollte man die von Rodbertus und Adolph Wagner in die Wissenschaft eingeführte Unterscheidung vom Wurzelwort auf die Ableitung erstrecken und zwischen dem „Kapitalismus im volkswirtschaftlichen" und dem „im privatwirtschaftlichen Sinne" streng unterscheiden. Wir gehen noch weiter: wir brauchen den Ausdruck „Kapital" nur noch für die privatwirtschaftliche Machtposition, den „nutzbaren Anteil am Klassenmonopolverhältnis"; und so brauchen wir den Ausdruck „Kapitalismus" ebenfalls nur für die Bezeichnung einer von diesen Machtpositionen durchsetzten und beherrschten Wirtschaftsgesellschaft: nach unserer präzisen Definition für eine Gesellschaft, in der die Bodensperrung durch massenhaftes geschlossenes Großgrundeigentum zusammentrifft mit der Freizügigkeit, d. h. dem Bestände einer großen Klasse „freier Arbeiter". Für den „Kapitalismus in volkswirtschaftlicher Sinne" aber habe ich im dritten Teilbande meiner „Sozialgeschichte Europas" 1 den Ausdruck „Hochtechnik" vorgeschlagen.
1
Oppenheimer, Stadt und Bürgerschaft. Die Neuzeit, in: System der Soziologie, Bd. IV, 3. Teilbd.
Das Kapital: Fünfter
Abschnitt
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II. Das Wesen des Kapitalismus So viel vom Begriff des Kapitalismus. Was ist nun sein innerstes Wesen? Wir zitieren aus unserem „Kapitalismus, Kommunismus, wissenschaftlicher Sozialismus". Wenn derjenige mit Recht „Utopist" gescholten wird, der eine unmögliche Wirtschaftsordnung für möglich hält, dann ist jeder Gläubige des Kapitalismus ein Utopist. Diese „Ordnung" ist eine Unordnung schlimmster Art: sie ist ein Turmbau von Babel, errichtet auf schwankendem Grunde von schlecht beratenen Baumeistern aus Baustoffen, die unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen müssen; und sie muß daher um so gewisser und furchtbarer einstürzen, je höher sich ihre Stockwerke türmen. Es ist wahr, sie hat mehr Reichtum geschaffen als alle früheren Wirtschaftsperioden zusammen: aber sie muß in Krisen münden, die immer mehr als diesen Reichtum wieder verschlingen. - Es ist wahr, sie hat Lebensraum für mehr Menschen geschaffen, als jemals zuvor in den Ländern ihrer Herrschaft gleichzeitig gelebt haben; aber sie muß verhängnisvollerweise Kräfte entwickeln, die in grauenhafteren Katastrophen, als jemals die schwerste Sturmflut oder der fürchterlichste Vulkanausbruch herbeiführten, ungezählte Millionen unschuldiger Opfer dem gräßlichsten Tode ausliefern. - U n d es ist schließlich wahr, sie hat durch die Herstellung der Internationalwirtschaft mehr dafür geleistet, die Völker zu verbinden und zum gegenseitigem Verständnis zu bringen als irgendeine Periode vor ihr: aber sie muß verhängnisvollerweise diese gleichen Völker in Kriegen von beispielloser Dauer, Wut und Zerstörung gegeneinander hetzen und sich aneinander verbluten lassen. Wir haben immer wieder zeigen können, daß der Grundfehler der bürgerlichen Ökonomik darin besteht, die politische Ökonomie für die reine zu versehen, den ordre positif für den naturel, die Krankheit für die Gesundheit zu halten. Der Kapitalismus ist eine wohlcharakterisierte Krankheit des Supraorganismus der Gesellschaft, eine Krankheit, deren Erreger, die außerökonomische Gewalt, wir kennen, deren Sitz in der Bodensperre wir nachgewiesen haben, deren Symptome wir zum großen Teile bereits durch Vergleich mit dem Gedankenbilde der reinen Ökonomie abgeleitet haben. Zwei Dinge sind jetzt noch vor allem herauszuarbeiten, die den pathologischen Charakter der Erscheinung mit vollkommenen Sicherheit dartun: Erstens: die Selbststeuerung durch die Konkurrenz ist im Kapitalismus auf das schwerste gestört. Hier besonders tritt der Gegensatz gegen die reine Ökonomie mit äußerster Schärfe hervor. In dieser, und zwar nicht nur im Gedankenbilde, sondern auch in zahlreichen geschichtlichen Verwirklichungen,1 setzt sich die Tendenz zum Gleichgewicht immer in leichten ungefährlichen Schwankungen um die statische Preisrelation durch: aber im Kapitalismus geschieht das nur durch katastrophale, sehr gefährliche Schwankungen von einem Extrem zum anderen, durch Krisen. Der Ausdruck stammt aus der Medizin: sein allgemein anerkannter Gebrauch zeigt bereits an, daß man von jeher in diesen Krisen der Wirtschaft eine pathologische Erscheinung gesehen hat. Zweitens: Der Kapitalismus ist an sich überhaupt unmöglich, ist als geschlossenes System oder im geschlossenen Räume undenkbar. Er kann nur bestehen, wo neben ihm „akapitalistische Räume" vorhanden sind: aber diese Räume ist er gezwungen, entweder zu zerstören oder in kapitalistische
1
Vgl. Oppenheimer, Die „Utopie als Tatsache", in: Wege zur Gemeinschaft. Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. 1 [siehe Bd. Π der vorliegenden Edition, S. 3-14; A.d.R.] und derselbe, Stadt und Bürgerschaft. Die Neuzeit, in: System der Soziologie, Bd. IV, 3. Teilbd., wo nachgewiesen ist, daß in allen Ländern Europas die reine Ökonomie annähernd verwirklicht war, solange bei bestehender Freizügigkeit der Boden noch nicht völlig gesperrt war, und daß der Kapitalismus überall erst einsetzte nach Vollendung der Bodensperre, und zwar zuerst als agrarischer Kapitalismus, dem der industrielle zumeist erst in langem Abstände folgte.
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
zu verwandeln und sich dadurch selbst sein Grab zu graben. Er ist also nur als Übergangszustand denkbar, und das ist der stärkste Beweis gegen die Anschauung der bürgerlichen Theorie, daß der Kapitalismus das „natürliche System" der Gesellschaftswirtschaft ist. Das sind unsere Thesen, zu deren Beweis wir jetzt schreiten.
III. Die Störungen der Selbststeuerung Wir haben immer wieder und wieder darauf hingewiesen, daß die Ökonomik nur als soziologische Teildisziplin betrieben und verstanden werden kann. So hat denn in ihr auch die soziologische Methode zu gelten. Sie besteht, wie wir im ersten Bande unseres Systems ausführlich dargestellt haben, darin, daß man in psychologischer Betrachtung zunächst auf die Motive der handelnden Gruppen und Personen zurückgeht, um dann zu zeigen, wie ihr Wille durch die Lagerung zu anderen Gruppen und zur äußeren Umwelt streng „determiniert" ist. In Anwendung dieser allgemeinen methodologischen Vorschrift wird es jetzt unsere Aufgabe sein, die Handlung der Bourgeoisie, als einer charakteristischen Gruppe, und ihrer einzelnen Mitglieder zu bestimmen und kausal aus dem Zug und Druck ihrer Lagerung abzuleiten.
a. Psychologie des Kapitalisten 1. Der Erwerbstrieb Der Kapitalist - und darunter verstehen wir hier mit Marx alle Großeigentümer, auch die von Grund und Boden - hat eine eigenartige Psychologie, die streng von seinem Milieu determiniert ist. Er lebt in einer Gesellschaftsordnung, die von Machtpositionen durchsetzt, ja, auf ihnen aufgebaut ist. Und das veranlaßt ihn zu viel schärferem wirtschaftlichem Rationalismus in Kalkulation und Spekulation, als der Mensch in irgendeiner anderen Ordnung entfaltet. Sombart macht die Folge zur Ursache, wenn er den Kapitalismus aus der doppelten Buchführung mit entstehen läßt. Im Gegenteil, die kapitalistische Atmosphäre erzwang die doppelte Buchführung aus einem völlig klaren Grunde: das Verhältnis von Angebot und Nachfrage ist auf den Märkten der Machtpositionen anders, genauer, bestimmt als auf denen der Güter und Dienste. Auf diesen entziehen sich, wie wir feststellten, die auf die Nachfrageseite des Verhältnisses der ökonomischen Seltenheit einwirkenden Kräfte als außerwirtschaftlich der Bestimmung durch die Ökonomik; warum der empirische Mensch gerade nach diesem kostenden Objekte als seinem Befriedigungsmittel strebt, kann sie nicht ausmachen, ist ihr eines der ihr „gegebenen Daten". Wenn wir genau hinschauen, so gilt diese Bestimmung in voller Schärfe nur für die Verwendungswerte; bei den Beschaffungswerten läßt sich die Nachfrage schon näher bestimmen; wenn der Zweck gegeben ist, das Streben auf ein letztes Gut hin, dann ist unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen auch das Mittel bestimmt: das Streben auf dasjenige Beschaffungsgut, das als kleinstes Mittel der Beschaffung gilt. Soll die Beschaffung durch Arbeit erfolgen, so wird das beste Werkgut begehrt und beschafft - soll sie durch Tausch erfolgen, so wird Geld beschafft. Je mehr sich die Gesellschaftswirtschaft entfaltet, d. h. in je größerer Extensität der Integrierung und in je größerer Intensität der Differenzierung sie sich um ihren Markt zentriert, um so mehr tritt das Tauschmittel, der „allgemeine Wertrepräsentant", das Geld, in den Vordergrund des wirtschaftlichen Strebens. Denn hier dienen auch die Werkgüter in der Regel nicht mehr dazu, ihrem
Das Kapital: Fünfter Abschnitt
743
Besitzer für die eigene Personalwirtschaft letzte Güter zu beschaffen, sondern sie dienen ihm dazu, Tauschgüter, d. h. Güter der Beschaffung, zu beschaffen, mit denen man sich Geld und durch dessen Vermittlung erst seine letzten Verwendungswerte beschafft. In der reinen Wirtschaft, wo grobe, dauernde, klassenbildende Unterschiede der Einkommen und Vermögen unmöglich sind, kann das Bewußtsein niemals verlorengehen, daß das Geld nur Mittel zum Zwecke, nicht Selbstzweck ist. Es vertritt eine in ziemlich engen Grenzen bestimmte Wertskala des Bedarfs, den „anständigen Lebensunterhalt", d. h. einen Inbegriff von letzten Gütern. Das war ζ. B. in der reinen Wirtschaft des hohen Mittelalters der Fall, darüber scheinen sich sämtliche Kenner der Zeit einig zu sein. Sombart konstatiert ausdrücklich, daß Bauer, Handwerker und Kaufmann jener Zeit, im Gegensatz zur kapitalistischen Wirtschaft, nur nach einer anständigen „Nahrung", aber nicht nach mehr strebten; Knapp stellt fest, daß der „verrufene Erwerbstrieb", die auri sacra fames, dem Mittelalter fremd war; und Karl Marx drückt dasselbe in seiner Weise aus, wenn er sagt, daß in jener Zeit der „einfachen Warenproduktion" der Produktionsprozeß nach der Formel W - G - W (Ware - Geld - Ware) verlief, während er in der kapitalistischen Gesellschaft nach der Formel G - W- G verläuft, vom Gelde ausgeht, um zum vermehrten Gelde, dem eigentlichen Endzweck des Kapitalisten, zurückzukehren. In der Tat ist dieser Gegensatz vorhanden. Natürlich strebt auch der Inhaber kapitalistischer Machtpositionen in letzter Linie nach Verwendungswerten, und es entzieht sich der Kompetenz der Ökonomik auch hier die Feststellung, nach welchen von diesen Werten er begehrt; aber dieser letzte Zweck steht ihm doch viel weniger vor dem Bewußtsein. Vielmehr erscheint ihm immer mehr das Mittel als Selbstzweck: der Erwerb von mehr Geld und Geldeswert, um nicht bestimmte, sondern unbestimmte letzte Werte beschaffen zu können. Wenn ein Gleichnis erlaubt ist: Wer durch ein Gitter hindurch ein nicht allzu nahes Objekt, z. B. ein Haus, betrachtet, kann nur entweder das Gitter oder das Haus scharf sehen, weil unsere Augen so gebaut sind, daß wir jeweils nur auf eine bestimmte Entfernung einstellen, „akkommodieren", können. Wir sehen entweder das Gitter scharf und das Haus schattenhaft oder umgekehrt. Ahnlich stellt in der reinen Wirtschaft der Wirt sein geistiges Auge auf die Verwendungsgüter ein, die seinen anständigen Lebensunterhalt zusammensetzen, und nicht auf das Geld, das hier nur als Beschaffungsmittel Bedeutung hat: aber in der kapitalistischen Wirtschaft stellt er im Gegenteil auf das Mittel ein, das ihm als Zweck erscheint, und sieht die letzten Werte nur schattenhaft, die damit erworben werden können. Denn hier, wo die gröbsten Unterschiede des Einkommens und Vermögens bestehen, repräsentiert das Geld die Verfügung über einen ganz unbestimmten Inbegriff von Gütern und Diensten aller Art. Darum herrscht in der kapitalistischen Gesellschaft auch in den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen der „Erwerbstrieb", die „Habsucht", die „auri sacra fames", Luthers „Fockerei" (eine von dem Namen der größten zeitgenössischen Exploiteure, der Fugger, abgeleitete Wortbildung). Das gilt von jeder Form der kapitalistischen Gesellschaft, von der kapitalistischen Sklavenwirtschaft ebenso wie von der uns umgebenden kapitalistischen Verkehrswirtschaft: und es zeugt für den Ursprung unserer Wirtschaft aus dem politischen Mittel, daß dieser schrankenlose Erwerbstrieb sie beherrscht, der sich sonst nur in den politischen Beziehungen auswirkt: in der Plünderung durch das unentfaltete politische Mittel, den Raubkrieg, und in der bis zur Grenze der Leistungsfähigkeit gehenden Besteuerung durch das entfaltete politische Mittel, den Staat.1 Nirgend kann diese psychologische Motivation sich reiner auswirken als auf dem Markte der Machtpositionen. Hier erreicht das wirtschaftliche Streben nach dem kleinsten Mittel zum größten Erfolge seine genaueste quantitative Bestimmtheit in Kalkulation und Spekulation. Der Wirt er-
1
Diese Psychologie ist prachtvoll von dem erfolgreichsten Unternehmer der Gegenwart, H e n r y Ford, in seiner Biographie angeprangert worden (Mein Leben und mein Werk, z. B. S. 45f. und 55).
Zweiter Teil: Marktwirtschaft
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wirbt eine Machtposition nur dann, wenn ihm die Rechnung wahrscheinlich macht, daß sie ihm mehr einbringen wird, als sie ihn kostet. Hier lassen sich daher auch die auf die Nachfrageseite der ökonomischen Seltenheit einwirkenden Faktoren prinzipiell bestimmen; es sind nicht, wie auf den Märkten der Verwendungsgüter und -dienste, unbestimmte „Bedürfnisse" aller Art, die sich befriedigen wollen, sondern ein Bedürfnis ganz bestimmter Art, das Bedürfnis nach Geld und Geldeswert.
2. Psychologie der Konkurrenz: Friedlicher Wettbewerb und feindlicher Wettkampf Alle Marktwirtschaft ist Konkurrenz. Darum muß sich die grundverschiedene psychologische Motivation des Wirtes in der kapitalistischen gegenüber der reinen Ökonomie am klarsten an der Art der Konkurrenz hier und dort enthüllen. In der Tat waltet hier ein überaus starker Gegensatz: in der reinen Ökonomie besteht derfriedliche Wettbewerb, in der politischen derfeindliche Wettkampf. Ich habe diesen Gegensatz zuerst entdeckt,1 und zwar bei Gelegenheit einer Untersuchung des Genossenschaftswesens. Ich werde den Gedankengang rekapitulieren, wie er mich zum Ziele geführt hat, und zwar aus einem zureichenden Grunde. Die Genossenschaften sind für die deduktive Methodik die besten Untersuchungsobjekte: denn sie sind Verbände von ökonomischen Personen zu lediglich ökonomischen Zwecken; hier waltet grundsätzlich das ökonomische Prinzip ungetrübt, durch keine außerwirtschaftlichen Einflüsse abgelenkt. Und darum wird sich die sozialpsychologische Deduktion aus dem Selbstinteresse, die wir jetzt zu führen haben, auch am besten an diesen freien ökonomischen Einungen studieren lassen.
A. Psychologie der Genossenschaft Die althergebrachte Einteilung der theoretischen Nationalökonomie in die Lehren von der Produktion und der Distribution erfüllt die Bedingung einer guten Spezifikation, eine vollständige Disjunktion darzustellen; sie ist erschöpfend. Aus diesem Grunde erscheint die bis auf meine Arbeiten unbestritten geltende, davon abgeleitete, Einteilung der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften in die zwei Gruppen der distributiven und produktiven von vornherein als wohl legitimiert: als die Anwendung des beherrschenden Principium divisionis auf einen Spezialfall. Man rechnete von den existierenden sieben Hauptformen der städtischen Genossenschaften nicht weniger als sechs zu der ersten Gruppe, nämlich die Kon-
1
Seit dieses zuerst gedruckt wurde, habe ich allerdings einen Vorläufer entdeckt, der aber auf die neuere Wissenschaft keinen Einfluß ausgeübt hat: einen der ältesten Schriftsteller des Abendlandes, nämlich Hesiod.
Er
hat den Gegensatz auf das klarste gesehen und sogar auf seine Wurzeln richtig zurückgeführt. Ich entnehme dem ersten Bande der Krönerschen Ausgabe der Werke Friedrich Nietzsches, S. 272f., daß ein uraltes Exemplar der „Werke und Tage" sofort mit der Erklärung begann: „Zwei Erisgöttinnen sind auf Erden. Die eine Eris möchte man, wenn man Verstand hat, ebenso loben wie die andere tadeln. Denn eine ganz getrennte Gemütsart haben diese beiden Göttinnen. Denn die eine fördert den schlimmen Krieg und Hader, die Grausame! [...] Diese gebar, als die ältere, die schwarze Nacht; die andere aber stellte Zeus, der Hochwaltende, hin auf die Wurzeln der Erde und unter die Menschen, als eine viel bessere. Sie treibt auch den ungeschickten Mann zur Arbeit; und schaut einer, der des Besitztums ermangelt, auf den anderen, der reich ist, so eilt er sich, in gleicher Weise zu säen und zu pflanzen und das Haus wohl zu bestellen; der Nachbar wetteifert mit dem Nachbarn, der zum Wohlstande hinstrebt."
Das Kapital: Fünfter Abschnitt
745
sum-, Kredit- und Baugenossenschaft und die sozialwirtschaftlich wenig bedeutsamen drei Arten der sogenannten Handwerkergenossenschaft: die Werk-, Rohstoff- und Magazingenossenschaft. Zu der produktiven Gruppe rechnete man nur eine Form, die Produktivgenossenschaft. Jene beschäftigen sich distributiv, teilen an ihre Mitglieder Lebensmittel, Geld, Wohnungen usw. aus, die letzte ist produktiv tätig. Hier scheint alles klar. Dennoch ist die Einteilung nicht haltbar. Bei genauerer Betrachtung ordnen sich die Genossenschaften ohne Zwang in zwei ganz anders zusammengesetzte Gruppen, die sich voneinander durch ihren buchstäblich polar entgegengesetzten Entwicklungsgang unterscheiden. Die Glieder der ersten Gruppe weisen in der Mehrzahl der Fälle ein überaus leichtes und schnelles Gedeihen auf, während die der zweiten Gruppe nur in sehr seltenen Fällen zu einem gewissen, immer beschränkten Gedeihen gelangen. - Jene zeigen überall das Bestreben, durch Erleichterung des Beitritts den Mitgliederbestand ad maximum zu vermehren, - diese zeigen in dem Maße, wie sie sich entwickeln, das entgegengesetzte Bestreben, den Beitritt nach Möglichkeit zu erschweren, indem sie sich formell oder doch praktisch sperren, - jene bewahren die der Genossenschaft adäquate sogenannte demokratische Verfassung, - die diese wieder schnell durch eine autokratische ersetzen. Zu der ersten Gruppe, nennen wir sie vorläufig die „offene", gehören von den städtischen Genossenschaften fünf, nämlich die sämtlichen Glieder der „distributiven" Gruppe mit einziger Ausnahme der Magazingenossenschaft. Diese bildet mit der industriellen Produktivgenossenschaft die zweite, nennen wir sie vorläufig die „gesperrte" Gruppe. Merkwürdigerweise aber muß die landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft von ihrer industriellen Schwester getrennt und der „offenen" Gruppe zugeteilt werden. Und noch merkwürdiger ist, daß eine historische Form der Gewerbegenossenschaft, die Zunft, in ihrer ersten Periode, die in Deutschland bis etwa zum Jahre 1400 reicht, der offenen, und in ihrer zweiten Periode, bis zum Beginn der Gewerbefreiheit, der gesperrten Gruppe angehört. Ein „natürliches System" der Genossenschaften muß diesen vitalen, sozusagen biologischen Gegensätzen entsprechen. Darum muß das geltende System, das Zusammengehöriges auseinanderreißt und Fremdartiges zusammenreiht, falsch sein. Und in der Tat zeigt denn auch eine etwas genauere Betrachtung, daß hier nur mittels einer groben Äquivokation der Schein einer zureichenden, disjunktiven Einteilung hervorgerufen worden ist. Man hat mit dem Begriff der „Distribution" eine logische Volte geschlagen. Das Wort als Gegensatz zur Produktion bedeutet die Summe der Gesetze, nach denen sich die Verteilung des Gesamtgütervorrats auf die drei sozialen Klassen der vorwiegend von Kapitalgewinn, vorwiegend von Grundrente, vorwiegend von Arbeitslohn lebenden Menschen vollzieht: hier aber ist es in einem ganz anderen Sinn gebraucht. Hier bedeutet es den Akt der Austeilung der durch jene Gesetze bestimmten Anteile an die einzelnen. Dieser Akt aber, das ist die übereinstimmende Lehre aller Schulen, ist der letzte Akt der Produktion'·, der Schlächter, der ein Stück Fleisch, der Kleinhändler, der Lebensmittel, der Bankier, der Geld an seine Kunden aushändigt, sind sämtlich in dieser Tätigkeit nicht Distribuenten, sondern Produzenten. In dieser Bedeutung sind also Produktion und Distribution nicht Gegensätze, sondern identisch, und es ist nicht angängig, sie als principium divisionis zu verwenden. An die Stelle dieses falschen Systems ein richtiges, „natürliches", zu setzen, wird nicht ganz leicht sein. Keinesfalls zeigt sich auf den ersten Blick eine zureichende Lösung. Der paradoxe Gegensatz der industriellen zur landwirtschaftlichen Produktivgenossenschaft, und vor allem das noch seltsamere Verhalten der Zunft in ihren zwei Perioden lassen wenig Hoffnung, das Problem im ersten Sprunge zu lösen.
1
Das konnte nur verkannt werden, weil man den ökonomischen mit dem technischen: „Erzeugung" verwirrte.
Begriff „Produktion" („Zu-Markte-Bringen")
Zweiter Teil: Marktwirtschaft
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Wir werden uns daher der Lösung schrittweise nähern müssen, indem wir die einzelnen sich natürlich ergebenden Untergruppen gesondert betrachten. Wenn wir ζ. B. die städtischen Genossenschaften der Gegenwart allein ins Auge fassen, so ergibt sich uns sofort eine völlig befriedigende, disjunktive, erschöpfende Einteilung: die fünf Genossenschaften der offenen Gruppe sind Vereinigungen solcher wirtschaftenden Personen, die durch gemeinsamen Kauf Waren vom Markte nehmen, um sie im inneren Kreise der Mitglieder wieder auszuteilen. - Die beiden Glieder der gesperrten Gruppe aber, Produktiv- und Magazingenossenschaft, sind, genau entgegengesetzt, Vereinigungen solcher wirtschaftenden Personen, die im inneren Kreise Waren herstellen, um sie dann zum gemeinsamen Verkauf auf den Markt zu brìngen. Kurz, jene sind Genossenschaften von Käufern, diese von Verkäufern.
B. Käufer und Verkäufer Mit diesem Ergebnis ist der weitere Gang der Untersuchung vorgeschrieben. Der Schlüssel des Problems muß in der wirtschaftlichen Psychologie der Käufer einer-, der Verkäufer andererseits gesucht werden. Die Psychologie der Käufer und Verkäufer ist bereits von der klassischen Theoretik nach einer besonderen Richtung hin für die Wissenschaft verwertet worden; sie leitete aus den hier bestehenden Gegensätzen die großartige Theorie von der Konkurrenz als der Selbststeuerung der Marktwirtschaft ab, die wir kennen. Diese Theorie reicht nicht aus. Sie beobachtet nur das Interessenverhältnis zwischen dem einzelnen Käufer und dem einzelnen Verkäufer und zwischen der Gesamtheit der Käufer einer Ware und der Gesamtheit der Verkäufer derselben Ware. Aber sie fragt nicht nach dem Interessenverhältnis, das zwischen dem einzelnen Käufer und den anderen Käufern derselben Ware - und auf der anderen Seite zwischen dem einzelnen Verkäufer und den anderen Verkäufern derselben Ware besteht. Und doch walten hier die bedeutsamsten Unterschiede, ja Gegensätze. Diese Unterschiede sind die folgenden: Der Käufer - wir sprechen hier lediglich vom „letzten" Verzehrer, nicht etwa vom Wiederverkäufer, der eben Verkäufer ist - ist am Preise sehr vieler Waren interessiert, und zwar nicht nur aller derer, die er gewohnheitsmäßig zu seiner Lebenshaltung braucht, sondern auch aller derer, die er als Ersatzmittel brauchen kann, wenn eins seiner Befriedigungsmittel zu hoch im Preise gestiegen ist. Darum ist, mit Ausnahme des einen extremen Falles einer Hungersnot, durch die Preissteigerung einer dieser vielen Waren niemals seine Existenz, sondern immer nur sein Behagen bedroht. Er mag entbehren, vielleicht hart entbehren, wenn er eines seiner gewohnten Bedürfnisse nur in beschränktem Maße oder gar nicht erlangen kann und sich mit Ersatzmitteln minderer Schätzung begnügen muß: aber seine Existenz ist nie in Frage. Im schärfsten Gegensatz dazu ist das Interesse des Verkäufers - wir sprechen hier lediglich von dem städtischen Verkäufer der kapitalistischen Gesellschaft - mit dem Preise nur weniger, meist einer einzigen Ware und deshalb unlösbar verknüpft: derjenigen, die er herstellt oder zum Zwecke des Wiederverkaufs gekauft hat. Dieses verschiedene Interesse an der einzelnen Ware zeigt sich nun als fernerer Unterschied zwischen Käufer und Verkäufer beim Preiskampf um den Profit. Der Käufer ist nur an derjenigen Profitsumme interessiert, die auf das Warenquantum fällt, das er selbst verwenden wird; das ist eine individuelle und sehr enge Begrenzung. Der Verkäufer aber ist am Gesamtprofit, d. h. an derjenigen Profitsumme interessiert, die auf das gesamte, von ihm zu Markte gebrachte Warenquantum entfällt. Das ist eine gesellschaftliche und sehr weite Begrenzung, ist für den einzelnen praktisch unbegrenzt.1
1
Darum ist der gleiche Mensch als Verkäufer soviel zäher wie als Käufer [vgl. oben S. 469f., (im Original S. 7)].
