Gesammelte Schriften: Dritter Band: Verwaltungsrecht – Zeitgenossen und Gedanken. Erster Teilband. Hrsg. von Dorothea Mayer-Maly / Herbert Schambeck / Wolf-Dietrich Grussmann [1 ed.] 9783428520459, 9783428120451


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German Pages 821 [824] Year 2006

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Gesammelte Schriften: Dritter Band: Verwaltungsrecht – Zeitgenossen und Gedanken. Erster Teilband. Hrsg. von Dorothea Mayer-Maly / Herbert Schambeck / Wolf-Dietrich Grussmann [1 ed.]
 9783428520459, 9783428120451

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A d o l f Julius M e r k l Gesammelte Schriften

Über A d o l f Julius M e r k l

M i t dem wiederum in zwei Teilbänden erscheinenden dritten Band findet das 1993 begonnene Projekt der Herausgabe der vordem teilweise nur schwer zugänglichen, annähernd 600 Schriften von Adolf Julius Merkl ihren Abschluß. Bisher erschienen sind Merkls Schriften zu Rechtsphilosophie und Rechtstheorie (Band 1/1, 1993), zu Staatslehre und Politischer Theorie (Band I / 2, 1995) sowie Merkls Beiträge zu Verfassungs- und Völkerrecht (Band I I / 1, 1999 und Band I I / 2 , 2002). Dieser Band enthält in seiner Gesamtheit die verwaltungsrechtlichen Schriften Merkls, die veröffentlichten Würdigungen vieler seiner bedeutenden Zeitgenossen sowie verschiedene - auch dem interessierten Publikum zum Teil wohl weitgehend unbekannte - Bekenntnisschriften Merkls.

Adolf Julius Merkl, geb. am 23. März 1890 in Wien, war Sohn eines Forstakademikers. Den Großteil seiner Jugendjahre verbrachte er in der für sein späteres Wirken so bedeutenden Landschaft an der Rax in Niederösterreich. 1908 Beginn seines Jusstudiums an der Universität Wien, Promotion im Mai 1913. Bestimmend waren für ihn seine Lehrer Edmund Bernatzik und Hans Kelsen sowie der Philosoph Friedrich Wilhelm Förster. M i t Hans Kelsen blieb er sein Leben lang verbunden und trug wesentlich zur Entwicklung seiner Rechtslehre bei.

Die Bedeutung der verwaltungsrechtlichen Schriften Merkls belegt die im Jahre 1999 erfolgte Neuauflage von Merkls Standardwerk „Allgemeines Verwaltungsrecht". Durch diese 1927 erstmals erschienene Monographie verschaffte sich Merkl dauerhafte und internationale Anerkennung. Der nun vorgelegte erste Teilband enthält alle nicht in monographischer Form veröffentlichten Beiträge zum allgemeinen Verwaltungsrecht unter besonderer Beachtung des Verwaltungsverfahrens und der Verwaltungsreform der Zwischenkriegszeit sowie die Schriften zu Einzelfragen des besonderen Verwaltungsrechtes bis 1929. Von den Schriften zum allgemeinen Verwaltungsrecht seien insbesondere die noch während der Monarchie verfaßten Beiträge „Das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913, und das richterliche Uberprüfungsrecht" sowie „Staatszweck und öffentliches Interesse", aber auch Merkls umfangreiche Buchbesprechungen, wie etwa diejenige zur „Festgabe für O t t o Mayer zum siebzigsten Geburtstag", sowie die 1936 erschienene Abhandlung „Die Verwaltungslehre des neuen Deutschland" hervorgehoben. Die Schriften zu Einzelfragen des Verwaltungsrechts beginnen mit einem Beitrag zur Einführung der Sommerzeit aus dem Jahre 1916 (!) und beinhalten vor allem Studien zum Gewerberecht und zum Forstrecht. Letztere erschließen insbesondere auch Merkls erste Veröffentlichungen zu Fragen des Natur- und U m weltschutzes.

D u n c k e r & H u m b l o t • Berlin

Merkl war nach seinem Studium zuerst bei Gericht, dann in verschiedenen Zweigen der Verwaltung beschäftigt, u. a. wurde er nach Ausrufung der Republik dem designierten Staatskanzler Dr. Karl Renner zum Dienst zugeteilt. 1919 erfolgte seine Habilitation an der rechtsund staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien für die Fächer Allgemeine Staatslehre, Österreichisches Verfassungsrecht, Verwaltungslehre und Osterreichisches Verwaltungsrecht mit der Schrift „Die Verfassung der Republik Deutsch-Österreich". 1921 wurde er zum a. o. Professor, 1932 zum Ordinarius an der Wiener Rechtsfakultät ernannt. 1938 wurde er durch das NS-Regime seines Lehramtes enthoben. Erst 1943 konnte er einem Ruf an die Universität Tübingen folgen. 1950 kehrte er nach Wien zurück, wo er 1960 emeritierte, seine Lehrtätigkeit bis 1965 fortsetzte. Seine Publikationstätigkeit begann er bereits 1914. Gemeinsam mit Hans Kelsen und Georg Froehlich gab er einen Kommentar zum österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz heraus. 1935 veröffentlichte er einen kritisch-systematischen Grundriß der ständisch-autoritären Verfassung Österreichs. 1927 erschien sein Buch „Allgemeines Verwaltungsrecht", das in zahlreiche Sprachen übersetzt und das 1969 von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt neu abgedruckt wurde. Merkl war u. a. Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Träger des Großen silbernen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich und des Komturkreuzes mit Stern des päpstlichen Silvesterordens. Er war Ehrendoktor der Universitäten Innsbruck, Tübingen, Salzburg und Thessaloniki. Merkl starb am 22. August 1970 in Wien.

D u n c k e r & H u m b l o t • Berlin

ADOLF JULIUS MERKL • GESAMMELTE SCHRIFTEN

Adolf Julius Merkl

GESAMMELTE SCHRIFTEN Dritter Band

Verwaltungsrecht - Zeitgenossen und Gedanken Erster Teilband Herausgegeben v o n

Dorothea Mayer-Maly • Herbert Schambeck Wolf-Dietrich Grussmann

Duncker & H u m b l o t • Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Wien

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Ch. Weismayer, A-1080 Wien Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-07753-9 (Gesamtausgabe) ISBN 3-428-07912-4 (Bd. 1/1) ISBN 3-428-08128-5 (Bd. 1/2) ISBN 3-428-09042-X (Bd. 2/1) ISBN 3-428-10661-X (Bd. 2/2) ISBN 3-428-12045-0 (Bd. 3/1) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 © Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhalt A. Verwaltungsrecht 1. Allgemeines Verwaltungsrecht Verwaltungsverfahren - Verwaltungsreform 1. Das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913, und das richterliche Überprüfungsrecht

3

2. Rezension von: Festgabe für Otto Mayer zum siebzigsten Geburtstag

19

3. Die Stellung der Beschwerdekommissionen im Behördensysteme

33

4. Staatszweck und öffentliches Interesse

61

5. Die gedanklichen Grundlagen der Forderung einer demokratischen Verwaltung ...

77

6. Die Stellung der Verwaltungsjuristen in der künftigen Verwaltung

87

7. Verwaltungsreform und zwecklose Verwaltung

99

8. Die Weisung in der Verwaltung

107

9. Zum Problem der Verwaltungsreform

113

10. Parlamentarische Bagatellisierung der Verwaltung

125

11. Rezension von: Rudolf Hermann Herrnritt, Grundlehren des Verwaltungsrechtes

131

12. Die Verwaltungsgesetzgebung der österreichischen Republik

141

13. Rezension von: Friedrich Tezner, Das freie Ermessen der Verwaltungsbehörden ... 233 14. Die neuen Verwaltungsgesetze in ihrer Bedeutung für das Wirtschaftsleben

239

15. Verwaltungsrecht

263

16. Diskussionsbeitrag: Überprüfung von Verwaltungsakten durch die ordentlichen Gerichte

285

VI

Inhalt

17. Wesen und Wirkungen der Verwaltungsreform in Österreich

291

18.

311

Österreichisches Verwaltungsrecht

19. Rezension von: Walter Jellinek, Verwaltungsrecht

319

20. Wege und Irrwege der Verwaltungsreform

327

21. Pläne und Ziele der Verwaltungsreform

337

22.

349

Le régime administratif

23. Die Verwaltungslehre des neuen Deutschland

373

24. Rezension von: Walter Antonioiii, Allgemeines Verwaltungsrecht

419

2. Besonderes Verwaltungsrecht 25. Die neue Zeitrechnung

425

26.

437

Das Wesen des Religionsaustrittes

27. Das Gewerberecht des feindlichen Ausländers

447

28.

453

Studien aus dem österreichischen Gewerberecht

29. Das Recht der Kriegstrauungen

501

30. Der „Pranger"

521

31. Verkaufsverweigerung und Verkaufsbeschränkung

525

32. Die Grundlagen des Regreßanspruches der Krankenkassen nach österreichischem Recht

543

33. Gewerberecht und Kriegsdienst

559

34. Ein Gesetzentwurf über die Gewerbeinspektion

581

35. Der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft in Beziehung zur Auswanderung

587

36. Das österreichische Forstwesen in der Bundesverfassung

643

37. Vom Sterben der Bäume

653

Inhalt

VII

38. Der Wien nächstgelegene Tannenbestand verwüstet

657

39. Der bedrohte Wald

659

40. Die Universitätsgesetzgebung

661

41. Ein Walderhaltungsgesetz

663

42. Aufgaben und Möglichkeiten eines gesetzlichen Schutzes der Naturdenkmäler... 665 43. Der Alpinismus als Kulturfunktion

675

44. Ein Schritt zum Schutze der Natur

681

45. Kulturpolitik

687

46. Das Gehaltsgesetz

689

47. Die Neuordnung der Bundesforstverwaltung und die Interessen des Naturschutzes

699

48. Der Ertrag der letzten Nationalratstagung für den Naturschutz

707

49. Das Forstwesen in der Rechtsentwicklung der österreichischen Republik

715

50. Ist die Reform der Bundesforstwirtschaft Vertragspflicht?

743

51. Das Naturschutzgesetz

749

52. Die Reform der Bundesforstwirtschaft

763

53. Rezension von: Ludwig Bendix, Das Streikrecht der Beamten

769

54. Die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft für Deutsche und Österreicher

779

55. Die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft für Deutsche und Österreicher

787

56. Der Ausbau der österreichischen Sozialversicherung

801

57. Erreichtes und Erstrebtes im Naturschutz

809

A. Verwaltungsrecht 1. Allgemeines Verwaltungsrecht Verwaltungsverfahren - Verwaltungsreform

Das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913, und das richterliche Überprüfungsrecht Zugleich ein Beitrag zur Lehre über den Unterschied von Justiz und Verwaltung

In der Gegenschrift gegen die Beschwerde1 der ehemaligen böhmischen Landesausschußmitglieder wegen der behaupteten Verletzung des durch die Verfassung gewährleisteten politischen Rechtes zur Ausübung des Landesausschußmandates durch das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913 betreffend die Fortführung der Landesverwaltung des Königreiches Böhmen führte die Regierung aus, daß „das angefochtene kaiserliche Patent... nicht als Verordnung im Sinne des Staatsgrundgesetzes anzusehen" sei, „demnach die Überprüfung der Gültigkeit des Patentes nicht in die Kompetenz des Reichsgerichtes falle". Die Regierung sieht mit richtigem Blick in dem böhmischen Patente wie das zitierte kaiserliche Patent im folgenden kurz genannt sei - eine „Rechtsquelle" sui generis und hat diese ihre Ansicht schon äußerlich durch die - der absolutistischen Nomenklatur entnommene - Bezeichnung „Patent" kundgetan. Schon mit der Erlassung des Patentes hat bekanntlich die Regierung seine Eigenart und Inkongruenz mit den hergebrachten Rechtsquellen so unumwunden zugegeben2, daß die Frage, ob es sich um eine verfassungsmäßige

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, 2. Jg. (1915), S. 295-308. 1

Verhandlung über diese Beschwerde vor dem österreichischen Reichsgericht am 1. April 1914. 2 Wiener Zeitung vom 26. Juli 1913, insbesondere der Passus: „Die Regierung verhehlt sich nicht, daß sie einen Weg gegangen ist, der bisher nicht beschritten wurde, und daß die

4

III.A. Verwaltungsrecht

Rechtsquelle, im besonderen also um ein Gesetz oder eine Verordnung handle, kaum noch offen geblieben, vielmehr nur die Frage gegeben zu sein schien, ob man bei solcher Sachlage überhaupt noch im Sinne der österreichischen Staats- oder böhmischen Landesrechtsordnung vom Patent als einer Rechtsquelle sprechen dürfe. Die Umsetzung des Patentes in die Praxis konnte nicht in Zweifel stehen und kann wohl als rechtlich korrekt bezeichnet werden. Es ist ja eine bekannte Streitfrage, inwieweit das Verwaltungsorgan dem abstrakten Rechtsgebote oder dem konkreten Befehle des übergeordneten Verwaltungsorganes in dem Falle zu gehorchen habe, daß zwischen diesen beiden Willenskundgebungen ein Widerspruch besteht oder zu bestehen scheint; und eine nicht von der Hand zu weisende Lösung dieser Frage geht dahin, daß der Befehl des übergeordneten Organes im Zweifel eben das Kriterium der Rechtmäßigkeit hat, wie auch die - vom Standpunkte der Partei und jedem anderen außergerichtlichen, so insbesondere kritisch-wissenschaftlichem Standpunkt aus - rechtsirrige richterliche Entscheidung unzweifelhaftes, unanfechtbares Recht schafft. Wenn ein Verfassungsgesetz erklärt: „Der Kaiser übt die Regierungsgewalt aus", so ist damit wohl für den Regierungs-(Verwaltungs-)Beamten der kaiserliche Wille, dem es selbstverständlich nicht verwehrt ist, sich in Patenten kundzutun, als Erkenntnisgrund des Staatswillens, das ist des Rechtes hingestellt.3 Dieser Prozeß, der darin besteht, daß sich das Recht, der Wille des Staates, in concreto dem Verwaltungsorgane durch den Mund des Kaisers oder seiner Stellvertreter bis zum unmittelbaren Vorgesetzten des handelnden Organes herab zu erkennen gibt, wiederholt sich dann in umgekehrtem Ablauf, indem das Verwaltungsorgan das Rechtsrealisat dem Staate durch die Vermittlung des Kaisers wie aller übrigen Vorgesetzten zurückgibt.

getroffenen Maßnahmen sich auf einer Linie bewegen, die nicht innerhalb, sondern neben der Landesverfassung verläuft." 3 Staatswille wird hier in dem von Kelsen in seinen Hauptproblemen der Staatsrechtslehre, VI. Kapitel, S. 162-188, entwickelten unpsychologischen, normativen Sinne verstanden.

Das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913, und das richterliche Überprüfungsrecht

5

Wenn das Gesetz sagt: „Der Kaiser übt die Regierungsgewalt aus", so ist er damit als Chef der Exekutive zu einem Durchgangspunkte für die Zurechnung von allen anderen Exekutivorganen zum Staate4 gemacht, und im Gegensatze dazu kann der vielsagende Satz: „Die Richter sind in Ausübung ihres richterlichen Amtes selbständig und unabhängig", die Erkenntnis bieten, daß von der Justiz die Zurechnung unmittelbar 5 zum Staate geht.6 Schon die besondere Hervorhebung der richterlichen Unabhängigkeit, die es ausschließt, daß dem Richter bindende Weisungen für die Behandlung des einzelnen Falles (z.B. Verurteilung eines Hochverräters zu einer ganz bestimmten hohen Strafe) oder generelle Anordnungen (z.B. glimpfliche Behandlung des Duells) gegeben werden, läßt a contrario schließen - das ergibt sich übrigens auch positiv aus anderen Gründen - , daß gegenüber dem Verwaltungsbeamten solche individuelle und generelle Direktiven für seine Amtstätigkeit rechtlich möglich sind. Während aber auf diese Weise der Richter bei Ausübung seines richterlichen Amtes, soweit es sich um darauf bezügliche Normen 7 handelt, höchstens vor Widersprüche innerhalb des Gesetzesrechtes gestellt sein kann, weil er anderweitige Anordnungen a priori ignorieren darf 8, ist der Verwaltungsbeamte durch diese Zweiheit oder eigentlich Vielheit 9 der ihn bei Ausübung seines Amtes bindenden, wenn 4

Die Besonderheit der Zurechnung bei den Selbstverwaltungskörpern muß hier außer Betracht bleiben. 5

Also ohne die Vermittlung durch den Kaiser.

6 Dem widerspricht nicht die einer staatsgrundgesetzlichen Anordnung gemäße Tatsache, daß gerichtliche Erkenntnisse ,,im Namen des Kaisers" ergehen. Es sei hier nur daran erinnert, daß in alter Zeit Urkunden und auch in neuerer Zeit noch Staats Verträge „ i m Namen Gottes" errichtet wurden; doch fiel es niemandem ein, in diesen Fällen Gott als Aktor anzusehen, sondern jedermann hielt die Menschen für diejenigen, die hier agierten und paktierten. - Es ist eine bloße, an der juristischen Konstruktion des richterlichen Erkenntnisses nichts ändernde Solennitäts- oder auch Beglaubigungsformel und steht auf gleicher Stufe mit andern Formerfordernissen wie etwa einem Siegelaufdruck. 7

In erster Linie die Prozeßordnungen.

8 Das freie Ermessen des Richters geht infolge dieser seiner Unbeschränkbarkeit formell weiter als das des Verwaltungsbeamten, das beliebig einschränkbar ist; eine Sachlage, die mit der herrschenden Auffassung, wonach das richterliche Ermessen in seiner Freiheit dem des Verwaltungsbeamten prinzipiell nachstehe, nämlich im Gegensatz zum „freien" nur als „gebundenes" zu betrachten sei, allerdings nicht in Einklang zu bringen ist. 9

Der Befehl jedes Vorgesetzten bis zum Chef der Exekutive hinauf.

6

III.A. Verwaltungsrecht

auch voneinander abgeleiteten Rechtsquellen vor eine Reihe von logischen Widerspruchsmöglichkeiten gestellt. Man könnte nun allerdings sagen, die abstrakte oder konkrete Anordnung des vorgesetzten Verwaltungsorganes sei insoweit nicht rechtsverbindlich, oder anders ausgedrückt: dieses Organ sei insoweit nicht Vorgesetzter, weil nicht Realisator eines Staatswillens, nicht Staatsorgan, als seine Anordnung mit derjenigen des ihm übergeordneten Organes und in letzter Linie des allen Staatsorganen übergeordneten Gesetzesrechtes nicht in Einklang stehe. Da erhebt sich aber die ernste Frage, die vorhin schon berührt wurde, ob jedes staatliche Organ für seinen Dienstbereich berufen ist, darüber zu urteilen, was von den Weisungen des übergeordneten Organes rechtens sei, was nicht, ob es nicht eine solche Weisung, da sie die Form, vielleicht auch nur den Schein der Rechtmäßigkeit an sich trägt, als rechtmäßig hinzunehmen habe, wie ja auch dem Rechtssuchenden der unanfechtbare Spruch des Organes Recht gibt - mag er aus der Rechtsordnung für sich auch etwas anderes herauslesen. Wenn schon der Richter vor der Form des Gesetzes Halt machen muß und seinem Inhalte nicht auf den Grund gehen darf, wenn ihm das Gesetz zu sein hat, was sich als Gesetz geriert - ist es nicht sonderbar, daß der Verwaltungsbeamte schon früher, schon in einem nicht so schwerwiegenden Falle, gegenüber dem abstrakten oder konkreten Gebot einer Person, die das Ansehen oder den Schein eines Staatsorganes hat, die er Staatsfunktionen ausüben zu sehen gewohnt ist, zu schweigen und zu gehorchen hat. Man sagt, der Richter würde über dem Gesetze stehen, wenn er das Recht hätte, auch die Gesetze zu prüfen. Formal ist das nun allerdings nicht richtig. Es wäre ja doch nur ein Pseudogesetz, über das er sich hinwegsetzte, an echte Gesetze wäre er nach wie vor gebunden.10 Materiell allerdings würde der Richter durch ein auf das Gesetz sich erstreckendes Prüfungsrecht über das Gesetz zu stehen kommen, da es ja doch damit, daß es in seine Macht gegeben ist, Gesetze (oder was sich eben so nennt) anzuerkennen oder nicht,

10

Der Ausschluß des Gesetzesprüfungsrechtes ist allerdings kein natürliches Postulat, keine Forderung der Logik, sondern eine Frage des positiven Rechts, die bekanntlich mitunter, z.B. von der nordamerikanischen Bundesverfassung, anders beantwortet ist als durch die österreichische Verfassung.

Das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913, und das richterliche Überprüfungsrecht

7

in seine Möglichkeit gestellt ist, etwas, was sich logisch als Gesetz darstellt, nicht als solches gelten zu lassen.11 Der Verwaltungsbeamte, der berechtigt wäre, abstrakte Anordnungen oder konkrete Befehle der vorgesetzten Organe 12 auf ihre Gültigkeit - es sei hier noch dieser farblose Ausdruck den später einzusetzenden Ausdrücken Gesetzmäßigkeit oder Rechtmäßigkeit vorgezogen - zu prüfen, wäre damit gewissermaßen über seinen Vorgesetzten hinausgewachsen und sein eigener Vorgesetzter geworden, indem er zu entscheiden hätte, was im einzelnen Falle seine Dienstpflicht ist, und es immer von neuem wieder in sein Belieben gestellt wäre, den Befehl seines Vorgesetzten, ja überhaupt seiner Vorgesetzten als solchen anzuerkennen oder nicht. Die Grenzen dieser Gehorsamspflicht - sie hat nämlich Grenzen, und zwar nicht bloß solche moralischer, sondern auch solche juristischer Natur diese Grenzen aufzusuchen, verbietet der hier verfügbare Raum. Es möge daher folgende Feststellung genügen: in der Anwendung des böhmischen Patentes durch die Verwaltung braucht man, mag es selbst noch so rechtswidrig sein, keine Rechtswidrigkeit zu erblicken; die Verwaltung hat sich mit der kritiklosen Anwendung des Patentes im Rahmen des Rechtes bewegt, hat, wenn man so sagen will, tatsächlich ,,Recht angewendet". Ganz anderes gilt von den Gerichten. Zuvörderst ist von den obersten Verwaltungsgerichten eine Antwort auf die Frage nach der Gültigkeit des böhmischen Patentes zu erwarten. Der Verwaltungsgerichtshof hat bekanntlich in einem wichtigen Präjudiz 13 , dessen Bedeutung schon eine reichhaltige literarische Diskussion

11 Eine gewisse Stellung über dem Gesetz kann allerdings trotz des Mangels eines Prüfungsrechtes keinem Richter, wie überhaupt der Rechtsanwendung, genommen werden, da es - wenigstens in der höchsten Instanz - stets nicht nur vom gutenWillen des Rechtsanwenders abhängt, ob er ein Gesetz anwendet, sondern auch von seiner freien Wahl abhängt, welches und wie er es anwendet. 12

Koordinierten oder gar subordinierten Organen gegenüber behält das Verwaltungsorgan ohneweiters diese Freiheit. Den Ausführungen Zolgers, „Österreichisches Verordnungsrecht, verwaltungsrechtlich dargestellt", Innsbruck 1898, S. 319 ff. ist insoweit rückhaltlos zuzustimmen. 13

Beschluß vom 6. Oktober 1913, Z. 9709.

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III.A. Verwaltungsrecht

verursacht hat, den politisch und juristisch gleich bedenklichen Standpunkt eingenommen, daß das fragliche Patent ein Gesetz sei; dies geschah offenbar - steht ja doch die Prüfung gehörig kundgemachter Gesetze den Gerichten nicht zu - zu dem Zwecke, um sich überhaupt jeder Kritik des Patentes zu entheben; mit diesem Erkenntnisse hat sich aber der Verwaltungsgerichtshof - da ja auch nach seiner Ansicht das Gesetz unzweifelhaft die erste und oberste Rechtsquelle ist - für die Gültigkeit des Patentes entschieden. Das Reichsgericht hat in der eingangs zitierten, wie in den gleichzeitigen Entscheidungen die Beantwortung unserer Frage vermieden. Die öffentliche Meinung, die eine richterliche Entscheidung über die Gültigkeit des Patentes herbeigeführt zu sehen wünscht, glaubt einer solchen Entscheidung nur dadurch die Wege ebnen zu können, daß sie dem Patente den Charakter einer Verordnung arrogiert. Man sieht also folgendes: Das Bestreben, das böhmische Patent dem richterlichen Prüfungsrecht zu unterwerfen, greift nach dem Hilfsmittel, es als Verordnung zu konstruieren, indem man meint, vom Verordnungscharakter des Patentes sei der Bestand oder Nichtbestand des Prüfungsrechts abhängig; wer das richterliche Prüfungsrecht ausgeschaltet sehen will, der konstruiert das Patent wieder als alles eher denn eine Verordnung, der betrachtet es als eine eigentümliche, aus der Verfassung nicht ableitbare Emanation der Regierungsgewalt, der versteigt sich aber auch dahin, es als Gesetz zu bezeichnen. Beide entgegengesetzt tendierenden Auffassungen gehen zusammen mit der Vorstellung, daß der von den einen gewünschte, von den anderen perhorreszierte Verordnungscharakter des Patentes darüber entscheide, ob ein richterliches Prüfungsrecht gegeben sei oder nicht; beide Auffassungen stimmen überein in der falschen Einschätzung der Bedeutung der für die Frage nach dem richterlichen Überprüfungsrecht entscheidenden Vorfrage: „Ist das böhmische Patent eine Verordnung oder nicht?" Die Sache liegt, wie später zu beweisen sein wird, derart, daß mit dem Feststehen des Verordnungscharakters des Patentes seine richterliche Überprüfbarkeit zwar außer Zweifel stünde, daß aber, wenn sich das Patent nicht als Verordnung herausstellen sollte, seine Überprüfbarkeit eo ipso noch keineswegs ausgeschlossen wäre.

Das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913, und das richterliche Überprüfungsrecht

9

Die Regierung hatte vollkommen recht damit, daß sie das Patent nicht in das Gewand einer Verordnung kleidete und hat das Recht auf ihrer Seite, wenn sie ihm den Verordnungscharakter abstreitet - nur die eine Folgerung, daß damit die Überprüfbarkeit ausgeschlossen sei, ist nicht am Platze. Der Verwaltungsgerichtshof mit seiner unhaltbaren Konstruktion des Patentes als Gesetz hatte wieder insofern von seinem Standpunkt aus recht, als diese Konstruktion das einzige Mittel ist, das Patent der richterlichen Überprüfbarkeit zu entrücken. Diese Beziehungen zwischen der Frage nach dem juristischen Charakter des Patentes und der Frage nach seiner richterlichen Überprüfbarkeit sollen nunmehr noch deutlicher ins Licht gerückt werden. Über die Tatsache, daß das Patent ein Gesetz nicht ist, sind nicht viele Worte zu verlieren. Statt auf eine Unzahl von Belegstellen in der Literatur sei einzig und allein auf den zweiten Absatz des § 13 des Gesetzes vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 141, verwiesen, welcher sagt: ,,Zu jedem Gesetze ist die Übereinstimmung beider Häuser und die Sanktion des Kaisers erforderlich." Darüber, daß das Patent diesen Formerfordernissen eines Gesetzes nach österreichischem Verfassungsrecht nicht entspricht, ist ein Streit nicht möglich. Der rechtsstaatliche Gesetzesbegriff ist ein Formalbegriff, der ausschließlich durch das Zusammentreffen gewisser verfassungsmäßiger Formen gebildet wird, wofür nicht noch so viele materielle Elemente Ersatz sein könnten. Was gegenüber der Konstruktion des Verwaltungsgerichtshofes und insbesondere dessen eigentümlichem, die Formerfordernisse des österreichischen Verfassungsrechtes ignorierenden, aus politischen Gründen zurechtgelegten materiellen 14 Gesetzesbegriff zu sagen ist, hat erschöp-

14 Materiell im Verhältnis zu dem Gesetzesbegriffe, der sich aus dem zitierten § 13 ergibt; - an sich, d.h. im Verhältnis zu den konkreten Erscheinungen, deren Abstraktion ein Begriff ist, ist er ja immer formal und auch abgesehen davon ist der Gesetzesbegriff des Verwaltungsgerichtshofes insofern formal, als es jedoch nicht der Inhalt (Schaffung einer Landesverwaltungskommission), sondern die - wenn auch nach österreichischem Verfassungsrecht unvollkommene - Form einer als Patent sich bezeichnenden kaiserlichen Willensemanation ist, die den Verwaltungsgerichtshof ein Gesetz anzunehmen veranlaßte. Es darf hier also die von Kelsen, a.a.O. mehrfach betonte Relativität des Gegensatzes von „formell" und „materiell" nicht übersehen werden.

III.A. Verwaltungsrecht

10

fend ein Artikel in der „Neuen Freien Presse" Nr. 17.673 vom 5. November 1913 „Die böhmische Verwaltungskommission vor dem Verwaltungsgerichtshof; von einem Staatsrechtslehrer" (Dr. Hans Kelsen) ausgesprochen. Wenn nicht als Gesetz, so liegt am nächsten, das Patent als Verordnung aufzufassen. Die Regierung ist bekanntlich durch den Artikel 7 des Staatsgrundgesetzes über die Regierungs- und Vollzugsgewalt berechtigt, „auf Grund von Gesetzen Verordnungen zu erlassen". Die Berufung auf ein Gesetz, wie auch nur die innere Beziehung zu einem übergeordneten Gesetze wird man im Patente vergeblich suchen; wird ja doch im Regierungskommentar die Ableitbarkeit aus einem Gesetz geradezu negiert! Damit ist die Nicht-Gesetzlichkeit des Patentes (was noch nicht seine Nicht-Rechtmäßigkeit bedeuten muß) außer Zweifel gestellt, welche ja, auch wo eine ausdrückliche Verweisung auf ein Gesetz, „auf Grund" dessen die Verordnung ergehe, nicht stattfindet, noch nicht feststehen muß. In Parenthese sei hier nur festgestellt, daß die bloße innerliche Abhängigkeit und Ableitbarkeit von einem Gesetz genügt, um eine Verordnung als gesetzmäßig erscheinen zu lassen und daß die äußerliche Verweisung auf ein bestimmtes Gesetz nur eine verstärkte praesumtio iuris für die Gesetzmäßigkeit bedeutet, daß andrerseits auch nicht nötig ist, daß das Gesetz (zu dem die Verordnung ergeht, als dessen nähere Ausführung es erscheint) die Möglichkeit von Ausführungsverordnungen ausspricht, um diese gesetzmäßig erscheinen zu lassen, daß vielmehr schon im Artikel I I 1 5 des Staatsgrundgesetzes über die Regierungs- und Vollzugsgewalt die Generalermächtigung der Exekutive zur Erlassung von Ausführungsverordnungen gelegen ist, dies spricht schon allgemeiner Kelsen 16 mit den Worten aus,

15 Es sei hier bemerkt, daß jede auf Grund des Artikel 11 erlassene Verordnung als Ausführungsverordnung bezeichnet werden kann. Die Vollzugsklausel, deren Funktion als Ermächtigung der Exekutive zur Erlassung von Vollzugsverordnungen Bernatzik mit Recht verneint („Die österreichischen Verfassungsgesetze", S. 437, Anmerkung 10), hat schon deswegen nicht diesen Sinn, weil nicht nur, falls die Generalermächtigung zur Erlassung von Verordnungen fehlte, diese Generalermächtigung durch eine Vollzugsklausel nicht ersetzt werden könnte, sondern insbesondere, weil die durch den Art. 11 StGG über die Ausübung der Regierungs- und Vollzugsgewalt gegebene Generalermächtigung eine etwa in der Vollzugsklausel zum Ausdruck kommende Spezialermächtigung zur Erlassung von Verordnungen unnötig machen würde. 16

A.a.O., S. 558.

Das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913, und das richterliche Überprüfungsrecht

11

„daß es keinen Unterschied mache, ob die Verordnung auf Grund einer ausdrücklichen, für den speziellen Fall erteilten Delegation des Gesetzes erlassen wird oder sich auf eine allgemeine Ermächtigung stützt". Zolger 17 möchte auf die Anführung der gesetzlichen Delegation in der Verordnung, nicht aber auf die spezielle delegierende Gesetzesstelle verzichten und steht insofern im Einklang mit Bernatzik 18 , der ebenfalls eine gesetzliche Spezialdelegation als Voraussetzung der einzelnen Verordnung erklärt. Das Erfordernis der Spezialermächtigung würde aber die Generalermächtigung unserer Verfassung überflüssig machen. Nachdem einmal die Verfassung der Exekutive prinzipiell eine beschränkte Rechtssetzungsmöglichkeit eingeräumt hat, erscheint eine Ausführungsverordnung auch ohne spezielle Ausführungsermächtigung als gesetzmäßig, weil sie doch nur eine solche Anordnung trifft, die auch das nicht „ausgeführte" Gesetz schon in sich schließt. Wenn es durch das Handelsgesetzbuch in das freie Ermessen der Regierung gestellt war, eine Aktiengesellschaft zu konzessionieren oder nicht, so war es damit in ihrem Belieben, durch das Aktienregulativ gewillkürte Erfordernisse für die Konzessionserteilung aufzustellen. In diesen durch das Aktienregulativ vorgezeichneten Fällen war und ist ja auf Grund des Handelsgesetzbuches die Verweigerung der Konzession ebenso gesetzmäßig wie die Erteilung. Ein den Staatswillen zur Errichtung und zum Betrieb einer Eisenbahn vom Punkt A bis B zum Ausdruck bringendes Gesetz läßt es unter der Voraussetzung einer Generalermächtigung zur Erlassung von Verordnungen auf Grund von Gesetzen - ohneweiters frei, die Trasse, das Betriebsmittel usw. durch Ausführungsverordnung festzusetzen, da ja das den im Gesetz ausgedrückten Staatswillen realisierende Organ infolge der weiten Fassung des Gesetzs - nur an dieses gebunden - korrekterweise auch gerade die Trasse und das Betriebsmittel wählen könnte, die ihm von der sein Ermessen einengenden Verordnung bindend vorgezeichnet werden. Das Ausführungsverordnungsrecht reicht aber, wie schon der Name sagt, nur so weit, als das Gesetz Spielraum läßt, nur so weit, als das unmittelbar 17

A.a.O., S. 260.

18

Rechtsprechung und materielle Rechtskraft, S. 108.

12

III.A. Verwaltungsrecht

zur Realisierung des Gesetzes berufene Staatsorgan freies Ermessen hätte. Die Ausführungsverordnung bewirkt nur eine Verschiebung in der Verteilung des freien Ermessens innerhalb der Exekutive. Damit sind aber den Ausführungsverordnungen 19 nicht nur mehr oder minder enge Grenzen innerhalb des zu Grunde liegenden Gesetzes gesteckt, sondern auch jedes Betätigungsfeld außerhalb von Gesetzen genommen. Ein Verordnungsrecht praeter legem kann für sich das Attribut der Gesetzmäßigkeit, die es dem Wortsinne nach ja ausdrücklich ausschließt, niemals geltend machen. Seine Rechtmäßigkeit, die insofern mit Gesetzmäßigkeit also nicht zusammenfällt, hat für das österreichische Verfassungsrecht seine stärkste literarische Stütze in dem zitierten Werke Zolgers gefunden, wogegen die bedeutendsten Vertreter des österreichischen Staatsrechtes auf dem gegenteiligen Standpunkt stehen.20 Das nach Anführung eines historischen und politischen Argumentes von Zolger als vermeintlich schlagend ins Treffen geführte logische Argument, daß es ,,mehr als verwunderlich" wäre, ,,wenn die Gesetzgebung, falls es ihre Absicht gewesen wäre, eine prinzipielle Norm aufzustellen, diese nicht in einer klaren und jeden Zweifel ausschließenden Weise zum Ausdruck gebracht hätte" 21 , widerlegt sich auf der Stelle durch das gegenteilige Argument: daß es ebenso wunderlich wäre, der Exekutive, der ein originäres, dem Gesetz ebenbürtiges Verordnungsrecht zukäme, durch den Artikel 11 ein nicht entfernt so weit reichendes, von Gesetzes Gnaden bestehendes Verordnungsrecht ausdrücklich einzuräumen. Wenn somit eine nicht auf Grund eines Gesetzes erlassene „Verordnung" als ungültig zu bezeichnen ist, so fehlt bei einer nicht einmal im äußeren 19

Und nur solche kennt unsere Verfassung - vgl. Anmerkung 15.

20 U.a. Tezner, Die Volksvertretung, 1912, S. 411. Derselbe, Archiv des öffentlichen Rechts, 28. Bd., S. 334 f.; Hauke, Grundriß, S. 116; Ulbrich, Österreichisches Staatsrecht, S. 138. Dann auch Pfaff-Hoffmann, Kommentar, S. 135 und vom Standpunkt der allgemeinen Staatsrechtslehre aus insbesondere Kelsen, a.a.O., S. 559. 21

Zolger, a.a.O., S. 97.

Das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913, und das richterliche Überprüfungsrecht

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Gewände einer Verordnung auftretenden Willenskundgebung ein Anhaltspunkt, auch nur von einer nichtigen Verordnung zu sprechen. Es mangelt nicht nur das materielle Erfordernis einer Verordnung - ihre Ableitbarkeit aus dem Gesetz - , sondern auch die äußere Bezeichnung; die Frage nach der Erfüllung dieses letzteren Erfordernisses ist damit aufgerollt. Wo weder der materielle, in der inneren Abhängigkeit von einem Gesetze gelegene Erkenntnisgrund einer Verordnung, noch die Bezeichnung als Verordnung gegeben ist, wird man zögern, ja vielleicht nicht einmal auf den Gedanken kommen, von einer Verordnung zu sprechen.22 Ein solcher Fall liegt nun beim böhmischen Patente vor, für das die Regierung bezeichnenderweise nach einem besonderen Namen gesucht hat, und das sie auf solche Weise bei der herrschenden (wenn auch angezweifelten und anzweifelbaren) Praxis der österreichischen Gerichte 23 der richterlichen Überprüfung von vornherein zu entziehen versuchte. Bernatzik schließt in einem sonst höchst begrüßenswerten Artikel 24 aus dem verfassungsrechtlichen Satze: „Die Gerichte haben über die Gültigkeit von Verordnungen zu entscheiden" durch argumentum a contrario auf den Ausschluß des Prüfungsrechtes gegenüber jeder anderen Emanation der Regierungsgewalt und verficht insbesondere die Unüberprüfbarkeit solcher „actes de gouvernement", wozu gehörig sich ja auch unser Patent darstellt. Es soll hier nun gezeigt werden, daß die Bestimmung über den Ausschluß des Überprüfungsrechtes gegenüber Verordnungen so eng auszulegen ist, daß aus dem Schweigen des Gesetzes für die anderen denkbaren Fälle 22

Wenn auch diese Zeitschrift, S. 152, Anm. der Redaktion, der Auffassung Ausdruck gegeben hat, daß das böhmische Patent Verordnung sei - sei es möglicherweise auch eine nichtige - so geschah dies offenbar vielmehr in Opposition gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes, daß es sich um ein Gesetz handle, als zur Vertretung des Verordnungscharakters des Patentes; geschah es offenbar nur zu dem Zwecke, um dem richterlichen Prüfungsrecht und damit der Möglichkeit der Deklarierung des Patentes als Pseudoverordnung, als NichtVerordnung, eine Brücke zu bauen. 23

24

Bernatzik, Verfassungsgesetze, Anmerkung S. 431.

Bernatzik, Gegen die unberechtigte Einwendung des § 14, Neue Freie Presse vom 25. Dezember 1913.

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III.A. Verwaltungsrecht

richterlicher Überprüfung gerade auf deren Statthaftigkeit zu schließen sei; ein Auslegungsergebnis, zu dem man übrigens auch auf dem Wege gelangt, daß man dasselbe Interpretationsmittel, das Bernatzik an den zweiten Satz des Artikels 7 anlegt, bei dem ersten Satz in Anwendung treten läßt. Stellt dieser Satz fest, daß bei gehörig kundgemachten Gesetzen das richterliche Prüfungsrecht ausgeschlossen ist, so ergibt sich durch argumentum a contrario das Gegenteil dessen, was Bernatzik, der den ersten, das logische Prius darteilenden Satz ignoriert, aus der Betrachtung des isolierten zweiten Satzes schließt, daß nämlich in allen denkbaren Fällen mit Ausnahme des Gesetzes das richterliche Prüfungsrecht Platz hat. Ist aber bei dieser Auslegung der zweite Satz des Artikels 7 logisch noch zu rechtfertigen, versteht er sich nicht von selbst? Durchaus nicht; denn den Gerichten muß das Prüfungsrecht von Verordnungen, wenn es ihnen zustehen soll, ausdrücklich zugesprochen werden, weil das Verordnungsrecht durch die gesetzliche Delegierung des Artikels 11 des Staatsgrundgesetzes über die Regierungs- und Vollzugsgewalt formell Gesetzesrecht und somit auch im Zweifel diesem gleich zu behandeln ist, in unserem Falle also bei nicht ausdrücklicher Ausnehmung unter die Bestimmung des ersten Satzes des Artikels 7 fallen würde. Die Überprüfbarkeit des Verordnungsrechtes ist nur eine Ausnahme von der Regel der Unüberprüfbarkeit des Gesetzesrechtes, als dessen Abart es anzusehen ist. Aber nur das Gesetzesrecht ist unüberprüfbar; nicht dasselbe gilt von anderen Emanationen der Staatsgewalt, anderen vorgeblichen Rechtsquellen, die ja nicht Subordination unter das Gesetz (als Abarten des Gesetzes würden ihnen dessen Vorrechte zukommen), sondern Koordination neben dem Gesetz arrogieren. In dem Gesetze, das die Unabhängigkeit der Gerichte ausspricht, im Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt, ist ausdrücklich als Abhängigkeitsverhältnis des Richters bloß das zum Gesetze bezeichnet. Das argumentum a contrario - und dieses Interpretationsmittel ist allein am Platze und nicht etwa Analogie, welche prinzipiell höchstens dort einen Platz hat, wo grammatisch-logische Auslegung nicht zum Ziele führen sollte - das argumentum a contrario also führt, wie oben dargetan, schon aus der isolierten Betrachtung des Artikels 7 zur Annahme des richterlichen

Das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913, und das richterliche Überprüfungsrecht

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Prüfungsrechtes gegenüber allen außergesetzlichen Regierungsemanationen, erfährt hier jedoch noch eine Unterstützung seines Ergebnisses aus dem ganzen Zusammenhang, in dem sich der Artikel 7 findet. Der Artikel 7 umschreibt das Rechtsanwendungsgebiet des Richters, und zwar erschöpfend, denn nirgends im geschriebenen österreichischen Rechte findet sich eine ergänzende Bestimmung, und so wäre eine ergänzende Bestimmung nur auf Grund ungeschriebenen Naturrechtes anzunehmen; umschreibt es in der Weise, daß er gehörig kundgemachte Gesetze unbedingt, Verordnungen aber bedingt durch die eigene Erkenntnis ihrer Gültigkeit anzuwenden habe. Allein dieses zuvörderst wenigstens auf das Gesetzesbereich eingeschränkte Rechtsanwendungsgebiet des Richters ist auch aus der Erwägung zu erschließen, daß die Rolle des Richters, seine rechtliche Stellung (seine oft berührte Qualität als Gesellschaftsorgan kommt hier nicht in Betracht), auch vom Gesetz, und zwar gerade von unserem, gleichzeitig die richterlichen Abhängigkeiten umschreibenden Staatsgrundgesetz und weiters von dem nur als Ausführungsgesetz zu unserem Staatsgrundgesetz aufzufassenden Gerichtsorganisationsgesetz gegeben ist. Ist es nicht selbstverständlich, daß, wer die Kompetenz der richterlichen Tätigkeit, der richterlichen Rechtsanwendung verleiht - und das tut das Gesetz gleichzeitig auch die Schranke, und zwar die einzige Schranke einer kritiklosen Rechtsanwendung darstellt? Mag es auch außergesetzliches Recht geben, der Richter ist schon deswegen bedingungslos lediglich an das Gesetzesrecht gebunden, weil er kraft Gesetzes Richter ist. A priori bildet nur das Schranke, was Freiheit gibt. Ist die Berechtigung einer Rechtsüberprüfung vom Gesetz gegeben, so findet diese Berechtigung im Zweifel im Gesetz, aber auch nur im Gesetz eine Schranke. Der gesetzliche Ursprung des Überprüfungsrechtes läßt sein Anwendungsfeld gerade auf außergesetzlichem Gebiete vermuten. Freilich kann man sich fragen, ob hier noch von Überprüfen die Rede sein könne, wenn einerseits die ,,Außergesetzlichkeit' 6 (es war bisher noch immer der Ausdruck „Ungesetzlichkeit" zu vermeiden) evident ist - andererseits man aber von dem Standpunkt ausgeht, daß Prüfungskriterium die

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III.A. Verwaltungsrecht

„Gesetzlichkeit", die Übereinstimmung mit der in den Staatsgrundgesetzen niedergeigten Verfassung ist; und diesen Zweifel erhebt auch Bernatzik. 25 Ein solches Prüfungskriterium läßt nämlich auf den ersten Blick jede Außergesetzlichkeit als Ungesetzlichkeit erscheinen und so ist die Prüfung in der Problemstellung beinahe erledigt. Logisch-juristisch kommt aber ein solches Ergebnis dem Resultat einer Überprüfung gleich und hat das Freistehen der richterlichen Prüfung, die Überprüfbarkeit, zur notwendigen Voraussetzung. Die große weitere Frage ist die, ob mit dieser Erkenntnis die Ungültigkeit besiegelt ist, mit anderen Worten, ob, was nicht gesetzmäßig, deswegen auch nicht rechtmäßig ist, oder ob es außer dem Gesetz nach österreichischem Recht, und zwar nach österreichischem Verfassungsrecht, eine zweite gleichgeordnete Rechtsquelle gibt. Nach Kelsens a.a.O.26 überzeugend entwickelter Lehre von der Unverträglichkeit zweier koordinierter Rechtsquellen müßte diese Rechtsquelle, das selbständige Verordnungsrecht oder wie man dieses Residuum aus der absolutistischen Epoche nennen mag, zugleich eine übergeordnete Rechtsquelle sein, da es sich ja nach ihr bestimmen soll, wie weit das Gesetz sich selbst beschränken und Patenten wie anderen ungesetzlichen Regierungsemanationen Raum lassen „wollte". Hier ist nun die Grenze, wo das wissenschaftliche Beweisen aufhört und das politische Glauben anfängt. Diesen Gedanken hat schon Tezner 27 mit den Worten ausgesprochen: „ U m überhaupt einen Maßstab für die Feststellung des Rechtes zu gewinnen", muß man „irgendeine in staatlich autoritativer Form auftretende Ordnung, also beispielsweise die österreichische Dezemberverfassung, als Ausgangspunkt anerkennen." Und dieser Ausgangspunkt kann nach österreichischem Verfassungsrecht eben nur, wofern

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„Gegen die unberechtigte Anwendung des Paragraph Vierzehn." Artikel in der Neuen Freien Presse vom 25. Dezember 1913. 26 Vgl. auch Kelsen, Reichsgesetz und Landesgesetz nach österreichischer Verfassung, Archiv des öffentlichen Rechts, 1914, Heft 1/2.

27

Osterreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, 1. Jahrgang, 1. Heft, S. 14.

Das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913, und das richterliche Überprüfungsrecht

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man nicht das Wort Verfassung zu schänden machen will, eine unserer Verfassungsurkunden sein. Wenn sich nun aus diesen unbestritten das Gesetz als primäre Rechtsquelle ergibt, so ist für andere Rechtsquellen nur durch Delegation Platz. Eine Delegation an eine Instanz zur Erlassung von Patenten findet sich aber in den Staatsgrundgesetzen ebenso unbestreitbar wie unbestritten nicht. Nimmt man die Staats- oder Landesverfassung zum Ausgangspunkt, zum Beurteilungsmaßstab für die Gültigkeit oder Rechtmäßigkeit einer Regierungsmaßregel, dann ist mit ihrer Nichtgesetzlichkeit ihre Ungültigkeit zugleich entschieden. Wenn Bernatzik die Ansicht vertritt 28 , es sei ,,die Regierung berechtigt, die notwendige Maßregel trotz deren Verfassungswidrigkei zu treffen", so kann diese Ansicht nie im Verfassungsrecht begründet sein, sondern hat naturrechtliche Wurzeln. Das so oft angerufene ,,Notrecht" ist nur ein euphemistischer Ausdruck fürs Nichtrecht. 29 Für den Richter aber - wir müssen einen Gedanken von früher wiederholen - , der nur kraft Verfassung Richter ist, gibt es nur „Verfassungsrechtlichkeit" und demnach keine Rechtmäßigkeit, die sich in Verfassungswidrigkeit äußern könnte; für ihn gibt es insbesondere de iure keine Patente, die „höchste Pflicht" sein könnten.30

28

Im oben zitierten Artikel; vgl. übrigens auch „Rechtsprechung und materielle Rechts-

kraft". 29

Ahnlich wie das „materielle Recht", das man in der bekannten Redewendung so oft „vom formellen Recht erdrückt" werden läßt. Die „Rechtsquelle", mit der sich vorliegende Arbeit befaßt, ist nicht vereinzelt geblieben. Abgesehen von einem „kaiserlichen Patent betreffend einige dringende Maßnahmen in Landesangelegenheiten des Königreiches Böhmen" vom 1. Juli 1914, das mit obigem Patente in einem Zusammenhange steht, hat man auch auf ganz anderem Gebiete zum Auskunftsmittel des Patentes gegriffen: während die vorstehende Arbeit im Drucke lag, wurde mit kaiserlichem Patent vom 1. Mai 1915 die Landsturmpflicht für Tirol und Vorarlberg im Sinne der gleichzeitig für die übrigen Länder erschienenen kaiserlichen Verordnung abgeändert. Die juristische Beurteilung dieses Patentes kann selbstverständlich nicht anders ausfallen.

Rezension von:

Festgabe für Otto Mayer zum siebzigsten Geburtstag. Dargebracht von Freunden, Verehrern und Schülern. 29. März 1916, Tübingen 1916 Otto Mayer, der wahrhaftig niemandem, welcher zur Lehre des Verwaltungsrechtes in Beziehung steht, vorgestellt und charakterisiert zu werden braucht, hat die Pforte überschritten, die in mystischer Vorstellung als der Übergang von der Wissenschaft zur Weisheit gilt. Zu diesem Tage hat sich ein Kreis der glänzendsten deutschen Rechtsgelehrten (hauptsächlich auf dem Boden der Verwaltungsrechtslehre) um ihn als geistiges Haupt geschlossen - es gebührt ihm wohl der Ehrentitel, denn wer ihm auch in anderen Rechtsdisziplinen über ist, der muß auf dem Boden der Verwaltungslehre notwendig ihm als Führer folgen - um den Jubilar in würdigster Weise zu beschenken. Daß sie damit auch seine Wissenschaft mehr als reichlich bedacht haben, ist dabei nur ein Nebenerfolg, der uns theoretischen und praktischen Verwaltungsjuristen freilich zur Hauptsache wird. Es sind mitunter wahre Kleinodien, die sich unter diesem Festesangebinde finden. Wie der Jubilar selbst, so hat auch die ihm gewidmete Jubiläumsschrift allen etwas, nein viel und vieles zu sagen, die der Verwaltungstheorie und -praxis nicht fremd und teilnahmslos gegenüberstehen. Einige Aufsätze 1, die uns als Verwaltungsjuristen besonders berühren, die von nicht begrenzt deutschrechtlichem Interesse sind und daher zum mindesten auch uns (leider mehr oder weniger abseits stehende) Österreicher interessieren dürften und die uns trotz des mitunter hervorgerufenen kritischen Widerspruches durch ihre Bedeutung fesseln, sollen in den folgenden kurzen Betrachtungen etwas näher ins Auge gefaßt werden; darin soll aber - dies sei ausdrücklich

Österreichische Zeitschrift für Verwaltung, 50. Jg. (1917), S. 10, 13-14, 37-38,41-42. 1

Die Aufsätze sind in Form kleiner Broschüren einzeln erhältlich.

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III.A. Verwaltungsrecht

vorausgeschickt - keineswegs das Urteil gelegen sein, daß die anderen schlankweg gar nicht oder auch nur minder beachtenswert wären. Die Reihe der Gratulanten eröffnet Paul Laband. Ihm als dem Haupte der Verfassungsrechtsschule gebührt das erste Wort, wenn es das Haupt der verbrüdert-nachbarlichen Verwaltungsrechtsschule zu grüßen gilt. Er tut es mit einem Thema, das gewissermaßen die Mitte hält zwischen Verfassungsund Verwaltungsrecht, das somit beiden gemeinsam ist. „Die Verwaltung Belgiens während der kriegerischen Besetzung"2 ist sein gewiß aktuelles Rechtsproblem. In kurzen Skizzen der wie aus dem Boden gestampften Verwaltungseinrichtungen erhalten wir ein Bild von der Organisationsgabe deutscher Verwaltung. Bemerkenswert ist die Schnelligkeit, mit der die rein militärische Verwaltung von einer halbzivilen abgelöst wurde. Während der kriegerischen Ereignisse selbst, die zur Okkupation führen, ist die einzige Person, die auf dem Kriegsschauplatze staatliche Gewalt ausübt, begreiflicherweise ausschließlich der militärische Befehlshaber. Er versieht auch den Rest an Verwaltungsfunktionen, für den noch Raum und Zeit vorhanden ist. Aber kaum daß hinter ihm sozusagen der Pulverdampf verraucht ist, folgt ihm stehenden Fußes der Verwaltungsmann. Zwar noch vorwiegend in den leitenden Posten von Offizieren gehandhabt - so ist ja auch ein General Generalgouverneur - hat sich förmlich noch auf dem Kriegsschauplatz der Verwaltungsapparat von der Technik der Kriegsführung gesondert. Es sind nicht verschiedenartige, aber verschiedene Personen, die arbeitsteilig nebeneinander den verschiedenen Funktionen dienen. Die rechtliche Form für die Organisationsarbeit ist rasch bereitgestellt: Am 5. September 1914 erscheint die erste Nummer des „Gesetz- und Verordnungsblattes für die okkupierten Gebiete Belgiens" und enthält eine Verordnung, die dem Generalgouverneur Gesetzgebungs- und Verordnungsgewalt erteilt. Von dieser Ermächtigung wurde und wird mit viel Glück reichlich Gebrauch gemacht. Daneben bleiben zum Großteil die zu Kriegsbeginn bestandenen belgischen Gesetze und delegierten Rechtsquellen in Geltung. Nach den Rechtsquellen kommen die Organe und die Funktionen der Exekution zur Sprache. Auch hier ein Ineinanderverwobensein und Miteinanderwirken von altem und neuem, von heimischem und deutschem Ele-

2

S. 1-28 der Festschrift.

Festgabe für Otto Mayer zum siebzigsten Geburtstag

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ment. Die neue Ordnung des Geld-, Bank- und Finanzwesens erfährt von Laband eine eingehendere Untersuchung, von der in unserem engen Rahmen abgesehen werden muß. Was aber zu erwähnen unerläßlich ist und eine ausführliche Auseinandersetzung verlangen würde 3, ist die theoretische Konstruktion dieser praktischen Gegebenheit. ,,Es erhebt sich nun die Frage, welche Staatsgewalt übt der besetzende Staat aus?" So stellt Laband sein interessantes allgemeines Problem. Und nachdem er, zwar ohne nähere Begründung, jedoch mit bestem Grunde eine Auffassung, wonach der Träger der in der Okkupation ausgeübten Gewalt eine selbständige Kriegsgewalt des Befehlshabers des besetzenden Heeres" sei, abgelehnt hat - diese Kriegsgewalt wäre ja doch nur ein Zweig der Staatsgewalt des siegreichen Okkupanten - verengt er das Problem in der Weise: „Die Frage kann also nur die sein, ob der besetzende Staat seine Staatsgewalt oder die des feindlichen Staates ausübt." Wenn diese Frage nach Laband „nur in letzterem Sinn beantwortet werden kann", so halten wir dagegen nur die entgegengesetzte Antwort für möglich. Der Okkupationsakt selbst ist eine Tat des okkupierenden Staates, desgleichen fallen die Funktionen, die ihm folgen, ins Bereich seiner Staatshandlungen. Es mag ja durch Gesetze (oder Staatsverträge) des okkupierten Staates die Wirksamkeit des okkupierenden Feindes, die sich innerhalb gewisser Schranken hält, anerkannt sein - wodurch feindliche Funktionäre zu eigenen Staatsorganen gemacht sind dies schließt aber die primäre Qualifikation als Organschaft, als Staatlichkeit des okkupierenden Staates nicht aus. Was Laband für seine Theorie an Beweisen anführt, scheint mir daneben zu treffen. So, wenn er argumentiert, es handle „sich doch in erster Reihe um das Interesse der Bevölkerung des feindlichen Staates". Das ist sehr richtig, doch ist die Vorstellung so unvollziehbar, daß es die deutsche und nicht die belgische Verwaltung ist, die sich, da sie zu einem fremden Volke in das nahe und zunächst zum mindesten ethische Pflichten begründende Verhältnis des Okkupanten getreten ist, in den Dienst seiner Interessen stellt? Es gäbe vieles gegen Labands Theorie einzuwenden. Ich muß mich hier auf die Feststellung beschränken, daß in jeder, auch in politischer Hinsicht (die allerdings nicht entscheidend sein darf!) die Auffassung viel befriedigender ist, daß es sich bei dem Werke, welches die deutsche Verwaltung in Belgien geleistet hat und leistet, um eine Tat des Deutschen Reiches handelt.

3 Die Frage hätte, wo sich auch Heere der Monarchie in der Rolle des Okkupanten befinden, für uns unmittelbare Aktualität.

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III.A. Verwaltungsrecht

Ein Thema von allgemeinem und auch von spezifisch österreichischem Interesse behandelt der neueste Klassiker der Verwaltungsrechtslehre, Fritz Reiner, in seinem „Beamtenstaat und Volksstaat" benannten Aufsatze. 4 Es kommt damit ein sehr fruchtbarer neuer Gesichtspunkt für die Unterscheidung der Staatsformen in Verwendung, der die alte Einteilung (in Monarchie und Republik und was für sonstige Zwischenglieder man noch annimmt) durchkreuzt, und, obwohl hier nur ein untergeordnetes Merkmal Einteilungsgrund ist, nämlich die bestimmte Qualität untergeordneter Staatsorgane (bei der Bedeutung, der im aufgabenreichen modernen Staate der ausführenden Staatsorganschaft zukommt) für das soziale Leben viel charakteristischer ist als die von der Legislative genommene Unterscheidung der Staatsformen. „Das äußerlich sichtbarste Zeichen des Beamtenstaates bildet das berufsmäßige Beamtentum; das des Volksstaates: die Bekleidung der öffentlichen Ämter durch aus den Reihen gerufene Bürger, die nach Beendigung des Amtes wieder in ihren privaten Beruf zurückkehren." Es ist begreiflich, daß unserem Verfasser - einem Schweizer, der viele Jahre seines Lehramts im Deutschen Reiche verbracht hat - die Schweiz und das Deutsche Reich zu Typen dieses abstrakten Gegensatzes werden. Daß er aber bei seinen Ausblicken auf ausländische Verhältnisse das so nahe liegende Beamtenstaatswesen Österreichs, das ihm zum Deutschen Reiche ein interessantes Seitenstück geboten hätte, völlig übersieht, wollen wir jedoch als eine im Interesse der Vollständigkeit der Schrift bedauerlichen Unterlassung vermerken. Was Fleiner zur Charakteristik des Beamtenstaates ausführt - er entwickelt übrigens mehrere von einander sich mehr oder weniger abhebende Typen und knüpft an die juristischen auch einige soziologische Betrachtungen5 - liegt uns im großen und ganzen so nahe, daß wir dabei nicht verweilen wollen. Auch die Übergangsformen müssen übergangen werden - etwa mit Ausnahme der einen (auch uns geläufigen) Einrichtung der Selbstverwaltung, die, auf das Staatsganze übertragen 6 gedacht, uns ein ungefähres Bild

4

S. 29-57 der Schrift.

5

Das leuchtet ja wohl ein, daß sich nicht so bald ein rechtlicher Unterschied so deutlich in gesellschaftlicher Richtung auswirkt wie der zwischen Beamten- und Volksstaat. 6 Dadurch verliert sie freilich ihren Charakter als Selbstverwaltung, der ihr nur neben, im Vergleich mit, im Gegensatz zu der (durch Berufsbeamte ausgeübten) Staatsverwaltung zukommt.

Festgabe für Otto Mayer zum siebzigsten Geburtstag

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des Volksstaates im Rechtssinne schauen läßt. Was uns freilich Fleiner an Eigenschaften des Schweizer Volksstaats vorführt, mag bei dem, im Ideenkreise des Beamtenstaates Lebenden wenn nicht Erstaunen, dann doch hie und da das Interesse des Ungewohnten erwecken: Daß der Beamte weder faktisch noch rechtlich aus einem bisherigen Lebenskreise heraustritt, daß sogar zur auswärtigen Vertretung der Nicht-Berufsbeamte (das will nicht notwendig heißen: Nichtfachmann) herangezogen wird, daß überhaupt nicht die Verwendung in der Verwaltung, sondern in der Politik die Legitimation zum Staatsdienst gewährt, will noch nicht so viel bedeuten, wie ,,das sichtbarste Merkmal des Volksstaats", bestehend „ i n der Volkswahl der Verwaltungsbeamten und in der Abstimmung des Volkes über bestimmte Verwaltungsakte". (S. 45) Am interessantesten ist aber wohl die unterschiedliche Gestaltung des Verhältnisses zwischen Justiz und Verwaltung im Volks- und Beamtenstaat.7 Diesem entspreche nämlich die Koordination der beiden Staatsfunktionen, jener ordne die zweite unter die erste unter. So komme es, daß nur der Beamtenstaat eine Verwaltung in unserem Sinne und ein eigentliches Verwaltungsrecht aufweise. - „Quid melius sit?" - Diese Frage, zu der man nach solchen Betrachtungen allerdings leicht versucht ist, wirft der Verfasser am besten gar nicht auf. Allgemein ließe sie sich überhaupt nicht beantworten, von ihr gilt wie kaum von einer zweiten, daß sie „Quaestio facti" sei. Eine bunte Folge „verwaltungsrechtlicher Gedanken" führt uns Robert Piloty in seinen so benannten Betrachtungen vor. 8 „Krieg und Verwaltungsrecht" ist der Ausgangspunkt der Gedankenfolge. Wie zwei Kämpfer sehen wir die Verwaltung (als tätige Staatseinrichtung) mit dem Verwaltungsrechte als einem sie zu fesseln versuchenden Gegner ringen. Dieses Element des Absolutismus vergrößert sich, dieser Emanzipationsgeist gegenüber den Schranken des Rechtes vertieft sich bei der Verwaltung im Kriege, „um das Maß von Freiheiten zu usurpieren, dessen sie gegenüber dem härteren und strengeren Bedränger Krieg bedarf". (S. 95) - In der nächsten Skizze nimmt der Verfasser zum Streit über die Systematik des Verwaltungsrechtes Stel-

7 Es handelt sich freilich in diesem Falle nach meinem Dafürhalten mehr um eine zufällige Gegebenheit als um eine begriffliche Notwendigkeit. 8

S. 92-116 der Festschrift.

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III.A. Verwaltungsrecht

lung. - Als die „Hauptsache" (im Rechte) wird uns sodann die schon von Kelsen9 vorgetragene, aber von Piloty offenbar selbständig gefundene Lehre von der begrifflichen Vorherrschaft des Pflichtelementes über das Rechtselement am „Recht im subjektiven Sinn" entwickelt. - Neu ist die Entdeckung, daß das Personenrecht des öffentlichen Rechts, beziehungsweise die von dieser Rechtskategorie geschaffene „Persönlichkeit weit bestimmter und gleichförmiger gezeichnet (sei) als im bürgerlichen Recht", was mir dadurch bedingt zu sein scheint, daß auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts das ius cogens so bei weitem überwiegt, auf dem des privaten die lex contractus eine so große Rolle spielt. - Sehr interessante, wenn auch nicht durchaus zu akzeptierende Erwägungen trägt der Verfasser „zur Organisation der Verwaltungs- und Rechtspflege" bei. Als „Deutsche Besonderheiten" der Organisation der Verwaltung wird uns die Anpassung der Militärverwaltung an den militärischen Dienst, die historisch bedingte (verhältnismäßig staatsunterworfene) Stellung der Kirchen und (verhältnismäßig staatsfreie) Stellung der (übrigen) Selbstverwaltungskörper vorgeführt. - Eine Frage, die zu den bisherigen Themen außer jedem Zusammenhang steht, behandelt Piloty unter dem Titel der „Öffentlichen Anerkennung": Hier gibt er teilweise treffliche Anregungen über die Ordnung der staatlichen Auszeichnungen. - Abschließend wird „die Charakteristik der Verwaltung und Rechtspflege durch das Verfassungsrecht" erwogen. Einen zwar eng begrenzten, für den Kenner aber doch sehr interessanten Gegenstand des Verwaltungsrechtes behandelt Wilhelm van Calker mit seiner Studie: „Die Amtsverschwiegenheitspflicht im deutschen Staatsrecht". 10 Der umfangreiche erste Teil, wo die sehr zerstreut liegenden Rechtsquellen mit vielem Fleiß gesammelt sind, muß füglich übergangen werden. Nur können wir Bedenken gegen die Versuche, was das positive Recht versehen hat, durch wissenchaftliche Hinzudeutung gutzumachen, nicht unterdrücken: Wir verkennen nicht die Tatsache, daß ohne Pflicht des Amtsgeheimnisses eine geordnete Staatsverwaltung undenkbar ist; wir stehen aber doch nicht an, in Fällen, wo die Rechtsordnung dieser Notwendigkeit nicht irgendwie Rechnung getragen hat, einzubekennen, daß dieser Staat einer solchen Pflicht ermangle; ein anderes Ergebnis wäre mit den

9

Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911.

10

S. 117-164 der Festschrift.

Festgabe für Otto Mayer zum siebzigsten Geburtstag

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Prinzipien positivistischer Rechtserkenntnis unvereinbar. Dabei kommen wir dem praktischen Bedürfnisse insoweit entgegen, als wir die (sei es auch tendenziöse) Ausdeutung allgemeiner Begriffe ohne weiteres zuzulassen geneigt sind; so mag man der gesetzlich Undefinierten Treuepflicht des Staatsbeamten seine Pflicht zum Amtsgeheimnisse entnehmen. Voraussetzung hiefür ist jedoch, daß wenigstens die Treuepflicht irgendwie rechtlich angeordnet sei. Diese, wenn sie im Gesetze nicht geschrieben steht, aus dem Wesen des Staatsdienstes oder einem sonstigen „allgemeinen Prinzipe" abzuleiten, geht denn (in der Abweichung vom positiven Rechte) doch zu weit. Jede positivrechtliche Anordnung in unserer Sache wäre füglich überflüssig, wenn bereits die rhetorische Frage van Calkers „Sollen wir diese Treue, die das Staatsinteresse über alles stellt, aus den Rechtspflichten der Beamten ausscheiden?" (S. 138) die erwünschte Lösung böte! Der Streitfragen gibt es übrigens auch bei ausdrücklicher Anordnung der Pflicht der Amtsverschwiegenheit (wofern sich das Gesetz auf diese wortkarge Anordnung beschränkt) noch reichlich viele. Zu deren Beantwortung gibt uns van Calker eine interessante Kasuistik an die Hand. In diesem zweiten Teile seiner Abhandlung behandelt der Verfasser den Gegenstand der Amtsverschwiegenheitspflicht, den Begriff der Verschwiegenheit, wirft sodann die interessante Frage 11 auf, ob unsere Pflicht gegenüber jedermann bestehe, untersucht die Dauer, fragt sich nach dem Träger der Verschwiegenheitspflicht und führt abschließend die Befreiungsgründe auf. Eine der tiefstgründigen Abhandlungen des gedankenreichen Sammelwerkes ist die von Richard Thoma: Der Vorbehalt des Gesetzes im preußischen Verfassungsrecht. In allgemein gültiger oder wenigstens als allgemein gültig gedachter Weise wird das im Titel der Abhandlung aufscheinende Problem entwickelt, das offenbar keinen „Vorbehalt" des preußischen Staatsrechtsgelehrten darstellt, sondern auch uns österreichische Juristen geradeso nahe berührt. Der historische Prozeß, durch den unser Problem aufgerollt ward, war nämlich in Österreich derselbe wie in Preußen 12: Es gelingt der teils blutigen, teils unblutigen Revolution, dem absoluten Herrscher einen Teil seiner Prärogative abzugewinnen; bisherige

11

Man denke etwa an das Amtsgeheimnis im Familienkreise!

12 Diese parallele Entwicklung in Österreich, die Thomas Thema für uns auch vom praktischen Standpunkte aus so interessant macht, bleibt freilich von ihm ganz unbeachtet.

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III.A. Verwaltungsrecht

Kompetenzen des Monarchen werden - nach dem plastischen Ausdrucke Otto Mayers - zum „Gesetzesvorbehalte"; in den Fällen des „GesetzesVorbehaltes" konkurriert in der gewissermaßen zweieinigen Person des (formellen) Gesetzgebers der Herrscher mit einer Volksvertretung. Welche diese Fälle seien, läßt aber die preußische Verfassung ebenso im unklaren wie die österreichische; wenn irgend eine Zweideutigkeit beabsichtigt war - in den Verfassungsgesetzen nimmt man ja so häufig beabsichtigte Unklarheiten an - dann war es diese: der Entwicklung des politischen Kräfteverhältnisses wollte man juristisch nicht präjudizieren; für beide Parteien, die sich im Verfassungskampfe gegenüberstanden, Monarchisten und Demokraten, war es wünschenswerter, den Weg in ihrer Ideenrichtung der Gestaltung im politischen Entwicklungsprozesse offen zu lassen; die starre Rechtsfrage nach der Kompetenzverteilung wurde auf das Geleise einer beweglichen politischen Machtfrage verschoben. Diese Vorstellung subintelligiere ich wenigstens der auffallenden Tatsache, daß sich die preußische Verfassung nicht anders als die österreichische darauf beschränkte, von einigen besonderen Vorbehalten abgesehen, allgemein „die Gesetzgebung" dem neuen, aus Monarch und Parlament kombinierten Gesetzgeber zu übertragen. Das kann viel sein - so dachte man sich wohl - oder auch so gut wie Null; wie viel - nun, eben das würde die politische Entwicklung ergeben. Die Rechnung - vorausgesetzt, daß sie angestellt wurde - war richtig; die Praxis hat ein Kräfteparallelogramm gezeitigt, das freilich theoretischer Kritik nicht standhält. Diese zufällige Tatsächlichkeit zum Orientierungsmaßstab für die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung zu nehmen, heißt nämlich diese der Gefahr einer Verfälschung aussetzen; sie wird mehr oder weniger in einem durch die Tatsachen gebrochenen Lichte erscheinen. Einen solchen von vornherein, wie mir scheint, zum Scheitern bestimmten - Versuch macht auch Thoma. Orientierungslinie bei seiner geistreichen actio finium regundorum zwischen formellem Gesetz und der durch den Monarchen repräsentierten materiell gesetzgeberischen Verordnungsgewalt ist auch für ihn, wenn auch unbewußt, die Entwicklungslinie der politischen Tatsachen. Daß er von dieser in manchen Belangen mit erfreulicher Entschiedenheit bewußterweise abweicht, macht gegen die vorige Behauptung keinen Gegenbeweis; diese bewußte Abweichung im Kleinen verschleiert und ermöglicht dadurch die unbewußte Anlehnung im Großen. Das mehr oder eigentlich weniger als nichtssagende, nämlich doppeldeutige Wort „Gesetzgebung" läßt auf den ersten Blick zwei Auslegungen zu:

Festgabe für Otto Mayer zum siebzigsten Geburtstag

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Bekanntlich hat man (seit Laband) zwischen einer formellen und materiellen Gesetzgebung zu unterscheiden. Tertium non datur. Die Alogizität, nach einem solchen Tertium zu suchen, haftet aber allen Versuchen an, bei dieser wortkargen Kompetenzverteilung mit dem Worte Gesetzgebung den Sinn eines ganz bestimmten, auf eine gewisse Zahl materieller Gesetzgebungakte beschränkten oder sich erstreckenden Kompetenzkreises zu verbinden. Es konnte nur die gesamte Gesetzgebung (im Sinne der Rechtssatzung, also im materiellen Sinne) auf den neuen, aus Monarch und Parlament kombinierten Gesetzgeber übergegangen sein oder, wenn man das Wort im formellen Sinne versteht, im Grunde gar nichts, nämlich das an materieller Gesetzgebung, was da - man weiß nicht, nach welcher ratio - an die Form des Gesetzes gebunden, der Monarch dem Parlamente überläßt. Das setzt aber eine mit der Idee des Konstitutionalismus unvereinbare KompetenzKompetenz des Monarchen voraus, wie andrerseits die vorerwähnte Sachlage der Kompetenz-Kompetenz des kombinierten monarchisch-parlamentarischen Gesetzgebers zugeordnet ist. Die politische Entwicklung, namentlich in Österreich, hat sich bekanntlich nicht in Konsequenz dieser beiden Extreme gehalten. Theoretisch ist aber doch wohl nur einer dieser extremen Standpunkte möglich, außer man zerreißt die Kontinuität des Verfassungsstaates mit dem absoluten Staate und man abstrahiert obendrein von der geschriebenen Verfassung. Betrachtet man die Staatlichkeit Österreichs (und wohl auch Preußens), wie sie unter der Herrschaft des Konstitutionalismus war und ist, dann zeigt sich uns eine eigentümliche koordinierte Konkurrenz des parlamentarisch beschränkten und des parlamentarisch unbeschränkten Monarchen. Dogmatisch mag man diese Sachlage zum Ausgangspunkte eines neuen Rechtssystems machen. Dann hat man aber auf die geschriebene Verfassung als Ausgangspunkt der juristischen Konstruktion verzichtet; denn aus deren Satze: „Zur Gesetzgebung ist der Willensentschluß des Parlaments und die Sanktion des Monarchen erforderlich", ist diese, den Tatsachen abgelesene Kompetenzverteilung nicht zu entnehmen; sie läßt, isoliert betrachtet, nur, aber doch auch noch zwei Möglichkeiten offen: Souveräne Omnipotenz dieses kombinierten Gesetzgebers (Monarch und Volksvertretung) in allen Angelegenheiten materieller Gesetzgebung oder (mit Ausnahme der taxativ aufgezählten Zuständigkeitsfälle dieses konstitutionellen Gesetzgebers)

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III.A. Verwaltungsrecht

prinzipielle Gesetzgebungsbefugnis des insoweit noch absoluten Monarchen (soweit er nicht auf diesem Gebiete überdies freiwillig den kombinierten konstitutionellen Gesetzgeber delegiert): Diese beiden Möglichkeiten läßt, wie gesagt, jener Verfassungssatz offen, der den konstitutionellen Gesetzgeber zur „Gesetzgebung" schlechthin (ohne erläuternden Zusatz) beruft. Dieser Dualismus verengt sich jedoch zu einer einzigen Lösungsmöglichkeit, wenn man auf den absoluten Staat zurückgreift und den konstitutionellen als seine harmonische Fortentwicklung begreift. Von diesem Standpunkte aus gesehen, hat der absolute Herrscher, der die Worte sprach: „Zur Gesetzgebung ist mit die Mitwirkung des Reichsrates erforderlich", nur die Art der Gesetzgebung, die ihm bis dahin zustand, das war eben die Gesetzgebung im materiellen Sinn, zu vergeben vermocht; er tat es, indem er sie an die Gesetzesform knüpfte, die bisher unbekannt, erst mit diesem letzten - monarchisch-absolutistischen Akte kreiert wurde. Daß dieser Akt nur das formelle Gesetzgebungsrecht (mit einem der Auslegung offen gelassenen Inhalt) aus der Hand gebe, das heißt mit anderen Worten, daß er dem Monarchen das viel umstrittene und (zumal bei uns) tatsächlich praktizierte selbständige Verordnungsrecht offen lasse, dafür führt Thoma (im Anschluß an Smend) wahrhftig nur einen Scheingrund an: Er glaubt seine Überzeugung in der Verfassung fundiert, wenn er in dem Satze, daß der Landtag bei allen Gesetzen seine Zustimmung zu geben habe, den Ton statt auf das Wort Gesetz auf das Wort Zustimmung verlegt. (S. 190) Das Wort „Zustimmung" hat nun sicherlich seine gewichtige Bedeutung: An die Stelle des beratenden ist das beschließende Votum getreten. Aber daraus, daß auch dieses Wort in unserem bedeutsamen Satze seinen guten Sinn hat, dürfte Thoma doch nicht folgern, daß nur dieses einen Sinn habe, der ja letzten Endes doch ungeklärt bliebe, wenn weiterhin die Frage offen stünde, wozu, in welchen Fällen diese Zustimmung erforderlich wäre. Doch auch darüber gibt der Satz eindeutigen Aufschluß: Die Akte der „Gesetzgebung" werden nämlich ausdrücklich an diese Zustimmung, das heißt an die Gesetzesform gebunden. Als Akte der Gesetzgebung können aber in diesem Stadium, wo die Gesetzesform gerade für sie kreiert wird, nur solche von materieller Rechtssatzqualität verstanden werden; andernfalls hieße unser Satz, paradox formuliert, daß von nun an formelle Gesetze in der Form des Gesetzes zu erscheinen hätten. Unsinn wäre also der Sinn des Satzes. Wer vom strengen Absolutismus ausgeht, muß bei konsequentem Denken im reinen Konstitutionalismus landen. Dabei mag man es als eine Ironie der

Festgabe für Otto Mayer zum siebzigsten Geburtstag

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Logik betrachten, daß die politischen Extreme so harmonisch ineinander überleiten. Der absolute Monarch hat mit dem letzten und höchsten Beweise seiner absoluten Macht, mit dem Kreationsakt, in dem er, gewissermaßen seine ganze Kraft ausgebend, den neuen (formellen) Gesetzgeber schuf, diesem zugleich seine (materielle) Gesetzgebungsfunktion übertragen, soweit er sich (oder der von ihm repräsentierten Verordnunsgewalt) nicht ausdrücklich Funktionen materiell-gesetzgeberischer Natur vorbehielt. So kommen wir zur Einsicht, daß der Ausdruck „Gesetzesvorbehält" überhaupt nicht ganz am Platze ist, daß im Verfassungsstaate viel eher monarchische Vorbehalte in Frage kämen, denn die vorbehaltene ist die engere, die sekundäre Kompetenz. Thoma schreibt mit einigen anderen - es ist bei weitem die Minorität der Verfassungsrechtslehrer - diese kleinere, mindere, die „vorbehaltene" Gesetzgeberrolle dem weiteren, dem um den Landtag erweiterten Gesetzgeber zu. Worin dessen Kompetenz bestehe, wird somit zu seinem nächsten, in packender Gedankenfolge entwickelten, aber ungelösten, weil, wie wir überzeugt sind, unlösbaren Probleme. Die Grenzen für den vermeintlichen Ausschnitt der dem formellen Gesetzgeber vorbehaltenen Gesetzgebungsakte sind unauffindbar, weil nicht eine ausschnittweise, sondern eine umfassende Gesetzgebungskompetenz der Anordnung der Verfassung entspricht. Was da an besonderen Zuständigkeiten dem Gesetzgeber zu- oder abgesprochen wird, ist Phantasie, gemessen an der klaren Zuständigkeitsregelung allgemeiner Natur, die die Verfassung bietet. Nochmals sei es betont: Nicht diese oder jene, sondern schlechthin die (materielle) Gesetzgebungskompetenz spricht sie dem (formellen) Gesetzgeber zu. Was der Verfasser mit vernichtend-treffender Polemik gegen die ihm vorangegangenen Abgrenzungsversuche ausführt, gilt leider auch, wie uns dünkt, von dem seinigen. Was soll das Kriterium formaler Gesetzgebungskompetenz sein? Daß die betreffende Materie bisher gesetzlicher Regelung unterlag! Oder - da ja formelle Gesetze bisher nicht bestanden - was von irgendwie gesetzesähnlicher Beschaffenheit gewesen ist? Und Thoma verfällt, indem er nach einem Kriterium der Gesetzesähnlichkeit (in der absoluten Ära) Umschau hält, auf das Merkmal erfolgter oder nicht erfolgter Publikation. Unaufgeklärt bleibt es dabei, wieso der Gesetzgeber, wenn ihm (nach Thomas Auffassung) irgendwie (ohne nähere verfassungsrechtliche Umschreibung) irgendwelche (verfassungsmäßig nicht näher bestimmte materielle) Gesetzgebung vorbehalten ist, gerade dieses (vom absoluten Staat bereits, und zwar

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in bestimmter Weise in der Form publizierter Gesetze beackerte) Gebiet der Rechtsetzungsmöglichkeit eingeräumt sei? Woher nimmt - um nur eine der durch Thomas Aufstellung angeregten Fragen aufzuwerfen - unser Verfasser den (von ihm vorausgesetzten) Satz, daß die Gebiete vorkonstitutioneller Rechtsregelung auch von Zwecken des konstitutionellen Staates eingenommen seien? - Nicht nur im Prozesse der Gewinnung, sondern auch in der materiellen Ausgestaltung unterscheidet sich der Gesetzesvorbehalt, den schließlich Thoma aufstellt, von den abgelehnten anderweitigen Umschreibungen: die in der Gesetzsammlung verkündigten königlichen Erlässe der absoluten Zeit haben Vorrangskraft und können fortan nur mit Zustimmung des Landtages abgeändert oder aufgehoben werden. Das selbständige königliche Verordnungsrecht ist ihnen gegenüber ausgeschaltet (S. 209). Mit gutem Grund wird freilich dieser These die Bemerkung unmittelbar vorausgeschickt: „Gewißheit läßt sich in diesem Punkte nicht erreichen, aber hohe Wahrscheinlichkeit, daß dem preußischen Grundgesetz in seinem ursprünglichen Sinne der Satz innewohnt." Uns ist die ratio der Abgrenzung (die ja vielleicht nicht unzweckmäßig sein mag) unerfindlich; und daher steht Thomas letzte These trotz der Gedankentiefe, auf der man unter des Verfassers fesselnder Führung zu ihr gelangt, im Scheine unwissenschaftlicher Willkür. Mit einem „Beitrag zur Verwaltungslehre" stellt sich auf seinem speziellsten wissenschaftlichen Gebiete Josef Lukas ein. Das aktuelle Thema „Justizverwaltung und Belagerungszustandsgesetz"13 gibt ihm Gelegenheit, das altehrwürdige Problem der Justizverwaltung von neuem aufzurollen und in besonderem Lichte zu betrachten. In der Gegenüberstellung zur französischen Theorie, die noch die strenge formale Scheidung aufrechterhalten hat, verfolgen wir die interessante Entwicklung des deutschen Begriffes der Justiz, der sich allgemach, wenn man so sagen darf, materialisiert. Wenigstens findet Lukas eine Vermischung des „formellen und materiellen Moments" (S. 227) festzustellen. Bestimmgrund des Jusitzbegriffes kann das Organ, kann aber auch die Funktion sein. Ist die Tätigkeit bestimmter Organe, gleichgültig, welcher Art ihre Funktion sein mag, unter dem Titel der Justiz zusammengefaßt, so

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Seite 223 bis 244 der Festschrift.

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haben wir einen rein formellen Justizbegriff vor uns. Ist die Art der Organfunktion für ihre Zuteilung an eine bestimmte Staatsgewalt charakteristisch - und das ist nach unserer Ansicht der ursprüngliche und der den Staatsorganen namengebende Sachverhalt - so haben wir einen rein materiellen Einteilungsgrund vor uns. Durch die Einschreibung einer Justizverwaltung geht diese scharfe formelle oder materielle Scheidung verloren. Die Dreiteilung wird nur dadurch erreicht, daß nach einem anderen als dem herrschenden Teilungsprinzip denn dieses führt, sei es das eine oder das andere, nur zu einer Zweiteilung ein schon irgendwie verteiltes, sei es nun der Justiz oder der Verwaltung zugeteiltes, Gebiet ausgeschieden wird. Lukas führt uns plastisch den Entwicklungsgang vor Augen, den der Begriff der Justizverwaltung aus der Justiz gegangen ist. Hiebei ist der Gegenstand, mit dem ein bestimmtes Organ befaßt ist, Absonderungsprinzip. Uns freilich scheint durch die abgesonderte Funktion einfach in die gegenteilige überzugehen. Diese strenge Zweiteilung, die nach Lukas der französisch-belgischen Theorie eigen ist, bekämpft unser Autor. Daß nämlich dadurch unter anderem die Staatsanwaltschaft einfach zu einer „Behörde der vollziehenden Gewalt", wenn auch im besonderen der Justiz-Exekutive, wird, ist für Lukas eine unvollziehbare Vorstellung und er nennt sie „höchst unbefriedigend". Man hat sich bei uns noch nicht an ihr gestoßen, obwohl sie bekanntlich auch in Österreich, wovon Lukas nicht Notiz nimmt, die allein herrschende ist. Offenbart sich der Begriff der Justizverwaltung als ein Produkt neuester Begriffsentwicklung, während er zu Zeiten der Entstehung des Belagerungszustandsgesetzes (4. Juni 1851) noch ungeschieden im umfassenderen Justizbegriffe schlummerte, so löst sich das Problem der Erörterungen, nämlich die Frage nach der Stellung der Justizverwaltung im Belagerungszustande vom Standpunkt einer historischen Auslegung aus dahin, „daß die Justizverwaltung nicht unter die vollziehende, sondern unter die richterliche Gewalt... fällt, somit dem Eingriffe des Militärbefehlshabers entzogen ist". Über „ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat" berichtet Rudolf Smend in einer anziehenden und originellen Studie.14

14

Seite 245 bis 270 der Festschrift.

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Wir haben es nicht mit landläufigem „ungeschriebenen Recht" zu tun, es handelt sich vielmehr um ungeschriebene Sätze, die das geschriebene Recht, und zwar die deutsche Reichsverfassung, in ganz bestimmter Richtung modifizieren und ändern. Smend geht von einem Falle aus, wo sich der rigor iuris durch die comitas foederis abgeschliffen zeigt: Der von der Reichsverfassung vorgesehene „Bundesratsausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten" findet nur da geringste Feld der Betätigung, weil er durch freundschaftliches Einvernehmen zwischen den Regierungen unnötig gemacht wird. Der Zweck des Institutes, den Bundesstaaten Einwirkung auf die äußere Reichspolitik zu gewähren, ist auf dem Wege, der sich gewohnheitsmäßig herausgebildet hat, in vollkommenster Weise erfüllt; aber wenn auch darum keineswegs auf verfassungswidrigem, so doch auch nicht auf dem von der Verfassung vorgesehenen Wege, nämlich durch Vermittlung des genannten Bundesratsausschusses. Dieser Fall ist jedoch für das, worauf Smend im weiteren ausgeht, nicht typisch. Auch eine Diskrepanz zwischen der geschriebenen und der lebenden Verfassung, aber eine Diskrepanz besonderer Beschaffenheit bezeichnet nämlich die Tatsache, daß die bundesstaatlichen Bande viel straffer den Staatskörper umschnüren, als die geschriebene Verfassung verraten läßt. Nun mag sich ja dieser höhere Grad der Bindung, diese weitergehende Einheit zum Teile wenigstens auf interpretativem Wege aus der verschleiernden Textierung des Gesetzes entnehmen lassen; teilweise mag freilich infolge der neuen und fruchtbaren Einheitstendenz, die gegen alle historischen Traditionen im deutschen Volke Wurzel gefaßt hat, die verfassungsrechtliche Gesolltheit von der verfassungspolitischen Wirklichkeit überholt worden sein. Nur handelt es sich hiebei, wie wir schon mit dem Worte angedeutet haben, offenbar um eine rein politische Tatsache und nicht um eine Rechtserscheinung, die wir besser nach wie vor in der geschriebenen Verfassung allein erblicken. Den Schleier, der in der geschriebenen Verfassung den bundesstaatlichen Gedanken an manchen Stellen so tief verdeckt, hat Smend mit großem Geschick gelüftet: es ist die staatenbundartige Form, staatenbundartige Formeln, die der Konnivenz gegen die monarchischen Bundesstaaten ihre Entstehung verdanken. Um so besser, wenn trotzdem das Bundesstaatsprinzip so stramm verwirklicht ist; dann brauchen wir eben nicht deutlicheres Bundesstaatsrecht, brauchen aber auch das Bundesstaatsrecht dort, wo es staatenbündisch anklingt, durch Annahme ungeschriebenen Rechtes in bundesstaatlichem Sinne umzudeuten.

Die Stellung der Beschwerdekommissionen im Behördensysteme Zugleich ein Beitrag zur Lehre über den Unterschied von Justiz und Verwaltung 1

I. Organisation und Funktion der Beschwerdekommissionen Für jede Rechts- und Staatseinrichtung sind drei Momente charakteristisch: ihre Organisation, ihr Zweck und ihre Mittel; mit anderen Worten: die Organe, durch die sie wirkt, die Aufgabe, für die sie wirkt, die Art und Weise, wie sie wirkt. Die Einrichtung der Beschwerdekommissionen, die mit der Kaiserlichen Verordnung vom 18. März 1917, RGBl. Nr. 122, geschaffen wurde, ist nach jeder der angeführten Hinsichten überaus bemerkenswert und unter zahlreichen interessanten Kriegsgründungen vom Rechtsstandpunkte wie übrigens auch unter manchen anderen Gesichtspunkten2 zweifellos eine der interessantesten. In der Zusammensetzung der Beschwerdekommissionen mischt sich, um in bunter Folge nur einige dieser in einem Kollegium vereinigten Gegensätze anzuführen, Militär und Zivil, Laienelement mit rechtskundigen Mitglie-

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, 3. Jg. (1918), S. 656-682. 1 Vgl. zu diesem Problem meine Abhandlung: „Das kaiserliche Patent über die Fortführung der Landesverwaltung des Königreiches Böhmen und das richterliche Prüfungsrecht. Zugleich ein Beitrag zur Lehre über den Unterschied von Justiz und Verwaltung." Jahrgang 1915, H. 3 dieser Zeitschrift. 2

In der vorliegenden Untersuchung wird ausschließlich der Rechtsstandpunkt eingenommen und von jeglichen volkswirtschaftspolitischen oder soziologischen Betrachtungen, für die sich auf diesem Gebiete gewiß ein dankbares, meines Wissens bisher völlig unbeackertes Feld eröffnen würde, grundsätzlich abgesehen.

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dem, Berufsausübung mit Ehrenamt, neutrales Beamtentum mit parteiischem Interessententum3, Verwaltung und Justiz (in der geläufigen Bedeutung dieser beiden letztgenannten Worte); mindestens diese wichtigen begrifflichen Gegensätze werden durch das Nebeneinanderstehen und Zusammenwirken der folgenden, jeder Kommission notwendig angehörenden Mitglieder repräsentiert: Ein vom Ministerium für Landesverteidigung bestellter militärischer Vorsitzender, ein vom fachlich zuständigen Ministerium - ehedem Handelsministerium, nunmehr Ministerium für soziale Fürsorge, und, soweit sich die Tätigkeit der Kommissionen auf Bergwerksbetriebe erstreckt, Ministerium für öffentliche Arbeiten - ernanntes „Mitglied", ein vom Justizministerium bestimmter Richter und schließlich je ein - wiederum vom fachlich zuständigen Minister berufener - „Vertreter" aus dem Stande der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, alle Mitgliederkategorien mit der erforderlichen Zahl von Stellvertretern. 4 Womöglich noch bunter als die Zusammensetzung sind die Zwecke unserer Institution. An dieser Stelle sei nur ein weiter Rahmen abgesteckt, während die Auflösung dieses augenscheinlich nicht wenig komplexen Wirkungskreises in die Einzelaufgaben in einem anderen Zusammenhange (an der Hand der Tätigkeitsformen) erfolgen soll. Das Gesetz beruft die Beschwerdekommissionen zur Festsetzung der Löhne aller jener Personen, „die in den militärischen Zwecken dienenden Betrieben beschäftigt" sind, zur Genehmigung der Auflösung der Arbeitsverhältnisse eben dieser Personen (welche teils bereits durch das Kriegsleistungsgesetz, teils erst durch die vorliegende Kaiserliche Verordnung in eigentümlicher Weise an den Betrieb gebunden wurden), sowie zur Entscheidung über „Ansprüche, die

3

Diese Berufung von Interessenten (gerade in ihrer Eigenschaft als Interessenten) zu öffentlichen Funktionen ist eine der typischesten Erscheinungen des Modernisierungsprozesses im heutigen Staatsleben. Dieser Einschlag von Selbstverwaltung in die Staatsverwaltung trägt in sie, die für eine ältere Vorstellungswelt notwendig „über den Parteien" stand freilich um in Wirklichkeit nur zu oft deren Gefangene zu sein - ein Element der Parteilichkeit, das bewußt in Kauf genommen, wenn nicht gar beabsichtigt wird. Diese generelle Parteilichkeit als Ausfluß der Parteizugehörigkeit, die in Ermessensfragen regelmäßig zu Gunsten der eigenen wirtschaftlichen Gruppe (Arbeitgeber oder Arbeitnehmer) optiert, ist mit jener Befangenheit im einzelnen Falle, die selbst die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung gefährdet, nicht zu verwechseln. 4 Vgl. § 6 der zitierten Kaiserlichen Verordnung und der hiezu ergangenen Durchführungsverordnung vom 19. März 1917, RGBl. Nr. 123.

Die Stellung der Beschwerdekommissionen im Behördensysteme

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sich auf den bestehenden Lohn- oder Arbeitsvertrag oder auf die von den Beschwerdekommissionen festgesetzten bezüglichen Bedingungen gründen": teilweise also Aufgaben des Staates, die bisher schon - in den Wirkungskreis der Gerichte gehörig - bestanden haben, zum Teil aber auch Aufgaben - es sei nur auf die Möglichkeit verwiesen, durch Entscheidung der Beschwerdekommission Minimal- oder Maximallöhne, Höchstarbeitszeit und Mindestarbeitsleistung zu fixieren, - die im heutigen Staatsleben ein mehr oder minder weitgehendes Novum darstellen.5 Diesen verschiedenen Aufgaben entsprechen begreiflicherweise verschiedene Tätigkeitsformen; freilich kennt sie das Gesetz6 allesamt nur unter dem einen gemeinsamen Namen der Entscheidung. Doch es liegt auf der Hand, daß dieses Wort nicht in seiner gebräuchlichen, engen Bedeutung von Rechtsprechungsakten7 verstanden sein kann, sondern ziemlich disparate Rechtserscheinungen umfaßt. Zieht man den vorhin angedeuteten Wirkungskreis der Beschwerdekommissionen in Betracht, so erkennt man, daß bei Erledigung der den Beschwerdekommissionen zugedachten Aufgaben alle widergesetzlichen Staatsakte in Frage kommen, die von der herrschenden Terminologie als Entscheidungen, Verfügungen und Verordnungen be-

5

Der umschriebene Wirkungskreis der Beschwerdekommissionen ist in den §§1,3 und 5 der Kaiserlichen Verordnung und ihrer Ausführungsverordnung niedergelegt. 6 Der letzte Absatz des § 4 besagt: ,,Ihre Entscheidungen sind für beide Teile rechtsverbindlich, unanfechtbar und im Wege der politischen Exekution vollstreckbar." Man könnte vielleicht annehmen, daß sich dieser Satz eben nur auf jenen Ausschnitt des Wirkungskreises der Beschwerdekommissionen beziehe, der mit den „Entscheidungen" im Sinne des anerkannten Sprachgebrauches zusammenfällt. Doch findet sich keine analoge Bestimmung über die restlichen Funktionen (Verordnungen und Verfügungen), die in den Wirkungskreis der Kommissionen fallen. Da es nun sicherlich viel näher liegt, daß mit dem zitierten Satze die Frage nach der formellen Rechtskraft und nach der Vollstreckbarkeit sämtlicher möglicher Erledigungen der Kommissionen beantwortet, als daß sie hinsichtlich der Verordnungen und Verfügungen offen geblieben sei, wollen wir annehmen, daß die letztgenannten Begriffe vom gesetzlichen Terminus „Entscheidung" mitumfaßt sind. Ein grammatikalisches oder logisches Bedenken läßt sich kaum gegen diese Auslegung des Wortes und Begriffes „Entscheidung" erheben. Eine andere Frage ist, ob das Gesetz - nicht bloß vom theoretischen, sondern auch vom praktischen Standpunkte aus - gut daran tat, sich von der wissenschaftlichen Terminologie zu entfernen. 7 Bezüglich des Begriffes der Rechtsprechung vgl. das auch insoweit noch richtunggebende Werk von Bernatzik, Rechtsprechung und materielle Rechtskraft, S. 1 bis 80, Definition auf S. 64.

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zeichnet werden.8 Es seien die gesetzlich vorgesehenen Fälle dieser verschiedenen Funktionen im folgenden flüchtig überblickt: Wie ein Zivil-, insbesondere Gewerbegericht urteilt die Kommission über Fragen des Lohnvertrages. Hier ist das von Gesetzes wegen (als Bestandteil des bürgerlichen Rechtes) geltende, unter Umständen9 das von der Beschwerdekommission für den betreffenden Betrieb festgesetzte Arbeitsrecht anzuwenden und auf seiner Grundlage zu judizieren. Es handelt sich hiebei zwar nicht um „Urteile" - das Urteil ist nach österreichischem Rechte ein Formalbegriff, der sich bloß auf einen Ausschnitt gerichtlicher Akte beschränkt - wohl aber um Entscheidungen im eigentlichen, engeren Sinne. Der soeben besprochenen Funktion der Beschwerdekommissionen liegt jene am nächsten, die in der Zustimmung zur Auflösung von Arbeitsverhältnissen besteht.10 Bekanntlich ist es eine der Aufgaben unserer Kaiserlichen Verordnung, die bestehenden Arbeitsverhältnisse zu perpetuieren und die Lösung künftig eingegangener Arbeitsverhältnisse zu erschweren, insbesondere vom Parteiwillen unabhängig zu machen. Nicht mehr genügt zum Austritt aus dem Betriebe, falls der militärische Leiter eines nach § 18 des Kriegsleistungsgesetzes in Anspruch genommenen Betriebes nicht seine Zustimmung erteilt, die Kündigung von Seite des Arbeitgebers oder Arbeitnehmers und auch nicht die Vereinbarung beider Teile, sondern es muß noch die Genehmigung der Beschwerdekommission hinzutreten. Diese „Zustimmung kann nicht verweigert werden, wenn sie aus Gründen begehrt wird, die nach gesetzlichen Vorschriften zur vorzeitigen Auflösung berechtigen", ist also für ein gewisses Gebiet rechtlich enge determiniert, wodurch die darauf bezüglichen Entscheidungen noch den Charakter von Rechtsprechungsakten erhalten. Für die übrigen Fälle von Begehren um Genehmigung des Austrittes einer an den Betrieb gebundenen Person ist die Entschließung

8 Bezüglich dieser Terminologie vgl. Kormann, System der rechtsgeschäftlichen Staatsakte, und die dort zitierte umfassende Lieratur, ferner insbesondere Friedrich Tezner, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Jg. 1, H. 1/2 und 3/4, „System der obrigkeitlichen Verwaltungsakte". 9

Siehe § 3, Abs. 4 der Kaiserlichen Verordnung.

10

Siehe § 5 der Kaiserlichen Verordnung.

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in das Belieben der Beschwerdekommission gestellt. Bei diesem Grade von Ermessensfreiheit nähert sich 11 ihre „Entscheidung" der Verfügung. Ganz auf dem Gebiete der Verfügung dürfte (bei zunächst rein inhaltlicher Betrachtung der Akte ungeachtet des Wortes „Entscheidung") jenes Tätigkeitsfeld der Beschwerdekommission zu liegen kommen, das durch die „Erledigung ... von Begehren auf Änderung der Arbeitsbedingungen" 12 gebildet wird. Hiebei handelt es sich nicht mehr um Anwendung geltenden Rechtes - von dem in Rede stehenden ermächtigenden Rechtssatze selbstverständlich abgesehen - sondern um Eingriffe in die bestehende Rechtslage, um die Umgestaltung, Neuschaffung von Recht - Recht allerdings in der Regel nur für den Einzelfall. Und damit haben wir den Übergang zu der letzten Kategorie von Funktionen der Beschwerdekommissionen gewonnen: Die Beschränkung auf den Einzelfall fällt, wenn nicht schon bei den letztangeführten „Entscheidungen", dann zum mindesten bei der Lohnfestsetzung im Sinne des § 1 der Kaiserlichen Verordnung. Dieser Gesetzesstelle ist nämlich gleicherweise die Ermächtigung zur Normierung eines generellen wie zur Dekretierung eines individuellen Lohnes zu entnehmen, das heißt zur Erlassung einer Verordnung, welche Art und Höhe des Lohnes zum Gegenstande hat, nicht anders wie zur Hinausgabe einer das Gleiche beinhaltenden Verfügung. Es können also zum Beispiel durch „Entscheidung" der Beschwerdekommis-

11

Nach den herrschenden Auffassungen ist zum mindesten das Grenzgebiet zwischen Entscheidungen und Verfügungen verschwommen. Es gibt Akte, die man nach der üblichen Terminologie sowohl als Entscheidungen als auch als Verfügungen bezeichnen kann. In der Theorie und vielleicht noch mehr in der Praxis scheint die Tendenz dahin zu gehen, eine klare Scheidelinie innerhalb dieses verschwommenen Grenzgebietes auf die Weise zu ziehen, daß man die Entscheidungen der Justiz, die Verfügungen der Verwaltung zuweist, gleichartige Akte demnach verschieden benennt, je nach dem Gebiete, auf dem sie spielen. Hier ist also eine materielle Einteilung der Staatsakte von einem formalen Einteilungsgrunde durchkreuzt und damit ein Analogon der nämlichen Inkonsequenz bei der Unterscheidung von Justiz und Verwaltung gegeben. - Nach der Terminologie Ulbrichs, der (im Lehrbuche des österreichischen Verwaltungsrechts, Wien 1904, S. 9) unter den Beispielen der Verfügung ausdrücklich die „Zustimmung" anführt, wäre die Frage eindeutig in der Richtung der „Verfügung" entschieden. 12

Siehe § 3, Abs. 1 der Verordnung.

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sion über Antrag (nicht einmal notwendig des Destinatars) 13 und von Amts wegen - man sieht daran, daß insoweit von „Entscheidungen" nur in einem uneigentlichen Sinne die Rede sein kann - der Lohn eines einzelnen Arbeiters, aber auch die Arbeitslöhne für den Bereich eines ganzen Betriebes, ja sogar für den gesamten Sprengel einer Beschwerdekommission, und nicht nur das, sondern abgesehen von den heute zu zahlenden Arbeitslöhnen, auch für künftig, etwa für alle neu eintretenden Arbeiter maßgebliche Löhne festgesetzt werden. Diese Verordnungsdelegation an die Beschwerdekommissionen, womit auf einem zwar inhaltlich sehr engen Gebiete - Lohnart und -höhe - eine sachlich sehr weitgehende, lediglich durch das Erfordernis der „Angemessenheit des Lohnes" begrenzte Verordnungsbefugnis an die Beschwerdekommissionen verausgabt wurde, ist jene auffälligste Seite der neuen Institution, der die vollste Beachtung gebührt, bisher jedoch noch kaum zuteil geworden ist. Es ist übrigens nicht ausgemacht, ob die Konsequenzen dieser rechtlichen Ordnung der Dinge von den Kodifikatoren restlos ausgedacht wurden;andrerseits steht es fest, daß die Beschwerdekommissionen von der in ihre Macht gelegten rechtlichen Möglichkeit bei weitem nicht erschöpfend Gebrauch gemacht haben. Ein kronländer- oder bezirksweise verschiedenes, innerhalb dieser Grenzen aber auch wiederum gleiches Lohnrecht - das bedeutet zugleich die Suspension der zivilrechtlichen Vertragsfreiheit auf diesem Gebiete - könnte das Ergebnis einer das sehr zweckmäßige gesetzliche Blankett sehr unzweckmäßig ausschöpfenden Praxis sein.

13 Die Frage der Legitimation zur Einbringung der Beschwerde ist nicht eindeutig beantwortet. Sagt das Gesetz: „Sie (die Beschwerdekommissionen) haben sowohl über Begehren einzelner als auch mehrerer Personen zu entscheiden und können auch von Amts wegen einschreiten" (§ 4 Abs. 2), so ist damit noch nicht ausgeschlossen, daß ein Begehren nicht auch anderen Personen als den Einschreitern zu gute kommt. Insbesondere bei dem Begehren „mehrerer Personen" - Worte, die offenbar Eindeutigkeit vermissen lassen - liegt der Gedanke nahe, daß die Destinatäre der Entscheidung mit den Petenten nicht identisch zu sein brauchten. Eine Untersuchung des sicherlich aufhellungsbedürftigen Sinnes der Worte „mehrerer Personen" würde vom Thema zu weit abführen. Nur sei in diesem Zusammenhange festgestellt, daß die Frage der Legitimation der Antragsteller schwerlich die Gültigkeit der daraufhin ergehenden Entscheidung der Kommission zu berühren vermag. Es muß berücksichtigt werden, daß über denselben Gegenstand dieselbe Entscheidung wie über Antrag so auch von Amts wegen getroffen werden kann. Gehabt sich also eine Entscheidung als Erledigung eines Parteibegehrens, dem die gesetzliche Legitimation gleichwohl fehlt, so kann trotzdem die Entscheidung bestehen, wobei das Parteibegehren für die juristische Konstruktion den Charakter einer Motivation der Kommission zu einem Vorgehen von Amts wegen annimmt.

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Diese wenigen Andeutungen dürften übrigens erwiesen haben, wie übervoll an modernen und fruchtbaren Gedanken das vorliegende Gesetzeswerk ist; es ist nur selbstverständlich, daß ein gedankenreicher Gesetzgeber die Wirkungsmöglichkeiten seines Gesetzeswerkes ebensowenig übersehen kann, wie ein schöpferischer Künstler die Deutungsmöglichkeiten seines Kunstwerkes. I I . Die Beschwerdekommissionen-Gerichte oder Verwaltungsbehörden? Versuchen wir nach dieser flüchtigen Charakterisierung von Organisation, Zweck und Wirkungsweise der Beschwerdekommissionen ihre Klassifizierung, so kommt die Einreihung unter die Justiz- oder Verwaltungsbehörden in Frage. Die Auffassung als gesetzgebendes Organ kann von vornherein außer Betracht bleiben; die materiell gesetzgeberische Kompetenz, die in der Fähigkeit zur Lohnnormierung gelegen ist, hebt nicht die formal dem Gesetze unterworfene Stellung der Beschwerdekommissionen auf; insoweit unterscheiden sie sich von keiner mit Verordnungsgewalt ausgestatteten Exekutivbehörde. Von dem Standpunkte aus, der in den folgenden Ausführungen eingenommen werden wird, ist man zur Frage gedrängt, inwiefern die im vorigen vorgenommene Charakterisierung von Aufgaben und Tätigkeitsformen der Beschwerdekommissionen dem Vorhaben ihrer Lokalisierung im staatlichen Behördenorganismus zu dienen geeignet sei. Ich bin mir bewußt, mit den vorstehenden Ausführungen über die Erkenntnis hinaus, daß die Beschwerdekommission eine zugleich verordnende, verfügende und entscheidende Behörde ist, nichts für den Charakter der Beschwerdekommissionen Maßgebendes gewonnen zu haben. Eben dieselben Feststellungen sind aber für die herrschende Theorie und Praxis wohl schon genügend, ein endgültiges Urteil in Bezug auf die Klassifikation einer Behörde zu wagen. Denn alle im vorigen aufgezählten Merkmale werden für die Frage nach dem Behördentypus, dem die Beschwerdekommissionen angehören, als mehr oder weniger bedeutungsvoll erachtet. 14

14 Im folgenden kann es selbstverständlich nicht unsere Aufgabe sein, das Problem des Verhältnisses zwischen Justiz und Verwaltung ex professo zu behandeln, sondern handelt es sich lediglich darum, die Anwendbarkeit der typischen Konstruktionsversuche auf unseren Fall zu erproben.

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Da ist es zunächst der Wirkungskreis einer Behörde, aus dem man auf ihren juristischen Charakter schließt. Um ein Sprichwort zu variieren, könnte man von dieser Bestimmung des Charakters einer Behörde behaupten: Sage mir, was du tust, und ich sage dir, wer du bist! Dieser Schluß wird auf zwei Varianten gezogen, wobei sich die Wege freilich vielfach berühren. Es ist entweder der Zweck oder das Mittel einer Behörde, das für ihre Stellung charakteristisch sein soll, die Aufgabe oder die Form, mittels deren die Behörde dieser Aufgabe gerecht zu werden hat, wofern nicht diese beiden Seiten des Wirkungskreises zusammen das Kriterium der juristischen Qualität einer Behörde abgeben. Nach Tezner 15 besteht ,,das Vorgehen der rechtsprechenden Behörde ...im Aussprechen ihrer Erkenntnis, für die Verwaltungsbehörde ist solcher Ausspruch ein bloßer Durchgangspunkt, durch welchen sie zur Erfüllung ihrer Aufgabe hindurchschreitet"; die Sorge für die Erreichung eines bestimmten Verwaltungszweckes ist es, welche die Tätigkeit der ,,nach den rechtlichen Mitteln für diese Erreichung suchenden Verwaltungsbehörde von der einer rechtsprechenden Behörde scharf abhebe".16 Wie löst sich unser Problem nach dieser Theorie? Erinnern wir uns der disparaten Agenden der Besch Werdekommissionen! In der von dem vorigen Zitate - methodisch, nicht materiell - vorgezeichneten Richtung wäre es zum Beispiel gelegen, wenn man sagte: Bei der Judikatur der Beschwerdekommissionen über bestehende Arbeitsverhältnisse komme es darauf an, festzustellen, ob ein bestimmter Parteianspruch zu Recht bestehe; bei der Festsetzung der Lohnhöhe handle es sich darum, sozialen Frieden und soziale Gerechtigkeit im Betriebe aufrecht zu erhalten; in jenem Falle sei die Handlung selbst, in diesem ihre Wirkung bezweckt; dort stehe ein privates, hier ein öffentliches Interesse in Frage usw.; und daher sei dort Justiz und hier Verwaltung anzunehmen. Woran erkennt man aber diese verschiedenen Zwecke? Man supponiert sie dem Akte doch wohl nur - und zwar in durchaus willkürlicher Weise -

15

Handbuch des österreichischen Administrativverfahrens, S. 6.

16

A.a.O., S. 3.

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um vermöge des bestimmten Zweckes den Akt als Justiz- oder Verwaltungshandlung erscheinen zu lassen, wobei man ebenso willkürlich den einen Zweck als für die Verwaltung, den anderen als für die Justiz charakteristisch ansieht. Warum soll übrigens die Sorge für die Erreichung eines bestimmten „Genc/tfszweckes" nicht auch dem Gerichte eigen sein, wie ,,die Sorge für die Erreichung eines bestimmten Verwaltungszweckes" angeblich der Verwaltungsbehörde? Mir scheint, daß man die über die Verwaltung und die Justiz aufgestellten Behauptungen mit vollster Berechtigung vertauschen könnte. Es wäre eine Klassifizierung von Rechtsgeschäften in solche der Justiz und der Verwaltung an der Hand des erwähnten Unterscheidungsmerkmales insolange unbedenklich, als sich an die Frage, welche der beiden Staatsgewalten im Spiele ist, keine positivrechtlichen Konsequenzen knüpfen. Nun ist aber die Tatsache, daß ein Staatsakt Verwaltungsakt oder Gerichtsakt, daß eine Behörde Verwaltungs- oder Gerichtsbehörde ist, in mehr als einer Beziehung von positivrechtlicher Bedeutung.17 Soll die Frage, welche dieser unterschiedlichen Konsequenzen zutreffen, davon abhängen, welchen Sinn man dem Akte, welches Wesen man der Behörde nach der angegebenen Methode beizumessen findet? Das Urteil auf Grund dieses schwanken Kriteriums würde übrigens unfehlbar immer in der Richtung gehen, daß jene Rechtsfolgen a posteriori bedingt erscheinen, welche man a priori wünscht. Konkret gesprochen, würde man an der Hand dieses scheinbaren Kriteriums den Beschwerdekommissionen jeweils die Eigenschaft imputieren, die es vermeintlich bedingt, daß die Sonderbestimmungen über Gerichte oder die über Verwaltunsbehörden Anwendung finden. Man würde sich ständig in einem Zirkel bewegen. Man kann also auf Grund unseres Kriteriums kein eindeutiges Urteil darüber gewinnen, welchem Behördentypus eine Einrichtung, wie etwa die Beschwerdekommissionen, angehört. Eignet sich aber das Kriterium auch nicht zur erstmaligen Bestimmung des Charakters einer Behörde, so ist es, wofern dieser anderweitig gegeben ist, gewiß geeignet, diese positivrecht-

17 Die wichtigste Rechtsfrage, für welche die Frage nach dem Behördentypus Vorfrage ist, wird im dritten Abschnitte aufgerollt werden; es ist das Problem der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit.

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liehe Unterscheidung rechtspolitisch oder rechtsphilosophisch zu deuten. Es liegt uns vollständig fern, einen solchen gewiß zutreffenden, geistvollen Deutungsversuch wie den vorerwähnten von Tezner zu verkennen und zu verkleinern. ***

Nicht weniger als durch die Einstellung auf den Zweck wird durch die Hervorhebung der Form der Tätigkeit der Gegensatz zwischen Justiz und Verwaltung in einer dem positiven Rechte fremden Weise verabsolutiert. Wir behaupten, daß die Form der Tätigkeit für den Unterschied zwischen Justiz und Verwaltung nach österreichischem Rechte ebensowenig charakteristisch sei wie ihr Zweck. Daß unsere Behauptung nicht nur gegen die Laienmeinung, sondern auch gegen gewichtige Stimmen der Literatur und Judikatur anzukämpfen hat, möge nur folgendes Zitat aus Fritz Fleiners „Institutionen des deutschen Verwaltungsrechtes" erweisen: „Aber eine bestimmte Tätigkeit ist für jede von ihnen - gemeint sind die Staatsgewalten - eigentliches Lebenselement; für die Gerichte das Rechtsprechen, für die Verwaltungsbehörden das Verwalten, für die Gesetzgebungsbehörden das Rechtsetzen".18 Mit dieser auf den ersten Blick tautologischen Ausdrucksweise ist wohl gemeint, daß der Justiz die Tätigkeitsform der Entscheidung, der Verwaltung die der Verfügung und Verordnung eigen sei. 19 Noch spukt durch diese modernsten Formulierungen des Unterschiedes von Justiz und Verwaltung der alte Irrtum, den schon Bernatzik 20 gründlichst sollte man meinen - durchleuchtet hat, daß nämlich die Rechtsprechung Monopol der Justiz sei. Dies in einer Zeit behaupten, wo Verwaltungsbehörden - nicht anders als Gerichte - zum Beispiel über den Regreßanspruch einer Krankenkasse nach dem Krankenversicherungsgesetze oder über die Zulässigkeit einer Ehe auf Grund eines Begehrens um Ausstellung eines Ehefähigkeitszeugnisses, oder über einen strafbaren Tatbestand, um sonach

18

A.a.O., S. 12(2. Aufl.).

19

Nur bei solcher Auslegung des Satzes schwindet die auf der Hand liegende Tautologie.

20 A.a.O., S. 64 und passim.

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eine Verwaltungsstrafe zu verhängen, „zu Recht erkennen" 21, ist doch ein Verkennen der Verwaltungstätigkeit, die einen allzu großen, wenn nicht bei dem heutigen Stande der verwaltungsbehördlichen Kompetenzen - vielleicht sogar den größeren Teil der Verwaltungstätigkeit unter den Tisch fallen läßt. Aber es ist nun freilich gar nicht beabsichtigt, der Verwaltung diese Tätigkeiten abzusprechen. Man zieht gar nicht die Konsequenz, daß diese Tätigkeit nicht Verwaltungstätigkeit ist, wo sie so offenkundig einer Verwaltungsbehörde übertragen wurde, sondern hilft sich über den aufliegenden Widerspruch etwa auf die Weise hinweg, daß man diese Fälle von Entscheidungen als eine „uneigentliche" Rechtsprechung erklärt, oder wenn man den Rechtsprechungsakt nicht verschleiern kann und will - daß sie nicht die „eigentliche" Aufgabe der Verwaltung seien und dergleichen mehr. Wenn man einerseits diese Rechtsprechungsakte schließlich doch wohl oder übel als Verwaltungsakte anerkannt und andrerseits unzweifelhafte Verfügungen von Gerichten - etwa die typischen Geschäfte im Verfahren außer Streitsachen - als Rechtsprechung hingestellt findet, dann ist offenbar, daß die Zeitwörter „rechtsprechen" und „verwalten" nichts anderes besagen als die Hauptwörter „Justiz" und „Verwaltung" und daß die Definition jener Begriffe durch diese ein typisches Beispiel der definitio per idem ist. Daß man auf diesem Wege - einer Variante des Schlusses von der Tätigkeitsform auf den Charakter der Behörde - zu keiner Erkenntnis des Behördentypus gelangt, hat seinen naheliegenden Grund: Hat man doch in die Wörter ,,Rechtsprechen" und ,, Verwalten" alles hineingelegt, was man in der Justiz und Verwaltung finden will; es haben hienach die Begriffe des Rechtsprechens und Verwaltens keine selbständige Existenz, sondern sie sind durch den schon vorweg gegebenen Justiz-und Verwaltungsbegriff gegeben, den sie naturtreu widerspiegeln! Wollen wir auf diese Aufstellungen mit unserem Falle der Beschwerdekommissionen die Probe machen und aus ihrer Tätigkeitsform ihren Behördencharakter zu ermitteln suchen, so stoßen wir auf die Vorfrage, welcher Art ihre Tätigkeitsform sei. 22 Die Kaiserliche Verordnung faßt, wie bereits

21

Die Vertreter des Rechtsprechungsmonopoles der Justiz müßten sogar daran Anstand nehmen, wenn sich in der verwaltungsbehördlichen Entscheidung das Wort ,,zu Recht erkennen" findet. 22

Vgl. hierüber oben S. 658.

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festgestellt, alle denkbaren Akte der Beschwerdekommission unter dem einen gemeinsamen Namen der Entscheidungen zusammen. Hienach wäre die, Entscheidung" etwa als Kriterium der Justiz vorausgesetzt - der Schluß auf die Gerichtsnatur der Beschwerdekommissionen sehr einfach. Doch wurde schon gezeigt, wie disparat die durch den Namen der Entscheidung unifizierten Akte der Beschwerdekommissionen sind! Es sind teils solche darunter, die sie nach der heute herrschenden Auffassung als Gerichte, teils solche, die sie als Verwaltungsbehörden qualifizieren würden. Diese zwiespältige Kategorisierung der Beschwerdekommissionen, die schon bei der Anlegung des Zweckmaßstabes an ihre Akte nahe lag, ist bei der Wahl der Form zum Kriterium der Kategorisierung unvermeidlich. Nun ist eine solche doppelte Konstruktion der Beschwerdekommissionen weder theoretisch noch praktisch ausgeschlossen23, doch widerspricht dies so allen herrschenden Denkgewohnheiten, daß man nichts Eiligeres zu tun hätte, als dieses zwiespältige Urteil in eine einzige Richtung - welche, darüber hätte der persönliche Geschmack zu entscheiden - umzubiegen. ,,A potiori" würde dann die Beschwerdekommission entweder Gericht oder Verwaltungsbehörde sein, wobei als die potior jene Funktion gelten würde, die den den Behördentypus charakterisiert, den man gerade anzunehmen wünscht. * * *

Auch die beteiligten Organe könnten vielleicht für den Charakter der Institution bestimmend sein. Doch da stehen dem einen Richter mehrere typische Verwaltungsfunktionäre gegenüber, und wenn man nicht etwa die Zahl - gewiß auch ein willkürliches Kriterium - zu Gunsten der Verwaltungsbehörde entscheiden lassen will, so ist jedes weitere Urteil in der einen oder anderen Richtung bare Willkür. 24

23 Das positive Recht entschied sich allerdings, wie noch zu zeigen sein wird, für eine einheitliche Qualifikation. 24 Bei Annahme des Justizcharakters könnte man sich etwa über das Vorhandensein der nichtrichterlichen Mitglieder dadurch hinwegsetzen, daß man sie als Schöffen deutet, bei Annahme des Verwaltungscharakters über das richterliche Mitglied hingegen auf die Weise, daß er eine Art Sachverständiger in Rechtsfragen sei. Beide Deutungsversuche wären übrigens rechtlich bedeutungslos.

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Nicht viel anders würde man vorgehen, wenn man die Agenden der Beschwerdekommission etwa danach unterschiede, was einerseits ursprünglich in den Wirkungskreis von Gerichten gehörte und was andrerseits typischerweise in die Kompetenz von Verwaltungsbehörden gelegt ist; und wenn man hienach die Beschwerdekommissionen teilweise als Gerichte, teilweise als Verwaltungsbehörden hinstellte. Es sei darauf verwiesen, daß die Beschwerdekommissionen auf einem nicht unbeträchtlichen Gebiete ihrer Wirksamkeit mit den Gerichten konkurrieren 25, und daß sie andrerseits als Lohnnormierungsämter in typischer Weise gleich höheren Verwaltungsstellen eine weitgehende Verordnungsgewalt ausüben. Aber der naheliegende und beliebte Schluß, daß sie darum dort Gerichte, hier Verwaltungsbehörden seien, ist trotzdem aus der Luft gegriffen. Muß etwas, was bisher in die Kompetenz der Gerichte fiel, notwendig immer in diese Kompetenz fallen, so zwar, daß es jede beliebige Behörde, die mit diesen Funktionen jemals befaßt ist, notwendig als Gericht qualifiziert? Würde die einmalige Zuteilung einer Angelegenheit an Justiz oder Verwaltung endgültig über den juristischen Charakter dieser Angelegenheit entscheiden, so wäre ja jeder weitere Versuch einer gesetzlichen Kompetenzverschiebung erfolg- und darum zwecklos. Wem ernstlich das Organ Bestimmgrund des Charakters der Behörde ist, dem bliebe schließlich wieder nichts anderes übrig, als die Beschwerdekommission zwiespältig zu kosntruieren; er ist aber gegenüber jenem, der von der Form oder vom Inhalte der einzelnen Entscheidung ausgehend zu einem zwiespältigen Urteile gelangt, dadurch im Nachteile, daß ihn die Doppelnatur der Kommission durch deren ganze Tätigkeit verfolgt, weil ja der Richter und die sonstigen Mitglieder zusammenwirken, gleichgültig, ob eine Entscheidung oder Verordnung oder Verfügung in Frage stehen mag. Es löst nicht je nach dem Gegenstande der Verhandlung das Gericht die Verwaltungsbehörde ab und umgekehrt, sondern es wäre die Kommission zu gleicher Zeit Gericht und Verwaltungsbehörde zugleich. Welche Normen sollen da nun im einzelnen Falle Anwendung finden - die für ein Gericht oder für eine Verwaltungsbehörde maßgeblichen? Denn da sich diese positivrechtlichen Bestimmungen - sehr im Gegensatze zur Harmonie der angedeuteten Konstruktion - durchaus widersprechen, könnte immer nur die

§ 3 der Kaiserlichen Verordnung.

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eine Gruppe der Bestimmungen angewendet werden. Die Frage führt die Konstruktion wohl schon ad absurdum. Und damit ist die Reihe der typischen Schlüsse von unjuristischen Merkmalen auf diesen oder jenen juristischen Charakter einer Behörde, in unserem Falle der Beschwerdekommission, so ziemlich erschöpft. * * *

Es soll dem materiellen Justiz- und Verwaltungsbegriffe, der in den mannigfachsten Formulierungen die heutige Theorie und Praxis noch immer beherrscht, vorausgesetzt, daß er sich auf ein durchgreifendes Unterscheidungsmerkmal stützt - was allerdings bei den unterschiedlichen Formulierungen nur in sehr verschiedenem Maße zutrifft 26 - nicht jede Denkmöglichkeit und Daseinsberechtigung abgesprochen werden. Nur muß man sich bewußt bleiben, daß das Gesetz in voller Unabhängigkeit von diesen Kategorisierungsversuchen der Theorie und Praxis einen eigenen (formalen) Justizbegriff aufstellen kann, der maßgebend zu sein hat, wo die Rechtsordnung die beiden Ausdrücke verwendet und an sie verschiedene rechtliche Konsequenzen knüpft; Justiz und Verwaltung ist dann nichts als der zusammenfassende Name für das Anwendungsbereich dieser Bestimmungen. Zu bekämpfen ist der materielle Justiz- und Verwaltungsbegriff erst dann, wenn er, seine subsidiäre Geltung überspannend, sich an die Stelle der ausdrücklichen Begriffsbestimmung setzen wollte, die eine positive Rechtsordnung vorgenommen hat. In der treffenden, aber Mißverständnissen unschwer ausgesetzten These von Vierhaus 21:,,nicht der Inhalt der Tätigkeit bestimmt nach unserem geltenden Rechte den Charakter der Behörde, sondern der

26 Nach dem Zwec/cmomente wird man schwerlich zu einer klaren Teilung der Funktionen in solche der Justiz und Verwaltung gelangen. Eher wird dies gelingen, wenn man die Form der Handlungen als Teilunsprinzip verwendet, da hienach die Grenzen des Reiches der Justiz und Verwaltung nur insoweit strittig sind, als eine Handlung etwa die doppelte Kategorisierung als Entscheidung und Verfügung zuläßt. Zu der klarsten Grenzabscheidung dürfte man gelangen, wenn man alle Agenden, die in den Händen eines bestimmten Organes vereinigt sind, unter dem Namen von Justiz oder Verwaltung zusammenfaßt und sodann diesen Namen auch unbekümmert um eine positivrechtliche Kompetenzverschiebung beibehält. Gerade der letzte Vorgang ist aber der inkonsequenteste, indem er einen positivrechtlichen mit einem rechtsfremden Einteilungsgrund kombiniert, von einer positivrechtlichen Gegebenheit zwar ausgeht, den Wandlungen des positiven Rechtes aber nicht folgt. 27

„Gerichtsbarkeit und Verwaltungshoheit", Verwaltungsarchiv, Bd. 11, S. 222 bis 251.

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Charakter der zuständigen Behörde ist das einzige positive Merkmal zur Entscheidung der Frage, ob Verwaltungs- oder Gerichtsbarkeitsakt vorliegt", ist der Hauptton auf die Worte von „unserem geltenden Rechte" zu legen, Worte, die der Autor leider nicht genügend herausstreicht, ja geradezu nur wie zufällig einstreut. Ist für Gerichte einerseits, Verwaltungsbehörden andrerseits irgend ein Sonderrecht statuiert, ohne daß die so benannten Behörden gesetzlich definiert sein würden, dann muß wohl oder übel die Interpretation die fehlenden Definitionen bieten und wird sich hiebei notwendig an materielle Gesichtspunkte halten, als Gerichte oder als Verwaltungsbehörden also etwa jene Organe bezeichnen, die in bestimmter Weise beschäftigt sind. Hat aber das positive Recht Legaldefinitionen des gesuchten Inhaltes parat, dann brauchen wir die angedeuteten Interpretationen nicht, dann ist für sie überhaupt kein Platz, außer man würde in den Fällen, wo die Rechtsordnung an ihren Gerichts- und Verwaltungsbegriff Konsequenzen knüpft, den wissenschaftlich konstruierten Begriff in den gesetzlichen transponieren. Nun hat aber bekanntlich die österreichische Rechtsordnung das Gebiet der Justiz - nicht so das Gebiet der Verwaltung, der aber mittelbar der Rest der untergesetzlichen Staatstätigkeit zugeteilt wird - in ganz bestimmter Weise umschrieben: ,,Die Richter sind in Ausübung ihres richterlichen Amtes selbständig und unabhängig" sagt der Eingangssatz des Art. 6 unseres Staatsgrundgesetzes über die richterliche Gewalt. Und zu dieser Bestimmung der Verfassung hat man, um zu erfahren, was im einzelnen Falle Recht ist, alle jene Organisationsrechtssätze hinzuzuhalten, die eine Behörde als „Gericht" erklären, und jene Kompetenzbestimmungen, die ein „Gericht" zu einem bestimmten Staatsakte berufen. Und als Justiz stellt sich sonach die Summe jener Handlungen dar, die in den Wirkungskreis der als Gerichte bezeichneten Organe gelegt ist. Es muß also die zum Handeln berufene Behörde ausdrücklich als Gericht bezeichnet sein, damit man ihre Wirksamkeit als Justiztätigkeit qualifizieren könne. Das Organ qualifiziert die Organhandlung. Man würde der herrschenden Theorie und Praxis Unrecht tun, würde man behaupten, daß ihr diese Erkenntnis völlig fremd geblieben sei. Nur vermag sie diese Erkenntnis kaum rein zu gewinnen und, wo sie durchdringt, nicht rein zu bewahren. Geht man bei der Bestimmung des Charakters einer

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Staatshandlung einerseits von der gesetzlichen Qualifikation eines Organes aus, so geht man außerdem in demselben Falle andrerseits oft unbewußt den entgegengesetzten Weg und läßt die apriorische Qualifikation der Organhandlung auf den juristischen Charakter des Organes abfärben. So begegnen uns gemischte, formell-materielle Auffassungen von Justiz und Verwaltung, wonach sich zwar eine Staatshandlung als Justiz oder Verwaltung darstellt, je nachdem sie von der positiven Rechtsordnung in den Wirkungskreis von Organen gestellt wurde, die als Gerichte oder Verwaltungsbehörden bezeichnet sind, wonach aber die Handlung an dem sich auf diese Weise ergebenden formellen Justiz- oder Verwaltungscharakter mehr oder weniger gewinnen oder verlieren kann, je nachdem sich diese Handlung auch materiell als Justiz oder Verwaltung darstellt oder nicht. 28 Gegenüber dieser kombinierten Theorie fällt der reinen Wissenschaft vom positiven Rechte die Aufgabe zu, das unpositive, das materielle Element auszumerzen.

28

Hieher gehört es, wenn man von dem Verfahren außer Streitsachen, dessen Zugehörigkeit zur Kompetenz von Gerichten man füglich nicht bestreiten kann, feststellt, daß es „eigentlich" Verwaltung sei, oder wenn man an Verwaltungsakten eine „Justizähnlichkeit" zu sehen meint. Im Sinne des österreichischen Rechtes ist selbstverständlich das eine reine Justiz und das andere reine Verwaltung, und die Zutat aus dem Gebiete der anderen Staatsgewalt, die man zu sehen vermeint, ein Trugbild der noch immer naturrechtlich orientierten Phantasie. Wie sehr die österreichische Praxis noch von einer solchen metajuristischen Vorstellung beherrscht ist, bezeugen zwei Wendungen in Mayrhofers Handbuch für den politischen Verwaltungsdienst; so, wenn gesagt wird: „ I n welchem Umfange den einzelnen, mit der politischen Geschäftsführung betrauten Behörden auch weitere Geschäfte, welche in den Bereich anderer Verwaltungszweige fallen, zum Beispiel Justizgeschäfte ... zugewiesen sind ..." Für einen positivistisch denkenden Juristen bewirkt ebendiese Zuweisung eines „Justizgeschäftes" - das übrigens ein solches juristisch niemals an sich, sondern nur kraft der Zuweisung an ein Gericht ist - bewirkt also eine Zuweisung an die Verwaltungsbehörde, das ist eine Kompetenzverschiebung, immer eine Metamorphose der juristischen Qualität, weil diese letztere nichts als eine Kompetenzfrage ist. Man denkt aber beim Worte „Justizgeschäft" unwillkürlich an die „Rechtsprechung", die man typischerweise bei den Gerichten zu sehen gewohnt ist, und arrogiert ihnen jenes Rechtsprechungsmonopol, das ihnen schonBernatzik mit so durchschlagender Logik, aber, wie man sieht, mit leider so wenig praktischem Erfolge zu entwinden bemüht war. - Noch ein überaus bezeichnendes Zitat aus Mayrhofer möge Platz finden: „Auch in Österreich sowie in den meisten anderen Staaten haben die Verwaltungebehörden neben ihrer natürlichen Zuständigkeit in Verwaltungssachen noch eine ihnen durch positive Vorschriften übertragene Komeptenz in gewissen privatrechtlichen Angelegenheiten." (Bd. 1, S. 274) Diese Zuständigkeitsverteilung bewirkt selbstverständlich, daß die fraglichen Angelegenheiten ihren privatrechtlichen, richtiger ihren judiziellen Charakter abstreifen und reine, rechtliche (allerdings nicht natürliche, will sagen naturrechtliche!) Verwaltung werden."

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Bestimmen wir nach dem im vorigen entwickelten Grundsatze den juristischen Charakter der Beschwerdekommissionen, so haben hiebei ihre Aufgaben, ihre Tätigkeitsformen und ihre Organisation völlig außer Betracht zu bleiben; es kommt vielmehr lediglich darauf an, als was sie das positive Recht erklärt. Nun könnte man aber vielleicht diesen Versuch, auf Grund des positiven Rechtes zu einer Lösung unserer Frage zu gelangen, die wir auf den üblichen Methoden nicht erreichen konnten, auf der Stelle als gescheitert ansehen. Denn das positive Recht, auf das wir rekurrieren, schweigt. Dieses Schweigen ermöglicht jedoch einen eindeutigen Schluß. Wenn die Verfassung Gerichte für selbständig und unabhängig erklärt, so ist dies ein Satz, der vorderhand im Bereiche der Potentialität steht. An sich ist nichts „Gericht" und an sich bedingt nichts jene Qualitäten, welche die Verfassung dem Gerichte zuschreibt. Erst durch den komplementären Rechtssatz, der da sagt, was ein Gericht ist, tritt jener Verfassungssatz in das Bereich der Aktualität, der praktischen Anwendbarkeit. Was ein Gericht ist, sagen bekanntlich das Gerichtsorganisationsgesetz, die Strafprozeßordnung und manche andere Gesetze, welche Sondergerichtsstände konstituieren. 29 Die Kaiserliche Verordnung über die Beschwerdekommissionen hat aber die von ihr geschaffene Einrichtung als Gerichte zu qualifizieren unterlassen. Mithin sind die Beschwerdekommissionen Verwaltungsbehörden. 30

29 Insofern sind die zitierten Gesetze Ausführungsgesetze zu jener Bestimmung des Staatsgrundgesetzes, die an sich noch ohne praktische Bedeutung ist.

Damit ist zugleich auch den Geschäften der Beschwerdekommissionen, auch soweit sie die Merkmale der Rechtsprechung aufweisen, ja auch soweit sie bisher zur Kompetenz von Gerichten gehörten und bei ihrer Ausübung auch derzeit noch die Gerichte mit den Beschwerdekommissionen konkurrieren (§ 3 Abs. 4 der Kaiserlichen Verordnung), die Justizqualität abgesprochen. Freilich wird auf diesem Wege das Gebiet verfassungsmäßiger Unabhängigkeit eingeengt und könnte bei konsequentem Fortschreiten auch ganz zum Verschwinden gebracht werden. Dem steht aber die Verfassung nicht im Wege. Denn diese garantiert nur, daß eine Angelegenheit, wenn sie in den Wirkungskreis von „Gerichten" gestellt wurde, dem Zugriffe instruierender Instanzen entzogen ist, stellt aber die Festsetzung dieser Angelegenheiten der Ausführungsgesetzgebung anheim. Und so kann das Prinzip der Unabhängigkeit - die eben im Sinne der Verfassung eine richterliche Unabhängigkeit und nicht eine solche der Rechtsprechung ist - dadurch illusorisch gemacht werden, daß es die Gesetzgebung vermeidet, zu staatlichen Funktionen im allgemeinen und zur Rechtsprechung im besonderen Gerichte zu berufen.

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Man könnte aber vielleicht einwenden, daß die Kaiserliche Verordnung doch wohl von Richtern spreche, indem sie ein richterliches Mitglied in die Kommission beruft. 31 Ist aber der vom Justizminister als Mitglied der Kommission „bestimmte Richter" auch „Richter" in der verfassungsmäßigen Bedeutung dieses Wortes? Übt er mit seiner Betätigung in der Beschwerdekommission sein richterliches Amt 32 aus? Darauf kommt es an, und das müßte vorerst feststehen, ehe man die verfassungsmäßigen Konsequenzen zieht und die Beschwerdekommission in das Doppelwesen eines Gerichtes und einer Verwaltungsbehörde spaltet. Nur während der Ausübung seines richterlichen Amtes ist der Richter im Sinne der Verfassung selbständig und unabhängig. Daß man „Richter" ist, bedingt noch nicht, daß man in Ausübung des „richterlichen Amtes" begriffen ist. Sogar die Rolle eines Staatsorganes kann der Richter spielen, ohne „ i n Ausübung eines richterlichen Amtes begriffen" zu sein. „Richter", die bei einer „aus Verwaltungsbeamten und Richter zusammengesetzten Instanz" 33 tätig sind, die einem der beiden Häuser des Reichsrates angehören oder die Militärdienst leisten, versehen zweifelsohne Staatsfunktionen, ohne hiebei ein richterliches Amt auszuüben. Ebensowenig erlaubt die Mitwirkung eines Richters in der Beschwerdekommission für sich schon die Annahme, daß er ein Gericht repräsentiere, sondern es hätte dies vom Gesetze gesagt werden müssen. Der eine Richter - und selbst wenn es mehrere wären - tut also dem Charakter der Beschwerdekommission als Verwaltungsbehörde keinen Abbruch, vielmehr nimmt er als Mitglied eines verwaltungsbehördlichen Kollegiums dessen juristischen Charakter an. * * *

Mit der Bestimmung der Beschwerdekommissionen als Verwaltungsbehörden ist allerdings nichts gewonnen als die Erkenntnis, daß die für Gerichte geltenden verfassungsrechtlichen Besonderheiten keine Anwendung finden. Es ist ein weit verbreiteter Fehler, den Begriff der Verwaltungs-

31

§ 6 Punkt 3.

32 Erst diese Kombination des persönlichen und sachlichen Momentes - Richter und richterliches Amt - macht den Gerichts- und Justizbegriff des österreichischen Rechtes aus. 33

Gesetz vom 22. Oktober 1875, RGBl. Nr. 36 ex 1876, betreffend die Errichtung eines Verwaltungsgerichtshofes.