Das Kapital: Fünfter
747
Abschnitt
U n d daraus ergeben sich nun die bedeutsamsten Gegensätze zwischen dem Verhältnis des einzelnen Käufers zu der Gesamtheit der Käufer einerseits - und des einzelnen Verkäufers zu der Gesamtheit der Verkäufer andererseits: Gegensätze, von denen die ältere Doktrin nichts bemerkt hat, die aber für unser Problem von der polar verschiedenen Haltung der Käufer- und Verkäuferverbände entscheidend sind. Wir werden die Frage an den charakteristischen Grenzfällen studieren, die das Interesse der beiden Kategorien a m stärksten anregen, die Psychologie der Käufer bei steigendem, die der Verkäufer bei fallendem Preise. Bei steigendem Preise hat die gesamte Käuferschaft ein Interesse daran, das Angebot vermehrt, oder die Nachfrage vermindert zu sehen. Auf die Mehrung des Angebots hat kein Mitglied der Käuferschaft als solches unmittelbaren Einfluß. Die Gesamtheit kann also von ihren Mitgliedern nicht mehr erwarten, als daß jeder einzelne tut, was er allein vermag, nämlich durch Einschränkung seines eigenen K o n s u m s die Gesamtnachfrage soviel wie möglich zu vermindern. Genau zu dieser Handlung
treibt nun den einzelnen Käufer sein privates Interesse, ja, in der Regel
ein unwiderstehlicher Zwang. Soll sein Gesamtbudget nicht in Verwirrung geraten, so muß er bei steigendem Preise einer der ihn interessierenden Waren deren Verbrauch einschränken, indem er entweder weniger davon ankauft oder sich mit Ersatzmitteln behilft. Gesamtheit
der Käufer und Einzelkäufer
sind also durchaus
solidarisch.
Betrachten wir nun die Verkäuferschaft: Als Gesamtheit hat sie das Interesse, daß bei sinkendem Preise 1 das Angebot fällt oder die Nachfrage wächst. Auf die letztere hat kein Mitglied der Verkäuferschaft als solches unmittelbaren Einfluß. Die Gesamtheit kann also von ihren Mitgliedern nicht mehr erwarten, als daß jeder einzelne dasjenige tut, was er allein vermag, nämlich durch Einschränkung seiner eigenen Produktion das Gesamtangebot soviel wie möglich zu vermindern. Genau zu der entgegengesetzten
Handlung
treibt aber den einzelnen Verkäufer sein privates Inter-
esse, ja, in der Regel ein unwiderstehlicher Zwang, nämlich: seine eigene Produktion und dadurch das Gesamtangebot soviel wie möglich zu vermehren.
U n d zwar aus folgendem Grunde:
D a s E i n k o m m e n des kapitalistischen Verkäufers (Unternehmers) ist, wie wir sahen, abgesehen von seinem Unternehmerlohn, das arithmetische Produkt aus zwei Faktoren: der an der Wareneinheit realisierte Profit multipliziert mit der Zahl der verkauften Wareneinheiten. Er kann diesen seinen „Gesamtprofit" auf zwei verschiedene Weisen vermehren: durch Erhöhung des Preises der Einheit - oder durch Vermehrung der verkauften Einheiten. W o z u wird er sich bei sinkendem Preise entschließen? Soll er lieber weniger Einheiten zu höherem Preise oder mehr Einheiten zu niedrigerem Preise verkaufen? Welche Handlungsweise gebietet ihm sein Interesse? W o ein Verkäufer seinen Markt monopolistisch beherrscht, oder w o die Verkäufer sich vertragsmäßig zu einer einheitlichen Produktions- und Preispolitik verbunden haben, wie in Kartellen, Syndikaten und Trusts, wird der Verkäufer den Weg wählen können, die Produktion einzuschränken und den Preis zu halten. W o aber weder Monopol noch Abrede bestehen, wird er den anderen Weg einschlagen müssen. Denn er hat keinerlei Gewähr dafür, daß seine Konkurrenten ihm auf dem ersten Wege folgen werden. I m Gegenteil: er kann fast mit Sicherheit annehmen, daß sie, wenn er seine Produktion einschränkt, die ihre u m so stärker anspannen werden, u m ihren eigenen Gesamtprofit so hoch wie möglich zu halten: dann aber wird er selbst weniger Wareneinheiten zu dem geringeren Preise verkaufen, und sein Gesamtprofit wird von beiden Seiten her gemindert. Be-
1 Wir fassen hier den extremsten Fall ins Auge. Aber dieses Interesse des Verkäufers beginnt, während der Preis sogar noch steigen mag, schon bei sinkenden Gewinnen, wenn die Selbstkosten schneller steigen als der Preis. Das wird im Kapitel von den Krisen wichtig werden.
748
Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
schreitet er aber den zweiten, ihm offenen Weg, sein Angebot zu vermehren, so hat er die Möglichkeit, seinen Gesamtprofit hochzuhalten, indem er entsprechend mehr Wareneinheiten zu dem gesunkenen Preise anbringt; und hat darüber hinaus die Chance, seine Konkurrenten aus dem Markte zu werfen und das Monopol zu erringen, das allein ihn für alle Zukunft vor der Wiederholung so gefährlicher Komplikationen schützen kann, und das ihm gestatten wird, die Kriegsentschädigung von dem, ihm dann ohne Widerstand ausgelieferten, Zehrer einzuziehen. Er wird also in der Regel gezwungen sein, genau das Gegenteil dessen zu tun, was die Gesamtheit der Verkäufer wünschen muß. Hier sind Gesamtheit schnurstracks
und Einzelner
nicht solidarisch,
sondern ihre Interessen laufen
sich
entgegen.
Damit ist unser Teilproblem gelöst: das grundverschiedene Schicksal der Käuferverbände einerseits und der Verkäuferverbände andererseits folgt mit Notwendigkeit aus der Harmonie der ersten und der Disharmonie der zweiten. Das ist nicht bloß von theoretischem Interesse. Wohlwollende Philanthropen haben seit einem Jahrhundert
immer wieder Kraft und Geldmittel daran gesetzt, die industrielle
Arbeiter-
Produktivgenossenschaft ins Leben zu rufen, von der selbst ein so nüchterner Denker wie SchulzeDelitzsch, der sie für den „Gipfel des Systems" erklärte, sich nicht viel weniger als die Lösung der sozialen Frage versprach: hier liegt der Beweis, daß alle solche Versuche notwendig scheitern müssen, und man darf hoffen, daß kostbare Mittel nicht mehr in den Dienst dieser Utopie gestellt werden. Aber weit über dieses praktische Ergebnis hinaus reicht die theoretische Tragweite der hier gewonnenen Erkenntnis. Zunächst räumt sie mit der Fabel vom „genossenschaftlichen Geist" auf. Man hat den Pionieren der Konsumgenossenschaft besondere moralische Qualitäten nachgerühmt und auf der anderen Seite den Begründern der Produktivgenossenschaft ihren Mangel an diesen Qualitäten zum schweren Vorwurf gemacht.1 Mit unserem Nachweis, daß der genossenschaftliche Geist nicht die Ursache des Erfolges der Käufergenossenschaft, sondern die Folge ihrer harmonischen Grundorganisation ist, ist die moralische Wertung aus dieser Frage ausgeschaltet. Soweit ich sehen kann, ist es hier zum ersten Male gelungen, die Handlungsweise streng durch ihre gesamte
Umwelt determiniert
zu verstehen,
von Menschen als
mathematisch
und das erschließt die Aussicht, daß
dasselbe auch in anderen Fällen, und vielleicht nicht nur auf dem Gebiete der menschlichen Wirtschaft, gelingen könnte. Für die Lehre von der Marktwirtschaft aber ergibt sich schon jetzt ein Resultat, das zwar nicht so weite Perspektiven erschließt, wie die soeben angedeuteten, das aber weit über die Aufklärung des speziellen Problems hinausgeht, das wir lösen konnten. Der von uns erschlossene Gegensatz zwischen den Käufern und Verkäufern gilt nämlich nicht bloß für die organisierten Verbände, die Genossenschaften, sondern für jedes zufällige Aggregat. Und so fällt von hier aus ein ganz neues Licht auf das Wesen der Konkurrenz im allgemeinen. Wir beginnen zu verstehen, warum ganz im allgemeinen die Konkurrenz der Käufer einen anderen, ungleich friedlicheren Charakter hat als die der Verkäufer. Käufer ζ. B. teilen sich willig günstige Bezugsquellen mit, während Verkäufer alle Vorteile der Produktion und des Absatzes ängstlich geheim zu halten pflegen. Das liegt daran, daß die Verkäufer sich schon unter den gewöhnlichen Verhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft in der Lage befinden, in der sich die Käufer nur in dem einen äußersten Falle einer Hungersnot befinden: daß von dem Preise der einen Ware, mit der ihr Interesse unlösbar verknüpft ist, nicht bloß ihr Behagen, sondern ihre Existenz abhängt. Der Unterschied der Motivation und der daraus sich ergebenden Massenhandlung ist so groß, daß man gut tun wird, beides terminologisch zu scheiden, statt es unter dem einen Ausdruck
1
Vgl, Oppenheimer, Allgemeine Soziologie, in: System der Soziologie, Bd. I, S. 674f., 779.
Das Kapital: Fünfter Abschnitt
749
„Konkurrenz" zusammenzufassen und dadurch die charakteristischen Unterschiede zu verwischen und die Verständigung zu erschweren. Ich habe vorgeschlagen, die Konkurrenz, wie sie unter den Käufern herrscht, als den „friedlichen Wettbewerb" von der anderen Art, dem „feindlichen Wettkampf", zu trennen.
C. Gewerbetreibende und Landwirte Sehen wir nun zu, wie weit unsere Teillösung uns dazu verhilft, nun auch die nicht-städtischen Genossenschaften der Gegenwart und die paradoxe Entwicklung der Zunft zu verstehen. Sprechen wir zunächst von der landwirtschaftlichen Produktivgenossenschaft. Warum ist sie „offen", während ihre Schwester von der Industrie zu der Gruppe der „gesperrten" rechnet? Die Antwort lautet, daß die wirtschaftliche Motivation der landwirtschaftlichen Verkäufer eine sehr weitgehende Ähnlichkeit, wenn nicht volle Identität, mit derjenigen der Käufer zeigt: Darauf deutet schon der Charakter der Konkurrenz zwischen den Landwirten hin, die alle Kennzeichen des friedlichen Wettbewerbes, aber kein einziges des feindlichen Wettkampfes aufweist. Es ist bekannt, daß die Landwirte, sehr im Gegensatz zu den Industriellen, mit größter Bereitwilligkeit sich technische Errungenschaften und günstige Bezugsquellen mitzuteilen pflegen. 1 Offenbar darf man auch den auffällig festen Zusammenhalt ihrer politischen Verbände auf den Mangel trennender wirtschaftlicher Gegensätze zurückführen, der hier zutage tritt: „Bund der Landwirte" hier und „Hansabund" dort! Diese Harmonie beruht darauf, daß die Landwirte in ihrem Verhalten gegeneinander genau so motiviert sind wie die Käufer. Auch zwischen ihnen besteht nicht der feindliche Wettkampf sondern derfriedliche Wettbewerb: Der Konkurrenzkampf in der Industrie wird, abgesehen von ungesetzlichen und unmoralischen Mitteln, allein geführt durch Unterbietung im Preise, „durch Verwohlfeilerung der Ware", wie Marx sagt. Diese Unterbietung ist nur möglich auf dem Boden der Preisbildung, der die Gewerbe trägt. Auf die Dauer wird hier der Preis bestimmt durch die Reproduktionskosten der Wareneinheit in dem bestausgestatteten Betriebe, der zu gleichen Bedingungen auf dem Markte zur Konkurrenz zugelassen ist, sei er nun der am günstigsten gestellte durch seinen Standort (Marktnähe, billige Arbeitskräfte, billige Produktionsmittel, günstige Verbindungen) oder durch seine kapitalistische Ausstattung oder schließlich durch Genie oder Energie seines Leiters. Hier also tendiert die Entwicklung regelmäßig auf Senkung des Preises mit dem Wachstum der Bevölkerung, mit dem Fortschritt der Arbeitsteilung, mit der Entwicklung der Technik. Die Preisbildung erfolgt mehr durch Angebot der Warenproduzenten als durch Nachfrage der Kundschaft. Damit soll gesagt sein, daß die Kundschaft die niedrigeren Preise auf die Dauer - vom einzelnen Markte mit seinem Zufallsverhältnis von Angebot und Nachfrage ist nicht die Rede - weniger erzwingt als akzeptiert; das bestimmende Moment der Preisbildung ist die Konkurrenz der Verkäufer, die sich unter-, nicht die der Käufer, die sich überbieten. Ganz anders in der Landwirtschaft! Hier wird der Preis auf die Dauer bestimmt durch die Reproduktionskosten der Wareneinheit in dem schlechtest ausgestatteten Betriebe, der zur Versorgung
1
Das ist schon Adam Smith und vor ihm dem alten Cato aufgefallen, auf den er sich beruft. Er schreibt (Volkswohlstand, IV. Buch, Kap. 2): „Im Gegensatz dazu (zu den Industriellen) sind Pächter und Grundbesitzer im allgemeinen geneigt, Anbau und Fortschritte ihrer Nachbarn eher zu fördern, als zu hemmen. Sie haben keine Geheimnisse wie die meisten Industriellen, sondern haben im Gegenteil ganz allgemein ihre Freude daran, jede neue von ihnen als vorteilhaft befundene Praxis ihren Nachbarn mitzuteilen und so weit wie möglich zu verbreiten."
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
des Marktes unter den gegebenen Verhältnissen noch beitragen muß, er sei nun der am ungünstigsten gestellte durch seinen Standort (höchste Transportkosten) oder durch die Qualität seines Bodens. Hier also tendiert die Entwicklung regelmäßig auf Hebung des Preises mit dem Wachstum der Bevölkerung, dem Anschwellen der Städte, d. h. des Marktes für das Urprodukt. Die Preisbildung erfolgt hier mehr durch Nachfrage der Kundschaft als durch Angebot der Erzeuger. Damit soll gesagt sein, daß auf die Dauer - vom einzelnen Markte mit seinem Zufallsverhältnis von Angebot und Nachfrage ist auch hier nicht die Rede - die Erzeuger die höheren Preise weniger erzwingen als akzeptieren; das bestimmende Moment der Preisbildung ist die Konkurrenz der Käufer, die sich über-, nicht die der Verkäufer, die sich unterbieten. Hier interessiert uns vor allem, wie sich das Verhalten der Verkäufer der industriellen Ware zueinander dort, der landwirtschaftlichen zueinander hier gestaltet. In der Industrie erstrebt jeder kapitalistische Warenproduzent - für die „reine Ökonomie" bestehen andere Gesetze, wie sich zeigen wird - , seine Gegner aus dem Markte zu werfen. Seine Waffe ist die Unterbietung. Durch Unterbietung expropriiert der Manufakturenleiter den Handwerker, der Fabrikbesitzer beide, der große Kapitalist den kleinen. So wachsen die Betriebe zu immer größerer Stufenleiter, das Kapital konzentriert sich mehr und mehr, d. h. es wächst durch Anhäufung des Profits; - und es zentralisiert sich mehr und mehr, d. h. es wächst durch Assoziation vieler Kapitale zu einem Gesamtkapital. Da in der Landwirtschaft von Unterbietung im Preise - abgesehen von einzelnen Konjunkturen auf vereinzelten Märkten - gar keine Rede ist, so fehlt dieser einzige Motor des Preiskampfes hier gänzlich. Der einzelne Besitzer, und sei er der größte Magnat, hat gar keine Möglichkeit, den Marktpreis für Korn oder Fleisch auf die Dauer zu erniedrigen; denn seine Produktion verschwindet als ein Tropfen im Meere des Gesamtangebots. Verkauft er, was er hat, unter dem Marktpreise, so macht er lediglich dem Händler oder Müller ein Geschenk und beeinflußt allenfalls einen vereinzelten Lokalmarkt damit; aber an den Marktpreis selbst rührt er nicht auf die Dauer: denn den bestimmt das Verhältnis von Gesamtnachfrage und Gesamtangebot. Nur ein Weltgetreidetrust könnte eine Zeitlang den Preis beeinflussen: und ein solcher würde gewiß nicht auf Unterbietung der Außenstehenden hinarbeiten; seine Verluste ständen in keinem Verhältnis zu dem möglichen Gewinne. Unter diesen Umständen besteht auch gar nicht die Absicht der Unterbietung, besteht gar nicht die psychologische Stimmung zum Konkurrenzkampf unter den Landwirten. Wo keiner des anderen Konkurrent ist, wo keiner hoffen kann, durch Niederzwingung seiner Genossen das Monopol des Marktes zu erringen und die Preisbestimmung der Ware in die Hand zu bekommen, stehen sich die Menschen als Warenverkäufer ökonomisch mit ganz anderer Gesinnung gegenüber. Wie sie sich sozial gegenüberstehen, ist eine andere Frage. Aber jeder gönnt dem anderen den höchsten Marktpreis, weil er selbst ihn erhält und nur dann erhalten kann, wenn der Nachbar ihn erhält. Auch die übrigen Kennzeichen der „Käufer" treffen auf den Bauern zu. Er ist wie jener am Preise vieler verschiedener, nicht, wie der Unternehmer, einer einzigen Ware interessiert; und darum ist sein Interesse mit dem Preise der einzelnen nur locker verknüpft. Er erzeugt verschiedene Zerealien, Stroh, Heu, Kartoffeln, Eier, Schlacht- und Nutzvieh, vielleicht Holz, Torf, Wein, Obst usw. Sinkt der Preis der einen Ware, so mag die andere steigen; er kann den Schlägen der Konjunktur ausweichen, weil er, ganz wie der Käufer, Ersatzmittel hat; denn er wird mehr als gewöhnlich von dem verzehren, was im Preise fiel, mehr von dem verkaufen, was im Preise stieg. Aber, mag auch alles im Preise fallen: die Existenz des unverschuldeten Bauern ist bei keiner normalen Marktlage bedroht, so wenig wie die des Käufers bei normaler Marktlage; 1 er mag nur gerade wie der Käufer
1
Das gilt nur für den wirklichen Bauern, nicht aber für den Farmer der „Monokultur" amerikanisches Gepräges, der ein „landwirtschaftlicher Fabrikant" ist und als solcher die Psychologie des Verkäufers hat.
Das Kapital: Fünfter Abschnitt
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zeitweilig in seinem Behagen leiden, während die Existenz auch des unverschuldeten städtischen Unternehmers durch eine ungünstige Marktlage vernichtet werden kann. Wir haben also eine sehr weitgehende Ähnlichkeit, wenn nicht volle Identität, der psychologischen Motivation des Konsumenten einer-, des Bauern andererseits. Und dadurch erklärt sich die paradoxe Tatsache, die erst durch uns aufgeklärt werden konnte, daß die landwirtschaftlichen Genossenschaften, auch die Produktivgenossenschaft landwirtschaftlicher Arbeiter, im schärfsten Gegensatz zu den industriellen, immer gediehen sind und nie degenerierten. Auch hier bestimmt die Solidarität des Einzelinteresses mit dem Gesamtinteresse das Schicksal dieser Einungen.
D. Die Zunft der reinen und der politischen Ökonomie Wir haben hiermit einen Schritt weiter zu unserem Ziele getan, indem wir feststellten, daß Fälle vorkommen, in denen auch Verkäufer in wirtschaftlicher Interessenharmonie stehen können, so daß auch Verkäuferverbände „offen" bleiben können. Wenden wir uns nun zu unserem letzten Teilproblem, der Zunft. Ihre Entwicklung beweist, daß es Umstände geben kann, in denen auch die Motivation städtischer Verkäufer die gleiche sein kann, wie die der landwirtschaftlichen Verkäufer und der letzten Käufer in Stadt und Land. Was war der Grund, daß bis zum Ende des 14. Jahrhunderts die deutsche 1 Gewerbegenossenschaft „offen" war, d. h. den Beitritt aller irgend geeigneten Elemente nicht nur erleichterte, sondern sogar zu erzwingen suchte; daß sie sich freudig entwickelte und ihre demokratische Verfassung bewahrte: Was war der Grund, daß sie dann eine „gesperrte" Einung wurde, dahinkümmerte und autokratische Verfassung annahm? Wir müssen, wenn wir richtig gerechnet haben, die Ursache in den von uns festgestellten Unterschieden zwischen Käufer und Verkäufer auffinden. Nirgend anders kann diese Ursache stecken als in dem Verhalten des Verkäufers zum Gesamtprofit. Denn hier fanden wir die einzige Stelle, wo ihm die strenge Determination durch seine wirtschaftliche Lage so etwas wie eine Wahl übrig ließ: er konnte wenigstens theoretisch darüber „spekulieren", ob er seinen Gesamtprofit durch Verkauf von wenigen Waren zu hohem, oder von viel Waren zu niederem Preise halten solle; und hier sahen wir die Wurzel der Disharmonie zwischen seinem Interesse und dem der Gesamtheit seiner Mitbewerber. Wie stand der Zunftmeister vor, wie nach jenem Umschwung zum Gesamtprofit? Darüber besteht, soweit ich sehen kann, volle Ubereinstimmung unter den Meistern der historischen Schule. Vor dem Umschwung bezog der Zunftmeister überhaupt keinen Profit, nicht am einzelnen Stück und demnach auch nicht am Gesamtprodukt; der Profit ist eine gesellschaftliche Erscheinung, die erst der Zeit nach dem Umschwung, der zweiten Periode der Zunft, angehört. Die erste Periode aber ist charakterisiert durch eine unseren Begriffen ganz fremde Gestaltung des Marktes der Dienste. Es herrscht eine ganz allgemeine Leutenot im städtischen Gewerbe. Unter solchen Umständen „laufen", um mit der alten Theorie zu sprechen, „immer zwei Meister einem Arbeiter nach und überbieten sich"; der Lohn steht auf die Dauer und im Durchschnitt auf seinem Maximum, d. h. auf dem vollen Werte des Arbeitsertrages; und dem Anwender verbleibt somit nichts als sein eigener, vielleicht sehr hoher Arbeitslohn einer qualifizierten Kraft. Und das ist denn auch genau die Signatur der ersten Zunftperiode.
1
Grundsätzlich besteht der gleiche Gegensatz auch für die gewerblichen Korporationen der übrigen Länder Europas im Mittelalter. Nur, daß die Transformation zu anderer Zeit eintritt, sobald ihre Bedingungen gegeben sind. Vgl. Oppenheimer, Stadt und Bürgerschaft, in: System der Soziologie, Bd. IV, 3. Teilbd.
752
Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Wo aber kein Profit existiert, kann der städtische Verkäufer so wenig auf den Gedanken kpmmen, bei sinkendem Preise seine Produktion auszudehnen, wie der Konsument, bei steigendem Preise seinen Verzehr zu steigern. Er würde sein Einkommen, seinen Arbeitslohn also, und zwar empfindlich, verringern. Ja, wollte er das Unverständige tun, er könnte es aus äußeren Gründen gar nicht; denn ihm fehlt hier die unerläßliche Bedingung, die heute den industriellen Unternehmer befähigt, sein Angebot fast schrankenlos zu vermehren: die Verfügung über beliebig viele Arbeiter. Der gleiche Zustand des Arbeitsmarktes, der die psychologische Bedingung der Produktionssteigerung bei sinkendem Preise, den Profit, ausschließt, schließt auch ihre objektive Bedingung aus. So bleibt also dem städtischen Verkäufer in solcher Zeit bei sinkendem Preise nichts anderes übrig, als genau das zu tun, was die Gesamtheit seiner Mitbewerber wünschen muß, nämlich, seine Produktion einzuschränken, genau wie dem Käufer nichts anderes übrig bleibt, als seinen Konsum einzuschränken, wenn der Preis steigt. Gesamtheit und Einzelner sind also solidarisch, und darum sind die Verbände der Verkäufer in dieser Epoche „offen". Darum aber herrscht auch zwischen ihnen nicht der feindliche Wettkampf, sondern der friedliche Wettbewerb. Kein Einzelner kann hier, so wenig wie der Landwirt, daran denken, seine Mitbewerber aus dem Markte zu werfen, um das Monopol zu erringen. Dazu fehlt der Trieb, weil kein Profit existiert, und die Möglichkeit, weil kein Uberangebot freier Arbeiter existiert. Wohl aber kann der Einzelne danach streben, sein Arbeitseinkommen zu vermehren, indem er durch solide und geschmackvolle Arbeit die zahlungsfähigsten Käufer an sich zieht. Und weil dem immer wachen Wettstreben der Menschen der jetzt von uns betrachteten Periode nur dieser eine Weg blieb, darum haben wir damals jene Hochkultur der Handwerkskunst erblühen sehen, die noch heute unser Staunen erweckt: ein sehr erfreulicher Gegensatz gegen den brutalen struggle for life, den heute unsere Gewerbe mit allen Mitteln der Reklame und des unlauteren Wettbewerbs gegeneinander zu führen gezwungen sind. In der zweiten Periode der Zunft aber herrschen auf dem Markte der Dienste Zustände, denen ähnlich, die unsere heutige Gesellschaftsordnung beherrschen: dauernde Überfüllung mit freien Arbeitern. Auch darüber besteht, soweit ich sehen kann, unter den Historikern keine Meinungsverschiedenheit: nur die Ursache dieser Erscheinung ist zwischen ihnen strittig. Die meisten leiten die Erscheinung malthusisch aus einer allgemeinen „Übervölkerung" ab. Diese Deutung ist aber unzweifelhaft falsch! Selbst wenn man grundsätzlich Anhänger der Bevölkerungstheorie ist, kann man sie hier nicht heranziehen. Denn der Umschwung fällt zeitlich fast genau mit den ungeheuren Verwüstungen zusammen, die der „schwarze Tod" unter der europäischen Menschheit anrichtete. Die Erklärung ist in ganz anderen Dingen zu suchen, und zwar in einer Umwälzung der Eigentums- und Einkommensverhältnisse auf dem platten Lande. Meine allgemeine Auffassung hat hier geschichtlich die allerstärkste, in der Tat völlig beweisende Stütze. Der Umschwung der Zunft beginnt und schreitet fort genau in dem Schrittmaß, wie sich die Bodensperre durchsetzt. Bis dahin ist der Boden eingenommen entweder von freien Bauernschaften oder von „Großgrundherrschaften", deren Eigentümer von ihren Hintersassen eine bestimmte, nicht steigerungsfähige, rechtlich (im Hofrecht) festgelegte Rente beziehen. Hier erhalten also nicht die „Arbeiter", sondern die Eigentümer ein Fixum; sie sind es, die „unter konstantem Druck stehen". Die Bodenbebauer aber streichen alle Vorteile der fortschreitenden Kooperation ein, stehen also unter regelmäßig sinkendem wirtschaftlichen Druck, und demgemäß besteht hier unter allen feudalen Mäntelchen in den ökonomischen Beziehungen durchaus die „reine" Wirtschaft: geringe Ausund Abwanderung, Verdichtung der agrarischen Bevölkerung auf der Fläche, Bewegung zur „natürlichen Hufengröße", d. h. Verkleinerung der Bauernstellen mit der allgemeinen Kooperation, gesundes Wachstum der Städte, in denen kaum Andeutungen einer Mietsrente existieren, und dennoch rastlose Neubildung immer neuer junger Städte. Der Lohn der Abhängigen steht dicht an oder auf dem vollen Arbeitsertrage, es gibt kaum Andeutungen eines Profits und nur Reste alter, im
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Feudalsystem begründeter Herrenrente, die aber nicht wächst, sondern im Gegenteil relativ zum Gesamteinkommen und oft sogar absolut stark einschrumpft, nämlich wo sie als Geldrente fixiert ist. Denn alle Münzen verringern sich im Schrot und Korn, dank der Falschmünzerei der Fürsten. Dann aber, hier früher, dort später, in Italien und Flandern im 12. Jahrhundert, in Deutschland im 14. Jahrhundert, setzt sich durch außerökonomische Gewalt überall die Bodensperre durch. Der Adel sperrt alles Land, das noch nicht von Bauern besetzt ist, und bringt den schon angesessenen Bauern unter sein Knie. Seine Grundrente steigt, das bäuerliche Einkommen fällt, und fällt allmählich bis auf das physiologische Minimum. Ein Ort konstanten, oder vielmehr sogar steigenden Druckes ist gegeben, die Massenwanderung setzt ein und vermehrt in den Städten die Konkurrenz, während gleichzeitig der Absatzmarkt schwindet. Jetzt „laufen immer zwei Arbeiter einem Meister nach", unterbieten sich, der Lohn steht auf die Dauer und im Durchschnitt auf einem bestimmten sozialen Minimum, dem gewerblichen Anwender bleibt ein stattlicher „Profit", - und nun kann, fast muß er bei sinkendem Preise sein Angebot steigern, um den Gesamtprofit zu halten, kann es auch, weil er über beliebig viele Arbeitskräfte verfügt; die Disharmonie zwischen ihm und der Gesamtheit seiner Mitbewerber ist gegeben; der friedliche Wettbewerb wird zum feindlichen Wettkampf, und die einst „offenen" Verbände sperren sich. Damit ist das uns gestellte Problem gelöst. Ein natürliches, psychologisch orientiertes, System der Genossenschaften muß sie einteilen entweder nach ihrem Entwicklungsgang in harmonische und disharmonische oder nach der letzten Ursache ihrer verschiedenen Entwicklung in kapitalistische und „sozialitäre" Genossenschaften.
b. Die Störungen der Distribution: Die Kaufkraft Karl Marx hielt den Kapitalismus für ein „gesellschaftliches Produktionsverhältnis". Wir wissen, daß er darin Unrecht hatte: er ist ein „gesellschaftliches Distributionsverhähnis". Die primär erkrankte Funktion des Supraorganismus der Wirtschaftsgesellschaft ist die Distribution: die durch das politische Mittel gesetzte primäre Verschiedenheit der Vermögen, die „Distribution der Produktionsfaktoren", wirkt sich noch heute, nach Jahrtausenden geschichtlichen Lebens, in der Verschiedenheit der Einkommen aus. Wenn wir den Begriff der Distribution in ihrem engsten Sinne als den Mechanismus fassen, durch den der Markt einer gegebenen Wirtschaftsgesellschaft sich in die einzelnen Personalwirtschaften entleert, dann kann man im Grunde nicht von einer Pathologie der Distribution sprechen. Denn dann funktioniert sie immer ohne Tadel: jedes ökonomisch wirksame, d. h. auf Kaufkraft gegründete Teilbedürfnis wird immer, auch in der politischen Ökonomie, und hier sogar im Zentrum des Taifuns der Krise, durch den entsprechenden Teilbedarf bedeckt. Wenn man aber den Gesichtspunkt höher wählt, den Begriff soziologisch faßt, dann erhält er einen größeren Inhalt. Dann fragen wir nach der Ursache der Ungleichheiten, die in der wirksamen Nachfrage der Einzelnen zutage treten, d. h. nach der Kaufkraft, die vor der Marktwirtschaft besteht und ihren regulatorischen Automatismus in Bewegung setzt. Die wichtigsten Feststellungen, die hier zu treffen sind, haben wir in früheren Kapiteln bereits gemacht. Wir wissen, wie sich der Lohn der Unterklasse bildet als der um den Monopoltribut gekürzte volle Arbeitsertrag; und haben hier und da die immer traurigen, oft furchtbaren Folgen berührt, die der Druck des Klassen-Monopolverhältnisses auf die freien Arbeiter hervorruft. So brauchen wir denn den Störungen der Distribution keine eigene Darstellung mehr zu widmen. Das ist ein Gegenstand der Wirtschaftsgeschichte. Wohl aber haben wir die sekundären Störungen genauer ins Auge zu fassen, die von der primären Störung aus die zweite große Funktion des Supraorganismus, die Produktion, ergreifen und von
Zweiter Teil: Marktwirtschaft
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hier aus wieder auf die Kaufkraft zurückschlagen. Denn im Supraorganischen, wie im Organischen ist es unmöglich, daß eine Funktionsstörung isoliert bleibe. „Die Krankheit ist der Prozeß des Lebens unter abnormen Bedingungen." Kein Organ und keine Funktion bleibt gesund, wenn ein wichtiger Organkomplex und seine Funktion krank sind. Der immanente Trieb zur Harmonie aller Funktionen wirkt sich aus in der Tendenz zur Ausstoßung der Schädlichkeit und bis dahin zur Ausgleichung (Kompensation) der Störung: die Last wird gleichsam gerecht auf alle Teile des Organismus verteilt, damit jeder seinen Anteil trage.
c. Die Störungen der Produktion: Produktivität und Rentabilität Weil der kapitalistische Unternehmer im struggle for life des feindlichen Wettkampfes steht, und weil er vom Erwerbstrieb beherrscht wird, klaffen „Produktivität" und „Rentabilität" in der kapitalistischen Wirtschaft vielfach auseinander. Produktivität ist eine Kategorie der Marktwirtschaft. Das Wort bezeichnet die Fähigkeit einer gegebenen Wirtschaftsgesellschaft, eine bestimmte Menge von Wertdingen niederer Ordnung zu Markte zu bringen. Je höher diese Fähigkeit - und das hängt ceteris paribus von nichts anderem ab als von der Dichte und dem Kollektivbedürfnis der Bevölkerung und der daraus folgenden Staffel der Kooperation - um so größer ist bei gleicher Verteilung die „Komfortbreite" jeder einzelnen ökonomischen Person. Rentabilität ist eine Kategorie der Personalwirtschaft. Das Wort bezeichnet die Fähigkeit einer gegebenen Wirtschaftsperson, aus dem Gesamtarbeitsertrage ihrer Gesellschaft eine bestimmte Menge von Wertdingen niederer Ordnung an sich zu ziehen. Je höher diese Fähigkeit - und das hängt von nichts anderem ab als von der Qualifikation und der Stellung zu einem Monopolverhältnis, um so größer ist ceteris paribus die Komfortbreite der beobachteten Wirtschaftsperson.1
1. Die Harmonie aller Interessen A. In der reinen
Ökonomie
„Die denkbar törichteste Utopie", so nannten und nennen die bürgerlichen Apologeten den Glauben an eine mögliche Harmonie aller Interessen. „Die Menschen müßten erst Engel werden." So wie sie nun einmal sind, sei ihre Selbstsucht viel zu groß, um derartige Hoffnungen zu rechtfertigen. Nun leitet aber die Lehre von der Konkurrenz gerade aus dem „Selbstinteresse" den Schluß ab, daß in einer reinen Ökonomie, d. h. bei Abwesenheit aller Klassenmonopole, der Gleichgewichtszustand, auf den hin in leichten Schwankungen das Getriebe tendiert, besteht in der Gleichheit aller Einkommen aller gleich qualifizierten Produzenten und der Abstufung der Einkommen nach nichts anderem als der Verschiedenheit der Qualifikationen.
1
„Individuen bereichern sich durch bloße Erwerbung schon vorhandener Güter, Völker nur durch Produktion von Gütern, die vorher nicht existierten. Jenes ist acquisition, dieses creation" 0ohn Rae, zitiert nach Böhm-Bawerk, Geschichte und Kritik der Kapitalzins-Theorien). Sogar Bastiat spricht von „production" und „spoliation" und rechnet zu der letzteren außer Eroberung usw. auch das Monopol. Ebenso Nassau Senior. Die unentgoltene Aneignung, die „bei den Wilden Diebstahl und Räuberei ist, nimmt bei zivilisierten Völkern die weniger auffälligen Gestalten von Monopol und Privileg an" (Senior, Industrial Efficiency and Social Economy, 1. Teil, S. 40).
Das Kapital: Fünfter
Abschnitt
755
Dem Schluß ist nicht auszuweichen, ohne damit die gesamte Theoretik preiszugeben. Denn jeder einzelne, richtige und falsche Satz der bisherigen Deduktion ist aus genau der gleichen Prämisse mit genau der gleichen Methode gewonnen worden: das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation mit seinem Korollar, dem Malthusschen Bevölkerungsgesetz, die Lohnfondstheorie und die Ricardosche Lehre von der Grundrente, und nicht minder die gesamte Theorie des Grenznutzens und Grenzwertes usw. Aus diesem Dilemma versuchte die historische Schule sich dadurch zu befreien, daß sie die Methode als unzureichend erklärte. Unsere gesamte Betrachtung hat gezeigt, daß diese Ausflucht nichts helfen kann. Die Methode hat sich uns, um mit Dilthey zu sprechen, als ein „Messer, das schneidet", erwiesen. Die deduktiven Schulen der Epigonen versuchten einen anderen Weg. Sie bestritten den Schluß nicht, aber sie versuchten, die krassen Verschiedenheiten von Einkommen und Vermögen, die zu erklären waren, statt auf das Monopol auf die Verschiedenheiten der Qualifikation zurückzuführen. Es geschieht das nicht offen; der von uns angeführte Satz von Smith, und gar der noch präzisere von Thünen findet sich in keinem Lehrbuch. Es geschieht verhohlen, in stillschweigender Berufung auf das Grundaxiom von der ursprünglichen Akkumulation. Logisch liegt hier einer der plumpsten Zirkelschlüsse vor, eine grobe petitio principii: zuerst schließt man aus der Größe der Unterschiede des Einkommens auf die Verschiedenheit der wirtschaftlichen Begabung, und dann erklärt man aus dieser rückwärts die Unterschiede des Einkommens. So geht es nun wirklich nicht! Und es geht überhaupt nicht! Sobald man nämlich statt mit logischen Tricks mit sachlichen Argumenten an die These herantritt, zeigt sich sofort, daß sie auf einer unmöglichen Voraussetzung beruht. Sie hat nur dann einen Sinn, wenn sie behauptet, daß die Unterschiede der Einkommen denen der Qualifikation proportional sind. Das aber ist prima facie eine unsinnige Behauptung. Die Unterschiede des Einkommens und Vermögens in der kapitalistischen Gesellschaft sind ungeheuer groß; die reichsten Männer der Welt haben mehr als das hunderttausendfache Einkommen der ärmsten Arbeiter der Welt. Dieses Einkommen stammt zudem fast durchaus aus Vermögen. Wie aber ist das Vermögen zumeist entstanden? Um einen neuesten entschiedene antisozialistischen Fachmann anzuführen, so sagt Bruno Moll: „Nicht eigene Arbeit, sondern Aneignung der Früchte fremder Arbeit sind als Entstehungsgründe der Kapitalien in fast allen Perioden der Wirtschaftsgeschichte in erster Reihe mit heranzuziehen: Krieg und Raub, Versklavung, Mord und Plünderung, Betrug und Wucher, Ubervorteilung und Schiebung, Ausbeutung und Uberlistung, Erpressung und Korruption, Steuerflucht und -hinterziehung waren große Regulatoren der wirtschaftlichen Verteilung und sind es zum Teil noch jetzt."1 Wenn man trotz dieser Tatsachen die Qualifikation für die Unterschiede der Verteilung verantwortlich machen will, so muß man wenigstens so viel tun, sie zu messen oder doch, wenn das nicht exakt möglich sein sollte, aufgrund verwandter meßbarer Tatsachen zu schätzen. Da zeigt sich nun sofort, daß die Verschiedenheiten menschlicher Begabung überall dort, wo wir sie messen können, außerordentlich gering sind, daß Maximum und Minimum sehr nahe bei einander liegen. Die Pygmäenvölker Afrikas zeigen eine Durchschnittsgröße der Männer von etwa 125, die Riesen der polynesischen Inseln von etwa 180 Zentimeter. Kein nicht besonders trainierter Mann hebt das vierfache des Gewichts, das ein Normalmann bewältigt. Das normale unbewaffnete Auge zählt 3.200 Sterne, und der Mann, der 5.400 zählen konnte, gilt als Weltwunder. Nicht anders steht es um geistige Eigenschaften: wir können Willensanspannung, Ausdauer, Entschlußfähigkeit,
1
Moll, Gerechtigkeit in der Wirtschaft, Bonn 1932, S. 36.
7 56
Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Anpassungsfähigkeit exakt messen, alles Eigenschaften, die einen Hauptteil dessen ausmachen, was man „wirtschaftliche" Begabung nennt. Auch für die Intelligenz hat die Psychotechnik eine Reihe von Messungen gefunden, wenn auch nicht für alle ihre Manifestationen, aber wir wissen, daß ihre höchste Ausgestaltung, das Genie, ihren Träger wirtschaftlich oft genug eher disqualifiziert als qualifiziert.1 In einer reinen Ökonomie kann also schon das Einkommen auch der Höchstqualifizierten den Durchschnitt nicht sehr bedeutend überschreiten. Sollte es aber auch der Fall sein, so können daraus niemals grobe, klassenbildende Verschiedenheiten des Vermögens entstehen, weil der hier mögliche Ertrag werbender Anlagen sehr niedrig sein wird: gibt es doch hier, nachdem der statische Profit verschwunden ist, nur noch den kinetischen Zins, und von Grundrente nur noch winzige Splitter! Selbst ein wirklich großes, hier einmal wirklich durch „Entsagung" aufgehäuftes Sparvermögen wirft also nur einen Ertrag ab, der im Vergleich zu dem Arbeitseinkommen des Höchstqualifizierten nur wenig ins Gewicht fällt. Und warum sollte hier jemand „entsagen", wo die Zukunft aller gesichert ist, und Reichtum kein Prestige verleiht? Dieser Zustand des Gleichgewichts stellt in jeder denkbaren Beziehung das Ideal dar: wirtschaftlich, weil der freie Wettbewerb besteht, der alle Kräfte zur höchsten Entfaltung spannt und dadurch den höchsten möglichen Zustand der Gesellschaft hervorbringt, und politisch-moralisch. Das Ideal aber auch vom Standpunkt des Sozialismus und der praktischen Vernunft: diese „rationelle Gleichheit" verwirklicht die Forderung aller großen Staats- und Rechtsphilosophen, Piatons „Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen aber Ungleiches" und nicht minder Kants „Rechtsstaat". Denn hier besteht, um mit Rousseau zu sprechen, ein Zustand, „wo Niemand reich genug ist, um Viele zu kaufen, und Niemand arm genug, um sich verkaufen zu müssen". Unsere bisherigen Betrachtungen haben uns bereits eine Anzahl von Einzelzügen dieser Harmonie ergeben: in der reinen Ökonomie müssen privatwirtschaftliche Rentabilität und volkswirtschaftliche Produktivität jederzeit zusammenfallen. Das heißt: der von dem Selbstinteresse der Rentabilität beherrschte und gelenkte Wirt kann gar nicht anders als so produzieren, wie das der Gesamtheit am nützlichsten ist. Wir haben soeben festgestellt, daß sein Interesse sowohl als Käufer wie als Verkäufer mit dem seiner Konkurrenten um den Einkauf dort und den Verkauf hier identisch ist und ihn zu Handlungen motiviert, die dieser Harmonie entsprechen. Und wir haben im Abschnitt über den Wert festgestellt, daß sein Interesse ihn auch gegenüber seinen Kontrahenten im Tauschverkehr zu den Handlungen motiviert, die der Harmonie entsprechen. Denn die Konkurrenz um den Preis fixiert alle Einkommen auf den Zustand der absoluten, objektiven Äquivalenz, abgestuft lediglich nach der relativen natürlichen Seltenheit der Qualifikation. Da nun im Marktverkehr die Wirtschaftspersonen nur als Kontrahenten und Konkurrenten miteinander in Beziehimg stehen, so ist damit die allgemeine Harmonie auf die Dauer und im Durchschnitt gegeben. Auf einem isolierten Markte kann freilich aus außer- und unwirtschaftlichen Ursachen einmal auf kurze Zeit und in bezug auf eine beschränkte Interessentengruppe eine Disharmonie der beiden Beziehungen eintreten, ζ. B. bei einer überreichen Ernte. Hier kann nach Kings Regel der Preis des Getreides so tief fallen, daß der Gesamterlös geringer wird als bei einer geringen Ernte. Hier ist also das private Interesse des Bauern an der Rentabilität dem allgemeinen Interesse der Konsumenten an der Produktivität entgegengesetzt.
1
Smith sagt (Volkswohlstand, 1. Buch, Kap. 2): „Die Verschiedenheit der natürlichen Begabung ist in Wirklichkeit viel geringer, als es scheint; und das sehr verschiedene Genie, das Menschen der verschiedenen Berufe zu unterscheiden scheint, ist viel häufiger die Wirkung als die Ursache der Arbeitsteilung [...] von Natur aus ist ein Philosoph nicht halb so verschieden vom einem Lastträger wie ein Pudel von einem Schäferhund."
Das Kapital: Fünfter
757
Abschnitt
Indessen zeigt sich gerade hier sehr deutlich, daß diese Interessenspaltung in der reinen Wirtschaft sehr harmlos ist. Denn erstens motiviert sie den Bauern zu keiner disharmonischen
Hand-
lung. Er wird immer, harmonisch, danach streben müssen, seinem eigenen Acker den höchsten Ertrag abzuringen, und allenfalls den Wunsch haben können, daß seine Konkurrenten i m Durchschnitt v o m Mißwachs betroffen werden: ein Wunsch, zu dessen Erfüllung er nichts beitragen kann. U n d zweitens kann der Mindererlös aus einer Uberernte den unverschuldbaren Bauern der reinen Wirtschaft niemals schwer treffen. Er wird lediglich die untersten Stufen der Wertskala seines Bedarfs nicht bedecken können und mehr oder weniger an seinem Behagen leiden: aber seine Existenz ist niemals bedroht. Solche Bedrohung trifft nur den verschuldeten Grundeigentümer der politischen Ö k o n o m i e , und hier vor allem den Großproduzenten, den kapitalistischen Landwirt, der einen unendlich viel kleineren Teil seines Erzeugnisses selbst verwendet, einen unendlich viel größeren zu Markte bringt, und der schon darum, und ferner aus dem Grunde viel größere Beträge des Gesamtprofits einbüßt, weil er keine „Ersatzmittel" hat, wie der Bauer: er kann nicht erheblich mehr von dem verzehren, was im Preise sank, und nicht erheblich mehr von dem verkaufen, was im Preise stieg. Immerhin ist festzuhalten, daß auch in der reinen Ö k o n o m i e privates Rentabilitäts- und allgemeines Produktivitätsinteresse nicht immer zusammenfallen; wir haben auch hier im Physiologischen den winzigen K e i m des Pathologischen, wie es in der kapitalistischen Ö k o n o m i e in ungeheuerlicher „Heterometrie" zutage tritt.
B. Die Harmonielehre
der klassischen
Schule
Die Meister der deduktiven Schule haben, wie des öfteren hervorgehoben, die kapitalistische Wirtschaft immer für die reine angeschaut und ihre sämtlichen Störungen lediglich als unvermeidlichen Reibungskoeffizienten eingeschätzt und dementsprechend als quantité négligeable bewertet. So haben sie denn auch immer die privatwirtschaftliche Rentabilität, und zwar immer diejenige der Klasse, die sie vertraten, naiv der volkswirtschaftlichen Produktivität gleichgesetzt. Wir wissen, daß sowohl das merkantilistische, wie auch das physiokratische System u m diese Verwirrung geradezu zentriert sind. Bei A d a m Smith hat das weniger ernste Konsequenzen, weil er annahm, daß nach Fortfall der staatlich verliehenen Monopole in der „fortschreitenden Gesellschaft" auch der Arbeitslohn schnell und stark steigen müsse: denn der Zähler des Lohnbruchs, das gesellschaftliche Kapital, müsse, dank dem Hauptgesetz der Beschaffung, viel schneller wachsen als der Nenner, die Zahl der Arbeiter. So glaubte er an eine allmählich sich verwirklichende Harmonie. Aber die Verwirrung erreichte ihren Höhepunkt bei den Bourgeois-Ökonomen, namentlich bei Malthus, und ihren vulgarökonomischen Epigonen, und hier vor allem bei Bastiat, der den sozialliberalen H a r m o n i s m u s Careys für die Klassenzwecke des Großbürgertums umzuformen versuchte, u m i h m Waffen gegen den Sozialismus zu liefern, der die „Antinomieen" der kapitalistischen Wirtschaft immer greller beleuchtete. Bastiats „harmonies économiques" und seines Gegners Proudhon „contradictions économiques" bezeichnen schon im Titel den hier klaffenden Gegensatz der Anschauung. Diese bürgerliche Ö k o n o m i k hielt die Akkumulation von Privatkapital in den Händen ihrer Klassengenossen gutgläubig für das wünschenswerteste Ziel aller Wirtschaftskunst. Denn: je mehr Kapital, u m so größer der „Lohnfonds", u m so höher bei gegebener Arbeiterzahl der Lohn! 1
1
Köstlich die Steuerdebatte im Parlament der Pinguine bei Anatole France (L'isle des Pingouins). Der Führer der konservativen Agrarier, der Herzog von Greatauk, verwirft die Steuervorlage, weil „payer c'est ignoble;
Zweiter Teil: Marktwirtschaft
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Und darum erschien alles, was die private Kapital- oder Bodenrente erhöhte, als der Gesamtheit höchst heilsam. Diese Theoretiker beglückwünschten die schottischen Magnaten, die ihre Clanverwandten, und die englischen Großgrundbesitzer, die ihre Tagelöhner von ihrem Grundbesitz trieben, um ihn in Schafweiden oder Hirschparks zu verwandeln, als edle Vertreter der Gesamtinteressen: denn sie vermehrten dadurch ihre Einnahmen, und das war das wissenschaftlich und sittlich höchste Ziel, dem der Wirtschaftsmensch nachstreben konnte. Aus derselben Auffassung heraus erschien ihnen der grauenhafte Raubbau an der Nation, den der Frühkapitalismus trieb, als „Fortschritt der Zivilisation"; sie sahen nur die Vermehrung der Güter - nach den Menschen hat diese „Chrematistik" stets zu fragen vergessen. Noch heute erscheint den Nutznießern der Klassenmonopole und ihren wissenschaftlichen Vorkämpfern die private Rentabilität sehr oft als die gemeinwirtschaftliche Produktivität. Noch immer dient diese Gleichsetzung in allerhand geschickten Trugschlüssen zur Rechtfertigung von klassenpolitischen Maßnahmen und Vorschlägen und zur Verteidigung klassenadvokatorischer Theorien. Ein paar Beispiele: alle schutzzollüsternen Großproduzenten servieren stets ihren Privatvorteil als den Gemeinnutzen; der Schutz der „nationalen Arbeit" spielt hier immer eine bedeutende Rolle; aber der „nationale Arbeiter" steht in der Regel außerhalb des Blickfeldes. Und so erschien ζ. B. den deutschen Großagrariern die Polonisierung des ganzen Ostens durch die Heranziehung slavischer Arbeiter in der Tat als ein nationales Rettungswerk, denn die „Nation", das sind eben sie selbst,1 und ihre Existenzgrundlage, die Rente, zu heben, das ist „nationale Gesinnung".2 Und ein Beispiel aus dem wissenschaftlichen Meinungskampf: einige Kritiker meiner MalthusKritik haben mich mit der Tatsache zu schlagen vermeint, daß Großbritannien heute seine Einwohner nicht mehr ernähren könne. Verwechslung zwischen Produktivität und Rentabilität! Denn das Bevölkerungsgesetz behauptet, daß die Landwirtschaft wachsender Völker nicht produktiv genug sei, um sie zu ernähren; in Großbritannien aber hat die Klasse der Eigentümer den Kornbau eingeschränkt, weil er nicht mehr genügend rentabel war. Malthus behauptet, die Landwirtschaft sei auch bei steigenden Preisen niemals genügend produktiv - diese seine vermeintlichen Verteidiger sehen nicht, daß sie in Großbritannien nicht mehr genügend rentabel ist, weil die Preise gefallen sind. Die Beispiele ließen sich vervielfachen.
2. Die Disharmonie
der kapitalistischen
Wirtschaft
Die Klassiker und ihre Epigonen waren im Irrtum, wenn sie die Störungen der kapitalistischen Selbststeuerung aus dem „Reibungskoeffizienten" erklärten, der, „in allem Menschlichen" nun
moi je suis noble, je ne paie pas". U n d der Führer der Bourgeoisie lehnt gleichfalls ab, weil Steuerzahlen den Lohnfonds vermindert; das könnte er vor den Arbeitern und seinem Gewissen nicht verantworten! 1
Ich habe bereits 1902 in einem viel beachteten Aufsatz in der „Kölnischen Zeitung" die Alternative gestellt:
2
The peace has made one general malcontent
„Kolonisation oder Polonisation". O f these high-marked patriots; war was rent! Their love of country, millions all misspent, H o w reconcile? by reconciling rent! And will they not repay the treasures lent? N o : down with every thing, and up with rent! Their good, ill, health, wealth, joy, or discontent, Being, end, aim, religion - rent, rent, rent!