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behörde - ähnlich dem eines Gerichtes - mit einem besonderen Inhalte zu erfüllen: Dieser Inhalt ist zur Gänze das Produkt einer das positive Recht supplierenden Phantasie. Im Gegensatze zu dem Begriffe des Gerichtes ist der einer Verwaltungsbehörde kein Formal- und Legalbegriff. Es gibt - von der rein negatien Tatsache des Ausschlusses der gerichtlichen Besonderheiten abgesehen - kein rechtlich relevantes Merkmal, das allen als Verwaltungsbehörden zu bezeichnenden Eirnichtungen gemeinsam wäre und sie als solche zu charakterisieren vermöchte. Wer etwa zum Unterschiede von der Unabhängigkeit der Gerichte eine durchgängige Abhängigkeit der Verwaltungsbehörden feststellen zu können vermeinte, würde sich vom positiven Rechte entfernen. Nur daß eine Abhängigkeit von einer Oberbehörde mittels eines einfachen Gesetzes hergestellt werden kann, ist mit der Charakterisierung eines Organes als Verwaltungsbehörde ausgemacht, nicht daß sie kraft positiven Rechtes tatsächlich irgendwie abhängig ist. Dies wird bei der weiteren Untersuchung der Behördenstellung der Beschwerdekommission besonders im Auge zu behalten sein. * * *

Ist die Beschwerdekommission sonach eine Verwaltungsbehörde, so ist sie darum doch noch nicht eine politische Behörde. Dieser Begriff steht zu jenem im Verhältnisse der Art zur Gattung. Die besonderen Merkmale der „politischen Behörden" treffen auf die Beschwerdekommissionen nicht zu. Im Gegensatze zum Begriffe der Verwaltungsbehörde ist jener der politischen Behörde ein Formalbegriff. Ihre besondere Rechtsstellung ist im Gesetze vom 19. Mai 1868, RGBl. Nr. 44 ,,über die Einrichtung der politischen Verwaltungsbehörden", umschrieben. Hätten die Beschwerdekommissionen diesem Behördentyp in irgend einer Beziehung gleichgestellt werden sollen, so hätte diese Gleichstellung - wenn sie nicht durch Wiederholung der für politische Behörden charakteristischen Vorschriften bewirkt wurde - ausdrücklich ausgesprochen werden müssen.34

34

Die Verordnung des Justizministeriums vom 18. Jänner 1918, RGBl. Nr. 20, deutet allerdings die Besch Werdekommissionen als „politische Behörden", indem sie ihnen im § 2 eine Strafbefugnis über ihre Mitglieder einräumt. Da nach dem Gesetze vom 24. Juli 1917, RGBl. Nr. 307 (Ermächtigungsgesetz), auf Grund dessen die zitierte Verordnung ergangen ist, nur die politischenBehövden zur Bestrafung der Übertretungen berufen werden können, müßten die Beschwerdekommissionen politische Behörden sein, wenn man nicht annehmen will, daß die Verordnung des Justizministeriums die Ermächtigung des Wirtschaftsgesetzes überschritten habe.

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Soll die Beschwerdekommission im System der Verwaltungsbehörden, in das sie durch Aberkennung der Gerichtsqualität gestellt wurde, enger lokalisiert werden, so fehlt uns hiebei eine weitere Anleitung des Gesetzes.35 Somit steht es der wissenschaftlichen Systematik frei, ihre eigenen Einteilungsgründe zur Geltung zu bringen. Dieselbe Analyse der Funktionen, die für die Frage, ob die Beschwerdekommissionen Gerichte sind, belanglos ist, weist den Kommissionen in der Behördenorganisation ihre besondere Stellung an. Es ist, wie sich schon aus unseren einleitenden Erörterungen ergibt, eine auffällige Sonderstellung. Die Kommissionen haben nicht nur nichts mit den allgemeinen Verwaltungsbehörden - als solche stellen sich nämlich für eine materielle Betrachtung die sogenannten „politischen Behörden" dar - sondern auch nichts mit Sonderbehörden, wie Unterrichts-, Bau-, Bahn- und ähnlichen Behörden, gemein, sie sind mit begrenzten, aber doch bunten Aufgaben betraute, in verschiedener (nur einheitlich als „Entscheidung" benannter) Tätigkeitsform auftretende, in eigentümlicher Weise kollegial organisierte Verwaltungsbehörden sui generis; sie bilden im System eine eigene, ziemlich isolierte Gruppe. I I I . Die Oberbehörde der Beschwerdekommissionen Die Ausführungen des vorigen Abschnittes mögen vielleicht dem Vorwurfe ausgesetzt sein, daß sie die Fähigkeiten der positiven Rechtssetzung übertreiben. Um nicht vorzugreifen, mußte dem vorliegenden Abschnitte vorbehalten werden, diesen unberechtigten Vorwurf, an dem ja allerdings ein Körnchen Wahrheit ist, zurückzuweisen und zu entkräften. Gern sei also zugegeben, daß ein wissenschaftliches Urteil darüber auszusprechen, was Justiz und Verwaltung, was eine Gerichts- und Verwaltungsbehörde sei, außerhalb der Kompetenz der positiven Rechtsordnung gelegen ist. Es wurde schon angedeutet, daß es der Rechtswissenschaft selbstverständlich

35

Übrigens ist dies auch gar nicht Aufgabe des Gesetzes, und, soweit es sich dieser Aufgabe zu unterziehen scheint, vollzieht es im Grunde gar nicht die ihm fremden Geschäfte der wissenschaftlichen Systematik (oder systematischen Wissenschaft), sondern wandelt die eigenen - allerdings eigentümliche - Wege der Normsetzung. Es wird nämlich mit der gesetzlichen Qualifikation einer Behörde als Gericht oder politische Verwaltungsbehörde lediglich zum Ausdrucke gebracht, daß die in demselben oder in einem anderen Gesetze für Behörden dieses Namens aufgestellten Bestimmungen Anwendung zu finden haben.

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freisteht, unbekümmert um jegliche gesetzliche Begriffsbestimmung, ihre eigenen Rechtsbegriffe zu prägen; dies gilt auch vom Justiz- und Verwaltungsbegriffe. Aber andrerseits steht es dem Gesetze frei, anzuordnen, daß in bestimmten Fällen (die es etwa Justizsachen nennt), die für diese bestimmten Fälle (eben die Justizsachen) vorgesehenen Rechtsfolgen eintreten. Kann das Gesetz auch nicht bewirken, daß etwas Justiz oder Verwaltung sei - denn dies ist ein seiner Zuständigkeit entrücktes, erkenntnismäßiges Urteil - so kann es doch wohl bewirken, daß sich die fragliche Sache nach den für die so benannte Justiz oder Verwaltung aufgestellten Bestimmungen richte - denn hier bewegt sich das Gesetz auf dem ihm ureigenen Gebiete des Normierens. Die etwa bestehenden Rechtsfolgen schließen sich also an die gesetzliche Benennung als Gericht oder Verwaltungsbehörde an. So ist nach österreichischem Rechte jene Behörde der schon öfter erwähnten „Unabhängigkeit" teilhaftig, die als Gericht benannt, gesetzlich deklariert ist. 36 Es gilt nunmehr, die schon mehrmals erwähnte rechtliche Bedeutung der gesetzlichen Unterscheidung von Justiz und Verwaltung ins Auge zu fassen. Von der Beantwortung der Vorfrage, ob eine Behörde Gericht oder Verwaltungsbehörde ist, hängt es ab, ob diese Behörde verfassungsmäßige Unabhängigkeit genießt oder nicht. Das Problem der Behördenstellung der Beschwerdekommissionen hat also offenbar mehr als akademischen Charakter. Behaupten wir ihren Charakter als Verwaltungsbehörden im Sinne des Gesetzes, so ist ihnen zugleich damit die verfassungsmäßige Unabhängigkeitabgestritteni, was ja allerdings noch nicht ihre tatsächliche Abhängigkeit von irgendeiner Stelle zur notwendigen Konsequenz hat oder - anders ausgedrückt - nicht ihre gesetzliche Unabhängigkeit ausschließt. Wären wir hingegen genötigt, die Beschwerdekommissionen im Sinne des Gesetzes als Gerichte anzusprechen, so würde dies eine Unabhängigkeit des Grades zur Folge haben, daß sie nur mittels eines Verfassungsgesetzes aufgehoben

36 Unter solchen Umständen ist es nun allerdings ein dringendes Gebot der Denkökonomie, die gesetzliche Begriffsbestimmung für die Wissenschaft zu adoptieren, da nur so ein mühsames Transponieren auf die gesetzliche Nomenklatur im einzelnen Anwendungsfalle erspart und die Gefahr vermieden wird, daß in einer das positive Recht verfälschenden Weise dem einzelnen Anwendungsfalle die vom Gesetze unabhängige wissenschaftliche Begriffsbestimmung zu Grunde gelegt werde.

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werden könnte. Auch müßten gesetzliche Bestimmungen, die, wenn es sich um eine Verwaltungsbehörde handelt, unschwer als Anordnung eines Abhängigkeitsverhältnisses gedeutet werden könnten, in dem Falle, daß sie sich auf Gerichte beziehen, derart einengend ausgelegt werden, daß eine jede Abhängigkeitsbeziehung ausgeschlossen wird. „Unabhängigkeit" einer Behörde ist ihre Dispositionsfähigkeit über das vom objektiven Rechte offen gelassene freie Ermessen; die Befehlsgewalt deren Position die Negation der Unabhängigkeit in sich schließt - ist die Fähigkeit, das freie Ermessen eines anderen für sich in einer Weise in Anspruch zu nehmen, daß der Untergebene insoweit nicht anders gebunden ist, als wäre die von der Befehlsgewalt beanspruchte Freiheit von vornherein vom Gesetze ausgeschöpft. Die Vermutung spricht bei jedem Organe in jedem Falle für den Vollbesitz des freien Ermessens. Es kann nicht entschieden genug betont werden, daß jede Beschränkung des freien Ermessens durch Weisungen, Befehle, Instruktionen, authentische Interpretationen oder wie sich diese Äußerungen einer Befehlsgewalt nennen mögen, ausdrücklicher gesetzlicher Ermächtigung bedarf. Im Zweifel hat jedes Staatsorgan nur die generellen Gestaltungen des Rechtes über sich, nicht individuelle Verfügungen. 37 Stellen wir nach diesen Vorbemerkungen das Problem der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der Beschwerdekommissionen, so können wir es im gegenwärtigen Stande der Untersuchung soweit als gelöst betrachten, daß ein verfassungsmäßiges Hindernis der Abhängigkeit nicht besteht. Drei Teilfragen sind aber nun noch im Rahmen unseres Problemkreises zu beantworten: ob, inwieweit und wem gegenüber die Beschwerdekommissionen von Gesetzes wegen abhängig seien. Die oben bekämpfte Verabsolutierung des relativen, ganz und gar durch positivrechtliche Festsetzung bedingten Gegensatzes von Justiz und Verwaltung verführt nur zu leicht zu dem Urteile, daß die Beschwerdekommission „als Verwaltungsbehörde" selbstverständlich in einem Abhängigkeitsver-

37

Dies gilt insbesondere auch von den „politischen" Behörden, deren Subordinationsverhältnis in der Theorie einen naturrechtlichen Anstrich erfahren hat, während es sich in Wirklichkeit rein positivrechtlich - als Ausfluß von Bestimmungen der Organisationsgesetze und der Dienstpragmatik - ergibt.

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hältnisse stehe, wobei man als letzte Begründung hören kann, daß sie ,,doch kein Gericht" sei. So selbstverständlich ist dies nun keineswegs - und die vermeintliche Begründung ist sicherlich sehr unbegründet. Bestünde nicht der § 8 der Kaiserlichen Verordnung, so könnte de lege lata von einer Abhängigkeit der Beschwerdekommissionen gegenüber welcher Stelle immer keine Rede sein. Wenn überhaupt, dann ist eine Befehlsgewalt über Beschwerdekommissionen nur in folgender Bestimmung begründet: „Das Aufsichtsrecht über die Beschwerdekommissionen steht einer im Ministerium für Landesverteidigung zu errichtenden Abteilung (Direktion der Beschwerdekommissionen) zu, die unmittelbar dem Minister für Landesverteidigung unterstellt ist und für die Einheitlichkeit der Geschäftsführung der Beschwerdekommissionen zu sorgen hat." 38 Hält man sich vor Augen, daß durch diese Bestimmung kein schon irgendwie bestehendes Abhängigkeitsverhältnis determiniert, sondern daß ein solches erstmals geschaffen werden soll, so ist das Wort Aufsichtsrecht für sich allein zu unbestimmt, um ihm die Befugnis zur Instruierung der Beschwerdekommissionen entnehmen zu können. Wenn aber in der zitierten Gesetzesstelle dem Ministerium für Landesverteidigung des weiteren die Aufgabe zugeschrieben wird, für die Einheitlichkeit der Geschäftsführung zu sorgen, so leuchtet ein, daß mit jenem Zwecke auch das Mittel an die Hand gegeben sein muß, das die Einheitlichkeit der Geschäftsführung herzustellen geeignet ist, und dies sind eben Instruktionen. Fraglich könnte hiebei nur die Auslegung des Terminus Geschäftsführung werden, die als die formell-manipulative Seite der Agenden der Beschwerdekommissionen verstanden werden, in der aber auch die materielle Seite ihres Wirkungskreises - als das Wesentlichere und einer einheitlichen Leitung ungleich Bedürftigere - inbegriffen sein kann. Der Durchführungsverordnung, die sich zwar über diesen undeutlichen Punkt etwas näher ausspricht, ist kein weiteres Argument zu Gunsten der Zulässigkeit der fraglichen Instruktionen zu entnehmen. Es sagt zwar die Verordnung 39 „zu § 8", daß die Direktion der Beschwerdekommissionen „durch Bekanntgabe grundsätzlich wichtiger Entscheidungen einzelner Kommissionen an andere Kommissionen oder in sonstiger Weise für die Einheitlichkeit und Gesetzlichkeit der Geschäftsführung der Kommissionen (Ortsstel-

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§ 8 der Kaiserlichen Verordnung.

Verordnung des Ministeriums für Landesverteidigung vom 19. März 1917, RGBl. Nr. 123.

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len) Sorge zu tragen" hat, und legt somit den Ausdruck „Geschäftsführung" in dem oben angedeuteten materiellen Sinne aus. Würde aber diese Version nicht schon der Kaiserlichen Verordnung selbst auf interpretativem Wege zu entnehmen sein, so wäre die Durchführungsverordnung insoweit unmaßgeblich, weil eine Überschreitung des gesetzlichen Blankettes und somit nichtig. Was jedoch alle Bedenken verscheuchen kann, ist die Erwägung, daß ein typischer Fall doppelter Auslegungsmöglichkeit vorliegt; das Wort Geschäftsführung kann in einem engeren, auf die formelle Seite beschränkten, aber auch in einem weiteren, die materielle Seite mit umfassenden Sinne verstanden werden. Das Gesetz, das sich bei solcher Sachlage über den von ihm verwendeten Ausdruck nicht näher erklärt, hat alle grammatikalisch und logisch möglichen Bedeutungen bis zur umfassendsten sanktioniert. Die Instruktionen der Direktion der Beschwerdekommissionen können also ebenso gut die Kanzleitechnik wie die Judikatur, ebenso das formelle wie das materielle Recht zum Gegenstande haben, können der einzelnen Kommission zum Beispiel vorschreiben, daß sie auch an Sonntagen für Parteianträge zur Verfügung zu stehen habe, aber nicht weniger vorschreiben - um ein ganz anderes Gebiet zu betreten - , wie sie innerhalb des Rahmens des § 1 der Kaiserlichen Verordnung den Lohn für Sonntagsarbeit festzusetzen habe und dergleichen mehr. 40 Formell stehen sich diese materiell so verschiedenen Weisungen allesamt gleich: sie sind verbindliche Aufträge, die Erfüllung heischen, typische Dienstinstruktionen, die teils die Gestalt von Verordnungen, teils von Verfügungen aufweisen, je nachdem, ob sie eine generelle Regelung treffen oder für den individuellen Fall ergehen. Die Annahme, als schwäche sich die verbindliche Kraft der Instruktion um so mehr ab, je weiter sie sich in das Gebiet der Rechtsprechung verliere, wäre im Gesetze nicht begründet, sondern könnte sich höchstens auf die „Natur der Sache", diese Deckadresse typischen Naturrechtes, berufen. Selbstverständlich bleibt es der zu Weisungen befugten Instanz unbenommen, die Instruktionen in abgeschwächter Form zu erteilen, wie es ihr ja

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Diese einzig und allein auf die Legitimität der verschiedenen Instruktionen abgestellte Feststellung will keineswegs als Urteil über die Opportunität solcher Weisungen verstanden werden.

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auch freisteht, von der gesetzlich gegebenen Möglichkeit zur Anleitung der Kommissionen überhaupt keinen Gebrauch zu machen.41 So kann die Weisung in eine Belehrung übergehen, die von den Voraussetzungen des § 9 der Kaiserlichen Verordnung unabhängig, aber auch nicht der für Weisungen vorgesehenen Rechtsfolgen teilhaftig ist. Ob es sich um eine verbindliche Weisung oder unverbindliche Belehrung handelt, wird wieder nicht aus dem Gegenstand, auf den sich der Erlaß bezieht, sondern nur aus dessen Tenor, aus dem Befehls- oder Beratungstone zu entnehmen sein. Eine andere Frage als die nach der rechtlichen Qualität dieser Weisungen ist die nach ihrer Vollstreckbarkeit. Der Charakter des Auftrages als verbindliche Verfügung wird juristisch dadurch nicht berührt, daß Zwangsmittel zur Durchsetzung von Aufträgen fehlen, obzwar praktisch in einem solche Falle Aufträge leicht den Anschein bloßer Mahnungen, guter, aber nicht befolgter Lehren annehmen. In unserem Falle stehen übrigens Exekutionsmittel zur Verfügung, so daß unter dem Gesichtspunkte des mangelnden Erfüllungszwanges ein Zweifel an der Zulässigkeit echter Dienstinstruktionen völlig unangebrach wäre. 42 Wurden im vorigen die sachlichen Grenzen der Instruktionsbefugnis vorgezeichnet, so sind im folgenden mit ein paar Strichen die persönlichen abzustecken. War unsere Begrenzung im vorigen Falle vielleicht dem allerdings unverdienten Vorwurf der Uferlosigkeit ausgesetzt, so geht sie, wie ich zugeben will, auch im vorliegenden Falle weit. Es mangelt ein gesetzlicher Anhaltspunkt, die nun einmal bestehende Abhängigkeit auf dieses oder jenes Kommissionsmitglied zu beschränken. Die ganze Kommission, oder richtiger: die Kommission als Ganzes, ist Weisungen unterworfen; auf

41

Völlig ausgeschöpft wird die Befehlsgewalt von keiner Befehlsinstanz werden - denn das freie Ermessen des unterstehenden Organes durch Befehle absorbieren, hieße ja im Grunde für den Unterstehenden denken und handeln. 42

Vor Erlassung der Verordnung vom 18. Jänner 1918, RGBl. Nr. 20, konnte es allerdings zweifelhaft sein, ob gegen die Mitglieder der Beschwerdekommissionen irgend welche Disziplinarmittel zur Verfügung stünden. Die Kaiserliche Verordnung schweigt über diesen Punkt völlig; mithin kamen nur etwaige Disziplinarmittel auf Grund anderer Gesetze in Frage. (Aus der Tatsache ihrer Mitgliedschaft an sich konnte selbstverständlich keine Stelle irgend eine Disziplinargewalt ableiten. Insbesondere gab auch das Recht zur Berufung noch nicht das Recht zum contrarius actus der Abberufung.)

58

III.A. Verwaltungsrecht

einzelne Kommissionsmitglieder erstreckt sich die Instruktionsbefugnis der Direktion nur insofern, als sie Glieder dieses Körpers, Teile dieses Ganzen sind. Wie die zu Weisungen legitimierte Instanz auf den Gebrauch dieser Ermächtigung überhaupt verzichten oder wie sie etwa bloß von materiellen Weisungen absehen kann, steht es ihr auch frei, sich in der Richtung Schranken aufzuerlegen, daß sie sich nur an ein bestimmtes Mitglied, etwa an den Vorsitzenden, wendet. Es ist aber festzuhalten, daß dies nur eine freiwillige Beschränkung, keine gesetzliche Notwendigkeit ist. Gleich dem Vorsitzenden, den die Direktion der Beschwerdekommissionen bestellt hat, sind ihr auch die von anderen Ministerien bestellten Kommissionsmitglieder unterworfen; und zwar nicht, wie man vielleicht glauben möchte, die eine Mitgliederkategorie mehr, die andere weniger, sondern - zufolge der einheitlichen Vorschrift des § 8, die zwischen den einzelnen Mitgliederkategorien keine Unterschiede kennt, - alle im gleichen Maße. 43 Die Sanktion der Gehorsamspflicht ruht allerdings 44 bei jenen Ministerien, von denen die Mitglieder berufen wurden, also nur hinsichtlich der Kommissionsvörs/izenden beim Ministerium für Landesverteidigung, und müßte von diesem bei den anderen Ministerien für seine den Kommissionsmitgliedern erteilten Aufträge in Anspruch genommen werden. Die soeben erörterte Frage leitet zu dem letzten offenen Problem über: wem die umschriebene Instruktionsbefugnis zustehe. Nur eine apositivistische Denkweise konnte hier freilich ein Problem entstehen lassen. Die Meinung findet sicherlich viel Anklang, daß jedem Ministerium das von ihm berufene Mitglied unterworfen sei, wobei man diese Untertänigkeit etwa in einer nebu-

Anders stellt sich die Rechtslage auf Grund der vorzitierten Verordnung dar. Gemäß § 4 kann „die Berufung zum Mitgliede der Beschwerdekommission ... vom Minister, der das Mitglied bestellt hat, zurückgenommen werden: ... 2. wenn sich das Mitglied einer groben Verletzung seiner Amtspflichten schuldig macht". Eine Mißachtung der gesetzlich zugelassenen Instruktionen involviert sicherlich unter Umständen auch eine,,grobe Verletzung" der Amtspflichten und berechtigt somit zur Abberufung. Das ist aber doch wohl Sanktion genug. Andere Zwangsmittel wären de lege lata sogar unzulässig. 43 Dies gilt insbesondere auch für den Interessenvertreter einerseits, für das richterliche Mitglied andrerseits. Diese Feststellung genügt wohl, um die Frage der Legitimität der Weisungen von jener der Opportunität streng abzuscheiden! 44

Vgl. die schon mehrfach zitierte Vorschrift der Verordnung vom 18. Jänner 1918, RGBl. Nr. 20.

Die Stellung der Beschwerdekommissionen im Behördensysteme

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losen Dienstgewalt verankert. 45 Einen Schein der Berechtigung mag diese Meinung vielleicht daher ableiten, daß die Fachministerien die Mitglieder berufen und abberufen. Doch ist dies ein Beweis für eine weitergehende Abhängigkeit? Die rechtlichen Beziehungen zwischen dem Fachministerium und dem von ihm ernannten Mitglied beschränken sich auf diese beiden Fakten. Dieselbe Anschauung, die solchermaßen Befugnisse verschiedener Stellen behauptet, kürzt damit zugleich die gesetzliche Kompetenz der einen wirklich zuständigen Stelle, der Direktion der Beschwerdekommissionen. Derselbe § 8 der Kaiserlichen Verordnung, der ihr die Obsorge für die Einheitlichkeit der Geschäftsführung anvertraut, begründet damit ihr Monopol daran. Man bedenke, daß für die a priori unabhängige Beschwerdekommission a posteriori eine Gehorsamspflicht geschaffen wird. Nicht umsonst ist da nur von der Direktion der Beschwerdekommissionen die Rede. Ohne den § 8 gäbe es für die Beschwerdekommissionen keine vorgesetzte Behörde, dank ihm ist es die dort genannte Stelle und niemand sonst. Zum guten Teile mag es auf die Ungewohntheit des Kollegialsystems in der Verwaltungsorganisation zurückzuführen sein 46 , daß man so leicht geneigt ist, die Kommission atomisierend als Konferenz verschiedener Ministerialvertreter zu konstruieren, die von verschiedenen Stellen aus zu dirigieren wäre. Die Erkenntnis der Beschwerdekommission als eines einheitlichen Kollegiums legt die Einsicht einer einheitlichen Oberleitung ungleich näher.

45 In Wirklichkeit besteht eine Dienstgewalt nur gegenüber jenen Mitgliedern, für welche die Versehung der Funktionen der Beschwerdekommissionen Erfüllung ihrer Dienstpflicht (insbesondere auf Grund der Dienstpragmatik) ist; das wären zum Beispiel in die Kommission delegierte Ministerialbeamte. Für sonstige (seien es auch mittelbar abhängige) Staatsbeamte, zum Beispiel Gewerbeinspektoren als Mitglieder, die das Ministerium für soziale Fürsorge, bergbehördliche Beamte, die das Ministerium für öffentliche Arbeiten bestellt hat, ist die Betätigung in den Beschwerdekommissionen wohl schon außeramtlich und daher dem dienstherrlichen Einflüsse des betreffenden Ministeriums entrückt. 46 Selbstverständlich läßt auch dieser kollegiale Charakter der Behörde nicht den Schluß auf die Gerichtsqualität der Beschwerdekommission zu. Daß in Österreich die Mehrzahl der Gerichte kollegial und die Verwaltungsbehörden fast ausnahmslos bureaukratisch (= nicht kollegial) organisiert sind, ist eine positivrechtliche Zufälligkeit und nicht Notwendigkeit.

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III.A. Verwaltungsrecht

Das Verhältnis der Nebenordnung, in dem die staatlichen Organe prinzipiell zueinander stehen, biegt demnach für die Beschwerdekommissionen in einer Richtung, gegenüber der Direktion der Beschwerdekommissionen, in das der Unterordnung um. Zur Charakterisierung einer Behörde gehört auch die Erkenntnis der Oberbehörde. Erst dadurch, daß die Oberbehörde der Beschwerdekommissionen aufgedeckt wurde, ist ihre Stellung im Behördensysteme eindeutig bestimmt.

Staatszweck und öffentliches Interesse I. Der Staatszweck als öffentliches Interesse Das Recht gilt uns als Mittler für öffentliche Interessen, die nach staatlicher Anerkennung streben. Nur ist die Rechtslehre nicht geneigt, dem Rechte ein Monopol in dieser Mittlerrolle einzuräumen. Auf einem anderen Gebiete sieht man den Staat als Träger öffentlicher Interessen, wo diese Vermählung ohne Dazwischentreten des Rechtes erfolgt zu sein scheint. Der Staatszweck der Kulturförderung nicht anders als der Machtzweck sind „verstaatlicht", ohne gleicherweise „durchrechtlicht" zu sein. Wir zaudern, die Erhaltung von Schulen, den Betrieb von Eisenbahnen, die Pflege von Forsten, die in staatlichem Eigentum stehen, als RechtsfwrMion anzusprechen, obzwar wir nicht leugnen können, daß in derartigen Fällen die Gesetzesform (und das ist doch eine Rechtsform) etwa in Gestalt eines Verstaatlichungsgesetzes nicht selten vorliegt. Erst Hans Kelsen hat in seinen „Hauptproblemen der Staatsrechtslehre" 1 jene Einengung des Staates auf das Recht oder, von der anderen Seite besehen, jene Ausdehnung des Rechtes auf den Staat, jene Koordination und Kongruenzierung von Recht und Staat vorgenommen, die einen dauernden Gewinn der Staasrechtslehre, nämlich die erstmalige völlige Erfassung des Rechtsstaatsgedankens und damit die Begründung einer reinen Staatsrechtslehre bedeutet. Für die ganze heutige Staatsrechtslehre ist das Verwobensein von rechtlichen und rechtsfreien Elementen in ihrer Vorstellung vom Staate eigentümlich. Doch es wird nicht der Staat im juristischen vom Staate in einem

Verwaltungsarchiv, Bd. 27 (1919), S. 268-282, (vgl. 469). Wiederabgedruckt in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Bd. 2, S. 1559-1572. 1

Tübingen, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1911.

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III.A. Verwaltungsrecht

anderen, namentlich im politischen und soziologischen Sinne reinlich gesondert, sondern einerseits der Rechtsstaat, die rechtliche Seite des Staates, zum Gegenstand etwa soziologischer Betrachtung gemacht, andererseits die Sozialerscheinung des Staates auch für rechtlich relevant erachtet.2 Um nur zwei tonangebende Häupter der heutigen Rechtslehre zu zitieren, stellt Georg Jellineks großzügige allgemeine Staatslehre den Versuch dar, ein und denselben Rechtsstaat, den Staat im Rechtssinne, sowohl vom juristischen als auch vom soziologischen Standpunkt aus zu betrachten, womit zwar gegenüber dem bisherigen Stande der Rechtslehre ein riesiger Fortschritt, nämlich die Erkenntnis gegeben war, daß der überkommene Staatsbegriff nicht bloß Gegenstand juristischer, sondern auch außerjuristischer Betrachtung sein könne, womit aber noch nicht die letzte Erkenntnis in diesen Dingen verbunden war, daß diesen prinzipiell verschiedenen Betrachtungsweisen verschiedene Gegenstände zugrunde liegen müßten, Gegenstand der soziologischen Betrachtung mithin nicht ebenderselbe Rechtsstaat, Staat im Rechtssinne, sein könne, der die Rechtswissenschaft beschäftigt. Und Otto Mayers nicht minder monumentale Verwaltungsrechtslehre geht von der Voraussetzung aus, daß die Verwaltung jene mehr oder weniger rechtsfreie Sphäre des Staates sei, die aber nichtsdestoweniger Gegenstand einer juristischen Disziplin, nämlich der (von Mayer mehr als von allen seinen Vorläufern erschauten und ergründeten) Verwaltungsrechtswissenschaft, sein könne.3 So wurden jene schier unvollziehbaren Vorstellungen doch

2

Vgl. hierzu meine Ausführungen über „den Staat im historisch-politischen und im rechtlichen Sinne" im Archiv des öffentlichen Rechtes, 1. H. 1917, „Die Rechtseinheit des österreichischen Staates". 3 Diese Annahme ergibt sich zunächst schon aus der Begriffsbestimmung der Verwaltung als der „Tätigkeit des Staates zur Verwirklichung seiner Zwecke unter seiner Rechtsordnung, außerhalb der Justiz" (Deutsches Verwaltungsrecht, 2. Aufl., Bd. 1, S. 13), noch deutlicher aber aus der Annahme von Staatsfunktionen, die unter den drei hergebrachten Staatsgewalten nicht untergebracht werden könnten - völkerrechtlicher Verkehr, Kriegführung und Staatsnotrecht. Gibt es für Mayer schon auf dem Gebiete der Verwaltung im engeren Sinne eine Freiheit vom Rechte, die es kaum rechtfertigen würde, daß dieses Gebiet insoweit Gegenstand einer so eingehenden Verwaltungsrechtslehre ist, so macht es die für den völkerrechtlichen Verkehr, für die Kriegführung und für das Staatsnotrecht präsumierte Transzendenz zum Rechte geradezu unverständlich, einerseits, daß alle diese Funktionen solche des Rechtsstaats seien, anderseits, daß auf diesen Gebieten der Jurist überhaupt noch ein Wort zu reden habe. - Zur Frage der Rechtsqualität der fraglichen Funktionen vgl. Kelsen, a.a.O., S. 499 ff. und meine Abhandlungen: Der Krieg als Rechtshandlung des Staates, Annalen des Deutschen Reichs, Heft 1/2 aus 1916, und Die kriegerische Besetzung, ebendort, Heft 5/6 aus 1917.

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wohl vollzogen: die des Rechtsstaats als Gegenstand einer metajuristischen Wissenschaft und die einer Rechtswissenschaft vom Nichtrechte. Und nun kam Kelsen mit der kühnen Behauptung, daß „alle Tätigkeit, die dem Staate zurechenbar ist, nur Realisierung ... der Rechtssätze sein muß,... daß kein Staatsorgan Staatsakte setzen kann, ohne daß in der Rechtsordnung zumindest überhaupt festgesetzt ist, daß der Staat in dieser Richtung tätig sein will, oder mit anderen Worten, daß keine menschliche Handlung ohne rechtliche Zurechnungsregel als solche des Staates gelten kann" 4 Die /tectoqualität einer Handlung wurde damit zur Voraussetzung des Sfaatocharakters dieser Handlung erhoben, damit aber keineswegs dem Staate jenes große Tätigkeitsbereich des Macht-und Kulturzwecks, wo man ihn rechtsfrei vorgehen zu sehen vermeinte, genommen, sondern eben dieses Gebiet, wofern sich irgend ein Anhaltspunkt hierfür in Enteignungsgesetzen und dergleichen zeigte, erstmals dem Rechte erobert und damit dem Staate wiedergewonnen. Zufolge dieser Auffassung wird das Recht, das die bisherige Staatslehre nicht anders und auf der gleichen Stufe wie Macht und Kultur vom Staate bezweckt sein ließ5, zum einzigen und umfassenden Staatszweck, wenn man den Blick auf die Staatsfunktionen einstellt; zum einzigen und umfassenden Mittel des Staates, wenn man ihn den dahinterliegenden, der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung sich bedienenden Zwecken der Gesellschaft zuwendet. Und von demselben Standpunkt aus wird das öffentliche Interesse nur durch Rezeption von Seiten des Rechtes zum Zwecke des Staates, muß es das Medium des Rechtes passieren, um sich mit dem Staate zu berühren. Die Unmittelbarkeit des Zusammenhanges von Staatszweck und öffentlichem Interesse ist aufgehoben, das Recht tritt als unvermeidliches Bindeglied, als universaler Mittler der nach staatlicher Anerkennung strebenden gesellschaftlichen Interessen dazwischen.

4

5

A.a.O., S. 498/9.

Es sei an die Trias von Rechts-, Macht- und Kulturzweck erinnert, wobei die durch den Rechtscharakter des Staates bedingte Überordnung des Rechtszwecks und Unterordnung der übrigen (notwendig aus dem Rechtszweck abgeleiteten übrigen Staatszwecke) verschwindet und in eine Gleichstellung dieser inkomensurablen Größen aufgeht. Die Koordination der genannten Zwecke ist gleichzeitig ein Symbol der üblichen Spaltung des Staates in einen rechtlich relevanten und rechtsfreien Teil.

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Hans Kelsen schlägt zwischen Staatszweck und öffentlichem Interesse eine Brücke, welche der Seite des Staatszwecks keinen Abbruch tut, dagegen wohl die des öffentlichen Interesses einschneidend berührt. Ist für die herrschende Lehre das Vorhandensein eines öffentlichen Interesses Erkenntnisgrund des Bestandes eines gleichgerichteten Staatszwecks, um dessen rechtliche Rezeption man sich nicht weiter kümmert, so ist für Kelsen das Gegebensein eines Staatszwecks - welcher dabei notwendig in rechtlicher Form gegeben ist - zugleich Erkenntnisgrund eines in derselben Richtung auftretenden öffentlichen Interesses. ,,Wenn ein Interesse als das des Staates erkannt wird, muß es schon deshalb als öffentliches Interesse angesehen werden" 6. Gemäß dieser Aufstellung ist für Kelsen jedes Staatainteresse auch öffentliches Interesse, und zwar zufolge der Bezwecktheit durch den Staat; dahingestellt bleibt nur, ob es auch außerhalb der Staatszwecke öffentliche Interessen gibt. Nur das beansprucht Kelsen für den Staat, ,,der doch der juristische Ausdruck der Rechtsgemeinschaft, des Rechtskollektivums ist", daß sein Interesse, ,,wenn schon nicht allein, so doch in allererster Linie als das öffentliche par excellence gelten muß" 7 . Bei der engen Verknüpfung, um nicht zu sagen: Identifizierung, die Kelsen zwischen Recht und Staat vorgenommen hat, ist es selbstverständlich, daß dieses typische öffentliche Interesse, welches mit einem Staatszweck einhergeht, die Rechtsform aufweist. Die Rechtsform ist es, welche Kelsen einen Staatszweck erkennen läßt, und der Staatszweck ist des weiteren wieder der Ausdruck des öffentlichen Interesses. Kein Staatszweck, der nicht die Rechtsform aufwiese, und keiner, der nicht im öffentlichen Interesse läge. I I . Das öffentliche Interesse als Staatszweck Auch die herrschende Lehre nimmt eine Identifizierung von Staatszweck und öffentlichem Interesse vor, nur ist ihr Gedankengang dem gerade entgegengesetzt, den wir bei Kelsen kennen gelernt haben. Man geht vom Begriffe des öffentlichen Interesses aus und verkündet alles, was sich materiell als solches darstellt, um dessentwillen als Staatszweck, und zwar

6

Kelsen, Zur Lehre vom öffentlichen Rechtsgeschäft, Archiv des öffentlichen Rechts, H. 2/3 aus 1913, S. 85. 7

Ebendort, S. 84.

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unbekümmert darum, ob dieser Staatszweck irgendwie rechtliche Form angenommen, rechtliche Regelung gefunden hat, da ja die herrschende Jurisprudenz den Staat zum Teil wenigstens auch jenseits des Rechtes zu finden vermeint. Vom öffentlichen Interesse wird also auf den Staatszweck geschlossen und es als selbstverständlich angesehen, daß jedwedes öffentliche Interesse im Bereiche der Staatszwecke liege, welcher seinerseits allerdings nicht notwendig auf das öffentliche Interesse beschränkt sei. An diesem prinzipiellen Standpunkt ändert sich nichts, wenn nur bestimmte Zweige der Staatsgewalt als Heimstatt des öffentlichen Interesses betrachtet werden. So gilt uns die Verwaltung ausschließlich oder vorwiegend als jene Staatsgewalt, die berufen sei, alles zu veranlassen, was das öffentliche Interesse gebiete; und im besonderen gilt wieder die Polizeigewalt - jene „öffentliche Gewalt, die auf dem Gebiete der Verwaltung wirksam wird zur Abwehr von Störungen der guten Ordnung des Gemeinwesens aus dem Einzeldasein"8 - als das eigentliche Betätigungsfeld des öffentlichen Interesses. Und dieselbe Auffassung der Apriorität des öffentlichen Interesses vor der rechtlichen Bestimmung der Staatszwecke spricht im Grunde auch aus dem Rekurs auf das Staatsnotrecht, welchem letzten Endes das Staatsrecht weichen müsse9, denn auch in diesem Falle wird ein wenn auch kleines Gebiet angenommen, wo der Staat das öffentliche Interesse „bezwecke" - außer, ja trotz dem Rechte! Ja die ganze Auffassung der „gesetzmäßigen" Verwaltung, deren Gesetzmäßigkeit aber doch nur darin bestehe, daß sie „ i m Rahmen der Gesetze" „frei" das „ i m öffentlichen Interesse" Gebotene vollführe (Mayer, Fleiner u.v.a.), rechnet mit dem Staatszwecke, das öffentliche Interesse wahrzunehmen, unbekümmert darum, ob dieser Staatszweck rechtliche Anerkennung erfahren hat. Aber womöglich noch mehr als der wissenschaftlichen Überzeugung entspricht dieses Verhältnis von Staat und öffentlichem Interesse der allgemeinen Laienmeinung. Es gibt doch, wie wir gehört haben, Stimmen - wenn auch sehr vereinzelte - , die einer Identifizierung von Staat und öffentlichem Interesse, namentlich von Seite des letzteren her, widersprechen. 10 Aber die

8

Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 2. Aufl., Bd. 1, S. 217.

9

Edmund Bernatzik, Rechtsprechung und materielle Rechtskraft, S. 323 ff.

10

Vgl. Georg Simmel, Soziologie, Leipzig 1908.

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Laienmeinung in unserer Frage ist - soweit Laien darin überhaupt eine Meinung haben - so gut wie ungeteilt. Dem öffentlichen Interesse des Staates - das ihm ohne weitere Verknüpfung eigen sei - steht das private Interesse der einzelnen Gruppen des Staatsvolks gegenüber. Das Staatswesen wächst zum Träger des öffentlichen Rechtes empor, dem die privaten Rechtskreise der Individuen gegenüberstehen. ,,In kleineren Gemeinwesen bedarf es nicht jener Abtrennung des öffentlichen Rechtes vom privaten, weil das Individuum in ihnen immer mit dem ganzen verbunden ist." 11 Zum mindesten wird in der Gestalt des ,,öffentlichen Rechtes" (an das man aber nicht die strengen Anforderungen positiv-rechtlicher Gegebenheiten wie an das Privatrecht stellt) das öffentliche Interesse als sein Zweck dem Staate zugeschrieben.12 I I I . Die doppelten Begriffe von Staatszweck und öffentlichem Interesse Wir sehen also zwei Identifizierungen von Staatszweck und öffentlichem Interesse, die sich nur durch die in beiden Fällen eingeschlagene Richtung unterscheiden. Während nach herrschender Auffassung alles, was im öffentlichen Interesse liegt, darum schon Staatszweck ist, erkennt man nach gegenteiliger Auffassung an dem (von anderer Seite her) gegebenen Staatszweck unfehlbar das öffentliche Interesse. Durch jene Auffassung wird der Staatszweck zum unermeßlichen Gebiete des öffentlichen Interesses erweitert, durch diese wird das nach allgemeiner Auffassung unermeßlich weite öffentliche Interesse in das Prokrustesbett des Staatszwecks eingezwängt. Jede der beiden Identifizierungen von Staatszweck und öffentlichem Inter-

11

Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang AdolfWagner und insbesondere Max Lay er (Prinzipien des Enteignungsrechts, insbesondere S. 180 ff.), welcher letztere in dem zitierten großzügigen Werke die übliche Verknüpfung zwichen Staat und öffentlichem Interesse zu lösen versucht - freilich nicht, ohne daß er neuerlich den Staat und das öffentliche Interesse in einen anderen schier unauflösbaren, mit seinen eigenen Voraussetzungen schwer vereinbaren Zusammenhange brächte. 12 Unter den Versuchen einer Begriffsbestimmung des öffentlichen Interesses wären insbesondere noch hervorzuheben, F. J. Neumann, Das öffentliche Interesse mit bezug auf das Gebühren- und Steuerwesen, die Expropriation und die Scheidung von Privat- und öffentlichem Rechte, Hirths Annalen, 1886, S. 357 ff.; Öffentliches Interesse und öffentliche Klage von Leuthold, ebendort, 1884, S. 321 ff.

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esse scheint mir zu weit zu gehen. Das logische Verhältnis dieser beiden Begriffe ist das zweier sich schneidender Kreise. Nicht jegliches öffentliche Interesse wird zum Staatszweck, und es liegt auch nicht alles im öffentlichen Interesse, was der Staat bezweckt. Ich supponiere also dem öffentlichen Interesse einen materiellen, dem Staatszwecke hingegen einen formellen Sinn. Nur so wird jene Distanz zwischen den beiden Begriffen gewahrt, die jede der beiden vorhin besprochenen Identifizierungen ausschließt, die einen ständigen Vergleich und ein gegenseitiges Abwägen der beiden Begriffe ermöglicht und insbesondere zuläßt, daß das öffentliche Interesse als regulatives Prinzip der Staatszwecke auftritt. Die herrschende Auffassung versteht bekanntlich unter dem öffentlichen Interesse inhaltlich bestimmte politische oder ethische Forderungen; ihr Begriff des Staatszwecks ist aber ebenso inhaltlich bestimmt; man denkt an die nämlichen politischen oder ethischen Forderungen. Kelsens Begriff des Staatszwecks ist hingegen formal. Welchen Inhalt immer die Rechtsform aufweisen mag - um dieser Form willen nimmt Kelsen einen Staatszweck an. Und diesen Staatszweck - gleich welchen Inhalts - deutet er zugleich als öffentliches Interesse. Bei der Unterlegung solcher Begriffe sind die beiden Gleichungen unausweichlich und verständlich. Ich möchte weder dem öffentlichen Interesse noch dem Staatszweck eine so abhängige, abgeleitete Bedeutung beilegen, wie sie sich nach den vorbesprochenen Identifizierungen ergibt. Die Staatszwecke sind, zumal bei der ungemessenen Vermehrung, die sie im ausgebildeten modernen Staatswesen gefunden haben, sehr bunter Art und oft sehr zufälliger Natur. Wenn man sich dies vor Augen hält, wird man vor der Annahme, daß in allen diesen Fällen unterschiedslos ein öffentliches Interesse vorliegt, doch ein wenig zaudern. Und noch bedenklicher wird diese Gleichsetzung des Staatszwecks mit dem öffentlichen Interesse dann gefunden werden, wenn der einzelne Staatszweck nur von einer kleinen Minderheit des Staatsvolks gutgeheißen und von seiner großen Mehrheit angefochten wird. Wenn ein solcher Staatszweck nichtsdestoweniger als öffentliches Interesse angesprochen wird, so verdient er dieses Prädikat nicht um seines Inhalts, sondern bloß um seiner Form willen, indem er eben

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in die Gesellschafts-, in die Gemeinschaftsform des Rechtes gekleidet ist. Das auf dem angedeuteten Erkenntnis wege sich ergebende öffentliche Interesse ist a priori nur formell ein öffentliches Interesse; ob auch materiell, das bleibt dahingestellt. Gerade ein solcher materieller Begriff des öffentlichen Interesses hat aber seine Daseinsberechtigung. Es besteht das Bedürfnis, etwas als öffentliches Interesse hinzustellen und daraus die Forderung abzuleiten, daß es sich der Staat zu eigen mache. Der Unterricht der Volksmassen war doch sicherlich schon zu einer Zeit ein öffentliches Interesse, als sich der Staat noch keinerlei Kulturzwecken zugewendet hatte. Die Sorge um die Volksgesundheit lag zweifellos ebenfalls auch damals schon im öffentlichen Interesse, als staatliche Anstalten oder gar staatliche Ämter, die solchen Zwecken dienten, noch nicht bestanden. Diese Beispiele zeigen ein auffälliges Auseinandertreten von Staatszweck und öffentlichem Interesse, eine Sachlage, dem die üblichen Auffassungen über das Verhältnis der beiden Begriffe nicht hinlänglich Rechnung tragen. Ist ein öffentliches Interesse kraft dieser seiner Eigenschaft an sich schon Staatszweck, dann wird die Forderung, daß sich der Staat irgend ein öffentliches Interesse zu eigen mache, gegenstandslos, da ja der Staat von vornherein schon dem gesamten öffentlichen Interesse dient. Und der Vorwurf, daß ein Staat im Gegensatze zu den Wünschen der Volksgesamtheit irgend welche Sonderwünsche in Schutz nehme, wird gegenstandslos, weil der Staatszweck von vornherein, mit dem öffentlichen Interesse zusammenfalle. Ein richtig verstandenes (materielles) öffentliches Interesse richtet sich aber nie nach den augenblicklichen Staatszwecken, sondern hat unabhängig von ihnen Bestand und Wert und erhebt höchstens die Forderung, daß sich Staat und Recht ihm anpassen. Wir stellen also dem Begriffe des öffentlichen Interesses, wie ihn Kelsen faßt, diesem typischen Formalbegriffe, der in der Rechtsform das über die Öffentlichkeit eines Interesses entscheidende Merkmal erblickt, die geläufige materielle Vorstellung des öffentlichen Interesses gegenüber, wonach ein bestimmter Inhalt von Interessen sie als öffentliche qualifiziert. Und wir verstehen andererseits unter dem Staats zwecke hinwiederum nicht einen bestimmten (namentlich mit dem öffentlichen Interesse übereinstimmenden) Inhalt, sondern jeden beliebigen Inhalt, der in der Rechtsform erscheint.

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IV. Staatlich rezipiertes öffentliches Interesse Das öffentliche Interesse ist also a priori staatsfremd. Das Mittel, es mit dem Staate zu vermählen, ist das Recht. Das öffentliche Interesse der Völksbildung z.B. wird dadurch zum Staatszwecke, daß die Schulpflicht gesetzlich eingeführt wird. Die gesetzliche Wehrpflicht ist Erkenntnisgrund des Staatszwecks der Landesverteidigung. Ein Epidemiegesetz läßt erkennen, daß der Staat die Gesundheitsbewachung unter seine Aufgaben aufgenommen hat. Immer ist also die rechtliche Rezeption Erkenntnisgrund des Staatsinteresses, Zeichen, daß ein öffentliches Interesse ins Bereich der Staatszwecke eingegangen ist. Und ebenso sicher haftet allem, was noch nicht die Rechtsform angenommen hat, staatlicher Unweit an. Um diese Vorstellung unschwer restlos zu vollziehen, muß man allerdings mit Kelsen jene Fassungsfähigkeit durchschaut haben, die der Rechtsform eigen ist. 13 Man darf nicht glauben, daß das Recht bloß fähig sei, den ,,Rechtszweck" zu regeln; auch der Macht- und der Kulturzweck sind, so unwahrscheinlich es erscheinen mag, notwendig in die Rechtsform gekleidet, falls man in diesen Fällen überhaupt von einem Staatszwecke soll sprechen dürfen. Feldherr, Offizier und Soldat, die befehlend und gehorchend der Vaterlandsverteidigung obliegen, aber auch der Universitätslehrer, der auf dem Katheder Wissenschaft vermittelt, und der Arzt, der in einer staatlichen Krankenanstalt wirkt, dienen prinzipiell nicht anders dem Rechte als etwa der Richter, den wir als den Rechtsanwender katexochen anzusehen gewohnt sind. Sie sind gleicherweise Rechtsvollstrecker, wobei der Unterschied nur darin liegt, daß der eine mehr, der andere weniger rechtlich determiniert ist, der eine durch inhaltsreiche Rechtsnormen aufs engste, der andere etwa durch eine einfache Organisationsvorschrift nur ganz lose mit der Rechtsordnung in Verbindung steht. Es handelt sich also nur um graduelle, nicht um essentielle Unterschiede. Die Kodifizierung oder was sonst immer in einem bestimmten Staatswesen der Weg der Rechtserzeugung sein mag, ist also das einzige Mittel, ein öffentliches Interesse dem Staate zu gewinnen, mit anderen Worten: zum

13

Vgl. auch meinen Aufsatz: Der Krieg als Rechtshandlung des Staates, Annalen des Deutschen Reichs, 1916.

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Staatszwecke zu erheben. Dieses Mittel ist aber selbstverständlich nicht auf das öffentliche Interesse beschränkt. Die Rechtsform ist ebenso geeignet, ein dem öffentlichen Interesse geradezu zuwiderlaufendes privates Interesse dem Staate zu aquirieren. Staaten, die das egoistische Interesse kleiner Minderheiten, wenn nicht gar Einzelner wahrgenommen und zugleich das öffentliche Interesse verpönt und niedergetreten haben, waren ja keine Seltenheit. Man sieht an dieser Tatsache, daß der hier behauptete Abstand zwischen öffentlichem Interesse und Staatszweck nicht bloß daher rührt, daß auch der politisch beste Staat an Grenzen seines Vermögens stößt, die ihn zwingen, auf die Verwirklichung gewisser öffentlicher Interessen zu verzichten, sondern daß er sich zum öffentlichen Interesse geradezu in Gegensatz zu stellen vermag, indem er durch das Mittel seiner Rechtsordnung mitunter private Interessen auf Kosten entgegenstehender öffentlicher Interessen propagiert. Das öffentliche und das private Interesse gehen nicht bloß zugleich, sondern auch in gleichem Grade im Gesetzgebungsprozeß in die Rechtsform ein. Es ist eine bei Juristen weit verbreitete Annahme, daß der Staat an solchen Rechtseinrichtungen, die dem Schutze oder der Verwirklichung des öffentlichen Interesses dienen, in höherem Maße interessiert sei als an jenen, die im privaten Interesse liegen. Auf dieses Blatt gehört die übliche Annahme, daß das öffentliche Recht dem Staate näher stehe als das private usw. Dieses,,höhere" Interesse, das der Staat an Rechtseinrichtungen von öffentlichem Interesse nehme, ist ein Rest von jenem ursprünglichen Interesse, das der Staat ohne jedwede Vermittlung des Rechtes an Dingen des öffentlichen Interesses habe. Um in solchen Fällen zur Erkenntnis des wirklichen Staatsinteresses zu gelangen, dessen einzige Ausdrucksform das Recht ist, muß man das vermeintliche Staatsinteresse um den aus so trüben Quellen entspringenden Vorsprung kürzen. Die angedeutete fehlerhafte Vorstellung wird aber noch bis zu dem Punkte weitergeführt, daß man dem Staate mangels eines ,,öffentlichen" Interesses trotz Aufliegens einer Rechtseinrichtung jedewede Interessiertheit an dieser Rechtseinrichtung abspricht. So findet sich folgende Aufstellung in Spiegels hochbedeutsamen Werke über ,,Verwaltungsrechtswissenschaft" 14: ,,Aber es ist nur ein Doppeltes möglich: Entweder der Staat hat kein Interesse an dem Inhalt eines Verwaltungs-

14

Leipzig, Duncker & Humblot 1908, S. 103.

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akts ... oder der Staat, die Staatsverwaltung gehört zu den Interessenten des Verwaltungsakts. Ist rechtliches Kodifiziertsein der Ausdruck des staatlichen Interessiertseins, dann wird die Vorstellung, daß der Staat an einer seiner Rechtseinrichtungen weniger als an einer anderen, oder gar, daß er an dieser oder jener Rechtseinrichtung gar nicht interessiert sei, schlechthin unvollziehbar. Hätte der Staat an einem Verwaltungsakte tatsächlich kein Interesse, dann würden wir, genau besehen, nicht einen Verwaltungs-, einen Staatsakt, vor uns haben. Oder es wird dieser Interessenbetrachtung ein anderer Staatsbegriff zugrunde gelegt. Der Staat im Rechtssinne, den wir meinen, erscheint dadurch, daß er einen Staatszweck setzt, als dessen Interessent; ein anderes Interesse hat unser Staat nicht als das der Verwirklichung seiner Rechtsordnung. Nicht einmal an seinem eigenen Bestand ist der Staat notwendig mehr interessiert als an einem anderen Gute. Auch diese Überschätzung eines bestimmten öffentlichen Interesses, welche sich die Theorie vom Staatsnotrechte zuschulden kommen läßt, operiert mit einem mit dem Rechtsbegriffe des Staates nicht identischen, ja nicht zu vereinbarenden Staatsbegriffe. Von Rechtswegen kann der Staat sogar seinen Untergang oder zum mindesten den Übergang in eine mehr oder weniger von seinem vorigen Stande abstehende Staatsform entweder ausdrücklich vorsehen oder mittelbar ermöglichen; die Erhaltung des rechtlichen und staatlichen status quo kann bei solcher Sachlage nicht mehr als Staatszweck angesehen werden. Und so ist jede denkbar e Abstufung der Staatszwecke an der Hand des mitsprechenden öffentlichen Interesses ausgeschlossen. V, Die Stufenfolge der Staatsinteressen Es gibt aber nichtsdestoweniger eine juristisch feststellbare Stufenfolge von Staatszwecken. Die Stufenfolge läuft mit der Reihe der Rechtserscheinungsformen parallel. Die Rechtsform weist in der Regel die Stufenfolge Verfassung - Gesetz - Verordnung - Verfügung und Entscheidung auf. 15

15 Vgl. meine Abhandlungen: Die Rechtseinheit des österreichischen Staates, Archiv des öffentlichen Rechtes, 1917; Das Recht im Lichte seiner Anwendung, Separatabdruck aus der Deutschen Richterzeitung, Hannover 1917; Das doppelte Rechtsantlitz, Juristische Blätter, Wien 1918.

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Man kann nun offenbar auch analoge Stufen des Staatszwecks unterscheiden. Zunächst kann ja die untergeordnete Rechtsform vom Standpunkte der übergeordneten aus als „bezweckt" erscheinen; so dürfen wir z.B. vom Standpunkte der Verfassung aus von dem Staatszwecke sprechen,,,Gesetze zu geben". Und die Bestimmung des Rechtes, die ganze Kette der Rechtserscheinungsformen zu durchlaufen, mag man als den ,,Rechtszweck" bezeichnen. Insoweit handelt es sich nur um formale Staatszwecke. Ebensogut kann man aber den Inhalt dieser Rechtserscheinungsformen als Staatszweck ansprechen. Unter diesem Gesichtspunkte besehen, ist nicht das eine öffentliche oder private Interesse Staatszweck, das andere nicht, sondern es werden in der Stufenfolge der Rechtserscheinungen fortschreitend die Staatszwecke mit dem Rechte, nämlich in der Form Rechtens, erst erzeugt. Auf der Verfassungsstufe wird man noch nicht vielerlei Staatszwecke unterscheiden können. Fragt man etwa an der Hand der Staatsverfassung, ob dieser Staat mehr dem sogenannten Rechts-, dem Macht- oder dem Kulturzwecke huldige, so muß man oft antworten: „ A n seinen Werken wirst du ihn erkennen." Es wird sich erst in der Folge zeigen. Die Tatsachen, an denen es sich zeigt, sind die Gesetzgebungsakte. Im Gesetzgebungsstadium tritt meist erst die Differenzierung der Staatszwecke ein; in diesem Stadium hat sich der formelle Gesetzgebungszweck, wie er aus der Verfassung herauszulesen ist, gewissermaßen verlebendigt, mit bestimmtem Inhalt erfüllt. Sozialversicherungsgesetze, Arbeiterschutzgesetze lassen z.B. auf den Staatszweck der sozialen Fürsorge schließen, während ein solcher Zweck dem Verfassungstext unmöglich zu entnehmen wäre. Aber auch auf der Gesetzesstufe sind noch nicht alle im Rahmen einer bestimmten Rechtsordnung möglichen Staatszwecke gegeben. Auch die Verordnunsgewalt hat die Fähigkeit, verschiedenerlei Staatszwecke, die in Verfassung und Gesetz nur in nuce enthalten waren, zwar nicht neu zu kreieren, aber doch gewissermaßen zu entfalten, mit Inhalt zu füllen. Es ist z.B. etwas Alltägliches, daß Polizeivorschriften innerhalb des Rahmens des Gesetzes und seines Programms der Abhaltung von Störungen der guten Ordnung ganz bestimmte Güter unter ihre Obhut nehmen, während andere des Polizeischutzes fähige, vielleicht auch bedürftige Interessen schutzlos bleiben. Und nicht zuletzt werden in der sogenannten Rechtsanwendung Staatszwecke, die ihr gewissermaßen unfertig vorliegen, determiniert und konkretisiert. Ist z.B. dem Strafgesetze nur das allgemeine Programm des Schutzes von Leben, Gesundheit, Sittlichkeit und Ehre der Menschen zu entnehmen, so zeigt sich erst an der Hand der Strafrechtspflege, wem dieser gesetzlich vorgesehene

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Schutz besonders zugute kommt. Und man kann hiernach wohl sagen, daß sich, während auf der Gesetzesstufe Schutz dieser menschlichen Güter im allgemeinen der Staatszweck sei, auf der Rechsanwendungsstufe der betreffende Staatszweck zum Schutze ganz bestimmter Menschen im besonderen fortgebildet habe. Und während aus dem Gesetz oft noch nicht zu erkennen ist, welcher Strafrechtstheorie es huldigt, wird man auf Grund der Strafjustiz meist zu erkennen in der Lage sein, der Staat verfolge im Rahmen des allgemeinen Strafzwecks durch die Person des bestimmten Richters etwa den Besserungs- oder den Abschreckungszweck. Und so ist namentlich das freie Ermessen die Pforte, durch die eine Fülle neuer, in ihrem Anwendungsgebiete zwar meist sehr begrenzter, aber inhaltlich sehr spezialisierter Staatszwecke in Rechtsordnung und Staatswesen eintreten. Die Staatszwecke sind also nicht bloß einer transzendenten Änderung, sondern auch einem immanenten Ausbau unterworfen. Es ist nicht so, daß heute ein gesellschaftliches Interesse staatsfremd und daß es morgen schlechthin Staatszweck sei. In der Regel sind gesellschaftliche Interessen zunächst nur in sehr entferntem Grade potentielle Staatszwecke, indem eine Rechtserscheinung zunächst bloß die Möglichkeit offen läßt, daß sich aus ihr ein bestimmter Staatszweck entwickle; und es dauert oft sehr lange, ehe der fragliche Staatszweck in dem betreffenden Rechtssystem Aktualität erlangt, das heißt, ehe der Rechtserzeugungsprozeß eine Rechtserscheinung zutage fördert, die den fraglichen Inhalt (als Staatszweck) aufweist. Von,,gegebenen Staatszwecken" muß man also mit demselben Vorbehalte sprechen wie von ,,geltendem Rechte". Aus einem undifferenzierten Ursprünge kommend, können sie noch zu einem überaus weitgehend differenzierten Ende gelangen. Wie die Einheit der Verfassung zur Mannigfaltigkeit der Gesetze und diese wieder zur Fülle der Rechtsanwendungsakte niedersteigt, so entfaltet sich der in der Verfassung inhaltlich ungeklärte Staatszweck in der Gesetzgebung bald zur Verfolgung öffentlicher bald privater Interessen, und in der Rechtsanwendung tritt uns eine bunte Fülle höchst verschieden orientierter Staatszwecke entgegen. Es gibt also beim Staatszwecke kein a priori gegenüber dem Rechte, namentlich kein a priori des öffentlichen Interesses. Erst mit dem Rechte, in gleicher Stufenfolge wie das Recht, werden die einzelnen Staatszwecke geschaffen. Man kann hiernach sehr wohl verschiedene Grade von Staats-

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zwecken unterscheiden. Diese Ordnung der Staatszwecke bestimmt sich aber nicht nach dem Gewichte der zugrundeliegenden, der vom Staate im Wege Rechtens rezipierten gesellschaftlichen Interessen, sondern nach der Rechtsform, in der ein Staatszweck auftritt, nach dem Grade der mit der Rechtskonkretisierung einhergehenden materiellen Ausgestaltung. In dieser Hierarchie der Staatszwecke ist das öffentliche Interesse nicht a priori Staatszweck, hat es nicht einmal einen Vorrang unter den Staatszwecken, sondern nur jenen Rang, der der Rechtserscheinung zukommt, in der das fragliche öffentliche Interesse vom Staate rezipiert wurde. VI. Die Verstaatlichung Es gibt einen besonders nahen Grad der Beziehungen gesellschaftlicher Interessen zum Staate. Man spricht in diesem Falle von einer Verstaatlichung. Wir haben gesehen, daß schon durch die bloße Tatsache rechtlicher Regelung ein gesellschaftliches Interesse dem Staate nahegebracht, zum Zwecke des Staates erhoben wird. Die gesellschaftlichen Macht- und Besitzverhältnisse werden durch die Schutzorganisationen des Zivil-und Strafrechts zu Gegenständen des staatlichen Interesses. Im weiteren Sinne kann man auch schon diese Art „Durchrechtlichung" als eine Verstaatlichung bezeichnen. Wir wissen aber, daß dies dem allgemeinen Sprachgebrauche nicht entspräche, sondern daß sich dieser das genannte Wort für gewisse Fälle - heute noch Ausnahmefälle - von,,Durchrechtlichungen" vorbehält. Für welche, darüber ist sich die juristische Lehre, welche bis heute noch keine Verstaatlichungslehre hervorgebracht hat, noch nicht recht im klaren. Es ist eines der großen Verdienste Kelsens, aufgezeigt zu haben, daß nicht wie man am ehesten anzunehmen geneigt ist - das Staatsorgan für die Staatshandlung kennzeichnend sein kann, weil Grenzen der Staatsorganschaft nirgends feststehen. Nach der hier vertretenen Auffassung bedeute rechtliche Regelung staatliche Interessiertheit, und mithin konsequenterweise jede Rechtshandlung - und zwar eine Vertragserfüllung nicht weniger als ein Richterspruch - eine Staatsfunktion, wenn auch vielleicht nur im weiteren Sinne; lassen sich hiervon Staatshandlungen im engeren Sinne unterscheiden, so handelt es sich offenbar nicht um einen essentiellen, sondern nur um einen graduellen Unterschied. Als Unterscheidungsmerkmal mag man annehmen, daß bestimmte Personen, berufsmäßige Funktionäre die fraglichen Handlungen vornehmen oder an einem sonstigen ähnlichen Kriterium die Staatshandlungen im engeren Sinne von den übrigen

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Rechtshandlungen unterscheiden. In der Tat wird man erfahrungsmäßig feststellen können, daß in den Fällen, wo man von „Verstaatlichung" zu sprechen beliebt, meist ein Berufsbeamtenkorps dem betreffenden Staatszwecke dient. Es ist dies, wie übrigens auch jedes denkbare andere Kriterium der Staatsfunktion, ein dem Inhalte der rechtlichen Regelung entnommenes Merkmal. Aber wiederum ist es nicht das dem Staate so verwandt gedachte öffentliche Interesse, durch das sich die Staatsfunktionen im engeren Sinne von den sonstigen Rechtsfunktionen unterscheiden. Auch private Interessen können in diese besonders nahe, über die bloße staatliche Interessiertheit hinausgehende Beziehung zum Staate treten, die uns als „Verstaatlichung" geläufig ist; und wenn es öffentliche Interessen sind, die in diese Beziehung zum Staate treten, so geschieht auch dies wieder nicht gewissermaßen kraft innerer Notwendigkeit, sondern zufolge zufälliger rechtlicher Bestimmung. 16

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Der Artikel ist lange vor dem Kriegsende verfaßt. Obwohl seither das Thema,,Sozialisierung" höchst aktuell geworden ist, muß ich es mir angesichts des vorgeschrittenen Druckes versagen, die Ausführungen über dieses Thema zu ergänzen.

Die gedanklichen Grundlagen der Forderung einer demokratischen Verwaltung Die Träger des demokratischen Gedankens in den mitteleuropäischen Kaiserreichen waren in der Reihe der Jahrzehnte, wo sie mit einer durch mancherlei absolutistische Exkurse gekennzeichneten Regierungspolitik als übermächtigem Gegenspieler zu tun hatten, in ihren Forderungen nicht unbescheiden. Demokratisierung der Gesetzgebung, und darüber hinaus höchstens die Demokratisierung der Regierung war ihr programmatisches Ziel. Erst als mit dem Umstürze im entscheidungsreichen Herbst des Jahres 1918 dieses große Ziel erreicht war, als den demokratischen Parteien der Gesetzgebungs- und Regierungsapparat letzten Endes doch unerwartet und mühelos in den Schoß gefallen war 1 , wurden weitergehende Forderungen, wurden eigentlich erstmals ernstliche Stimmen laut, daß mit jenem Ziele, das man vor kurzem noch kaum zu erreichen gehofft hatte, eigentlich noch nichts oder wenigstens noch nicht das Entscheidende erreicht sei. Es trat eine ganz eigentümliche Bagatellisierung einer Errungenschaft ein, die man jüngst noch zu übertreiben geneigt war. Frägt man nach dem Grunde dieser paradoxen Erscheinung, die eigentlich deswegen nicht mehr wundernehmen dürfte, weil das markanteste und häufigste Merkmal politischer Ideologien ihre Paradoxie ist, so offenbaren sich teils ganz unbewußte, teils nur im Unterbewußtsein liegende Gedankengänge. Die folgende Untersuchung will versuchen, sie mit einem nur der Sache dienenden Interesse und mit rückhaltsloser Offenheit in Kürze bloßzulegen.

Annalen des Deutschen Reiches 1920, S. 523-529. 1

Über die radikale Demokratisierung der Verfassung namentlich in Deutschösterreich vgl. mein Buch: ,,Die Verfassung der Republik Deutschösterreich", Wien 1919, Verlag Franz Deuticke.