(Byron in „ The Age of Bronze")
Das Kapital: Fünfter Abschnitt
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einmal unvermeidlich sei. Nein, ihre Rechnung selbst ist falsch! Es liegt nicht an der Grundvoraussetzung und ebensowenig an der Methode: es liegt am Ansatz ihres logischen Rechenexempels. Uberall, wo uns „aufgegeben" ist, ein bestimmtes Problem zu lösen, müssen uns die erforderlichen Daten „gegeben" sein. Wenn zum Beispiel dem Geometer die genaue Länge der Grundlinie seiner Triangulation nicht gegeben ist, kann ihm weder die beste mathematische Bildung noch die vollkommenste Logarithmentafel dazu verhelfen, die Länge der ihm aufgegebenen Linie auszurechnen. Wenn dem Astronomen die Stellung der Gestirne zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht gegeben wäre, könnte er eine Sonnenfinsternis nicht voraussagen, mag er auch Newtons Prinzipien der Mechanik in den Fingerspitzen haben. Uberall muß seine bestimmte Ausgangslage gegeben sein, um das aufgegebene Problem lösen zu können. Das gilt auch für das, den Klassikern aufgegebene, Problem der kapitalistischen Verteilung. Gegeben war auch hier die Ausgangslage. Das will sagen: der Inbegriff derjenigen „Gegebenheiten" technischer, sozialer und politischer Art, die der Kapitalismus von seiner Vorepoche, dem Feudalabsolutismus, übernahm; und dazu gehörte die historisch hergebrachte, ihrem Ursprung nach aus unentgoltener Aneignung hervorgegangene, Verteilung: politisch der Macht und wirtschaftlich des Vermögens. Es war methodisch streng geboten, auch sie in den Ansatz hineinzunehmen. Das haben wir getan. Und haben auf diese Weise die uns aufgegebenen Probleme vollkommen gelöst. Das „Selbstvertrauen der Vernunft", das Apriori aller Wissenschaft, hat uns nicht betrogen: korrektes Schließen aus wahren Prämissen hat uns zum Ziele geführt. Das gleiche Selbstvertrauen der Vernunft ist uns die volle Gewähr dafür, daß die Harmonie sich überall dort einstellen wird, wo die schuldigen Machtpositionen beseitigt sein werden. Wir würden die unerschütterliche Gewißheit haben, selbst wenn uns die Erfahrung nicht lehrte, daß die Harmonie überall wirklich dort bestand, wo die Machtpositionen nicht existierten, und wenn wir uns für die Deutung dieser Erfahrung nicht auf alle unsere großen Autoritäten berufen könnten. Die Klassiker aber sind von einem falschen Ansatz ausgegangen. Statt der „gegebenen" wählten sie eine fingierte Ausgangslage: jenes fabelhafte Stämmchen der Freien und Gleichen. Von hier aus war auf logisch einwandfreie Weise nicht weiter zu kommen, und so ist die ganze Doktrin der Verteilung ein einziges Gewebe von Trugschlüssen, trotz der Wahrheit der Grundvoraussetzung und der Zuverlässigkeit der Methode. Die kapitalistische Wirtschaft ist eine, durch systemfremde äußere Einflüsse gestörte, verzerrte, kranke Tauschwirtschaft. Die einzelnen Wirtschaftspersonen werden zu Handlungen motiviert, die dem Gesamtinteresse zuwiderlaufen, weil das Interesse ihrer privatwirtschaftlichen Rentabilität dem allgemeinen Interesse der Produktivität zuwiderläuft. Diese sozialpsychologische Wurzel der Interessendisharmonie aufgedeckt zu haben, ist eines der unendlich vielen Verdienste Eugen Dührings um die Theorie; seinem geistvollen Schüler Effertz hat die von dem Meister übernommene Scheidung dann manche weiteren Fortschritte auf diesem Zentralgebiete ermöglicht. Am schärfsten tritt die Disharmonie zwischen Rentabilität und Produktivität hervor im „Dardanariat", der „rentablen Destruktion", der Zerstörung eines Teiles eigener Güter zum Zwecke höherer Verwertung des Restes.1 Die Kehrseite ist die Zerstörung von fremden Gütern, von Maschinen durch Arbeiter, die sich durch sie in ihrer Existenz gefährdet glaubten: solche wilden Ausbrüche sind aus den frühkapitalistischen Epochen vieler Länder bekannt: in Lyon zerstörten die Arbeiter die Webstühle, Papins erstes Dampfschiff die Elbschiffer; in England ist die stürmische Periode des Chartismus durch Zerstörung von Maschinen gekennzeichnet, und noch vor nicht langer Zeit drohten Streiks der Schriftsetzer auszubrechen, als die ersten Setzmaschinen ihren Ein-
1
Vgl. oben S. 501f. (im Original S. 55). Diese Praxis, früher als Vergeudung von Gottesgaben ein Verbrechen, ist heute eine wenig auffällige Regierungsmaßregel.
760
Zweiter Teil: Marktwirtschaft
zug hielten. Selbst ein Ricardo gab in späterer Zeit zu, daß die Einführung der Maschinerie oft gerade durch die vermehrte Produktivität der Arbeit das Interesse der Arbeiter auf Rentabilität ihrer Dienste verletze. Der rentablen Destruktion nahe verwandt ist die künstliche Zurückhaltung der bereits möglichen Produktivität aus Gründen der privaten Rentabilität. Alle Preiskonventionen, die auf Seiten der Arbeiter oder der Kapitalisten ein Tauschmonopol für Güter oder Dienste schaffen, verringern die Produktivität, um die Rentabilität zu vermehren. Hier spielt die wichtigste Rolle die Aussperrung des ländlichen Bodens gegen die freie Arbeit und des städtischen Bodens gegen das Wohnbedürfnis. Ihm wird künstliche Seltenheit verliehen, um seinen Preis über den natürlichen Wert zu treiben, der - Null ist. Das ist die Ursache des „Kapitalismus" überhaupt: des Raubbaues an den Menschen, die bei Uberarbeit und Unterernährung „amortisiert" werden, und des Raubbaues an der Bodenkraft, die mit dem exportierten Getreide und Vieh auf Nimmerwiedersehen verschwindet, weil der Acker die Pflanzennährstoffe nicht im Dünger zurückerhält 1 ; die städtischen Abfallstoffe aber werden in die Flüsse oder ins Meer geleitet, weil es nicht rentabel ist, sie aufs Land zurückzubringen, denn die Umgebung der Großstädte ist zu klein, um sie aufzunehmen, und Milliarden Geldwertes jährlich gehen auf diese Weise verloren. Die rentable Bodensperrung ist die Ursache, warum in den Großstädten, diesen charakteristischen Bildungen der kranken Wirtschaft, die Menschen in entsetzlichen Mietskasernen zusammengepfercht werden müssen, um hekatombenweise den chronischen und akuten Volksseuchen zu erliegen: in den Berliner Einzimmerwohnungen war 1885 die Sterblichkeit 163,5 - im allgemeinen Durchschnitt 20,1 - in den Wohnungen der Oberklasse (über 5 Zimmer) 5,4 per Mille! Die Spaltung zwischen Produktivität und Rentabilität ist ferner die Ursache der Produktion von solchen Gütern und Diensten, die zwar rentabel sind, aber vor dem Forimi des wertenden Verstandes und Gefühls entweder keine nützlichen Wertdinge oder gar Übel darstellen. Unproduktive, aber rentable Verschwendung ist die Reklame, mit der unsere Kapitalisten ihren Konkurrenzkampf führen: eine ungeheure Vergeudung von Gütern und Diensten. Unproduktive, aber rentable Verschwendung ist die Erzeugung von blinkendem Schund, mit dem die kapitalistische Großindustrie vielfach das solide Handwerk aus dem Markte geworfen hat. Unproduktive, aber rentable Verschwendung vom Standpunkt einer einzelnen Volkswirtschaftsgesellschaft ist die Praxis der zollgeschützten Trusts und Syndikate, ihr Produkt auf dem Weltmarkt zu Verlustpreisen zu verschleudern, um den Teil der Erzeugung zu verwerten, den ihnen der durch die Monopolpreise exploitierte Inlandmarkt nicht abnehmen kann: das „Dumping". „Antiproduktiv", wenn man so die Produktion von „wirtschaftlichen Gütern" bezeichnen darf, die vor dem gesunden Werturteil „Übel" sind, aber rentabel ist die überaus fröhlich blühende Nahrungsmittelverfälschung mit minderwertigen oder nutzlosen oder gar schädlichen Stoffen und der Geheimmittel- und Geheimkurenschwindel; antiproduktiv, aber hoch rentabel ist der Handel mit verbotenem Alkohol (Bootlegging), mit Rauschgiften wie Opium, Kokain, Heroin; antiproduktiv, aber hoch rentabel ist die Produktion der alkoholischen Getränke wenigstens in ihrem heutigen enormen Umfang, wo etwa der zehnte Teil der deutschen Arbeitskraft und des deutschen Bodens auf ihre Erzeugung verwendet wird; hoch rentabel und gewiß „Schutz der nationalen Arbeit" war es, als die galizische Schlachta das Gesetz erließ, wonach ihre Arbeiter einen bestimmten Mindestteil des Lohnes in Form von Schnaps annehmen mußten-, ob es „produktiv" war, ist zweifelhaft, wenn man nicht etwa die Produktion von Verbrechern, Irren und Kretins als produktiv bezeichnen will. Hochrentabel, aber nicht gerade produktiv ist jedes andere Trucksystem, das die Arbeiter
1
Derart ist die als „unerschöpflich" angesehene Schwarzerde Südrußlands zerstört worden. N o c h ärger liegt es in vielen Teilen der amerikanischen Union. Die Staubstürme sind die Folgen des brutalen Raubbaus.
Das Kapital: Fünfter
Abschnitt
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zwingt oder verführt, einen Teil ihres Lohnes in Waren anzunehmen; ist das System vieler Bergwerke, die Verzimmerung, Lüftung und Berieselung der Schachte so billig wie möglich zu halten, auf die Gefahr hin, daß ein Einsturz oder ein schlagendes Wetter oder eine Kohlenstaubexplosion hunderte von Leben vernichtet; ist das Widerstreben der Kapitalisten gegen teuere Schutzvorrichtungen an ihren Maschinen, ist ihr Widerstreben gegen Verkürzung der Arbeitszeit und Verbesserung der Arbeitsräume; hoch rentabel, aber auch nicht gerade im eigentlichen Sinne produktiv ist die Vergiftung des Volkes mit Kinokitsch und Schundliteratur, mit Zeitungen, die nichts sind als Annoncenplantagen und Klopffechter von Interessengruppen oder gar von Börsenschwindlern im großen. Hochrentabel, aber nicht gerade im eigentlichen Sinne produktiv sind auch die Schwänzen und Differenzgeschäfte, mit denen die großen Matadore der Börsen die kleinen und namentlich die Outsiders aussäckeln. Das Sündenregister ließ sich bis ins Endlose vermehren. Um es mit einem einzigen Wort zusammenzufassen: produktiv ist das ökonomische Mittel, unproduktiv, aber rentabel ist das politische Mittel. Rentabel ist das unentfaltete politische Mittel, das heute Verbrechen heißt, rentabel ist das im Staate und rentierenden Eigentum entfaltete politische Mittel, das Klassen-Monopolverhältnis für seine Nutznießer, die Oberklasse. Kein Wunder, daß die Grenzen zwischen den beiden Abarten so fließende sind, daß man nicht recht sagen kann, wo das Sittlich-Zulässige aufhört, und das Unsittliche, Unanständige, moralisch Verwerfliche anfängt; - und wo dieses aufhört und das Verbrecherische anfängt. Das zynische Wort ist zum Glück nicht wahr, daß man nicht Millionär wird, ohne das Gefängnis mit dem Ärmel gestreift zu haben: aber das furchtbare Wort von Karl Marx ist wahr, mit dem er Augiers Satz erweiterte: „Wenn das Geld mit Blutflecken auf einer Wange zur Welt kommt, dann kommt das Kapital zur Welt, über und über mit Blut beschmiert."
d. Die Störungen des Umlaufs: Die Währung Der Begriff „Währung" wird in doppeltem Sinne gebraucht: als die staatliche Ordnung einer Geldverfassung - und das von dieser Verfassung betroffene Geld. Diese zweite Bedeutung ist nichts als eine Abkürzung: Weil es richtig ist, zu sagen: 1.000 Mark deutscher Währung, d. h. 1.000 Einheiten desjenigen Geldes, das nach der deutschen staatlichen Ordnung der Geldverfassung „Mark" heißt, sagt man auch „zahlbar in Reichswährung". Für uns kommt nur die erste Bedeutung in Frage.1 Die Währung ist also „der Inbegriff der sämtlichen, das Geld- und Zahlungswesen eines Landes betreffenden - sei es gesetzlichen, sei es regiminalen - Staatsverordnungen [...] Dieser Begriff ist also enger als der der Geldverfassung [...] insofern, als zwar die Währung stets eine Geldverfassung, eine Geldverfassung nicht aber umgekehrt auch unter allen Umständen eine Währung ist."2
1. Die staatliche Theorie des Geldes Nach Knapps berühmter Formel ist „das Geld ein Geschöpf der Rechtsordnung". Rechtsordnung aber gibt es ihm zufolge nur im Staate. Was Recht und Ordnung ist, wissen wir. Das positive Recht - vom „richtigen Recht" der Philosophie ist hier nicht zu sprechen - ist nach Radbruch „Gemeinschaftsregelung" mit dem Zwecke, Rechtssicherheit, d. h. „eine überindividuelle Ordnung
1 2
Knapp, Staatliche Theorie des Geldes, S. 101, hält den zweiten Begriff für den ursprünglichen. Elster, Die Seele des Geldes, S. 212.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
irgendwelcher Art zu schaffen"1. Von diesem Standpunkt aus ist der Staat als Rechtsstaat und das Recht als Staatsrecht in der Tat nur eins: „ordnende Ordnung" und „geordnete Ordnung". „Für den Juristen existiert der Staat nur, soweit und sowie er sich in Gesetzen ausspricht - nicht als soziale Macht, nicht als historisches Gebilde, sondern nur als Subjekt und Objekt seiner Gesetze."2 Nun haben wir aber den uns vorliegenden Gegenstand durchaus nicht von dem Standpunkt des Juristen, sondern, als ein ganz anderes Erkenntnisobjekt, von dem des Soziologen zu betrachten; und darum interessiert uns nicht der juristische, sondern gerade, und nur, der soziologische Begriff des Staates als soziale Macht und als historisches Gebilde. Leider besteht unter Historikern und Soziologen über das Wesen des Staates keine Ubereinstimmung. Die Meinungsverschiedenheiten lassen sich, wie uns scheint, bei aller Vielfältigkeit der Formulierung auf zwei grundlegende zurückführen, von denen eine nur terminologisch, die andere freilich sachlich ist. Der erste betrifft die an sich gleichgültige Frage, was man „Staat" nennen soll.3 Die Einen nennen schon jede geregelte Gemeinschaft so. Das steht ihnen frei, denn jeder darf seine Terminologie frei wählen. Nur sollte sie praktisch sein, und das ist diese nicht. Denn dann ist der Staat wenigstens so alt wie die Menschheit, eigentlich viel älter. Es gibt keine soziale Gruppe, - auch nicht unter höheren Tieren - die nicht ihre Gemeinschaftsregelung, d. h. ihr Recht und ihre Machtmittel und deren Träger hätte, um dieses Recht im Notfalle zu erzwingen, die also nicht „Staat" wäre. Wenn man sich für diese Auffassung entscheidet, ist offenbar der Satz, daß das Geld das Geschöpf der (staatlichen) Rechtsordnung ist, eine sinnlose Tautologie. Denn was sollte es wohl sonst sein?! Von einer staatlichen Ordnung oder Schöpfung des Geldwesens kann man also nur sprechen, wenn man einen vorstaatlichen Zustand der Gesellschaft von ihrer staatlichen Ordnung unterscheidet; oder, wenn man innerhalb einer reifen Gesamtgesellschaft zwischen dem Staat und der „Gesellschaft" in einem engeren Sinne unterscheidet. Hier sind verschiedene Standpunkte möglich, und hier liegen die sachlichen Differenzen. Nun, wir haben in diesem Werke und in unserer allgemeinen Soziologie unsere Auffassung unzweideutig dargelegt und, wie wir annehmen, stringent bewiesen. Der Staat ist seiner Entstehung nach ganz „politisches Mittel", d. h. eine Rechtseinrichtung, einer unterworfenen Gruppe aufgezwungen von einer unterwerfenden Gruppe mit der einzigen Absicht, die Unterworfenen zugunsten der Herrengruppe möglichst hoch und möglichst auf die Dauer zu bewirtschaften („auszubeuten"). Der Staat ist seiner Entstehung nach nichts als ein Parasit auf dem Leibe einer unterworfenen „Gemeinschaft" (in Tönnies' Sinne) oder „Gesellschaft" (in unserem Sinne). Nun läßt sich aber diese Absicht der möglichst dauernden und möglichst ergiebigen Ausbeutung nur unter der Voraussetzung erreichen, daß der Staat sofort nach seiner Begründung auch alle die Aufgaben übernimmt (und soweit durchführt, wie das mit seinem parasitischen Charakter verträglich ist), die vorher die Gemeinschaft als eine sich nach eigenem Recht selbst regelnde, d. h. ihre Ordnung schaffende und erhaltende lebendige Einheit auf sich genommen hatte. Und so wird der Staat wie fortan jede menschliche Institution eine „Mischform menschlicher Beziehungen". Er ist einerseits Organisation des Gemeinen, andererseits des Klassennutzens. Zu den Aufgaben der Gemeinschaft gehört vor allem der Grenzschutz nach außen und der Rechts- und Friedensschutz nach innen: Verkehrsregelung. Folglich fallen auch alle strittigen Verträge über Leistung und Gegenleistung in das Aufgabengebiet des Staates, vor allem die Regelung
1 2 3
Vgl. Oppenheimer, Allgemeine Soziologie, in: System der Soziologie, Bd. I, S. 396ff. Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, Leipzig 1914, S. 83f. Vgl. Oppenheimer, Allgemeine Soziologie, in: System der Soziologie, Bd. I, S. 386ff.
Das Kapital: Fünfter
Abschnitt
763
des Marktes und seiner sämtlichen Maße und Maßstäbe, um im Streitfalle entscheiden zu können, ob ein Vertrag über irgendeine Leistung sinngemäß erfüllt worden ist oder nicht. Der Staat kann natürlich nichts anderes tun, als die durch Herkommen marktüblichen Maße zu sanktionieren und dadurch festzulegen, daß er ein bestimmtes konkretes Ding als „Urmaßstab" anerkennt oder bestimmt, der fortan im Streitfall dazu dienen soll, die abgeleiteten Maßstäbe daran zu vergleichen und zu „aichen" (das Wort kommt von aequare und bedeutet nichts anderes, als daß dieser besondere Maßstab am Urmaßstabe verglichen und ihm gleichbefunden oder gleichgemacht worden ist). Er kann ferner, wenn mehrere Namen nebeneinander bestehen, einen davon als den fortan in Verträgen gültigen bestimmen und kann schließlich verschiedene Maße für die gleiche Dimension in ein festes Verhältnis bringen, also ζ. B. bestimmen, daß ein „Fuß" gleich zwölf „Zoll" sein soll. So sanktioniert und adjustiert er aneinander die marktüblichen Maße und Maßstäbe für Länge, Fläche, Raum (Volumen) und Gewicht. Genau das gleiche tut er mit dem Maß und Maßstab des TauschVerkehrs. Er setzt in möglichst genauer Anpassung an marktübliche Schwere und Feinheit die Münzen fest (die in ungefähr diesem Gewicht und dieser Feinheit längst zirkulieren), gibt ihnen den marktüblichen, oder, wo mehrere Namen konkurrieren, den bekanntesten Namen, setzt das Verhältnis verschiedener Münzen von gleichem Metall in festen Zahlen fest (ζ. B. ein Taler soll künftig gleich 30 Silbergroschen sein) und bestimmt schließlich noch die marktübliche Preisrelation zwischen verschiedenen Metallen, ζ. B. zwischen Erz und Silber und Gold, wie viel Erzmünzen wievielen Silber- oder Goldmünzen gleich gelten sollen. Mit anderen Worten: er stellt fest, was „Geld im Rechtssinne" ist und sein soll, für Vertragsstreitigkeiten, Bußen, Sportein, Gebühren, Steuern, Zinsen und dergleichen. Mit alledem schafft er nichts Neues, sondern sanktioniert eben nur vorhandene Institutionen, die in ihrer Gesamtheit genau so pflanzenhaft aus den Notwendigkeiten des Verkehrs erwachsen sind, wie die Sprache. Wertmaß und Wertmaßstab des Tauschverkehrs sind genau wie alle anderen Maße und Maßstäbe Schöpfung der Gemeinschaft und nicht des Staates. Darüber kann kein Zweifel bestehen, und so hat sogar Knapp, den man hier vielfach nicht verstanden hat, das Verhältnis aufgefaßt, wie Elster mit vollem Recht feststellt; freilich war Knapp in dieser Beziehung nicht immer ganz konsequent. Der Staat kann allenfalls aus irgendwelchen Gründen Namen, Gewicht und gegenseitige Relation der Münzen (und später auch der Scheine) ändern·, aber immer nur im engen Zusammenhang mit dem alten System der Geldverfassung. Er muß immer verkünden, daß die Einheit des neuen Geldes im Rechtssinn gleich sein soll so und so vielen Einheiten des alten Geldes - wie er ja auch um der Erleichterung des internationalen Verkehrs halber die übrigen Maße und Gewichte ändern kann, und geändert hat, indem er ζ. B. vom Fuß zum Meter, vom Pfund zum Kilo, von dem Quart zum Liter überleitete: durch die Bestimmung, daß so und so viele alte Fuß und Zoll fortan ein Meter heißen und als ein Meter gelten sollen. Damit ist aber sachlich nichts Neues geschaffen. Solange der Staat in seiner Eigenschaft als Organisation des Gemeinen Nutzens tätig ist, hat er beim Gelde so wenig wie bei allen anderen Maßen irgendeine Veranlassung oder Versuchung, sachliche Änderungen anzuordnen und aufzuzwingen. Jedes Maß ist gut, wenn es der gleichen Dimension angehört wie das zu Messende, und jeder entsprechende Maßstab ist gut, wenn er ein für alle Male feststeht. Nur das politische Mittel fälscht und verderbt Maße und Maßstäbe. Das unentfaltete politische Mittel in der Gestalt der Gewalt gegen Fremde und des Verbrechens gegen Staatsgenossen: Brennus - und nach ihm jeder Sieger - warf sein Schwert in die Waagschale; die Propheten klagen die Reichen Judas an, die Armen mit falschem Maß und Gewicht auszubeuten (die Stellen sind von bibelfesten Westeuropäern und Amerikanern unzählige Male gegen ihre Reichen drohend angeführt worden), und so fälscht das Verbrechen auch das Geld, indem es vollwichtige Münzen „beschneidet" oder falsche Münzen aus unedlem Metall und nachgeahmte Geldscheine anfertigt.
764
Zweiter Teil: Marktwirtschaft
Und nur das entfaltete politische Mittel fälscht und verderbt eine gesamte Geldverfassung, eine ganze Währung. Wir haben schon von der „Kipperei und Wipperei" der beginnenden Neuzeit und von der viel ergiebigeren Papiergeldwirtschaft gesprochen. Nur der Staat hat die Macht, das Kreditgeld der Banknoten seinem legitimen Zwecke zu entfremden und zu verderben: es war immer der Staat, und nur der Staat, der an dem Zusammenbruch großer Notenbanken die Schuld trug. Und selbst die verhältnismäßig harmlosen Zusammenbrüche einzelner kleiner Notenbanken in der Kinderzeit des Bankwesens, die Folge leichtsinniger Kreditgewährung, die sich in Krisenzeiten rächte, war die Folge des politischen Mittels: denn Krisen sind, wie sich zeigen wird, nur in der politischen Ökonomie möglich, kraft der nur hier gegebenen Psychologie des Unternehmers, des Zwangs, unter allen Umständen, auch bei sinkenden Gewinnen, seine Produktion noch auszudehnen, und kraft der nur hier gegebenen materiellen Möglichkeit dazu, nämlich der Verfügung über eine dazu ausreichende Reservearmee „freier Arbeiter". Da der moderne Staat nichts ist als das „Gehäuse des Kapitalismus", so kann man den Knappschen Kernsatz folgendermaßen formulieren, wobei man von der privaten, strafbar-verbrecherischen Falschmünzerei abstrahiert: Alles verderbte Geld ist das Geschöpf der Staatsordnung!