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Es ist zunächst die schon wiederholt festgestellte Parlamentsmüdigkeit, die sich schon vor dem Umstürze hie und da - begreiflicherweise nicht in den die parlamentarische Vertretung erstrebenden, sondern in den ihrer teilhaftigen Kreisen (beati possidentes in den Augen jener anderen!) geltend machte, sich aber auf die bisher ausgeschlossenen Kreise, kaum daß ihnen der Tummelplatz des Parlamentes uneingeschränkt eröffnet war, überraschend rasch übertrug. Es bestätigt sich eben auch auf dem Gebiete der Politik die allgemein menschliche Erfahrung, daß Erstreben mehr befriedigt als Besitzen, daß die Krönung des Kampfes durch den Sieg zugleich der Beginn vom Abstieg ist. Wie haben sich ehrliche Demokraten auf den Zeitpunkt gefreut, wo das Volk mit den Werkzeugen des Parlaments und der Regierung Herr seiner selbst werden würde, doch zeigte sich, als dieser Zeitpunkt gekommen war, nur zu bald, daß die Freude verfrüht, wenn nicht gar unangebracht gewesen war; man konnte des Besitzes nicht recht froh werden! Zumal unter den gegenwärtigen Zeitverhältnissenl Politische Ziele sind bekanntlich schon im allgemeinen höchlichst trügerisch und halten selten, was sie versprochen haben. Unter normalen Verhältnissen könnte ja der Parlamentarismus unstreitig mehr leisten als er heute leistet, wozu nur noch zu bemerken ist, daß seine gegenwärtigen Leistungen doch allzu leicht selbst von seinen Freunden - unterschätzt werden. Es wurde aber schon wiederholt festgestellt, wie begrenzt die Wirkungsmöglichkeiten selbst des besten Parlamentes in einer Zeit sind, die von den politischen Erschütterungen und wirtschaftlichen Nachwehen eines beispiellosen Krieges erfüllt wird, wie begrenzt sie in Ländern sind, die sozusagen um ihre nackte Existenz ringen und darum schwerlich Politik auf sogenannte weite Sicht, die man von einem Parlament erwartet, zu machen in der Lage sind. Nun muß aber daran erinnert werden, daß vom Parlamentarismus, der beim besten Willen nicht Wunder wirken kann, den Massen geradezu goldene Berge versprochen worden waren, und daß die Bevölkerung, sobald sie die ehemaligen innerpolitischen Hemmnisse des parlamentarischen Systems hinweggeräumt sah, ohne jedoch für die außenpolitischen Hemmnisse und für das große Hindernis, das die weltwirschaftliche sowie die volksund staatswirtschaftliche Lage darstellt, ein Auge zu haben, die Einlösung der vordem gegebenen Promesse in mitunter unangenehmen Formen zu fordern begann. Sehr begreiflich, daß man unter diesen Umständen eine

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Ablenkung suchte, nach einem rettenden Gedanken Ausschau hielt, der die Massen den radikalen demokratischen Parteien erhalten könnte, mochte dieser Zweck auch nur durch das Mittel einer Diskreditierung so wahrhaft demokratischer Einrichtungen, wie es ein demokratisches Parlament oder eine demokratische Regierung ist, erreichbar sein. Dieses Mittel wurde denn auch von gewisser Seite unbedenklich angewendet. Man begann plötzlich kritiklos in Frage zu stellen, daß diese lang erstrebten altbekannten Formen der Demokratie die volle oder richtige Erfüllung des demokratischen Ideales seien, man leugnete hie und da, mit dem demokratischen Parlament und mit der parlamentarischen Regierung - Einrichtungen, die jetzt festes Besitztum der ganzen deutschen Erde sind - auch nur die politischen - geschweige denn die sozialen und ökonomischen - Ziele erreicht zu haben, und begann aus einer atatvistischen Einstellung auf den Oppositionsstandpunkt - gegen die Volksvertretung und gegen die Staatsregierung, die Fleisch vom eigenen Fleische und Blut vom eigenen Blute waren, zu frondieren, ja stellte sich bisweilen sogar mit Volksvertretung und Staatsregierung, oder unterstützt wenigstens von einzelnen Gliedern dieser Körperschaften, gegen den Staat, obwohl diese Auflehnung einer geradezu in Permanenz erklärten Revolution gegen das Legitimitätsprinzip die neue Ordnung, den eigenen Staat betrifft und bedroht. Die die herkömmlichen Formen der Demokratie für ungenügend finden, suchen für sie teils einen Ersatz, teils eine Ergänzung. Den Anhängern des Kommunismus, um zuvörderst dieser Richtung zu gedenken, war die Demokratie nur eine geeignete Plattform, von der aus sie den alten Obrigkeitsstaat in Kampfgemeinschaft mit ganz anderen politischen Richtungen bekämpfen konnten, war sie das Sprungbrett, von dem aus sie den Sprung in das undemokratischeste System der Gegenwart unternahmen. Andere, die die Demokratie emporgetragen hat, haben ihr nicht - wie dem Mohr, der seine Schuldigkeit getan hat - einfach den Abschied gegeben, haben aber von ihr doch verlangt, daß sie sich erneuere und verjünge, wenn sie weiter in Gnaden bleiben wolle. So kam wohl unter anderen auch das Schlagwort von der Demokratisierung der Verwaltung auf, das alsbald in weiten Kreisen gutgläubige Aufnahme und Widerhall fand. Ist denn, so mochte der unkritische Beurteiler denken, die richtige, ja die einzige Konsequenz nicht die, daß der Demokratisierung der Gesetzgebung die Demokratisierung der Verwaltung auf dem

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Fuße folgt, ist denn die demokratische Verwaltung nicht die beste und im Grunde unvermeidliche Ergänzung einer demokratischen Gesetzgebung? Und wenn dazu auf teils mißverstandene, teils allzu schablonenhaft auf unsere abweichenden Verhältnisse übertragene Vorbilder ausländischer Demokratien verwiesen wird, so klingt der Ruf nach einer demokratischen Verwaltung einfach überzeugend und erklärt es sich, daß namentlich in Österreich eine Verwaltungsreform, die den Berufsbeamten durch den Ehrenbeamten, den Fachmann durch den Laien, den Neutralen durch den Politiker ersetzen will, in den Augen weiter maßgebender Kreise als eine der dringlichsten Gesetzgebungsaufgaben erscheint. Ist aber diese Häufung des demokratischen Einschlages, wie ihn das angedeutete Reformprogramm beabsichtigt, im Grunde nicht eine Abschwächung dieses Einschlages? Wird nicht vielmehr das demokratische Prinzip, das in der Organisation der Gesetzgebung zum Ausdruck kommt, durch eine in gleicher Weise demokratisch zusammengesetzte Verwaltung entkräftet? Es ist eine wichtige Erkenntnis Professor Hans Kelsens, daß die Kumulierung des demokratischen Prinzips in Gesetzgebung und Verwaltung seine Paralysierung, wenn nicht gar seine Negierung bedeutet. Man braucht sich nur die Grundbedeutung der Wörter Demokratie und Verwaltung zu vergegenwärtigen, um einzusehen, daß eine demokratische Verwaltung von der besonderen Art, wie man sie sich heute vorstellt, eine contradictio in adiecto, also ein Widerspruch zu sich selbst, oder wenigstens ein Widerspruch zum Rechtsstaat ist. Demokratie bedeutet Herrschaft des Volkes, also eine Form der Herrschaft, eine Betätigung des Willens und naturgemäß eine möglichst ungehemmte Betätigung des Willens. Die Verwaltung aber ist eine Funktion des Staates, die sich im Rahmen der Gesetze, richtiger auf Grund der Gesetze, also nicht frei,sondern gebunden vollziehen soll. Sie ist gedanklich weniger die Betätigung des eigenen Willens als die Vollziehung eines fremden Willens, weniger Herrschaft als Gehorsam, Dienst im Sinne eines herrschenden, der im Staate die Gesetzgebung ist: wenigstens hat die Verwaltung im Rechtsstaate, der bisher unangefochten als die juristische Form der Demokratie gegolten hat, diesen Sinn erlangt. Vom Standpunkte des Rechtsstaates erschien und erscheint die Verwaltung um so besser, je mehr sie Vollziehung der Gesetze ist, und die Legalität der Verwaltung erschien und erscheint von demselben Standpunkt aus als der Prüfstein ihrer Güte. Nun kann man ja mit Recht einwenden, daß die

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Verwaltung nicht bloß Vollziehung ist, daß das freie Ermessen in ihr ein gewiß nicht abnehmendes Feld der Betätigung hat und daß insoweit für eine Betätigung des Herrschaftsgedankens, und zwar in den Formen der Volksherrschaft, Raum genug vorhanden sei. Dem ist aber entgegenzuhalten, daß dies Ermessen immer und überall in Gemeinschaft mit Rechtsanwendung auftritt, daß also für jeden Akt der Ermessensfreiheit die Gefahr der Rechtsverletzung besteht. Und vertritt man etwa die Meinung, daß die in der Verwaltung eingeschlossene Vollziehung, die „daneben einherlaufende" Rechtsanwendung auch wohl von dem beamteten Laien und Politiker ebensogut, wenn nicht besser bestritten werden könne, so verkennt man wohl sehr die Mentalität des von dem Gedanken der „freien Verwaltung" im Sinne der Herrschaftsübung erfüllten Verwalters aus der Mitte unseres politisch ungeschulten Volkes, das sich eben an politischen Qualitäten z.B. mit dem in der Freiheit erzogenen und auch der unvermeidlichen Schranken der Freiheit viel mehr bewußten Schweizer Volke schwerlich messen kann. Es darf auch nicht vergessen werden, daß die gelegentliche Beugung der Gesetze, die man vielleicht als unvermeidliche Konsequenz der sogenannten Demokratisierung der Verwaltung in Kauf zu nehmen bereit ist, in der parlamentarischen Demokratie, die in ihrer denkbar reinsten Gestalt gegenwärtig in Deutsch-Österreich wie überall in Deutschland verwirklicht ist, eine Beugung des Volkswillens bedeutet, der sich in den Parlamentsbeschlüssen äußert. Es darf also die Gefährdung der Legalität der Verwaltung von den Demokraten im Volksstaate nicht auf die leichte Achsel genommen werden, wie es im Obrigkeitsstaat angebracht war. Erinnern wir uns für einen Augenblick der Ideologie der freiheitlichen Parteien in der Ära des Absolutismus und des erwachenden Konstitutionalismus! Da wurde eine vom Staate freie Sphäre des Individuums und in der Folge die Selbstverwaltung kleinster Gemeinschaften zu dem unverkennbaren Zwecke gefordert, sich der überragenden Herrschaft des Obrigkeitsstaates sozusagen mit einem Zipfelchen, und in der Folge mit einem wachsenden Teile der Persönlichkeit zu entziehen, und von der Gegenseite, von Seite des Obrigkeitsstaates, wurden diese zentrifugalen Erscheinungen kleinster Kreise in dem vollen Bewußtsein toleriert, daß diese Entwicklung einen Abbröcklungsprozeß der umfassenden Herrschaft bedeute, mit dem man sich aber doch eher abfand - als durch völlige Unnachgiebigkeit eine Bewegung auszulösen, die sozusagen aufs Ganze geht. Diese Bewegung

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freilich wurde höchstens aufgehalten, nicht vermieden, und heute ist die Sachlage die, daß gerade das Ganze - namentlich das Staatsganze - der Demokratie erschlossen ist. Ist es unter diesen Umständen nicht eigentümlich, daß dieselben die Spitze des Staatsgebäudes unterminierenden Methoden der Demokratisierung von unten auf, in den unteren Stockwerken des Staatsgebäudes - und dies ist das Wesen der heute beabsichtigten Verwaltungsreform - in einem Staatswesen angewendet werden, dessen Spitze so weitgehend wie irgend möglich demokratisiert ist?! Bei solcher Organisation des Hauptes ist - so sollte man meinen - der freiheitliche und rechtsstaatliche Gedanke in relativ bester Hut, wenn alle Staatsteile - und das gilt insbesondere von den Staatsorganen - zentripetal orientiert sind, wenn sie von oben ihren Willen empfangen und sie selbst möglichst willenlose Werkzeuge dieses obersten Willens sind, den sie ja selbst inthronisiert haben und der sie rein repräsentiert. Bei solcher Organisation des Staates richtet sich ein Sonderwille einzelner Teile des Volkes gegen den Willen des gesamten Volkes, wie er durch die demokratische Spitze, durch das auf Grund des denkbar freiesten Wahlrechtes - wie es nunmehr im gesamten deutschen Sprachgebiete herrscht - gewählte Parlament und durch die parlamentarische Regierung repräsentiert wird. Und steht auf diese Weise Volkswille gegen Volkswille, dann kann es gerade für kollektivistisch orientierte Parteien keine Frage sein, welche der beiden vielleicht aktuell, immer aber latent kollidierenden Willen weichen, welcher obsiegen muß. Eine kollektivistische Weltanschauung - mit der ich mich persönlich übrigens nicht restlos identifizieren möchte, die aber doch wohl die ideologische Grundlage der demokratischen Gedankenwelt ist - räumt unbedenklich dem Willen der umfassenderen Gemeinschaft den Vorrang ein, was z.B. auf dem Gebiete der bloßen Gesetzgebung in dem Rechtsgrundsatze: „Reichsrecht bricht Landesrecht" zum Ausdruck kommt, was sich aber im Verhältnisse zwischen der Gesetzgebung und Verwaltung in einer solchen Ordnung des gegenseitigen Verhältnisses dieser beiden Staatsgewalten äußern müßte, daß diese Dienerin von jener ist. Meine Ausführungen hoffen aufgezeigt zu haben, daß das Plus an Demokratie, das man von der Demokratisierung der Verwaltung erhoffe, das man in ihr erblickt, in seinem Effekt auf ein Minus hinauskommt. Mit dieser schablonenhaften und gedankenlosen Übertragung der Forderung nach Demokratisierung der Gesetzgebung auf die Verwaltung erreicht man - wie so häufig bei unbedachten Verallgemeinerungen - das Gegenteil des Be-

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zweckten und tut man der Demokratie unter Umständen einen schlechten Dienst. Wie im absoluten und auch noch im konstitutionellen Staat ein nennenswerter demokratischer Einschlag, sollte er nicht das Wesen der Staatsform berühren, nur in der Form einer Lockerung der Staatsteile, in einer relativen Unabhängigkeit der Individuen und kleinen Verbände vom Staate bestehen konnte, so ist in der demokratischen Republik mit radikalen demokratischen Einrichtungen gerade die Bindung an das Staatsganze, die Abhängigkeit vom Staatswillen das Zeichen einer reinen Volksherrschaft. Gewährt in der Autokratie ein demokratischer Unterbau einen einigermaßen demokratischen Zug der Verwaltung, so ist in der Demokratie gerade ein autokratischer, gerade einzig auf den Vollzug der Gesetze bedachter Unterbau der Verwaltung die sicherste Gewähr einer wirklich demokratischen Verwaltung. Nun mag man gegen diese Ausführungen nicht mit Unrecht einwenden, daß das Recht ebensowenig wie die Politik immer vom rein Rationellen und bloß Zweckmäßigen beherrscht wird und beherrscht zu sein braucht; das ist richtig, und darum schiene mir eine Zuspitzung des autokratischen, oder, wie es sich in der Praxis darstellt, des bureaukratischen Prinzips in der Verwaltung ebenso von Übel wie die Übertreibung des demokratischen Prinzipes in der Form einer nach der Schablone der Gesetzgebung erfolgten Demokratisierung der Verwaltung, die, wie ich zu zeigen versuchte, in ihrem Effekt ins Gegenteil umschlägt, in eine Abkehr von dem Berufe der Verwaltung ausmündet, die Gesetze zu vollziehen, Dienerin der Gesetzgebung zu sein. Darum scheint sich, besonders für die Verhältnisse meiner engeren Heimat, wie so häufig bei rechtlichen Einrichtungen, bei denen eine doktrinäre, unbedingt einem bestimmten Prinzipe folgende Lösung meist von Übel ist, ein gemischtes System zu empfehlen, das denn auch manchen ernst zu nehmenden Kreisen meines Heimatlandes vorschwebt. Von einem gemischten Systeme wäre insoferne zu sprechen, als ein Teil der Verwaltungsgeschäfte, vornehmlich die rechtspflegemäßigen Geschäfte der Verwaltung, in den Händen eines bureaukratisch organisierten Amtes bleiben, andere Verwaltungsgeschäfte jedoch, namentlich bei denen das freie Ermessen eine größere oder ganz hervorragende Rolle spielt, einem gewählten, aus Laien zusamengesetzten politisch orientierten Vertretungskörper übertragen werden. Wenn soeben von der teilweisen Beibehaltung der bureaukratischen Organisation der Verwaltung die Rede war, so ist damit endlich der Punkt

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berührt, der die Verwaltungsreform hierzulande zu einem besonders heiklen Politikum macht.2 Die Verwaltungsreform ist mitunter nicht Selbstzweck, sondern wird - soweit man mit ihr bestimmte Zwecke verbindet und nicht bloß die eingangs erwähnte Ablenkung erzielen will - hie und da als Mittel zu einem anderen Zwecke gedacht. Den bureaukratischen Apparat nennt man und eine Reihe bestimmter Personen meint man. Man wittert hie und da - wie so oft in einer jungen Demokratie - Reaktion, und ist geneigt, gewissermaßen als latenten Träger der Reaktion die Verwaltungsbeamten zu betrachten, die im Geiste der monarchischen Ära aufgewachsen seien und denen man, wie widerstandslos und bereitwillig sie sich auch nach der musterhaften Revolution des Oktober 1918 in den Dienst der Republik und des Wiederaufbaues des Staates gestellt haben, doch nicht eine völlige Umstellung der Denkweise zutraut. Es wäre nun aber sicherlich eine verkehrte Taktik, aus einer Personenfrage eine Prinzipienfrage zu machen, um gewisser Träger des bureaukratischen Systemes willen das bureaukratische System überhaupt über Bord zu werfen. Man soll nicht die Lebensfähigkeit und innere Widerstandsfähigkeit des bureaukratischen Elementes unterschätzen, die trotz allem ein Beweis seiner Brauchbarkeit, Tüchtigkeit und vielleicht auch Notwendigkeit sind. Es sei nur daran erinnert, daß die freie Selbstverwaltung größerer Gemeinden ohne bureaukratischen Apparat, ohne eine selbst in leitenden Stellen stehende Beamtenschaft nie und nirgends auszukommen ist. Für den an den verschiedensten Aufgaben so überaus reichen modernen Staat ist eine ausgebreitete Bureaukratie - wie mir scheint - einfach unentbehrlich. 3 Man muß auch mit der Mentalität der Bevölkerung rechnen, die, wie bei uns, augenscheinlich zur Bureaukratisierung tendiert. Unter diesen Umständen schiene es mir als verfehlt, die berufstätige Bevölkerung durch zu weitgehende Heranziehung zu ihr bisher fremden Verwaltungstätigkeiten zu bureaukratisieren, sondern gilt es die in der Verwaltung berufstätig verwendete

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Vgl. meine Ausführungen hierüber in meinem oben zitierten Buche, S. 32.

Vgl. zu diesem mehr persönlichen Moment des Reformproblems mein auf dem letzten Gewerkschaftstag der österreichischen Verwaltungsjuristen erstattetes Referat über die „Stellung der Verwaltungsjuristen in der künftigen Verwaltung", abgedruckt in den „Mitteilungen der Gewerkschaft der Verwaltungsjuristen" und in der österreichischen „Zeitschrift für Verwaltung", Wien 1920.

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Beamtenschaft, die sich der neuen Staatsform vorbehaltslos zur Verfügung gestellt hat, in ihrem Denken und Handeln, soweit es daran noch fehlt, zu demokratisieren. Das scheint mir als die nächstliegende Methode einer Verwaltungsreform, die auf Demokratisierung der Verwaltung abzielt.

Die Stellung der Verwaltungsjuristen in der künftigen Verwaltung Wenn ich auf unserem Gewerkschaftstage - der ehrenden Einladung unserer Gewerkschaft folgend - über die künftige Stellung der Verwaltungsjuristen in der Verwaltung zu sprechen unternehme, so befinde ich mich von vornherein in einer Verteidigungsstellung. Es ist heute moderner und populärer denn je, den Verwaltungsjuristen als das,,fünfte Rad" am schwankenden Vehikel der Staatsverwaltung zu erachten, das nur dadurch in geordneten, guten Gang gebracht werden könne, daß man jenen parasitären Auswuchs, den man nicht selten in unserem Stande erblickt, einfach abbricht. Fast ist der Verwaltungsjurist in der politischen Beurteilung und in der Laienmeinung der Prügelknabe für unseren ganzen Verwaltungsjammer geworden, an dem ihn gewiß der geringste Teil der Schuld trifft. So hätte die kommende Verwaltungsreform nichts Eiligeres und Wichtigeres zu tun, als den Verwaltungsjuristen, da er nun einmal beamtet ist, aus seiner angeblich herrschenden in die ihm vermeintlich gebührende dienende Stellung als bloßer Gehilfe des leitenden und entscheidenden Laien, als Vollstrecker des Willens eines Politikers zurückzuverweisen. So stehe ich, wenn ich in Ihrem Kreise die Stellung, und zwar eine angemessene Stellung der Verwaltungsjuristen in der künftigen Verwaltung verteidige, in den Augen vieler Außenstehender auf einem verlorenen Posten. Und wenn schon an sich das objektive Urteil eines Verwaltungsjuristen über die Erforderlichkeit der Funktion seiner Standesgenossen der Gefahr ausgesetzt ist, als subjektiv gefärbt zu gelten, so trifft dies umsomehr in unserem Falle zu, wo geradezu die staatliche und gesellschaftliche Funktion unseres Standes in Frage steht.

Mitteilungen für Verwaltungsjuristen, 1. Jg. (1920), S. 25-28; dieses Referat auf dem zweiten Gewerkschaftstag der Verwaltungsjuristen erschien auch in Österreichische Zeitschrift für Verwaltung, 53. Jg. (1920), S. 41-43, 46-47.

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Es wäre nun gewiß ein Fehler, in unserer nun einmal rechtlich garantierten Stellung eine Art gottgewollter Ordnung zu erblicken, die, weil sie sich in der Vergangenheit - für eine frühere Vergangenheit des Staates gilt dies sogar unangefochten - bewährt hat, dadurch etwa die Legitimation und Sanktion für alle Zukunft erlangt haben würde. Es ist ganz selbstverständlich, daß der Umsturz auch an dieser unserer Stellung wie an mancher immerhin noch stärker eingelebten Einrichtung gerüttelt und sie - uns zur Selbstbesinnung und Rechenschaftslegung zwingend - problematisch gemacht hat. Es gilt jetzt von jeder Geltung und Stellung im öffentlichen Leben das - etwas variierte - Dichterwort: ,,Erwirb sie täglich, um sie zu besitzen. Nur meine ich eben, daß die Einrichtung einer „Berufsverwaltungder man heute die,,Laienverwaltung" als vorbildliches Gegenstück gegenüberstellt, in modernen Forderungen, oder wenigstens in auch modernen Forderungen, derart verankert und begründet ist, daß man ein Berufsbeamtentum berufen müßte, wenn es nicht schon zur Verfügung stünde. Die als so unmodern gebrandmarkte Einrichtung der Berufsverwaltung mit dem Berufsbeamtentum erfüllt nämlich auf dem Gebiete der Verwaltung die Tendenzen der Arbeitsteilung und Berufsspezialisierung, die doch gewiß nicht als unmodern zu bezeichnen sind.1 Es gilt als ausgemacht und wird von keiner Seite in Frage gestellt, daß die in einem Wirtschaftskörper geleistete Arbeit bei arbeitsteiligem Zusammenwirken die höchste Leistung erzielt. Arbeitsteilung bedingt nun Spezialisierung der Berufe. Man würde es im wirtschaftlichen Leben als einen Rückschritt oder wenigstens als Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Arbeitsleistung erachten, wenn verschiedenartige Funktionen in einer Hand vereinigt und wenn geteilte Berufe wieder verschmolzen würden. Man würde es grundsätzlich auch nicht verstehen, wenn ein gesellschaftlich notwendiger Beruf nur als Nebenberuf sei es zugleich mit einem Hauptberufe, sei es auch mit zeitweiliger Unterbrechung dieses Berufes, für den allein man eine Ausbildung genossen hat, ausgeübt würde. Man kann sich auch schwerlich vorstellen, daß irgend einer dieser gesellschaftlich notwendigen Berufe ohne Studien- oder Befähi-

1 Vgl. zum Beamtenproblem in der modernen Demokratie auch mein Buch „Die Verfassung der Republik Deutschösterreich", Verlag Franz Deuticke, Wien 1919.

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gungsnachweis offen stünde. Solche Selbstverständlichkeiten aber, wie sie unangefochten für jeden gesellschaftlichen Beruf gelten, sollen nun gerade für die Versehung staatlicher Funktionen, im besonderen für die Verwaltung, nicht zutreffen. Hier soll, namentlich zu den schwierigeren, entscheidenden und leitenden Funktionen der Laie berufen werden, der in Verwaltungssachen höchstens zufällig, nicht voraussetzungsgemäß Fachmann ist; hier betrachtet man die Berufung des Laien an Stelle des Berufsbeamten als das Selbstverständliche, dem Zuge der Zeit folgende, obwohl ein solcher Rollentausch der modernen Gesellschaftsentwicklung zuwiderläuft. Bei dieser Sachlage hätte aber im Grunde nicht der Berufsbeamte seine Stellung zu verteidigen, sondern der Laie zu beweisen, daß er der Berufene ist. Wir werden in der Folge hören, was für ihn und werden sehen, was gegen ihn spricht.

Die Konturen der kommenden Verwaltungsreform sind, insbesondere was die actio finium regundorum zwischen Berufsbeamtentum und Laienelement betrifft, bisher noch ganz undeutlich umrissen. Es bestehen ja über dieses Problem selbst in politischen Kreisen widersprechende Meinungen, soweit überhaupt eine Meinung besteht. Die extreme Auffassung geht aber doch wohl dahin, zumindest im Bereiche der politischen Verwaltung, die deshalb, wie überhaupt wegen der präjudizierlichen Bedeutung der Ordnung in der politischen Verwaltung für die anderen Verwaltungszweige im Vordergrunde unserer Betrachtung steht, das Berufsbeamtentum durch ein Ehrenbeamtentum nicht etwa zu ersetzen - soviel sieht man selbst in diesen Kreisen ein, daß die Tätigkeit der verschiedenen Berufsgruppen in der Verwaltung, der Techniker, der Mediziner und selbst der immerhin am ehesten für entbehrlich erachtete Juristen in irgend einer Form beibehalten werden muß - aber doch wohl der Leitung von Politikern zu unterstellen, die durch Wahl in den einzelnen Verwaltungssprengeln berufen werden. Über die Art der Kooperation von Berufs- und Ehrenbeamtentum legt man sich heute wohl noch kaum eine genaue Rechenschaft ab, doch steht wohl für die extremen Reformfreunde soviel fest, daß die Berufsbeamten zu den Ehrenbeamten nicht im Verhältnis der Neben-, sondern der Unterordnung stehen sollen. Der Laie hätte anzuschaffen, der Fachmann auszuführen, der Laie zu entscheiden, der Rechtskundige die Begründung für die Entscheidung zu liefern. Wenn nicht die Fachkenntnis, so wäre doch die Ent-

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schließungsfreiheit, der selbständige Wille des Berufsbeamten ausgeschaltet. Seine Aufgabe würde sich darin erschöpfen, für einen fremden Willen, für den von der Rechtskenntnis und manchmal wohl auch vom Geiste der Gesetzlichkeit nicht orientierten Willen des leitenden Politikers als juristisches Rüstzeug beizusteuern. Wer jemals in der politischen Verwaltung, namentlich der untersten Instanz, tätig war, muß sagen, daß unter den heutigen Verhältnissen nur bei völliger Unvertrautheit mit dem Geschäftsgange einer politischen Behörde die Übertragung der rechtspflegemäßigen Geschäfte an das Laienelement gefordert werden kann, und daß es einfach Demagogie ist, wenn ein Eingeweihter das Schlagwort von der Laienverwaltung und namentlich von der Übertragung der Entscheidungsgewalt an den Ehrenbeamten im Munde führt. Man vergegenwärtige sich im Fluge die typischen Geschäfte der Verwaltungsrechtspflege bei einer politischen Behörde, man ziehe z.B. die Verfügung über eine Gewerbeanmeldung, die Entscheidung über einen Regreßanspruch nach dem Krankenversicherungsrecht, die Erteilung einer Ehedispens oder die Ausstellung eines Ehefähigkeitszeugnisses, die Erledigung einer Angelegenheit des Kultusrechtes oder des Wasserrechts usw., das große Gebiet des politischen Strafverfahrens wie überhaupt irgend einen Akt der Verwaltungsrechtspflege in Betracht und frage sich, ob derartige Geschäfte ernstlich von Laien und noch dazu von solchen Laien bestritten werden könnten, wie sie die Auslese der Wahl in jedem winzigen Verwaltungssprengel zu Verwaltungsfunktionen berufen würde! Man möchte vielleicht, wenn man schon von ausländischen Vorbildern absieht, einwenden, daß in der Justiz doch auch in Österreich - und zwar schon seit Jahrzehnten der Laie (als Geschworener) gerade zu den schwerstwiegenden juristischen Entscheidungen, zur Beurteilung der Schuld der schweren Verbrechen berufen sei. Eine solche Verweisung auf das Vorbild der Justiz wäre aber ein völliges Verkennen der verschiedenen Sachlage auf den beiden Tätigkeitsgebieten, wie nicht anders die Verweisung auf ausländische Vorbilder der Laien Verwaltung, namentlich auf die Schweiz und auf England, die tiefgreifenden völkischen, staatlichen und rechtlichen Unterschiede verkennt. Man wird nicht bestreiten können, daß der Wahrspruch der Geschworenen in zahlreichen Fällen einer juristischen Kritik nicht standhält. Diese juristische Unzulänglichkeit der Schwurgerichtsbarkeit mag nun in manchen Fällen

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bedauerlich, wird aber in anderen Fällen geradezu erwünscht sein. Der tiefere Sinn des Geschworeneninstitutes ist es vielleicht, die Strenge des gesetzten Rechtes nötigenfalls zur Milde einer höheren Gerechtigkeit abzubiegen. Man nimmt die unvermeidlichen Rechtsbeugungen des Wahrspruches der Geschworenen ganz bewußt in Kauf, weil man auf das Urteil ihres gesunden Menschenverstandes und ihres instinktiven Rechtsgefühles Gewicht legt. Ganz anders liegen aber die Verhältnisse auf dem Gebiete der rechtspflegemäßigen Verwaltung, die insoweit mit der Ziviljustiz offensichtliche Verwandtschaft aufweist. Hier steht nicht das problematische Strafrecht des Staates, das durch ein juristisch anfechtbares Verdikt der Geschworenen verletzt würde, hier stehen sehr aktuelle, mitunter auch materiell sehr gewichtige Parteirechte auf dem Spiele. Der Vorteil des einen ist hier oft der Nachteil des andern, die gewollte oder ungewollte Protektion zugunsten des einen muß vom Standpunkte des andern als Korruption erscheinen, die abstrakte Rechtsbeugung ist zugleich konkretes Unrecht. Die Folgen einer Unkenntnis und einer Verletzung des Gesetzes greifen also auf dem Gebiete der Verwaltung ungleich tiefer als auf dem der Strafjustiz, machen sich wenigstens ungleich stärker bemerkbar, da die Abweichung vom Gesetze meist auf einen einzelnen in der Weise auswirkt, daß er Leidträger der Ungesetzlichkeit wird. Nun liegen aber Entgleisungen auf dem Gebiete des Verwaltungsrechtes noch ungleich näher als auf dem Gebiete des Strafrechtes. Ist das ausgebreitete, auf eine Fülle von Spezialvorschriften verstreute Verwaltungsrecht schon für die Mehrzahl der Juristen eine Art Geheimfach, so ist es für den Laien geradezu eine terra incognita. Ist schon die Laiengerichtsbarkeit derart, daß sie mitunter vielleicht nicht selten zu ihrem Vorteil - vom Bestände eines Strafgesetzes kaum angekränkelt erscheint, so würde eine Laienverwaltung wohl schwerlich erkennen lassen, daß sie an einem minutiös ausgebauten Verwaltungsrechte orientiert ist, richtiger gesagt - da die konkrete Verwaltung selbst beim besten Willen der Laienfunktionäre, den ich nicht in Zweifel ziehe, kaum als Niederschlag des abstrakten Verwaltungsrechtes erscheinen könnte - , daß sie an einem solchen Rechte orientiert sein sollte. Hat aber der Rechtsstaat dazu ein weitverzweigtes Verwaltungsrechtssystem ausgebaut und derart der Willkür der Verwaltungsorgane hinauf bis zum Monarchen den Boden abgegraben, damit dieses endlich ausgebaute Recht in der Praxis nun wieder in abusum gerate und durch einen - sei es auch noch so gut gemeinten, praeter legem, und das bedeutet zugleich: contra legem, eingebürgerten - Laienbrauch ersetzt werden? Für den an die Verwaltung Gewie-

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senen bleibt es im Grunde gleich, von wem die Willkür ausgeht, ob von einer noch nicht an Gesetze gebundenen Bureaukratie in einer undemokratischen Monarchie oder von einer der Gesetze bereits entbundenen Laienherrschaft in einer extremen Demokratie, die, einem mißverstandenen Schlagwort der Modernisierung und Demokratisierung der Verwaltung folgend, scheindemokratische und pseudomoderne Formen auch der Verwaltung aufpfropfen möchte, ohne damit einer wirklichen Modernisierung und Demokratisierung der Verwaltung, diesen Zielen jeder Verwaltungsreform, in Wahrheit zu dienen. Und gleich bleibt es dem Staatsbürger wohl auch, ob die Willkür, als welche sich im Grunde jede Ungesetzlichkeit darstellt, bona oder mala fide erfolgt: Tatsache ist, daß er so und so um sein verbrieftes Recht kommt. Übrigens müßte die Beibehaltung einer Kontrolle der Verwaltung durch ein Verwaltungsgericht die skizzierte Art der Laienverwaltung notwendig ad absurdum führen. Die richterliche Kontrolle wäre der Fülle von Fällen, wo sie Entgleisungen dieser Verwaltungsmethode vom Verwaltungsrec/ite festzustellen hätte, so wenig gewachsen, daß sich der gesunde Gedanke von selbst aufdrängen würde, der heute schon realisiert ist, daß nämlich die Verwaltung durch Rechtskundige die korrektive Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit nach Möglichkeit überflüssig und jedenfalls zu einer Ausnahmeerscheinung machen müsse. Ansonsten gibt es wohl nur den Ausweg: zugleich mit der Berufsverwaltung die Verwaltungsgerichtsbarkeit und ein detaillieres Verwaltungsrecht aufgeben: das hieße aber, die große Errungenschaft des Rechtsstaates, die gesetzliche Determinierung, mit einem Worte: die Gesetzlichkeit der Verwaltung preisgeben und auf dem Gebiete der Verwaltung in die Zustände des Vormärz zurückverfallen, die eben nicht allein für eine Autokratie charakteristisch, sondern auch für eine Überspannung der Demokratie symptomatisch sind, welche sich bei allen Übertreibungen und Entartungen mit ihrem großen Widerpart berührt. * * *

Nun könnte man mir vielleicht einwenden, daß ich im vorsehenden den Gedanken der Laienverwaltung verzerrt hätte, um ihn zu diskreditieren, daß ich mir die Verteidigung des Berufsbeamtentums allzu leicht gemacht hätte, indem ich sein Widerspiel, die reine Laienverwaltung angegriffen und ihre Schwäche bloßgelegt habe. - Soviel räume ich ein, daß ich im vorigen die Laienverwaltung in ihrer extremsten Form, gewissermaßen in ihrer Reinkultur vorgeführt habe. Ich lege aber Wert darauf festzustellen, daß dies

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sozusagen sine ira et studio geschehen ist. Wenn sich nun dabei herausgestellt haben sollte, daß sie trotz ihres grundsätzlich demokratischen Charakters vom Standpunkte des demokratischen Ideals nicht unbedingt positiv zu weiten ist, da sie die gleichfalls demokratische Forderung der Gesetzlichkeit der Verwaltung gefährdet, so gewinnt zugleich das Charakterbild der Berufsverwaltung, die schon an sich die Probe der modernen Prinzipien der Arbeits- und Beruftsteilung besteht, nun auch im demokratischen Lichte besehen, indem sie der demokratischen Forderung einer gesetzmäßigen Verwaltung immerhin besser als eine Laienverwaltung gerecht wird, dies umsomehr heute, wo in der Bevölkerung der Sinn für Gesetzlichkeit leider dermaßen erschüttert ist, daß, wenn überhaupt jemand, dann doch wohl nur das gesetzeskundige Berufsbeamtentum als Anwalt und Hüter der Gesetzlichkeit gelten kann. Nun könnte man ja allerdings die Gesetzlichkeit auf die Weise retten wollen, daß man die Verwaltungsrechtssachen von einer kollegialen Verwaltungsbehörde erledigen läßt, die nicht ein Verwaltungsgericht zu sein braucht, in der aber das Berufsbeamten- und Laienelement vereinigt sind. An sich ein gesunder Gedanke, aber eine Komplikation der Verwaltung, die zu der gegenwärtig befolgten und sicherlich nicht unmodernen Methode der Justizreform, zu der Gerichtsentlastung, in diametralem Gegensatz steht; vom Standpunkt der Partei aus unerträglich schwerfällig im Vergleich mit der Tatsache, wie rasch und einfach sich diese in Hinkunft kollegial zu behandelnden Geschäfte in der heutigen Verwaltungspraxis abspielen. Behändigt man heute oft der Partei die Ausfertigung einer verwaltungsrechtlich planen Verfügung binnen weniger Stunden, so soll sie in Hinkunft vielleicht vom Ergebnis einer doch nicht immer paraten Beratung eines Kollegiums abhängen, wo der Rechtskundige etwas gesetzlich vielleicht Selbstverständliches dem Laien erst verständlich machen muß. Diese Schwierigkeiten nehmen zu, je kleiner der Verwaltungssprengel, je kleiner also auch der Kreis der rechtskundigen Berater der Laienverwalter und je umfangreicher der Einschlag des Laienelementes ist. Was dürfte also der nächstliegende Ausweg aus diesen Komplikationen sein: der Berufsbeamte bereitet die Entscheidung vor und der Laie approbiert sie, wobei die Überprüfung des Entscheidungsentwurfes naturgemäß es soll dies kein Vorwurf sein - viel mehr unter dem Gesichtspunkt der Opportunität als der Legalität erfolgt; wobei die außerordentliche Gefahr

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besteht, daß das juristisch Korrekte nach politischen Gesichtspunkten „ korrigiert" wird. Neben der Erkenntnis dieser Gefahr verschwindet fast das Bewußtsein für das beiderseits Unwürdige einer Rollenverteilung, wonach der Laie formell eine Entscheidung trifft, die ihm materiell der rechtskundige Berufsbeamte beistellt, die er äußerlich und inhaltlich zu gestalten selbst oft außerstande wäre. Der Berufsbeamte mit qualifizierter Vorbildung - es gilt dies vom Techniker, Mediziner und anderen Berufsangehörigen, wie insbesondere vom Juristen - wird hiebei geradezu zum dienenden Werkzeug des durch Wahl bestellten Verwaltungschefs, wobei die Bemerkung nicht unterdrückt werden kann, daß bei dem Stande der allgemeinen Bildung und der politischen Reife in unserem Lande in den kleinsten Verwaltungssprengeln, die hier in Frage kommen, die politische Auslese durch Wahl mitunter schwerlich einen Verwaltungschef von genügender geistiger Kapazität zu Tage fördern wird, daß er die innere und äußere Führung des ihm untergeordneten Berufsbeamtenkörpers mehr als nominell erlangen und behalten kann. Mir erscheint eine Häufung der - wie eingeräumt sei, auch in der Berufsverwaltung nicht ausgeschlossenen - Fälle, daß sich die nominelle Führung des Amtschefs reell als ein unwürdiges Geführtwerden durch untergebene Beamte darstellt, in der Laienverwaltung unausweichlich. Man darf übrigens auch die Deteriorierung nicht unterschätzen, die der Verwaltung von der Seite droht, daß ein Verwaltungsberuf, der solche Abhängigkeitverhältnisse begründet und für den Berufsbeamten keinerlei Aussichten auf einigermaßen ausschlaggebende, verantwortliche Positionen eröffnet, also nicht nur höhere materielle, sondern auch ideelle Werte versagt, immer mehr von den Tüchtigen gemieden wird. Es könnte wahrhaftig von keiner Verwaltunsreform die Rede sein, wenn die mangelnde Fachkenntnis des Verwaltungschefs nicht durch die Fachkenntnisse des ihm unterstellten Verwaltungspersonals wettgemacht, wenn die Verwaltung zum Tummelplatz von Unzulänglichkeiten und zugleich von politischen Umtrieben würde. Hier wird ein subjektives Standesinteresse zum eminenten objektiven Verwaltungsinteresse. Noch ein Nachteil eines solchen gemischten Verwaltungssystems, der immerhin schwer wiegt, wenn er vielleicht auch am leichtesten genommen wird, sei kurz erwähnt: seine Kostspieligkeit. Ich sehe dabei ganz von der besonders luxuriösen Einrichtung einer etwaigen kollegialen Behandlung planer rechtspflegemäßiger Verwaltungssachen ab, die ebensogut oder besser von einem einzigen rechtskundigen Beamten behandelt werden könnten,

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aber nur deswegen vielleicht der kollegialen Behandlung unterworfen werden, um für das Laienelement Raum zu schaffen; auch von jener oben angedeuteten Rollenverteilung sehe ich ab, die etwa dem erledigenden Fachmann einen unsachverständigen Approbanten überordnet. Selbst der glatte Ersatz des Berufsbeamten durch den Laienbeamten (und nicht bloß die wahrscheinlichere Kumulierung der beiden) käme teurer als die schon bisher viel zu teure und darum wohl auf die Dauer unhaltbare Verwaltungsorganisation. Wenn ursprünglich der Ehrenbeamte eine Ersparung bedeutet hat, so ist er heute bekanntlich - es ist dies ein offenes Geheimnis und soll kein versteckter Vorwurf sein - eine Quelle erhöhter Ausgaben. „Ehrenbeamter'ist beim heutigen Wert der Arbeitskraft und Arbeitszeit notwendig ein euphemistischer Ausdruck. Der Unterschied zwischen seiner Honorierung und der Besoldung des Berufsbeamten liegt höchstens darin, daß er in der Regel nicht wie dieser fixe, gesetzlich festgesetzte, für die Öffentlichkeit kontrollierbare Bezüge hat, daß für ihn hie und da sogar noch - nicht in Geld zahlbare - „Sportein" gebräuchlich sind, deren Geldwert mitunter, gar heute,die höchsten Beamtenbezüge beträchtlich übersteigt. Nach diesem Exkurs ins Finanzielle ist nun wohl die zusammenfassende Feststellung gestattet, daß das Prinzip der Laienverwaltung trotz seines demokratischen Grundcharakters nicht so zweifellose und allseitige Vorteile aufweist, daß das auf den ersten Blick allerdings undemokratisch erscheinende Prinzip des Berufsbeamtentums bei näherem Vergleiche nicht in Ehren bestehen könnte und für alle Gebiete der Verwaltung, die auf qualifizierter Vorbildung beruhende Fachkenntnisse voraussetzen, nicht sogar den Vorzug verdienen würden. Ich verschließe mich dabei durchaus nicht der Einsicht, daß auf dem großen Gebiete des freien Ermessens für die Mitarbeit des Laienelementes Raum vorhanden ist und daß es Aufgabe der Verwaltungsreform sein wird, dem Zuge der Zeit folgend, auf diesem Gebiete dem nun einmal bestehenden Drange weiter Bevölkerungskreise nach Betätigung auf dem Gebiete der Verwaltung ein gesetzlich begrenztes Feld der Betätigung zuzumessen, womit zugleich die schon heute geübte Betätigung in gesetzliche Formen gekleidet werden würde. Soweit die Gefahr eines Überwucherns politischer Opportunität potentiell besteht oder gar aktuell wird - ich denke an gewerbliche Konzessionen und manches andere - erhebt sich allerdings meines Erachtens aus den Prinzipien des Rechtsstaates die Forderung, die Herr-

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schaft der politischen Opportunität auf die Weise auszuschließen, daß in dieser Verwaltungsmaterie das freie Ermessen aufgehoben und die rechtspflegemäßige Verwaltung mit allen ihren Konsequenzen hinsichtlich der Organisation des betreffenden Verwaltungszweiges hergestellt werde. Endlich wird man selbst auf dem Gebiete der rechtlich kaum determinierten wirtschaftlichen Verwaltung, die den politischen Behörden namentlich in der Kriegs-und Übergangswirtschaft zugewachsen ist, trotz der hier durchaus angebrachten führenden Rolle fachkundiger Nichtjuristen, der Mitberatung und Mitbestimmung rechtskundiger Verwaltungsbeamten im Interesse der Gesetzlichkeit der Geschäftsführung nicht ganz entraten können. Das Verwaltungsproblem scheint mir demnach, soweit die Streitfrage: Berufs- oder Laienverwaltung? in Betracht kommt, nach folgenden Grundsätzen zu lösen sein: In rechtspflegemäßigen Verwaltungssachen Vorbehalt der Entscheidung für den rechtskundigen Verwaltungsbeamten, in den übrigen Verwaltungssachen ein gesetzlich genau umschriebenes Zusammenwirken des Berufsbeamten mit dem Laienelement, das in jedem Verwaltungssprengel neben der ernannten Beamtenschaft zu ehrenamtlichen Verwaltungsfunktionen durch Wahl berufen wird. Eine Neuerung sind endlich alle, die zur Verwaltung berufen sind, dem Staate und dem Volke, streng genommen aber auch Staat und Volk seiner pflichtgetreuen Beamtenschaft schuldig: die volle, zur zivilrechtlichen Haftpflicht gesteigerte Verantworung für ihre gesamte amtliche Tätigkeit. Die Haftpflicht ist das wichtigste Ausleseprinzip: Sie wird die Unberufenen jeder Art zum Nutzen von Staat und Bevölkerung von der Verwaltung fernhalten und kann doch dem berufenen Verwaltungsbeamten - das Beispiel der Richter zeigt es - nicht schaden. Mir scheint es gerade für die Verwaltungsjuristen naheliegend, sich dieses Prinzip jeder wirklich modernen und demokratischen Verwaltung zu eigen zu machen und vor allem zu fordern. Sie werden damit nicht wie die heutige Propagierung der Laienverwaltung einer mißverstandenen, sondern einer wirklichen Modernisierung und Demokratisierung der Verwaltung dienen. * * *

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Nach dieser kursorischen Untersuchung der beiden hier konfrontierten Verwaltungstypen - Laien- und Berufs Verwaltung - wird vielleicht abschließend noch ein Wort über ihre grundsätzliche Stellung zum demokratischen Ideal gestattet sein; ein solches Wort ist zur Rechtfertigung der aus der Untersuchung gefolgerten verwaltungspolitischen Forderungen geradezu geboten, wenn sie nicht reaktionär erscheinen sollen, was ich jedenfalls vermieden wissen möchte. Mir erscheint nämlich selbst die für unsere Untersuchung bedingungsweise eingeräumte Voraussetzung, daß die Laienverwaltung an sich schon demokratisch, die Berufsverwaltung an sich schon ademokratisch sei, nicht so bedingungslos zuzutreffen, als dies gemeinhin behauptet und geglaubt wird. Berufsbeamte und Politiker sind Söhne eines und desselben Volkes, wenn auch zum guten Teile verschiedene Schichten der Bevölkerung. Man kann aber ernstlich doch wohl nicht behaupten, daß die deutschösterreichische Berufsbeamtenschaft, namentlich der Großteil der Verwaltungsjuristen, der großen Masse des Volkes gegenüber volksfremd sei. Empfindet sich dieser oder jener als volksfremd, so hat unser Stand keinen Anlaß, diesen Einzelnen noch als standeszugehörig zu betrachten. An dieser Stelle möchte ich es auch als Bestätigung meiner Auffassung, daß sich das demokratische Ideal durchaus mit dem Gedanken des Berufsbeamtentums verträgt, vermerken, daß unsere gewiß demokratische Verfassung die eminent politische Funktion der Ministerschaft nicht dem Politiker vorbehalten, sondern auch dem apolitischen Fachmann eröffnet hat und daß weiters in der doch rein politischen Funktion der Gesetzgebung die Vorarbeit und Mitarbeit gesetzgeberisch geschulter Berufsbeamter von den durch Wahl berufenen Gesetzgebern geduldet und gern gesehen wird, so daß sie gleichfalls verfassungsmäßig verankert ist. Was den Laienbeamten vom Berufsbeamten unterscheiden würde, ist im Wesen nur der unterschiedliche Berufungsgrund, die Wahl, die aber doch wohl nicht unter allen Umständen die bessere Auslese garantiert und darum den Vorzug verdient. Nicht jedoch liegt der Unterschied etwa darin, daß der Berufsbeamte die Bevölkerung verwalten würde, während sich in der Person des Ehrenbeamten die Bevölkerung gewissermaßen selbst verwalte. Eine so verstandene Selbstverwaltung ist eine grobe Fiktion: in beiden Fällen ist die Bevölkerung Objekt der Verwaltung und in beiden Fällen besteht die theoretische Möglichkeit, daß die Bevölkerung gut und schlecht, daß sie demokratisch und undemokratisch verwaltet wird.

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Eine moderne Verwaltungsreform in der Richtung der Demokratie braucht also durchaus nicht grundsätzlich eine Auswechslung der Organe vorzunehmen, die Reform kann sich vielmehr an der gegebenen Organisation abspielen. Nicht unerwähnt möchte ich es lassen, daß eine selbsttätige und freiwillige Reform schon darin lag, wie große Teile der Berufsbeamtenschaft, die Verwaltungsjuristen voran, sich selbst demokratisiert und der Republik völlig zur Verfügung gestellt haben. Ich persönlich betrachte es als ein wesentliches Stück der Verwaltungsreform, den Geist der Demokratie in unserem Stande zu pflegen und dem Aufbau der Republik auf eine solche Weise zu dienen, daß ihr der Anlaß fehlt, andere Helfer, die die Verwaltungsjuristen verdrängen, herbeizuwünschen und herbeizurufen.

Verwaltungsreform und zwecklose Verwaltung Das alte Problem der Verwaltungsreform ist bei der heutigen wirtschaftlichen und politischen Lage ein Beamtenproblem und Finanzproblem geworden. Wenn man heute häufiger, aber doch auch hoffnungsloser denn je eine Reform der Verwaltung fordert, so denkt man nicht so sehr daran, die Verwaltung besser, zweckmäßiger zu gestalten, was ja unter Umständen eine Verteuerung der Verwaltung bedingen kann, sondern in erster Linie daran, sie um jeden Preis, selbst um den einer Qualitätsverminderung, billiger zu gestalten, den persönlichen und sachlichen Aufwand zu vermindern, womit übrigens mittelbar unter Umständen ebenfalls eine Verbesserung der Verwaltung erzielt werden könnte. Und die aktuellen Pläne einer Verwaltungsreform, die auf Änderungen in der Verwaltungsorganisation, auf die Neueinführung von Bezirksvertretungen und dergleichen mehr hinauslaufen, würden sich zur Forderung der öffentlichen Meinung in Gegensatz stellen, wenn sie jedes Junktim mit Maßnahmen zur Verbilligung der Verwaltung vermissen ließen. Die Komplikation, die der erwähnte Ausbau der Verwaltungsorganisation mit sich bringt, bedingt unabweislich eine Kompensation durch einen Abbau der Verwaltungsorganisation auf einer andern Seite. Die öffentliche Meinung, die eine Verwaltungsreform in Form einer Verbilligung der Verwaltung fordert, glaubt sie nun in der Regel unmittelbar durch Abbau des Personals herbeiführen zu können - und es haben bekanntlich bereits verschiedene gesetzliche Maßnahmen, zum Beispiel das Pensionsbegünstigungsgesetz, diesem Zwecke gedient, dabei sich aber freilich als Schlag ins Wasser herausgestellt. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen ist es aber vielleicht notwendig vergebliches Bemühen, mit einem verminderten Verwaltungsorganismus einen unveränderten Verwaltungsmechanismus bedienen, die Verwaltungsfunktionen unverändert belassen und das Verwaltungspersonal mehr oder weniger abbauen zu wollen.

Neues Wiener Tagblatt vom 26. August 1921, S. 1-2; vom 27. August 1921, S. 3.

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Man wird dieser Behauptung entgegenhalten, unser Verwaltungsapparat sei so überreich mit Personal dotiert, daß ein unverändertes Arbeitsquantum auch von einem stark verminderten Personal geleistet werden könnte. Diese Meinung trifft aber nur mit Einschränkungen zu. Zunächst muß der vielverbreitete Irrglaube von dem ungeheuerlichen Mißverhältnis der Zahl der Staatsbeamten bei uns und in einem andern beispielgebenden Staat, etwa in England, auf das richtige Maß zurückgeführt werden. In Anbetracht der allerdings recht wenig beachteten Tatsache, daß ein Großteil der gesellschaftlichen Aufgaben, die bei uns in den Wirkungskreis des Staates fallen, in England von Selbstverwaltungskörpern, privaten Korporationen und Unternehmungen besorgt wird, kann nur die Ziffer unsrer sämtlichen Staatsangestellten mit jener der sämtlichen in analogen, wenn auch privaten Betrieben, Ämtern und Anstalten Englands beschäftigten Personen oder die Ziffer sämtlicher englischen Staatsbediensteten mit jenem Teil unsrer Staatsbediensteten, die gleichen Verwendungszwecken dienen, in Vergleich gestellt werden. Zweifelsohne fällt auch dieser Vergleich sehr, wenn auch nicht mehr in jenem scheinbar schreienden Maße, zu unsern Ungunsten aus, das heißt, es ergibt sich bei uns ein verhältnismäßiges Mehr an Personal mit einem Weniger an Leistung, ein Mißverhältnis, das um so mißlicher ist, als die unverhältnismäßig ungünstigere wirtschaftliche Lage unsres Staates eigentlich erwarten ließe, daß mit einem nicht bloß absolut, sondern auch relativ geringeren Personal ein verhältnismäßig höherer Verwaltungsnutzeffekt erzielt würde als in einem Staate, dessen ungleich bessere Finanzlage einen verhältnismäßig höheren Verwaltungsaufwand rechtfertigen könnte. Aber auch diese Einsicht kann nicht die Forderung nach einem unmittelbaren und durchgängigen Abbau des Verwaltungspersonals begründen. Es gibt unstreitig große Verwaltungsgebiete, wo unzweifelhafter außerordentlicher Überfluß an Personal herrscht, anderseits aber auch Verwaltungsgebiete, wo - wie merkwürdig es klingen mag - ausgesprochener Personalmangel besteht. Der Eingeweihte weiß, daß es vereinzelt Ämter gibt, die zuweilen eher beispielsweise einem Versammlungslokal, einem Lesekabinett oder einer Nähstube gleichen; anderseits sind aber die Fälle, wo das vorhandene Arbeitspensum nur bei stärkster Arbeitsleistung unter Inanspruchnahme von Überstunden bewältigt werden kann, viel zahlreicher, als man angesichts des vermeintlichen und zum großen Teil tatsächlichen, aber eben beiweitem nicht allgemeinen Personalüberschusses annehmen möchte. Diese höchst ungleiche Arbeitsverteilung kann gewiß zum guten Teil durch

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eine bessere Personalvertretung ausgeglichen werden, was freilich zur Voraussetzung hat, daß die Widerstände jener Elemente, die zum Schaden überbeschäftigter Arbeitskollegen ihre Minderleistung zu verschleiern und eine gerechtere Arbeitsverteilung als eine ihnen persönlich angetane Ungerechtigkeit zu verhindern wissen, überwunden werden können. Aber ganz davon abgesehen, findet eine rationellere Arbeitsverteilung in natürlichen Umständen - Mangel der Vorkenntnisse, der Erfahrung und Schulung und dergleichen mehr - oft schon an der Grenze des betreffenden Dienstzweiges ihre natürliche Schranke. So könnte zum Beispiel einer Bezirkshauptmannschaft, deren Personalmangel sich etwa für die Bevölkerung ihres Sprengeis in unangenehmster Weise fühlbar macht, doch nicht ohne weiteres durch Zuweisung beliebiger überschüssiger Verkehrsangestellter geholfen werden. Das Übel sitzt tiefer, und dort muß es angefaßt, an der Wurzel muß es ausgerottet werden.

Die Überzahl an Verwaltungsorganen, die, wenn auch nicht überall im einzelnen, so doch unleugbar im ganzen besteht, hat, von andern Ursachen politischen Imponderabilien und dergleichen - abgesehen, vornehmlich in einer Überzahl der Verwaltungsgeschäfte ihre Ursache. Nur zu oft wurden im alten und auch im neuen Österreich Verwaltungsgeschäfte eingeführt, um für die Anstellung von Verwaltungsorganen einen Anlaß zu bieten und eine Rechtfertigung abzugeben. Es ist vorgekommen, daß Verwaltungsaufgaben neu begründet wurden, um für Verwaltungsorgane, die diesen Aufgaben dienen sollten, Raum zu schaffen. Die Verwaltungsvorschriften wurden im Laufe der Jahrzehnte und über jedes sachliche Bedürfnis hinaus kompliziert, wobei zunächst die Erwägung mitspielen mochte, daß das zu ihrer Durchführung erforderliche Personal ohnehin zur Verfügung stehe, danach aber die Agendenvermehrung wiederum den Vorwand für eine Personalvermehrung abgab. Es ist kein Wunder, wenn ein Staat, der mit einer solchen Fülle von Verwaltungsvorschriften gesegnet ist, daß nur ihr wichtigster Bruchteil eine zehnbändige Sammlung füllt, an einer Fülle von Verwaltungspersonal zu leiden hat, die man eigentlich in Anbetracht der Unzahl von anzuwendenden Verwaltungsvorschriften keineswegs als unangemessene Überzahl anzusprechen hätte. Der Überschuß an Verwaltungsvorschriften ist die primäre Erscheinung - die Fülle an Verwaltungspersonal ihre erklärliche Folge.

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Wenn diese Behauptung nur an einigen besonders augenfälligen Beispielen beleuchtet werden soll, so möchte man vor allem fragen, ob sich das sozusagen ärmste Land der Erde den Luxus der wohl verwickeltsten Gewerbeordnung, die schon zur Zeit ihrer Schaffung monströs zu nennen war, auf die Dauer gestalten dürfe. Die Menge zweckloser Anzeigen - zwecklos besonders deswegen, weil inhaltlich gleichartige Anzeigen sowohl an die Gewerbe- als auch an die Steuerbehörde zu erstatten sind - bedeutet nicht bloß eine zeitraubende Behelligung des Staatsbürgers, sondern auch eine kostspielige Belastung der Behörden. Die Feinheiten des Befähigungsnachweises könnten mit der Wirkung namhafter Zeitersparnis um vieles vereinfacht werden. Nie wieder sollte der Verwaltungsgerichtshof, also eines der höchsten Gerichte, rechtlich auch nur in die Lage kommen können, in einer kostspieligen Gerichtsverhandlung über eine Frage von dem Gewichte zu entscheiden, ob ein Puppenfabrikant oder ein Friseur zur Herstellung von Puppenperücken berechtigt sei. Die Zeit ist auch zu ernst, als daß man es von der heiteren Seite nehmen könnte, wenn staatliche Behörden in gewerbepolitische Streitfragen von der Art des - man schämt sich fast, daran zu erinnern - sogenannten ,,Flaschenbierkrieges" verwickelt werden können. Um ein ganz andres Gebiet zu berühren, sei nur die Frage aufgeworfen, wie viele Finanzbeamten der Kompliziertheit unsrer Steuer- und Gebührenvorschriften ihren Lebensunerhalt verdanken. Wie viele Arbeitstage ließen sich durch eine Vereinfachung der Vorschriften ersparen, ohne den finanziellen Effekt der betreffenden Abgaben zu berühren! Es muß hier auch ununtersucht bleiben, wie viele Abgaben von Bund, Ländern und Gemeinden eingehoben werden, obwohl sie beiweitem nicht die Einhebungskosten decken. Die ja nun doch der Aufhebung nahe Linienverzehrungssteuer ist ein eindringliches Vorbild für viele. Auffällig ist es endlich, wie das Beamtenproblem selbst die Verwaltung kompliziert hat. Welcher Apparat ist nachgerade zur Behandlung der Beamtenfragen notwendig geworden, ohne den steigenden Anforderungen auf diesem Verwaltunsgebiete gerecht werden zu können, was sich namentlich darin äußert, daß wohl jede neue Besoldungsordnung überholt war, ehe sie auf der ganzen Linie durchgeführt war, ferner darin, daß jeder Reform auf diesem Gebiet die schleppende Durchführung ein gutes Stück ihrer Wirksamkeit nahm und nimmt. Es erklärt sich dies aber samt allen dabei unterlaufenden Irrtümern zu einem gewissen Teil, wenn man bedenkt, zwischen

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wie vielen Kategorien von Angestellten und Pensionisten unterschieden werden muß, von denen die einen früher, die andern später, die einen in größerem, die andern in geringerem Ausmaße Zugeständnisse erhalten haben, obwohl für diese oft nur politisch erklärlichen, vielfach minutiösen Unterscheidungen vielfach nicht der geringste sachliche Grund vorliegt. Eine systematische Sichtung sämtlicher Verwaltungsvorschriften, die eine notwendige Vorarbeit jeder Verwaltungsreform ist, würcie erst einen Überblick gewähren, wieviel gänzlich zwecklose und wieviel unverantwortlich verschwenderische, weil luxuriöse Verwaltungsarbeit - durchaus vorschriftsmäßig - geleistet wird. Bei solchem Stand der Verwaltungsvorschriften - durchaus nicht ihrer Gesamtheit, aber eines immerhin ausschlaggebenden Teiles - erinnert selbst ihre sinnvollste Handhabung durch eine opferwillige Beamtenschaft in den Ergebnissen der Verwaltung an die Wirkungen des tendenziös „vorschriftsmäßigen Arbeitens". Der Verwaltungsapparat gleicht hie und da einer leergehenden Machine, und die Verwaltungsorgane werden insoweit die unschuldigen Opfer sinnloser Verwaltungsagenden. Ein verarmter Grandseigneur schränkt seine Luxusbedürfnisse ein und vermindert zugleich schrittweise seine Dienerschaft. Er läßt zum Beispiel seinen Rennstall auf und entläßt zugleich das daselbst beschäftigte Personal. Man würde mit Recht den Versuch belächeln, dieses Personal zwar zu entlassen, den Rennstall aber aufrechtzuerhalten und von der restlichen Dienerschaft besorgen zu lassen. Den umgekehrten, und wie sich herausgestellt hat, verkehrten Weg hat man aber in unsrer Verwaltung eingeschlagen, wo man, einem unbedachten Schlagwort folgend, vor allem Personal abgebaut hat, und zwar durch Pensionierungen, die, da die Agenden unverändert bleiben, Neuanstellungen bedingten, so daß schon dadurch die Personalkosten statt vermindert vermehrt wurden. Denselben verkehrten Weg empfehlen im Grunde auch jene, in deren Vorstellung sich die Verwaltungsreform in einem Beamtenabbau erschöpft. Jeder derartige Versuch muß an der heute unvollziehbaren Zumutung scheitern, mit verminderten Kräften ein unvermindertes, ja durch die fortlaufende Gesetzgebung sogar vermehrtes Arbeitsquantum zu leisten. Die vorstehenden Andeutungen, deren nähere Ausführung den Rahmen einer Tageszeitung übersteigen würde und daher einem Aufsatze in der (im

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Verlag M. Perles erscheinenden) Zeitschrift für Verwaltung vorbehalten bleiben soll, dürfen folgendes außer Zweifel gestellt haben: Der - gewiß im Interesse unsrer staatlichen Existenz unvermeidliche - Beamtenabbau hat eine Verwaltungsvereinfachung zur unausweichlichen Voraussetzung. Ehe man das Heer der Angestellten mustert, um entbehrliche auszuscheiden, muß man die Fülle der Vorschriften sichten, um Spreu vom Weizen zu sondern und alle entbehrlichen oder gar zwecklosen Vorschriften außer Kraft zu setzen. Der Abbau der Verwaltungsagenden ist auf allen Gebieten, wo die Überzahl des Personals nicht evident oder unbestritten ist, eine psychologische Vorbedingung für den Abbau der Verwaltungsorgane: Man muß den Angestellten und ihren Organisationen die durch Reformen der Verwaltungsvorschriften erzielte Verminderung des Arbeitsquantums geradezu ziffernmäßig nachweisen können, wenn man ihnen die gewiß oft bittere Notwendigkeit einer Verminderung der Angestellten begreiflich machen will. Und man ist diesen rücksichtsvolleren Weg der Lösung des Beamtenproblems den öffentlichen Angestellten wahrhaftig schuldig, die man im großen ganzen als soziale Gruppe - allen gegenteiligen Meinungen gegenüber muß dies festgestellt und festgehalten werden - bisher hierzulande nicht verwöhnt hat. Es ist gewiß richtig, daß die Personalkosten im öffentlichen Haushalt eine unerträgliche Rolle spielen, aber es ist ebenso richtig, daß der Anteil des einzelnen beträchtlich unter dem Durchschnitt des Lebensfußes selbst unsrer durch den Krieg verarmten Bevölkerung zurückbleibt. Und mag man auch die unausgesetzte bedrohliche Steigerung der Kosten der öffentlichen Haushalte, die in der ständigen Erhöhung des Personalaufwandes ihren hauptsächlichen Grund hat, noch so sehr bedauern, so darf billigerweise doch nicht übersehen werden, daß es immer leistungsfähige private Unternehmungen waren und sind, die mit freigebiger Besserstellung ihrer Angestelltenschaft den öffentlichen Korporationen zeitlich und ziffernmäßig weit vorangehen und mit diesem Beispiel Lohnbewegungen der öffentlichen Angestellten sehr begreiflicherweise auslösen. Bei dem Abbau der Verwaltungsagenden, dem hier das Wort geredet wird, kann nun ungleich fester zugegriffen werden als bei den meist geforderten unvermittelten Abbau der Verwaltungsorgane, zumal da der Abbau der freiwerdenden Organe keineswegs in demselben Maße und Tempo erfolgen muß. Je stärker sich der Ausfall an Verwaltungsgeschäften bemerkbar macht, desto sicherer wird wenigstens jeder Neuanstellung vorgebeugt, was an sich schon eine Wendung zum Besseren bedeutet. Manche lieb geworde-

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ne Einrichtung, vielleicht auch manche, die die Theorie oder Praxis der Verwaltung etwas übertreibend als unentbehrlich bezeichnen mag, wird fallen können und fallen müssen. Man muß nur immer berücksichtigen, daß der Kreis der Verwaltungsagenden gewissermaßen den Lebensfuß des Staates darstellt, und mit diesem staatlichen den durchschnittlichen privaten Lebensfuß vergleichen, und man wird dann zu einer richtigen Antwort auf die Frage kommen, welche auch an sich zweckmäßigen Verwaltungsaufgaben entbehrt werden können und müssen. Es ist eine auf die Dauer unerträgliche Anomalie, wenn, wie es heutzutage zutrifft, der öffentliche Haushalt gewissermaßen Luxusbedürfnisse befriedigt, während im durchschnittlichen privaten Haushalt kaum alle Existenzbedürfnisse Erfüllung finden. Es ist ein ungesunder Zustand, wenn ein Organ der öffentlichen Verwaltung auf die Gewissensfrage nach dem Wozu seiner amtlichen Tätigkeit nur die eine Antwort findet, daß sie ihm den Lebensunterhalt gewähre. Da wäre es sogar vernünftiger, diese amtliche Tätigkeit, die einem geschäftigen Nichtstun gleichkommt, von Amts wegen einfach einzustellen und dem Angestellten ohne sogenannte Gegenleistung den Lebensunterhalt zu garantieren. Mit diesen Bemerkungen soll nun keineswegs einem Primitivismus der Verwaltung das Wort geredet werden. Eine Einschränkung der Verwaltung auf bloßes Kotnrollieren und Registrieren, wie es zum Beispiel Lenin und Bucharin als sehr prinzipienwidriges Verwaltungsideal für den kommunistischen Staat im Auge haben, weil sie mit ihren ungeschulten Verwaltungsorganen einem höheren Verwaltungszweck kaum gerecht werden könnten, wäre wohl das Gegenteil einer Verwaltungsreform. Die wenigen im vorigen erwähnten Beispiele der Gewerbeverwaltung usw. dürfen aber wenigstens das eine klar gemacht haben, daß eine Verwaltung, die derartige Verwaltungsaufgaben über Bord wirft, nur an überflüssigem Ballast und nicht an innerem Wert verliert. Im Gegenteil werden durch die Beseitigung zweckloser Verwaltungsaufgaben Kräfte für zweckvolle, produktive, kulturell wertvolle Verwaltungstätigkeit frei. Die Beibehaltung zweckloser Verwaltung verriegelt den Weg zum Abbau der Verwaltungsorgane, verhindert für alle Zukunft eine Verbilligung der Verwaltung und damit eine Gesundung der öffentlichen Haushalte und widerspricht dem obersten Verwaltungsgrundsatz, daß die Verwaltung niemals Selbstzweck sein darf.

Die Weisung in der Verwaltung Die Aufsehen erregende Anklage und soeben erfolgte womöglich noch auffälligere Freisprechung eines Landeshauptmannes vor dem Verfassungsgerichtshofe - der erste Fall einer „Ministeranklage" im alten und neuen Österreich - hat das praktisch wichtige und rechtstheoretisch interessante Problem der verwaltungsbehördlichen Weisung aufgerollt. Es ist zu verlockend, aus diesem Anlasse, freilich unter möglichster Abstraktion von dem - von der Parteien Haß und Gunst verzerrten - Einzelfalle, über dieses Problem einige juristische Betrachtungen anzustellen. Die Verwaltungspraxis ist geneigt, mit einem geradezu uferlosen Weisungsrechte zu operieren und dieses Weisungsrecht schon aus dem Wesen der Verwaltung zu deduzieren. Daneben wird im Verhältnis zwischen höherer und niederer Instanz - wiederum aus dem Wesen des verwaltungsbehördlichen Instanzenverhältnisses heraus - ein Aufsichtsrecht behauptet, das sich hauptsächlich in Weisungen auswirkt. Das ist aber alles ein unhaltbarer Standpunkt. Ein Weisungsrecht, ein Aufsichtsrecht und dergleichen mehr besteht auch auf dem Gebiete der Verwaltung nur insoweit, als sie positivrechtlich vorgesehen sind. Das ist nun aber tatsächlich auf weiten und immer weiteren Gebieten der Fall und die Verwaltungspraxis hätte es in der Regel gar nicht nötig, sozusagen in die Luft zu greifen und mit Phantasmagorien zu jonglieren, sondern könnte zuverlässigere Gesetzesparagraphen zitieren. Gegenüber Staatsbediensteten bieten die Gehorsamsbestimmungen der diversen Dienstpragmatiken meist sehr weit gesteckte Befehlsmöglichkeiten, gegenüber „Vertragsangestellten" die Rechtsordnung des privaten Dienstvertrages. Gegenüber gewählten Organen freilich bedarf es anderer positivrechtlicher Anhaltspunkte zur Geltendmachung eines Weisungsrechtes, und die analoge Anwendung der für die Staatsangestellten geltenden Weisungsbestimmungen auf gewählte Organe erscheint mir selbst insoweit, als die

Österreichische Zeitschrift für Verwaltung, 54. Jg. (1921), S. 121-124.