2. Das Geld als gesetzliches Zahlungsmittel Wenn der Staat festsetzt, was in Zukunft „Geld im Rechtssinne" sein soll, so macht er ein bestimmtes Sachgeld zum gesetzlichen Zahlungsmittel. Das ist also eine rein staatlich-rechtliche Kategorie. Das darf nicht mißverstanden werden. „Im Rechtssinne" bedeutet hier: im Sinne des positiven, gesetzlichen Rechts. Das wird deutlich ausgedrückt in der zweiten Formel „gesetzliches Zahlungsmittel". Schon vorher war das Geld, wie Tauschmittel und Wertmaßstab, so auch Zahlungsmittel für alle Tauschhandlungen, die nicht „Zug-um-Zug-Geschäfte" mit unmittelbarem Handwechsel des Produkts darstellten, also für alle „Kreditgeschäfte" im weiteren Kniesschen Sinne: Pacht, Miete, Gebrauchsleihe, Darlehen usw. Und es war sogar Zahlungsmittel im Rechtssinn, aber nicht im Sinne des positiven, sondern des natürlichen Rechtes, der „Gleichheit der Würde der Personen", und daher der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung, der Auswirkung des Consensus jeder gewachsenen, und nicht tödlich durch das politische Mittel erkrankten Gruppe: der „Reziprozität". Es gab sogar immer Rechtsmittel, um im Streitfall das Recht zu finden und im Notfall zu erzwingen: Schiedsgericht und Marktgericht mit dem Exekutivorgan der öffentlichen Meinung und ihrer Gewalten, als Gewähr der Wirksamkeit der Entscheidung: Ausschluß aus dem Markte, Achtung (Boykott) und Strafe. Denn das Recht ist so alt wie die Gemeinschaft und älter als der Staat im soziologischen Verstände. All das war vorhanden, und der Staat, insofern er Organisation des Gemeinen Nutzens war, konnte auch hier nur fixieren, adjustieren und proklamieren, was die Gemeinschaft ausgebildet hatte. So änderte sich zunächst nichts, außer daß der nunmehr staatlich bestellte Richter das alte Genossenschaftsrecht des freien Verkehrs anzuwenden hatte. Der Staat übernahm mit der schiedsgerichtlichen Gewalt auch die Pflicht der früheren genossenschaftlichen Marktbehörde, das Münzwesen in rechter Ordnung zu halten: eine Pflicht, der er sich, wie wir zeigten, gar nicht entziehen konnte, ohne sich selbst zu schädigen. Aber der Staat vernachlässigte dennoch seine Pflicht. Er ließ zunächst die umlaufenden Münzen durch Verschleiß und verbrecherische Beschneidung verwahrlosen. Der Verkehr hätte sie zurückgewiesen, aber der Staat hat sich jetzt das Monopol der Geldschöpfung verliehen; Sachgeld aber ist ein unentbehrliches Gut geworden, das „Öl", mit dem die Maschinerie des Tauschverkehrs geschmiert werden muß, um zu laufen: und sie darf nicht stocken, wenn das Leben der Gesellschaft nicht ernstlich gefährdet werden soll. Darum muß der Verkehr das verderbte Metallgeld auch dann annehmen, wenn der Staat kei-
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nen „Annahmezwang" ausgesprochen hat. Und schon jetzt zeigt sich, daß damit erstens eine Steuer auf die schwächsten Glieder der Bevölkerung gelegt ist, da die sachverständigen und rechengewohnten Kaufleute das Geld als Tauschmittel doch nur nach Gewicht annehmen oder die Preise der Ware entsprechend erhöhen, seine Entwertung als Zahlungsmittel aber durch kluge Verträge, und zumeist noch mit Vorteil, von sich abzuwälzen wissen, während der kleine Mann: der Bauer, der Handwerker, vor allem der Lohnarbeiter, durch die Entwertung des Sachgeldes als Tauschmittel, und alle Gläubiger durch seine Entwertung als Zahlungsmittel die Geschädigten sind. Denn natürlich steigen alle Preise auf die Relation zum Gelde, die der realen Wertrelation entspricht, und der gleiche Nominalbetrag des Lohnes oder Zinses kauft nur weniger Waren. Zweitens zeigt sich, daß auch der Staat selbst durch seine Nachlässigkeit geschädigt wird. Die vollwichtigen Stücke werden eingeschmolzen oder außer Landes exportiert: „Das schlechte Geld treibt das gute aus", lautet das von Macleod sogenannte Greshamsche Gesetz, das aber mindestens schon Oresmius und Kopernikus bekannt war.1 Der Wechselkurs, d. h. das Pari zu fremden Währungen, sinkt wenigstens auf, ja, dank dem Mißtrauen der auswärtigen Kaufleute und der ihnen verursachten Arbeit des Wägens, unter das wirklich bestehende Wertverhältnis, und das schädigt den Handelsverkehr; und schließlich strömt das schlechte Geld vor allem den Kassen des Staates selber zu und vermindert seine Einnahmen aus Steuern, Gebühren, Bußen usw. empfindlich. Aber diese Unterlassungssünden sind Bagatellen gegenüber den Begehungssünden des Staates, dem Kippen und Wippen, das alle soeben dargestellten Schädigungen vervielfacht über die Gemeinschaft bringt. Und das wieder ist eine Bagatelle gegenüber der ungleich wirksameren und gefährlicheren Papiergeldwirtschaft. Wir sprechen von dem „Papiergeld" im engsten Sinne, dem uneinlöslichen, unverzinslichen Zettelgeld mit Zwangskurs.2 Es ist die ihren wirtschaftlichen Zwecken entfremdete Banknote, ganz gleichgültig, ob diese von einer Staatsbank unmittelbar ausgegeben wird, oder ob es sich um die Noten einer Privatbank handelt, die der Staat als gesetzliches Zahlungsmittel mit Zwangskurs erklärt hat, während er gleichzeitig die Bank von ihrer Verpflichtung entband, die Note jederzeit gegen Sicht in vollwichtiges Hartgeld auszutauschen. Die Banknote wird gemißbraucht, indem sie statt für den Kreditgeldverkehr für den Kreditverkehr herausgegeben wird, und zwar im Interesse eines Schuldners, der keinem Rechtszwange unterworfen ist und sich straflos seinen Verpflichtungen entziehen kann. Knapps berühmtes Buch „Staatliche Theorie des Geldes", handelt fast ausschließlich vom Gelde in seiner Eigenschaft als gesetzliches Zahlungsmittel, d. h. von der juristischen Kategorie, während seine ökonomisch bedeutsamen Eigenschaften als Tauschmittel und Wertmaßstab nur gelegentlich nebenher erwähnt werden. Das geben sogar seine wärmsten Anhänger, wie ζ. B. Bendixen und Elster ohne weiteres zu. Wenn dem aber so ist, dann war die schon im Titel ausgesprochene These wahrlich nicht dazu geschaffen, das ungeheure Aufsehen zu erregen, das sie in Wirklichkeit erregt hat, „wie ein Pistolenschuß auf der Straße". Denn diese Behauptung ist eine leere Tautologie: sobald einmal ein „Staat" in irgendeinem Sinne besteht, kann niemand als er bestimmen, was als gesetzliches Zahlungsmittel gelten soll. Er ist ja der allmächtige Herr über Gut und Blut seiner Bürger oder Untertanen. Wie er befehlen kann, daß seine Männer zu Millionen jahrelang im schlammigen Schützengraben zu liegen und täglich Gefahren zu trotzen haben, vor denen, um mit Liliencron zu sprechen „selbst der Pelide sich entsetzt hätte"; - wie er gerechte und ungerechte Steuern in jeder Höhe ausschreiben und - zum Teil auch eintreiben kann - wie er im Interesse der gerade den Staat beherrschenden Klassen und Parteien die größten Ungerechtigkeiten gegen die gerade Beherrschten
1 2
Hawtrey, Kredit und Währung, S. 285 Anm. 2. Vgl. Lexis, Artikel: Papiergeld, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 6, S. 984ff.
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üben und die gefährlichsten außenpolitischen Streiche begehen kann: so kann er auch eines schönen Tages durch neue Bestimmungen über das, was gesetzliches Zahlungsmittel ist, oder durch grenzenlose Entwertung des bereits dazu bestimmten Sachgeldes alle Gläubiger ruinieren, alle Witwen und Waisen ausplündern, alle Schuldner, vor allem sich selbst als den größten Borger, bereichern. Seine Handlungsfreiheit ist durch nichts begrenzt als durch die Macht anderer Staaten, und gewiß am letzten durch das Gebot der Sittlichkeit und des wahren Rechtes, das auch für ihn - gelten sollte. Diese Dinge würden nicht im mindesten ein Problem sein, wenn nicht die falsche Auffassung des Staates, der zufolge er nur als die Organisation des Gemeinen Nutzens angesehen wird, die Blicke der Juristen trübte, und wenn nicht andererseits auch die Volkswirte durch gewisse Erfahrungen zu der Meinung verführt würden, der Staat könne dem Gelde, wie eine beliebige Geltung als Zahlungsmittel, so auch eine beliebige Geltung als Tauschmittel und Wertmaßstab verleihen: die Übertreibung des Nominalismus, die einen Boisguillebert dazu brachte, „le petit morceau de papier" für richtiges Geld in jedem Sinne zu halten.
3. Der Staat als Monopolist der Geldschöpfung Die Wurzel dieser theoretischen Übel ist auch hier die falsche, mindestens unzureichende Werttheorie aller Schulen der bisherigen Ökonomik. Die Klassiker - und sie sind sämtlich „Metallisten" - kannten fast nur den statischen Konkurrenzpreis, ihren „natürlichen Wert", und erwähnen den statischen Monopolpreis, von gelegentlichen, folgenlosen Äußerungen abgesehen, nur bei den harmlosen, natürlichen Tauschmonopolen (Edelweine usw.). Da Edelmetall sicherlich ein „beliebig reproduzierbares Gut" ist, kamen sie niemals auf den Gedanken, daß es unter Umständen dennoch „künstlich" ein „Rechtsmonopol" werden könnte: durch „Sperrung". Das verschloß ihnen selbstverständlich die Augen vor der von hier aus ohne weiteres verständlichen Tatsache, daß auch Papiergeld auf einen Monopolpreis getrieben werden kann. Die Grenznutzentheoretiker, die überhaupt von der rein psychologischen Intensitätsgröße, die sie „Wert" zu nennen belieben, auf keinem logisch möglichen Wege zu der Extensitätsgröße gelangen können, die die Klassiker „Wert" nannten: zum statischen Preise, konnten noch nicht einmal zu den Halbwahrheiten kommen, die die Klassiker immerhin gewannen. Hier kann nur die neue Festigung und Erweiterung der objektiven Wertlehre, die uns gelungen ist, die Schwierigkeiten überwinden, die sich bisher dem Verständnis in den Weg gestellt haben. Wir stellen zunächst fest, daß alles Sachgeld ein Gut ist. Es „kostet" und es hat „Desirabilität", weil es menschliche Bedürfnisse befriedigt. Schon das ist oft nicht klar genug verstanden worden. Man hat statt der Desirabilität die „Utilität" als die Bedingung dafür angesehen, daß ein Ding ein Gut sei, und hat dann noch als eigentlich „nützlich" nur solche Dinge anerkannt, die physiologische Bedürfnisse befriedigen. Daher die häufige Anwendung der „Midasfabel": man kann Gold nicht essen noch trinken, kann sich mit Gold nicht kleiden usw. Dieser gröbsten und laienhaftesten Verwirrung sind freilich die besseren Köpfe nicht verfallen; sie sahen klar, daß das Gold nicht nur subjektiv, sondern wirklich objektiv „nützlich" ist: es besitzt Utilität, freilich nicht für den verabsolutierten Einzelmenschen, den es nicht geben kann, wohl aber für das Subjekt der Ökonomik, den vergesellschafteten Menschen. Von einer gewissen Stufe an ist das Sachgeld für eine Gesellschaft (und daher ihre Glieder) ein unentbehrliches „Gut"1 (hier deckt der englische Terminus „commodity" den Sachverhalt noch besser als das deutsche Wort). Es ist ein gerade so unentbehrliches Gut wie Wege, Transportgeräte, Hilfs-
1
Vgl. Hawtrey, Kredit und Währung, S. 33: "In fact there is a demand for the means of payment as such."
Das Kapital: Fünfter Abschnitt
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stoffe, die man auch sämtlich nicht essen und trinken kann. Wir wählen das Beispiel absichtlich: oft ist das Geld [mit] einer Transporteinrichtung verglichen worden, die Wertdinge von einer Person zur anderen befördert, und ebenso oft dem „Schmieröl", das die Maschinerie der Kooperation gebraucht, um glatt zu laufen. Es ist so sehr ein unentbehrliches Gut, daß seine verschiedenen Gestalten sogar je nach der meßbaren
Verschiedenheit ihrer Leistung verschiedenen „objektiven", d. h. technischen „Gebrauchs-
wert" haben können. Wir haben in unserem Lehrbuch gezeigt, daß und warum der Großhandel zu dem Münzmetall großen Wertes und geringen Transportwiderstandes, dem Golde, überging. Wie stark dieser Zwang war, dafür ein Beispiel: die englische Guinea, eine aus Gold geprägte Handelsmünze, war durch staatliche Proklamation einem Silberpfunde von 20 Schillingen gleich erklärt worden, enthielt aber mehr Gold, als der damaligen Preisrelation zum Silber entsprach. Nach Greshams Gesetz (und wie uns scheint, auch nach Knapps Lehre) hätte „das schlechte das gute Geld austreiben müssen": man hätte erwartet, daß die Guinea eingeschmolzen oder außer Landes geführt worden wäre. „Aber", so sagt Hawtrey, „damals machte das wachsende Ausmaß des Handels ein so ungeschlachtes
(bulky) Zahlungsmittel
wie Silber unerträglich
unbequem.
Die Kaufleute und Gold-
schmiede befanden das Gold als für große Zahlungen unentbehrlich, und, anstatt daß die Guinea von 20 Schilling aus dem Umlauf gedrängt worden wäre, wurde ihr Nennwert toter Buchstabe und sie wurde regelmäßig mit 21 oder 22 Schilling bewertet." 1 Aus dem gleicher Grunde geschieht es auch, daß das noch viel bequemere „Kreditgeld" als das wesentlich kleinere Mittel öfters ein Aufgeld (Agio) erhält. Es wird den Metallisten vom reinsten Wasser noch nicht sehr in Erstaunen setzen, wenn er von Hawtrey 2 erfährt, daß das rein „ideale" Rechengeld der Amsterdamer und Hamburger Girobanken höher bewertet wurde als bare Münze: denn dieses „Girogeld" war ja metallisch vollgedeckt. Aber er wird schwer verstehen können, daß „in den chinesischen Vertragshäfen Noten oft eine Prämie gegen Silber erhalten, obgleich sie kein gesetzliches Zahlungsmittel sind, und keinen anderen
Wert repräsentieren,
als den des Silbers, gegen
das sie bei der emittierenden Bank auf Verlangen ausgetauscht werden. Aber die Unbequemlichkeit des Silbers für große Zahlungen wirkt fast prohibitiv, und die Vorliebe der Kaufleute für die Noten spiegelt sich in ihrem Werte." „In der Krisis der Vereinigten Staaten von 1873 hatte Papiergeld ein kleines Agio gegen Hartgeld (Silberdollar), obgleich das Papiergeld selbst ein erhebliches Disagio gegen Gold aufwies." 3 Geld ist also ein unentbehrliches Gut. Als solches kann
es Gegenstand der Monopolisierung
werden, und wird es in der Tat. Der Staat nimmt als Nachfolger der Genossenschaft zunächst das Regal
der Geldschöpfung für sich in Anspruch. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange er als
Organ des Gemeinen Nutzens allein handelt. Denn die Geldschöpfung ist eine eminent gesellschaftliche Funktion, wie etwa die Pflege der Naturschätze (Forsten!) oder die Rechtspflege usw., und muß mindestens unter der Aufsicht der „Regierung", hier verstanden als des zentralen Organs der sich selbst verwaltenden Gemeinschaft stehen. Es läßt sich ohne jede Schwierigkeit erkennen, ob der Staat sein Regal wirklich nur als Treuhänder der Gemeinschaft handhabt: nämlich, wenn er weder den Produzenten des Münzmetalls als Einkaufsmonopolist gegenübertritt noch den „Konsumenten" der Münze als Verkaufsmonopolist. Das erste bedeutet: daß er jedermann, der Edelmetall zu seiner „Bannmünze" bringt, umsonst oder gegen eine geringe Prägegebühr, die eben die Selbstkosten deckt, die Münzung leistet oder, was natürlich dasselbe ist, vollwichtige Münzen der gleichen Gewichtsmenge aushändigt. Das zweite
1 Hawtrey, Kredit und Währung, S. 176 2 Ebenda, S. 178. 3 Ebenda, S. 184.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
bedeutet: daß er dafür Sorge trägt, daß aus einer gegebenen Anzahl von Münzen des Umlaufs annähernd genau das Ausbringegewicht durch Schmelzung wieder gewonnen werden kann. Das erste ist die „freie Prägung". Wo sie besteht, kann offenbar der „Barren", der Geldstoff, niemals weniger wert werden, als die aus dem Barren geschlagene Münze. Würde er im Preise sinken, so würde der Besitzer ihn zur Münzstätte bringen, um ihn in Kurantmünzen von höherem Werte ausschlagen zu lassen. Nimm an, ein Pfund feines Gold sank im Markt aus irgendwelchen Gründen unter 1.392 Mark, so verkaufte der Besitzer es selbstverständlich für diesen Preis in Goldmünzen an die deutsche Münzstätte. Das zweite ist die Sorge für eine gute Beschaffenheit des Umlaufs. Wenn alle Münzen, die an die Staatskasse gelangen, eingezogen werden, sobald sie das Passiergewicht um ein Geringes, in Deutschland Vi Prozent, unterschreiten, so kann ein bestimmtes Gewicht des Geldstoffes niemals erheblich mehr wert sein, als diejenige Menge Münze, die nach der Währungsverfassung aus dieser Menge ausgebracht werden. Alle allzu abgenützten Münzen verschwinden aus dem Umlauf; wer, ζ. B. zu technischen Zwecken, Gold brauchte, war sicher, ζ. B. aus 1.395 goldenen Mark mindestens 497,5 g feines Gold auszuschmelzen und hätte keinem Barrenbesitzer nur einen Pfennig mehr für die gleiche Menge bezahlt. Durch die Kombination dieser beiden Maßnahmen wird also durchaus erreicht, daß das Maß und der Maßstab in so genauer Ubereinstimmung bleiben, wie das für alle praktischen Zwecke der Wirtschaft irgend verlangt werden kann. Wenn der Staat die freie Prägung (Knapp nennt sie „Hylolepsie") abschafft, so macht er aus seinem Regal ein Einkaufsmonopol gegenüber dem Goldproduzenten. Er preßt ihm sein Produkt unter dem Werte ab, senkt den Preis des Geldstoffs, verringert das abstrakte Maß und verschuldet das Auseinanderweichen von Maß und Maßstab. Wenn der Staat die Fürsorge für die Vollwichtigkeit des Umlaufs („Hylophantismus") vernachlässigt, indem er zu leicht gewordene Münzen immer wieder ausgibt, so mißbraucht er sein Regal als Verkaufsmono^oi gegenüber dem Publikum, das der Münze bedarf. Er verkauft ihm das Geld über seinem Werte, verringert den Maßstab und verschuldet auch hier das Auseinanderweichen von Maß und Maßstab. Im ersten Falle erhält ceteris paribus das Geld gegenüber dem Geldstoff ein Agio: eine Rechengeldeinheit ist mehr wert als das Sachgeldstück gleichen Namens; dieses Agio des Rechengeldes erscheint als ein Disagio des Metalls. Das ist eines der „Rätsel" der Geldgeschichte, daß der Silbergulden oder Silbertaler bis fast dreimal so viel „wert" sein konnte, wie das in ihm steckende Silber. Im zweiten Falle erhält der Geldstoff gegenüber dem Gelde ein Agio: eine Rechengeldeinheit ist weniger wert als ein vollwichtiges Sachgeldstück gleicher Denomination. Das erste bedeutet einen Verlust für die Gesellschaft: denn das hier unterwertige Metall strömt zu allzu billigem Preise in andere Länder ab, d. h. kauft weniger Waren, als es bei freier Prägung gekauft hätte, bis sich nach dieser Störung ein neuer „Pegelwert" oder „halbstatischer Wert" hergestellt hat. Das zweite bedeutet, daß alles vollwichtige Metallgeld aus dem Umlauf verschwindet, durch Einschmelzung oder Export ins Ausland, und daß sich der Wechselkurs gegen das sündigende Land stellt, da der Ausländer das Metall selbstverständlich nur „pensatorisch", nach Gewicht und Feingehalt („al marco") und nicht „chartal", nach dem Nominalbetrage, annimmt. Wenn zwei benachbarte unabhängige Länder, sage Kappadozien und Cilizien, ursprünglich die gleiche Goldmünze hatten, das erste seinen Umlauf pflegte, das zweite derart vernachlässigte, daß durchschnittlich alle umlaufenden Münzen 2 % entwertet sind, so stellt sich der Kurs gegen Cilizien mit mehr als 2 %, weil das Wägen Arbeit kostet. Das schadet dem Prestige und dem Handel. Noch viel ärger mißbraucht der Staat sein Regal als Monopol gegen die Geldgebrauchenden, wenn er Schrot und Korn verringert und dadurch den Maßstab noch viel stärker und schneller einschrumpfen läßt, während das abstrakte Maß unverändert blieb. Die Folgen haben wir bereits
Das Kapital: Fünfter Abschnitt
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betrachtet. Und am allerärgsten mißbraucht er sein Regal, wenn er dem Verkehr Sachgeld aufdrängt, das überhaupt keinen inneren Wert hat,1 dessen Wert auf nichts anderem beruht als auf der Machtstellung des Staates als Monopolist des unentbehrlichen, hoch desirablen Gutes: Tausch- und Zahlungsmittel; wenn er also uneinlösliches Papiergeld mit Zwangskurs herausbringt. Damit soll beileibe nicht gesagt sein, daß der Staat Banknoten entweder überhaupt nicht oder nur als vollgedeckte Zertifikate dulden sollte. Das wäre metallistische Übertreibung. Die aufgrund guter Wechsel und schnell ohne Verlust flüssig zu machenden Lombards ausgegebene Note ist in normalen Zeiten voll gedeckt. Der Staat hat als Organ des Gemeinen Nutzens hier nur die Aufgabe der Aufsicht und der Bestrafung im Falle schuldhafter Übertretung der Gesetze oder Statuten. Aber er handelt als Monopolist, wenn er durch Verleihung des Zwangskurses bei gleichzeitiger Entbindung der Bank von ihrer Einlösungspflicht die Banknote in Papiergeld engsten Sinnes verwandelt: er verleiht einem an sich wertlosen Dinge Monopolwert, gerade so, wie unser Beduinenstamm dem freien Gut Wasser hohen Wert verleiht. Nun wird man einwenden, daß der Staat zuweilen absolut nicht anders kann, als gegen diese Gesetze zu handeln. Frankreich ζ. B., habe die Freiprägung des Silbers aufheben müssen, als dessen Wert, infolge der Herabsetzung der Grenzarbeit, sehr tief unter die alte Preisrelation zum Golde (1:15,5) sank. Sonst hätte es nach Greshams Gesetz all sein Gold eingebüßt und schwer an Wert verloren. Denn es brauchte nur jemand im Auslande Silber zu kaufen, es in Paris ausmünzen zu lassen, dafür Gold oder Noten, und dafür wieder Silber zu kaufen, um bei jedem Tausch zu gewinnen, und seinem Gewinn stand natürlich der entsprechende Verlust des französischen Staates und der Gesellschaft gegenüber, die höherwertiges Gold gegen minderwertiges Silber ausführte oder gezwungen war, ihre exportierten Noten mit Gold oder Waren zurückzukaufen, oder den für die Silberkäufe auf Paris gezogenen Wechsel mit Gold oder Waren einzulösen. Was aber das uneinlösliche Papiergeld angehe, so bleibe einem in seiner Existenz bedrohten Staate, ζ. B. in Kriegszeiten, schlechterdings kein anderes Mittel. Die üblen Folgen müßten eben getragen werden. Wir wollen uns darauf einlassen. Unsere grundsätzliche Auffassung kann durch nichts besser erläutert und, wie wir glauben, bewiesen werden. Zum ersten Fall: Die Münznamen waren ursprünglich nichts als Gewichtsbezeichnungen und wären es, ohne Einmischung des Staates, noch heute. Nehmen wir an, der Staat hätte sich nicht eingemischt, außer etwa durch eine auf internationalen Verträgen beruhende Regelung, die überall das metrische Maß, also Gramm und Kilogramm, an die Stelle der historisch überkommenen Gewichtsnamen gesetzt hätte.2 Seitdem zirkulieren in allen Ländern Gold- und Silbermünzen nebeneinander, verschieden nur nach dem Wappen des Landes, aber sämtlich proklamiert als 5, 10, 15, 20, 50 g feinen Goldes oder Silbers. Diese Münzen würden, wenn die Staaten sich nicht einmischen, überall Kurs haben, wenn sie vollwichtig gehalten werden, und das wäre sehr leicht erreichbar, wenn jeder Staat die in seinen Kassen eingegangenen unterwichtigen fremden Münzen entweder dem Ausgeber gegen Ersatz des vollen Gewichts in Barren zur Einziehung überschickt, oder mit ihm kompensiert, derart, daß jeder die fremden Münzen einschmelzt, den Gewichtsverlust mitteilt und den Saldo je nachdem in Metall empfängt oder herausgibt. Eine ähnliche Regelung haben wir ja im internationalen Postanweisungsverkehr, wo auch die Salden von Zeit zu Zeit ausgeglichen wer-
1
Papiergeld kostet freilich Arbeit, und gar nicht so wenig, da besonders kostbares Papier (Wasserzeichen) und sehr sorgfältiger Druck als Schutz gegen Fälschung erforderlich sind. Aber es hat ja nicht als graphisches Kunstwerk Desirabilität, sondern nur als Sachgeld. Wird ihm diese Verwendung entzogen, so hat es keine Desirabilität und daher keinen Wert mehr, es sei denn als Kuriosität oder als Makulatur.
2
Diese zweite Voraussetzung dient nur der leichteren Verständlichkeit. Sie ist nicht essentiell nötig. Der Verkehr würde mit Münzen verschiedenen Gewichts und Feingehalts ebenso fertig werden: das kostet nur mehr Rechenarbeit.