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Funktionen dieser verschieden berufenen Organe die gleichen sind, als ausgeschlossen. Was insbesondere Weisungen gegenüber Landeshauptmännern betrifft, so fehlte es in der provisorischen Verfassung nicht bloß an einer Sanktion für derartige Dienstesanweisungen, sondern streng genommen sogar an einer Kompetenz zu solchen persönlichen Weisungen, denn die Landesregierung war und ist nicht der Landeshauptmann. Aber die Bundesverfassung hat mit ihren Artikeln 101 und 142 diesen Mangel radikal beseitigt Verfassungsartikel, die gerade für die extremsten Zentralisten bestimmend waren, sich mit dem ja vornehmlich von den Ländern begehrten Verfassungswerke zu befreunden, da man gehofft hatte, auf diesem Wege „Ordnung" in das Verhältnis zwischen der Zentrale und den Ländern zu bringen, die latente Revolution, von der hie und da gesprochen wurde, an der Wurzel auszurotten. Gerade diesem legislatorischen Motive, das übrigens im Motivenberichte zur Bundesverfassung rückhaltslos einbekannt ist, haben wir also zu verdanken, daß mit aller wünschenswerten Deutlichkeit im Artikel 103 B-VG ein Weisungsrecht des Bundes in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung ausgesprochen und unter die Sanktion des Artikels 140 B-VG gestellt ist. „Weisungsrecht des Bundes" bedeutet - unter Juristen brauchte man dies kaum zu sagen - ein Weisungsrecht der zuständigen Bundesorgane, da ja der Staat nur durch Organe handeln kann. (Der Artikel 103 spricht ja übrigens ausdrücklich, was immer übersehen wird, von den „einzelnen Bundesministerien".) Kein unbeschränktes Weisungsrecht, sondern ausdrücklich abgestellt auf Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung, so daß also zum Beispiel bereits der Grenzfall einer Weisung an den Landeshauptmann, die etwa dahin geht, auf Angelegenheiten der eigentlichen Landesverwaltung in einer bestimmten Weise Einfluß zu nehmen (insoweit haftet der Landeshauptmann nur für seine gesetzwidrige Mitwirkung an der Landesverwaltung), in der Verfassung keine Stütze fände. Und endlich ist dieses Weisungsrecht selbstverständlich beschränkt auf das Gebiet des freien Ermessens des der Weisung unterliegenden Organes, darf aber freilich dieses Ermessen gänzlich ausschöpfen. Trotz dieser klaren Rechtslage begann plötzlich - zum Teil von derselben Seite, die das Weisungsrecht bei der Verfassungskodifikation gewünscht und nach Möglichkeit verschärft hat - , nicht bloß die Möglichkeit der Subsumtion des konkreten Falles unter unsere Verfassungsbestimmung zu bezwei-

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fein, was ja selbstverständlich das gute Recht aller Beteiligten war und von einem sogenannten „Diktat", das, weil nicht unterschrieben, keines war, von einem Ersuchen, das zu höflich war, um als Befehl aufgefaßt werden zu können, und endlich von einem falsch adressierten Erlaß besonders nahe liegen mochte, sondern man begann auch - offenbar, weil sich das Weisungsrecht im konkreten Falle etwas unerwünscht äußerte - an dem Weisungsrechte selbst herumzudeuteln, um es nach Möglichkeit hinwegzuinterpretieren. Wenn dabei gegen den Wahn des Obrigkeitsstaates der Geist des Verfassungsstaates berufen wurde, so kann man nur sagen, daß Befehlsrecht und Gehorsamspflicht der Monarchie und der Republik, dem autokratischen und demokratischen, dem kapitalistischen und sozialistischen Staate trotz der sonstigen beträchtlichen Unterschiede zwischen diesen Staatstypen gleicherweise eigen, weil im Wesen des Staates als eines Zwangsapparates begründet sind. Es gibt bekanntlich autokratisch organisierte demokratische Republiken, mit denen verglichen unsere Verwaltungsorganisation trotz allen Weisungsrechten als rechtlich legitimierte Anarchie erscheinen mag. Es ist nur eine mögliche, keine notwendige Variation des demokratischen Gedankens, in den verschiedensten gewählten Körperschaften zu beraten und zu beschließen - und über die Durchführung dieser Beschlüsse wiederum andere beraten und beschließen zu lassen. Man kann sogar die wirksamere Form der Demokratie darin erblicken, die Fülle der Kompetenzen in einer Volksvertretung zu konzentrieren und die Gesamtheit der übrigen Staatsorgane in strenger Unterordnung zu dieser Volksvertretung zu organisieren. Ebensowenig wie die demokratisch-republikanische Staatsform kann übrigens auch die Autonomie ein Hindernis des Weisungsrechtes sein, wenn und soweit sich dieses nicht auf die autonome Landesverwaltung, sondern auf die mittelbare Bundesverwaltung erstreckt, die ja bekanntlich der Bund auf weiten Gebieten durch eigene Organe besorgen kann und zum guten Teile denn auch tatsächlich besorgt. Eine Verwaltungsorganisation, in der die Bewegungsfreiheit, die Befehlsmöglichkeiten der verantwortlichen Leiterin der Verwaltung, eben der Regierung, absorbiert sind durch die Selbstbestimmung untergeordneter Organe, wobei das nächsthöhere Organ immer nur so viel Freiheiten hat, als das nächstniedere nicht in Anspruch nimmt,

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ist eine umgestülpte Pyramide, die unmöglich stehen kann. Übrigens möchte man ja aus einer solchen gelegentlich vorgeführten Verwaltungsorganisation keineswegs in jeder Hinsicht Ernst machen. Konsequenterweise könnte dann das Parlament auch nur soweit geduldet werden, als es den Willen der Regierung achtet, und die parlamentarische Verwaltunsgkontrolle müßte als Eingriff in die Selbstbestimmung der verantwortlichen Regierung zurückgewiesen werden. Der Gedanke ist zu abstrus, um ihn zu Ende zu denken. Doch er kommt ja gar nicht auf, im Gegenteil, man deutet sogar parlamentarische Resolutionen, die rechtlich unverbindlich sind und nur unter der Sanktion der Ministerverantwortlichkeit stehen, in rechtsverbindliche Befehle um, und dem Hauptausschuß zum Beispiel schreibt man Kompetenzen zu, von denen in der geschriebenen Verfassung keine Spur zu finden ist. Oder wie würde man zum Beispiel das Verhalten eines Bezirkshauptmannes oder Bezirksamtsleiters beurteilen, der sich gegenüber dem Landeshauptmann seines Landes so verhalten würde, wie es das gute Recht eines Landeshauptmannes gegenüber einem Bundesminister sein soll? Was würde man zu einem Beamten sagen, der sich die - immerhin anfechtbare - Praxis der Ehedispensen mitzumachen weigerte, was hat man gesagt, als einzelne untergeordnete Organe die aufliegende gesetzwidrige Wahlverordnung vom 30. Juli 1920, RGBl. Nr. 52 - vergleiche hiezu die Notiz über „Staatsbürger und Wahlbürger" im 2. Heft, S. 58, dieser Zeitschrift - unbewußt entgegen der ihnen erteilten Instruktion, aber im Einklang mit dem Gesetze praktiziert haben, indem sie das Wahlrecht von Ausländern in Frage stellten? Auch gegen die Maßregelung eines unbotmäßigen Beamten - zumal der höheren und höchsten Rangsklassen - würde man den Einwand vom Wahn des Obrigkeitsstaates kaum erheben. Soll sich übrigens in dieser Hinsicht - in der Möglichkeit der Durchsetzung von Verwaltungsbefehlen - der gewählte politische Funktionär vom ernannten Berufsbeamten notwendig unterscheiden, so wäre dies für die aktuelle Demokratisierung der Verwaltung eine sehr geringe Empfehlung. Also nur von der „verantwortlichen" Regierung soll nicht billig sein, was vom Parlament in seinem Verhälntis zur Regierung recht und was von sonstigen Staatsorganen in ihrem Verhältnis zu ihnen nachgeordneten Organen auch nur selbstverständlich ist. Oder soll diese hienach sich ergebende Rechtsstellung der Regierung in der Hierarchie der Staatsorgane - bald ein rechtloses Nichts zwischen erdrückenden Puffern, bald Herrin der gesamten Verwaltung, der auch die Länder und Landeshauptmänner zu gehorchen haben sollen - durch ihre jeweilige Parteistellung bedingt sein?!

Die Weisung in der Verwaltung

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In dem konkreten Falle, von dem wir ausgegangen sind, ist bekanntlich nach zwei mißglückten Anläufen zu einer gehörigen Weisung eine dritte Weisung ergangen, die geradezu als Schulbeispiel der verfassungsmäßig vorgesehenen Weisung angesprochen werden kann. Nur freilich war sie wie eben ein wirkliches Schulbeispiel - nicht Wirklichkeit, nicht gültig, nicht unterschrieben. Daraus allein erklärt sich wohl auch, daß der Verfassungsgerichtshof als der Garant der Verfassung nicht zu der weit über den an sich unbedeutenden konkreten Fall hinaus bedeutsamen Feststellung kam, daß auch im Sinne unserer Verfassung, auf deren echt demokratischrepublikanischen Charakter wir stolz sein können, eine damit durchaus vereinbare Befehlsberechtigung und Gehorsamspflicht bestehe. Wer an der Vereinbarkeit von Rechtsgehorsam und wahrer Freiheit zweifelt, darf an das Wort Goethes, der doch ein unzweifelhafter Freigeist in jedem Sinn des Wortes war, erinnert werden: ,,In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben."

Zum Problem der Verwaltungsreform 1. Der Ruf nach einer Verwaltungsreform ist älter als die lebende Generation der Verwaltungspraktiker. Die Forderung nach der Verwaltungsreform tritt heute entschiedener auf denn je; aber die Vorstellung, die man damit verbindet, unterscheidet sich völlig von der vormals, ja selbst noch vor kurzem herrschenden Vorstellung dessen, was eine Verwaltungsreform in der Hauptsache zu leisten habe. Selbst wenn man die noch im allgemeinen Gedächtnis stehenden Reformpläne der Verwaltungsreformkommission verwirklicht hätte, wäre diese Reformarbeit heute schon überholt; sie bedeutete nicht das, was nach allgemeinem Empfinden heute not tut. Das heutige Reformproblem ist nicht ein vornehmlich prozessuales wie in der Zeit bis zum Umsturz, wo nichts so wie die Modernisierung des Verwaltungsverfahrens dringlich erschien. Es ist aber gegenwärtig, wie es scheint, auch nicht mehr in dem Maße ein Organisationsproblem, als welches sich das Problem nach dem Umstürze dargestellt und als das es in die Bundesverfassung Eingang gefunden hatte. Um die Organisationspläne, die in der Bundesverfassung entwickelt sind, ist es merkwürdig still geworden. Sie sind gewiß nicht als aufgehoben anzusehen, aber man darf wohl annehmen, daß sie bis aufbessere, wenigstens etwas bessere Zeiten verschoben sind. Man scheint heute in politischen Kreisen bei der Einsicht zu halten, daß in Zeiten, die dem Staate und damit der ganzen Verwaltung sozusagen die Existenzfrage stellen, eine Opportunitätsfrage der Verwaltungsorganisation nicht auf allgemeines Verständnis und auf sofortige Verwirklichung hoffen kann; zumal da der Übergang zu den neuen organisatorischen Einrichtungen jedenfalls eine Komplikation und Verteuerung der Verwaltung bedeuten würde, wogegen bekanntlich heute die öffentliche Meinung besonders empfindlich ist. Der Grundton des Rufes nach der Verwaltungsreform ist jetzt die Forderung nach einer Verbilligung der Verwaltung. Jedes andere nächste Ziel einer Verwaltungsreform als das der Verbilligung der Österreichische Zeitschrift für Verwaltung, 54. Jg. (1921), S. 163-174.

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Verwaltung, jede Verwaltungsreform um ihrer selbst willen im Dienste eines verwaltungspolitischen und nicht eines finanzpolitischen Zweckes ist unpopulär und inaktuell. Das Verwaltungsreformproblem ist in der Hauptsache ein Finanzproblem geworden. Dieser Bedeutungswandel des Verwaltungsreformproblemes ist durchaus natürlich und zwangsläufig eingetreten. Es ist viel unnatürlicher, daß zu einer Zeit, wo dem Staate von der finanziellen Lage her bereits die Existenzfrage gestellt worden war, noch immer andere Verwaltungsreformfragen, namentlich Organisationsfragen, die eine gesicherte Existenz des Staates in seinen diese Organisation bedingenden Betätigungen voraussetzen, ernstlich erwogen wurden, als daß das alte Reformproblem heutigentages völlig denaturiert ist. Auch für jene Fragen wird wieder ihre Zeit kommen, aber eher muß das Ob der Verwaltung feststehen, denn die Einzelheiten des Wie wiederum aktuelle Fragen abgeben können. Da sich das brennendste politische Problem, das ist die staatsfinanzielle Frage, mit den überkommenen finanzpolitischen Mitteln - Abgaben und Kredite - nicht lösen läßt, ist man bekanntlich auf den Gedanken verfallen, sie von der Verwaltung zu lösen. Die Verwaltungsreform hat nunmehr den erklärten Zweck, durch Ersparung von Verwaltungsaufwand der Lösung des Finanzproblems zu dienen. Diese Metastase des Finanzproblems auf das Gebiet der Verwaltung ist in der Tatsache begründet, daß es der Entwicklung der Verwaltung zuzuschreiben ist, wenn die Finanzfrage ihren heutigen akuten Charakter angenommen hat. Zwei Posten des Verwaltungsaufwandes sind es namentlich, deren Summe einen so großen Teil der Staatsausgaben beträgt und die gesamten Staatseinnahmen so gewaltig überschreitet, daß eine prozentuell halbwegs namhafte Reduzierung dieser beiden Ausgabenposten die sofortige Sanierung der Staatsfinanzen zur Folge haben müßte. Rechnerisch läßt sich das Finanzproblem durch Ersparungen auf dem Gebiete der Verwaltung sehr einfach lösen; doch handelt es sich hier um mehr als um Rechenaufgaben. Doch selbst, wenn diese beiden Probleme in ihrer ganzen Tiefe aufgefaßt und an der Wurzel angefaßt sind, ist damit noch nicht alles gewonnen. Die lang und viel gehegte Erwartung, daß der Abbau der Beamtenzahl und des staatlichen Lebensmittelaufwandes allein gewissermaßen einefinanzielle Lebensrettung des Staates bedeuten würden, müßte sich als grausame Lebenslüge erweisen. 2. Von den beiden aktuellsten Problemen der Tagespolitik stellt sich namentlich der Beamtenabbau als ein heikle und verwickelte Angelegenheit

Zum Problem der Verwaltungsreform

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der Verwaltungsreform dar. Über ihre, wie gleich vorausgeschickt sei, sehr begrenzten Möglichkeiten und sehr weit ausgreifenden Voraussetzungen seien im folgenden einige Erwägungen beigebracht, die bisher weniger oder noch gar nicht in die rege Diskussion geworfen wurden. Vor allem sei festgestellt, daß das Schlagwort,,Beamtenabbau", insofern als es die Verringerung der Zahl der Staatsbeamten meint, eine Falschmeldung ist. Es ist bisher schon öfter darauf hingewiesen worden und wird in Hinkunft nicht mehr verdunkelt werden dürfen, daß die große Überzahl der öffentlichen Angestellten zum überwiegenden Teile auf die öffentlichen Betriebe - nicht auf alle - und in deren Rahmen wohl wiederum auf die Angestellten entfällt, denen der Beamtencharakter nicht zukommt. Wenn man diese Umstände mit berücksichtigt, aber auch nur dann, mag man ja ,,a potiori" vom Beamtenprobleme, namentlich vom Beamtenabbau sprechen; in der ununterrichteten Diskussion des Inlandes und noch mehr des Auslandes, das sich bekanntlich neuestens dieses deutsch-österreichischen Diskussionsgegenstandes bemächtigt hat, wirkt aber der Ausdruck verwirrend, weshalb er besser zu vermeiden wäre. Mit dieser Feststellung soll aber nicht in Frage gestellt werden, daß auch für die Beamten im engeren Sinne des Wortes oder - was mir als richtigere Begrenzung erscheint - für die Angestellten der obrigkeitlichen Verwaltung ein Abbauproblem besteht, dem keineswegs unter Hinweis auf die größere Personalfülle auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Verwaltung ausgewichen werden soll und darf. Nur scheint schon die heterogene Natur der Verwaltungszweige eine schablonenhafte Gleichbehandlung des Abbauproblems auf beiden Gebieten auszuschließen. Die Voraussetzungen und Möglichkeiten des Abbaues sind auf den beiden Verwaltungsgebieten verschieden. Darf man es auch als feststehend betrachten, daß die obrigkeitliche Verwaltung vergleichsweise schwächer als die wirtschaftliche Verwaltung mit Personal dotiert ist, so ist damit doch noch nicht die Frage nach dem Vorhandensein eines Personalüberflusses und nach der Möglichkeit und Notwendigkeit eins Abbaues auf diesem Gebiete beantwortet. Die Meinung auf der einen Seite, die man namentlich aus Beamtenkreisen vernimmt, es seien eigentlich ohnehin nicht zu viele; und die auf der anderen Seite, die namentlich vom steuerzahlenden Bürger repräsentiert wird, es seien jeden-

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falls viel zu viele - sind gleicherweise unmotiviert. Es gibt kein absolut feststehendes Maß für die Beamtenzahl, man kann nur immer von einem relativen Beamtenüberfluß oder Beamtenmangel sprechen. Als Vergleichsmaßstäbe bieten sich dar die innere soziale Schichtung und soziale Lage einerseits, die ausländischen Verhältnisse anderseits. Es kann nicht entschieden genug betont werden, daß der Vergleich mit den ausländischen Verhältnissen meist nicht so einfach ist, als man sich ihn gerne macht.1 Die einfache Gegenüberstellung der beiderseitigen Angestelltenziffern, sei es auch unter Reduktion auf die Bevölkerungszahlen, ist ein leichtfertiges Verfahren, das zu irreführenden Schlüssen führt. Es muß jedenfalls auch mitberücksichtigt werden, welche sozialen Aufgaben mit der gegebenen Angestelltenmenge erfüllt werden. Ein Staat mit mannigfaltigen Staatsaufgaben hat begreiflicherweise einen größeren Beamtenkörper als ein anderer, der wichtige Aufgaben der öffentlichen Verwaltung den Selbstverwaltungskörpern oder rein privaten Organisationen überläßt. Man darf also bei einem Vergleich der Angestelltenziffern, um zu richtigen Resultaten zu kommen, nur Angestellte mit analogen Agenden einander gegenüberstellen, zum Beispiel den gesamten Staatsangestellten des einen Landes nur jene Staatsangestellten eines anderen Landes, welche im Wirkungskreise der Staatsangestellten des Vergleichslandes tätig sind. Einwandfrei ist diese Vergleichsmethode selbstverständlich nur dann, wenn die dieser Art vernachlässigte Staatsbeamtenzahl durch eine entsprechende Zahl in demselben Aufgabenkreis privatberuflich tätiger Menschen im anderen Lande kompensiert wird. Die Zahlen für Österreich sind bekanntlich prima facie außerordentlich hoch, vermindern sich aber vergleichsweise beträchtlich in Anbetracht des Umstandes, daß bei uns zahlreiche Aufgaben vom Staat und von Staatsangestellten besorgt werden, die anderswo, z.B. in England, Selbstverwaltungskörpern und Privaten überlassen sind. Diese Tatsache würde übrigens an sich noch nicht die Forderung rechtfertigen, daß sich auch hierzulande der Gesamtstaat auf die Agenden anderere staatlicher Verwaltungen beschränke und die darüber hinausgehenden Agenden an andere Verwal-

1 Vgl. hiezu meine Artikel im ,,Neuen Wiener Tagblatt" vom 26. und 27. August 1921 unter dem Titel „Verwaltungsreform und zwecklose Verwaltung".

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tungsträger abgebe. Es klingt vielleicht paradox, ist aber sicherlich erfahrungsmäßig begründet, daß sich eine solche Methode dezentralisierter Verwaltung viel eher reiche als arme Staaten gestatten dürfen. Eine solche Umstellung der Verwaltungsagenden mag durch die herrschende Richtung der allgemeinen Politik, kann aber schwerlich durch finanzielle Rücksichten geboten sein. Es ist kein Zweifel, daß in Österreich der Bund für den gesamten finanziellen Bedarf der dieserart ausgeschiedenen Verwaltungsaufgaben durch Überweisungen aufkommen müßte; dazu fehlte noch die genügende Sicherheit, daß die Verwaltungsträger mit den ihnen überwiesenen Bundesmitteln mit jenem Grade von Sorgfalt verfahren und den gleichen Verwaltungserfolg erzielen würden wie beim System der unmittelbaren Bundesverwaltung. Das dieserart sich ergebende Zahlenverhältnis, das die Zahl der österreichischen Bundesangestellten auf dem Gebiete der behördlichen Verwaltung vielleicht nicht übermäßig groß erscheinen läßt, verschiebt sich aber wiederum dadurch stark zu unseren Ungunsten, daß den Bundesangestellten jene Landes- und Gemeindeangestellten zuzurechnen sind, die der zentralstaatlichen Verwaltung dienen. Es sei nur daran erinnert, daß in Wien die gesamte mittelbare Bundesverwaltung, in autonomen Städten die politische Bezirksverwaltung, nicht wie in anderen Ländern von zentralstaatlichen, sondern von Gemeindeangestellten besorgt wird, für deren Kosten bekanntlich der Bund zum weitaus überwiegenden Teile aufkomme. So fällt das Schlußkalkül auch unter Beachtung aller vorerwähnten Momente beim Vergleiche mit den meisten Auslandsstaaten für Österreich jedenfalls ungünstig aus. Auf dem Gebiete der obrigkeitlichen Verwaltung ist das Mißverhältnis zwischen der inländischen und einer ausländischen Vergleichszahl gewiß nicht so kraß, wie auf irgend einem Gebiete der wirtschaftlichen, z.B. der Verkehrsverwaltung, wo es unter Berücksichtigung der Verkehrsleistung in der Regel geradezu groteske Dimensionen annehmen dürfte. Vergrößert es sich aber auch bei gesonderter Betrachtung der beiden Angestelltengruppen bedeutend für die wirtschaftlichen Angestellten und verkleinert es sich auch dabei für die obrigkeitlichen Angestellten, so ist es doch auch für diese unmöglich in Abrede zu stellen. Eine gewisse Korrektur erfährt dieses Kalkül allerdings durch die Tatsache, daß die größere Zahl des Verwaltungspersonals nicht auch einen in

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demselben Verhältnis größeren Verwaltungsaufwand bedingt. Die Bezüge der öffentlichen Angestellten in Österreich sind bekanntlich zum großen Teil so niedrig bemessen, daß hiedurch die Folgen der Personalverschwendung gewiß zum guten Teile paralysiert sind. Man wird aber nicht behaupten können, daß dies eine gesunde Remedur des Übels sei. Diese Tatsache hat übrigens die Konsequenz, daß sich die Folgen des Angestelltenabbaues auf finanziellem Gebiete schon aus dem Grunde nicht leicht und stark bemerkbar machen dürften, weil nach einer Angleichung der Zahl der Angestellten an ausländische Vorbilder eine Angleichung der Bezahlung der wenigeren und intensiver beschäftigten Angestellten auf die Dauer nicht wird vermieden werden können. Nun sind aber für ein Urteil über die Angemessenheit der Beamtenzahl und die Bedingungen eines Abbaues auch noch, wie erwähnt, inländische Momente mitzuberücksichtigen. Und diese Momente sind in unserem Falle derart, daß das bereits beim Vergleich mit dem Ausland zutage getretene Mißverhältnis noch deutlicher zutage tritt. Einem Lande mit einem derart niedrigen Prozentsatz an produktiv tätigen Menschen, mit einer derart geringen Produktion und einem derart großen Defizit der Handelsbilanz, mit derart krisenhaften wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen kann man für die Zwecke der obrigkeitlichen Verwaltung, welche ja doch zum nicht geringen Teile gewissermaßen Luxusbedürfnisse befriedigt, mit nichten dieselbe Zahl an öffentlichen Angestellten (im Verhältnis zur gesamten Bevölkerungsziffer) zubilligen wie einem - namentlich finanziell - konsolidierten Staatswesen, das reich an Naturschätzen, reich an industrieller Produktion oder ein typisches Rentnerland ist. Eines schickt sich nicht für alle, und selbst was sich für alle schickt, schickt sich darum noch nicht für unser einzigartiges, einzig armes Österreich. Erscheint die Überzahl der obrigkeitlichen Angestellten in Anbetracht der besonderen heimischen Verhältnisse noch bedenklicher als beim Vergleiche mit irgend einem Auslandsstaat, so wird allerdings auch diese Erscheinung dadurch einigermaßen paralysiert, daß selbst im Verhältnis zu den minder guten Einkommensverhältnissen des Inlandes die Bezüge der öffentlichen Angestellten äußerst gering bemessen sind. Es ist ein offenes Geheimnis, welches freilich gerne verschleiert wird, daß die Einkommensverhältnisse der öffentlichen Angestellten in Österreich hinter denen aller übrigen großen Berufsgruppen - Bauernschaft, industrielle und kommerzielle Unterneh-

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merschaft und selbst Arbeiterschaft - im Durchschnitt weit zurückstehen. Man wird auch in dieser Auswirkung der Überzahl - Minderung des individuellen Einkommens - keine erfreuliche Korrektur der Folgen der Überzahl erblicken können. Diese Tatsache ist übrigens zugleich wiederum geeignet, den finanziellen Effekt einer Personalverminderung einzuschränken. Den Angestellten wird zum Ausgleich die Ermöglichung einer Angleichung an die durchschnittlichen Lebensverhältnisse der anderen großen Bevölkerungsgruppen auf die Dauer nicht versagt werden können. 3. Steht nunmehr ein gewisser Angestelltenüberschuß auch auf dem Gebiete der obrigkeitlichen Verwaltung außer Frage, so scheint damit die Forderung nach Abbau der Überzahl begründet zu sein. Das ist sie auch, nur läßt sie sich nicht, wie man gemeinhin meint, ohneweiters, ohne Erfüllung bestimmter Voraussetzungen verwirklichen. Es ist hiebei nicht an jene politische Voraussetzung zu denken, daß die Angestelltenschaft die Notwendigkeit des Abbaues würdigt und die politischen Faktoren den Mut aufbringen, dieser Notwendigkeit in ernsten und nicht bloß Scheinmaßnahmen Rechnung zu tragen. Auch die sachliche Voraussetzung muß zutreffen, daß die zu vielen Angestelltn zu wenig beschäftigt sind, es muß sich also die Überzahl der Angestellten als offenbarer Überfluß erweisen. Das ist nun aber im großen und ganzen nicht der Fall. Gerade in diesen Blättern bedürfte es kaum der Feststellung, daß ein großer Teil der behördlichen Angestellten überbeschäftigt ist. Diesen Überbeschäftigten steht zwar - was ebenfalls ein offenes Geheimnis ist - eine nicht geringe Zahl von Unterbeschäftigten gegenüber. Ein vernünftiger Ausgleich zwischen den einzelnen Verwaltungszweigen und Dienstposten, der unseres Wissens bisher noch nicht planmäßig versucht wurde, aber gewiß auch teils im Mangel gesetzlicher Versetzungsmöglichkeit teils im Mangel sachlicher Voraussetzungen (Vorbildung, persönliche Eignung) seine natürlichen Grenzen findet, kann wohl im besten Falle nur zu dem Ergebnis führen, daß die Überbeschäftigung der einen durch die Unterbeschäftigung der anderen kompensiert, nicht aber, daß eine nennenswerte Zahl von Angestellten, die finanziell irgendwie ausschlaggebend sein könnte, überflüssig wird. So z.B. wird man unter den gegebenen Verhältnissen nicht nur keine richterliche Beamten, sondern auch schwerlich administrative Verwaltungsbeamten und manche andere Kategorien entbehren können, wenn nicht sozusagen der Dienst darunter leiden soll.

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Kann bei dem als notwendig erkannten Beamtenabbau die gegebene Verwaltungsarbeit nicht mehr zur Gänze oder gehörig geleistet werden, so ist dies ein Beweis, daß nicht nur die Angestelltenzahl, sondern auch das ihr zugewiesene Arbeitsquantum mit unseren staatlichen Verhältnissen nicht verträglich, daß von dem viel geforderten Beamtenabbau der kaum genannte Arbeitsabbau unzertrennlich ist. Nun ist es zwar richtig, daß sich mit dem Angestellten auch der Arbeitsabbau automatisch einstellen würde; die geringere Zahl von Angestellten würde einfach weniger Verwaltungsarbeit leisten. Aber es wäre doch nicht vorausschauende Organisationspolitik, sondern gedankenlose Vogelstraußpolitik, wollte man es dem Zufall überlassen, welche Verwaltungsagenden infolge des Angestelltenabbaues ungeschehen bleiben. Zwischen Angestelltenabbau und Arbeitsabbau ist ein gesetzliches Junktim geboten, und zwar in dem Sinne, daß dieser zur Voraussetzung von jenem gemacht wird, daß jener erst dann und gerade dort einsetzt, wo dieser einen Personalüberfluß in Erscheinung gebracht hat. Es sei die Feststellung gestattet, daß dieser rücksichtsvoller, weil durch eine unverzichtbare Voraussetzung bedingte Weg des Beamtenabbaues schon durch die Rücksicht auf die Staatsangestellten bedingt ist, die man hierzulande bisher wahrhaftig nicht verwöhnt hat und denen man die trotzdem peinliche Notwendigkeit der Preisgabe eines so wenig dankbaren Berufes doch wirklich auch durch sachliche Änderungen im Amtsbetriebe gerechtfertigt erscheinen lassen muß. Ein unmittelbarer und voraussetzungsloser Angestelltenabbau, wie er gewöhnlich gedacht wird, wäre auch ein Schlag ins Wasser: Die sogenannten Notwendigkeiten des Dienstes, die sich an dem gesetzlich umschriebenen Arbeitsstoff bestimmen, setzen sich doch irgendwie durch. Man hat aus der Praxis des Pensionsbegünstigungsgesetzes gesehen, daß freigewordene Beamtenposten durch Neuanstellungen wieder besetzt wurden. Und das war durchaus nicht immer ein sachlich unbegründeter Mißbrauch, sondern eine in den Notwendigkeiten des Dienstes mitunter wohl begründete Maßregel. 4. Der Beamtenabbau bedingt also eine Parallelaktion: den Arbeitsabbau. Dieser kann sich - und muß sich, wenn er wirkungsvoll sein soll - auf doppelte Weise äußern: als Verminderung der Verwaltungsagenden nicht weniger denn als Vereinfachung der Verwaltungsmethoden. Man hat gesehen, daß das Verwaltungsreformproblem allzu einseitig als ein Organisationsproblem aufgefaßt wird, während es in Wirklichkeit mindestens in demselben Maße ein Funktionsproblem ist.

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Für die Laienvorstellung steht, soweit dieses Funktionsproblem überhaupt bewußt wird, unter seinem Titel wiederum die Reform des Verwaltungsbetriebes im Vordergrund. Die Wurzel des Übels, das durch die in ihren Zielen immer wieder revidierte Verwaltunsreform beseitigt werden soll, liegt tiefer; sie ist in der Vielzahl, in der Unzahl der Verwaltungszwecke zu erblicken. Es soll hier durchaus nicht einer Primitivierung der Verwaltung, zu der gleicherweise eine extrem individualistische wie eine extrem kollektivistische Staatsauffassung hinführen, das Wort geredet werden. Nur das ist zu verlangen, daß der Staatshaushalt in ein vernünftiges Verhältnis zur Gesamtlage der Volkswirtschaft gebracht werde und daß die staatliche Verwaltung nicht gewissermaßen Luxusbedürfnisse befriedige, während der private Haushalt oft so gedrosselt ist, daß nicht einmal alle Existenzbedürfnisse zum Zuge kommen. Der Kreis der Verwaltungsagenden, der gewissermaßen den Lebensfuß des Staates anzeigt, muß dem durchschnittlichen privaten Lebensfuße angepaßt werden, und es ist kein Zweifel, daß sich bei diesem Anpassungsprozesse die staatliche Verwaltung empfindliche Einschränkungen gefallen lassen muß. Nur wäre es wiederum irrationell, diese notwendigen Abstriche auf alle Verwaltungszweige gleichmäßig zu repartieren, man muß sich vielmehr auf eine Rangordnung der Verwaltungsagenden nach dem Grade ihrer sozialen Bedeutung festlegen und die minder wichtigen Verwaltungsaufgaben, die ja - nebst den vielen zwecklosen - auch zweckvoll sein können, ausscheiden, um den wichtigen Verwaltungsaufgaben voll gerecht werden zu können. So erscheint zur grundlegenden Vorarbeit jeder Verwaltungsreform, die nicht nur an Haupt und Glieder rührt, sondern auch zu den Wurzeln gräbt, eine Revision der Verwaltungsvorschriften als geboten. Es muß einer anderen Gelegenheit vorbehalten werden, auch nur eine beispielweise Liste der Verwaltungsvorschriften aufzustellen, die teils, weil sie, wenn auch zweckvoll, so doch entbehrlich sind, mit gutem Gewissen aufgehoben werden könnten, teils weil sie zwecklos sind, mit gutem Gewissen nicht weiter aufrecht erhalten werden können. Nur soviel sei festgestellt, daß durch diese Abbauaktionen bei einigermaßen energischem Zugreifen ein ungeheurer Ballast von Verwaltungsvorschriften und durch sie bedingten Verwaltungsarbeiten über Bord geworfen werden kann. Ich habe bei anderer Gelegenheit2 auf den Luxus unserer Gewerbeordnung, auf die große Kompliziertheit 2

Vgl. Anm. oben.

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des Abgabensystems, auf die vielfache Differenzierung der Angestelltengruppen als Ursachen einer großen Menge überflüssiger Verwaltungsarbeit hingewiesen; als krasse Beispiele der Verschwendung von Verwaltungspersonal seien sie auch an dieser Stelle hervorgehoben, womit freilich die Möglichkeiten, die sich einem Arbeitsabbau darbieten, nur angedeutet sind. Jede dieser abbaureifen Agenden wird freilich ihre zähen Verteidiger finden; Leute, die sich die stärksten Einschränkungen ihrer Lebenshaltung abringen mußten, werden beweisen wollen, daß die Beseitigung dieser oder jener Vorschrift und damit dieser oder jener Verwaltungsaufgabe, - die ihnen etwa beruflich nahegeht - undenkbar wäre. Es bedarf einer starken Hand und eines festen Entschlusses, um diese nicht zu unterschätzenden Widerstände zu überwinden und damit für das Gebiet der obrigkeitlichen Verwaltung erst die Voraussetzung eines ernstlichen Personalabbaues zu schaffen, der in größerem Umfange voraussetzungslos und unmittelbar durchgeführt, einfach chaotische Verwaltungszustände herbeiführen müßte. Bei den Unternehmensangestellten bedarf es allerdings dieser legislativen Vorbereitung des Personalabbaues nicht, sondern da gilt es nur, die auf diesem Gebiete allerdings bedeutenderen politischen Hindernisse einer einschneidenden Abbauaktion zu überwinden. 5. Die Bundesregierung hat bekanntlich schon vor einiger Zeit im Nationalrate die Vorlage eines Personalabbaugesetzes eingebracht. Bei aller Würdigung der richtigen Tendenzen des Entwurfes kann die Meinung nicht unterdrückt werden, daß der unter dem Druck und Drängen der öffentlichen Meinung fertiggestellte Gesetzentwurf ein unreifes Werk ist, das nicht mehr als eine Diskussionsgrundlage für das dem Personalabbaue dienende endgültige Gesetzeswerk abgeben kann. Es liegen Anhaltspunkte vor, daß dieser Gesetzentwurf selbst von seinen Redaktoren, die gewiß zu sachkundig sind, um seine Schwächen zu übersehen, nicht sozusagen als letztes Wort in der Sache betrachtet wird; und darum wäre es es wohl überflüssig, ihn in seinen einzelnen Bestimmungen einer eingehenden Kritik zu unterziehen. Es sollen nur in aller Kürze die Leitgedanken einer Abbauaktion zusammengefaßt werden, denen der Entwurf nicht gerecht wurde, die aber diese im übrigen auf den verschiedensten Wegen und Varianten mögliche Aktion verfolgen muß, wenn sie nicht demagogische Scheinmaßnahmen, sondern einen staatsfinanziellen Erfolg erzielen will.

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Vor allem trägt die Regierungsvorlage der Einsicht, die allerdings noch lange nicht Gemeingut der öffentlichen Meinung ist, daß nämlich jedem Beamtenabbau ein Arbeitsabbau vorangehen müsse, in keiner Weise Rechnung. Es ist zuzugeben: die Regierungsvorlage schließt eine solche Parallelaktion nicht aus, ist aber doch auch weit davon entfernt, sie zur Voraussetzung des Beamtenabbaues zu machen. Ein Junktim zwischen Personalund Arbeitsabbau, und zwar in dem Sinne, daß Arbeits- und Personalabbau gleichzeitig einsetzen und in einem Zuge durchgeführt werden, muß also erster legislativer Leitgedanke sein. Ferner dürfte das gewünschte Ziel verfehlt werden, wenn der Beamtenabbau ganz auf die Freiwilligkeit der Abzubauenden einerseits und auf den natürlichen Lauf der Dinge auf die Erwartung des automatischen Ausscheidens durch Tod oder normale Pensionierung andererseits abgestellt wird. Es erscheint mir als eine zu optimistische Einschätzung der Lebensmöglichkeiten dieses Staates, wenn man vermeint, der Staat könne bei seiner gegenwärtigen Lebenshaltung diesen autonomen oder automatischen Abbau wirklich erleben. Man tut, glaube ich, der Sache und den öffentlichen Angestellten nur einen Dienst, wenn man die bittere Notwendigkeit einer den freiwilligen Austritt ergänzenden gesetzlichen Entlassung oder einer zwangsweisen Überstellung in private Dienste (etwa unter Vorbehalt einer Pensionsanwartschaft) offen ausspricht. Niemand wird verlangen und erwarten, daß eine solche einschneidende legislative Aktion ohne weitgehende sozialpolitische Sicherungen vorgenommen werde; aber es scheint mir auch in diesem Falle sozialer und politischer sie rasch und entschieden vorzunehmen, als ihr aus vermeintlichen sozialpolitischen Rücksichten auszuweichen. Nur muß davor gewarnt werden, die frei werdenden Angestellten in Anstellungen zu überführen, wo sie keine nützlichere Arbeit leisten, als in ihren eingestellten Verwaltungsfunktionen. Der gesamten Volkswirtschaft wäre ein schlechter Dienst erwiesen, wenn aus schlecht bezahlten überflüssigen Staatsbeamten z.B. gut bezahlte, aber nicht minder überflüssige Bankbeamte würden, die in ihren neuen Funktionen dank ihrem höheren Einkommen mehr als bisher vom vorhandenen knappen Gütervorrat zehren und dadurch die durchschnittliche Lebenshaltung der Minderentlohnten, namentlich der öffentlichen Angestellten, noch weiter schmälern würden. Endlich muß man Sicherungen fordern, daß die Verwaltung gewissermaßen Herrin jener Aktion sei und bleibe, die über ihre Zukunft entscheidet.

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Es ist ein Fehler des Entwurfes, daß er die Dinge sozusagen eigenwillig gehen läßt. Die Mitbestimmung der Verwaltung an ihrem eigenen Schicksal muß z.B. verhindern können, daß durch den freiwilligen Austritt in manchen personalarmen Verwaltungszweigen Lücken entstehen, deren entsprechende Ausfüllung eben dasselbe Abbaugesetz ausschließt. Eine derart schablonenhafte Behandlung des Problems wie etwa die Bestimmung, daß nur jede zweite freiwerdende Stelle wiederbesetzt werden darf, daß jede zweite zur Besetzung gelangende Stelle um einen Grad herabgedrückt, daß endlich in jedem Dienstzweig die Gesamtzahl der Dienstposten um ein Viertel gekürzt wird, trüge der Verschiedenartigkeit der Verwaltungszweige und der Mannigfaltigkeit der Verwaltungsaufgaben überhaupt keine Rechnung - wenn nicht in einem Atem uferlose Ausnahmen vorgesehen würden ... Der Personalabbau in Verbindung mit dem Agendenabbau ist unstreitig die nunmehr wichtigste Angelegenheit der Verwaltungsreform und eine Vorbedingung der finanziellen Sanierung; man darf aber die finanzielle Tragweite selbst einer solchen Aktion, die allen Grundsätzen eines wirkungsvollen Personalabbaues gerecht wird, nicht überschätzen. Es kann nicht oft genug betont werden, daß einzelne isolierte Maßnahmen, und seien sie noch so wertvoll und unabweislich, wie etwa der Beamtenabbau oder der soeben angebahnte Abbau der Lebensmittelzuschüsse, das verwickelte Daseinsproblem dieses Staates allein nicht lösen können. Sind diese Maßnahmen nicht Bausteine im Gefüge eines umfassenden systematischen Sanierungsprogrammes, das Zug um Zug verwirklicht wird, so wäre es besser, Staat und Volk ihren Erschütterungen nicht erst auszusetzen. Doch gehört eine Untersuchung in dieser Richtung auf ein anderes Blatt.

Parlamentarische Bagatellisierung der Verwaltung Eine der weniger beachteten aber sehr ernst zu nehmenden Verfallserscheinungen der Verwaltung ist die heutige Gestaltung des administrativen Strafwesens. Ganz abgesehen davon, daß nur ein Bruchteil selbst der offenkundigen Verwaltungsdelikte zu einem rechtskräftigen Straferkenntnisse führt, ist das heute übliche Strafausmaß meist ein solches, daß dadurch nicht bloß das Strafverfahren , sondern überhaupt die Verwaltung von ihren eigenen Organen illusorisch gemacht wird. Das wenigst Riskante, das man sich vorstellen kann, ist die Verletzung von Verwaltungsgesetzen, und man fragt sich vergeblich, warum von einem Zentralparlament und acht Landesparlamenten so unermüdlich Verwaltungsgesetze produziert werden, die nach allen Erfahrungen zum guten Teile ohnehin nur sozusagen auf dem Papier zu bleiben bestimmt sind. Dabei wäre es ein gründliches Verkennen der Bedeutung der Verwaltungsvorschriften, wenn man vermeinte, sie wären im Vergleich mit den besser geschützten gerichtlichen Strafnormen auch nur in der Regel die unwichtigeren. Nun hat allerdings bisher sogar die gesetzliche Handhabe zu einer halbwegs ernst zu nehmenden Verwaltungsstrafpflege gefehlt. Erst das Bundesgesetz vom 8. November 1921, BGBl. Nr. 635 („Verwaltungsstraferhöhungsgesetz") hat in den Verwaltungsstrafnormen, denen der Charakter von Bundesrecht zukommt, die Obergrenzen der geltenden Strafsätze auf das Zehnfache bis Zwanzigfache, äußerstenfalls auf 200.000 Kronen erhöht. Aus dieser Maßnahme spricht jedoch eine unbegreifliche Zaghaftigkeit. Nicht ganz verständlich ist schon das Festhalten an den heutigen Untergrenzen. Es wäre endlich an der Zeit, mit den heute noch üblichen Normalstrafen von 10 oder 100 Kronen zu brechen, die sogar zum Schreib- und Papieraufwande des Strafverfahrens außer jedem Verhältnis stehen. Noch krasser ist

Österreichische Zeitschrift für Verwaltung, 54. Jg. (1921), S. 248-250.

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aber das Mißverhältnis der heutigen Höchststrafen zur Geldentwertung. Die Strafbehörden scheuen erfahrungsgemäß vor dem gesetzlichen Höchstmaße zurück, wiewohl dieses gegenwärtig in Verwaltungssachen das fast einzig in Betracht kommende Strafausmaß darstellt. Und doch ergibt selbst dieses einfach lächerliche Beträge. Welcher Waldeigentümer oder Holzspekulant wird sich durch die - noch dazu sehr unwahrscheinliche -Aussicht auf eine Geldstrafe von ein paar tausend Kronen von einer vielleicht Millionengewinne versprechenden unbefugten Rodung oder einer die Wiederaufforstung gefährdenden Abstockung abhalten lassenV. So wirkt der Zustand unserer Verwaltunsstrafgesetze, das neue Straferhöhungsgesetz nicht ausgenommen, als gern befolgte Einladung, sich über die Verwaltungsvorschriften nach Belieben hinwegzusetzen. Die falsch angebrachte Milde gegenüber den Verwaltungsübertretern ist ein Verrat an den sehr wichtigen Interessen, denen die Verwaltungsgesetze dienen, z.B. die Konservierung des Waldbodens oder der Arbeiterschutz. Diese wichtigen Güter sind heute vom Standpunkt der Verwaltungspraxis aus vogelfrei. Die Arbeiterschaft weiß sich meist selbst zu schützen. Im andern Falle aber, wo die Gesetzgebung der Verwaltung nicht weniger einen wirksamen Schutz versagt, ist das Surrogat des Selbstschutzes nicht möglich; daher die hemmungslose Waldverwüstung. Und in gleicher Weise werden die verschiedenartigsten anderen ungenügend garantierten Verwaltungszwecke vereitelt. Darf man hoffen, daß wenigstens bei der bevorstehenden überfälligen Neuregelung des Verwaltungsstrafverfahrens und des allgemeinen Teiles des Verwaltungsstrafrechtes jenen gesetzlichen und tatsächlichen Zuständen ein Ende gemacht werden wird, die das Verwaltungsstrafverfahren als unwürdige Farce erscheinen lassen? Diese kodifikatorische Maßregel des Bundes bedarf dann selbstverständlich im Bereiche des legislativen Wirkungskreises der Länder komplementärer Maßnahmen der Landtage, die mit ihren Straferhöhungsgesetzen meist nicht weniger als der Nationalrat zurückhaltend gewesen sind. Ein Walderhaltungsgesetz Mit diesem Titel soll und kann leider nicht gesagt sein, daß ein Gesetz solchen Inhaltes, das dringlich wäre, wie nicht bald ein zweites, in Vorbereitung sei. Im Sommer 1921 haben einerseits eine katastrophale Überschwemmung, andererseits ein leichtfertiger Holzabstockungsvertrag die Öffentlichkeit und auch die maßgebenden politischen Kreise auf die dem

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Walde - der einzigen großen Aktivpost unserer Volkswirtschaft - drohende Gefahr aufhorchen gemacht und die allgemeine Überzeugung wachgerufen oder bestärkt, daß zum Schutze des Waldes etwas geschehen müsse. Seitdem ist es darüber merkwürdig still geworden und gar darauf, daß die in erster Linie zum Handeln berufene Stelle - wir meinen das Ministerium für Landund Forstwirtschaft - aus eigenem Antriebe mit dem Plane einer entscheidenden Tat hervortreten würde, müßte man wohl vergeblich warten. Dabei haben sich aber in dieser Periode der Untätigkeit die dem Walde drohenden Gefahren nicht vermindert, sondern vermehrt. Nicht bloß die krasse Holzspekulation, sondern auch Landhunger und Bequemlichkeit der Einheimischen setzen den Waldbeständen rastlos zu. Zur leichteren Futtergewinnung werden - in der Regel selbstverständlich ohne die notwendige Bewilligung der politischen Behörde - aus Waldteilen Wiesen gemacht, und neuestens ist es sogar vorgekommen, daß im Auftrag eines mit dem Forstgesetz offenbar auf Kriegsfuße stehenden Bezirksstraßenausschusses der Wald entlang einer viele Kilometer langen Straße gerodet wurde - um die Straßenpflege zu verbilligen! Was nottut, soll hier nur mit einigen Strichen skizziert, um an anderer Stelle näher ausgeführt zu werden. Vor allem muß - eingedenk dessen, daß es hier nicht bloß ökonomische, sondern auch ethische und ästhetische Werte zu schützen gilt, - jede Schlägerung , auch die von einzelnen Baumgruppen, an behördliche Bewilligung gebunden werden. Für umfangreichere Holzabstockungen muß zur Sicherung einer schonenden Abstockung und der Wiederaufforstung eine Kaution erlegt werden. Für schon erfolgte Schlägerungen muß die Kaution nachträglich abverlangt werden können. Waldeigentümer und Holzspekulant müssen für die Folgen der Waldbehandlung unbeschränkt haften . Überdies muß jede verbotswidrige Waldbehandlung unter eine Strafsanktion gestellt sein, deren Höchstsatz bei den heutigen Geldwertverhältnissen und Unternehmergewinnen selbstverständlich ein Millionenbetrag sein müßte. Diese legislativen Maßnahmen würden wohl am zweckmäßigsten in einem Rahmengesetz des Bundes zusammengefaßt werden, wobei eine Verfassungsbestimmung die noch nicht bestehende Kompetenz des Artikels 12, Punkt 7 des B-VG aktivieren müßte. Kommt aber ein solches Bundesgesetz nicht sofort zustande, dann empfiehlt es sich, daß die Länder, denen z.B. Steiermark mit einem allerdings noch wenig radikalen Walder-

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haltungsgesetz beispielgebend vorangegangen ist, auf eigene Faust und unbekümmert um allfällige Bedenken des Bundes die angedeuteten Maßnahmen - je radikaler, umso besser- ausführen. Die Kompetenz dazu, auch die zur erforderlichen zivilrechtlichen Nebengesetzgebung, haben sie. Es handelt sich nur um den raschen Entschluß, den säumigen Bund vor die vollzogenen Tatsachen einer energischen Walderhaltungspolitik zu stellen.1 Zur Trennung Wiens von Niederösterreich Fast unbemerkt hat sich vor Jahresende ein beachtenswertes politisches Ereignis vollzogen - die in der Bundesverfassung schon vorbereitete Auflösung der historischen Einheit von Wien und Niederösterreich. Es soll kein Wort darüber verloren werden, daß es eine politische Notwendigkeit war, das ,,Österreichische Preußen", als das sich das alte Niederösterreich im Vergleich mit den anderen Ländern seiner Bevölkerungszahl nach dargestellt hat, in zwei Teile zu zerlegen. Nur möge die Frage gestattet sein, ob es notwendig war, bei dieser Gelegenheit jede Verwaltungsgemeinschaft zwischen Stadt und Land, die eine jahrhundertalte Interessengemeinschaft verbindet, aufzuheben? Symptomatisch für den destruktiven Sinn, der das Trennungsgesetz beherrscht, ist namentlich die Auflösung der Landeshypothekenanstalt, die in einem Atem mit der Ankündigung der Neugründung einer gleichartigen Anstalt vollzogen wurde. Wenn tatsächlich nicht das Justamentsverlangen, keine Gemeinsamkeit zwischen Stadt und Land aufrechtzuerhalten, sondern die finanzielle Lage der alten Hypothekenanstalt fü ihre Auflösung bestimmend war - glaubt man, daß eine neue Anstalt, die sich für ihre Wertpapiere erst einen Markt schaffen muß, die vor allem mit den ansehnlichen Gründungskosten belastet ist, unter günstigeren finanziellen Auspizien ins Leben treten wird? Man mag die etwas übereilte Liquidierung der alten Anstalt oder wenigstens das Versprechen der Gründung einer neuen Anstalt, auf dem die Interessenten - vor allem die am Kommunalkredit einer solchen Anstalt

1 Während des Druckes wird bekannt, daß die nö. Landesregierung dem Landtag den Entwurf eines Landesgesetzes vorgelegt hat, das in höchst verdienstlicher Weise viel radikaler als alle einschlägigen Landesgesetze der Walderhaltung dienen soll. Nur sind bei weitem noch nicht alle im Gesetzgebungs- und Verwaltungswege bekämpfbaren Gefahren der Waldverwüstung abgewehrt.

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besonders interessierten Industriegemeinden - beharren werden, in den maßgebenden Kreisen schon sehr bedauert haben. - Für den Verwaltungstheoretiker ergibt sich aus all dem die Feststellung, daß man bei uns erprobte Verwaltungsgemeinschaften auflöst , während in anderen Ländern die Tendenz dahin geht, im Interesse einer Ökonomisierung der Verwaltung Verwaltungsgemeinschaften herzustellen .

Rezension von:

Rudolf Hermann Herrnritt, Grundlehren des Verwaltungsrechtes. Mit vorzugsweiser Berücksichtigung der in Österreich (Nachfolgestaaten) geltenden Rechtsordnung und Praxis, Tübingen 1921 1. Das vorliegende bedeutende Werk stellt den im ganzen glänzend gelungenen Versuch dar, unter Verwertung des vormals österreichischen und gegenwärtig in den Nachfolgestaaten mehr oder minder unverändert rezipierten, meist noch nicht einschneidend fortgebildeten und veränderten Verwaltungsrechtsstoffes eine allgemeine Verwaltungsrechtslehre zu bieten, wie es auf Grundlage des deutschen Verwaltungsrechtes Otto Mayer oder Fritz Fleiner in ihren verwaltungsjuristischen Standard-Werken getan haben. Vorweg sei schon hier festgestellt, daß Herrnritts Werk jenen seinen Vorbildern, als die sie wohl gelten dürfen, durchaus ebenbürtig an die Seite gestellt, ja dank seinen zahlreichen neuen Aufstellungen und Erkenntnissen, die meist als Vervollkommnungen der Verwaltungsrechtslehre angesehen werden dürfen, den genannten Vorbildern in vielen Punkten vorangestellt werden kann. Herrnritts Werk wollte ursprünglich nach der bescheidenen Feststellung seines Vorwortes der Hauptsache nach nur eine Übersetzung, Bearbeitung und Erweiterung von Georg Prazäks österreichischem Verwaltungsrecht werden, bei Ausführung dieses Planes ist es aber, wie der einheitliche Guß des Werkes beweist, eine durchaus originelle Neuschöpfung geworden, in der die persönliche Zutat die Quelle sozusagen verschwinden macht. Mit besonderer Genugtuung möchte ich einleitend noch feststellen, daß sich diese neueste Verwaltungsrechtslehre wichtige Sätze des neuesten

Österreichische Zeitschrift für Verwaltung, 54. Jg. (1921), S. 124-129.

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Standes der allgemeinen Rechtslehre, wie sie in den Werken Hans Kelsens Hauptprobleme der Staatsrechtslehre und,,Problem der Souveränität etc."1 verkörpert ist, zu eigen macht und auf ihrem rechtswissenschaftlichen Teilgebiet verständnisvoll verwertet. Zu dem vielleicht wundernehmenden Versuche, eine allgemeine Verwaltungsrechtslehre mit Hilfe einer vergleichenden Darstellung bestimmter (untereinander verwandter) Verwaltungsrechtsordnungen zu gewinnen, sei bemerkt, daß mir überhaupt nur dieser Weg zu jenem Ziele hinzuführen scheint. Die Verwaltung und das Verwaltungsrecht sind keine im Rechtsbegriffe begründete Notwendigkeiten, sondern - ganz anders, als ich es gelegentlich bezüglich der Gesetzgebung bereits festgestellt habe - positivrechtliche Zufälligkeiten, die in den modernen Rechtsordnungen zwar mit vergleichsweise geringfügigen Verschiedenheiten wiederzukehren pflegen, ohne aber wiederkehren zu müssen. Wir haben es mit einem a posteriori regelmäßigen, aber nicht a priori notwendigen Phänomen zu tun. Während somit der Rechtsbegriff und seine Ausstrahlungen, rechtliche Begriffe wie Souveränität und Rechtskraft (dieser freilich nicht in seinem herrschenden Sinne) Gegenstand einer allgemeinen Rechtslehre sind, können z.B. die Gesetzgebung und Verwaltung oder ihr Recht immer nur Gegenstand einer Rechtsinhaltslehre sein. Während jene Begriffe der (reinen, abstrakten) Rechtstheorie unter Abstraktion vom gesamten positiven Rechtsmaterial gegeben und aufgegeben sind, können diese Begriffe nur der mögliche Gegenstand einer Wissenschaft vom positiven Recht (Rechtswissenschaft im engeren Sinne) sein, die diesen wie alle ihre Gegenstände nur durch Analyse des gegebenen (und ihr aufgegebenen) Rechtsmaterials, der Rechtserfahrung, gewinnt. Die rechtsinhaltliche Untersuchung kann sich nun auf das Verwaltungsrecht eines bestimmten Staates unter Abstraktion von ähnlichen Erscheinungen anderer Staatsrechtsordnungen beschränken, was sie zu einer besonderen Verwaltungsrechtslehre mit dem höchsten Grade der Besonderung stempelt; oder sie kann durch Einbeziehung anderer Verwaltungsrechtsordnungen ihren Gegenstand erweitern (ein Standpunkt, der allerdings bereits die Preisgabe der Hypothese vom Primate der eigenen Staatsrechtsordnung vorauszusetzen scheint). Eine wirklich allgemeine Ver-

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Verlag J . C . B . Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1911 und 1920.

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waltungsrechtslehre hat allerdings zur Bedingung, daß sie sich auf die gesamte als Verwaltung zu bezeichnende Rechtserfahrung stützt; und jede nach welchem Gesichtspunkt immer vollzogene Auslese des analysierten Rechtsmaterials, z.B. auch die von unserem Autor vollzogene, durchaus zweckmäßige Verengung des Materials auf das österreichische Recht und seine Tochterrechtsordnungen kann immer nur eine (wenngleich verhältnismäßig umfassende) besondere Verwaltungsrechtslehre ergeben. Unser Autor hat eine Erklärung seines Problems und seiner Methode vermutlich als vermeintlich selbstverständlich unterlassen. Ich glaube, daß in den vorstehenden andeutungsweisen Erwägungen eine grundsätzliche wissenschaftstheoretische Rechtfertigung dieses und jedes ähnlichen rechtswissenschaftlichen Unternehmens gelegen ist. 2. Das Werk beginnt mit einer ebenso seltenen wie selbstverständlichen Feststellung: daß die Verwaltung (als Gegenstand einer Verwaltungsrechtswissenschaft) notwendig Vollziehung des Gesetzes (als der typischen Rechtsform) ist. Es ist dies zweifelsohne die wichtigste Nutzanwendung der Ergebnisse von Kelsens Rechtstheorie auf die Verwaltungsrechtslehre, die bereits von Kelsen selbst vorgenommene Übertragung der ebenso einfachen wie vom Standpunkt der herrschenden Rechtslehre revolutionären These, daß die Rechtswissenschaft nur rechtlich Relevantes behandeln kann, auf die Verwaltung mit deren berühmter rechtsfreier Sphäre, welche nichtsdestoweniger - sogar nicht weniger eingehend als die rechtliche Sphäre - von der Verwaltungsrechtswissenschaft in Betracht gezogen wird. Will sich diese nicht zu Unrecht eine Wissenschaft vom Rechte nennen, so muß sie sich entweder auf das rechtlich relevante Stück der Verwaltung - die nur in dieser ihrer Ausdehnung oder Beschränkung den Namen Staatsverwaltung zu Recht führt - zurückziehen, oder die ganze, heute sogenannte Verwaltung dem Recht gewinnen. Diese letzte Konsequenz zieht Herrnritt mit Kelsen, indem sie die ganze Verwaltung als Vollziehung des Gesetzes deuten. Erkennt man im Gesetz die typische (übrigens nicht notwendig höchste) Ercheinungsform des Rechtes, dann ist durch diese Beziehung der Verwaltung zum Gesetze erstmals die übliche Isolierung der Verwaltung im Bereich des Rechtlichen - die sie geradezu als die berühmte, dem Recht transzendente „Seite" des Staats erscheinen läßt - bezogen und der Fremdkörper der Verwaltung eigentlich erst dem Rechte assimiliert, dem Rechtssystem gewonnen. Herrnritt wendet in einem auch die Zurechnungslehre Kelsens auf die Verwaltung an, indem er feststellt, daß die,, Verbandsperson" des Staates

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auch auf dem Gebiete der Verwaltung „ihr zurechenbar nur solche Handlungen setzen kann, die durch die für sie geltende Rechtsnorm als mögliche Handlungen der Verbandsperson vorgesehen sind" (S. 2). Und in einer Polemik gegen L. Stein betont unser Autor neuerlich, „daß sich aus dem Charakter des Staates die Gebundenheit aller seiner Handlungen durch eine Norm, mag diese noch so allgemeinen Inhaltes, etwa eine bloße Kompetenznorm sein, mit Notwendigkeit ergibt" (S. 3). Allerdings unterscheidet sich hiedurch keineswegs der Staat von anderen Rechtssubjekten, wie Herrnritt im Einklang mit der früheren Lehre Kelsens annimmt, vielmehr ist die sogenannte juristische Persönlichkeit immer nur ein Ausdruck für rechtliche Relevanz und die Vorstellung des Unrechtes irgend eines Rechtssubjektes unvollziehbar, weil in sich widerspruchsvoll. Aus dem umschriebenen Verhältnis der Verwaltung zur Gesetzgebung ergibt sich auch ihre Beziehung zur Justiz. Herrnritt wendet sich mit treffenden Worten gegen die Vorstellung, „als ob es sich bei der Vollzugsgewalt und der richterlichen Gewalt um etwas grundsätzlich Verschiedenes, bei jener um eine vom Gesetzeszwange freie, bei dieser dagegen um eine durch das Gesetz streng gebundene Tätigkeit handelte" (S. 4). Und es ist im Grunde eine Aufhebung der üblichen Dreiteilung der Staatsgewalten und ihre Rückführung auf eine Zweiheit von Rechtsfunktionen, wenn unserem Autor „die gesamte Tätigkeit des Staates, soweit sie nicht Gesetzgebung ist, also Rechsprechung und Verwaltung, wieder auf einen gemeinsamen Nenner zurückgeführt", wenn sie „als Vollziehung des Gesetzes" erscheint (S. 6) Es ist mit diesen Aufstellungen wohl nicht ganz vereinbar, wenn unser Autor zwischen Justiz und Verwaltung in der Folge doch eine tiefer greifende Scheidelinie zieht, an Justiz und Verwaltung gegensätzliche Zwecke wahrnehmen will (S. 8), wenn er ferner der Justiz und der Verwaltung unterschiedliche logische Funktionen subintelligiert (S. 17) und endlich zwischen Justiz und Verwaltung einen durchgängigen, wenn auch nur graduellen Unterschied in Bezug auf die Abhängigkeit vom Gesetz erkennen mochte (S. 28). Am allerwenigsten trifft wohl die Deutung der Verwaltung als Vollziehung von öffentlichen, der Justiz als Vollziehung von privaten Rechtsnormen zu (S. IX), es wäre denn, daß man die judiziellen Verfahrensgesetze und das Strafgesetz zum Privatrecht rechnet. In Wirklichkeit ist wohl die unterschiedliche Kompetenz - hier die eines Verwaltungsorganes, dort die des Gerichtes - das einzige durchgreifende Unterscheidungsmerkmal. Die geläufigen materiellen Unterscheidungen mögen das legislativ-politi-

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sehe Motiv für die Kompetenzzuteilung an das eine oder andere Organ sein, juristisch maßgeblich ist wohl nur das formelle Kriterium dieser Kompetenzzuteilung selbst; und durch jede positivrechtliche Kompetenzverschiebung zwischen Gericht und Verwaltungsbehörde wird auf dem einfachsten Wege, sozusagen mit einem Federstriche, die Justiz- zur Verwaltungssache oder umgekehrt, ohne daß der Funktion in ihrer neuen Kompetenzsphäre eine Spur ihres vormaligen Charakters anhaften würde. Diese Einsicht bricht denn auch in einer in ihrem Wesen geradezu klassischen Begriffsbestimmung der Verwaltung durch, indem sie definiert wird ,,als die in Vollziehung der Gesetze erfolgende Gesamttätigkeit der Verwaltungsbehörden und sonstigen Verwaltungsorgane" (S. 10). Dieser Begriff, der nach Herrnritt nur ein möglicher formeller ist, neben dem es noch den (herrschenden) materiellen geben soll, erscheint mir als der einzig richtige juristische Begriff, während die üblichen materiellen Begriffsbestimmungen der Justiz und Verwaltung (nicht auch der Gesetzgebung), die mit Verwaltungsfunktionen der Gerichte und richterlichen Funktionen der Verwaltungsbehörden rechnen (vgl. auch S. IX!), nicht der rechtlichen Erfahrung entnommen sind, sondern wenigstens unbewußt politische Postulate an die Gesetzgebung ausdrücken, die Kompetenzabgrenzung zwischen Justiz und Verwaltung nach ihren Richtlinien zu ziehen. 3. Es würde den Raum dieser Besprechung bei weitem übersteigen, wollte ich die gedankenreiche und zum Weiterdenken anregende Darstellung einzeln verfolgen, ich muß mich vielmehr im folgenden auf eine kursorische Inhaltsangabe beschränken und kann nur an wenigen Punkten kurz verweilen. Der Kern des ersten Kapitels, das über ,,die öffentliche Verwaltung und das Verwaltungsrecht (Grundbegriffe)" handelt, wurde im vorigen schon herausgehoben. Das Kapitel enthält außerdem insbesondere noch eine instruktive Darstellung der Entwicklung des Verwaltungsrechts in den Ländern des ehemaligen österreichischen Staates: die Darstellung, die im einzelnen die ständische, polizeistaatliche und rechtsstaatliche Phase vorführt, bietet zugleich eine Ideengeschichte der Institution der Verwaltung dar. Das zweite Kapitel untersucht unter dem Titel „Die Rechtsordnung der Verwaltung" zunächst die Stellung der Verwaltung im Rechtssystem. Wenn Herrnritt das Verwaltungsrecht dem öffentlichen Rechte zuweist, so tut er dies nicht leichthin nach dem herrschenden Vorbild, sondern erst auf Grund

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einer eingehenden Auseinandersetzung mit der monistischen Rechtskonstruktion Hans Kelsens, der die Unterscheidung zwischen dem öffentlichen und privaten Rechte abgelehnt hat. Die Erwägungen, die unseren Autor zur Beibehaltung der erwähnten Unterscheidung bestimmen, erscheinen mir allerdings nicht beweiskräftig. Es ist jedenfalls ein bemerkenswerter Fortschritt, wenn Herrnritt nicht in irgendwelchen metarechtlichen Momenten, namentlich ,,in der Natur einer Lebensbeziehung, sondern in der Art ihrer rechtlichen Regelung den Bestimmgrund für den Charakter" als öffentlichen oder privaten Rechtes erblickt, aber ich bezweifle, daß sich an der Hand dieses Merkmals der vorhandene Rechtsstoff in zwei deutlich voneinander abgehobene Hälften teilen lasse, deren Grenzen in der Richtung der geläufigen Scheidelinie verlaufen würde. Ich vermag prinzipielle Unterschiede in der positivrechtlichen Normierung, zum Beispiel des Verwaltungs- und des Strafrechtes sowie des Zivil- und Strafprozeßrechtes auf der einen Seite und des Zivilrechtes auf der anderen Seite, die es rechtfertigen würden, diese Teile der Rechtsordnung zuzuordnen, nicht einzusehen. Auch der folgenden - unstreitig tiefschürfenden - Auseinandersetzung mit dem Problem des subjektiven öffentlichen Rechtes vermag ich mich in ihren Ergebnissen nicht anzuschließen. Wenn unser Autor definiert, ,,daß unter einem öffentlichen Rechte eine Berechtigung, das heißt Einräumung einer Gewalt von Seiten der Rechtsordnung verstanden wird, welche dem Staate oder einem öffentlichen Verbände im Staate als solchem oder welche dem Einzelnen vermöge der Mitgliedschaft innerhalb eines derartigen Verbandes zusteht" (S. 73), so löst diese Definition, selbst wenn wir von der prinzipiellen Problematik unseres Rechtsbegriffes und von dem Bedenken, eine Berechtigung als Gewalt zu bestimmen, absehen, den Einwand aus, daß in dieser Begriffsbestimmung das private nicht minder als das öffentliche subjektive Recht enthalten ist. Auch das Merkmal der Verbandsmitgliedschaft - worauf vermutlich der Ton liegen soll - trifft nämlich für das private nicht minder als für das öffentliche subjektive Recht zu, da die rechtliche „Mitgliedschaft" nicht etwas vorweg Gegebenes, sondern eine aus dem Einbezogensein in ein System von Berechtigungen und Verpflichtungen sich ergebende Erscheinung ist. Das „Privatrechtssubjekt" ist ebenso „Mitglied" der Privatrechtsordnung, wie der „öffentlich" Berechtigte und Verpflichtete „Mitglied" der öffentlichen Rechtsordnung ist, und beiderlei Rechtssubjekte sind „Mitglieder" der Gesamtrechtsordnung, wobei das Wort Ordnung nur der rechtstheoretisch korrekte Ausdruck für den in

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juristischem Sinne nichts anderes besagenden, aber eher der soziologischen Terminologie zugehörigen Ausdruck „Verband" ist. Die nun folgende Vorführung der Quellen des Verwaltungsrechtes gibt wohl auch zu einigen Bedenken Anlaß, so namentlich die Unterscheidung zwischen der gesetzesvertretenden und ausführenden, zwischen der Rechtsund Verwaltungsverordnung, zwischen der Verordnung und autonomen Satzung, ferner die Koordination zwischen Gesetzes- und Gewohnheitsrecht. - Außerordentlich dankenswert ist die daran sich anschließende Untersuchung der räumlichen und zeitlichen Grenzen der Wirksamkeit der Verwaltungsnormen, woraus als besonders bemerkenswertes Detail die erschöpfende Umschreibung der Ausnahmsstellung des Ausländers (S. 106/7) hervorgehoben sei. Als Beweis für die unübersehbare mühsame Kleinarbeit, die in den zahllosen Anmerkungen des Werkes beschlossen ist, seien die Daten über die von den Sukzessionsstaaten vollzogene Rezeption des alten österreichischen Rechtes (S. 82) erwähnt. Das dritte Kapitel behandelt im einzelnen das Verhältnis zwischen Verwaltung und Justiz. Hervorgehoben seien namentlich die Abschnitte über Vor(Präjudizial-)Fragen und über privatrechtliche Ansprüche aus Verwaltungsakten, die das einschlägige komplizierte Rechtsmaterial in überaus instruktiver Weise verarbeitet bieten. Zu eingehenderen rechtstheoretischen Erörterungen gibt dem Autor wiederum das vierte Kapitel über „die Träger der Verwaltung" Anlaß. Die oberste Einteilung der Verwaltungsorganisation, die Herrnritt trifft, ist die Verwaltung durch den Staat oder durch nichtstaatliche Verbände, durch Selbstverwaltungskörper. Ich darf wohl hier schon anmerken2, daß ich diese allerdings übliche, von Herrnritt aber womöglich veschärfte Unterscheidung nicht machen kann, da mir auch die sogenannte Selbstverwaltung nur als eine besonders organisierte Staatsverwaltung erscheint, deren Schein als nichtstaatliche Verwaltung nur dadurch entsteht, daß man den Begriff der staatlichen Verwaltung in willkürlicher Weise auf die überkommene

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Näher ausgeführt habe ich diesen Gedanken in einer Abhandlung über „Autonomie und Heteronomie im Recht", die voraussichtlich in den nächsten Monaten in der „Zeitschrift für öffentliches Recht" erscheinen wird.

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bureaukratische Berufsbeamtenorganisation beschränkt. - Durch diese Erwägung schwindet auch der von unserem Autor behauptete Gegensatz zwischen den Grundsätzen der Dekonzentration und der Dezentralisation der Verwaltung (S. 179/80), von denen jener die Dezentralisation im Bereiche der im engeren Sinne so benannten Staatsverwaltung und dieser die Dezentralistion der Verwaltung durch Selbstverwaltung bedeuten soll. Sehr eingehende und aufschlußreiche Betrachtungen widmet unser Autor der Berufsgenossenschaft und der öffentlichrechtlichen Anstalt. Das die Verwaltungshandlungen betreffende fünfte Kapitel bringt zunächst - mehr in Form eines gedrängten Referates - die unerschöpfliche umfangreiche Theorie der Verwaltungsakte. Ein besonderer Paragraph ist der Lehre von denfehlerhaften Verwaltungsakten gewidmet, wobei Kelsens Lehre in der Abhandlung über „Staatsunrecht" (Grünhuts Zeitschrift XL, S. 47 ff.) ebenfalls eingehend berücksichtigt wird. Der Vorgang Herrnritts freilich, die einzelnen Mängel abzuwiegen und sie - offenbar doch nur nach ihrem sachlich-politischen Gewichte - juristisch (als Nichtigkeits- oder Anfechtungsgründe) zu qualifizieren, scheint mir nicht zum Ziele zu führen. Das juristische Rätsel, wieso von einem fehlerhaften „Staatsakt" überhaupt gesprochen werden könne, wieso erst eine behördliche Deklaration notwendig sein könne, um ihn als Scheinakt zu offenbaren und aus der Rechtsordnung auszuschließen, bleibt auch bei Herrnritt unaufgeklärt. Mir erscheint diese Notwendigkeit, wenn ich hier meine eigene Anschauung einstreuen darf, nur als Ausfluß einer die behördliche Korrektur des nichtigen Aktes vorsehenden positiv-rechtlichen Anordnung mangels deren die Notwendigkeit, ja auch nur die Möglichkeit der Korrektur eines fehlerhaften Aktes eben nicht besteht, die aber durch ihr Vorhandensein die Konsequenz hat, daß sie den fehlerhaften Akt, gerade insofern sie ihn nullifizieren läßt, bis zu einem gewissen Grade sanktioniert. Das Kapitel enthält des weiteren sehr interessante Ausführungen über rechtliche Gebundenheit und freies Ermessen, mit denen ich mich leider nicht im einzelnen auseinandersetzen, von denen ich aber einen Satz nicht unwidersprochen lassen kann. Wenn nämlich Herrnritt meint, daß auch in den Fällen des freien Ermessens „gewiß nur eine Art der Erledigung dem Gesetze entsprechen wird, mag auch die Auffassung hierüber, je nach den individuellen Eigenschaften des handelnden Organes eine verschiedene sein" (S. 298), so hebt diese Auffassung im Grunde den Begriff des freien Ermessens auf. - Der Rest des Kapitels ist dem Probleme der Rechtskraft gewidmet, das Herrnritt sehr eng faßt, indem er bei Verfügungen

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überhaupt nicht das Problem der Rechtskraft, sondern das der „Unabänderlichkeit, Unwiderruflichkeit" als gegeben erachtet (S. 311). Ich darf mir an dieser Stelle wohl jedes weitere Wort über Herrnritts Rechtskraftlehre ersparen, zumal da ihr in meinem in absehbarer Zeit erscheinenden Buche über das Problem der Rechtskraft ein eigener Abschnitt gewidmet sein wird. Das sechste Kapitel behandelt in interessanter Weise die,,Rechtsordnung der PolizeiHervorgehoben seien hieraus insbesondere die Bemerkungen über das viel behandelte Problem des Polizeideliktes. Die von Herrnritt versuchte Unterscheidung zwischen dem Polizei- und dem Kriminaldelikt, wobei wieder je ein formeller und materieller Begriff auseinandergehalten wird, gibt allerdings zu ähnlichen Bedenken Anlaß wie seine Unterscheidung zwischen Justiz und Verwaltung. Treffend ist jedenfalls Herrnritts Polemik gegen jene Auffassung, die im Kriminalunrecht die Verletzung eines bestimmten Rechtsgutes, im Polizeiunrecht eine abstrakte Rechtsgutgefährdung erblickt. Mir erscheint eine Unterscheidung zwischen Kriminalund Verwaltungsunrecht ebenfalls nur an der Hand des formellen Kriteriums möglich zu sein, ob ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde zum Strafverfahren zuständig ist. Das siebente, gleichfalls höchst beachtenswerte Kapitel befaßt sich unter dem Titel des „öffentlichen Vermögensrechtes" mit den öffentlichen Sachen, den öffentlichrechtlichen Eigentumsbeschränkungen, der Enteignung, den öffentlichrechtlichen Sachverhältnissen und den öffentlichrechtlichen Verträgen. Endlich hat das achte Kapitel unter dem Titel der Verwaltungskontrolle im einzelnen zum Inhalt: die Arten und Mittel der Verwaltungskontrolle, die amtswegige Abänderung von Verwaltungsakten (womit nochmals der Problemkreis der Rechtskraft berührt wird), die öffentlichen administrativen Rechtsmittel und schließlich die (unserem Autor berufsmäßig besonders naheliegende und man möchte fast sagen: liebevoll behandelte) Verwaltungsgerichtsbarkeit. Raummangels halber muß ich es mir versagen, auf alle Partien des Werkes so eindringlich einzugehen, wie sie es trotz der Kritik, zu der sie nicht selten herausfordern, verdienen würden. Leider konnte nicht jede kritische Bemerkung durch mehrere voll angebrachte Zustimmungsäußerungen kompen-

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siert werden. Im allgemeinen hätte mich nur eine etwas intensivere Bezugnahme auf das dem österreichischen Recht doch in vielen Punkten verwandte deutsche Verwaltungsrecht, das uns in absehbarer Zeit hoffentlich noch näher stehen wird, sympathisch berührt. - Ein eingehendes Sachregister und ein noch eingehenderes Inhaltsverzeichnis dienen als wertvoller Behelf beim Gebrauch des Werkes als Nachschlagsbuch wie als Lehrbuch. Das Werk dürfte alsbald für den Theoretiker und für den Praktiker des Verwaltungsrechtes', namentlich auch - dank der sachkundigen Verarbeitung der verwaltungsgerichtlichen Judikatur - für die Verwaltungsbehörden, unentbehrlich werden.

Die Verwaltungsgesetzgebung der österreichischen Republik1 Die öffentlich-rechtliche Gesetzgebung Österreichs in der Berichtsperiode ist gekennzeichnet durch die Verfassungsreform des Jahres 19292 mit ihren Auswirkungen auf das Gebiet des Verwaltungsrechtes, sowie durch ein stärkeres Einsetzen der Grundsatzgesetzgebung des Bundes in den Angelegenheiten, die seit dem Inkrafttreten der ersten Verfassungsnovelle vom 30. Juli 1925 der grundsätzlichen Regelung durch den Bund vorbehalten sind. Die wichtigsten Verwaltungsgesetze, die mit der Verfassungsreform vom 7. Dezember 1929 in ursächlichem Zusammenhang stehen, sind das Bundesgesetz über den Verwaltungsgerichtshof vom 16. Mai 1930, über den Rechnungshof vom 15. Juli 1930 und über Bürgerlisten vom 20. März 1931. I. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Österreich geht in ihren noch gegenwärtig geltenden Grundlagen auf das Gesetz vom 22. Oktober 1875, RGBl. Nr. 36 aus 1876, betreffend die Errichtung eines Verwaltungsgerichtshofes, zurück. Die Gesetze der Republik, zuletzt die Bundesverfassungsnovelle vom 7. Dezember 1929, haben nur einerseits die Legitimation zur Anrufung des Verwaltungsgerichtshofes erweitert, andererseits die Organisation des Verwaltungsgerichtshofes reformiert. Das Bundesgesetz vom 16. Mai 1930 über die Einrichtung und das Verfahren des Verwaltungsge-

Jahrbuch für öffentliches Recht, Bd. X I I (1924), S. 162-190; Bd. X V (1927), S. 104-148; Bd. X I X (1931), S. 113-136. 1 Vgl. meine Berichte im Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Bd. X I I (1924), S. 162 ff. und Bd. X V (1927), S. 104 ff. 2

Vgl. über diesen den Bericht von Hans Kelsen, Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Bd. 18, 1930, S. 130 ff.

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richtshofes, BGBl. 153, hat aus diesen verfassungsgesetzlichen Neuerungen auf dem Gebiete der Verwaltungsgerichtsbarkeit erstmals prozessuale und nähere organisationsrechtliche Folgerungen gezogen und stellt im Zusammenhalt mit den Normativbestimmungen des Bundes-Verfassungsgesetzes (Art. 129-136), die die Verwaltungsgerichtsbarkeit betreffen, die erschöpfende gesetzliche Organ- und Funktionsordnung des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes dar. Zur Beurteilung der Tragweite der Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist indes nötig, im voraus festzustellen, daß die seit der Gründung des Verwaltungsgerichtshofes im Jahre 1875 geltenden Grundzüge der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit unverändert erhalten geblieben sind: Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist Rechtsprechung durch ein Sondergericht des Gesamtstaates, nunmehr Bundes, also echte Gerichtsbarkeit und nicht bloß justizähnliche Verwaltung; sie ist nachträgliche Verwaltungsgerichtsbarkeit, setzt also einen formell rechtskräftigen Verwaltungsakt voraus, der nur noch einer außerordentlichen gerichtlichen Rechtskontrolle unterworfen werden kann; sie dient der Prüfung der Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten, ist also bloße Rechtskontrolle, jedoch einschließlich der Überprüfung von Ermessensüberschreitungen, und nur im Falle der Überprüfung von Verwaltungsstraferkenntnissen in bezug auf das eine Freiheitsstrafe von einer Woche oder eine Geldstrafe von 200 S übersteigende Strafausmaß eine Ermessensprüfung; die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ist endlich von einer so gut wie lückenlosen Generalklausel beherrscht, die dahin geht, daß alle Bescheide (Entscheidungen und Verfügungen) des Bundes und der Länder der Beschwerde unterzogen werden können. Als einziges allgemeines Verwaltungsgericht für Beschwerdefälle aus Bund und Ländern fungiert der Verwaltungsgerichtshof in Wien; neben diesem fungieren in einem sachlich eng beschränkten Wirkungskreis als Sonderverwaltungsgerichte das Abrechnungsgericht, der Patentgerichtshof und nicht zuletzt der Verfassungsgerichtshof dieser in seiner Eigenschaft als Garant verfassungsmäßig gewährleisteter Rechte, als Verordnungsprüfungsgericht und als Wahlgericht. Innerhalb der verfassungsgesetzlichen Rahmenbestimmungen3 trifft das zitierte Verwaltungsgerichtshofgesetz vom 16. Mai 1930 in der Hauptsache folgende Anordnungen: die Mitglieder des Verwaltungsgerichtshofes,

3

Vgl. hierüber den Bericht von Kelsen, a.a.O., S. 150 ff.

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durchaus Berufsrichter mit juristischer Vorbildung und mit mindestens 10-jähriger Vorschulung in einem juristischen Berufe, machen in ihrer Gesamtheit die Vollversammlung aus und gliedern sich in zwei Fachgruppen - eine für Rechtsfälle der allgemeinen Verwaltung, die andere für Rechtsfälle der Finanzverwaltung; die Fachgruppen sind in Senate zu je 5 Mitgliedern untergeteilt. Die Mitglieder der Fachgruppen werden von der Vollversammlung bestellt. Von den Senaten werden drei ständige Mitglieder ebenfalls von der Vollversammlung auf die Dauer eines Jahres bestellt, dagegen der Vorsitzende des Senates vom Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofes bestellt und nur das fünfte Mitglied fallweise aus den Mitgliedern der Fachgruppe zugewiesen. Die Vollversammlung beschließt auch eine in der Regel für je ein Jahr maßgebliche, im Bedarfsfalle aber auch im Laufe des Jahres abänderbare Geschäftseinteilung. In dieser wird der Geschäftsgang des Gerichtshofes geregelt, insbesondere aber die Zahl und der Wirkungsbereich der Fachgruppen und Senate bestimmt, auf die die anfallenden Rechtssachen nach ihrem Gegenstande zu verteilen sind. Durch diese nach allgemeinen Merkmalen, ohne Ansehung des Einzelfalles vorgenommene Zuteilung der Agenden an überwiegend stabil zusammengesetzte Senate soll und kann offenbar eine Beeinflussung der Rechtsprechung aus politischen Rücksichten hintangehalten werden. Die fallweise Zuweisung, also Variabilität eines einzelnen Mitgliedes, ermöglicht die Erfüllung der Verfassungsvorschrift, daß jedem Senat, der über eine Beschwerde in Angelegenheiten der Landesverwaltung oder über eine Klage gegen ein Land, einen Bezirk oder eine Gemeinde zu erkennen hat, in der Regel ein Mitglied angehören soll, das in dem betreffenden Land beruflich tätig war. Im übrigen sind ja die Senate nach Materien und nicht nach Ländern zusammengesetzt. Überdies ist bei der Zusammensetzung der Senate darauf zu achten, daß jedem Senate mindestens ein Mitglied, womöglich aber noch ein weiteres Mitglied angehört, das die Befähigung zum Richteramte aufweist. (Nach einer Verfassungsvorschrift muß mindestens ein Drittel der Mitglieder die Befähigung zum Richteramte aufweisen, während die Mehrzahl der Mitglieder dem Kreise der juristisch gebildeten Verwaltungsbeamten entnommen zu werden pflegt.) Während die Rechtsprechung Sache der Senate ist, obliegt der Vollversammlung außer der schon erwähnten Schlußfassung über die Geschäftseinteilung insbesondere die Ausübung des Vorschlagsrechtes für die Zusammensetzung des Gerichtshofes, die Funktion als Disziplinargericht über die Mitglieder und die Vorsorge für die Einheitlichkeit der Rechtsprechung. In dieser Richtung bestimmt das Gesetz, daß, sofern

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es sich um eine grundsätzliche Rechtsauslegung von allgemeiner Bedeutung handelt, der Vorsitzende des Senates die zu beantwortende Rechtsfrage der betreffenden Fachgruppe und, wenn die Rechtsfrage in ihrer Bedeutung über den Bereich der Fachgruppe hinausgeht, der Vollversammlung zur Beschlußfassung vorzulegen hat. Diese Pflicht des Vorsitzenden ist zugleich eine bloße Kompetenz des Gerichspräsidenten. Die einschlägigen Beschlüsse der Fachgruppen und der Vollversammlung sind in der Form von Rechtssätzen zu fassen. Diese Rechtssätze sind für die Entscheidungen der einzelnen Rechtssachen durch die Senate insolange bindend, als nicht die Fachgruppe oder die Vollversammlung einen anderweitigen Rechtssatz ausgesprochen hat. Nebst diesen auszugsweise wiedergegebenen organisatorischen enthält das Gesetz viel eingehendere Verfahrensbzstimmxxngzn. Diese sind teils für alle Verwaltungsgerichtssachen gemeinsam, teils den einzelnen Zuständigkeiten angepaßt. Beschwerden sind binnen 60 Tagen nach Entscheidung der Verwaltungsbehörde oberster Instanz unmittelbar beim Verwaltungsgerichtshof in schriftlicher Form einzubringen, sofern durch Gesetz nicht ausdrücklich bestimmt ist, daß die Einbringung jederzeit zulässig ist. Während im allgemeinen beim Verwaltungsgerichtshof nur gegen ein bestimmtes vermeintlich rechtswidriges Handeln einer Behörde eingeschritten werden kann, die Verwaltungsgerichtsbarkeit also gegen gewisse Erledigungen, nicht aber gegen die Nichterledigungen von Parteianbringen Abhilfe ermöglicht, kann der Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung von Streitfällen, die sich aus dem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis von Angestellten des Bundes, der Länder, der Bezirke und der Gemeinden ergeben, auch dann angerufen werden, wenn die angerufene Behörde erster oder höherer Instanz nicht binnen der bundesgesetzlich zu bestimmenden Frist in der Sache entschieden hat. Beamtenrechtliche Ansprüche sind also durch ein Rechtsmittel gegen das Nichthandeln der zuständigen Verwaltungsbehörde privilegiert. Jede Beschwerde oder Klage muß - außer in den Fällen, daß eine öffentliche Körperschaft oder ein rechtskundiger öffentlicher Angestellter in eigener Sache einschreitet - mit der Unterschrift eines Rechtsanwaltes versehen sein. Durch diesen beschränkten Anwaltszwang unterscheidet sich immerhin das verwaltungsgerichtliche Verfahren vom Verwaltungsverfahren in allen Instanzen. Beschwerden oder Klagen, die wegen Versäumung der Einbringungsfrist oder wegen offenbarer Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlung nicht geeignet sind, denen offenbar der

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Einwand der entschiedenen Sache oder der Mangel der Berechtigung zur Erhebung der Beschwerde oder Klage entgegensteht, sind ohne weiteres Verfahren durch Beschluß zurückzuweisen. (Abweisung a limine aus formalen Gründen.) Beschwerden und Klagen, bei denen zwar keiner der zuletzt bezeichneten Abweisungsgründe vorliegt, bei denen aber die Vorschriften über den Inhalt oder die Form nicht eingehalten wurden, sind zur Behebung der Mängel unter Anberaumung einer kurzen unerstreckbaren Frist zurückzustellen; die Versäumung dieser Frist gilt als Zurückziehung. Mit dieser Bestimmung ist die Neuerung der Verwaltungsverfahrensgesetze des Jahres 1926, daß Rechtsirrtum in bezug auf geltendes Verwaltungsrecht in gewissem Umfang den Parteien nicht schadet, daß diese vielmehr gegen die Behörde, der gegenüber ihnen der Rechtsirrtum unterlaufen ist, Anspruch auf Rechtsbelehrung haben, trotz des hier herrschenden Anwaltszwanges auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit übertragen. Ist kein Anlaß zur Zurückweisung oder Zurückstellung einer Beschwerde oder Klage, so ordnet der Präsident des Verwaltungsgerichtshofes eine mündliche öffentliche Verhandlung vor dem zuständigen Senate an. Er bestellt für jede Rechtssache einen Berichterstatter und nötigenfalls Mitberichterstatter. Alle Beschwerden und Klagen sind, außer den Fällen der Zurückweisung oder Einstellung, durch Erkenntnisse zu erledigen. Die Erkenntnisse sind im Namen der Republik zu verkünden und schriftlich auszufertigen. Findet eine mündliche Verhandlung statt, so hat der Vorsitzende das Erkenntnis mit den wesentlichen Entscheidungsgründen womöglich im unmittelbaren Anschluß an die Verhandlung zu verkünden. Findet eine mündliche Verhandlung nicht statt, sind die Parteien zur Verhandlung nicht erschienen oder haben sie sich vorzeitig von der Verhandlung entfernt, so entfällt die Verkündung. Als außerordentliche Rechtsmittel hat das neue Verfahrensrecht auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren die Wiederaufnahme sowie die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eingeführt. Die Kostenfrage wurde in der Weise gelöst, daß jede Partei die ihr im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof erwachsenden Kosten selbst zu bestreiten und, sofern gesetzlich nichts Abweichendes bestimmt ist, auch endgültig zu tragen hat. Nebst diesen allgemeinen Verfahrensbestimmungen, die das Verfahren in sämtlichen der verwaltungsgerichtlichen Judikatur unterliegenden Fällen beherrschen, bestehen ergänzende Sonderbestimmungen für einzelne Verfahrensfälle - Beschwerden und Klagen im allgemeinen, vermögensrechtliche Ansprüche, Streitfälle aus öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnissen, Schadenshaftungssachen, Gemeindevertretungsbeschlüsse

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in Abgabensachen, Invalidenentschädigungssachen. Die hauptsächliche Rechtsfolge der stattgebenden Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes wurde schon verfassungsgesetzlich vorgezeichnet und sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt: Der Verwaltungsgerichtshof hat im Falle einer Beschwerde, falls er diese nicht zurückzuweisen oder als unbegründet abzuweisen findet, den angefochtenen Bescheid als aufgehoben zu erklären. In diesem Falle sind die zuständigen Verwaltungsbehörden verpflichtet, mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen. Die durch die wenig glückhafte Verfassungsreform des Jahres 1929 ausgelösten, mehr ins Einzelne als in die Tiefe gehenden Neuerungen auf dem Gebiete der übrigens schon vorher allseits anerkannten österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit bedeuten einen würdigen Abschluß der großen, tiefgreifenden Verwaltungsprozeßordnung des Jahres 1925.4 Das stark dem Zivilprozeß angenäherte Verwaltungsverfahren gewährt im Zusammenhalt mit der eben skizzierten Verwaltungsgerichtsbarkeit einen Rechtsschutz in Verwaltungssachen, der dem außerhalb der österreichischen Grenzen vielgerühmten zivilgerichtlichen Rechtsschutz durch die Zivilprozeßordnung des Jahres 1896 an rechtstechnischer Durchbildung und praktischer Wirksamkeit mindestens ebenbürtig zur Seite steht. Bezeichnend für die Bewährung der neuen Verwaltungsprozeßordnung ist die Tatsache, daß das Agrarverfahrensgesetz vom 4. März 1927, BGBl. 79, das Anwendungsbereich der VerwaltungsVerfahrensgesetze aus 1925, auf die Agrarbehörden, eine der wenigen aus ihrem Anwendungsbereich zunächst ausgenommen gewesenen Spezialbehörden, erstreckt. An wichtigen Sonderbehörden gehen jetzt nur noch die Finanzbehörden ihren aus der Monarchie überkommenen alten, schon sehr reformbedürftigen Verfahrensweg. II. Die Rechnungskontrolle wurde von der Verfassungsnovelle vom 7. Dezember 1929, BGBl. 393, auf eine neue verfassungsrechtliche Grundlage

4 Vgl. über diese meinen Bericht im Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Bd. XV, 1927, S. 106-26.

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gestellt.5 Die Rahmenbestimmungen der Verfassung wurden vom Bundesgesetz vom 15. Juli 1930, BGBl. 240, verwirklicht. Unter Berücksichtigung der in diesem Gesetz verwirklichten weitgehenden Neuerungen wurde das Rechnungshofgesetz vom 30. Juli 1925, BGBl. Nr. 290, unter Nr. 251 BGBl, aus 1930 neu kundgemacht. Der Grundzug der Reform der Rechnungskontrolle ist radikale Unitarisierung dieser Kontrolle durch Erstreckung der Zuständigkeit des Rechnungshofes auf eine obligatorische Kontrolle der Finanzgebarung sämtlicher Länder und eine teils obligatorische, teils fakultative Kontrolle der Finanzgebarung der Gemeinden. Immerhin bleibt die Kontrolltätigkeit des Rechnungshofes nach den verschiedenen seiner Kontrolle unterliegenden Körperschaften abgestuft. Die Kontrollfunktionen des Rechnungshofes gegenüber dem Bunde bestehen in der Überprüfung der gesamten Einnahmen- und Ausgabengebarung, der Schuldengebarung des Bundes sowie der Gebarung mit dem beweglichen und unbeweglichen Bundesvermögen. Insbesondere ist es dem Rechnungshof zur Pflicht gemacht, Ausgaben, die vom Bundesvoranschlag hinsichtlich ihrer Höhe oder ihrer Natur abweichen, zu überwachen, wozu sie von der liquidierenden Stelle dem Rechnungshof zur Kenntnis zu bringen sind. Im Zusammenhalt mit der Verfassungsbestimmung (Art. 51), daß Bundesausgaben, die im Bundesfinanzgesetz oder in einem Sondergesetz nicht vorgesehen sind, vor ihrer Vollziehung der verfassungsmäßigen Genehmigung des Nationalrates, und bei Gefahr im Verzuge unter der Voraussetzung, daß die budgetgesetzlich nicht gedeckte Bundesausgabe den Betrag von 1 000 000 S nicht übersteigt, der Zustimmung des Hauptausschusses des Nationalrates bedürfen, ergibt sich eine sehr wirksame Kontrolle von Budgetüberschreitungen - soweit nicht diese doppelseitige Kontrolle gegen derartige Überschreitungen überhaupt prophylaktisch wirkt. Das Ziel der Gebarungskontrolle des Rechnungshofes ist nicht bloß die Sicherung der Rechtmäßigkeit, sondern auch der Zweckmäßigkeit der Finanzgebarung. Der Rechnungshof darf sich keinesfalls auf die bloß ziffernmäßige Nachprüfung beschränken, sondern er hat einerseits festzustellen, ob die Gebarung den bestehenden Vorschriften entspricht, andererseits ob sie im Rahmen der Gesetze und der auf Grund dieser Gesetze ergangenen

5

Vgl. den Bericht „Die Verfassung Österreichs" von Hans Kelsen, Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Bd. 18, 1930, S. 130.

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Verordnungen wirtschaftlich, sparsam und zweckmäßig ist. Schon über die Rolle eines Kontrolleurs geht es hinaus, wenn das Gesetz den Rechnungshof verpflichtet, bei Ausübung der Kontrolle sowohl die Möglichkeit der Herabminderung oder Vermeidung von Ausgaben als auch der Erhöhung oder Schaffung von Einnahmen wahrzunehmen. Zur Sicherung einer wirksamen Überprüfung ist dem Rechnungshof ein unmittelbarer Verkehr mit sämtlichen Dienststellen des Bundes und deren weitestgehende Unterstützung gewährleistet, z.B. beliebige Auskunftserteilung dieser Dienststellen und Beistellung aller nötigen Rechnungsbelege und sonstigen Behelfe, Zulässigkeit der Einschau in diese Behelfe an Ort und Stelle, Anspruch auf die Vornahme von Lokalerhebungen durch die vorgesetzten Dienststellen und auf Beteiligung an diesen Lokalerhebungen. Die Ergebnisse seiner Überprüfung und die hiebei erfolgten Beanstandungen hat der Rechnungshof den überprüften Stellen und dem zuständigen Bundesministerium bekanntzugeben und mit den ihm angemessen erscheinenden Anträgen zu verbinden. Überdies kann der Rechnungshof hierüber jederzeit an den Nationalrat berichten und Anträge stellen. Nach der Vorlage an den Nationalrat sind die Berichte des Rechnungshofes auch zu veröffentlichen. Die derart ermöglichte Presseöffentlichkeit der im allgemeinen auf hoher Warte stehenden Berichterstattung und Kritik des Rechnungshofse äußert - trotz oder vielleicht eben wegen ihrer Unerquicklichkeit für manche Verwaltungsstelle im Gesamtkalkül sehr heilsame Vor- und Rückwirkungen. Die Rechnungskontrolle des Wirtschaftskörpers der „Österreichischen Bundesbahnen", die vom ,,Bundesbahngesetz" als selbständige (kommerzialisierte) Bundesanstalt organisiert worden sind, folgt abweichenden Vorschriften, die aber ausdrücklich Vorsorgen, daß der Rechnungshof auf die Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit der Gebarung und Einrichtung der Bundesbahnen Bedacht zu nehmen hat. Wiederum anderen, und zwar gegen früher verschärften Kontrollvorschriften folgt die Überprüfung der Gebarung sonstiger Unternehmungen, an denen der Bund finanziell beteiligt ist oder für die der Bund eine Ausfallshaftung trägt. Kaum noch durch die verfassungsgesetzliche Ermächtigung gedeckt ist der Anteil des Rechnungshofes an der Ordnung des Rechnungswesens. Die Form der einschlägigen Tätigkeit des Rechnungshofes ist die des Übereinkommens mit der zuständigen Verwaltungsstelle. Insbesondere dürfen die Bundesministerien grundsätzliche Anordnungen im Rechnungs-und Kassenwesen nur im Einvernehmen mit dem Rechnungshof sowie mit dem Bundesministerium für Finanzen treffen. Geradezu eine Schiedsrichterrolle räumt dem Rechnungshof die Bestim-

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mung ein, daß vorbehaltlich der Beschlußfassung des Nationalrates über den Rechnungsabschluß bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministerien über die Verrechnung einzelner Gebarungsfälle (Kreditbelastung) die Anschauung des Rechnungshofes ausschlaggebend ist. Der verfassungsmäßigen Aufgabe des Rechnungshofes als Verfasser des Rechnungsabschlusses des Bundes dienen die Gesetzesvorschriften, daß der Rechnungshof den Zeitpunkt und die Form der jährlichen Rechnungsablage bestimmt, sowie daß ihm von den obersten Bundesbehörden die Jahresrechnungen unmittelbar vorzulegen sind. Auf dieser Grundlage hat der Rechnungshof alljährlich den Rechnungsabschluß zu verfassen und ihn mit eingehendem Bericht (und allfälligen Ausstellungen) spätestens acht Wochen vor Ablauf des nächstfolgenden Finanzjahres dem Nationalrat zur verfassungsmäßigen Behandlung (d.i. zur Genehmigung in Gesetzesform) vorzulegen. Außerdem verpflichtet das Gesetz den Rechnungshof, zugleich mit dem Bundesrechnungsabschluß dem Nationalrat einen Nachweis über den Stand der Bundesschuld vorzulegen. Nicht mehr der Rechnungskontrolle im besonderen, sondern im allgemeinen der Finanzkontrolle dient endlich die wiederum in der Verfassung verankerte Mitwirkung des Rechnungshofes an der Kontrahierung von Bundesschulden. Der Präsident des Rechnungshofes, in dessen Verhinderung sein Stellvertreter, hat alle vom Bundesminister für Finanzen ausgestellten Urkunden über Bundesschulden gegenzuzeichnen. Diese Unterschrift ist ein Formalerfordernis der Verpflichtungserklärung des Bundes. Alles in allem sind die nur andeutungsweise dargestellten Kompetenzen des Rechnungshofes ein Symptom des ungebrochenen parlamentarischen Systems, denn der Rechnungshof mit seinem vom Nationalrat gewählten und beliebig abberufbaren Präsidenten und mit seiner vollen Abhängigkeit vom Nationalrat darf funktionell als Exponent des Parlaments gelten. Der Gesamteindruck der Rechtsstellung des Rechnungshofes ist der, daß sich in ihm die österreichische Republik freiwillig einen finanziellen Kurator eingesetzt hat, der gerade in den Überschußjahren als Mentor der finanziellen Gewissenhaftigkeit wirkt, dem man aber freilich zuviel zumuten würde, wenn man von ihm erwartete, daß er mit seinen rechtlichen Mitteln das nach sieben sozusagen fetten Jahren heuer erstmals - infolge ungeheurer Steigerung der Wirtschaftskrise - drohende beträchliche Bundesdefizit hintanzuhalten imstande wäre. Die auffälligste Besonderheit in der Rechtsstellung des Rechnungshofes ist seine Kontrollkompetenz gegenüber den übrigen Gebietskörperschaften.

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Gegenüber den Ländern - nunmehr einschließlich der zunächst, angeblich wegen ihrer Doppelstellung als Land und Gemeinde, privilegiert gewesenen Stadt Wien - ist die Kontrollfunktion durchaus obligatorisch, und zwar auf die Rechtmäßigkeit, ziffernmäßige Richtigkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit der Gebarung abgestellt. Zur Ermöglichung der Überprüfung haben die Landesregierungen die jährlichen Rechnungsabschlüsse ihres Landes dem Rechnungshof zu übermitteln. Der Rechnungshof hat die Rechnungsabschlüsse auf Grund der Einsichtnahme an Ort und Stelle in die Bücher und sonstigen mit der Gebarung im Zusammenhang stehenden Belege zu überprüfen und das Ergebnis der Überprüfung den Landesregierungen mitzuteilen. Die Landesregierungen haben den Bericht des Rechnungshofes zugleich mit dem Landesrechnungsabschluß dem Landtage vorzulegen. Unternehmungen, die das Land allein betreibt und die den Charakter von Monopolbetrieben haben (was insbsondere für das Land Wien mit seinem ungewöhnlich weitgespannten Munizipalsozialismus in Frage kommt) unterliegen der Überprüfung durch den Rechnungshof wie die übrige Gebarung eines Landes, Unternehmungen des Landes, die in der Privatwirtschaft dieses Landes Konkurrenz haben, sowie private Unternehmungen, an denen das Land finanziell beteiligt ist oder für die es eine Ausfallshaftung trägt, hat der Rechnungshof nur auf Ersuchen der Landesregierung zu überprüfen. Bei der Rechnungsprüfung der Gemeinden macht die Bevölkerungszahl der Gemeinden einen Unterschied. Die Gebarung der Gemeinden mit über 20 000 Einwohnern hat der Rechnungshof von Amts wegen in demselben Umfang wie die Gebarung der Länder zu überprüfen. Neben dieser gesetzlich vorgeschriebenen Prüfung hat jedoch der Rechnungshof auch auf Ersuchen der zuständigen Landesregierung in seinen Wirkungskreis fallende Akte der Gebarungsprüfung bei den bezeichneten Gemeinden durchzuführen und das Ergebnis der Landesregierung mitzuteilen. Damit wird der Rechnungshof in origineller Weise der Staatsaufsicht gegenüber den Gemeinden dienstbar, ja eigentlich die bei der unerhört weitgehenden Autonomie der österreichischen Gemeinden bisher problematisch gewesene Staatsaufsicht erstmals aktualisiert. Die Gebarung der Gemeinden mit weniger als 20 000 Einwohnern hat der Rechnungshof nicht durchgängig und von Amts wegen, sondern nur fallweise und auf Ersuchen der zuständigen Landesregierung zu überprüfen und dieser das Ergebnis mitzuteilen. Überdies hat der Rechnungshof die Ergebnisse der Gebarungsprüfung bei Ländern und Gemeinden der Bundesregierung zur Kenntnis zu bringen, wodurch diese aus berufenster Quelle fortlaufenden

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Einblick in die Finanzgebarung der Länder und wenigstens der größeren Gemeinden erhält. III. Eine verfassungsrechtliche Hilfstätigkeit der Verwaltung - um den für diesen Fall sehr bezeichnenden Ausdruck Otto Mayers zu verwenden - wird von dem Bundesgesetz vom 20. März 1930, BGBl. 85, aber die Anlegung ständiger Wählerverzeichnisse (Bürgerlisten) geregelt. Die Bürgerlisten dienen nicht etwa der Registrierung aller Staatsbürger, sondern der nach Bundesrecht wähl- und stimmberechtigten Personen (wozu nach Art. 26 B-VG im Falle staatsvertraglich gewährleisteter Gegenseitigkeit auch Ausländer gehören können), und sind somit ein - zum Unterschied von den bisher gebräuchlichen ad hoc angelegten Wählerlisten - ständig zur Verfügung stehender Behelf für die Wahlen der Vertretungskörper des Bundes und der Länder, die gleiches aktives Wahlrecht wie der Nationalrat haben, ferner für Volksbegehren und Volksabstimmungen im Bund und (unter der vorerwähnten Voraussetzung, auch in den Ländern), endlich für die nunmehr eingeführte Volkswahl des Bundespräsidenten. In die Bürgerlisten sind alljährlich im Monat Dezember die in jeder Gemeinde wohnhaften Bundesbürger (die verfassungsgesetzlich vorgesehene Wahl- und Stimmrechtserweiterung auf Ausländer ist eben bisher noch keinem Staate gegenüber eingetreten) einzutragen, die bis Ende Januar des folgenden Jahres mindestens das 21. Lebensjahr vollendet haben und gegen die kein Ausschließungsgrund vom Wahlrecht vorliegt. Während des Januar und Juni jeden Jahres hat der Bürgermeister, und in Orten, wo sich eine Bundespolizeibehörde befindet, diese die Bürgerliste zur allgemeinen Einsicht aufzulegen. Gegen die Bürgerliste kann jeder Bundesbürger innerhalb der Auflagefrist wegen Aufnahme vermeintlich Nichtberechtigter oder wegen Nichtaufnahme vermeintlich Berechtigter beim Bürgermeister bzw. der Bundespolizeibehörde Einspruch erheben. Über die Einsprüche entscheiden besondere Einspruchskommissionen, die aus Verwaltungsbeamten, Richtern und verhältnismäßig von den politischen Parteien abgeordneten Beisitzern auf je zwei Jahre zusammengesetzt sind. - Eine derartige Evidenz der Wahl- und Stimmberechtigten und damit des politisch berechtigten Teiles der Staatsbürger mag zwar selbst über den ersten ihr zugedachten Zweck hinaus nützlich sein, entspringt und entsprach aber doch wohl einem Luxusbedürfnis der Verwaltung und ist zumal in ihrer komplizierten Anlage mit dem

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Erfordernis der Rationalisierung und Vereinfachung der Verwaltung schwer zu vereinbaren. IV. Wenn nunmehr von der Ausführungs- und Hilfsgesetzgebung zur Verfassung abgesehen und die einzelnen Verwaltungszweige auf ihre Neuerungen hin durchgesehen werden, so begegnen zunächst auf dem Gebiete der Außenverwaltung einige Staatsakte, deren knapper Umfang ihre staatspolitische Bedeutung kaum ermessen läßt. Der Beitritt Österreichs zum Völkerbund wurde in den staatsrechtlichen Formen eines Staatsvertrages nach vorgängiger Genehmigung des Nationalrates durch Entschließung des Bundespräsidenten vom 16. August 1927, BGBl. 267, vollzogen. Mit Entschließung des Bundespräsidenten vom 28. September 1928, BGBl. 268, ist Österreich dem Kelloggschen Antikriegspakt beigetreten. Für Österreich noch bedeutsamer ist aber das Allgemeine Haager Abkommen vom 20. Januar 1930, das vom Bundespräsidenten am 2. April 1930 ratifiziert und im BGBl, unter Nr. 263 publiziert wurde; dieses Abkommen brachte nämlich Österreich die endgültige Tilgung der Reparationsschuld. Die maßgeblichen Bestimmungen der Art. I und I I des genannten Haager Abkommens haben nachstehenden Wortlaut: ,,Die finanziellen Verpflichtungen Österreichs, die sich aus welchen Bestimmungen immer des Waffenstillstandes vom 3. November 1918, des Staats Vertrages von St. Germain und aller ihn ergänzenden Verträge und Übereinkommen ergeben (vorbehaltlich der mit einzelnen Signatarmächten des Haager Übereinkommens getroffenen Sondervereinbarungen), sind durch die von Österreich bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Abkommens geleisteten Zahlungen, Lieferungen und Abtretungen endgültig abgegolten. Das ... auf dem gesamten Besitz und allen Einnahmsquellen Österreichs haftende Pfandrecht ersten Ranges für die Bezahlung der Wiedergutmachung und aller anderen Lasten ... verliert daher seine Wirksamkeit. - Alle Beziehungen zwischen der Reparationskommission und Österreich enden im Zeitpunkt des Inkrafttretens des gegenwärtigen Abkommens." Viel ergiebiger war naturgemäß die Rechtssetzung im Bereiche der Innenverwaltung, so daß insoweit ein kursorischer Überblick über die wichtigeren Maßnahmen in den bemerkenswerteren Verwaltungsmaterien genügen muß.

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V. Auf dem Gebiete des Staatsbürger- und Heimatrechtes ist je ein erwähnenswertes Gesetz in Kraft getreten. Das grundlegend neue Staatsbürgerschaftsgesetz vom 30. Juli 1925 hat sich im allgemeinen gut bewährt; nur die Bestimmung, daß der Eintritt in fremde Staats- und Heeresdienste unter allen Umständen - ohne Möglichkeit des Vorbehaltes der österreichischen Bundesbürgerschaft durch Verwaltungsakt - den Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft zur Folge hat, und zwar auch dann, wenn hiedurch der bisherige Österreicher nicht eine fremde Staatsbürgerschaft erwirbt, hat sich als zu drückend erwiesen. Die ratio dieser rigorosen Bestimmung, daß nämlich der Eintritt in fremde Dienste einer Absage an den bisherigen Heimatstaat gleichkomme, trifft nämlich beim Eintritt in die Dienste eines befreundeten Auslandsstaates gewiß nicht zu. So hat denn eine Staatsbürgerschaftsnovelle vom 8. Juli 1927, BGBl. 236, die erwähnte Bestimmung in einer Richtung, in der ein aktuelles praktisches Bedürfnis aufgetreten war, gemildert. Nach dem zuletzt zitierten Gesetze tritt der Verlust der Bundesbürgerschaft nicht ein, wenn ein Bundesbürger die Stelle eines Hochschullehrers im Auslande antritt und wenn nach den Gesetzen dieses Staates mit dem Antritt des Hochschullehramtes der Erwerb der fremden Staatsbürgerschaft nicht verbunden ist. - Die Heimatordnung vom 3. Dezember 1863, RGBl. 105, wurde durch das Bundesgesetz vom 20. Dezember 1928 novelliert. Die bemerkenswerte Neuerung dieses Gesetzes ist die Einführung von Heimatrollen, das sind amtliche Verzeichnisse der Heimatberechtigten, die von den Gemeinden über die in ihnen zuständigen Bundesbürger zu führen sind. Zur Sicherung erschöpfender Eintragungen mußten die verschiedensten Personen und Ämter verpflichtet werden, heimatrechtlich relevante Daten, die sich in ihrer Person ereignen oder die ihnen amtlich bekannt werden, den in Frage kommenden Heimatgemeinden mitzuteilen. Insbesondere wurden auch die im Ausland wohnhaften Bundesbürger verpflichtet, Änderungen in ihrem Familienstande dem zuständigen österreichischen Konsulate unter Vorlage der bezüglichen amtlichen Urkunden anzuzeigen. Die Verordnung des Bundeskanzlers vom 4. Juli 1929, BGBl. 218, hat die Einrichtung und Führung der Heimatrollen ins einzelne geregelt. Die Heimatrollen neben den Bürgerlisten sind wohl ein etwas zu großer Aufwand an öffentlicher Registerführung.

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VI. Ausnehmend produktiv war in der Berichtszeit die Polizeigesetzgebung in dem (in Österreich allgemein gebräuchlichen) engeren Sinn der Sicherheits- und Ordnungspolizei. Am meisten hat das unscheinbarste und überdies inhaltsärmste dieser Gesetze von sich reden gemacht, das Bundesgesetz vom 17. Juni 1930, BGBl. 178, betreffend die Abänderung des Waffenpatentes. Dieses Gesetz stellt sich nämlich als eine Abschlagszahlung an die Forderung der Botschafterkonferenz nach sogenannter „innerer Entwaffnung" dar, wobei an die Auflösung der bewaffneten Schutzformationen gedacht war, die sich im Jahre 1929 sehr kriegerisch gebärdet hatten (freilich nur gegen den „inneren Feind"), mittlerweile jedoch sehr still geworden sind. Das Verebben der sogenannten Heimatschutzbewegung ist denn auch so gut wie gar nicht auf die Wirksamkeit jenes vornehmlich optischen Zwecken dienenden Gesetzes zurückzuführen, wie denn auch die Entrüstung und das Sturmlaufen der „Heimatschutzbewegung" gegen dieses Gesetz sozusagen „gemacht" war. Der Kern des neuen Gesetzes besteht nämlich in der Ermächtigung an den Bundeskanzler zu Anordnungen, wonach die in Anwendung des Waffenpatentes zugestandenen Befugnisse zum Besitz und Tragen von Waffen und Munitionsgegenständen nach Maßgabe der erkannten Notwendigkeit zeitweilig und unter Umständen auch nur für bestimmte Orte oder Personen Beschränkungen unterworfen oder ganz eingestellt werden. Also ein typisches Ermächtigungsgesetz ohne jede unmittelbare Pflichtenstatuierung. Eine Ermächtigung fast desselben Inhaltes, nämlich die Erlaubnisse zum Besitz und zum Tragen von Waffen (nicht auch von Munitionsgegenständen) zu widerrufen, stand jedoch bereits nach der vormaligen Rechtslage sämtlichen Landeshauptleuten zu und zwar in ihrer Eigenschaft als Chefs der mittelbaren Bundesverwaltung und innerhalb derselben der Bundespolizeiverwaltung in den Ländern. Doch hatte auch schon bisher auf Grund der allgemeinen verfassungsgesetzlichen Ermächtigung der Bundesregierung und der einzelnen Bundesminister zur Anweisung der Landeshauptleute in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung (so der gesetzliche Ausdruck der in Österreich wesentlich stärker als im Deutschen Reiche zentralisierten „AuftragsVerwaltung") der Bundeskanzler die rechtliche Möglichkeit, die Landeshauptleute (bei Sanktion ihrer Anklage vor dem Verfassungsgerichtshof) im allgemeinen oder im Einzelfalle zu beauftragen, von ihrer im Waffenpatent gelegenen Ermächtigung Gebrauch zu machen. Der Hauptinhalt des so leidenschaftlich umkämpften Gesetzes bestand also darin, daß dem Bundeskanzler eine

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Kompetenz, die ihm bereits von Verfassungs wegen zugestanden hatte, durch einfaches Gesetz ausdrücklich eingeräumt wurde. Die Botschafterkonferenz hatte aber den Schein erlangt, auf dem sie bestanden hatte. Immerhin ist dieses Gesetz das einzige in der Geschichte der österreichischen Republik, das seiner Tendenz nach den Namen eines „Republikschutzgesetzes" verdient - gewiß ein schwächliches Gegenstück des reichsdeutschen Gesetzes. Zu irgendwelchen sonstigen spezifischen Maßnahmen zum Schutze der Republik ist es in Österreich ebensowenig wie zu irgendwelchen diktatorischen Einrichtungen gekommen. Ein anderes, seinen Mitteln nach polizeiliches, überwiegend freilich strafrechtliches und privatrechtliches Gesetz war ebenso starkem Widerstande von entgegengesetzter politischer Seite begegnet, sodann aber im Kompromißwege so abgeschwächt worden, daß es in seiner Anwendung den Betroffenen kaum wehe tut. Dieses in der Praxis sogenannte „Antiterrorgesetz" nennt sich selbst „Bundesgesetz zum Schutz der Arbeits- und Versammlungsfreiheit" und sucht den wirtschaftlichen Boykott sowie sonstige Benachteiligungen Andersgesinnter und -organisierter Arbeiter als jener Arbeitergruppe, der die Mehrheit der Arbeitnehmer in den einzelnen Betrieben angehört, zu bekämpfen. Diesem Zwecke dient unter anderem das gesetzliche Verbot an den Arbeitgeber, Vereins-, Gewerkschafts- oder Parteibeiträge und Spenden von dem dem Arbeitnehmer gebührenden Entgelt abzuziehen oder bei der Auszahlung des Entgeltes in Empfang zu nehmen (und so als Hilfsorgan bestimmter Arbeitnehmergruppen zu fungieren). Verwaltungsrechtlicher Natur sind insbesondere verwaltungsrechtliche Sicherungen gegen Gesinnungszwang in Arbeitsbetrieben, die in der gesetzlichen Form einer Abänderung des Gesetzes über die Errichtung von Einigungsämtern und über kollektive Arbeitsverträge (vom 18. Dezember 1919 BGBl. 16 aus 1920) auftreten. Die interessanteste Neuerung des Gesetzes ist aber wohl die (über den Rahmen dieses Berichtes hinausgehende) strafrechtliche Bestimmung, wonach wegen Vergehens mit strengem Arrest bestraft wird, wer in der Absicht zu bewirken, daß in einem Betrieb nur Angehörige einer bestimmten Berufsvereinigung oder anderen freiwilligen Vereinigung, oder nur Arbeitnehmer, die keiner Berufsvereinigung angehören, beschäftigt werden, die keiner Berufs Vereinigung oder die einer bestimmten Berufsvereinigung oder anderen freiwilligen Vereinigung angehören, Arbeitgeber oder Arbeitnehmer an der Ausführung ihres freien Entschlusses, Arbeit zu geben oder zu nehmen, durch

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Mittel der Einschüchterung oder Gewalt hindert. Also ein spezieller Erpressungstatbestand, der erst den Ausdruck,, Antiterrorgesetz" verständlich macht. Eine gesetzgeberische Maßnahme auf dem Gebiete der Sachenpolizei stellt das Bundesgesetz vom 23. Oktober 1928, BGBl. 297, über den Verkehr und die Gebarung mit Gift (Giftgesetz) dar. Das Gesetz verschärft in jeder denkbaren Weise den Umgang mit Giften und schafft insbesondere soweit wie möglich Kautelen dafür, daß Gifte auf dem Wege von der Erzeugung oder Einfuhr bis zur Verwendung nur in vertrauenswürdige Hände gelangen. Der bisher bloß gewerbepolizeilichen Behandlung des Giftverkehrs tritt eine sanitätspolizeiliche Behandlung zur Seite, wofür z.B. kennzeichnend ist, daß außerhalb des Betriebes von Apotheken die Darstellung, Verarbeitung, der Erwerb und Besitz von Rauschgiften nur solchen befugten Erzeugern chemisch-pharmazeutischer Zubereitungen und solchen Drogengroßhandlungen gestattet ist, die außer einer gewerbebehördlichen Konzession eine besondere Bewilligung des Ministeriums für soziale Verwaltung erhalten haben. Das Gesetz will vor allem - nicht allein - der Rauschgiftseuche zu Leibe rücken. In Angelegenheiten der Bekämpfung des unbefugten Verkehrs mit Rauschgiften wird die Polizeidirektion in Wien als Zentralevidenzstelle eingerichtet. An verkehrspolizeilichen Maßnahmen seien genannt: Das Bundesgesetz vom 20. Dezember 1929, BGBl. 438, über Grundsätze der Straßenpolizei, soweit sie sich nicht auf Bundesstraßen bezieht, wozu Ausführungsgesetze der Länder und übrigens auch schon eine Bundesgesetznovelle vom 21. März 1930, BGBl. 79, ergangen sind. Das Bundesgesetz geht wie die meisten derartigen österreichischen Gesetze - gemäß der die ganze Gesetzgebung der republikanischen Zeit beherrschenden unitarischen Tendenz sehr in die Einzelheiten ein, so daß der Landesgesetzgebung nur noch ein kleiner Spielraum geblieben ist. Das Gesetz enthält einerseits sehr kasuistische Verkehrsregeln für die einzelnen Verkehrsmittel (z.B. zum erstenmal die Vorschrift des Rechtsfahrens, die aber aus finanziellen Gründen - Adaptierung der Verkehrswege, Verkehrszeichen usw. - in weitem Umfang suspendiert wurde), andererseits Vorschriften zum Schutze des Verkehrs, und zwar zum Schutz der Straßen, über die Benützung der Straßen und über Verkehrszeichen sowie Einrichtungen zur Sicherung des Verkehrs. 6 - Wäh6 In diesem Rahmen findet sich eine Bestimmung, die Ursache der Verunstaltung mancher vielbewunderten österreichischen Waldstraßen ist und - im Widerspruch zu der

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rend das besprochene Bundesgesetz rahmenweise den Verkehr auf Landes-, Bezirks- und Gemeindestraßen regelt, hatte sein gesetzgeberisches Gegenstück, das Bundesgesetz vom 8. Juli 1921, BGBl. 387, betreffend die Bundesstraßen, die Regelung der Verkehrspolizei auf Bundesstraßen fast gänzlich auf den Verordnungs weg verwiesen. Das zuletzt erwähnte Gesetz wurde vom Bundesgesetz vom 4. April 1930, BGBl. 111, dahin abgeändert, daß für alle verkehrspolizeilichen Amtshandlungen, die bisher teils der politischen Bezirksbehörde, also einer zur Auftragsverwaltung berufenen Landesbehörde, teils der Bundesstraßen Verwaltung eingeräumt waren, im Amtssprengel von Bundespolizeibehörden diese zuständig gemacht wurden. Das Gesetz ist für das Bestreben symptomatisch, insbesondere in Angelegenheiten der Polizeiverwaltung die namens des Bundes tätigen Landesbehörden zugunsten bundeseigener Behörden zu schmälern. Ausnahmsweise wurden dank einer ungewöhnlich unitarischen Kompetenzlage Bundespolizeibehörden zu verkehrspolizeilichen Agenden auf Landesstraßen berufen. Einen solchen „Einbruch" der Bundespolizeiverwaltung in die Landesstraßenverwaltung unternimmt das Bundesgesetz vom 20. Dezember 1929, BGBl. 439, wirksam für das Bundesland Wien, „über die Berufung der Bundespolizeidirektion in Wien zur Vollziehung auf dem Gebiete der Straßenpolizei auf anderen als Bundesstraßen"; dieses Bundesgesetz trat gleichzeitig mit einem übereinstimmenden (paktierten) Wiener Landesgesetze in Kraft. Das Kraftfahrwesen wurde durch Bundesgesetz vom 20. Dezember 1929, BGBl. 437, geregelt. Das Gesetz trifft im einzelnen Bestimmungen über das Fahrzeug, wie Genehmigungspflicht von Kraftfahrzeugen, Registrierung der zum Verkehr zugelassenen Kraftfahrzeuge, Schutzbestimmungen für den Betrieb, sodann Bestimmungen über die Führung von Kraftfahrzeugen, namentlich die behördliche Ausstellung eines Führerscheines als Bedingung der erlaubten Führung eines Kraftfahrzeuges, sowie Bestimmungen über

ganzen noch zu besprechenden Naturschutzgesetzgebung - nicht bloß vertretbaren Rücksichten der Verkehrssicherheit, sondern auch einem gewöhnlichen Utilitätsgedanken entspringt, daß nämlich Waldungen (Baumbestände) und Gebüsche, die an Straßen grenzen, die dem Durchzugsverkehr dienen, auf Antrag der Straßenverwaltung in einer den Erfordernissen des Verkehres und der Erhaltung der Straße im Einzelfall entsprechenden Entfernung von beiderseitig höchstens 6 Metern abzuholzen oder auszulichten oder nach einer entsprechenden Betriebsweise zu bewirtschaften sind.

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den Verkehr von Kraftfahrzeugen. Eine Verordnung des Bundesministers für Handel und Verkehr vom 17. Juli 1930, BGBl. 243, richtet auf Grund des Kraftfahrgesetzes als begutachtendes kollegiales Organ einen Kraftfahrbeirat ein. Die Schiffahrtspolizei (also nicht der ganze Schiffahrtsverkehr, sondern nur die Obsorge für Ordnung und Sicherheit im Schiffsverkehr) wurde vom Bundesgesetz vom 1. April 1927, BGBl. 121, betreffend die Erlassung schiffahrtspolizeilicher Vorschriften für die Donau und die anderen österreichischen Binnengewässer (Schiffahrtspolizeigesetz) knapp, aber erschöpfend neu geregelt. Als Schiffahrtsbehörden fungieren nach diesem Gesetz in erster Instanz die politische Bezirksbehörde, in zweiter Instanz der Landeshauptmann (beide als Organe der Auftragsverwaltung des Bundes), in dritter Instanz das Bundesministerium für Handel und Verkehr. VII. Die kulturpolitische Gesetzgebung der Berichtszeit brachte vor allem als Abschluß längerer tastender Versuche mit verschiedenen Schultypen die endgültige Reform des Mittelschulwesens und die Einführung der Hauptschulen. Das Bundesgesetz vom 2. August 1927, BGBl. 244 - „Mittelschulgesetz" - regelt in zwingender und erschöpfender Weise die Einrichtung sämtlicher österreichischen Mittelschulen, mögen sie nun, da sie vom Bund, vom Lande oder einer Gemeinde nach dem Prinzipe des Gemeingebrauches und der Interkonfessionalität geführt und erhalten werden, den Charakter öffentlicher Unterrichtsanstalten haben, oder Privatschulen sein, die das Öffentlichkeitsrecht anstreben. Allen Mittelschulen wird der Zweck gesetzt, „ihren Schülern eine höhere Allgemeinbildung zu vermitteln, die sie zum Studium an den Hochschulen befähigt. Als Bildungsanstalten sollen sie die geistigen, sittlichen und körperlichen Kräfte der ihnen anvertrauten Jugend entwickeln und die jungen Menschen in sozialem, staatsbürgerlichem, nationalem und sittlich-religiösem Geiste erziehen". Der österreichische Gesetzgeber war hiebei offenbar bei der Weimarer Verfassung in die Schule gegangen, ohne sich ihr sklavisch anzupassen. Alle Mittelschulen sind achtklassige mittlere Lehranstalten mit einer für das ganze Bundesgebiet einheitlichen Organisation. (Den Ländern und Gemeinden ist es also gemäß dem Verfassungsgrundsatz der Unterrichtsfreiheit ebensowenig wie Privaten verwehrt, neben den allerdings bei weitem überwiegenden Bundesan-

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stalten Landes- und Gemeindemittelschulen zu errichten, sie müssen sich aber jedenfalls den bundesrechtlichen Organisationsvorschriften anpassen.) Die Mittelschulen gliedern sich in vierjährige Unterstufen und vierjährige Oberstufen, die grundsätzlich eine Lehranstalt unter einem Direktor bilden. Der Eintritt in die Mittelschule erfolgt auf Grund freiwilliger Anmeldung und setzt die erfolgreiche Ablegung einer Aufnahmeprüfung voraus. Die Aufnahme in die erste Klasse erfordert die erfolgreiche Beendigung mindestens der vierten Volksschulstufe. Als normale Mittelschultypen werden festgesetzt: Gymnasien, Realgymnasien und Realschulen, für Mädchen auch Frauenoberschulen. Die Lehrpläne werden im Rahmen der gesetzlichen Vorzeichnung der verbindlichen und unverbindlichen Lehrgegenstände vom Bundesminister für Unterricht durch Verordnung festgesetzt. Aus den gesetzlichen Rahmenbestimmungen über die Lehrpläne sei zur Kennzeichnung der Mittelschultypen folgendes hervorgehoben: Der Lehrplan der Gymnasien, Realgymnasien und Realschulen ist in den ersten drei Klassen, der der Realgymnasien und Realschulen auch in der 4. Klasse bis auf den fremdsprachigen Unterricht völlig gleich gestaltet. Der fremdsprachige Unterricht, der mit dem ersten Semester der zweiten Klasse einsetzt, hat in den Gymnasien das Lateinische, in den Realgymnasien das Lateinische oder eine lebende Fremdsprache, in den Realschulen eine lebende Fremdsprache zum Gegenstande. An den Gymnasien setzt in der vierten Klasse der Unterricht im Griechischen ein. An den Realgymnasien und Realschulen wird in der vierten Klasse der realistische Unterricht verstärkt und von der fünften Klasse an eine zweite Fremdsprache gelehrt. Diese ist in den Realgymnasien eine lebende Fremdsprache oder das Lateinische, in den Realschulen eine lebende Fremdsprache. Die Frauenoberschulen haben die Aufgabe, neben der Vermittlung einer höheren Allgemeinbildung ihre Schülerinnen zum Fachstudium für Frauenberufe auf wirtschaftlichem Gebiete und auf den Gebieten der Fürsorge und Volkspflege wie für den häuslichen Wirkungskreis vorzubereiten. Diesem besonderen Lehrziele sind auch die Pflichtgegenstände angepaßt. Das Gesetz übernimmt und anerkennt den bisherigen Zustand, daß Mädchen teils auf sie beschränkte Frauenmittelschulen besuchen, teils - soweit Mädchenmittelschulen entweder überhaupt oder des gewünschten Schultyps nicht bestehen - zu Knabenmittelschulen zugelassen werden. Werden für Mädchen Gymnasien, Realgymnasien oder Realschulen errichtet, so haben sie bei grundsätzlicher Wahrung der Gleichwertigkeit der Eigenart der weiblichen Jugend Rechnung zu tragen. Dies hat sich vor allem in der Auswahl und Verteilung des Bildungsgutes,

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im Lehrvorgang und in der Einführung entsprechender Freigegenstände auszuwirken. Das Gesetz schließt Koedukation nicht aus, begünstigt sie aber auch nicht. Werden Mädchen an Knabenmittelschulen zugelassen, so sind sie bei Bildung von Parallelklassen nach Tunlichkeit in eigene Klassen zusammenzufassen. Den besonderen Interessen von Schülern für bestimmte Lehrfächer ist nach Möglichkeit durch Einrichtung von Freigegenständen sowie unverbindlicher Fachübungen und freier Arbeitsgemeinschaften (gemeinsame Lektüre, Sprachkurse, naturwissenschaftliche Übungen, Kunstbetrachtung, Musikpflege und ähnliches) entgegenzukommen. Durch die skizzierte Neuordnung wurde die bisherige Mannigfaltigkeit des Mittelschulwesens ziemlich vereinfacht. Das Gesetz ermächtigt jedoch den Bundesminister für Unterricht, binnen sechs Jahren außer den besprochenen normalen Typen auch noch Sondertypen versuchsweise einzuführen, die auf ausnahmsweise pädagogisch-didaktische Bedürfnisse abgestellt und für Schülergruppen bestimmt sind, die nicht den normalen Studiengang zurückgelegt haben. ,,Aufbauschulen" haben den Zweck, befähigte Schüler, die erst nach vollendeter Schulpflicht in die Lage kommen, in das Mittelschulstudium einzutreten, in einem besonders eingerichteten fünfjährigen Studiengang zum Bildungsziel der Mittelschule zu führen. Um Personen, die nach Vollendung einer Volks- oder Bürger(haupt)schule in das Berufsleben eingetreten sind und ihre Lehrzeit vollendet oder das 17. Lebensjahr zurückgelegt haben, durch einen besonderen Studiengang den Zutritt zu einer Hochschule zu ermöglichen, können „Arbeitermittelschulen" eingerichtet werden. An einzelnen Mittelschulen können ferner einjährige „Überleitungskurse" eingerichtet werden; diese haben die Aufgabe, begabte Schüler, die nach Zurücklegung der Hauptschule eine entsprechende Vorbildung nicht nachzuweisen vermögen, für den Eintritt in die fünfte Klasse einer Mittelschule vorzubereiten. - Das Bundesgesetz vom 2. August 1927, BGBl. 245, womit einige Bestimmungen des Reichsvolksschulgesetzes vom 14. Mai 1869, RGBl. 62, abgeändert werden („Hauptschulgesetz"), hat die vormaligen „Bürgerschulen" durch „Hauptschulen" ersetzt. Die Hauptschule ist eine gehobene Elementarschule, die in volkreicheren Ortschaften an die Stelle der oberen Jahrgänge der allgemeinen Völksschule tritt. Die Hauptschule hat die Aufgabe, eine über das Lehrziel der allgemeinen Volksschule hinausreichende, abschließende Bildung zu gewähren und ihre Schüler für den Eintritt in das praktische Leben oder in Fachschulen vorzubereiten; überdies soll sie

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fähigen Schülern den Übertritt in die Mittelschule ermöglichen. Die Hauptschule wird in der Regel in zwei Klassenzügen geführt, die sich, entsprechend der Begabung der Schüler, durch den Umfang des zu vermittelnden Lehrgutes und durch den Lehrvorgang unterscheiden. Das Bundesgesetz vom 2. Juli 1930, BGBl. 234, hat der Hochschule für Welthandel in Wien - neben den Bundeshochschulen die einzige private Hochschule Österreichs - unter bestimmten Kautelen für den vollwissenschaftlichen Charakter des Studienbetriebes das Recht zuerkannt, den Grad eines Doktors der Handelswissenschaften zu verleihen. Die Rigorosen- und Promotionsordnung wurde durch Verordnung des Bundesministeriums für Handel und Verkehr (der Unterrichtsbehörde für Handels- und gewerbliche Fachschulen) vom 24. Oktober 1930, BGBl. 317, erlassen. Damit ist die Zahl der an österreichischen Hochschulen erlangbaren Doktorate auf 9 gestiegen: theologisches, philosophisches, juristisches, staatswissenschaftliches, medizinisches, technisches Doktorat, sodann die Doktorate der Bodenkultur, der Tierheilkunde und nunmehr der Handelswissenschaften. Eine viel angefochtene Neuerung jüngster Zeit im Hochschulleben ist die Auflassung der Fachhochschule für Musik und darstellende Kunst, die erst vom Bundesgesetz vom 13. Juli 1923, BGBl. 403, begründet worden war. Die Lehraufgabe dieser Fachhochschule wurde vom Bundesgesetz vom 7. Juli 1921, BGBl. 204, der Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Wien übertragen. Diese Akademie hat somit die hochschulmäßige Lehraufgabe der Ausbildung auf dem Gebiete der Musik und Darstellenden Kunst bis zur höchsten Stufe zu erfüllen, genießt aber nicht die Rechtsstellung einer Hochschule, da sie nicht an der Hochschulautonomie teilhat, sondern wie irgendeine unselbständige Bundesanstalt durch Vermittlung eines ernannten, also von außen oktroyierten Direktors der Diensthoheit des Bundesministeriums für Unterricht untersteht. Eine originelle kulturpolitische Leistung der österreichischen Länder, die in den Fachkreisen des Auslandes viel beachtet wurde, ist endlich deren weitausgreifende und vorausschauende Naturschutzgesetzgebung. Nachdem Niederösterreich, Tirol und das Burgenland vorangegangen waren 7, sind ihnen nach einer längeren Pause, die durch einen Kompetenzstreit

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Vgl. meinen Bericht im Jahrbuch 1927, Bd. XV, S. 146 ff.

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zwischen Bund und Ländern über die Zuständigkeit zum Schutz der Naturdenkmale verursacht war, die Länder Oberösterreich und Salzburg gefolgt. Das oberösterreichische „Naturschutzgesetz" vom 29. November 1927, LGB1. 7, trifft Vorschriften zum Schutz des Landschaftsbildes, zum Schutz des Tier- und Pflanzenreiches und über die Errichtung von Banngebieten. Das Salzburger Naturschutzgesetz vom 16. Mai 1929, LGB1.67, macht sich außerdem wiederum nach dem Vorbild des niederösterreichischen und Tiroler Gesetzes den Schutz der Naturdenkmale zu eigen und findet in diesem Kompetenzanspruch eine Stütze in einem mittlerweile erflossenen Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes, das den gesamten Naturschutz einschließlich des Schutzes der Naturdenkmale den Ländern zugesprochen hat. VIII. Die sozialpolitische Gesetzgebung, die in den ersten Jahren der Republik den anderen gesetzgeberischen Maßnahmen weit vorausgeeilt war, ist mit dem Beginn der Sanierungsaktion (1922) zum Stillstand gekommen. Das soziale Verwaltungsrecht hat sich aber in seiner hart umkämpften Position beinahe unversehrt behauptet. Die Gesetzgebung erschöpfte sich fast ganz in Novellierungen der Sozialversicherungsgesetze, die damit freilich schon zu einem - nur dank den Republikationen der Gesetzestexte noch halbwegs übersichtlichen - Flickwerk geworden sind. Der gesetzestechnische Zustand des Sozialversicherungsrechtes würde sich mit einem Schlage ändern, wenn an die Stelle der in der Hauptsache noch in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückreichenden Spezialgesetze (Arbeiterkrankenversicherung und -Unfallversicherung) das neue und nun doch schon wieder vor seinem Inkrafttreten veraltete Arbeiterversicherungsgesetz vom 1. April 19278 träte, das sozusagen auf Lager erlassen, nämlich mit Rücksicht auf die für Österreich neue, sogleich ziemlich freigebige Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter suspendiert worden war. Selbst die in Kraft gesetzten Gesetzesbestimmungen über eine Altersfürsorgerente waren von dem Bundesgesetz vom 20. Dezember 1928, BGBl. 356, novelliert worden. Da sich die Arbeiterschaft nicht durch den im Arbeiterversicherungsgesetz aufgestellten vagen „Wohlstandsindex" ad Kalendas Graecas mit dem Sur-

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Vgl. meinen Bericht Jahrbuch 1927, Bd. XV, S. 141.

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rogat der Altersfürsorgerente vertrösten lassen wollte, erging das Bundesgesetz vom 12. Juli 1929, BGBl. 247, „betreffend Abänderung des Arbeiterversicherungsgesetzes" zu dem erklärten Zwecke, das Inkrafttreten des Arbeiterversicherungsgesetzes in eine nähere und bestimmtere Zukunft zu rücken. Nach diesem nunmehr geltenden Gesetze hat den Geltungsbeginn des Arbeiterversicherungsgesetzes eine Verordnung der Bundesregierung mit der Maßgabe zu bestimmen, daß diese Verordnung zu erlassen ist, „sobald sich die Möglichkeit ergibt, die Volkswirtschaft durch Reformen auf dem Gebiet der öffentlichen Abgaben derart zu entlasten, daß hierdurch die aus der Durchführung des Arbeiterversicherungsgesetzes erwachsende Mehrbelastung aufgewogen wird". Die Erwartung, daß Steuererleichterungen möglich werden würden, hat sich freilich mit zunehmender Wirtschaftskrise nicht erfüllt, so daß auch zufolge der neuen gesetzlichen Terminierung der Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Alters- und Invalidenversicherung für die Arbeiterschaft so unbestimmt ist wie nur je. Auch der Gedanke, der in letzter Zeit vorgeherrscht hatte, die große Reform (will sagen: einen einschneidenden Abbau) der Arbeitslosenversicherung mit der Inkraftsetzung der Altersund Invalidenversicherung der Arbeiterschaft zu kompensieren, ist zunichte geworden, weil die „große" zu einer „kleinen" Reform der Erwerbslosenversicherung zusammengeschrumpft ist. 9 Diese kleine Reform der Arbeitslosenversicherung ist im Bundesgesetz vom 15. Juli 1931, BGBl. 205 (27. Novelle zum Arbeitslosenversicherungsgesetz) enthalten. Die Neuerungen bezwecken hauptsächlich die Ausmerzung gewisser krasser Mißbräuche, die in der Praxis der Erwerbslosenfürsorge eingetreten waren, durch eine rigorosere Auslese der wirklich erwerbslosen und fürsorgebedürftigen Arbeiter und eine gewisse finanzielle Sicherung dieses nun etwas sparsamer gestalteten Versicherungszweiges. Die wichtigsten neuen Bestimmungen besagen in Kürze: Für Arbeitnehmer, welche die Arbeitslosenunterstützung in Hinkunft erstmalig in Anspruch nehmen und die nicht überwiegend als Arbeitnehmer in versicherungspflichtigen Beschäftigungen tätig zu sein pflegen, beträgt die Anwartschaftszeit 52 Wochen innerhalb der letzten 24 Monate (statt bisher 20 Wochen binnen eines Jahres). Mit dieser Erhöhung

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Der politischen Vertretung der Arbeiterschaft war die Sicherung des Rentenbezuges jener Erwerbslosen, die durch den im Nationalrat im Mai l.J. eingebrachten Regierungsentwurf aus der Versicherung ausgeschieden worden wären, offenbar wichtiger als die Inkraftsetzung der Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter.