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Zweiter Teil: Marktwirtschaft
den. Selbstverständlich stellt sich die Preisrelation der beiden Edelmetalle überall gleich ein, und selbstverständlich vollzieht sich auch die Verschiebung der Preisrelation überall gleichzeitig, wenn die in dem einen Metall verkörperte Grenzarbeit stärker wächst oder sinkt als die in dem anderen verkörperte. Der Silberkurs in Gold und der Goldkurs in Silber stehen überall, mit ganz kleinen Schwankungen natürlich, gleich. Dabei geht der internationale Verrechnungsverkehr durch Kreditgeld ganz so vor sich, wie wir ihn kennen. Nur daß die Wechsel und Schecks überall auf Gramm Gold oder Silber lauten. Aber dennoch stellt sich die „Devise" London je nach dem Stande der Gesamtzahlungsbilanz für oder gegen Paris usw., und die Saldi müssen irgendwie, durch stärkere Warenausfuhr oder Kapitalausfuhr, d. h. Anleihen oder schließlich durch Metallausfuhr beglichen werden. Aber jetzt erreichen, wenn Metallausfuhr nötig ist, beide Metalle den unteren Speziespunkt gleichzeitig: es ist dem ausländischen Gläubiger vollkommen gleichgültig, ob er mit Gold oder mit einer Menge Silbers befriedigt wird, die auch in seinem Lande der Goldforderung gleichwertig ist, und ebenso gleichgültig ist es dem Schuldner, ob er mit Silber, das er hat, Gold, oder mit Gold, das er hat, Silber, oder mit einem ausländischen Guthaben in Rechengeld, das er hat, eines von beiden im Inlande erwirbt, um den ausländischen Gläubiger zu befriedigen. Man sieht, daß hier kein „Muß" auftreten kann, in einem der beiden Metalle die Freiprägung aufzuheben. Es wäre hier auch an sich eine Lächerlichkeit. Der Staat hat nur den einen Grund des Gemeinen Nutzens für das von ihm beanspruchte Regal anzuführen, daß er die Herstellung der kostbaren Stücke genauer und zuverlässiger vornehmen kann, als jeder Private, und daß deshalb nur die von ihm als fungibel beurkundeten Münzen ohne weiteres von jedermann angenommen werden: der Grund des „kleineren Mittels zum größeren Erfolge" gegenüber der sonst immer erforderlichen Prüfung auf Schrot und Korn durch Wage und Probierstein. Wenn er sich aber weigert, dieses „Auswägen in gleiche Teile" vorzunehmen, kann er es seinen Bürgern ebensowenig verwehren wie das Auswägen von Mehl, Kaffee, Eisen usw. Warum „muß" denn nun der Staat der Wirklichkeit unter Umständen in der Tat für das eine Metall die Freiprägung aufheben? Aus keinem anderen Grunde, als weil er durch gerade den Akt das Geld verdorben hat, durch den er es nach Knapps Meinung geschaffen hat. Er hat den Gewichtsausdruck in einen Münznamen verwandelt und hat „proklamiert", daß fortan „gesetzliches Zahlungsmittel" sein soll ζ. B. ein „Franc", d. h. entweder 1/200 kg Silber oder 1/3.100 kg Gold. Das war, als er es proklamierte, bestenfalls überflüssig, wenn die Preisrelation auf 1:15,5 stand; denn damals war es den Gläubigern wie den Schuldnern völlig gleichgültig, in welchem Metall sie die Werte erhielten oder zahlten. Und ebenso überflüssig bestenfalls für die Zukunft, nämlich für den Fall, daß die Preisrelation sich nicht änderte. Wenn sie sich aber änderte, und das war nicht nur aus theoretischen Gründen möglich, sondern aus Gründen der Erfahrung wahrscheinlich, dann hatte der Staat mit seiner „Proklamation" eine Dummheit gemacht: denn er hatte zwei Dinge miteinander gesetzlich verkoppelt, die keinen natürlichen Zusammenhang haben können, und zwar, ohne daß das geringste Bedürfnis des Verkehrs ihn dazu veranlaßt hätte. Ohne seine Proklamation hätte jede Schuld nach wie vor auf bestimmte Gewichtsmengen Goldes oder Silbers gelautet, und man hätte es den Kontrahenten ruhig überlassen können, bei Fälligkeit sich darüber zu vertragen, in welchem Gelde, Rechengeld, Silber- oder Goldmünze, die „Solution" stattfinden solle. Im Augenblick der Zahlung wäre es nur eine Frage der Bequemlichkeit gewesen, da in diesem Augenblick die Preisrelation der beiden Metalle genau feststand, die Umrechnung also exakt erfolgen konnte, wenn sie gewünscht wurde. Mehr noch: bei allen für den Verkehr wirklich wichtigen und für die Theorie interessanten Forderungen, vor allem denjenigen aus dem Kredit-Geld-Verkehr, wäre der Maßstab, der „halbstatische Pegelwert" des Metallgewichtes, noch konstanter gewesen als heute. Denn dann wirkte darauf nur die Vermehrung oder Verminderung der Grenzarbeit, und nicht die plötzliche, sehr starke Verrin-
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Abschnitt
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gerung oder Vermehrung der Nachfrage durch Übergang ganzer Staatswirtschaften von einem Metall zum andern. Alle Forderungen aus dem Kredit-Geld-Verkehr, die selten länger als drei Monate laufen, und alle normalen Forderungen aus dem Kreditverkehr, die äußerst selten - ζ. B. bei Hypotheken - länger als zehn Jahre laufen, würden am Beginn und am Ende der Laufzeit an einem praktisch noch weniger als heute veränderlichen Maßstabe gemessen und ausgeglichen werden. U n d um Raritäten, wie „ewige Renten" und derartige Dinge braucht sich, wie gesagt, die ernste Wissenschaft nicht zu kümmern, ganz abgesehen davon, daß die Einmischung des Staates sie ganz anders in ihrer Kaufkraft für Waren herabgesetzt hat, wo sie auf Münznamen und nun gar auf „gesetzliches Zahlungsmittel" lauteten, als die größte denkbare Metallentwertung sie je herabgesetzt hätte. Silber ist, an Gold gemessen, nur zeitweilig auf etwa nur den dritten Teil der alten säkularen Relation gesunken, und auch das nur dank dem gleichzeitigen Ubergang mehrerer starker Staatswirtschaften zur Goldwährung: aber welche Kaufkraft hat heute die russische, österreichische, leider auch die deutsche Rente?!! Mehr als zehn Jahre ungefährer Wertkonstanz braucht man von einem „honest money" nicht zu verlangen. Es ist charakteristisch für die rein kapitalistische Einstellung vieler, zumal amerikanischer Geldtheoretiker, daß sie nichts für so wichtig halten, wie die konstante Kaufkraft von Renten und Zinsen. Wer sich diese einigermaßen sichern will, mag sich eine Getreiderente oder dergleichen vertraglich ausbedingen. Dann hat er wohl mit starken Schwankungen im Vergleich einzelner Jahre zu rechnen - darum eignet sich Kornwährung nicht als Geld, wie schon Adam Smith zeigte - aber erhält ein Gut von immer gleicher objektiver Nützlichkeit, das außerdem aus den oben dargestellten Gründen alle Aussicht hat, in seiner Kaufkraft für alle Gewerbserzeugnisse „on the long run" regelmäßig zu gewinnen. Deshalb eignet es sich vom Standpunkt des Gläubigers aus sehr wohl als Rentensubstrat. Wir fassen zusammen: eine vom Staate nicht gestörte parallele Gewichtswährung, wenn man sie so nennen will, würde so vollkommen funktionieren, wie von einer menschlichen Einrichtung irgend erwartet werden kann. Wenn der Staat heute in der Tat zuweilen eingreifen muß, so ist das nur deshalb nötig, weil er schon früher einmal aus Torheit - oder Eigennutz eingegriffen hatte. Er muß stützen, was er selbst schief gebaut hat! Kommen wir nun zum zweiten Fall, dem einer Katastrophe, die die Existenz einer Gemeinschaft bedroht, also vor allem der schwersten unter ihnen: eines Krieges. Stellen wir uns den Fall vor, daß eine Gemeinschaft von einem „Staat" im soziologischen Sinne angegriffen wird. Muß sie wirklich Papiergeld ausgeben, um den Krieg zu „finanzieren"? Uberlegen wir! Was wird für den Krieg gebraucht? Waffen, Transportmittel, Lebens- und Genußmittel der Soldaten, Arzneien und Verbandstoffe usw. Nehmen wir vorläufig an, alle Rohstoffe seien im Inlande in genügender Menge aus eigener Erzeugung oder vorhandenen Vorräten zu haben. Dann ist es die Aufgabe der Gemeinschaft, alle jene Güter her- und an Ort und Stelle bereitzustellen. Wie kann das geschehen? Durch eine Umgruppierung der nationalen Arbeit, fort von allem Entbehrlichen, hin zum Notwendigen. Unter Umständen muß die Arbeit der Nichtkrieger intensiv und extensiv größer werden als im Frieden. Wenn der Staat sehr übel beraten ist, greift er mit seinen ungeschickten Händen durch Befehle störend in den feinen Mechanismus der Tauschwirtschaft in dem Augenblick ein, wo sie vermehrten Ertrag ergeben soll. Wenn er wohl beraten ist, erreicht er sein Ziel weit besser, indem er an das wirtschaftliche Interesse der Beteiligten appelliert. Er bestellt, was er braucht, zahlt ausreichende Preise, so daß die Unternehmer ihren Arbeitern für vermehrte Arbeit auch vermehrte Löhne zahlen können, und lenkt so die Erzeugung auf das Notwendige. Und er zieht rücksichtslos, so viel er braucht, und äußerstenfalls so viel, daß nur eben noch die klassenmäßige Notdurft übrig bleibt, 1 auf 1
Nicht die physiologische Notdurft. Wenn man Mittel- und Oberklasse auf Arbeitereinkommen setzen wollte, u m der gerechten Gleichheit willen, würde man alle, die für sie arbeiten, brotlos machen und die Ge-
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Zweiter Teil: Marktwirtscbafi
dem Wege der direkten Besteuerung ein. Dadurch lenkt er die Erzeugung vom Entbehrlichen ab. Mehr arbeiten und weniger verzehren ist die Losung. Der von beiden Seiten her gewonnene Überschuß an Nutzarbeit muß der Rüstung im weitesten Sinne dienen. Vielleicht reichen die Einkommensteuern nicht hin, um die erforderlichen Mittel aufzubringen: dann muß durch Besteuerung des Vermögens der erforderliche Betrag von den Nicht-Produzenten (und das sind in diesem Zusammenhang auch alle Produzenten mit demjenigen Teil ihres Einkommens, der aus Grundrente und Kapitalprofit fließt) auf den Staat übertragen werden. „Es geht ja ums Ganze"! Dazu braucht es keiner Vermehrung der Umlaufsmittel: der Rentner kann Wertpapiere durch seine Bank verkaufen oder bei ihr lombardieren und dadurch ein Guthaben erhalten, aus dem er dem Staat durch Gutschrift seine Steuern bezahlt, der nun seinerseits aus seinem derart entstandenen Guthaben die Kriegslieferanten befriedigt; der Grundbesitzer kann den Ertrag einer zu gleichen Zwecken aufgenommenen Hypothek in gleicher Art verwenden usw. Nun muß aber ein Teil des Kriegsmaterials aus dem Auslande eingeführt werden. Es muß soweit wie möglich mit Gegenausfuhr in Waren bezahlt werden, die das stärker arbeitende und geringer konsumierende Inland bereitzustellen hat und bereitstellen kann, da es ja die aus dem Auslande bezogenen Materialien nicht selbst zu erzeugen braucht. Reicht diese Ausfuhr nicht hin, weil die Inlandskraft der Gütererzeugung völlig gebunden ist, so muß Edelmetall und, wenn auch das nicht hinreicht, Kapital ausgeführt werden, entweder aus eigenem Besitz an auswärtigen Guthaben, indem man fremde Aktien, Staatspapiere, Grundbesitz im fremden Lande, Anlagen daselbst usw. verkauft, oder indem man sich neue Guthaben daselbst schafft durch Verkauf eigener Aktien usw. an Ausländer oder durch private Anleihen. Grundsätzlich brauchte der Staat nicht selbst als Borger auf dem fremden neutralen Geldmarkte zu erscheinen: er hat genügend Mittel in der Hand, um seine Bürger zu veranlassen - durch größere Bestellungen, für die neues Material erforderlich ist - oder zu zwingen - durch Vermögensbesteuerung - das Erforderliche zu tun. Reicht auch diese Kapitalausfuhr nicht hin, im äußersten Notfall, dann müssen kostbare Güter aus Privatbesitz, wie Schmuck, Juwelen, Antiquitäten, Bibliotheken usw. exportiert werden, um das Kriegsmaterial zu bezahlen, auch sie „flüssig", wieder zu „Ware" gemacht durch die Vermögenssteuer, die den Eigner zwingt, sich ihrer zu entäußern. Erst wenn auch dieses Mittel erschöpft sein sollte, mag die Gemeinschaft als Staat versuchen, im neutralen Auslande den Kredit zu finden, den ihre reichsten Bürger nicht mehr finden: als ein Akt der letzten Not im Kampf um die nackte Existenz. Aber ein Krieg müßte schon sehr lange dauern, bis dieses Mittel nötig wäre. Wir haben es in Deutschland während des Weltkrieges erlebt, was sich aus der Arbeit eines großen, fast männerlosen Volkes trotz Blockade und schlechter Regelung herausholen läßt! Dagegen sollten innere Anleihen nicht aufgenommen werden. Sie dienen nur dazu, die Kriegsgüter zu beschaffen - und alles Gut und alle Arbeitskraft gehören der Gemeinschaft als einem Ganzen: sie braucht sie nicht erst zu kaufen. Wenn sie sie scheinbar kauft, aus Steuermitteln, so geschieht das nur, um die Last gerecht auf alle Schultern zu verteilen und dadurch den Mechanismus der Kooperation in Gang zu halten. Anleihen sollten, wie schon einmal gesagt, grundsätzlich nur für werbende Anlagen und öffentliches Nutzeigentum aufgenommen werden; man soll die Zukunft nicht mit Kosten belasten, denen kein künftiger Genuß entspricht. Aber das gehört als ein „Sollen" in die Volkswirtschaftspolitik und nicht in die Theorie. Wenn man so vorgeht (in England hat man wenigstens einen großen Teil der Kriegsausgaben durch Steuern finanziert), so weiß auch das Hinterland vom ersten Augenblick an, wie ernst die Dinge stehen, und der Krieg wird voraussichtlich nicht einen Augenblick länger fortgesetzt werden,
sellschaftswirtschaft schwer stören. Das klingt „bürgerlich-reaktionär", aber es muß gesagt werden. Solange es Klassen gibt, kann man sie nicht ohne weiteres als nicht-existent behandeln.
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Abschnitt
als es im Interesse des nationalen Lebens und der nationalen Ehre durchaus unerläßlich ist. U n d die Gemeinschaft tritt in den Frieden ein, zwar geschwächt an Männern und Besitz, so daß es lange dauern mag, bis alle die Wunden vernarbt sind, aber mit gesunden Finanzen, gesunder Währung und ohne arge Verschiebung des sozialen Aufbaus: die Reichen haben entsprechend schwerer geschätzt als die Armen, die Drohnen schwerer als die Bienen, die soziale Kluft hat sich verschmälert. Der moderne Staat, das Gehäuse des Kapitalismus, geht, von seiner herrschenden Klasse übel beraten, einen anderen Weg. Uber jene äußerste Rüstungsmarge k o m m t auch er dabei nicht hinaus: er erreicht sie bei weitem nicht, weil seine herrschende Klasse die Selbstzucht nicht besitzt, die Erzeugung durch Einschränkung des Konsums an allem Entbehrlichen auf das Notwendige allein zu lenken, indem sie sich selbst mit Steuern belastet, die gerade noch allenfalls erträglich sind. Sie führt, ohne es selbst zu wissen, gutgläubig 1 den Krieg als ein Mittel zur Erweiterung ihrer Macht und ihres Reichtums. Er ist ihr ein Geschäft, dessen Kosten an Gut und Blut vorwiegend die Unterklasse trägt, dessen Gewinn aber bei günstigem Ausfall sie allein einzustreichen sich voll berechtigt glaubt 2 ; sie hat ja ganz Recht, wenn sie sich mit ihrem „Staat" identifiziert. Sie zieht es also vor, dem notleidenden Staat statt mit Steuern solange wie möglich mit Darlehen in Gestalt der Staatsanleihen weiter zu helfen, die ihr Emissionsgewinne bringen und gute Zinsen wenigstens in Aussicht stellen. U n d wenn dieses Mittel nicht mehr ausreicht, schreitet sie zur Ausgabe von uneinlöslichem Papiergeld mit Zwangskurs und damit zu der verderblichsten aller Steuern, der Inflationssteuer,
die entfernt nicht so viel eintragen kann wie die unmittelbare Ein-
kommens- und Vermögenssteuer, weil sie den Luxusverzehr nur wenig drosselt, und nebenher Schlauköpfe und Glückspilze ungeheuer bereichert, dem Staat also in seiner höchsten N o t einen großen Teil der für seinen Existenzkampf nötigen Mittel entzieht. Das ist zwar O p i u m für das Hinterland, das „in Stimmung gehalten wird", dem der furchtbare Ernst der Lage lange verborgen bleibt, aber es ist zugleich das Mittel der grauenhaftesten Demoralisation und sittlichen Verwilderung. U n d dann wird der Krieg weiter geschleppt: man muß wohl oder übel va banque spielen, weil der T a g der Abrechnung im Falle des Mißlingens Furchtbares bringen muß. Die Demoralisation, die E m p ö r u n g über die Drückeberger und Kriegsgewinnler, die in Üppigkeit schlemmen, ergreift auch die Front und zerreißt den Zusammenhang der Klassen, den das Wirbewußtsein' der ersten N o t z e i t geschmiedet hatte. U n d dann treten die Gegner, Sieger wie Besiegte, in den Frieden ein, viel mehr geschwächt an Männern und Besitz - denn der Krieg hat länger gedauert - , und mit kranken Finanzen, todkranker Währung und einem unendlich verschlimmerten sozialen Aufbau: die Armen schwerer geschätzt als die Reichen, die Bienen schwerer als die Drohnen, der Mittelstand ruiniert und z u m großen Teil verschwunden, der „soziale Gradient" 4 also aufs gefährlichste vermehrt, die Kluft weiter aufgerissen als je, die Gemeinschaft zerspalten in Piatons „zwei Völker, die sich feindlich nach dem Leben trachten": ein schwerkranker Körper, geschüttelt v o m Fieber der Revolution. So ist also auch diese zweite Behauptung nicht wahr, daß der Staat im Sinn einer Gemeinschaft in großen Katastrophen aus sachlichen Gründen gezwungen ist, sein Monopol als Geldschöpfer zur Ausgabe von massenhaftem Papiergeld zu brauchen. Der kapitalistische Staat freilich ist dazu gezwungen, aber nicht aus sachlichen Gründen der Rüstungsbeschaffung, sondern aus Gründen der Klassenpolitik seiner herrschenden Bourgeoisie. 5
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Oppenheimer, Allgemeine Soziologie, in: System der Soziologie, Bd. I, 2. Teilbd., S. 600, 681. Ebenda, S. 851, 855. Ebenda, 1. Teilbd., S. 101. Ebenda, 2. Teilbd., S. 774. Vgl. ebenda, S. 645ff. über den Nationalismus der Bourgeoisie.
Zweiter Teil:
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Marktwirtschaft
Wir kehren nach dieser notgedrungenen Abschweifung zu unserem Thema zurück. Es hat sich im Laufe der letzten Erörterungen schon mehrfach gezeigt, daß unsere Auffassung des Staates als des Monopolisten des Münzwesens verschiedene der rätselhaften Tatsachen der Geldwirtschaft erklären kann, wie ζ. B. die, daß ein Taler fast dreimal so viel wert sein kann, als das in ihm enthaltene Silber. Wir wollen jetzt zeigen, daß von hier aus sich auch das größte aller Rätsel leicht lösen läßt, das der Nominalismus dem Metallismus triumphierend aufgibt: die Tatsache, daß minderwertiges Geld, auch Papier, lange auf einem fast beliebigen Wert gehalten werden kann.
4. Das künstliche Pari minderwertigen
Geldes
Die Lösung ist die folgende: staatliches Sachgeld, gleichviel ob Metall oder Papier, ist zwar technisch ein beliebig vermehrbares Gut, kann aber ökonomisch ein Monopolgut sein wie ein patentierter Artikel. Der Monopolist eines solchen Gutes hat es, wie wir wissen, durch seine Produktionspolitik in der Hand, den Preis in beliebiger Höhe zwischen den beiden Grenzen zu fixieren, die wir beschrieben haben: dem Konkurrenzpreis (natürlicher Wert) unten - dann ist das Privileg kein Monopol, weil es keinen Monopolgewinn trägt - und dem in allgemeiner Formel nicht berechenbaren, erreichbaren Höchstpreise. Je weniger Stücke er produziert, um so höher, je mehr, um so geringer wird der erzielte Preis für das einzelne Stück. All das gilt auch für das Sachgeld im Staate. Bringt er weniger Stücke heraus, als der Verkehr braucht, so kann er auch Goldgeld über den Konkurrenzpreis treiben, wie wir von der Guinea erfahren haben. Bringt er mehr Stücke heraus, als der Verkehr braucht, und verhindert gleichzeitig den Abstrom ins Ausland, so kann er auch vollwichtiges Edelmetallgeld unter den Konkurrenzpreis drücken; das haben wir von Spanien erfahren, das an seiner Metallinflation schwer zu leiden hatte, und von den Vereinigten Staaten mit ihrer „Goldplethora" der Nachkriegsjahre und ihrer daraus folgenden Senkung des Goldpreises, ausgedrückt im hohen Stande der Warenpreise. Das gleiche gilt vom Papiergeld: es kann gleichfalls, wenn nur in bescheidenem Maße ausgegeben, fast beliebig über seinen natürlichen Wert getrieben, und bei übermäßiger Ausgabe auf diesen natürlichen Wert herabgedrückt werden - der Null ist! Der private Monopolist versucht, wie wir zeigten, denjenigen Preispunkt zu erreichen, der ihm den größten „Gesamtprofit" einträgt: denjenigen Preis, wo der Einzelprofit, multipliziert mit der Zahl der abgesetzten Stücke, den höchsten Betrag erreicht. Das ist sein Interesse. Auch der Staat handelt in seinem Interesse: aber dieses Interesse ist nicht das eines privaten Monopolisten, sondern das der herrschenden Klasse und, soweit mit ihm vereinbar, das der Gesamtheit. Denn der Staat ist ja eine „Mischform menschlicher Beziehungen". Klassen- und Gemeininteresse gehen nun in normalen Zeiten in bezug auf das Geldwesen parallel. Die Gesamtheit braucht, wenn sie schon kein vollkommenes haben kann, doch wenigstens ein stabiles Geldwesen, und die herrschende Klasse braucht im Interesse des Außenhandelsverkehrs feste Wechselkurse, die auch aus Prestigegründen wünschenswert sind. Denn ein Staatswesen mit unbeständiger Währung hat auch politisch einen schlechten Kredit. Aus diesen Gründen versucht ein Staat der Doppelwährung im inneren Verkehr die Preisrelation von Silber zu Gold auf der gesetzlichen Parität zu halten. Für diese Politik haben wir Frankreich als Beispiel kennen gelernt: Aufhebung der freien Silberprägung, Zahlung seitens der Zentralbank je nach Bedarf mit Silber oder Gold, Politik der Goldprämie. Wo aber nur ein valutarisches, aber seinem natürlichen Werte nach minderwertiges Geld existiert, da versucht der Staat, es auf einem festen Wechselkurs gegen das Ausland zu halten. Welcher Kurs gehalten werden soll, ist grundsätzlich gleichgültig, da es eben nur auf die Stabilität ankommt; praktisch aber wird versucht, das Pari wieder zu erreichen, das in den vergangenen Zeiten gesunder
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Metallwährung bestanden hatte und noch immer in den noch vorhandenen Goldmünzen eine Art von Leben nach dem Tode führt. Wenn das nicht möglich ist, sucht man den zur Zeit bestehenden Wechselkurs zu fixieren. Das großartigste Beispiel für die Fixierung des Silberkurses ist die Politik der indischen Regierung in bezug auf die Rupie.1 Wir haben hier eine Zwischenstufe zwischen der Regelung der Doppelwährung im inneren Verkehr und der des Wechselkurses einer minderwertigen Valuta im Außenverkehr: denn Indien ist Silberland und Großbritannien Goldland, aber Indien ist gleichzeitig auch Kolonie Großbritanniens und steht unter britischer Regierung und Verwaltung. Die indische Regierung bezieht ihre Einnahmen, vor allem die aus Steuern, fast ausschließlich in Silberrupien, hat aber viele ihrer Ausgaben, namentlich die Pensionen ihrer emeritierten Beamten und Offiziere, in Goldpfunden zu leisten. Als nun infolge der allgemeinen, in ihren Ursachen oben dargestellten Entwertung des Silbers auch die Rupie fiel, geriet der Staatshaushalt in steigende Schwierigkeit, während gleichzeitig der englische Handel nach Indien litt; wir wissen ja, daß sinkende Valuta wie ein Schutzzoll nach innen, und wie eine Exportprämie nach außen wirkt. Die Rupie, die vor der Silberkatastrophe etwa 1 sh. 11 d. in Gold wert gewesen war, sank bis 1892/93 auf 1 sh. 3 d., also um mehr als ein Drittel, und ein weiterer Sturz schien unvermeidlich. Da hob die Regierung die Silberprägung gänzlich auf (1893) und kündigte gleichzeitig an, daß sie von jetzt an gegen Aushändigung englischer Sovereigns (Goldpfunde) 15 Silberrupien auszahlen würde. Das entsprach einem Kurs von 1 sh. 4 d. Natürlich wußte die Behörde, daß es niemandem einfallen würde, einen Sovereign für 15 Rupien an sie zu verkaufen, während er im freien Verkehr 16 dafür erlösen konnte, und daß die Sperrung der Ausprägung an sich und unmittelbar den Kurs der Rupie nicht vor weiterem Absinken schützen könnte. Er fiel denn auch weiter bis auf 1 sh. 1 d.; d. h. man erhielt 18,46 Rupien für ein Goldpfund. Dann aber begann, wie man erwartet hatte, das Verkaufsmonopol zu wirken. Das riesenhafte Land, ein „Kontinent" für sich,2 mit seiner stark wachsenden und schnell an Wohlstand zunehmenden gewaltigen Bevölkerung, brauchte vermehrtes Sachgeld als Umlaufsmittel, und dessen Menge war eine starre Größe. Rupien wurden nicht mehr geprägt, und goldene Sovereigns konnten erst wieder importiert werden, wenn der obere Goldpunkt erreicht war; der aber war von der Regierung auf 1 sh. 4 d. festgesetzt worden. Höher konnte die Rupie nicht mehr steigen: denn niemand würde im freien Verkehr weniger als 15 Rupien für ein Goldpfund annehmen, wenn ihm die Münze jederzeit volle 15 Rupien dafür auszahlte. Solange dieser Punkt nicht erreicht war, kaufte der englische Schuldner indischer Lieferanten die Rechenrupien, die er zu remittieren hatte, billiger im offenen Londoner Wechselmarkte als bei der indischen Münze gegen Auslieferung von Gold. 1898 war das festgesetzte Pari in der Tat erreicht. Versuche, die Goldwährung einzuführen und die Rupie nur noch als Scheidegeld beizubehalten, scheiterten: die Inder waren an ihr Silber gewöhnt und tauschten empfangenes Gold sofort wieder in Rupien, 15 für einen Sovereign, aus. Man mußte also die Silberprägung in gewissem Umfange wieder aufnehmen und entschloß sich 1900, den erreichten Kurs durch bankmäßige Operationen zu halten. Aus dem enormen Prägungsgewinn - denn aus dem Silber, das man für 1.000 £ gekauft hatte, prägte man viel mehr als 1.500 Rupien aus - wurde ein Spezial-Reservefonds („gold-standard-reserve") gebildet, angelegt in London in englischen, auf Gold lautenden Sekuritäten. Sobald der Rupienkurs wieder sinken sollte, würde die Regierung auf diesen, nur für diesen Zweck angreifbaren Spezialfonds Pfundwechsel auf London ziehen, deren Angebot also relativ zu den Rupienwechseln auf Indien vermehren, den Sterlingkurs
1
Wir berichten wesentlich im Anschluß an Hawtrey, Kredit und Währung, S. 329ff.
2
Ebenda, S. 335.
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senken und den Rupienkurs heben. Als „unterer Speziespunkt", bei dem dieser Mechanismus in Funktion treten sollte, wurde 1 sh. 3 V¡ d. bestimmt. Zunächst zeigte sich jahrelang (bis 1907) ein ständiger Bedarf nach Rupien, und ihr Kurs drängte an den oberen Hartgeldpunkt. Folglich ließ die indische Regierung von London aus auf sich ziehen, d. h. verkaufte Rupien gegen Rupienwechsel („Council Bills") auf Indien, remittierte diese nach London, wo sie den Rupienkurs druckten und den Sterlingkurs hoben, kaufte für den Erlös Silber, brachte es nach Indien, ließ es ausprägen und füllte damit die bei Einlösung der Wechsel in ihrem Silbermünzenbestande entstehenden Lücken, vor allem die bankmäßige Deckung ihrer Banknoten, die je nach Wunsch des Inhabers in Gold oder Silber eingelöst werden mußten. Man durfte ihr nach dem Bankgesetz Silber entziehen, wenn man Gold dafür einlegte: doch mußte die Behörde immer dafür Vorsorgen, daß auch die Zahlung in Silber ohne Stockung erfolgen konnte. Der gewaltige Prägungsgewinn schwellte die Speziaireserve bis 1907 auf 17,5 Millionen £, obgleich die Hälfte des Gewinnes von 1907 für andere Zwecke verwendet worden war. Die Nachfrage nach Rupien wuchs zeitweilig derart an, daß man sich entschloß, einen Teil (4 Millionen Pfund) der Speziaireserve in Silber zu halten, um im Fall plötzlicher starker Steigerung der Nachfrage nicht die Zeit zu verlieren, die der Ankauf des Silbers und seine Ausprägung kostete. Dann schlug die Konjunktur aus Ursachen, die uns hier nicht interessieren, um. Der indische Verkehr verlangte plötzlich, anstatt Rupien für Gold, umgekehrt, und zeitweilig in unerhörten Mengen, Gold und Golddevisen auf London für Rupien. Die Rupien strömten in Massen der Bank zu, die ja dafür Gold zu geben verpflichtet war, und häuften sich hier auf. Die gesetzliche Metallreserve des Notenumlaufs setzte sich bald zum allergrößten Teil aus Silbermünzen statt aus Sovereigns und Goldbarren zusammen. Der untere Goldpunkt war erreicht, Rupienwechsel wären nur noch mit Disagio verkäuflich gewesen; da man den Wechselkurs halten wollte, mußte Gold ausgeführt werden. Das geschah nun - eine scheinbare Ausnahme von der Regel - nicht durch körperlichen Transport von Gold aus Indien nach England, sondern durch Entnahme aus dem bei der Bank von England gehaltenen Goldguthaben der indischen Regierung, die auf diese Weise ihre auf Pfund lautenden Verbindlichkeiten abdeckte. So wuchs ihr Silberschatz und sank ihr Goldschatz immer mehr; wie das Gold der Bankreserve, so wurde auch das in Indien gehaltene Gold der Gold-Standard-Reserve zum großen Teile abgesogen und durch Rupien ersetzt; der Versuch, dem Verkehr jetzt Silber aufzuzwingen, führte sofort zu einem kleinen Fall des Wechselkurses, und man war gezwungen, unbegrenzt in Gold zu zahlen, um ihn zu halten. Aber all das langte doch nicht aus, und so mußte man sich entschließen, jetzt „umgekehrte Rats-Wechsel" („Reverse Councils") auf London zu ziehen, um der ständig starken Nachfrage nach Pfunddevisen das entsprechende Angebot entgegenzusetzen und derart das Gleichgewicht herzustellen, das allein das künstliche Pari halten konnte. Die Wechsel wurden auf die Gold-Standard-Reserve in London gezogen, die nun gerade so zusammenschmolz wie die beiden übrigen Goldfonds, von denen wir soeben gesprochen haben, und ebenso wie sie durch Silberrupien in Indien ersetzt wurde. Binnen sechs Monaten mußten auf diese Weise nicht weniger als 8 Millionen Goldpfunde in Rupien umgetauscht werden, um den Wechselkurs zu halten, was bedeutet, daß mehr als die Hälfte des Prägungsgewinnes wieder verloren war: denn Rupien im Keller der Bank mögen in der Bilanz zu irgendeinem Kurse stehen: ihr augenblicklicher Realwert ist nur der des in ihnen enthaltenen Silbers. Die Regierung hatte das Silbergeld zu seinem künstlich über den Geldstoff gesteigerten Münzpreise zurückkaufen müssen. Ende 1908 hörte die dringende Nachfrage nach Gold bei der indischen Präsidentschaftsbank auf, der Wechselkurs hatte sich mit Opfern halten lassen. Aber im Weltkrieg brach das System nach langem Widerstand nieder. England zog mit starken Anleihen wie auf alle von ihm finanziell beherrschten Länder auch auf Indien, die Rupiendevisen überwogen die Pfunddevisen, und der untere Hartgeldpunkt wurde erreicht. Wieder wurde es wie 1908 nötig, die „umgekehrten Rats-Wechsel" auf London zu ziehen: rund 8,7 Millionen £ wurden
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vom 3. August 1914 bis September 1915 von diesen Wechseln verkauft; die Einlösung von Rupien gegen Sovereigns war bereits am 5. August 1914 suspendiert worden. Dann sank aber die englische Valuta wie die aller Kriegführenden gegenüber den Unbeteiligten, dank der Noteninflation, unter das Pari, d. h. die indische Valuta drohte, den Hartgeldpunkt zu überschreiten. Um sie tief zu halten, verkaufte man nun wieder „Rats-Wechsel" (zahlbar in Indien auf Rupien) in London, um das Gleichgewicht des Wechselmarktes herzustellen. Natürlich mußte wieder in großartigem Maßstabe Silber angekauft und gemünzt werden, um die auf Wechsel verkauften Rupien nun auch liefern zu können. Aber Silber stieg beängstigend im Goldpreise - wie alle anderen Güter, infolge des gesunkenen Wertes aller auf Gold gestellten Valuten, d. h. des Rechengoldes, und stieg schnell bis auf eine Höhe, bei der es lohnte, die Rupie durch Einschmelzen in Silberbarren zuriickzuverwandeln. Man mußte sich nach einigen Versuchen, den Preis des Silbers und seine Einfuhr zu drosseln, dazu verstehen, den Wechselkurs erst auf 1 sh. 5 d. dann noch einmal auf 1 sh. 6 d. und zuletzt gar auf 1 sh. 8 d. zu erhöhen (Mai 1919). So war selbst das finanzgewaltige England, trotzdem es Sieger in dem großen Ringen geblieben war, mit dem Versuch gescheitert, das künstliche Pari aufrecht zu erhalten. Der Weltkrieg warf ebenso zwei in ihrer Art nicht minder großartige Versuche zu Boden, eine reine Papierwährung durch Bankoperationen auf einem künstlich festgesetzten Pari zu halten. Die Staaten, die sie unternahmen, waren Österreich-Ungarn und Rußland. Die Donaumonarchie hatte dem Namen nach Silberwährung, faktisch aber seit dem Napoleonischen Kriege Papierwährung, die mehrfach „zusammengelegt", d. h. durch Papier geringeren Nennwertes ersetzt worden war: ein kaum verschleierter Staatsbankrott! Zwar lief Silbergeld um, aber zumeist mit einem sehr starken Agio gegenüber den Noten. Bald nach 1870 wurde der Ubergang zur Goldwährung beschlossen, 1879 die Silberprägung eingestellt, Gold angekauft und in Stücken von 4 und 8 Gulden ausgebracht, die den Zehn- und Zwanzig-Frankstücken gleichwertig waren. Da sich aber die Konjunktur wieder verschlimmerte, blieb es bei der guten Absicht, und während der folgenden 13 Jahre „war die Recheneinheit der Papiergulden mit keinem bestimmten metallischen Wert"1, dessen Wechselkurs gegen die Goldländer beträchtlich schwankte. Das alte Pari aus der Zeit der festen Gold- und Silberrelation war 102,15 Gulden für 10 Pfund Sterling gewesen, aber das Silber sank gegen Gold; 1879 war das in 10 Sovereigns enthaltene Gold so viel wert wie das in 121,26 Gulden enthaltene Silber, aber das Rechenpfund kaufte im Wechselmarkt nur 117,30 Fl.; der Rechengulden stand über seinem Silberwert: die Folge der Prägungssperre, des Verkaufsmonopols. Als die Zeiten wieder günstiger wurden, nahm man den Gedanken wieder auf, zur Goldwährung zu kommen. Das alte Pari von 102,15 war offenbar nicht mehr zu erreichen, und so wählte man 1892 den Durchschnitt der Wechselkurse der letzten Jahre mit 120,087, wodurch die neue Einheit, die Krone, fast genau gleich 0,85 Mark bestimmt war; sie wurde als gesetzliches Zahlungsmittel als ein halber Gulden alten Stils proklamiert, so daß damit eine Depreziation2 von etwa 15 % verbunden war: denn der alte Gulden war 2A Taler oder zwei Mark gleichwertig gewesen. Die Guldennoten wurden eingezogen und durch Kronennoten ersetzt, die durch eine Goldreserve nach deutschem Muster gedeckt waren. Ihre Einlösung in Gold war gesetzlich nicht festgelegt, begann aber praktisch im August 1901. Es zeigte sich jedoch, daß die Österreicher ihr gewohntes Papier dem Golde gerade so vorzogen wie die Inder ihr Silber. So schien nichts zu der Maßnahme der
1 2
Hawtrey, Kredit und Währung, S. 324. Depreziation: Herabsetzung, Appreziation: Heraufsetzung des Wertes als Zahlungsmittel.
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obligatorischen Bareinlösung der Noten zu drängen, und sie ist denn auch niemals Beschluß geworden, so viel auch darüber verhandelt wurde.1 Trotzdem gelang es bald, von 1896 an, das neue Goldpari bis zum Weltkriege zu halten, und zwar durch bankmäßige Operationen, die von der Österreichisch-Ungarischen Bank durchgeführt wurden: ein fein abgewogenes System, das man als „Goldkernwährung" oder „Devisenkernwährung" bezeichnet hat. Das Verfahren besteht im wesentlichen darin, daß die Bank es unternimmt, jederzeit fremde Devisen zu einem festen, dem Wechselkurse entsprechenden Satze einzukaufen und zu verkaufen. Solange sie diese Zusage erfüllen kann, kann der Wechselkurs offenbar weder nach oben noch nach unten abweichen - und sie kann sie erfüllen, solange die Zahlungsbilanz gegen das Ausland kein Defizit ergibt, d. h. solange ein etwaiges Defizit durch Anleihen und schlimmstenfalls durch Abgaben von Gold saldiert werden kann. Und das ist in normalen Zeiten der Fall. Die Methoden, mit denen die Bank ihre Absicht durchführte, können hier nicht des näheren dargestellt werden. Es muß genügen zu sagen, daß sie dauernd einen starken Bestand von Devisen aller Art und von Guthaben bei ausländischen Banken hielt, auf die sie ihrerseits ziehen konnte, und daß ihr diesbezüglicher Geschäftsbetrieb sich vorwiegend als eine überaus feine und ausgedehnte Arbitrage in Devisen und Gold darstellte. Aus ganz ähnlichen Nöten der Papierwirtschaft und gleichem Staatsbankrott kam auch Rußland zur etwa gleichen Zeit zur Devisenwährung. Die Silberprägung wurde Anfang 1893 aufgehoben, der neue Rubel derart festgesetzt, daß fortan 46,275 (statt wie früher 30,869) Rubel hundert Mark gleichwertig sein sollten: eine Depreziation um ein Drittel. Diesen neuen Wechselkurs hielt die Regierung dadurch, daß die Staatsbank auf ihre Agenten in den Hauptwechselplätzen, namentlich dem für Rußland wichtigsten Platze, Berlin (hier war das Großbankhaus Mendelssohn der Agent), Dreimonatswechsel zog, sie im offenen Wechselmarkt verkaufen ließ und zu gleichem Satze andere Wechsel einkaufte. Auch hier wurden große Mengen Goldes angehäuft, auch hier die bare Noteneinlösung faktisch aufgenommen2, aber nicht gesetzlich vorgeschrieben. Solange normale Zeiten bestanden, ließ sich dieser Plan gerade so unschwierig durchführen wie in Österreich-Ungarn. Auch hier brach das System im Weltkrieg nieder. Diese Art der Staatstätigkeit nennt Knapp die „exodromische Verwaltung" und hält sie für eine der wichtigsten Aufgaben des Staates in bezug auf seine Währung. Er hat auch recht: wo der Staat durch seine Eingriffe die Geldverfassung einmal verdorben hat, wird er immer auch Β sagen müssen, nachdem er A gesagt hat. Er muß den Wechselkurs als Barometer der Gesamtzahlungsbilanz genau im Auge behalten und sofort eingreifen, wenn er sinkt. Da er in der Lage ist, zulasten der gesamten Steuerzahler Opfer zu bringen, d. h. für den Ankauf von fremden Devisen bare Zuschüsse zu leisten oder, solange er Kredit hat, Anleihen im Auslande aufzunehmen, aus deren Realisation er neue Devisen erlangt, kann er mehr für die Erhaltung des Wechselkurses leisten als eine private Zentralbank, die sich durch derartige Geschäfte ruinieren würde. Aber bei alledem darf man nun doch nicht annehmen, daß dieses System an sich das ideale, das letzte Wort der ihrer selbst endlich bewußt gewordenen Praxis sei, wie Knapp das ohne Zweifel tut. Erstens hat der Weltkrieg gezeigt, daß alle diese auf Stelzen gestellten Systeme, die in normalen Zeiten, wo die Gesamtzahlungsbilanz in Ein- und Ausgang gleiche Größe hat, selbstverständlich funktionierten, sich in abnormalen Zeiten nicht halten lassen. Knapp, der die eigentlich ökonomischen Probleme, wie gesagt, kaum jemals streift, begnügt sich hier mit der Hindeutung, daß die „pantopolischen" Verhältnisse entscheiden. Er versteht darunter die Gestaltung der Zahlungsbilanz.
1 2
Vgl. Zuckerkandl, Artikel: Österreichisch-Ungarische Bank, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 2, S. 411ff. Idelson, Artikel: Banken in Rußland, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 3, S. 495.
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Richtig: aber es kommt eben auf die Dauer einzig und allein darauf an, wie diese sich gestaltet, - und es gibt Gestaltungen, denen gegenüber sich der Wille der mächtigsten Staaten und ihrer klügsten und tatkräftigsten Lenker als durchaus ohnmächtig erweist: „Unda fert nec regitur." Eine Gesellschaft kann aber nur gedeihen, wenn das Währungsschiff, in dem sie segelt, nicht beim ersten Sturm schwer leck wird. Zweitens: gerade hier zeigt sich, daß Knapps „staatliche" Auffassung schief ist. Er sagt selbst, wo er vom Hamburger Bankogelde handelt, das „ohne Zusammenhang mit der Werteinheit für das staatliche Geld geschaffen wurde", das sei „ein besonders lehrreicher Umstand: jede Zahlgemeinschaft kann sich eine Werteinheit schaffen. Der Staat kann es, weil er eine Zahlgemeinschaft ist, nicht weil er der Staat ist. Der Staat ist nur die gewöhnlichste, älteste Zahlgemeinschaft, aber nicht die einzige. Also die Rechtsbildung des Zahlverbandes schafft die Werteinheit. Darin liegt eine große Erweiterung im Vergleich zu der Anschauung, von der wir ausgegangen waren: daß nur der Staat eine Zahlgemeinschaft sei."1 Wir wollen davon absehen, daß mit dieser Auffassung ganz offenbar das Sekundäre zum Primären gemacht wird, während das Primäre überhaupt verschwindet: die Zahlgemeinschaft kann selbstverständlich nur dort und darum entstehen, wo und weil Arbeits- und 7k«jc¿gemeinschaft besteht: in der kooperierenden Wirtschaftsgesellschaft. Wir wollen ferner davon absehen, daß hier der „Staat" fälschlich nur als das Organ des Gemeinen Nutzens angeschaut wird, während Knapp doch weiß, daß er zuweilen nichts ist als das Organ des Klassennutzens: „Von Chartalpolitik ist hierbei gar keine Rede mehr; der Staat wird einfach von mächtigen Parteien ausgebeutet."2 Die Frage hätte doch gestellt werden müssen, ob eine derartige Ausbeutung des Staates nicht vielleicht auch bei Gelegenheiten vorliegt, wo sie weniger auffällig ist, ja, ob nicht alle Währungspolitik des Staates unter solchen Einflüssen steht. Lorenz von Stein, der als Schüler Hegels die Anbetung des Staates im Blute hatte, wußte schon, daß er von der „Gesellschaft" immer gefesselt und vergewaltigt wird.3 Aber darüber haben wir uns bereits zur Genüge geäußert. Was hier zu sagen ist, ist folgendes: wenn die Erfahrung mit der Hamburger Werteinheit eine „Erweiterung" der staatlichen Theorie des Geldes bedeutet, so heißt das mit kühlen Worten, daß diese Theorie zu eng ist. Wo „Zahlgemeinschaft" (weil Arbeits- und Tauschgemeinschaft) besteht, da gibt es auch eine „Werteinheit". Eine solche Gemeinschaft kann innerstaatlich sein, wie der Hamburger Giroverband, aber auch «Verstaatlich : die internationale Wirtschaftsgesellschaft. Und hier kann man ex definitione mit der „staatlichen Theorie" nicht mehr auskommen. Hier ist sie, nicht nur logisch, sondern auch räumlich genommen, viel zu eng. Die ganze exodromische Verwaltung ist nichts als das Bemühen der internationalen überstaatlichen Wirtschaftsgesellschaft, ihre Leistungen und Gegenleistungen trotz allen von dem Staate oder den Staaten gesetzten Widerständen auf den Generalnenner einer einzigen Werteinheit zu bringen. Drittens: ohne die Einmischung des Staates würde sich die „Exodromie" in der Tat automatisch und zwar viel vollkommener regeln, als alle Kunst der klügsten Banksachverständigen es vermag. Das haben wir oben ausführlich gezeigt. Niemals könnte sich die auf dem Maßstabe aufgetragene Einheit des Rechengeldes irgend erheblich von dem Urmaß des Metallwertes entfernen, und in specie für die legitim entstandenen Banknoten wäre so wenig eine Fürsorge erforderlich, wie für einen gesunden Baum im Walde. Aber das uneinlösliche Papiergeld mit Zwangskurs ist ein empfindliches Gewächs, das nur im Treibhause staatlicher Fürsorge gedeihen kann.
1
Knapp, Staatliche Theorie des Geldes, S. 137. Im Original nicht kursiv.
2
Ebenda, S. 179. Es ist die Rede von den auf Betreiben der Silberinteressenten vorgenommenen enormen Silberkäufen des Schatzamtes der Vereinigten Staaten.
3
Vgl. Oppenheimer, Allgemeine Soziologie, in: System der Soziologie, Bd. I, S. 49.
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So viel von der Praxis der Exodromie, die wir als zeitweilig notwendig, ja segensreich, gerade so anerkennen wie die übrigen Palliativmittel der kranken Gesellschaft, von der Sozialpolitik und der Arbeiterversicherung bis zur Armenpflege und Tuberkulosefürsorge. Wo Schwären aufbrechen, muß man Pflaster auflegen. Was aber, viertens und vor allem, die Theorie anlangt, so können wir nur staunen über die Blindheit, die die wichtigste aller Tatsachen nicht sieht, obgleich sie geradezu ins Auge springt: daß auch für die internationale Zahlgemeinschaft das Gold oder vielmehr dessen Pegelwert die Werteinheit bildet. Ein staatlich abgegrenzter Teil dieser großen Gemeinschaft mag eine Zeitlang bei gutem Glück durch alle Künste der Arbitrage ohne große Opfer des Metalls entraten können: darin liegt nichts erstaunliches, denn wir haben gezeigt, daß in normalen Zeiten Rechengeld allein genügt, um den Tauschverkehr abzuwickeln. Aber dessen Einheit bezieht ein solcher Staat doch immer auf Gold, nicht auf sein eigenes, wohl aber auf das fremde. Wer in der Devisenkernwährung das Ideal aller Geldverfassung erblickt, muß sich die Konsequenz gefallen lassen, daß diese Verfassung überall, von allen Staaten ohne Ausnahme, gleichzeitig eingeführt werden könnte und sollte] Und diese unausweichliche Konsequenz ist eine reductio ad absurdum! Gerade so gut könnte man eine Triangulation machen, ohne die Basis ausgemessen zu haben, oder eine Hebelwirkung erwarten, wo kein Fulerum vorhanden ist; der Punkt des δός μοι που στώ fehlt dann durchaus. Selbstverständlich könnten alle Staaten ihren Wechselkurs von heute als ihr Richtziel nehmen und durch exodromische Verwaltung zu erhalten suchen; nehmen wir sogar an, das gelänge durch lange Zeit vollkommen, weil die „pantopolischen Verhältnisse" günstig sind: dann kann dennoch die Werteinheit, die diesen ganzen Verkehr auf einen Generalnenner bringt, inzwischen ihre Größe nach oben oder unten bedeutend geändert haben. Im ersten Falle würde der Gläubiger, im zweiten der Schuldner lachen, während der in ganz kurzen Perioden sich vollziehende Tauschverkehr unter dieser Voraussetzung kaum ernstlich gestört sein würde; kommt es aber zu einer heftigen Erschütterung und Störung der pantopolischen Bilanz, dann gibt es auch für diesen Verkehr kein irgend verläßliches Maß mehr, und die Katastrophe ist da. Dann müßte der Staat mühsam versuchen, das Urmaß, eine bestimmte Menge gesellschaftlicher Arbeit, aufgewendet zur Uberwindung naturgegebener Widerstände, irgend anders zu finden als in dem von der Natur selbst dazu prädestinierten Edelmetall: in Roggen oder Kohle oder einer Maurerarbeitsstunde oder einem mühselig errechneten, irgendwie zusammengestellten „gewogenen" oder nicht gewogenen „Generalindex", d. h. einer bestimmten Menge durchschnittlicher gesellschaftlicher Arbeit, um daran die Menge anderer gesellschaftlicher Arbeit zu messen. Zum Glück müßte ein solches wahnsinniges Experiment, das vielleicht („quantilla sapientia") möglich wäre, ohne weiteres scheitern. Der Staat kann die Auswirkung der wirtschaftlichen Gesetze wohl stören, bis zur Vernichtung der Gesellschaft, aber er kann sie nicht außer Kraft setzen, solange die Gesellschaft eben noch lebt. Sie würde sich, unabhängig vom Staate, ihre Werteinheit in Metall wiederschaffen, wie der chinesische Verkehr unter Beiseiteschiebung des vollkommen verderbten staatlichen Geldes sich Maß und Maßstab wieder geschaffen hat: in der einfachen natürlichen Silbergewichtswährung!
e. Die Wirtschaftskrisen Wir werden den Begriff „Wirtschaftskrisen" im folgenden in seinem weiteren Sinne gebrauchen, wo er nicht nur die akuten Zusammenbrüche, sondern auch die chronischen Depressionen miteinbegreift. Um das viel umstrittene Problem der Wirtschaftskrisen zu lösen, darf man nämlich nicht, wie es vielfach geschieht, den „Zyklus" als gegeben hinnehmen und nun versuchen, aus der Hochkonjunk-
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tur die Gründe des Zusammenbruchs abzuleiten. Sondern man muß auch schon die Hochkonjunktur als Symptom des ganzen zu erklärenden Komplexes auffassen, die aus der gleichen Wurzel abzuleiten die Aufgabe ist. Die Wirtschaftskrisen haben ihre letzte Ursache in der Tatsache, daß der städtische Produzent der kapitalistischen Gesellschaft verhindert ist, den Ordres zu gehorchen, die der Markt durch seine Preisgestaltung an ihn ergehen läßt. Er ist gezwungen, seine Produktion zu vermehren, wenn die Gewinne steigen, aber auch, wenn sie fallen. Dadurch unterscheidet er sich auf das stärkste von dem städtischen Produzenten der reinen Wirtschaft, der in diesem Falle, dem Markte gehorsam, alsbald seine Produktion einschränkt. Zwischen den kapitalistischen Unternehmern der Gewerbe und des Handels besteht der feindliche Wettkampf. Ihre psychologische Lagerung zwingt sie, bei sinkenden Gewinnen ihre Produktion noch auszudehnen, - und ihre soziale Lagerung erlaubt es ihnen (denn ihnen stehen die zu dieser Handlung erforderlichen freien Arbeiter in fast beliebiger Zahl zur Verfügung1) - und das ist die Ursache der Krisen.
1. Die A narchie der Produktion Viele Sozialisten, auch Marxisten, leiten die Krisen aus der „Anarchie der Produktion" ab. Die gesellschaftlichen Kräfte sind zu groß geworden, um noch länger im Rahmen der bestehenden Eigentumsverhältnisse gehalten zu werden; jeder einzelne Produzent produziert darauf los, unbekümmert um die anderen, angeblich, weil er unfähig ist, den Markt zu übersehen. Diese Auffassung ist unhaltbar. Sie führt die Anarchie der Produktion auf die Unzulänglichkeit der individuellen Wirtschaftserkenntnis zurück. Aber nicht das ist ihre Ursache. Jeder einzelne Produzent könnte die Marktlage auf das genaueste kennen und beherrschen, - und er übersieht sie heute, dank Telegraph, Telephon und Rundfunk, unvergleichlich genauer als je zuvor: ihm bliebe dennoch nichts anderes übrig, als mit sehenden Augen bei sinkendem Gewinne die Produktion auszudehnen, d. h. seinen eigenen Markt zu verschlechtern, in Anarchie zu versetzen. Der feindliche Wettkampf zwingt ihn dazu.2 In der reinen Wirtschaft ist eine allgemeine Krisis offenbar unmöglich. Sinkende Gewinne werden sofort Arbeitskräfte anderen Gewerbszweigen zuführen, das Angebot der betreffenden Ware wird sich vermindern, die Nachfrage und die Gewinne werden wieder steigen. Oder, wenn ein Gewerbe durch eine völlig veränderte Richtung der Nachfrage ganz in Verfall gerät (Perükkenmacher, Harnischschmiede, Silberbergbau), dann können wohl stehende Kapitalien verloren werden, aber kein Notstand der Produzenten entstehen. Entweder sterben sie allmählich mit der sinkenden Nachfrage aus oder wenden sich der Erzeugung begehrterer Waren zu.
1
Das hat auch Gustav Cassel gesehen. „Die Hochkonjunkturen des letzten Jahrhunderts wurden nur durch den extraordinären Zuschuß von Arbeitskraft, der jedesmal von der Landwirtschaft aus zu erhalten war, ermöglicht." [Derselbe, Theoretische Sozialökonomie, 4. Auflage, Leipzig 1924, S. 500f.] E r zieht daraus den wichtigen Schluß, daß nach voller Ausblutung der Landwirtschaft die Konjunkturbewegung nicht mehr so heftigen Rückfällen ausgesetzt sein und viel gleichmäßiger verlaufen wird als bisher. Es klingt fast, als wäre endlich ein fernes E c h o meiner Untersuchungen in die Literatur eingedrungen. Die wesentlichen letzten Folgerungen sieht Cassel freilich auch nicht.
2
Auch das wird durch Cassels Untersuchungen bestätigt: „Die großen Steigerungen des Unternehmereinkommens fallen immer in die Anfangsjahre der Aufschwungsperiode. In der eigentlichen Hochkonjunktur ist die Steigerung des Unternehmereinkommens schon abgeschwächt. In den Wendejahren selbst tritt eine Abnahme dieses Einkommens oder wenigstens eine erhebliche Abschwächung seiner Steigerungstendenz auf." [Ebenda, S. 537.]
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In der kapitalistischen Wirtschaft aber setzt sich die Konkurrenz nicht unmittelbar durch, sondern erst auf Umwegen, mittelbar. Die „kapitalistischen Verkäufer" produzieren gerade bei fallenden Gewinnen um so toller darauf los, weil dies das einzige Mittel ist, den Gesamtprofit auf der Höhe zu halten. „Und da das alle gleichzeitig tun, galoppiert die Erzeugung selbstmörderisch dem Verbrauch voran; der Verbrauch hinkt der immer schneller galoppierenden Produktion in immer weiterem Abstände nach, bis diese, die nur gedeihen kann, wenn der Verbrauch mit ihr Schritt hält, plötzlich wie ein niedergerittenes Pferd gelähmt zusammenbricht. Allmählich kommt der Verbrauch heran, haucht der Produktion mit einiger Nachfrage neuen Lebensodem ein: und ,hurre, hurre, hopp, hopp, hopp!' - nach wenigen vorsichtigen Schritten gehts wieder ,fort im sausenden Galopp', bis Kraft und Atem wieder versagen."1 Diese Betrachtung erklärt vollkommen die Entstehung der Krisen und ihre Periodizität. Noch aber bleibt zu erklären, wie es kommt, daß eine beschränkte Krisis in einem der großen Gewerbszweige zur allgemeinen Krisis werden kann, die alle oder fast alle ergreift.