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der Anwartschaftszeit soll offenbar der Zustrom aus anderen Berufen, insbesondere aus der Landwirtschaft, zu versicherungspflichtigen Beschäftigungen, die rasch den Anspruch auf eine arbeitslose Rente aus öffentlichen Mitteln begründen, abgeriegelt werden. Gemildert ist diese Verschärfung dadurch, daß selbst dem umschriebenen Personenkreis unter gewissen im Gesetz taxativ aufgestellten Bedingungen die Unterstützung bis zu 12 Wochen jährlich bewilligt werden kann. Aus der Versicherung gänzlich ausgeschaltet werden Personen, die bei Bauten auf flachem Lande, die aus öffentlichen Mitteln aufgeführt werden, beschäftigt sind, sofern es sich nicht um Arbeiter handelt, die überwiegend als Arbeitnehmer in versicherungspflichtigen Beschäftigungen tätig zu sein pflegen. Damit werden Nutznießer der Versicherung (vorzugsweise aus den Kreisen der landwirtschaftlichen Bevölkerung) ausgeschaltet, die sich bei öffentlichen Bauten, namentlich Straßenbauten, auf kurze Zeit nur zu dem Zwecke zu verdingen pflegten, um in den Genuß der Arbeitslosenversicherung zu gelangen. Das heikle, vielerörterte Saisonarbeiterproblem wurde in der Weise gelöst, daß die Unterstützungen der Saisonarbeiter, deren Saisonverdienst gewisse Mindestbeträge erreicht hat, in der ,,toten Saison" (1. Dezember bis 31. März) gekürzt, ihre Beiträge aber erhöht wurden. Die angestrebte Riskentrennung zwischen Saisonarbeitern und anderen Arbeitern sowie insbesondere zwischen Angestellten und Arbeitern wurde nicht eingeführt. Die letzte wichtige Einschränkung der Versicherungsleistungen besteht in der Beschränkung der Arbeitlosen Versicherung Jugendlicher, die nach dem Regierungsentwurf überhaupt zur Gänze aus der Versicherung ausgenommen werden sollten. Arbeitslosen, die das 17. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, gebührt die Arbeitslosenunterstützung nur dann, wenn sie mangels Angehöriger, die verpflichtet und in der Lage sind, ihnen den Lebensunterhalt zu gewähren, gezwungen sind, sich selbst zu erhalten, oder einer Einrichtung zur Nachschulung zugewiesen werden, die sie voll beschäftigt. Als oberste Grenze der Arbeitslosenunterstützung wurden 80 vom Hundert jenes Betrages festgesetzt, den der Arbeitslose in seiner letzten versicherungspflichtigen Beschäftigung bezogen hat; als Wochenarbeitsverdienst gilt das Sechsfache des Tagesverdienstes. Für den Aufwand der Arbeitslosenunterstützung leistet der Bund nicht bloß, wie bisher, einen Verwaltungskostenbeitrag, sondern auch ,,in Zeiten außerordentlicher Arbeitslosigkeit" einen „Krisenbeitrag". Dieser wird mit einem Drittel des Betrages festgesetzt, um den der durch Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu deckende Aufwand der Arbeitslosenversicherung in einem Kalenderjahr 100 Millionen Schilling

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übersteigt. Die Forderung nach Einbeziehung der von der Holzabsatzkrise besonders betroffenen Forstarbeiter in die Arbeitslosenversicherung ist zwar unerfüllt geblieben, doch widmet das Gesetz für die Unterstützung arbeitsloser Forstarbeiter aus Bundesmitteln, doch zu Lasten des Aufwandes für die Arbeitslosenversicherung, alljährlich Bundesbeiträge, die nach dem Schlüssel der Zahl der arbeitslosen Forstarbeiter unter der Voraussetzung einer finanziellen Mitbeteiligung der Bundesländer auf diese aufzuteilen sind. - Dagegen hat bereits ein Bundesgesetz vom 18. Juli 1929, BGBl. 235, die Kranken- und Unfallversicherung der Land- und Forstarbeiter eingeführt, freilich erst, nachdem diese Arbeitergruppen vier Jahrzehnte lang aus den genannten Versicherungszweigen ausgenommen gewesen waren. - Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhange schließlich zwei von der Republik Österreich abgeschlossene Staatsverträge, die Fragen des Sozialversicherungsrechtes betreffen: Das Genfer Übereinkommen über die Krankenversicherung der Arbeitnehmer in Gewerbe und Handel und der Hausgehilfen und über die Krankenversicherung der Arbeitnehmer in der Landwirtschaft. Dieses auch vom Deutschen Reiche ratifizierte Übereinkommen wurde von Österreich am 5. Februar 1929 ratifiziert und ist für Österreich am 19. Mai 1929 verbindlich geworden (BGBl. 102 aus 1929). Ferner der Vertrag zwischen dem Deutschen Reiche und der Republik Österreich über Sozialversicherung; dieser Staatsvertrag wurde von Österreich am 27. Januar 1931 ratifiziert und ist, soweit er nicht die Invalidenversicherung betrifft, am 1. April 1931 in Kraft getreten (BGBl. 128 aus 1931); soweit der Vertrag die Invalidenversicherung betrifft, wird er mit den Zeitpunkten in Kraft treten, mit denen das österreichische Arbeiterversicherungsgesetz und das österreichische Landarbeiterversicherungsgesetz voll in Kraft gesetzt werden. IX. Die wirtschaftsrechtlichen Gesetze der Berichtszeit sind teils auf weite Sicht berechnete Grundsatzgesetze in Angelegenheiten, in denen den Ländern die Ausführungsgesetzgebung zusteht, teils wirtschaftsfördernde Maßnahmen mit einem sachlich und meist auch zeitlich eng begrenzten Verwaltungszweck, teils Notstandsmaßnahmen aus einem dringenden aktuellen Anlaß. Zur ersten Gruppe gehören insbesondere das Pflanzenschutzgesetz und das Elektrizitätsgesetz. Das Bundesgesetz vom 12. Juli 1929, BGBl. 252, ,,über Grundsätze und einige Sonderbestimmungen zum Schut-

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ze der Kulturpflanzen und ihre Zucht (Pflanzenschutzgesetz) 44 trifft in der für die österreichische Grundsatzgesetzgebung charakteristischen kasuistischen Weise Bestimmungen zum Schutz der landwirtschaftlichen und gärtnerischen Kulturen gegen Pflanzenkrankheiten und tierische und pflanzliche Schädlinge. Insbesondere werden die Grundeigentümer verpflichtet, einerseits selbst ihre Grundstücke möglichst krankheits- und schädlingsfrei zu halten, andererseits behördliche Vorbeugungs- und Bekämpfungsmaßnahmen entschädigungslos zu dulden, ja selbst zu deren Kosten, in der Regel nach dem Schlüssel der in die Bekämpfungsmaßnahmen einbezogenen Grundflächen, beizutragen. Außerdem trifft das Gesetz im ausschließlichen Wirkungskreise des Bundes Ein-, Aus- und Durchfuhrbestimmungen zum Zweck des Pflanzenschutzes und Beschränkungen des Handels mit Obstbäumen, Obststräuchern und Reben. Das Elektrizitätsgesetz vom 2. Juli 1929, BGBl. 250, ist zum Ersätze des Elektrizitätswegegesetzes vom 7. Juni 1922, BGBl. 348, bestimmt und wurde durch die von der 1. Bundesverfassungsnovelle (1925) begründete neue Kompetenzordnung in Elektrizitätsangelegenheiten nötig, wonach der Bund ausschließlich zuständig ist für: Normalisierung und Typisierung elektrischer Anlagen und Einrichtungen, Sicherheitsmaßnahmen auf diesem Gebiete, sowie Starkstromwegerecht, soweit sich die Leitungsanlage auf zwei oder mehrere Länder erstreckt (Art. 10 Abs. 10 B-VG), in den übrigen Elektrizitätsangelegenheiten jedoch der Bund zur Erlassung von Bundesgrundsatzgesetzen, die Länder zur Erlassung von Ausführungsgesetzen und zur Vollziehung zuständig sind. Dieser Kompetenzgliederung gemäß stellt das in Rede stehende Bundesgesetz in seinem ersten Teile Grundsätze für das Elektrizitätswesen der Länder auf, während es in seinem zweiten Teile das Elektrizitätswesen des Bundes erschöpfend regelt. Der erste Teil regelt grundsätzlich das Recht der Stromlieferungsunternehmungen, das sind Unternehmungen zur Erzeugung oder Leitung elektrischer Energie zum Zweck der entgeltlichen Abgabe an andere - zumUnterschied von Eigenanlagen, das sind Anlagen zur Erzeugung oder Leitung elektrischer Energie für den eigenen Bedarf des Inhabers, ferner, und zwar ebenso bloß grundsätzlich, das Starkstromwegerecht, soweit sich die Leitungsanlagen nicht auf zwei oder mehrere Länder erstrecken. Stromlieferungsunternehmungen werden zum Unterschied von Eigenanlagen von einer Bewilligung der Landesregierung - unabhängig von der bundesbehördlichen Genehmigung vom Standpunkt der Sicherheit sowie der Vorschriften über die Normalisierung und

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Typisierung elektrischer Anlagen - abhängig gemacht. Die elektrizitätsbehördliche Bewilligung ist ihrem Umfange nach in zwei Grade abgestuft. Auf die Bewilligung zur unmittelbaren Versorgung eines örtlich umschriebenen Gebietes mit elektrischer Energie hat der Bewerber einen bedingten Anspruch, auf sonstige Bewilligungen nicht. Die Pflichten der Stromlieferungsunternehmungen sind: Die Verpflichtung zur Abgabe von elektrischer Energie innerhalb des ihnen eingeräumten Versorgungsgebietes, die Verpflichtung, innerhalb eines Versorgungsgebietes Anschlüsse an ein Ortsnetz auszuführen, das Verbot willkürlicher Unterbrechung oder Einstellung des Betriebes, Pflicht zur raschesten Behebung von Betriebsstörungen, Verbot gewisser Geschäftsbedingungen für die Lieferung von Elektrizität. Überdies unterliegen die allgemeinen Stromabgabebedingnisse und das zulässige Höchstausmaß der Tarife von Stromlieferungsunternehmungen, falls sie Leitungs- oder Enteignungsrechte in Anspruch nehmen, der Genehmigung der Landesregierung. Für Starkstromanlagen, deren Leitungsanlagen sich innerhalb eines Landes halten, sieht das Bundesgesetz grundsatzweise Leitungsrechte und Enteignungsrechte vor. Im Rahmen der ausschließlichen Bundeskompetenz trifft das Elektrizitätsgesetz Bestimmungen über die Normalisierung und Typisierung elektrischer Anlagen, ferner Sicherheitsvorschriften, endlich erschöpfende Bestimmungen über das Starkstromwegerecht, soweit sich die Leitungsanlagen auf zwei oder mehrere Bundesländer erstrecken. Insbesondere ist vorgeschrieben, bei der Errichtung neuer und bei durchgreifenden Änderungen bestehender Starkstromanlagen soweit als möglich die technische Einheitlichkeit der elektrischen Einrichtungen innerhalb des Bundesgebietes, namentlich hinsichtlich Stromart, Periodenzahl und Stromspannung herzustellen; zu diesem Zwecke kann der Bundesminister für Handel und Verkehr im Verordnungswege Vorschriften erlassen. Auch die Sicherheitsvorschriften für Starkstromanlagen sind innerhalb gewisser vom Gesetze gegebener Direktiven auf den Verordnungsweg verwiesen. Die Errichtung, Änderung und Erweiterung von Starkstromanlagen bedarf, ungeachtet sonst erforderlicher Bewilligungen oder Genehmigungen vom Standpunkt der Sicherheit sowie der Vorschriften über die Normalisierung und Typisierung elektrischer Anlagen, einer Genehmigung, die - unter Beobachtung eines vom Gesetz eingehend gergelten Verfahrens - je nach der Art der Anlage, vor der politischen Bezirksbehörde, vom Landeshauptmann oder vom Bundesminister für Handel und Verkehr zu erteilen ist. Die Regelung des Starkstrom-

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wegerechtes, soweit sich die Leitungsrechte auf zwei oder mehrere Bundesländer erstrecken, hat wiederum, nun aber erschöpfend, die Leitungsrechte, und zwar Inhalt der Leitungsrechte, Wirksamkeit der Leitungsrechte, Entschädigung bei der Einräumung von Leitungsrechten, ferner die Enteignung für solche Leitungsanlagen zum Gegenstande. Endlich regelt das Gesetz den Austausch elektrischer Energie mit dem Ausland, sieht die Schaffung eines Elektrizitätsbuches vor und führt zur Beratung der Bundesregierung in Angelegenheiten des Elektrizitätswesens einen Elektrizitäsbeirat ein. - Das Luftverkehrsförderungsgestz vom 18. Juli 1929, BGBl. 261, das Erdölförderungsgesetz vom 17. Januar 1929, BGBl. 75, die Weinbauförderungsgesetze (letztes vom 17. Juli 1931, BGBl. 221), endlich die Investitionsbegünstigungsgesetze (letztes vom 30. Dezember 1930, BGBl. 6 aus 1931) deuten ihren Inhalt und Zweck hinlänglich durch ihre Gesetzestitel an; die vorwiegenden Mittel dieser Gesetze sind Steuerbegünstigungen, Subventionen, verfahrensmäßige Erleichterungen u.dgl. - Ein Bundesgesetz vom 16. Juli 1930, BGBl. 220, „betreffend außerordentliche Hilfsmaßnahmen zur Linderung des landwirtschaftlichen Notstandes" hat den Bundesminister für Land- und Forstwirtschaft ermächtigt, bis 30. Juni 1931 für außerordentliche Hilfsmaßnahmen zur Linderung der Not der Landwirtschaft durch Gewährung von Anbauprämien für den Getreidebau und zur Unterstützung der Brotgetreide Verarbeitung sowie zur Gewährung einer außerordentlichen Hilfe an die Gebirgsbauernschaft Bundesmittel bis zur Höchstsumme von 96 Millionen Schilling aufzuwenden. 10 Das Bundesgesetz vom 14. Januar 1929, BGBl. 200 „betreffend die Förderung der Wohnbautätigkeit und Abänderung des Mietengesetzes (Wohnbauförderungs- und Mietengesetz)", hat seinem Titel nach einen doppelten Gegenstand, von dem für die vorliegenden Betrachtungen nur der erste (als verwaltungsrechtlicher Natur) in Frage kommt. Das Gesetz hat zur Ermöglichung des durch den fortgesetzten

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Diese Summe, die für die österreichischen Finanzen in dem Maße ins Gewicht fällt, als wenn das Deutsche Reich in einem Jahre für einen neuen unvorhergesehenen Verwendungszweck nahezu 600 Millionen Mark aufwendete, diente teils zu einer allgemein als gerechtfertigt befundenen, nur allzu sehr zersplitterten und darum wenig ausgiebigen Subvention an die stark verschuldete Kleinbauernschaft, teils aber auch zu politischen Geschenken an kapitalskräftige Kreise wie Großmühlenbesitzer. Das Notopfer zugunsten dieser Schichten hat die Stimmung für das kurz danach geforderte Notopfer zu Lasten anderer Bevölkerungskreise, wie insbesondere der Beamtenschaft, begreiflicherweise schlecht vorbereitet.

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Mieterschutz fast völlig lahmgelegten privaten Wohnungsbaues für Orte, in denen Wohnungsnot besteht, zur Errichtung von Wohnhäusern, deren Bau bis zum 31. Dezember 1931 begonnen wird, bei Erfüllung gewisser Voraussetzungen zu ungewöhnlich günstigen Bedingungen, z.B. 1% Zinsen vom Darlehensbetrag, Bundeszuschüsse in Aussicht gestellt; diese sind mittlerweile zur Gänze bewilligt worden. Der zweite Teil des Gesetzes enthält privatrechtliche Bestimmungen, die auf eine wohlerwogene, zurückhaltende Lockerung des Mieterschutzes hinauslaufen; am meisten war die Bestimmung umstritten, die etappenweise bis 1931 eine Erhöhung des Mietzinses auf 30 Groschen pro Friedenskrone, also auf noch nicht ein Fünftel des „Friedenszinses" zuläßt. Österreich ist also sozusagen die Insel des Mieterschutzes in Europa. Im Dienste der Wohnungspolitik steht auch das Bundesgesetz vom 14. Juni 1929, BGBl. 102, betreffend die Enteignung zu Wohnungs- und Assanierungszwecken. - Sanitätsrechtlicher, seiner Tendenz nach aber wirtschaftspolitischer Natur, weil der Hebung des Fremdenvekehrs dienend, ist endlich das Bundesgesetz vom 21. März 1930, BGBl. 88 (Heilquellen- und Kurortegesetz), das in diesem Zusammenhang einfach genannt sei. X. Ganz aus dem gewohnten systematischen Rahmen fällt die Bauordnung des Landes Wien vom 25. November 1929, LGB1.11 von 1930. Mit diesem Gesetze hat das Land Wien - allen anderen österreichischen Ländern weit vorangehend - seine mehr als rückständige, schon vor einem halben Jahrhundert von der Regierung als reformbedürftig erkannte Bauordnung aus dem Jahre 1883 (!) durch eine zur Gänze erneuerte Bauordnung ersetzt, die so ziemlich das modernste derartige Gesetzeswerk ist - an deutschen Gesetzeswerken ist am ehesten der Entwürfe ines preußischen Städtebaugesetzes vergleichbar - und das Interesse der Städtebautechniker von nah und fern erweckt hat. Bezeichnend für das Gesetz ist immerhin der Ansturm, dem sein allerdings stark gemilderter Entwurf von bürgerlicher Seite mit der Begründung begegnet war, daß er durch unerfüllbare Anforderungen in bezug auf den Wohnungsbau jede private Wohnbautätigkeit unterbinden und neben dem faktischen auch ein rechtliches Baumonopol für die rein sozialistische Gemeindeverwaltung begründen wolle. Diesem gewiß übertriebenen Einwand trägt das vorliegende Gesetz zwar durch die Zulassung von Ausnahmen im Verwaltungswege und durch Ausmerzung der als besonders

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III.A. Verwaltungsrecht

eigentumsfeindlich kritisierten Bestimmungen Rechnung. Das Gesetz hat aber doch den verfassungsmäßigen Einspruch der Bundesregierung ausgelöst, dessen ungeachtet es in Kraft gesetzt wurde. Redaktionstechnisch ist an der Wiener Bauordnung (zum Unterschied von den meisten Bauordnungen des Deutschen Reiches) bemerkenswert, daß sie die beiden Probleme der Stadtplanung und der Bauführung nebeneinander, und zwar durchaus durch detaillierte, formellgesetzliche Vorschriften löst, die von Verordnungsblanketten nur insoweit unterbrochen sind, als man einer voraussehbaren technischen Entwicklung Raum geben will. Die bautechnischen Vorschriften wiederum beschränken sich nicht im entferntesten auf baupolizeiliche Maßnahmen, sondern sind mindestens in demselben Maße durch hygienische und ästhetische Rücksichten diktiert. Selbstverständlich fehlt keine irgendwie zweckmäßige Enteignungsermächtigung. Das Gesetz ist in allen seinen Einzelheiten, von denen hier aus Raumgründen abgesehen werden muß, von den beiden Leitgedanken einer rationellen Verbauung des Baulandes und der Hebung der bisher ziemlich darniederliegenden Wohnkultur beherrscht. XL Der organisatorischen Gesetzgebung hatte begreiflicherweise die Gesetzgebung der ersten Jahre der Republik so gut wie nichts zu tun übrig gelassen, denn in diesen Jahren war es ja unausweichliche Aufgabe der Gesetzgebung gewesen, die Organisation des Staates den neuen staatsrechtlichen Verhältnissen anzupassen. Die vereinzelten organisationsrechtlichen Akte der letzten Jahre stellen sich fast nur als Rücknahme von Neuerungen der Republik dar. Dies gilt vor allem vom Bundesgesetz vom 2. August 1927, BGBl. 264, über die Errichtung eines Bundesministeriums für Justiz. Die gesetzeskräftige Verordnung der Bundesregierung vom 9. April 1923, BGBl. 199, hatte im Gefolge der Genfer Protokolle (1922) zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung die Geschäfte eines Ministeriums des Innern, des Äußern und der Justiz nebst denen eines Ministerpräsidiums im Bundeskanzleramt vereinigt und hatte mit dieser Konzentration verschiedenartiger Verwaltungszweige gewiß über das Ziel einer Verwaltungsrationalisierung hinausgeschossen. Diese unorganische Neuordnung wurde vier Jahre später durch das erwähnte Gesetz teilweise derart rückgängig gemacht, daß die Justizverwaltung hinsichtlich der ordentlichen Gerichte - nicht auch hinsichtlich des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes - dem Bundes-

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kanzleramt abgenommen und einem nach jahrzehntelangem Vorbild neubegründeten Justizministerium übertragen wurde. - Die Entwicklung des Beamtenrechtes war nach rastlosem Experimentieren durch das Besoldungsgesetz vom 18. Juli 1924 zum Stillstand gekommen. Nur brachten drei Novellen der Jahre 1926,1927 und 1929 prozentuelle, geringfügige lineare Erhöhungen der Beamtenbezüge, die selbst auf dem im Dezember 1929 erreichten Höhepunkt - von den niedrigsten Bezugsstufen abgesehen noch wesentlich hinter dem Vorkriegsstande zurückgeblieben waren. Die Gehaltskürzungen der deutschen Reichsbeamten waren das Signal für gleichgerichtete Bestrebungen der österreichischen Wirtschaftsführer, welche die Bundesregierung sozusagen als Vorspann für die von ihnen beabsichtigten Lohnkürzungen benützen wollten. Unter dem Eindrucke der bedrohlichen Steuerrückgänge und des empfindlichen Einnahmeausfalls im Betriebe der Bundesbahnen, die zum erstenmal seit der Sanierung der Bundesfinanzen (1923) für das Jahr 1931 einen Ausfall im Bundeshaushalt erwarten lassen, verdichteten sich die erwähnten Bestrebungen im Mai 1931 zu zwei Regierungsvorlagen an den Nationalrat, deren eine eine lineare 5prozentige Gehaltskürzung der Bundesangestellten, deren andere eine auch auf andere öffentliche Dienstnehmer und auch auf private Fixbesoldete ausgedehnte Besoldungssteuer vorschlug. Der Widerstand gegen diese Regierungsvorschläge wurde jedoch durch den Hinweis auf die trotz der eingetretenen Finanzkrise fortlaufend liquidierten Beträge aus dem Titel des landwirtschaftlichen Notopfers und durch die der Kreditanstalt gewährten Hilfe aus Bundesmitteln so verstärkt, daß die endgültigen Gesetze das der Bundesbeamtenschaft zugemutete,,Notopfer" im Vergleich mit den Regierungsvorschlägen wesentlich abgeschwächt haben. Das Bundesgesetz vom 16. Juli 1931, BGBl. 212, über die Verminderung der Personallasten im Jahre 1931 läßt alle Bezüge der Bundesangestellten mit Ausnahme der sog. ,,Weihnachtszulage" (im Ausmaße von 30% eines Monatsbezuges) unangetastet und mindert diese ,,Sonderzulage" je nach dem Familienstande um ein bis zwei Drittel ihres Betrages, und zwar nur für das Jahr 1931. Das Bundesgesetz vom 16. Juli 1931, BGBl. 213, über die Einführung einer Besoldungssteuer unterwirft in der Hauptsache Dienstbezüge oder Ruhegenüsse aus einem zeitlich unbeschränkten oder wenigstens auf 20 Jahre abgestellten Dienstverhältnis, wenn sie den Jahresbetrag von 3000 S übersteigen, einer Steuer von 1,1 bis 10 Prozent des Einkommens, wobei aber selbst die Höchstbezüge eines Bundesangestellten erst unter die Steuerstufe von 3 Prozent fallen. - Das Bundesgesetz vom 30. Oktober 1929,

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BGBl. 361 („Mietzinsbeihilfengesetz") hat aus Anlaß der Lockerung des Mieterschutzes den Angestellten und Pensionisten des Bundes nach den Bezugsgruppen stark differenzierte und zu den einzelnen zulässigen Mietsteigerungsterminen ansteigende Mietzinsbeihilfen gewährt, die freilich den durchschnittlichen Mehraufwand für Miete nicht wettzumachen vermögen. - Ein Symptom der Krise ist das Bundesgesetz vom 17. Juli 1931, BGBl. 217 „betreffend die Kündigung von Dienstverträgen der Bundestheater", womit die Bundestheaterverwaltung ermächtigt wurde, Schauspielerverträge über bestimmte Gehaltsgrenzen hinaus ungeachtet bestehender Vertragsverpflichtungen kurzfristig zu kündigen: Abbau der Stargagen ist das Motto dieses Gesetzes. - Im großen und ganzen hat die Erfahrung gezeigt, daß die in Österreich seit dem Umsturz bewahrte Kontinuität des parlamentarischen Lebens größere Gesellschaftsgruppen, die als Wählermassen ins Gewicht fallen, vor einer ernstlichen Herabdrückung des einmal erreichten sozialen und ökonomischen Niveaus zu bewahren vermocht hat. Der sogenannte Generalangriff auf die „sozialen Rechte", will sagen auf den in der gegenwärtigen Verwaltungsrechtslage verankerten, gewiß nicht üppigen Lebensfuß der verschiedenen Lohn- und Rentenempfänger war zum Scheitern verurteilt, weil er auf die parlamentarische Tribüne übertragen werden mußte. Das Ansteigen der Wirtschaftskrise und die hiermit ins Bereich der Möglichkeit gerückte Finanzkrise verwehrt allerdings eine Prognose selbst über die nächste Zukunft der einschlägigen grundlegenden Einrichtungen des Verwaltungsrechtes. XII. Die Gesetzgebung der österreichischen Republik hat zum weitaus überwiegenden Teile Verwaltungsrecht zum Inhalte. Es gilt dies nicht bloß von den österreichischen Ländern, die nach der verfassungsmäßigen Kompetenzordnung fast ausschließlich auf Verwaltungsgesetzgebung beschränkt sind, sondern ebenso auch vom Bunde, insoferne als dieser die große legislative Aufgabe der allmählichen Erneuerung des aus der Monarchie übernommenen Rechtes zuerst am Verwaltungsrechte erfaßt und großzügig in Angriff genommen hat. Quantitativ reicht zwar der republikanische Neubau des Verwaltungsrechtes an die noch aufrecht bestehenden, ihrem Ursprünge nach monarchischen Bestandteile der Verwaltungsrechtsordnung noch nicht heran, qualitativ sind jedoch die republikanischen Neuerungen an der Verwaltungsrechtsordnung so bedeutsam, daß sie dem Ge-

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samtbilde des Verwaltungsrechtes und noch mehr der Verwaltungspraxis ein viel einschneidender verändertes Gepräge geben als die justizrechtlichen Änderungen der Justiz und ihrem Rechte. Diese Ergiebigkeit der Verwaltungsgesetzgebung der Republik ist für das Rechtsleben um so bedeutsamer, als die Gesetzgebung der Republik an der Tradition der Monarchie festgehalten hat, für mancherlei Staatsaufgaben, die anderweitig auf den ,,Rechtsweg" (gleich Justizweg) verwiesen sind, den Verwaltungsweg zu bevorzugen, so daß die österreichische Verwaltung in ihrer Kompetenzabgrenzung gegen die Justiz nach wie vor günstiger abschneiden dürfte als in den anderen deutschen Ländern. Die Verwaltungsgesetzgebung der Republik scheidet sich in zwei durch eine deutliche Zäsur unterbrochene Zeitabschnitte. Der erste Zeitraum fällt mit der Periode der Geldentwertung zusammen und ist durch ein starkes Anschwellen der Verwaltungsaufgaben und demgemäß eine starke Zunahme des Verwaltungsrechtsstoffes gekennzeichnet. Der zweite Zeitraum beginnt mit der Sanierungsaktion im Gefolge des Staatsvertrages von Genf vom 4. Oktober 1922, BGBl. 842, und der zugleich eingetretenen Stabilisierung des Geldwertes, und ist durch einen gewissen Abbau der Verwaltung und einen Umbau des Verwaltungsrechtes gekennzeichnet. Es wäre indes ein Mißverständnis, die Gesetzgebung der Inflationsperiode als eine gesetzgeberische Inflation zu verstehen. Die Inflationszeit drückt sich nur in einer gewissen Hypertrophie der gesetzgeberischen Tätigkeit und in einer durch die Fülle und Hast der Gesetzgebung erklärlichen Mangelhaftigkeit der Gesetzestechnik aus. Inhaltlich ist die Leistung der Verwaltungsgesetzgebung der ersten Jahre der Republik, zumal in Anbetracht der Finanzkrise, die den Charakter einer Existenzkrise hatte, gewiß beachtenswert und zum Teil geradezu unvergänglich. Zumal die sozialpolitische Gesetzgebung ist über jeden Zweifel an ihrer Großzügigkeit und prinzipiellen Erwünschtheit erhaben - nur die Tragfähigkeit der schwachen Wirtschaft für die ganze Summe des geschlossenen Systems sozialer Lasten wurde und wird von gewisser Seite bezweifelt. Und wie überhaupt die Rechtmäßigkeit des Staatslebens von allen Parteien, die für die Führung der Staatsgeschäfte die Verantwortung übernommen haben, trotz mancher sonstiger Irrungen und Entgleisungen peinlich gewahrt wurde, - bezeichnend ist, daß die Rechtskontinuität seit dem Geburtstage der Republik seit dem 30. Oktober 1918, trotz jahrelanger politischer und finanzieller Staatskrise kein einziges Mal durchbrochen, die demokratisch-republikanische Verfassung keinen einzi-

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gen Tag von rechts oder links suspendiert worden ist so war auch die Verwaltung in ungewöhnlicher Weise vom Gedanken der Gesetzmäßigkeit beherrscht: die zahllosen Verwaltungsgesetze, auch aus den Anfängen der Republik, sind, mochten sie noch so einschneidend und weittragend sein, selbst unter geänderten Mehrheitsverhältnissen aufrecht geblieben und durchgeführt worden. Ein abweichendes Schicksal erfuhren nur die Sozialisierungsgesetze aus dem Jahre 1919. Auch sie wurden zwar formell in Kraft belassen und finden auf die vereinzelten, ihnen gemäß sozialisierten Betriebe Anwendung. Nur wird von ihren nach wie vor zu Recht bestehenden Ermächtigungen für Sozialisierungsmaßnahmen, namentlich zu Enteignungen, seit vielen Jahren nicht mehr Gebrauch gemacht, - was bei bloßen Kompetenznormen rechtlich selbstverständlich durchaus einwandfrei ist. Die Sanierungsaktion des Völkerbundes hat der geschilderten Produktivität der Verwaltungsgesetzgebung, die sich in der Schöpfung immer neuer Verwaltungsaufgaben geäußert hat, ein Ziel gesetzt. Das hat aber nicht ein vorläufiges Ende der Verwaltungsgesetzgebung überhaupt, sondern nur eine Wendung ihres Wesenszuges bedeutet. Vor allem kam das retardierende Moment der zwangsweisen Einschränkung der Quantität der Gesetze ihrer Qualität zugute. Gab es nicht mehr ganz neues Feld zu beackern, so konnte ferner nunmehr daran gegangen werden, den alten Bestand des Verwaltungsrechtes dort, wo er am unzeitgemäßesten ist, vornehmlich den aus der Zeit des absoluten Polizeistaates, zu erneuern. Neben manchen anfechtbaren gesetzgeberischen Maßnahmen, die im Zuge der Sanierungsaktion unter außerpolitischem Druck getroffen und hingenommen werden mußten, ist dank dem in dieser Richtung wohltätigen Zwange der Sanierungsaktion das bedeutendste Werk der österreichischen Verwaltungsgesetzgebung aller Epochen und neben der Bundesverfassung das bedeutendste gesetzgeberische Werk der Republik überhaupt zustande gekommen: die sogenannten Gesetze zur Vereinfachung der Verwaltung, für die in Theorie und Praxis die Bezeichnung ,, Verwaltungsreformgesetze" geläufig ist. Hat der letzte Bericht der Jahrbücher 11 über die österreichische Verwaltungsgesetzgebung die oben im Gesamtüberblick charakterisierte erste Periode der republikanischen Verwaltungsgesetzgebung und die ersten tasten-

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Vgl. weiter oben.

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den Maßnahmen der Sanierungsperiode umfaßt, so muß der folgende Bericht, wenn er die immerhin nicht spärlichen und inhaltlich mannigfaltigen Verwaltungsgesetze aus den Jahren 1924 bis 1927 entsprechend ihrem rechtlichen Gehalt und juristischen Interesse würdigen will, in der Hauptsache und vor allem den eben zitierten ,,Gesetzen zur Vereinfachung der Verwaltung" vom 21. Juli 1925 gewidmet sein. XIII. Der Titel der „Gesetze zur Vereinfachung der Verwaltung" wird ihrem Inhalte nichts weniger als gerecht. Er erklärt sich aus dem Bedürfnisse, wenigstens äußerlich den Zusammenhang mit der Sanierungsaktion herzustellen, die in der Tat der unmittelbare Anstoß für dieses Gesetzeswerk war, das freilich in seinem Ursprung und in seinen Zielen weit über eine bloße Sanierungsmaßnahme hinausragt und unter den vielerlei Neuerungen dieser Zeit gewiß das Bleibende sein wird. Dazu bestimmt sie schon die jahrelange überaus gewissenhafte Vorbereitung der Gesetzesvorlage in der Verwaltunsreformabteilung des Bundeskanzleramtes und die gründliche, ausnahmsweise rein sachlich eingestellte Vorberatung der Vorlagen im Verfassungsausschusse des Nationalrates: eine kodifikatorische Arbeit, die ein Gesetzeswerk aus einem Guß und von seltener Originalität gezeitigt hat, ein Gesetzeswerk, das die Praxis in mehr als einjähriger Erfahrung vollauf befriedigt und von der Theorie fast vorbehaltlose Zustimmung erfährt. Nicht zuletzt verdient zur allgemeinen Charakteristik des in Rede stehenden Gesetzeswerkes Erwähnung, wenngleich hiemit ein - dem juristischen Kenner freilich offen liegendes - Geheimnis verraten wird, daß die Gesetze unter Bedachtnahme auf die Erfordernisse und Möglichkeiten des künftigen Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich und bereits im Hinblick auf seine voraussichtliche Stellung als Gliedstaat des Deutschen Reichs verfaßt worden sind. Durch seinen Titel trägt das Gesetzeswerk der Forderung des Tages nach Vereinfachung der Verwaltung, die der Anlaß und Anstoß seiner Gesetzwerdung war, Rechnung, seinem Inhalte nach bedeutet es aber ungleich mehr als eine Ersparungsaktion, nicht weniger als die Erfüllung der Forderung nach einer Verwaltungsreform, die bereits kurz nach der endgültigen Ein-

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führung des konstitutionellen Systems durch die Verfassung vom 21. Dezember 1867 erhoben worden, jedoch in dem halben Jahrhundert des Bestandes der konstitutionellen Monarchie und während einer Jahrwoche der Republik unerfüllt geblieben war. Das Ziel dieser Forderung einer Verwaltungsreform war vor allem eine Reform des Administrativverfahrens. Dieses war bisher durch eine bunte Reihe unübersichtlicher und unzeitgemäßer Prozeßvorschriften - zum größten Teil aus der Zeit der absoluten Monarchie - geregelt, die eine Fülle der vom Justizprozeßrecht eingehend behandelten Prozeßrechtsfragen überhaupt unbeantwortet gelassen hatten. Gerade diese Lückenhaftigkeit war wohl das Geheimnis der Langlebigkeit dieses altüberkommenen Rechtszustandes, denn sie erlaubte dem verwaltungsbehördlichen Ermessen, diese Lücken im modernen Sinne auszufüllen. Die Reformgesetze überwinden nun endlich diesen Zustand, der - zumal für eine die Verwaltung kompetenzmäßig in dem Maße wie die österreichische begünstigende Rechtsordnung - unglaubhaft war, indem sie die erstmalige zusammenfassende und erschöpfende Kodifikation des Verwaltungsprozeßrechtes schaffen, und überwinden die zahlreichen polizeistaatlichen Atavismen des österreichischen Verwaltungsprozeßrechtes durch eine Modernisierung, die allen sogenannten rechtsstaatlichen Forderungen an einen Administrativprozeß entspricht. Das Verwaltungsreformwerk baut sich aus 5 Gesetzen auf: dem Einßhrungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen, dem allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz, dem Verwaltungsstrafgesetz, dem Verwaltungsvollstreckungsgesetz und dem Verwaltungsentlastungsgesetz. Dazu kommt ein Verfassungsgesetz, das erst die Zuständigkeit des Bundes zu einem so weitgehenden, auch die Verwaltung der Länder berührenden Reformwerk hergestellt hat. Es mußte nämlich als Voraussetzung der Erlassung einer die Länder gleich dem Bunde ergreifenden Verwaltungsreform die zunächst suspendierte außergewöhnlich unitarische Kompetenzbestimmung der Bundesverfassung in Kraft gesetzt werden, wonach die Gesetzgebung über das Verwaltungsverfahren und Verwaltungsstrafverfahren einschließlich der Zwangsvollstreckung sowie die allgemeinen Bestimmungen des Verwaltungsstrafrechtes auch in Angelegenheiten, in denen die Gesetzgebung den Ländern zusteht, Bundessache ist. Das Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen umschreibt deren Geltungsbereich in einer so umfassenden Weise, daß eine

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ganz unerhörte Uniformität des formellen Verwaltungsrechtes erreicht ist. Die Verfahrensgesetze gelten nicht nur für die allgemeinen (politischen), sondern auch mit wenigen Ausnahmen für die Sonderbehörden, nicht bloß für die Staatsbehörden, sondern auch - mit geringen sachlichen Einschränkungen - für die Selbstverwaltungsbehörden, nicht bloß für die Bundes-, sondern auch für die Landesbehörden. Diese Umschreibung des Geltungsbereiches der Gesetze bedeutet einen einzig dastehenden Unitarismus. Bedenkt man, daß in Österreich die Justiz ausschließlich Bundessache ist, und daß die Verwaltung, auch soweit sie den Ländern zusteht und autonome Landesangelegenheiten betrifft, in den bundesgesetzlich vorgeschriebenen Verfahrensformen vor sich gehen muß, so ist damit der Gewinn der Länder aus der bundesstaatlichen Gestaltung der Verfassung zu nicht geringem Teile zugunsten des Gesamtstaates zurückgenommen. Wirtschaftspolitisch ist es natürlich ein ungeheurer Vorteil, wenn die rechtsuchende Partei vom Bundesministerium die ganze Hierarchie der Zentral- und Lokalverwaltung hinab bis zur Dorfgemeinde mit der Anwendung gleichförmigen Verfahrensrechtes zu rechnen hat. An wichtigeren Verwaltungsbehörden sind es bloß die Finanzbehörden, die sich an anderes Verfahrensrecht zu halten haben, doch bestehen angesichts der vortrefflichen Erfahrungen mit den neuen Gesetzen ernste Bestrebungen, auch die wenigen Behördenarten, die bisher noch nicht das neue Verfahrensrecht anzuwenden haben, seiner Geltung zu unterwerfen. Noch bemerkenswerter als dieses weite, die tiefsten organisatorischen Unterschiede überwindende Anwendungsbereich der neuen Verfahrensgesetze mag für den reichsdeutschen Betrachter die Vereinheitlichung des Verfahrens innerhalb der zur Anwendung der Gesetze berufenen Behörden erscheinen. Denn das Verfahrensrecht ist für sämtliche behördlichen Verwaltungsagenden und für sämtliche Arten von Verwaltungsakten, ausgenommen die Verordnungen, einheitlich, ausgenommen gewisse Sonderbestimmungen für Verwaltungsstrafsachen, die nach österreichischem Recht bekanntlich nicht in den Wirkungskreis der ordentlichen Gerichte, sondern jener Verwaltungsbehörden fallen, welche die sonstigen Verwaltungsrechtsnormen des betreffenden Sachgebietes anzuwenden haben. Das österreichische Recht kennt insbesondere keinen verfahrensrechtlichen Unterschied zwischen Verwaltungsstreitsachen und Beschlußsachen, sondern unterwirft die so benannten Verwaltungsagenden den nämlichen Verfahrensnormen. Dieses allgemeine Verwaltungsverfahren gleicht zwar in den meisten Beziehungen, insbesondere in bezug auf die Rechtsstellung der Parteien, einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren, spielt sich aber vor

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reinen, der gerichtlichen Unabhängigkeit ermangelnden, fast durchaus bürokratisch organisierten Verwaltungsbehörden ab. Diese Einförmigkeit des Verfahrens für sämtliche Arten von Verwaltungsakten bietet den gesetzestechnischen Vorteil, daß die schwierige Grenzziehung zwischen Beschlußsachen und Verwaltungsstrafsachen erspart geblieben ist, ferner den verfahrenstechnischen Vorteil, daß in der Organisation und im Amtsbetrieb der Verwaltungsbehörde das umständliche Doppelgeleise, das ein je nach der Agende verschiedenes Verfahrensrecht mit sich bringt, vermieden ist. Es ist denn auch von keiner Seite ein Wunsch nach einer Differenzierung der Verfahrensweise je nach den verschiedenen Verfahrenszielen laut geworden. Diese Einförmigkeit ist einerseits bei den Akten der Verwaltungsrechtsprechung unbedenklich, weil alle Verwaltungsakte der Bundes- und Landesbehörden nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges vor dem Verwaltungsgerichtshofe, das ist ein mit dem Attribute der Unabhängigkeit ausgestattetes, ausschließlich zur Verwaltungskontrolle berufenes Sondergericht des Bundes, in Beschwerde gezogen werden können, und kommt andererseits den übrigen Verwaltungssachen zugute, insofern als diese nicht bloß nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges ebenfalls der echten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen, sondern schon von der zuständigen Verwaltungsbehörde nach verwaltungsgerichtsähnlichen Verfahrensbestimmungen behandelt werden müssen. Diese Einheitlichkeit des Verfahrens für die sonst verfahrensrechtlich mit Vorliebe geschiedenen Agenden ist für Österreich keine Neuerung. Das Neue des reformierten Verfahrens liegt nur in der Herstellung einer gewissen Justizförmigkeit des gesamten Verwaltungsverfahrens vermittels der Durchdringung mit verwaltungsgerichtlichen Elementen. Ein solches trotz seiner Neuheit und Originalität doch schon eingelebtes Verwaltungsverfahren verdient wohl auch außerhalb Österreichs Beachtung und zwar nicht bloß in der zünftigen Juristenwelt, sondern in allen Kreisen, die an einem einheitlichen, großzügigen, durchsichtigen, berechenbaren Verwaltungsverfahren interessiert sind. In Österreich, wo freilich der neue Rechtszustand aus dem vormaligen Administrativprozeß organisch hervorgewachsen ist, ist der Versuch überraschend geglückt. Aus dem bunten Inhalt des Einführungsgesetzes verdienen noch die materiell-rechtlichen Strafbestimmungen Erwähnung, die an dieser Stelle ihren wenig passenden systematischen Ort gefunden haben. Sie erklären sich daraus, daß sie einige Strafbestimmungen des durch die Verwaltungs-

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reform zur Gänze beseitigten unrühmlich bekannten sogenannten „Prügelpatentes" vom 20. April 1854, RGBl. 96 ersetzen. Es werden nachstehende Tatbestände unter die Sanktion einer von der politischen Bezirksbehörde oder der Bundespolizeibehörde zu verhängenden Geldstrafe bis 200 Schilling oder Arreststrafe bis zwei Wochen gestellt: Die öffentliche Ruhestörung oder der Unfug (begeht der, ,,wer durch ein Verhalten, das Ärgernis zu erregen geeignet ist, die Ordnung an öffentlichen Orten stört, oder wer den öffentlichen Anstand verletzt oder ungebührlicherweise störenden Lärm erregt"), womit zugleich eine gesetzliche Handhabe gegen die Lärmplage geboten ist; ungebührliches Benehmen und ungestüme Nichtfolgeleistung gegenüber einem behördlichen Organe; die Begehung einer Verwaltungsübertretung im Rauschzustande (strafbar ist, wer sich in einen die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Rauschzustand versetzt und in diesem Zustande eine Tat begeht, die den Tatbestand einer Verwaltungsübertretung bildet); Winkelschreiberei im Verkehr mit einer Verwaltungsbehörde; endlich qualifizierte Tierquälerei (strafbar ist, wer „ein Tier aus Bosheit quält, roh mißhandelt oder rücksichtslos überanstrengt"; nach dem aufrecht erhaltenen § 11 der kaiserlichen Verordnung vom 20. April 1854, RGBl. 96, ist außerdem verwaltungsbehördlich strafbar, „wer öffentlich auf ein e, Ärgernis erregende Weise Tiere mißhandelt"). Endlich enthält das Einführungsgesetz noch eine dem Verwaltungsverfahren dienliche Kriminalstrafsanktion: „Wer vorsätzlich vor einer Verwaltungsbehörde als Zeuge oder Sachverständiger falsch aussagt, macht sich einer Übertretung schuldig und wird vom Gericht mit strengem Arrest von einem bis zu sechs Monaten bestraft." Das Hauptgesetz in der Reihe der Reformgesetze ist das allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG). Seinem Inhalte nach ist es aus dem Bereiche des Justizrechtes am ehesten der Zivilprozeßordnung vergleichbar; es hat dieses Gesetz auch zum Vorbilde, bleibt aber beträchtlich hinter dessen Formenreichtum zurück. Zum Unterschiede jedoch von dem begrenzten Anwendungsbereich der Zivilprozeßordnung ist das allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz die subsidiäre Rechtsquelle für alle Verfahrensarten, die sich vor den vorgenannten Verwaltungsbehörden - und das ist der Großteil der in Österreich überhaupt bestehenden Verwaltungsbehörden - abspielen; es gilt in diesem Umfange insoweit, als nicht die Verfahrensgesetze selbst oder die in ihnen vorbehaltenen Verwaltungsvorschriften für einzelne Verfahrenszweige abweichende Verfahrensbestimmungen tref-

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fen oder zulassen. So erlangt das AVG zum Unterschied von der für sie vorbildlichen Zivilprozeßordnung, die nur eine unter ebenbürtigen gleichartigen Rechtsquellen des formellen Justizrechtes ist, den Charakter des Hauptgesetzes unter den Quellen des formellen Verwaltungsrechtes. Die für jedes Verfahrensgesetz nächstliegende Frage, welche Behörden zur Setzung der verschiedenen Arten von Verwaltungsakten und mithin auch zur Durchführung des auf diese Akte abzielenden Verfahrens zuständig sind, wird vom AVG nicht primär, sondern subsidiär, nämlich für die Fälle beantwortet, wo sich anderweitig eine Zuständigkeitsbestimmung für Akte dieser Art nicht findet. In solchen Fällen sind in Angelegenheiten der Bundesverwaltung in erster Instanz im allgemeinen die politischen Bezirksbehörden, in Polizeisachen die Bundespolizeibehörden, in der Mittelinstanz die Landeshauptmänner, in der dritten (Ministerialinstanz) das Bundeskanzleramt zuständig (dessen überragende Bedeutung im Kreise der Ministerien durch diese Kompetenzbestimmung besonders unterstrichen wird). Diese subsidiäre Kompetenzbestimmung bietet den kodifikationstechnischen Vorteil, daß in allen künftigen Gesetzen, welche Verwaltungsaufgaben des Bundes betreffen, eine eigene Bestimmung über die sachliche Kompetenz nur dann erforderlich ist, wenn die Kompetenz abweichend von der Kompetenzbestimmung des AVG geregelt werden soll. In analoger Weise ist auch eine subsidiäre Bestimmung über die örtliche Kompetenz getroffen. Die Gegenspieler der Behörden sind im Verwaltungsverfahren die Beteiligten, und unter diesen wiederum vornehmlich die Parteien. Das Gesetz bezeichnet Personen, ,,die eine Tätigkeit der Behörde in Anspruch nehmen und auf die sich die Tätigkeit der Behörde bezieht", als Beteiligte, und „insoweit als die genannten Personen an der Sache Vermögens eines Rechtsanspruches oder eines rechtlichen Interesses beteiligt sind", als Parteien. Die Abgrenzung zwischen diesen beiden am Verfahren „beteiligten" Personengruppen ist sehr wichtig, weil die Parteistellung mit einer Reihe verfahrensrechtlicher Kautelen versehen ist. Die Abgrenzung ist rechtstheoretisch nicht einwandfrei und gewiß nicht ganz eindeutig, doch hat sich in der Praxis eine annähernd feste Grenzlinie herausgestellt. Die Beteiligten und ihre gesetzlichen Vertreter können sich, wenn ihr persönliches Erscheinen nicht ausdrücklich gefordert ist, durch eigenberechtigte Personen vertreten lassen. Eine besonders für untergeordnete

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lokale Behörden sehr erwünschte und zweckmäßige Erleichterung der Vertretungsmöglichkeit im Vergleiche mit dem gerichtlichen Verfahren besteht darin, daß die Behörde von einer ausdrücklichen Vollmacht absehen kann, wenn es sich um die Vertretung durch amtsbekannte Familienmitglieder, Haushaltungsangehörige, Angestellte oder durch amtsbekannte Funktionäre von beruflichen oder anderen Organisationen handelt und Zweifel über Bestand und Umfang der Vertretungsbefugnis nicht obwalten. Rechtsanwaltszwang ist für alle Instanzen des Verwaltungsverfahrens (zum Unterschiede von der außerordentlichen Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof) abgelehnt. Die verfahrenstechnischen Vorschriften vermeiden die einseitig-doktrinäre Festlegung auf bestimmte Verfahrensgrundsätze, sondern verwirklichen die unterschiedlichen Verfahrensgrundsätze teils ausschließlich, teils wahlweise nebeneinander, so wie es die besonderen Bedürfnisse des Verwaltungsverfahrens zu erheischen schienen. Das Verwaltungsverfahren ist, soweit die Verwaltungsvorschriften hierüber nicht besondere Anordnungen treffen, von Amts wegen einzuleiten, es herrscht also im Zweifel Offizialmaxime. Die Ausnahmen von der gesetzlichen Regel der Offizialmaxime sind allerdings sehr reichlich, denn eine lange Reihe rechtsprechender und rechtsverleihender Verwaltungsakte ist sinngemäß durch Parteiantrag bedingt. Gleichwie die Initiative zum Verfahren im Zweifel der Behörde zusteht, hat sie auch aus eigenem Antrieb das Verfahren in Gang zu erhalten und zum Abschluß zu bringen, d.h. es herrscht im Zweifel die Inquisitionsmaxime. Das Ermessen der Behörde ist bei allen prozeßleitenden Verfügungen in der Hinsicht vom Gesetze gebunden, daß sie sich von Rücksichten auf möglichste Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis leiten lassen muß. Diese Prozeßvorschrift macht dem Programme der Verwaltungsreform nach Verbilligung der Verwaltung und damit der occasio legis Zugeständnisse, die prozessual gewiß nicht nötig und unter Umständen nicht einmal wünschenswert sein mögen. Eine zweckmäßige Wahlfreiheit beherrscht den Verkehr zwischen Behörden und Parteien. Anträge, Gesuche, Anzeigen, Beschwerden und sonstige Mitteilungen können bei der Behörde schriftlich oder telegraphisch und

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soweit es der Natur der Sache nach tunlich ist, auch mündlich eingebracht werden. Rechtsmittel und Eingaben, die an eine Frist gebunden sind oder durch die der Lauf einer Frist bestimmt wird, sind schriftlich oder telegraphisch einzubringen. Formgebrechen schriftlicher Eingaben wie auch das Fehlen einer Unterschrift berechtigen an sich die Behörde noch nicht zur Zurückweisung; sie hat deren Behebung von Amts wegen zu veranlassen und kann dem Einschreiter die befristete Behebung der Formgebrechen auftragen. Wird das Formgebrechen rechtzeitig behoben, so gilt die Eingabe als ursprünglich richtig eingebracht. Damit ist zugunsten der rechtsunkundigen Partei in sehr beträchtlichem Umfang die Geltung des Satzes verkündet: error iuris non nocet. Hingegen ist die Behörde nicht verpflichtet, Anbringen, die sich auf keine bestimmte Angelegenheit beziehen, in Verhandlung zu nehmen. War bisher die Gewährung der Akteneinsicht im völlig freien Ermessen der Verwaltungsbehörde gestanden, so gewährt das neue Gesetz einen Anspruch auf Akteneinsicht, soweit ein solcher Anspruch sachlich begründet ist. Die Behörde hat nämlich grunsätzlich den Parteien die Einsicht und Abschriftnahme der Akten und Aktenteile zu gestatten, deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist. Von der Akteneinsicht ausgenommen sind Beratungsprotokolle, Amtsvorträge, Erledigungsentwürfe und sonstige Schriftstücke, deren Einsichtnahme durch die Parteien eine Schädigung berechtigter Interessen einer Partei oder dritter Personen oder eine Gefährdung der Aufgaben der Behörde herbeiführen oder den Zweck des Verfahrens beeinträchtigen würde. Allen an einem Verfahren beteiligten Parteien muß auf Verlangen die Akteneinsicht in gleichem Umfang gewährt werden. Die Tendenz nach Formlosigkeit - soweit diese mit der im Parteiinteresse gebotenen Rechtssicherheit vereinbar ist - äußert sich in keinem Punkte in dem Maße wie bei den Formvorschriften über Erledigungen. Die Behörde hat Anbringen so viel als möglich, besonders im Falle von Belehrungen und vorläufigen informativen Verhandlungen, mündlich oder telephonisch zu erledigen und braucht in diesem Falle den wesentlichen Inhalt der Amtshandlung nur in einer Niederschrift oder einem Aktenvermerk festzuhalten. Doch kann die Partei unter allen Umständen eine schriftliche Ausfertigung

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der Erledigung und, falls sie die Kosten deckt, auch telegraphische Verständigung verlangen. Alle schriftlichen Ausfertigungen müssen außer der Bezeichnung der Behörde und dem Datum entweder die Unterschrift des Approbanten, das ist des Organes, das die Erledigung genehmigt hat, oder die Beglaubigung der Amtskanzlei enthalten, daß die Ausfertigung mit der Erledigung des betreffenden Geschäftsstückes übereinstimmt und das Geschäftsstück die eigenhändig beigesetzte Genehmigung aufweist. Die mehr oder weniger selbstverständlichen Bestimmungen über Ladungen, Zustellungen, Fristen, Ordnungs- und Mutwillensstrafen enthalten nichts von allgemeinerem Interesse. Der Hauptgegenstand prozeßrechtlicher Regelung ist offenbar der Gang des Ermittlungsverfahrens als jener Etappe des Verfahrens, in der die Behörde für die Erledigung des einzelnen Falles die Voraussetzungen schafft. Für das Ermittlungsverfahren ist eine mündliche Verhandlung nicht obligatorisch, sondern nur fakultativ vorgesehen; die Behörde kann nach freiem Ermessen sei es nun auf Antrag oder von Amts wegen eine mündliche Verhandlung durchführen. Auch bezüglich der Behandlung der im Ermittlungsverfahren auftauchenden Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären, ist der Behörde weitgehende Ermessensfreiheit gewährt; die Behörde darf eine Vorfrage entweder nach eigener Anschauung beurteilen und diese Beurteilung ihrem Bescheide zugrunde legen oder aber das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage von Seiten der zuständigen Behörde aussetzen; das letzte jedoch nur unter der Voraussetzung, daß die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Behörde bildet oder daß ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird. Als Beweismittel kommt alles in Betracht, was zur Feststellung des maßgebenden Sachverhaltes geeignet und nach Lage des einzelnen Falles zweckdienlich ist. Im einzelnen sind als Beweismittel vorgesehen: Urkunden, Zeugen, Vernehmung von Beteiligten, Sachverständige und Augenschein. Bei der Regelung der Beweise hat sich das Gesetz ziemlich enge an die Zivilprozeßordnung angeschlossen. Die vollkommen freie Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde gilt im österreichischen Administrativverfahren seit alters als Selbstverständlichkeit. Eine außerordentliche Vereinfachung des Verfahrens bedeutet es, daß unter Umständen vom Ermittlungs-

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verfahren überhaupt Umgang genommen werden kann. Dies ist dann möglich, wenn es sich um die Vorschreibung von Geldleistungen nach einem gesetzlich, statutarisch oder tarifmäßig feststehenden Maßstab oder bei Gefahr im Verzuge um unaufschiebbare Maßnahmen handelt. Gegen eine derart formlose Enderledigung kann jedoch die Partei mit der Rechtswirkung Vorstellung erheben, daß die Behörde binnen zwei Wochen das Ermittlungsverfahren einzuleiten hat, widrigenfalls der Bescheid von Gesetzes wegen außer Kraft tritt. Das Ziel des Verwaltungsverfahrens ist ein Verwaltungsakt. Das Gesetz führt für die gemäß seinen Verfahrensbestimmungen gesetzten Verwaltungsakte den Ausdruck „Bescheid" ein. Mit dieser Bezeichnung werden insbesondere die in der bisherigen österreichischen Gesetzessprache immer unterschiedenen Entscheidungen (d.h. deklarative Verwaltungsakte) und Verfügungen (d.h. in Einzelfällen ergehende konstitutive Verwaltungsakte) zusammengefaßt. In dieser rechtstechnischen Vereinfachung drückt sich die Einsicht aus, daß es gänzlich überflüssig ist, in der verfahrensmäßigen Behandlung dieser beiden Typen von Verwaltungsakten, deren Unterschied fließend und zweifelhaft ist, irgendwelche Unterscheidungen zu machen. Die Erfordernisse eines Bescheides sind unbedingt die Bezeichnung als Bescheid und der sogenannte Spruch (die Sentenz), unter gewissen Bedingungen die Rechtsmittelbelehrung und die Begründung. Mit dem Formalerfordernisse der Bezeichnung des Bescheides als solchen folgt das Gesetz einer Tendenz, die in der Gesetzgebung der Republik hervorgetreten und namentlich in der Verfassung zum Ausdruck gekommen ist, indem sie als Formerfordernis des Verfassungsrechtes die Bezeichnung als Verfassungsgesetz oder Verfassungsbestimmung aufstellt. Dieses Formalerfordernis bietet den Vorteil der leichten Erkennbarkeit, der unmittelbaren Evidenz des Formalaktes für jedermann. Der Spruch ist die sprachliche Formulierung des Verwaltungsaktes für jedermann. Spruch hat die in Verhandlung stehende Angelegenheit und alle die Hauptfrage betreffenden Parteienanträge, ferner die allfällige Kostenfrage in möglichst gedrängter, deutlicher Fassung und unter Anführung der angewendeten Gesetzesbestimmungen, und zwar in der Regel zur Gänze, zu erledigen.

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Der Bescheid hat in allen Fällen eine Rechtsmittelbelehrung zu enthalten, außer es handelt sich um den Bescheid eines Bundesministeriums oder einer Landesregierung; gegen den Bescheid der obersten Instanz der Bundesverwaltung und der Landesverwaltung ist nämlich ein weiteres Rechtsmittel überhaupt undenkbar. Die Rechtsmittelbelehrung hat anzugeben, ob der Bescheid noch einem weiteren Rechtszug unterliegt oder nicht, und bejahendenfalls, innerhalb welcher Frist und bei welcher Behörde die Berufung einzubringen ist. Enthält ein Bescheid fälschlich keine Rechtsmittelbelehrung oder fälschlich die Belehrung, daß kein Rechtsmittel zulässig sei, oder ist keine oder eine kürzere als die gesetzliche Berufungsfrist angegeben, so gilt die Berufung als rechtzeitig, wenn sie innerhalb der gesetzlichen Frist eingebracht wurde. Ist in dem Bescheide eine längere als die gesetzliche Frist angegeben, so ist die innerhalb der angegebenen Frist eingebrachte Berufung rechtzeitig. Enthält der Bescheid keine oder eine unrichtige Angabe über die Behörde, bei der die Berufung einzubringen ist, so ist die Berufung auch dann richtig eingebracht, wenn sie bei der Behörde, die den Bescheid ausgefertigt hat, oder bei der angegebenen Behörde eingebracht wurde. Diese vielleicht anscheinend irrationell komplizierten Bestimmungen dienen doch allesamt durchaus sinnvoll dem einen Zwecke, der Partei uner allen Umständen das Rechtsmittel zu sichern: ob sie nun der wahren Rechtslage oder der irrtümlichen Rechtsmittelbelehrung (die bei dem umfassenden Anwendungsbereich des Gesetzes, gilt es doch selbst für Dorfgemeinden, durchaus nicht hypothetisch ist) folgen mag - unter allen Umständen gilt das Rechtsmittel als richtig eingebracht. Die Begründung der Bescheide ist für die Fälle vorgeschrieben, daß dem Standpunkt der Partei nicht vollinhaltlich Rechnung getragen oder über Einwendungen oder Anträge von Beteiligten abgesprochen wird. Ihrer Form nach können die Bescheide mündlich oder schriftlich sein; soweit nicht für Bescheide bestimmten Inhaltes mündliche oder schriftliche Form vorgeschrieben ist, hat die Behörde zwischen mündlicher und schriftlicher Erlassung des Bescheides Wahlfreiheit. Eine schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Bescheides ist jedenfalls den bei der Verkündung nicht anwesenden Parteien und auf ihr mit drei Tagen befristetes Verlangen auch jenen Parteien zuzustellen, die bei der Verkündung des Bescheides anwesend waren. Die Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung hat für das Rechtsmittelverfahren die Bedeutung, daß die Rechtsmittelfrist statt mit der

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Verkündung erst mit der Zustellung des Bescheides beginnt, so daß es die Partei in der Hand hat, durch das Verlangen einer schriftlichen Ausfertigung eine Erstreckung der Rechtsmittelfrist herbeizuführen. Eine bemerkenswerte Toleranz gegenüber Formfehlern bedeutet es, daß die Behörde Schreibund Rechnungsfehler und andere offenbar auf einem Versehen beruhende Unrichtigkeiten in Bescheiden jederzeit von Amts wegen berichtigen kann. An Rechtsmitteln gegen Verwaltungsakte sieht das Gesetz ausdrücklich vor: Die Berufung, die Abänderung und Behebung von Amts wegen, die Wiederaufnahme des Verfahrens, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Ihrem Wesen nach ist auch die vorerwähnte Vorstellung ein Rechtsmittel, mittels dessen die Partei einen ohne Ermittlungsverfahren erlassenen Bescheid mit der Rechtsfolge anfechten kann, daß die Behörde neuerlich, nun aber auf Grund eines Ermittlungsverfahrens, einen Bescheid zu erlassen hat. Das ordentliche Parteienrechtsmittel ist die Berufung. Sie ist das Rechtsmittel, mittels dessen die Partei von einer höheren Instanz die Behebung oder Abänderung des von der niedrigeren Instanz erlassenen Bescheides begehrt. Die Berufung hat den Bescheid zu bezeichnen, gegen den sie sich richtet, und einen begründeten Berufungsantrag zu enthalten. Der Instanzenzug und das Recht zur Einbringung der Berufung wird nicht im Verwaltungsverfahrensgesetz, sondern in den einzelnen Verwaltungsvorschriften normiert. Der Instanzenzug ist so geregelt, daß im allgemeinen in Bundesverwaltungssachen der sachlich zuständige Bundesminister, in Landesverwaltungssachen die Landesregierung die letzte Instanz darstellt. Diese Instanzenordnung gilt jedoch nur subsidiär, soweit nicht besondere Vorschriften einen kürzeren Instanzenzug vorsehen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhange, daß das zugleich mit den Verwaltungsverfahrensgesetzen beschlossene Verwaltungsentlastungsgesetz eine allgemeine Abkürzung des Instanzenzuges in geringfügigen Verwaltungssachen vorgenommen hat. Danach ist die Berufung an ein Bundesministerium unzulässig, sofern es sich um Geldleistungen handelt, für die Berufungsentscheidung ein Geldbetrag unter 200 Schilling in Frage käme und in der Angelegenheit bereits zwei Instanzen entschieden haben. Bei der ausgebreiteten Kompetenz österreichischer Verwaltungsbehörden zur Entscheidung über Geldansprüche bedeutet diese Instanzenkürzung eine beträchtliche Entlastung der Ministe-

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rialinstanz. Gegen nur das Verfahren betreffende Anordnungen, z.B. die Anordnung einer mündlichen Verhandlung oder die Ablehnung eines Beweisantrages, ist ein abgesondertes Rechtsmittel nicht zulässig. Die Berufung ist von der Partei schriftlich oder telegraphisch binnen zwei Wochen bei der Behörde einzubringen, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat. Die Frist beginnt für jede Partei mit der an sie erfolgten Zustellung der schriftlichen Ausfertigung des Bescheides, im Falle bloß mündlicher Verkündung mit dieser. Angesichts der außerordentlichen Mannigfaltigkeit der bisherigen Rechtsmittelfristen bedeutet dies Regelung eine außerordentliche Vereinfachung - mehr für die Behörden als für die Parteien, die auch schon vormals durch die obligatorische Rechtsmittelbelehrung vor dem Wirrsal der Rechtsmittelfristen geschützt gewesen sind. Rechtzeitig eingebrachte Berufungen haben aufschiebende Wirkung. Die Behörde kann jedoch die aufschiebende Wirkung ausschließen, wenn die vorzeitige Vollstreckung im Interesse einer Partei oder des öffentlichen Wohles wegen Gefahr im Verzuge dringend geboten ist. Die Berufungsentscheidung kann entweder ein neuerliches Ermittlungsverfahren voraussetzen, das die Berufungsbehörde selbst durchführen oder das sie von der Behörde erster Instanz durchführen lassen kann, oder unmittelbar auf Grund der Berufungsschrift und der unter Umständen vom Berufungsgegner abgegebenen Gegenäußerung ergehen. Die BerufungsentScheidung kann abweislich oder stattgebend sein. Abweislich wegen Unzulässigkeit der Berufung, Verspätung der Berufung oder wegen sachlicher Unbegründetheit. Stattgebend wegen mangelhafter Klärung des Sachverhaltes - ein Fall, in dem der Bescheid behoben und die Angelegenheit zur Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung an die Behörde erster Instanz verwiesen werden kann; ferner wegen sachlicher Begründetheit der Berufung. In diesem Falle hat die Berufungsbehörde in der Sache selbst zu entscheiden; bei dieser Entscheidung ist sie berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern. Eine eingehende Regelung hat die Rechtskraft der Verwaltungsakte erfahren. Das österreichische Gesetz hat sich erstmals auf den Boden der

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Theorie gestellt12, wonach den Verwaltungsakten nicht weniger als den Gerichtsurteilen Rechtskraft zukommen, und zwar nicht bloß in dem formellen Sinne des Wortes, wonach ein Verwaltungsakt nach Erschöpfung der Parteienrechtsmittel nicht mehr auf Grund eines Parteiantrages behoben oder abgeändert werden kann, sondern auch in dem materiellen Sinne des Wortes, wonach der Akt ebenso wie aus Initiative der Partei auch von Amts wegen grundsätzlich unabänderlich ist. Unter Voraussetzung der These, daß jeder Akt in der Stufenfolge der Rechtserscheinungen nur unter den vom Akte höherer Stufe vorgesehenen Bedingungen abgeändert werden kann, muß das Verwaltungsgesetz die Fälle und Formen regeln, in denen einem Verwaltungsakt durch einen späteren Verwaltungsakt derogiert werden soll. Positivrechtlich ist dieser rechtstheoretischen Voraussetzung der Abänderungsmöglichkeit von Verwaltungsakten im AVG in dem nachstehend umschriebenen Umfang entsprochen. Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der Wiederaufnahme des Verfahrens und der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, sind, wenn die Behörde nicht den Anlaß zu einer amtswegigen Verfügung findet, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen. Damit ist positivrechtlich die sogenannte formelle Rechtskraft festgelegt; eine Anordnung, die sich zwar von dem soeben skizzierten rechtstheoretischen Standpunkt aus, wonach eine Vermutung für die Unabänderlichkeit der Verwaltungsakte besteht, von selbst verstünde, die jedoch unter Berücksichtigung der noch herrschenden Theorie, wonach die Vermutung für die beliebige Abänderbarkeit der Verwaltungsakte spricht, sowie der bisher vorwiegend an dieser Theorie orientierten Praxis der Verwaltungsbehörden nicht überflüssig genannt werden kann. Ganz entgegengesetzt ist die gesetzliche Lösung der Frage der Abänderungsmöglichkeit im folgenden Falle. Bescheide, aus denen niemandem ein Recht erwachsen ist, können sowohl von der Behörde, die den Bescheid erlassen hat, als auch in Ausübung des Aufsichtsrechtes von der sachlich in Betracht kommenden Oberbehörde aufgehoben oder abgeändert werden. Also völlige Negation der sogenannten materiellen Rechtskraft, völlig unbeschränkte Abänderungsmöglichkeit der Verwal-

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Vgl. mein Buch „Die Lehre von der Rechtskraft", Verlag Franz Deuticke, Wien und Leipzig 1923.

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tungsakte, soweit durch sie kein subjektives Recht begründet wurde; freilich nicht als Ausfluß des Wesens aller oder auch nur dieser Gruppe von Verwaltungsakten, sondern als Folge positivrechtlicher Setzung, also in der rechtstheoretisch einwandfreien, mit der Annahme der grundsätzlichen Unabänderbarkeit der Verwaltungsakte durch ihresgleichen, d.h. andere Verwaltungsakte, vereinbarlichen Form. Einen Mittelweg zwischen absoluter Starrheit und unbeschränkter Abänderbarkeit eröffnet das Gesetz für die restlichen, praktisch jedoch bedeutsamsten Fälle. Alle durch die vorerwähnten Anordnungen nicht betroffenen Bescheide kann in Wahrung des öffentlichen Wohles die Behörde, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat, oder die sachlich in Betracht kommende Oberbehörde insoweit abändern, als dies zur Beseitigung von das Leben oder die Gesundheit von Menschen gefährdenden Mißständen oder zur Abwehr schwerer volkswirtschaftlicher Schädigungen notwendig und unvermeidlich ist. In allen diesen Fällen hat die Behörde mit möglichster Schonung erworbener Rechte vorzugehen. Also zwar Zulässigkeit der behördlichen Abänderung der Verwaltungsakte, aber durchaus nicht eine unbeschränkte, im völlig freien Ermessen liegende Abänderungsmöglichkeit, wie sie eine verbreitete Theorie annimmt, auch keine Abänderungsmöglichkeit beim Vorliegen jedweden öffentlichen Interesses, sondern nur bei qualifiziertem öffentlichen Interesse. Der durch einen Verwaltungsakt Berechtigte ist nun nicht mehr den Einfällen einer Verwaltungsbehörde, die sich eines besseren besonnen hat und demgemäß den zu Recht bestehenden durch einen ihrer Meinung nach besseren Verwaltungsakt ersetzen will, wehrlos ausgeliefert, sondern hat die Garantie, daß sein privates Interesse am aufrechten Bestände des Verwaltungsaktes das bedeutet z.B. die ungestörte Verwertung einer Gewerbe-, Wasser-, Bergbau-, Eisenbahn- oder Elektrizitätskonzession und dergleichen - nur wichtigen und allgemein einleuchtenden öffentlichen Interessen weichen muß. Das behördliche Ermessen, das bei der Beurteilung jener öffentlichen Interessen unvermeidlich zu sprechen hat, ist überdies durch die gesetzliche Direktive beengt, daß die Behörde mit möglichster Schonung erworbener Rechte vorzugehen habe. In der Natur der auf diese Weise geschützten öffentlichen Interessen ist es begründet, daß die durch sie gerechtfertigte Rücknahme eines Verwaltungsaktes zeitlich nicht begrenzt ist. Theorie und Praxis sehen übereinstimmend in dieser Lösung der Frage der Rechtskraft von Bescheiden durch die Einführung des Rechtsmittels amtswegiger Abänderung und Behebung ein zweckmäßiges Kompromiß zwischen den Forderungen der persönlichen Rechtssicherheit und des öffentlichen Wöhles.