2. Der Prozeß der Krise Betrachten wir einen „Zyklus" dieser merkwürdigen Erscheinung. Die Zeit des Darniederliegens der Gewerbe nähert sich dadurch ihrem Ende, daß für einen Zweig der Großindustrie sich wieder etwas Nachfrage zeigt, ein Zeichen, daß der Marktmagen endlich diesen Teil der in ihn hineingestopften „Ingesta" verdaut hat. Damit lebt die Kaufkraft der in diesem ersten Zweige beschäftigten Arbeiter und Unternehmer wieder auf und nimmt die Waren anderer Zweige um so schneller aus dem Markte, weil die Entbehrungen der toten Zeit ihr Bedürfnis nach diesen anderen Waren auf eine überdurchschnittliche Höhe gebracht haben. Sie haben „Hunger" gehabt und nehmen jetzt, wo der Tisch sich deckt, eine doppelte Mahlzeit. Auf diese Weise teilt sich die Belebung einem Gewerbe nach dem anderen mit, und zwar in immer schnellerem Tempo, weil die Nachfrage jedes neu belebten Gewerbes vorwärts und rückwärts wirkt, bis alle in vollem Flor, in angestrengter Tätigkeit sind: die „Blüte" ist eingetreten. Aber diese Vermehrung des Produkts stößt an zwei unüberschreitbare Grenzen. Die erste ist die Erzeugungsfähigkeit der Gesellschaft, die ein in jedem Augenblick gegebenes Maximum nicht überschreiten kann. Zunächst wird allmählich die Reservearmee der Unbeschäftigten aufgesogen: damit steigen die Löhne sehr beträchtlich. Ferner nähert sich bald auch die Erzeugung der Roh- und Hilfsstoffe ihrer Höchstgrenze, und so steigen die Preise hier noch über den Aufschlag hinaus, den die Steigerung der Löhne auch in diesen Zweigen bedingen würde. Beides bedeutet für den Erzeuger und Händler von Verwendungswerten steigende Selbstkosten. So lange er den Verkaufspreis so hoch anzusetzen imstande ist, daß diese steigenden Kosten und vielleicht sogar trotzdem noch ein steigender Gewinnaufschlag herauskommt, ist alles gut: aber das verbietet auf die Dauer die zweite unüberschreitbare Grenze der Erzeugung: die Kaufkraft der Bevölkerung. Wenn die Löhne auch stark gestiegen sind, so sind sie doch entfernt nicht auf den „vollen Arbeitsertrag" gestiegen, sondern weit dahinter zurückgeblieben. Und man kann „auf die Dauer nicht mehr erzeugen, als man nachher verkaufen kann". Mit anderen Worten: für die große Industrie wächst die Kaufkraft des Marktes nur durch Addition, aber die erzeugenden Kräfte durch Potenzierung. Die Preise, zum mindesten die Gewinne, sinken für irgendeine Hauptware des Marktes, und damit sinkt die Kaufkraft ihrer Erzeuger. Die Unternehmer aber produzieren nur immer um so toller, um den Gesamtprofit zu erhalten und die
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Vgl. Oppenheimer, Die Siedlungsgenossenschaft, Leipzig 1896, S. 518.
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Konkurrenten niederzuwerfen; das glückt schließlich, die schwächeren decken als wirtschaftliche Kadaver die Wahlstatt, und sie selbst so gut wie ihre Arbeiter stehen ohne Beschäftigung und Einkommen da. Damit sinkt die Kaufkraft des Gesamtmarktes um die gesamte Nachfrage dieser Brotlosen. Sofort wird das Angebot des nächsten Gewerbes, welches bis dahin gerade der Nachfrage genügt hatte und normale Preise hatte, um diesen Betrag der fortgefallenen Kaufkraft zu groß, und die Gewinne und Preise sinken auch hier. Derselbe Prozeß setzt sich weiter durch, und so teilt sich der Niedergang einem Gewerbe nach dem anderen mit, und zwar in immer schnellerem Tempo, weil die sinkende Kaufkraft jedes Gewerbes vor- und rückwärts wirkt. Uberall brechen die schwächeren Betriebe nieder, und Menschen stehen mittellos und beschäftigungslos da. Ungeheure stehende „Kapitalien" gehen verloren, verfallen mit Baulichkeiten, verrosten in Maschinen, verderben als fertige Waren in den Speichern, werden verwüstet in dem Verfall häuslicher Gebrauchsgegenstände. Und vielleicht noch größer ist der Verlust, der der Wirtschaftsgesellschaft dadurch erwächst, daß Hunderttausende produktiver Kräfte brach liegen und, statt durch ihre Mitarbeit das Einkommen aller zu erhöhen, durch ihre erzwungene Nurkonsumtion das Einkommen aller vermindern. Aber die Schwere dieser Verheerung wird noch gesteigert durch einen anderen Faktor, der allein der kranken Wirtschaft angehört, nämlich durch den pathologischen Prozeß, der die Zirkulation ergriffen hat: das Geld ist plötzlich aus seinem Charakter als Wertmesser in den als Ware umgeschlagen. (Marx). Das ist in der reinen Wirtschaft unmöglich: Angebot und Nachfrage können nie bedeutend von einander abweichen, jede Ware, ebenso wie die Geldware selbst, muß jederzeit nahe an ihrem „statischen Preise" stehen. Daß Gold im Verhältnis zu allen anderen Waren plötzlich an Kaufkraft gewinnt, ist in der reinen Wirtschaft undenkbar. In der kranken Wirtschaft liegen die Dinge anders.
A. Die
Absatzkrise
Wenn das Mißverhältnis zwischen erzeugtem Vorrat und kaufkräftiger Nachfrage offenbar wird, wenn der Tausch gestört wird, weil die Komfortbreite der Masse gesättigt ist; und wenn die Erzeugung dann stockt, weil sie in ihrem eigenen Vorrat erstickt, dann stürzen alle Warenpreise, und es gibt in der ganzen Volkswirtschaft nur eine Ware von universaler Bedeutung, deren Nachfrage ebenso enorm steigt, wie die aller anderen fällt, nämlich das Gold. Diese Ware konnte ja nur Wertmaßstab werden, weil eine plötzliche Uberproduktion unmöglich war; und darum tritt jetzt eine fortwährend wachsende Verschiebung des (laufenden) Preises von Gold einerseits und Ware andererseits ein: Gold ist in seinen Warencharakter umgeschlagen und zeigt dem erschreckten Produzenten statt des Wertmessergesichtes seines Januskopfes das drohende Medusenantlitz der Ware. Gold wird immer teurer, und Ware immer billiger. Hier ist ein klassischer Circulus vitiosus, in dem sich Ursache und Wirkung fortwährend verstärken. Weil alle anderen Waren im Uberangebot vorhanden sind, hat Gold an Kaufkraft gewonnen; weil es an Kaufkraft gewonnen hat, wird es mehr begehrt; darum sinken die Preise weiter und erhöhen die Kaufkraft des Goldes noch mehr, so daß die Preise wieder sinken; und dieser Prozeß setzt sich so lange fort, bis fast der gesamte Tauschverkehr mit einem „Krach" auseinanderbricht. Hier liegt der Schlüssel des letzten Geheimnisses der Krisen, das die Vertreter der altliberalen Wirtschaftstheorie nicht lösen konnten. Um es ganz zu verstehen, müssen wir die Zusammenhänge betrachten, die mit dem Kreditgeld- und dem Kreditverkehr bestehen, die Zusammenhänge, durch die sich die Absatzkrise zur Finanz- und Kreditkrise erweitert.
784 B. Die Kredit- und
Zweiter Teil: Marktwirtschaft Finanzkrise
Die Zeit der Hochkonjunktur ist eine solche der Kreditexpansion. Die Produzenten nehmen steigende Bankkredite nicht nur für die Erweiterung ihres zirkulierenden, sondern auch für die ihres fixen Kapitals auf: die Groß- und Kleinhändler vermehren ihre Lagerbestände, die Fabrikanten nicht nur ihre Rohstoffe und die Zahl ihrer Arbeiter, d. h. ihr Lohnkapital, sondern auch durch Neuinvestitionen ihre Gebäude mit den Maschinen. Außerdem wird der Geldbetrag, der erforderlich ist, um die gleiche Masse von Waren zu bewegen, aus dem Grunde größer, weil die Preise gestiegen sind. All das bedeutet, daß das Rechengeld im Warenpreise gefallen ist. An diesem Falle nimmt auch das Metallgeld, als dessen Repräsentanten wir wieder das Gold wählen, teil: während alle anderen Güter1 im Preise steigen, sinkt Gold, dessen Preis mit dem des Rechengeldes so lange unlösbar verkoppelt ist, wie Noten und Giroguthaben ohne Schwierigkeiten in Gold umgewandelt werden können. In der Hochkonjunktur steigen also die Waren im laufenden Preise nicht nur aus dem Grunde, weil der steigenden Nachfrage nicht sofort ein entsprechendes Angebot gegenübertreten kann, sondern auch noch aus dem weiteren Grunde, weil mehr Rechengeld durch Kredit geschaffen ist, als durch schon vorhandene, auf der Reise begriffene Waren zu normalem Preise gedeckt ist; und in der gleichen Zeit fällt das Gold im laufenden Preise nicht nur, weil die Waren steigen, sondern auch, weil mehr Rechengeld geschaffen ist, als der wirklichen kaufkräftigen Nachfrage entspricht. Diese Kreditexpansion hat aber ihre Grenze. Die Banken haben die Verpflichtung, auf Verlangen in gesetzlicher Währung zu zahlen, und die Zentralbank hat, wo nicht etwa uneinlösliches Papiergeld gesetzliches Zahlungsmittel ist, die Verpflichtung, ihre Noten auf Verlangen in Gold einzulösen. Sie müssen also das Verhältnis ihres Barbestandes zu ihren täglich fälligen Verpflichtungen sehr sorgfältig im Auge behalten, um nicht eines schönen Tages zahlungsunfähig zu werden. Da es unmöglich ist, theoretisch zu bestimmen, welches Verhältnis zwischen Deckung und Verpflichtung bestehen muß, richten sie sich nach irgendeinem empirischen oder gesetzlich festgelegten Maßstabe. Sobald ihre Deckung sich, gemessen an diesem Maße, gefährlich vermindert, beginnen sie ihre Kreditgewährung einzuschränken. Nun muß jede Hochkonjunktur den Bestand der Banken an baren Zahlungsmitteln notwendigerweise vermindern. Denn der Kompensationsverkehr ergreift eine gewaltige Schicht der Beteiligten einer solchen Blütezeit nur in geringem Maße: die Arbeiterschaft. Sie haben keine Bankguthaben, können keine haben. Wenn ihre Löhne steigen, so werden sie zuerst wahrscheinlich mehr ausgeben, und diese Beträge werden über den Kleinhändler, den Hauswirt, den Kinokassierer usw. bald wieder in die Bank zurückströmen: wenn aber ihr erster Hunger gestillt ist, so werden sie zu Hause kleine Sparschätze ansammeln, die nur langsam zu den Sparkassen und von hier wieder zu den Banken zurückgelangen. Viele kleine Horte aber addieren sich gesellschaftlich zu sehr großen Summen, die also jetzt, anstatt der Bank als Deckung ihrer Verpflichtungen zur Verfügung zu stehen, irgendwo aufbewahrt werden. Dazu kommt vielleicht, daß in so guten Zeiten, wo jeder mit kleinen Ausgaben leichtsinniger ist als in schlechten, auch die sogenannte „Portemonnaie-Reserve" aller Schichten größer ist als normal. Diese Entzüge aus dem Barschatz der Banken bilden den sogenannten „inneren Abfluß" (internal drain). Dazu kommt der „äußere Abfluß" (external drain). Ein Land mit hohen Preisen ist ein Land, in dem der Ausländer mit Vorteil verkauft. Der Import steigt, der Export sinkt relativ: das bedeutet den Abfluß von Gold, bis die Bewegimg der Wechselkurse diesem Abfluß ein Ende macht,
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Auch Silber. Hawtrey führt die großen Schwankungen des Silberpreises ζ. B. in Indien sehr überzeugend auf die Schwankungen der Weltkonjunktur zurück (Hawtrey, Kredit und Währung).
Das Kapital: Fünfter
Abschnitt
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oder besser, bis die Hochkonjunktur, durch Ansteckung sozusagen, auch die anderen Länder ergriffen hat. Jede Hochkonjunktur und Kreditexpansion hat die Tendenz, sich international auszuwirken. Jedenfalls versuchen die Banken in diesem Augenblick, ihre Kredite einzuschränken: durch Erschwerung der Bedingungen, d. h. durch Forderung höherer Sicherheiten, vor allem aber durch Erhöhung des Zinsfußes für Diskont und Giroguthaben. Dieses Mittel wirkt sehr stark auf den eigentlichen Regulator des Marktes, den Großhändler, der mit sehr bedeutendem, und zwar zum größten Teile kreditiertem zirkulierenden, und nur geringem fixen Kapital arbeitet, der deshalb an der Wareneinheit nur eine relativ geringe Gewinnmarge hat und darum von einer Erhöhung des Banksatzes in seinen Kalkulationen stark getroffen wird; außerdem kann er einer Verringerung seines Lagerbestandes mit der größten Ruhe zuschauen. Aber das Mittel wirkt in viel geringerem Maße auf den Fabrikanten. Er arbeitet mit großem und in der Regel eigenem fixen und im Verhältnis dazu nur mit geringem geborgten zirkulierenden Kapital. Seine Gewinnmarge an der Wareneinheit ist viel größer als die des Großhändlers, und so wirkt die Erhöhung des Diskonts nur in geringerem Maße auf ihn ein. Außerdem hat er das stärkste Interesse, seine Fabrik nicht stillstehen oder auch nur mit halber Kraft arbeiten zu lassen. Im letzten Falle wachsen, weil die Generalunkosten sich nur wenig vermindern, seine Selbstkosten an der Wareneinheit in gefährlicher Weise; im ersten Falle verliert er seinen Stamm eingearbeiteter Werkleute und muß vom Kapital zehren. Er wird also dem Großhändler, der mit neuen Aufträgen zaudert, im Preise soweit wie irgend möglich entgegenkommen. Dennoch wird in nicht zu ungünstigen Zeiten das Mittel der Kreditkontraktion ausreichen, um eine ausgesprochene Krise zu verhüten. Aber selbst in diesem Falle werden die Geldpreise der Ware sinken, und der Warenpreis des Rechengeldes steigen, und es kommt anstatt zu der ausgesprochenen akuten „Krise" nur zu einer chronischen „Depression" oder „Stagnation". Wenn das Mittel aber versagt, weil die Krediteinschränkung zu spät oder nicht sofort mit ausreichender Gewaltsamkeit vorgenommen wurde, oder, weil im Augenblicke, wo sie eintrat, noch zu viele schon abgeschlossene Lieferungen ausstanden, die noch finanziert werden mußten, oder weil eine große Bank allzu unvorsichtig war, oder, weil der Abfluß von Gold ins Ausland nicht rechtzeitig und stark genug abgebremst werden konnte, oder aus anderen, vielleicht politischen, Gründen - dann ist die Krisis da, und der Sturz der Warenpreise einerseits und der Aufstieg des Rechengeldes und des mit ihm verkoppelten Goldes andererseits vollzieht sich katastrophal. Jetzt kommt ein neues hinzu: der Kapitalmarkt wird in die gleiche Unordnung und Zerstörung gestürzt wie der Warenmarkt. Wenn die Preise der Waren fallen, und dabei noch ihr Absatz einschrumpft, verkleinert sich die Basis der Kapitalisierung, der Ertrag der Unternehmungen, von beiden Seiten her in der stärksten Weise. Selbst bei gleichbleibendem Fuße müßte dabei der Kapitalisierungswert des Kapitals sich sehr stark vermindern. Aber auch der Fuß sinkt rapide, weil auch hier der gleiche Circulus vitiosus besteht wie auf dem Warenmarkte: weil jeder Gold haben muß, um seinen Verpflichtungen nachzukommen, weil also jeder Gold festhält, der es besitzt, und jeder Kapitalstücke zum Verkauf ausbietet, der Gold braucht, steigt Gold und sinkt Kapital im Preise, d. h. sinkt der Fuß der Kapitalisierung. Je mehr aber Gold steigt und Kapital sinkt, um so leidenschaftlicher wird jenes nachgefragt und dieses angeboten. Noch nicht genug! Das Privatpublikum hat während der Zeit der Blüte „spekulative Engagements" unterhalten. Es hat durch seine Bank Effekten angekauft, um an der erwarteten Kurssteigerung zu verdienen, aber den Kaufpreis nicht bar ausgezahlt, sondern nur eine geringe Anzahlung geleistet; die Bank behält die „Stücke" in Verwahrung, d. h. in Lombard, bis sie ganz befriedigt ist. So lange die Preise steigen, geht alles gut: jetzt aber fallen sie. Sobald der sinkende Wert des Pfandes sich dem Punkte der Forderung nähert, die die Bank hat, fordert sie Nachschuß; kann er nicht
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
geleistet werden, so schreitet sie, dazu ist sie berechtigt, zum Zwangsverkauf, und das wirft natürlich in solchen Zeiten den Wert des Effekts noch tiefer und schraubt den Wert des Goldes noch höher. Dazu kommt der Niederbruch der Spekulantenfirmen, die à la hausse, d. h. auf steigende Preise, spekuliert haben und nun die ungeheuren „Differenzen" zwischen dem von ihnen vereinbarten Abnahmepreise und dem Kurse herauszahlen sollen. Und dann bricht die Panik aus, ein „schwarzer Tag" verwüstet die Börse, und die kleinen soliden Kapitalisten, die wirklichen Sparer, die ihre Effekten bar ausbezahlt haben, verlieren den Mut und den Kopf und werfen auch gute Effekten auf den Markt, entsetzt über den Fall ihres Kurses, der unter solchen Umständen gar nichts Erschrekkendes hat. Und das ist dann der letzte Nagel zum Sarge der Konjunktur, und die Ruhe des Friedhofs liegt nach den furchtbaren Erschütterungen auf der Marktwirtschaft. Sie liegt in tiefer Lethargie. Aber schon sind die Bedingungen geschaffen, um sie wieder ins Leben zurückzurufen; die tief gestörte, aber, solange der Supraorganismus lebt, nicht zerstörte Selbststeuerung setzt ein. Der Kapitalisierungsfuß sicherer, fest verzinslicher Werte steht hoch - denn alles Gold, das gerettet werden konnte, ist in Sparkassen, feinen Staatsanleihen und erststelligen Hypotheken angelegt worden, soweit es nicht als Hort versteckt ist, und darum steht der Zins, der eben noch auf paroxysmatischer Höhe stand, jetzt sehr tief. Nun verschwindet allmählich die Uberfülle der Produkte vom Markte. Die Preise der Verwendungswerte heben sich zaghaft. Die Basis, der Ertrag der Produktivkapitale, dehnt sich langsam aus, ihr Kapitalisierungswert steigt ein wenig. Noch aber stehen Beschaffungsgüter und -dienste sehr tief im Preise: man kann also mit einer relativ kleinen Geldsumme das materielle Substrat zusammenbringen, das ein neues Privatkapital tragen kann. Und diese kleine Geldsumme kann zu sehr günstigen Bedingungen, zu sehr geringem Zinse, geliehen werden, sobald der Kredit nur erst wieder ein wenig gefestigt ist. Und damit beginnt der neue Aufstieg. Jedoch wir wollen die Krise nicht schildern. Wir können hinsichtlich der näheren Charakterzüge auf vorhandene Studien verweisen und ebenso hinsichtlich der Veranlassungen, die die Lawine ins Rollen bringen, wie Mißernten, Kriege und Zollkämpfe usw. Wir wollten die Ursache der Krise zeigen; zeigen, wie sich die latente Energie aufhäuft, die sich dann auf irgendeinen äußeren Anstoß hin (vielleicht etwas früher) entlädt, als sie es aus inneren Verschiebungen getan hätte. Wir haben diese Ursache in dem Interessenzwiespalt der „kapitalistischen Verkäufer" gefunden, denen das Großgrundeigentum „freie Arbeiter" zur Ausbeutung auf den Markt wirft, und damit ist unsere Aufgabe gelöst. Nur das eine sei noch bemerkt, daß von dem grundsätzlichen Standpunkt aus, den dieses Werk vertritt, hier augenscheinlich die Schwierigkeit nicht besteht, die viele Bearbeiter des Krisenproblems als unlösbar hingestellt haben: Daß Hunderte von Millionen „Kapitals" in der Krise „vernichtet" werden, kann nur denjenigen in Schwierigkeiten der Erklärung bringen, der das Werkgut für Kapital hält, aber nicht den, der, wie wir, weiß, daß es nichts anderes ist als kapitalisierter Profit. Wir haben das Kapital früher einem Luftballon verglichen: er ist explodiert, weil sein Eigentümer, die Kapitalistenklasse, allzuviel Gas hineinzupumpen versuchte, um möglichst hoch zu steigen; der Profit entwich, der Ballon schlug in reißendem Fall zu Boden nieder, und seine Insassen kamen zu Schaden und erlitten zum Teil den wirtschaftlichen Tod.
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f. Die Störungen im Verhältnis von Produktion und Distribution Zwei Einwände hat die bürgerliche Theoretik von jeher den Gedanken und Hoffnungen des Sozialismus entgegengestellt: Erstens: die Menschen müßten ihren Charakter völlig ändern, um den sozialen Staat aufrechterhalten zu können, sie müßten „Engel" werden. Zweitens: die Hoffnungen auf allgemeinen Reichtum seien pure Utopie. Die Abzüge des Mehrwertes seien nicht groß genug, um das Los der Masse wesentlich zu verschlechtern. Selbst wenn man den ganzen Ertrag der schaffenden Arbeit nur auf die Arbeiter verteilen würde, würde ihr Einkommen nicht so überaus stark wachsen, wie sie anzunehmen geneigt seien. Der erste Einwand trifft nur den kollektivistischen oder kommunistischen Sozialismus, der den Markt und die Konkurrenz auf dem Markte abschaffen will oder als fortfallend vorstellt, nicht aber den freien Sozialismus, der hier vorgetragen wird. Der zweite Einwand ist falsch. Volkstümlich ist er in der bekannten Rothschild-Anekdote ausgedrückt. Er hörte, wie einige sozialistische Arbeiter, die mit Ausbesserungsarbeiten an seinem Pariser Palais befaßt waren, sich darüber unterhielten, wie schön es sein würde, wenn man mit Rothschild teilen könnte. Er ließ sie kommen und erklärte ihnen, er sei bereit zu teilen, gab aber den glückstrahlenden Männern nur je 10 Fres., mit der ganz korrekten Aufklärung, daß noch nicht einmal so viel auf jede französische Familie entfiele, wenn er mit allen teilen würde. Wissenschaftlich hat ein Denker vom Range Eduard von Hartmanns den hier praktisch verwendeten Gedanken zum Ausgangspunkt eines Gedankensystems der Volkswirtschaft gemacht. Er weist die sozialistischen Aspirationen mit der Darlegung zurück, daß nicht mehr verteilt werden könne, als vorher erzeugt worden sei. Nun sei aber die Erzeugung, namentlich der Nahrung, durch natürliche Bedingungen in sehr enge Grenzen gebannt; und daher sei die sozialistische Hoffnung auf einen Zustand des allgemeinen Reichtums eine leere Utopie. Hier wird die wichtigste Beziehung der Marktwirtschaft völlig verkannt. Wie fast alle Beziehungen im Organischen und Supraorganischen Kreisprozesse sind, d. h. die Wirkung wieder zur Ursache ihrer Ursache wird, so besteht auch hier in der politischen Ökonomie eine Beziehung, die rückwärts von der Verteilung zur Erzeugung geht, und die man nicht übersehen darf, wenn sie auch mehr im Verborgenen liegt, als die eben behandelte Beziehung, die von der Erzeugung zur Verteilung geht. So wahr wie es nämlich ist, daß nicht mehr verteilt werden kann, als vorher erzeugt worden ist, so wahr ist es auch, daß nicht mehr erzeugt werden kann, als nachher verteilt werden kann.
1. Die politisch-ökonomische Grenze der Produktion Versuchen wir, uns an einem krassen Grenzfall zu orientieren. Stellen wir uns vor, daß durch irgendwelche Einflüsse die Gesamtkaufkraft eines Volkes geringer würde, als ihre Gesamtherstellungskraft; es möge ein Tyrann oder aufgeklärter Despot die Macht haben, ein überaus strenges Luxusgesetz durchzuführen, das den Verbrauch jedes einzelnen Mitgliedes der Gesellschaft auf ein anständig bemessenes Maximum bescheidener Lebensgenüsse einschränkt. Export sei nicht möglich. Dann muß momentan die Erzeugung auf einen Umfang einschrumpfen, der dem herabgeminderten Gesamtbedarf entspricht. Die Menschen müßten, um so viel weniger zu produzieren, entweder einen großen Teil ihrer bisherigen Arbeitszeit verfaulenzen, oder, und das ist für unsere Betrachtung überaus wichtig, die verbesserten Werkzeuge der Gegenwart fortlegen und sich mit den primitiveren Werkzeugen der Vorzeit begnügen, müßten mit anderen Worten ihre Produktivität, ihre Erzeugungskraft, auf die eine oder andere Weise entsprechend herabschrauben.
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Zweiter Teil:
Marktwirtschaft
Während sonst die Erzeugung lediglich an eine natürliche Grenze stößt, diejenige der maximalen Leistungskraft und des maximalen Leistungswillens der Erzeuger, stößt sie hier an eine künstliche, rechtliche, politisch gesetzte Grenze. In unserem Gedankenspiel wird sie sogar in eine noch engere Grenze zurückgebannt. Wenn wir uns aber vorstellen, daß unser aufgeklärter Despot den im Augenblick vorhandenen Standard der Güterversorgung gesetzlich festlegt, so wird sie nicht zurückgeschraubt, aber ein für allemal innerhalb der künstlichen Grenze festgehalten. Schon bei sehr frühen Schriftstellern des Sozialismus taucht der Gedanke auf, daß die Massenarmut durch solche künstliche Beschränkung mit verschuldet sein könnte. Ich finde die ersten Andeutungen bei Charles Hall, dem genialen frühenglischen Agrarsozialisten, finde sie dann als leitenden Gedanken bei William Thompson und wieder als Ausgangspunkt seiner sozialen Konstruktion bei Theodor Hertzka, der ihn, wie fast alle Elemente seiner Lehre, von Eugen Dühring übernommen hat. Hier erscheint als die künstliche Grenze der Erzeugung die durch das kapitalistische System bedingte Verkürzung der Kaufkraft der Volksmassen. Der Gedanke ist der, daß als Käufer im wesentlichen nur die Volksm