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Weitere außerordentliche Rechtsmittel sind die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Die Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens kann entweder auf Parteiantrag oder von Amts wegen erfolgen. Dem Antrage auf Wiederaufnahme muß stattgegeben werden, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und entweder der Bescheid durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist, oder neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnisse des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalte des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten, oder endlich der Bescheid von Vorfragen abhängig war und nachträglich über eine solche Vorfrage von der hiefür zuständigen Behörde in wesentlichen Punkten anders entschieden wurde. Unter denselben Voraussetzungen kann die Wiederaufnahme auch von der Behörde, die den Bescheid erlassen hat, verfügt werden. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist gegen die Versäumung einer Frist oder einer mündlichen Verhandlung auf Antrag der Partei, die durch die Versäumung einen Rechtsnachteil erleidet, zu bewilligen, wenn die Partei glaubhaft macht, daß sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis ohne ihr Verschulden gehindert war, die Frist einzuhalten oder zur Verhandlung zu erscheinen, oder wenn die Partei die Berufungsfrist versäumt hat, weil der Bescheid fälschlich die Angabe enthält, daß keine Berufung zulässig sei. Eine originelle Neuerung ist die vom Gesetz so genannte Entscheidungspflicht. Unter diesem nicht ganz zutreffenden und leicht irreführenden Ausdruck verbirgt sich eine gesetzliche Vorkehrung zur Beschleunigung des VerwaltungsVerfahrens. Die Behörden sind verpflichtet, wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anders bestimmt ist, über Anträge von Parteien und Berufungen ohne unnötigen Aufschub, spätestens aber sechs Monate nach deren Einlangen den Bescheid zu erlassen. Wird der Partei innerhalb dieser Frist der Bescheid nicht zugestellt, so geht auf ihr schriftliches Verlangen die Zuständigkeit zur Entscheidung an die sachlich in Betracht kommende Oberbehörde über. Ein solches Verlangen ist unmittelbar bei der

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Oberbehörde einzubringen. Das Verlangen ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht ausschließlich auf ein Verschulden der Behörde zurückzuführen ist. Mit dieser Gesetzesanordnung wird - von der disziplinaren Verantwortlichkeit des an dem Säumnis der Behörde schuldtragenden Beamten abgesehen - offenbar nicht eine Verpflichtung der zur Erlassung des Bescheides zuständigen Behörde statuiert, sondern eine eigentümliche Art eines Rechtsmittels der Partei gegen Untätigkeit der Behörde eingeführt; dieses Rechtsmittel hat in dem Sinne Devolutivwirkung, daß an Stelle der säumigen, grundsätzlich zuständigen Behörde auf Parteibegehren unmittelbar ihre Oberbehörde zur Erlassung des Bescheides zuständig wird. Die Frage der Verfahrenskosten ist grundsätzlich in der Weise geregelt, daß einerseits jeder Beteiligte die ihm erwachsenden Kosten selbst zu bestreiten hat, andererseits die Kosten für die Tätigkeit der Behörden von Amts wegen zu tragen sind. Wofern einzelne Verwaltungsvorschriften einem Beteiligten gegen einen anderen Beteiligten Kostenersatzansprüche zubilligen, sind sie aufrecht erhalten. Auch für gewisse Kosten der Behörden - Barauslagen und Kommissionsgebühren - hat die Partei, die um die Amtshandlung angesucht hat, bzw. ein allfälliger anderer Beteiligter, durch dessen Verschulden die Amtshandlung verursacht wurde, aufzukommen. Von den Verwaltungsverfahrenskosten sind die Verwaltungsabgaben bisher Amtstaxen benannt - zu unterscheiden. Diese sind Gebühren im technischen Sinne des Wortes, die den Parteien für die Verleihung von Berechtigungen oder sonstige wesentlich in ihrem Privatinteresse liegende Amtshandlungen der Behörden auferlegt werden. Das Verfahrensgesetz beschränkt sich darauf, die Ermächtigung zur Festsetzung von Verwaltungsabgaben auszusprechen und die bezüglichen Verordnungen an gewisse Normativbestimmungen zu binden. Bezeichnend für den die ganze österreichische Rechtsordnung durchwaltenden Unitarismus ist, daß nicht nur die Ermächtigung zur Festsetzung von Verwaltungsabgaben für Akte der Bundesverwaltung von Seiten der Bundesregierung, sondern auch für Akte der Landesverwaltung durch Verordnung der Landesregierung dem Bundesgesetze zu entnehmen ist. Die Verwaltungsabgaben, die sich in Anbetracht des gesetzlich vorgesehenen Höchstbetrages von 100 Schilling nur als bescheidener Kostenbeitrag für den Verwaltungsaufwand darstellen, fließen der Gebietskörperschaft zu, die den Aufwand dieser Behörde zu tragen hat.

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Das österreichische Verwaltungsstrafrecht ist dadurch gekennzeichnet, daß sich das Verfahren einschließlich des Rechtsmittelzuges gänzlich im Bereiche der Verwaltung abspielt. Verwaltungsübertretung im Sinne der österreichischen Gesetzessprache ist eine von Verwaltungsbehörden zu verfolgende strafbare Handlung. An diesem schon aus der absoluten Monarchie überkommenen Rechtszustande hat das Verwaltungsstrafgesetz (VStG) nichts geändert. Das VStG hat auch die zahlreichen Straftatbestände und Strafsanktionen nicht berührt, die sich in unzähligen Verwaltungsgesetzen verstreut finden. Die Neuerung des VStG besteht darin, daß es zu diesen Verwaltungsstrafbestimmungen, die in ihrer Gesamtheit den „besonderen" Teil des materiellen Verwaltungsstrafrechtes ergeben, einen allgemeinen Teil des Verwaltungsstrafrechtes geschaffen hat. Der 2. Teil des VStG enthält eine Regelung des Verwaltungsstrafverfahrens, ist also insoweit ein Gegenstück der Strafprozeßordnung. Indes spielt das VStG für den Strafprozeß der Verwaltungsbehörden bloß die Rolle einer lex specialis, die nur ergänzend neben das mit gewissen Ausnahmen auch für das Verwaltungsstrafverfahren maßgebliche allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz tritt. Der allgemeine Teil des materiellen Verwaltungsstrafrechtes ist zwar am geltenden österreichischen Strafgesetze orientiert, weicht aber doch in wesentlichen Punkten von diesem ab und nimmt auch auf den Entwurf des neuen deutschen und österreichischen Strafgesetzbuches Rücksicht. Der Gesetzesinhalt läßt sich in nachstehende Grundzüge zusammenfassen. Voraussetzung der Strafbarkeit ist entsprechend dem allgemeinen kriminalpolitischen Grundsatze, daß die Tat vor ihrer Begehung mit Strafe bedroht war. Die Strafdrohung muß nach österreichischem Verfassungsrecht nicht in einem formellen Gesetze ausgesprochen sein, jedoch, falls sie die Form einer anderen Rechtsquelle, namentlich der - für Verwaltungsstrafbestimmungen sehr gebräuchlichen - Verordnung aufweist, von einem Gesetze delegiert sein. Die Strafe richtet sich nach dem zur Zeit der Tat geltenden Recht, es sei denn, daß das zur Zeit der Fällung des Bescheides in erster Instanz geltende Recht für den Täter günstiger wäre. Mangels besonderer anderweitiger Bestimmung sind nur die im Inland begangenen Verwaltungsübertretungen strafbar. Auslieferung wegen einer Verwaltungsübertretung ist ausgeschlossen, ebenso Vollzug einer ausländischen Verwaltungsstrafe. Die Zurechnungsfähigkeit findet einerseits in Bewußtseinsmängeln, andererseits in mangelndem Alter ihre Schranke. Nicht strafbar ist, wer zur Zeit

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der Tat wegen Bewußtseinsstörung, wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Geistesschwäche unfähig war, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln. War die Fähigkeit zur Zeit der Tat aus einem dieser Gründe in hohem Grade vermindert, so ist dies als mildernder Umstand bei Bemessung der Strafe zu berücksichtigen. Selbstverschuldete Trunkenheit ist niemals ein Milderungsgrund, ist jedoch, falls sie zu einer vollständigen Bewußtseinsstörung geführt hat, in der eine Verwaltungsübertretung begangen wird, als der schon oben erwähnte Tatbestand der Trunkenheit zu bestrafen. Strafmündigkeit tritt frühestens mit vollendetem 14. Lebensjahre ein. War der Täter zur Zeit der Tat zwar 14, aber noch nicht 18 Jahre alt, so wird ihm die Tat nicht zugerechnet, wenn er aus besonderen Gründen noch nicht reif genug war, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln. Die Schuldform, die zur Strafbarkeit einer Tat genügt, aber auch vorausgesetzt wird, ist im Zweifel die Fahrlässigkeit. Die einzelnen Strafsanktionen setzen jedoch mitunter einen höheren Grad von Verschulden voraus. Andererseits läßt das VStG unter gewissen Umständen Erfolgshaftung eintreten. Es zieht nämlich das bloße Zuwiderhandeln gegen ein Verbot oder die Nichtbefolgung eines Gebotes Strafe nach sich, wenn zum Tatbestand einer Verwaltungsübertretung der Eintritt eines Schadens oder einer Gefahr nicht gehört, die Verwaltungsvorschrift über das zur Strafbarkeit erforderliche Verschulden nichts bestimmt und der Täter nicht beweist, daß ihm die Einhaltung der Verwaltungsvorschrift ohne sein Verschulden unmöglich gewesen ist. In auffälligem Gegensatz zum Kriminalstrafrecht erfährt im Verwaltungsstrafrecht der Grundsatz ,,ignorantia iuris nocet" eine beträchtliche Ausnahme. Unkenntnis der Strafbestimmung entschuldigt nämlich dann, wenn sie erwiesenermaßen unverschuldet ist und der Täter das Unerlaubte seines Verhaltens ohne Kenntnis der Verwaltungsvorschrift nicht einsehen konnte. Desgleichen entschuldigt Notstand. Anstiftung und Beihilfe ist wie die Tat selbst strafbar, der Versuch einer Verwaltungsübertretung ist jedoch nur dann strafbar, wenn ihn eine Verwaltungsvorschrift ausdrücklich für strafbar erklärt. Für juristische Personen haften im Zweifel strafrechtlich die satzungsgemäß zur Vertretung nach außen berufenen Organe. Diese Organe sind berechtigt und auf Verlangen der Behörde verpflichtet, aus ihrem Kreise eine oder mehrere handlungsfähige Personen zu bestellen, denen für den Gesamtbetrieb oder für bestimmte räumlich oder sachlich abgegrenzte Gebiete die Verantwortung für die Einhaltung der Verwaltungs-

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Vorschriften obliegt. Soweit solche verantwortlichen Vertreter bestellt wurden, finden die Strafbestimmungen zunächst auf sie Anwendung. Für die über ihre Organe oder verantwortlichen Vertreter verhängten Geldstrafen haften die juristischen Personen zur ungeteilten Hand mit den Bestraften. Das VStG kennt an Strafmitteln den Arrest, Hausarrest und die Geldstrafe. 13 Wenn das Gesetz vorsieht, daß die Behörde bei Jugendlichen unter bestimmten rücksichtswürdigen Umständen von der Verhängung einer Strafe „absehen" und dem Beschuldigten eine Verwarnung erteilen kann, so ist mit dieser unzutreffenden Ausdrucksweise im Grunde ein weiteres, ausnahmsweises, in seinem Anwendungsbereich sehr beschränktes Strafmittel, die Verwarnung, eingeführt. Strafmittel und Strafsatz richten sich nach den Bestimmungen des materiellen Strafrechtes. Bei der Strafbemessung sind außer den mildernden und erschwerenden Umständen auch die Vermögensund Familienverhältnisse des Beschuldigten zu berücksichtigen. Bei Konkurrenz von strafbaren Handlungen konkurrieren auch die Strafen. Hat jemand durch verchiedene selbständige Taten mehrere Verwaltungsübertretungen begangen, oder fällt eine Tat unter mehrere einander nicht ausschließende Strafdrohungen, so sind die Strafen nebeneinander zu verhängen. Dasselbe gilt bei einem Zusammentreffen von Verwaltungsübertretungen mit anderen, von einer Verwaltungsbehörde oder einem Gerichte zu ahndenden strafbaren Handlungen. Das Verwaltungsstrafverfahren weicht vom Kriminalstrafverfahren, auch dem in Übertretungsfällen, tiefgehend ab. Verwaltungsübertretungen sind mit gewissen Ausnahmen - von Amts wegen zu verfolgen, d.h. im Verwaltungsstrafverfahren ist die Regel das Offizialprinzip und nicht das im Kriminalstrafverfahren ausnahmslos herrschende Anklageprinzip. Die Ausnahmsfälle, in denen das Verwaltungsstrafverfahren nur auf Grund eines

13 Zuletzt hat ein Bundesgesetz vom 13. März 1923, BGBl. Nr. 213 ( „ Verwaltungsstraferhöhungsgesetz"), ergänzt durch eine Novelle vom 27. Juli 1926, BGBl. 193, die Geldstrafsätze der bundesrechtlichen Verwaltungsstrafsanktionen auf ein je nach dem Ursprungsjahr der Strafbestimmung verschieden bemessenes Vielfaches der ursprünglichen Strafsanktion erhöht. Da die Strafsätze aus der Zeit vor dem 1. Januar 1917 auf das 6000fache erhöht wurden und die Obergrenze des Strafausmaßes mit 2000 Schilling beziffert wurde, kann von einer durchgehenden Valorisierung der Verwaltungsstrafe keine Rede sein. Nach dem Vorbilde des Bundes haben auch alle Länder Verwaltungsstraferhöhungsgesetze erlassen.

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Strafantrages einzuleiten ist, sind Ehrenkränkungen und Eingriffe in das Musterrecht. Das Antragsrecht steht dem Verletzten zu, die genannten Delikte sind also Privatanklagedelikte. Eine öffentliche Anklage ist dem österreichischen Verwaltungsstrafverfahren fremd; der Wirkungskreis der Staatsanwaltschaften beschränkt sich auf Kriminalstrafsachen. Mit dem Satze „Verwaltungsübertretungen sindvon Amts wegen zu verfolgen" sollte zugleich auch das Legalitätsprinzip gesetzlich festgelegt werden. Es liegt nicht im Ermessen der zuständigen Behörde, ob sie im Falle eines gegründeten Verdachtes ein Verfahren einleitet oder nicht, in dem bezeichneten Falle ist sie vielmehr verpflichtet, ein Verfahren einzuleiten. Vom Legalitätsprinzipe kennt das Gesetz nur eine Ausnahme. Ist der Täter oder der Aufenthalt des Beschuldigten unbekannt, so sind die (grundsätzlich gebotenen) Erhebungen abzubrechen, sobald die weitere Verfolgung aussichtslos erscheint oder der hiefür erforderliche Aufwand in einem Mißverhältnis zum Grade und zur Bedeutung der in der Verwaltungsübertretung liegenden Verletzung öffentlicher Interessen steht. Die Zuständigkeit zur Untersuchung und Bestrafung aller Übertretungen, deren Ahndung nicht anderen Verwaltungsbehörden oder den Gerichten zugewiesen ist, steht den politischen Bezirksbehörden zu. Es spricht also in Übertretungsfällen die Vermutung für die Zuständigkeit der allgemeinen Verwaltungsbehörde; will das Gesetz zur Strafamtshandlung in einem Übertretungsfalle die politische Behörde zuständig machen, so braucht es nur zu schweigen; dagegen bedarf es einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung, wenn das Gericht zuständig sein soll. Diese Ordnung der Kompetenzfrage in Strafsachen ist ein charakteristischer Fall der das österreichische Recht beherrschenden Begünstigung der Verwaltung. Die Verjährung wird in eine sogenannte Verfolgungsverjährung und Vollstreckungsverjährung geschieden. VerfolgungsVerjährung bedeutet den Eintritt der Unzulässigkeit, das Strafverfahren gegen eine im Verdachte einer Verwaltungsübertretung stehende Person durch irgendeine Verfolgungshandlung aufzunehmen. Die Verjährungsfrist beträgt bei den Verwaltungsübertretungen der Gefährdung, Verkürzung oder Hinterziehung von Landes-, Bezirks- und Gemeindeabgaben ein Jahr, bei allen anderen Verwaltungsübertretungen sechs Monate, von dem Zeitpunkt an gerechnet, an dem die strafbare Tätigkeit abgeschlossen worden ist oder das strafbare Verhalten aufgehört hat. VollstreckungsVerjährung bedeutet den Eintritt der

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Unzulässigkeit, ein anhängiges Strafverfahren fortzusetzen und eine verhängte Strafe zu vollstrecken. Die Verjährungsfrist beträgt drei Jahre, von dem bezeichneten Zeitpunkt an gerechnet. Eine Festnehmung wegen Verdachtes einer Verwaltungsübertretung ist nur auf frischer Tat und bei Erfüllung einer Reihe einschränkender Voraussetzungen, eine Festhaltung unter allen Umständen nur auf die Dauer von 48 Stunden zulässig. Für den Verfahrensweg sieht das Gesetz drei verschiedene Varianten vor: das ordentliche Verfahren, das ordentliche Mandatsverfahren, das Organmandatsverfahren. Der Unterschied zwischen den drei Verfahrensarten besteht in der schrittweisen Vereinfachung der Verfahrensformen und in der schrittweisen Erschwerung der Voraussetzungen. Die drei Verfahrensweisen schließen zwar einander nicht aus, können aber doch auch nicht alternativ angewendet werden. Nach dem Ermessen der Behörde und bis zu einem gewissen Punkte auch gemäß dem Wunsche des Beschuldigten kann an die Stelle des Organmandatsverfahrens immer ein ordentliches Verfahren oder ein ordentliches Mandatsverfahren, kann ferner an die Stelle des ordentlichen Mandatsverfahrens immer ein ordentliches Verfahren treten, in umgekehrter Richtung besteht aber keine Tauschmöglichkeit. Demnach hat das ordentliche Verfahren das weiteste, das ordentliche Mandatsverfahren ein engeres und das Organmandatsverfahren das engste Anwendungsbereich. Das ordentliche Verfahren ist dadurch gekennzeichnet, daß es sich vor der zur Verhängung der Strafe zuständigen Behörde abspielt, wobei die Behörde dem Beschuldigten Gelegenheit geben muß, sich zu rechtfertigen. Die Behörde hat zu diesem Zwecke die Wahlfreiheit, den Beschuldigten zur Vernehmung zu laden oder ihn aufzufordern, nach seiner Wahl entweder zu einem bestimmten Zeitpunkte zu seiner Vernehmung zu erscheinen oder sich bis zu diesem Zeitpunkte schriftlich zu rechtfertigen. Wird der Beschuldigte zur Vernehmung vor die erkennende Behörde geladen oder ihr (mangels ordnungsmäßigen Erscheinens) vorgeführt, so ist das Strafverfahren sogleich in mündlicher Verhandlung durchzuführen. Diese mündliche Verhandlung ist zwar nicht öffentlich, doch kann der Beschuldigte zur mündlichen Verhandlung eine an der Sache nicht beteiligte Person seines Vertrauens beiziehen. In der mündlichen Verhandlung ist nach Aufnahme der erforderlichen Beweise womöglich sogleich die Erledigung in Form eines ,,Spruchs" zu verkünden. Die Erledigung besteht entweder in einem Be-

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scheide, der seinem Inhalt nach ein Straferkenntnis ist, oder in der Einstellung des Verfahrens. Die Behörde hat von der Einleitung oder Fortführung eines Strafverfahrens abzusehen und die Einstellung zu verfügen, wenn die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat nicht erwiesen werden kann oder keine Verwaltungsübertretung bildet, wenn der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Verwaltungsübertretung nicht begangen hat oder Umstände vorliegen, die die Strafbarkeit aufheben oder ausschließen; Umstände vorliegen, die die Verfolgung ausschließen. Die Einstellung versieht also im Verwaltungsstrafverfahren auch die Funktion des Freispruches. Die Behörde kann unter bestimmten Voraussetzungen die Strafsache auf dem vereinfachten Wege des Mandatsverfahrens durch sogenannte Strafverfügungen erledigen. Die Partei hat jedoch niemals auf das Mandatsverfahren, sondern immer nur auf das ordentlichen Verfahren Anspruch. Die Strafverfügung bedeutet in ihren beiden Erscheinungsformen einen Verzicht auf die mündliche Verhandlung und damit auch auf die Rechtfertigung des Beschuldigten sowie auf jedes Beweisverfahren. Das Strafverfahren ist verkürzt auf die beiden Teilakte: Kenntnisnahme vom strafbaren Tatbestande und Strafverhängung. Die erste (ordentliche) Form der Strafverfügung ist unter der Voraussetzung zulässig, daß die Verwaltungsübertretung von einem Gerichte oder einer Verwaltungsbehörde oder einem mit Behördencharakter ausgestatteten Einzelorgan auf Grund ihrer eigenen dienstlichen Wahrnehmung oder eines vor ihnen abgelegten Geständnisses zur Anzeige gebracht wird und daß die Behörde innerhalb des gesetzlichen Strafspielraumes eine Freiheitsstrafe von höchstens drei Tagen oder eine Geldstrafe von höchstens 200 Schilling zu verhängen findet. In der Strafverfügung kann auch auf den Verfall beschlagnahmter Gegenstände oder ihres Erlöses erkannt werden. Der Beschuldigte kann gegen die Strafverfügung binnen einer Woche nach der Zustellung schriftlich oder mündlich Einspruch erheben. Durch den Einspruch tritt die Strafverfügung außer kraft und die Verwaltungsbehörde hat das ordentliche Verfahren einzuleiten. In diesem Verfahren hat die Behörde auf den Inhalt der außer Kraft getretenen Strafverfügung keine Rücksicht zu nehmen und kann auch eine andere Strafe aussprechen. Die zweite vereinfachte Form der Strafverfügung, das sogenannte Organmandat, besteht darin, daß ein besonders geschultes und zu dieser Amts-

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handlung besonders ermächtigtes Organ der öffentlichen Aufsicht wegen Übertretung bestimmter, in der Ermächtigung taxativ aufgezählter Verwaltungsvorschriften von Personen, die auf frischer Tat betreten werden, Geldstrafen bis 10 Schilling in einem einheitlich im vorhinein festzusetzenden Betrage sofort gegen Empfangsbestätigung einheben kann, dem Beanständeten steht es frei, die Zahlung zu verweigern. Diese Zahlungsverweigerung hat den Charakter eines der Einfachheit der Strafverfügung entsprechend formlosen Rechtsmittels gegen die Strafverfügung. Die Verweigerung der Zahlung vernichtet nämlich die Strafverfügung, das Amtsorgan hat die Anzeige zu erstatten und die Behörde das ordentliche Mandatsverfahren oder das ordentliche Strafverfahren durchzuführen. Verhängt die Behörde die ordentliche Strafverfügung, so kann der Beschuldigte ebenfalls Einspruch erheben. Der Beschuldigte hat es also in jedem Falle in seiner Macht, das ordentliche Verfahren mit seinen größeren Kautelen der rechtlichen Richtigkeit, insbesondere mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör herbeizuführen. Unter keinen Umständen kann aber der Beschuldigte in Vkrwfl/ftwgsstrafsachen die Zuständigkeit des ordentlichen Gerichtes bewirken. Dem Beschuldigten steht gegen ein Straferkenntnis, dem Privatankläger gegen die Einstellung des auf Grund seines Strafantrages eröffneten Verfahrens binnen einer Woche die Berufung an die höhere Instanz offen. Die Berufung kann schriftlich oder mündlich eingebracht werden. Ein Rechtsmittelzug an eine dritte Instanz ist auch in Fällen, wo es organisationsrechtlich möglich wäre, immer ausgeschlossen. In der Entscheidung über eine rechtzeitig eingebrachte Berufung kann die Berufungsbehörde bei Überwiegen rücksichtswürdiger Umstände die verhängte Strafe auch in eine mildere Strafe umwandeln oder ganz nachsehen. Die Berufungsinstanz ist demnach zugleich auch die Stelle zur Erteilung der Strafnachsicht. Eine Begnadigung von Verwaltungsstrafen außerhalb der Berufungsfrist ist selbst für den Bundespräsidenten, der zur beliebigen Nachsicht gerichtlicher Strafen zuständig ist, ausgeschlossen. Die Wiederaufnahme eines durch Einstellung abgeschlossenen Strafverfahrens, also zum Nachteile des Beschuldigten, ist nur innerhalb der Verjährungsfristen zulässig. Ein wegen einer Verwaltungsübertretung verhängtes Straferkenntnis zieht, sofern gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, keinerlei Straffolgen nach sich und gilt nach Ablauf von fünf Jahren als getilgt.

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In einer Reihe von Verwaltungsübertretungen hat die Verwaltungsbehörde im Straferkenntnis auch über die aus einer Verwaltungsübertretung abgeleiteten privatrechtlichen Ansprüche zu entscheiden. In den bezüglichen Strafverfahren hat der Anspruchberechtigte Parteirolle. Doch steht ihm gegen die im Straferkenntnis enthaltene Entscheidung über seine privatrechtlichen Ansprüche kein Rechtsmittel zu. Es steht ihm jedoch frei, diese Ansprüche, soweit sie ihm nicht im Verwaltungsstrafverfahren zuerkannt worden sind, im ordentlichen Rechtswege geltend zu machen. Der Beschuldigte kann die Entscheidung über die privatrechtlichen Ansprüche nur mit der gegen das Straferkenntnis zulässigen Berufung anfechten. Eine Reihe von Sonderbestimmungen betreffen das Verfahren gegen Jugendliche. Sie bezwecken insgesamt einen erhöhten Schutz der Jugendlichen vor prozessualen und außerprozessualen Nachteilen. In jedem Straferkenntnis und in jeder Entscheidung der Berufungsbehörde, mit der ein Straferkenntnis bestätigt wird, ist auszusprechen, daß der Bestrafte einen Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens zu leisten hat. Dieser Beitrag ist für das Verfahren jeder Instanz mit je zehn vom Hundert der verhängten Strafe zu bemessen. XIV. Die Verwaltungsakte werden nach österreichischem Verwaltungsrecht grundsätzlich, soweit sie überhaupt einer Vollstreckung unterliegen, auch von Verwaltungsbehörden vollstreckt. Es bedeutet jedoch die Kompetenz zur Setzung eines Verwaltungsaktes noch nicht zugleich die Kompetenz zu seiner Vollstreckung, die entscheidende ist nicht notwendig zugleich die exequierende Behörde. Es ist vielmehr die Kompetenz zur Exekution von Verwaltungsakten auf einen engeren Behördenkreis beschränkt als die Kompetenz zur Setzung der Verwaltungsakte. Es ist übrigens die Vollstreckung von Verwaltungsakten nicht ausschließlich Sache von Verwaltungsbehörden - als Exekutionsorgane für Verwaltungsakte können vielmehr auch Gerichte fungieren. Andererseits sind nicht bloß Verwaltungsakte Gegenstand der Verwaltungsexekution. Im Bereiche der Verwaltungsorganisation spielen die Rolle von Exekutionsbehörden die politischen Bezirksbehörden als die allgemeinen Verwal-

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tungsbehörden, ferner die Bundespolizeibehörden, endlich Finanzbehörden. Die ersten heißen a potiori Vollstreckungsbehörden. Ihnen obliegt der Hauptteil der Exekutionen, die Vollstreckung der von ihnen selbst und von den ihnen übergeordneten Behörden erlassenen Bescheide (als übergeordnete Behörden kommen in Betracht: die Landeshauptmänner und Bundesministerien in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung, die Landesregierungen in den Angelegenheiten der autonomen Landes Verwaltung); soweit durch besondere Vorschriften nichts anderes bestimmt ist, überdies auch die Vollstreckung der von anderen Behörden des Bundes oder der Länder erlassenen Bescheide (es spricht also - aus dem schon bekannten favor der Verwaltung - auch in Exekutionssachen die Vermutung nicht für die gerichtliche, sondern für die verwaltungsbehördliche Kompetenz); endlich die Einbringung von Geldleistungen, für die durch besondere Vorschriften die Einbringung im Verwaltungswege (politische Exekution) gewährt ist. Die Bundespolizeibehörden haben die polizeilichen Verwaltungsakte zu vollstrecken, die von ihnen selbst oder von den ihnen übergeordneten Behörden ausgegangen sind. Die auf Geldleistungen lautenden Verfügungen der Behörden der Finanzverwaltung des Bundes werden durch die zur Vornahme der Steuerexekution berufenen Organe nach den hiefür geltenden Vorschriften vollstreckt. Die Vollstreckungsmittel sind verschieden je nach dem Gegenstande der Vollstreckung. Die Eintreibung von Geldleistungen, die auch außer Abgabensachen bei der weiten Zuständigkeit der österreichischen Verwaltung eine viel größere Rolle als anderweitig spielt, erfolgt in der Weise, daß die Vollstreckungsbehörde selbst die Eintreibung unter sinngemäßer Anwendung der Vorschriften über die Einbringung der direkten Steuern vornimmt oder durch das zuständige Gericht nach den für das gerichtliche Exekutionsverfahren geltenden Vorschriften die Eintreibung veranlaßt. Diese Wahlfreiheit zwischen der administrativen Vollstreckung im eigenen Wirkungskreise und der Vollstreckung durch Inanspruchnahme des Gerichtes, das hiebei im übertragenen Wirkungskreise der Verwaltungsbehörde tätig wird, steht der als Vollstreckungsbehörde in Betracht kommenden Verwaltungsbehörde zu, nicht etwa der Partei, die über den vollstreckbaren Verwaltungsakt verfügt. Während einerseits durch die Einsetzung der politischen Behörden als Vollstreckungsbehörden die Verwaltung auf der Vollstreckungsstufe, auch in den Materien, die im übrigen von bundeseigenen Behörden besorgt werden, weitgehend verländert ist, bedeutet die teilweise Rücknahme der

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Durchführung der Vollstreckung auf Gerichte, die verfassungsmäßig durchaus Bundesorgane sind, eine gewisse Mäßigung jenes exekutionsrechtlichen Föderalismus in unitarischer Richtung; an dieser Kompetenzverteilung ist besonders bemerkenswert, daß es im Belieben der Landesbehörde als der eigentlichen Vollstreckungsbehörde gelegen ist, ob das Bundesgericht zur Ausübung seines - möglichen, nicht notwendigen - Anteiles an der Verwaltungsvollstreckung gelangt. Die Vollstreckungsmittel zur Erzwingung anderer Leistungen und Unterlassungen als von Geldleistungen sind die Ersatzvornahme, die Zwangsstrafe und die Anwendung unmittelbaren Zwanges. Die Ersatzvornahme ist dann zulässig, wenn der zu einer Arbeits- oder Naturalleistung, also zu einer vertretbaren Leistung Verpflichtete dieser Pflicht gar nicht oder nicht vollständig oder nicht zur gehörigen Zeit nachgekommen ist; in diesem Falle kann die Vollstreckungsbehörde die mangelnde Leistung nach vorheriger Androhung auf Gefahr und Kosten des Verpflichteten bewerkstelligen lassen. Die Zwangsstrafe ist bedingt durch die Verpflichtung zu einer Duldung oder Unterlassung oder zu einer Handlung, die wegen ihrer eigentümlichen Beschaffenheit sich durch einen Dritten nicht bewerkstelligen läßt; derartige Verpflichtungen werden dadurch vollstreckt, daß der Verpflichtete von der Vollstreckungsbehörde durch Geldstrafen oder durch Haft zur Erfüllung seiner Pflicht angehalten wird. Die Zwangsmittel dürfen in jedem einzelnen Falle an Geld den Betrag von 1500 Schilling, an Haft die Dauer von vier Wochen nicht übersteigen. Die ultima ratio des Vollstreckungsverfahrens ist die Anwendung unmittelbaren Zwanges. Solcher ist, sofern gesetzlich nicht anders bestimmt ist, zulässig, wenn der einem Bescheid entsprechende Zustand auf andere Weise nicht oder nicht rechtzeitig hergestellt werden kann. Das Gesetz unterläßt es, die in einem solchen Falle zulässigen Zwangsmittel anzuführen, so daß die Art des Zwanges in ziemlich weitem Umfange im Ermessen der Verwaltungsbehörde gelegen ist. Selbstverständlich ist, wenn überhaupt, dann nicht allein an psychischen, sondern vor allem an physischen Zwang zu denken. Naheliegende Fälle eines solchen physischen Zwanges sind die Vorführung eines Menschen zur Behörde, der nicht freiwillig der Vorladung Folge leistet, oder die gewaltsame Festhaltung eines einer übertragbaren Krank-

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heit Verdächtigen in eine Anstalt und dergleichen. Waffengebrauch ist wohl, obzwar er durch die gesetzliche Generalklausel gedeckt wäre, als Exekutionsmittel ausgeschlossen, da die Fälle seiner Zulässigkeit in einzelnen Verwaltungsvorschriften taxativ aufgezählt sind. Für die Handhabung der einzelnen Exekutionsmittel stellt das Gesetz den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf, d.h. es ist jeweils das gelindeste noch zum Ziele führende Zwangsmittel anzuwenden. Auch besteht die Exekutionsbeschränkung, daß Geldleistungen nur insoweit vollstreckt werden dürfen, als dadurch der notdürftige Unterhalt des Verpflichteten und der Personen, für die er nach dem Gesetz zu sorgen hat, nicht gefährdet wird. Steht die Pflicht zu einer Leistung fest oder ist sie wahrscheinlich, so kann die Vollstreckungsbehörde zur Sicherung der Leistung einstweilige Verfügungen treffen, wenn die Gefahr besteht, daß sich der Verpflichtete durch Verfügungen über Gegenstände seines Vermögens, durch Vereinbarungen mit dritten Personen oder durch andere Maßnahmen der Leistung entziehen und deren Vollstreckung vereiteln oder gefährden werde. Die Kosten der Vollstreckung fallen naturgemäß dem Verpflichteten zur Last, sind jedoch im Falle der Uneinbringlichkeit von der Partei zu tragen, auf deren Antrag und in deren Interesse die Vollstreckungshandlungen vorgenommen wurden. Das letzte in der Reihe der Verwaltungsreformgesetze vom 21. Juli 1925, das Verwaltungsentlastungsgesetz, BGBl. 277 aus 1925, ist zum Unterschied von den drei vorstehend besprochenen formellrechtlichen ein materiellrechtliches Gesetz. Mit seinem bunten Inhalt wird dieses Gesetz mehr als alle anderen der in Rede stehenden Gesetzesserie dem erklärten Programme der Verwaltungsreform nach Vereinfachung der Verwaltung gerecht; im Grunde rechtfertigt erst dieses Gesetz den zusammenfassenden Titel, der sämtlichen sechs „Gesetzen zur Vereinfachung der Verwaltung" vorausgeschickt worden ist. Es wurde so ziemlich das gesamte von Bundesverwaltungsbehörden anzuwendende Recht in der Hinsicht gesichtet, welche Bestimmungen entbehrliche Verwaltungsarbeit verursachen; soweit die Verwaltungspraktiker auf geltende Verwaltungsvorschriften verzichten zu können glaubten, finden sich diese im Katalog der vom Verwaltungsentlastungsgesetz aufgehobenen Vorschriften. Da auf diese Weise vielerlei Res-

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sortauffassungen und noch mehr Redaktoren zu Worte kamen, erklärt es sich, daß die Abstriche vom geltenden Verwaltungsrechtsstoff bald großzügig, bald kleinlich, bald sehr ausgiebig, in einzelnen Fällen aber nur scheinbar sind. Außerdem wurde die Gelegenheit dieses Gesetzes, das ohnehin schon im Dienste seines eigentlichen Zweckes viele Dutzende Verwaltungsvorschriften teils aufheben, teils abändern mußte, wahrgenommen, um verschiedentliche außerhalb des leitenden Gesetzeszweckes liegende Ressortwünsche nach Novellierung gewisser Verwaltungsvorschriften zu befriedigen. Mit einzelnen Bestimmungen greift das Gesetz sogar über die Verwaltung hinaus und erstreckt es sich auf die gesamte Staatstätigkeit. Das Wichtigste aus dem mannigfaltigen aber höchst ungleichartigen Inhalte des Gesetzes sei schlagwortweise angedeutet. Eingangs bringt das Gesetz einen bescheidenen Abbau der Feiertage, an denen bekanntlich Österreich reichlich gesegnet war, und zu deren Mehrung sogar die Republik durch die gesetzliche Dekretierung des 1. Mai und des ,,Republiktages" (12. November) zu Ruhetagen - die sich mittlerweile mindestens ebenso unverrückbar wie die Republik selbst eingelebt haben - das Ihrige beigetragen hatte. Eine weitere Bestimmung entlastet die Bundesregierung als Kollegialorgan durch die Ermächtigung, alle ihre Kompetenzen, soweit sie ihr nicht verfassungsgesetzlich vorbehalten sind, ihren einzelnen Mitgliedern zur Besorgung nach dem Bureauprinzipe zu delegieren. Die Entlastung der Ministerien durch Kürzung des Instanzenzuges in geringwertigen Angelegenheiten wurde bereits bei Besprechung des neuen Verfahrensrechtes erwähnt. Eine Ersparung sinnloser Verwaltungsarbeit bedeutet die anschließende Anordnung, daß im Zahlungsverkehr des Bundes - ausgenommen den Post- und Postsparkassenverkehr - Zahlungen unter 1 S nur auf ausdrückliches Begehren des Berechtigten oder, wenn sie ohne erheblichen Aufwand an Kosten geschehen können, zu leisten sind, ferner daß die Einbringung von Geldbeträgen, die mit den Kosten der Einbringung im Mißverhältnis stehen, zu unterbleiben hat. Eine bedeutende Sache ist die Neueinrichtung des Buchhaltungsdienstes, ferner des Gebarungs- und Verrechnungswesens der Bundesverwaltung; aus den darauf bezüglichen Vorschriften verdienen namentlich die Richtlinien für die Erstellung des Staatsvoranschlages hervorgehoben zu werden. Des weiteren wird der Heimfall unbehobener und die Einziehung geringwertiger Depositen, die sich in bundesbehördlicher Verwahrung befinden, angeordnet. Sogar eine Novellierung des Gesetzes über das Bundesgesetzblatt vom 7. Dezember 1920,

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BGBl. Nr. 33, findet sich im Rahmen des Verwaltungsentlastungsgesetzes; Erwähnung verdient, daß die seinerzeitige Formvorschrift, wonach Verwaltungsverordnungen der Bundesregierung und der Bundesministerien nicht anders als Rechtsverordnungen der Kundmachung bedürfen, wieder rückgängig gemacht worden ist. Die reformatorischen Bestimmungen des besonderen Teiles betreffen der Reihe nach das Bevölkerungswesen, das Sicherheitswesen und die Wirtschaftspolizei (Aufhebung der Zentralpreisprüfungskommission), das wirtschaftliche Assoziationswesen, die Aufsicht über gebundene Vermögenschaften (Zusammenlegung irrationeller Stiftungen, Auflassung der Lehen usw.), das Kultuswesen, die Sozialpolitik, die Sozialversicherung, das Gesundheitswesen, das Eich- und das Punzierungswesen, das Agrarwesen, (sehr eingehend) das Gewerbewesen, das Dampfkesselwesen, (ebenfalls sehr eingehend) das Bergwesen, das Eisenbahnwesen, endlich die Heeresverwaltung. Als Durchführung des Genfer Sanierungsprogrammes gibt sich des weiteren das Bundesgesetz vom 28. Juli 1925, BGBl. 282, über die Bildung eines Wirtschaftskörpers „Österreichische Bundesforste". Das Bundesgesetz vom 27. November 1922, BGBl. 843, ,,über die zur Aufrichtung der Staats- und Volkswirtschaft der Republik Österreich zu treffenden Maßnahmen (Wiederaufbaugesetz)" hatte unter anderem als Sanierungsmaßnahme die Trennung der Wirtschaftsverwaltung von der Hoheitsverwaltung vorgesehen. Der erste Schritt in dieser Richtung war das Bundesgesetz vom 19. Juli 1923 über die Bildung eines Wirtschaftskörpers „Österreichische Bundesbahnen" (Bundesbahngesetz)14; der zweite Schritt betraf den zweiten großen Wirtschaftsbetrieb des Bundes - ist ja doch die Republik Österreich nicht nur der größte Bahnunternehmer, sondern auch der größte Großgrundbesitzer im gesamten Staatsgebiet - und wurde mit der Schaffung eines Wirtschaftskörpers der „Österreichischen Bundesforste (ÖBF)" getan. Wenngleich das vorerwähnte Gesetz über die Bundesforste derselben gesetzgeberischen Absicht entsprungen ist wie das genau um zwei Jahre ältere „Bundesbahngesetz", so weicht es von ihm doch in den Mitteln und Zielen der Ausführung des gesetzgeberischen Programmes beträchtlich ab.

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Vgl. den Bericht im Jahrbuch 1923/4, S. 166 f.

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Vor allem ist die Verselbständigung des Betriebes der Bundesforste von der Hoheitsverwaltung nicht annähernd so weit gediehen wie die der Bundesbahnen. Sie ist zwar durch die Gesetzesformel „eigener Wirtschaftskörper" programmatisch angedeutet, diese Formel weist aber keinen ihr voll entsprechenden Norminhalt auf. Der sogenannte Wirtschaftskörper ,,ÖBF" ist zur Führung des Betriebes der bisher vom Bundesministerium für Land- und Forstwirschaft im Wege der Bundesforstverwaltung verwalteten im Eigentume des Bundes befindlichen Forste und Domänen sowie der Forste und Domänen des Religionsfonds berufen. Die ÖBF können mit Zustimmung der Bundesregierung auch sonstige Forste und Domänen zur Betriebsführung für Rechnung der betreffenden Eigentümer übernehmen. Den ÖBF ist auf Anforderung vom Finanzministerium ein Betriebskapital von 3 Millionen Schilling zur Verfügung zu stellen. Im Bundesvoranschlag sind ein kassenmäßiger Betriebsüberschuß der ÖBF als Bundeseinnahme, ein kassamäßiger Betriebsabgang als Bundesausgabe vorzusehen. Ein Gebarungsüberschuß der ÖBF ist der Bundesfinanzverwaltung abzuführen, im Falle eines Gebarungsabganges ist der nach Maßgabe des Bundesfinanzgesetzes zu leistende Zuschuß den ÖBF zu überweisen. In Rechtsangelegenheiten, die sich auf Bundesforste beziehen, kann der Bund unter der Bezeichnung ÖBF klagen und beklagt werden. Für Verbindlichkeiten aus der Führung des Betriebes der Bundesforste haften den Gläubigern zunächst die von den ÖBF verwalteten Vermögenschaften des Bundes und erst in zweiter Linie das sonstige Vermögen des Bundes. Die Leitung der ÖBF obliegt einer Generaldirektion, deren Mitglieder auf Vorschlag des Bundesministers für Land- und Forstwirschaft von der Bundesregierung bestellt und ebenfalls von dieser abberufen werden. Die Generaldirektion ist dem Bundesminister für Land- und Forstwirtschaft unterstellt. Während die Bediensteten der österreichischen Bundesforste bisher ausschließlich in einem öffentlichrechtlichen Diestnverhältnis zum Bunde standen, ist das Dienstverhältnis der in die Dienste der ÖBF neu aufzunehmenden Angestellten ein privatrechtliches Vertragsverhältnis, das auf Grund der für private Unternehmungen gleicher Art geltenden Vorschriften nach den Erfordernissen einer streng wirtschaftlichen Betriebsführung zu regeln ist. Den gegenwärtigen Angestellten steht es frei, in das neue Dienstverhältnis überzutreten oder in ihrem bisherigen zu verbleiben.

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Diese organisatorischen Vorschriften verleihen dem sogenannten Wirtschaftskörper der Bundesforste den Charakter einer unselbständigen, eigener juristischer Persönlichkeit ermangelnden Anstalt - zum Unterschied von dem mit eigener juristischer Persönlichkeit ausgestatteten „Wirtschaftskörper" der Bundesbahnen, dem der Charakter einer selbständigen Anstalt zukommt. Die ÖBF haben zwar eigene, dienstrechtlich von der Hoheitsverwaltung unterschiedene Anstaltsorgane, diese sind aber in die Gesamtorganisation der Bundeverwaltung eingeordnet, einem Bundesminister untergeordnet. Das Anstaltsvermögen ist Bundesvermögen; es ist rechtlich vom sonstigen Vermögen des Bundes nur dadurch deutlicher als andere Vermögenschaften abgesondert, daß für die Verbindlichkeiten der ÖBF primär das von diesem Wirtschaftskörper verwaltete Vermögen und erst sekundär das sontige Vermögen des Bundes haftet. Das Motiv des Gesetzes tritt, in eigentümlicher Weise verschleiert, in den Richtlinien zutage, die es für die Bewirtschaftung der Bundesforste aufstellt. Die Bewirtschaftung hat bei strengster Wahrung und Sicherung der mit der Forstwirtschaft verbundenen allgemeinen öffentlichen, insbesondere landwirtschaftlichen Interessen, unter Wahrung der Waldsubstanz und der Bodenkraft zu erfolgen. Bei der Verwertung der Forstprodukte und der sonstigen Erträgnisse der Bundesforste sind die Grundsätze kaufmännischer Betriebsführung zu beobachten. Um die in diesen Richtlinien nur schwach angedeutete Forderung der Kommerzialisierung der Bundesforste hat sich geradezu eine Art Kulturkampf abgespielt, wobei den Wenigen, die die Betriebsführung der österreichischen Bundesforste auf die eines Erwerbsunternehmens umzustellen gedachten, die ungeheure Mehrzahl derer gegenüberstand, die den ausgebreiteten hochwertigen Staatswald der österreichischen Alpenländer unversehrt, nach Möglichkeit sogar in seinem Baumbestande gemehrt, also nicht bloß wirtschaftlich, sondern auch kulturell wertvolles Nationalvermögen zu erhalten strebten. Die vorerwähnten Richtlinien offenbaren, daß die Vertreter dieser Forderung gesiegt haben. Während für den Betrieb der Bundesbahnen uneingeschränkt der Grundsatz der kaufmännischen Betriebsführung festgelegt ist, gilt dieser Grundsatz im Betriebe der ÖBF nur beim Absatz der Waldprodukte, nicht bei deren Erzeugung; für diese ist vielmehr, noch über die strengen Minimalerfordernisse hinaus, die das österreichische Forstgesetz aufstellt, die konservativste, den Wald nicht so sehr als Erwerbsobjekt, sondern als Kulturgut behandelnde Wirtschaftsweise gesetzlich zur Pflicht gemacht.

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Als organisationsrechtliche Maßnahme sei ferner die Neuordnung der Agrarbehörden erwähnt, die mit dem Bundesgesetz vom 28. Juli 1925, BGBl. 281, betreffend Grundsätze für die Organisation der Agrarbehörden getroffen wurde. Dieses Bundesgesetz sieht für eine Behandlung der Angelegenheiten der Bodenreform, zu der insbesondere die agrarischen Operationen und die Maßnahmen der Wiederbesiedelung zu rechnen sind, eine dreigliedrige Hierarchie kollegialer Spezialbehörden vor: die Agrarbezirksbehörden, Agrarlandesbehörden und den obersten Agrarsenat im Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft. Das Verfahren der Agrarbehörden wurde durch Bundesgesetz vom 5. März 1927, BGBl. 79, geregelt. XV. Beträchtliche Wandlungen hat das öffentliche Dienstrecht erfahren. Nach der Erschütterung, der es mehr noch als durch den Umsturz durch die Geldinflation und die von ihr im Staatsdienst ausgelöste Stellen- und Titelinflation ausgesetzt gewesen war, schien es durch das sogenannte Besoldungsgesetz vom 13. Juli 1921, BGBl. 387, in einen Gleichgewichtszustand gekommen zu sein.15 Doch dies war nur Schein. Die gesetzgeberischen Maßnahmen, durch die das Besoldungsgesetz unter Aufrechterhaltung seiner Grundgedanken zunächst dem rapiden Währungsverfall und sodann der durch die Genfer Sanierungsaktion jäh herbeigeführten Währungsstabilisierung angepaßt worden war, waren noch Gegenstand des letzten Berichtes. Der Zickzackkurs der Dienstrechtsgesetzgebung gelangte erst durch das Gehaltsgesetz vom 18. Juli 1924, BGBl. 245, zu einem Ruhepunkte. Seinem Inhalte nach ist dieses Gesetz im Gegensatz zu seinem irreführend engen Titel eine grundlegende Reform des Beamtendienstrechtes des Bundes, welches erst im Jahre 1921 durch das - ebenfalls weit über seinen Namen hinausgreifende - vorzitierte Besoldungsgesetz erneuert worden war. Die Reform des Staatsdienstrechtes durch das Gehaltsgesetz stellt den ersten und einzigen Fall einer grundlegenden Neuordnung eines schon in der Republik reformierten Rechtsbereiches dar, während sich im übrigen die republikanischen Neuschöpfungen beständig und solid erwiesen haben. Das Gehaltsgesetz zieht vor allem für das Staatsdienstrecht die Konsequenzen aus der Währungsstabilisierung, indem es die durch das Besoldungsnach15

Vgl. den Bericht im Jahrbuch 1923/4, S. 168.

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tragsgesetz vom 28. Juni 1922, BGBl. 367, eingeführte monatlich variierende Gehaltsbemessung gemäß einem amtlich ermittelten Index der Lebenshaltungskosten beseitigt und fixe Bezüge eingeführt hat; im übrigen greift das Gehaltsgesetz auf Grundgedanken der Staatsdienstpragmatik aus 1914 zurück, die übrigens in gewissen Partien, namentlich in ihrer Ordnung des Beamtendisziplinarrechtes, nach wie vor als Dienstrechtsquelle der Bundesbediensteten zu Recht besteht; endlich ist das neue öffentliche Dienstrecht Österreichs durch reichsdeutsche Vorbilder beeinflußt. Dem Gehaltsgesetz aus 1924 im Zusammenhalt mit der Dienstpragmatik aus 1914 unterstehen alle Bundesangestellten der Republik Österreich einschließlich der Post-, Telegraphen- und Fernsprechangestellten. Diese Generalklausel umschreibt den Kreis der in einem öffentlich-rechtlichen oder nach dem offiziellen Sprachgebrauch pragmatischen Dienstverhältnis zum Bunde stehenden Angestellten in einer sehr umfassenden Weise. In der lebhaft umstrittenen Frage, ob vom Standpunkt der Angestellten aus Einordnung in ein öffentliches Dienstrecht oder Ausnahme von diesem erwünschter sei, in dem Pendelschlag zwischen der sogenannten „Pragmatisierung" und „Entpragmatisierung" öffentlicher Angestellter, bedeutet das Gesetz, das damit die Wünsche der Angestellten erfüllen will, einen starken Ausschlag zugunsten des öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses. Von diesem sind bloß die im Bundesdienst stehenden Arbeiter sowie Personen ausgenommen, deren Dienstverhältnis durch Einzelvertrag geregelt ist oder die nur für zeitlich eingeschränkte Verrichtungen oder bestimmte Arbeiten aufgenommen sind. Wie schon in einem anderen Zusammenhange erwähnt wurde, stehen auch die Angestellten der Bundesforste zum Teil in einem privatrechtlichen Vertragsverhältnis. Dasselbe gilt von den Angestellten der Bundesbahnen - von diesen selbstverständlicherweise, denn ihr Dienstgeber ist überhaupt nicht der Bund, sondern eine von ihm verschiedene juristische Person. Die in Rede stehenden Rechtsquellen gelten übrigens auch nur für den Bundesdienst. Der Dienst bei den anderen Gebietskörperschaften - Länder, vereinzelt bestehende Bezirke und Gemeinden - ist in der gleichen Zweiung zwischen öffentlich-rechtlichem und privatrechtlichem Diesntverhältnis durch besondere Rechtsquellen geregelt. Die Grenze zwischen pragmatischem Dienst und Vertragsverhältnis verläuft bei allen Gebietskörperschaften grundsätzlich in der Richtung, daß der obrigkeitliche Wirkungskreis von pragmatischen Angestellten, die sogenannte Wirtschaftsverwaltung dagegen von Vertragsangestellten versehen zu werden

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pflegt; Grenzüberschreitungen kommen beiderseits vor, es überwiegen aber die Eingriffe des öffentlichen Dienstrechtes in die privatwirtschaftliche Verwaltung. Von der ausnehmend unitarischen Zuständigkeitsbestimmung der Bundesverfassung, wonach das Dienstrecht einschließlich des Besoldungssystemes und des Disziplinarrechtes jener Angestellten des Bundes und der Länder, die behördliche Aufgaben zu besorgen haben, nach einheitlichen Grundsätzen durch Bundesgesetz geregelt werden kann, wurde bisher noch nicht Gebrauch gemacht. Die bemerkenswerteste Neuerung des neuen Gehaltsgesetzes liegt in der mehrfachen Gliederung der öffentlichen Bundesangestellten. Die Gliederung erfolgt nach vier verschiedenen Gesichtspunkten. Nach dem Verwaltungsbereiche werden sechs sogenannte „Kategorien" unterschieden: Beamte der allgemeinen Verwaltung; Richter und staatsanwaltschaftliche Beamte; Lehrer und Beamte des Schulaufsichtsdienstes; Wachebeamte; Angehörige des Bundesheeres; Beamte der Tabakregie, der Staatsdruckerei und der Wiener Zeitung. Alle pragmatischen Bundesangestellten, die nicht der Art ihrer Dienstleistung gemäß einem anderen Dienstbereiche angehören, gelten als Beamte der allgemeinen Verwaltung. In diese Gruppe ist somit auch der Großteil der Angestellten der Bundesbetriebe eingereiht - z.B. die Angestellten der Post, der Postsparkasse, der Bundes-Montanbetriebe und der Bundesforste (soweit diese nicht überhaupt entpragmatisiert sind). Der Sinn dieser „Kategorisierung" der Beamten ist der, das Dienstrecht, namentlich das Besoldungssystem der Angestellten, die ihrer Dienstleistung gemäß zusammengehören, oder die, auch wenn dies nicht zutrifft, dienstrechtlich gleich behandelt werden wollen, besonders, von den anderen Dienstbereichen abweichend, zu gestalten. Je elastischer und differentieller das öffentliche Dienstrecht durch eine stärkere „Kategorisierung" gestaltet wird, desto reibungs- und widerspruchsloser kann nach den Erfahrungen der österreichischen Gesetzgebungspraxis der größte Teil der Bediensteten der öffentlichen Körperschaften einem öffentlichen Dienstrecht unterstellt werden. Verschieden von den soeben besprochenen sechs Beamtenkategorien sind die acht Verwendungsgruppen. In diese werden die Beamten „nach ihrer Zugehörigkeit zu einem Dienstzweig" eingeteilt. Für diese Zuordnung ist die Qualität der Dienstverrichtung maßgebend, die ihrerseits im Vorbildungserfordernis ihren bezeichnenden Ausdruck findet. Für die Zugehörig-

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keit zu einem Dienstzweig der Verwendungsgruppe 8 ist die volle Mittelund Hochschulbildung vorgeschrieben. Von Verwendungsgruppe zu Verwendungsgruppe mindern sich die Anforderungen in bezug auf inneren Wert der Dienstleistung und entsprechend auch in bezug auf Vorbildung und fachliche Ausbildung. Nicht zu verwechseln mit der Aufteilung der Beamten auf Verwendungsgruppen ist ihre Einteilung in die zehn Dienstklassen. Die Einteilung in Dienstklassen kreuzt die vorstehend genannten Einteilungen. Sie ersetzt die bisherige Einteilung in Besoldungsgruppen und erinnert an die vormalige Einteilung der Beamten in elf Rangsklassen. Die Einordnung in die Dienstklasse entscheidet über den Rang und damit zugleich auch über die Bezüge eines Angestellten. In der Einordnung einer Beamtenfunktion in die Dienstklasse kommt - wie übrigens auch schon in der Einordnung in eine Verwendungsgruppe - eine Weitung der Dienstleistung zum Ausdruck. Die Beamten der 1. Dienstklasse stellen zwar die Spitzen der Beamtenhierarchie dar, wie andererseits die 10. Dienstklasse die niedrigsten, nur manuell tätigen Beamten umfaßt, die Spitzen der Verwaltungshierarchie überhaupt, - Bundesminister unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers, Landesregierungsmitglieder unter dem Vorsitz des Landeshauptmannes - haben aber nicht den Charakter (ernannter) Beamter, sondern (gewählter) Volksbeauftragter. Die Einteilung der Staatsangestellten in Beamte und Diener, die dem altösterreichischen Rechte eigen gewesen war, ist endgültig in der Weise beseitigt, daß auch die Angestellten, die rein manuellen Hilfsdienst zu verrichten haben, vollwertigen Beamtencharakter erlangt haben. Dagegen ist als letzte Gruppierung auch im republikanischen Amtsrecht die in Beamte und Beamtenanwärter aufrechterhalten worden. Die Aufnahme in den Bundesdienst erfolgt grundsätzlich in den Vorbereitungsdienst als Beamtenanwärter. Nur wenn es besondere dienstliche Rücksichten geboten erscheinen lassen, kann auf Beschluß der Bundesregierung die Aufnahme in den Bundesdienst im Wege der Verleihung eines Dienstpostens erfolgen. Die Aufnahme in den Bundesdienst ist auch von weiteren einengenden Voraussetzungen abhängig gemacht, die den ursprünglich sehr fühlbaren, durch den radikalen Abbau von nahezu 100 000 Bundes- und Bundesbahn-

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angestellten16 jedoch so gut wie beseitigten Beamtenüberfluß eindämmen sollten. Praktisch unbedeutend ist die starre Fixierung der unteren Altersgrenze mit dem vollendeten 18. Lebensjahr. Dagegen sind die Sperrvorschriften praktisch bedeutsam, daß die Aufnahme nur zulässig ist, wenn ein Dienstposten des betreffenden Dienstzweiges frei ist, sowie daß Beamtenanwärter nicht aufgenommen werden sollen, wenn entsprechend geeignete Bewerber aus dem Kreise der unter das Gehaltsgesetz fallenden Bundesangestellten, ferner Hilfsarbeiter und Arbeiter im Bundesdienste vorhanden sind. Von diesem Grundsatz, daß Lücken im Bundesdienst aus dem vorhandenen Personale zu ergänzen sind, läßt das Gesetz insoweit eine Ausnahme zu, als die Aufnahme von Beamtenanwärtern zur Erzielung eines jüngeren, voll ausgebildeten Nachwuchses aus Dienstesrücksichten notwendig ist. Eine weitere Erschwerung der Neuaufnahme von Bundesangestellten brachte das Verwaltungsersparungsgestz vom 26. März 1926, BGBl. 76. Dieses Gesetz erklärt die Aufnahme von Personen in ein öffentlich-rechtliches, in ein Vertragsverhältnis oder in ein sonstiges besoldetes oder unbesoldetes Dienstverhältnis zum Bunde, ja selbst die Aufnahme von Arbeitern über den Stand im Zeitpunkte des Inkrafttretens des Gesetzes hinaus für rechtsunwirksam, falls sie ohne Zustimmung der Bundesregierung, d.h. ohne Ministerratsbeschluß erfolgt. Diese Zustimmung darf nur aus zwingenden dienstlichen Rücksichten auf Grund eines vom zuständigen Ressortminister im Einvernehmen mit dem Finanzminister gestellten Antrages erteilt werden. Die Anstellung als Beamter wird nach Zurücklegung des vorgeschriebenen zweijährigen Vorbereitungsdienstes und nach Ablegung der für den fraglichen Dienstposten vorgesehenen Fachprüfung am 1. Jänner oder 1. Juli vollzogen. Bei der Anstellung erhält der Beamtenanwärter einen Dienstposten der niedrigsten Dienstklasse des Dienstzweiges, für den er aufgenommen, geprüft und tatsächlich ausgebildet ist. Die Anzahl der Dienstposten jeder Verwendungsgruppe und Dienstklasse wird alljährlich, nach Verwaltungsbereichen und Dienstzweigen getrennt, durch den Bundesvoranschlag festgesetzt. Diese Festsetzung gilt bis zur Verlautbarung des

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Über die gesetzlichen Abbaumaßnahmen, die sich freilich erst in der Folge voll ausgewirkt haben, vgl. den mehrfach zitierten Bericht im Jahrbuch 1923/4, S. 171 f.

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neuen Bundesvoranschlages. Die Verleihung eines Dienstpostens, für den nicht auf die bezeichnete Weise vorgesorgt ist, ist rechtsunwirksam. Die Amtstitel der Beamten, die durch Verordnung der Bundesregierung festgesetzt werden, sind an den Dienstposten geknüpft und gesetzlich geschützt. Damit ist der regel- und sinnlosen Verleihung von Amtstiteln höherer Ränge an Beamte niedrigerer Ränge, womit man kurz nach dem Umsturz die unzulänglichen Bezüge teilweise auszugleichen suchte, ein Ziel gesetzt. Die auf diese Weise „wohlerworbenen" Rechte auf Amtstitel wurden durch die gesetzliche Ermächtigung geschützt, die verliehenen, auch wenn sie dem bekleideten Dienstposten nicht entsprechen, weiterzuführen. Doch dürfen sich die Beamten, denen ihr Amtstitel auf Grund ihres Dienstpostens zukommt, von den übrigen Beamten dadurch unterscheiden, daß sie ihrem Amtstitel das Attribut „wirklicher" vorsetzen. Das Diensteinkommen des Beamten besteht aus zwei Komponenten: dem Gehalt und dem Ortszuschlag - im Vergleiche mit der komplizierten Zusammensetzung des Diensteinkommens in früherer Zeit eine beträchtliche Vereinfachung. Insbesondere ist die Aktivitätszulage, die dem Dienstrecht der Monarchie eigentümlich gewesen war, sowie - in Anbetracht der Währungsstabilisierung - jeder Teuerungszuschlag, der durch seine fixe Höhe für alle Ränge das Leistungsprinzip beträchtlich durch das Alimentationsprinzip abgeschwächt hatte, aus dem definitiven Dienstrecht der Republik verschwunden. Allerdings kommt das Alimentationsprinzip bei der Festsetzung der Höhe des Diensteinkommens zum Ausdruck, indem die ehemalige Spannung zwischen Maximal- und Minimalbezügen nicht annähernd erreicht ist. Während die - vormals allerdings ganz unzulänglichen Mindestbezüge den Vorkriegsstand überchritten haben, wurden die Bezüge der höchsten Ränge bisher erst wenig über die Hälfte valorisiert. 17 Der Gehalt der Beamten ist bestimmt durch die Dienstklasse, in der er steht, und durch die Gehaltsstufe in dieser Dienstklasse. Der Ortszuschlag ist eine Quote des Gehaltes - mit der geringen Spannung zwischen den drei Ortsklassen in der Höhe von 8, 12 und 15% des Gehaltes. Überdies haben verheiratete Beamte männlichen Geschlechtes und Witwer, die Kinder

17 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß im österreichischen Mietrecht noch ein Ausnahmezustand herrscht, wonach die Mietzinse (auch bei individueller behördlicher Festsetzung) in der Höhe von höchstens 10% ihres Vorkriegsausmaßes stabilisiert sind.

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haben, Anspruch auf einen Haushaltungszuschuß; ferner haben Beamte für jedes Kind, das nach den bestehenden Vorschriften für einen Versorgungsgenuß in Betracht käme, und unversorgt ist, Anspruch auf eine Kinderzulage. Unter gewissen Voraussetzungen kann auch über diese Fälle hinaus eine Kinderzulage bewilligt werden, z.B. für großjährige Kinder während der Studienzeit, ferner wegen eines Gebrechens nicht selbsterhaltungsfähiger Kinder, für Stiefkinder, Wahlkinder und uneheliche Kinder des Beamten, wenn sie von ihm erhalten werden und in seinem Haushalt leben. Die allerdings ganz geringfügigen Beträge des Haushaltungszuschusses und der Kinderzulage sind für alle Dienstklassen gleich und somit ein reiner Anwendungsfall des Alimentationsprinzipes im Besoldungssystem. Die kriegsbeschädigten Bundesangestellten erhalten zu ihrem Diensteinkommen eine für die Bemessung des Ruhegenusses anrechenbare Zulage. Das Gehaltsgesetz sieht vier Arten von Vorrückungen des Beamten vor: die freie Beförderung, die Zeitbeförderung, die Zeitvorrückung und die Gehaltsstufenvorrückung. Die freie Beförderung in höhere Dienstklassen erfolgt unabhängig von den Fristen für die Zeitbeförderung und Zeitvorrückung durch die Verleihung eines Dienstpostens einer höheren Dienstklasse. Die Zeitbeförderung tritt ein, sobald der Beamte die gesetzlich vorgesehene Frist in der unmittelbar vorhergehenden Dienstklasse zurückgelegt hat. Freie Beförderung und Zeitbeförderung sind Rangerhöhungen, von denen jene ein Akt des freien Ermessens, diese jedoch bei Erfüllung gewisser Voraussetzungen dem Angestellten gesetzlich gewährleistet ist. Die Zeitvorrückung ist die Vorrückung in das Diensteinkommen der jeweils höheren Dienstklasse, jedoch zum Unterschied von der Zeitbeförderung ohne Änderung der dienstklassenmäßigen Stellung des Beamten. Gleichwie auf die Zeitbeförderung hat der Beamte auch auf die Zeitvorrückung Anspruch, und zwar sobald er die gesetzlich bestimmten Fristen in der unmittelbar vorhergehenden Dienstklasse zurückgelegt hat. Endlich hat der Beamte nach je zwei Jahren, die er in den Bezügen einer Dienstklasse zugebracht hat, Anspruch auf Vorrückung in eine höhere Gehaltsstufe dieser Dienstklasse. Die pensionsrechtlichen Bestimmungen des Gehaltsgesetzes ändern in wesentlichen Punkten das Pensionsgesetz vom 17. Dezember 1921, BGBl. 735, ab, indem einerseits die Ruhebemessungsgrundlage d.h. der Prozentsatz der Aktivitätsbezüge, von dem Ruhebezüge zu berechnen sind, herabgesetzt, andererseits die Dienstzeit, in der das Höchstmaß der Ruhe-

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bezüge, d.i. eben die Ruhebemessungsgrundlage, erreicht wird, hinaufgesetzt wurde. Die zur Bemessung der Ruhegenüsse anrechenbaren Aktivitätsbezüge betragen nunmehr 78,3 vom Hundert des Diensteinkommens sowie der allfälligen, auf Antrag der Bundesregierung durch Entschließung des Bundespräsidenten verliehenen Zulagen, soweit sie als für die Ruhegenußbemessung anrechenbar erklärt wurden. Die Ruhegenüsse betragen nach zehn Dienstjahren 40% und für jedes weitere Dienstjahr 2%, für die Bundesangestellten aber, für die volle Hochschulbildung Anstellungserfordernis ist, 2,4% der Ruhegenußbemessungsgrundlage, so daß nach 40 Dienstjahren, für die Beamten mit voller Hochschulbildung als Anteilungserfordernis nach 35 Dienstjahren, der Ruhegenuß der jeweiligen vollen Ruhegenußbemessungsgrundlage gleichkommt. Den kriegsbeschädigten Bundesangestellten ist bei Berechnung ihrer für die Bemessung des Ruhegenusses anrechenbaren Dienstzeit ein Zeitraum von fünf Jahren hinzuzurechnen. Für das Dienstrecht ist endlich auch ein Bundesverfassungsgesetz vom 30. Juli 1925, BGBl. 272, „betreffend Erwerb der Landesbürgerschaft und des Heimatrechtes durch Antritt eines öffentlichen Hochschullehramtes" von Bedeutung. Zum Verständnis dieses Verfassungsgesetzes muß erwähnt werden, daß das von der republikanischen Verfassung als Verfassungsgesetz rezipierte Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867, RGBl. 142, den Eintritt von Ausländern in öffentliche Ämter von der Erwerbung des österreichischen Staatsbürgerrechtes abhängig gemacht hatte. Bei Berufungen ausländischer, namentlich reichsdeutscher Hochschullehrer mußte sich die Unterrichtsverwaltung über das im zitierten Staatsgrundgesetz liegende rechtliche Hindernis auf die Weise hinweghelfen, daß im Falle der Annahme der Berufung dem Ausländer zunächst die österreichische Staatsbürgerschaft und sodann das Lehramt verliehen wurde. Das zitierte Verfassungsgesetz vom 30. Juli 1925 kehrt nun die bisherige Rechtslage um, indem es - mit Beschränkung auf ein öffentliches Hochschullehramt - die Voraussetzung zu einer Folge des Eintrittes in den öffentlichen Dienst macht. Die Hochschullehrer sind nunmehr die einzige Gruppe von pragmatischen Bundesbeamten, für die die österreichische Bundesbürgerschaft nicht Voraussetzung der Anstellung ist, die aber die Bundesbürgerschaft ipso jure durch die Anstellung erwerben. In diesem Zusammenhang sei auch eine weitere, ungleich wichtigere heimatrechtliche Maßnahme zur Sprache gebracht. Das Bundesgesetz vom

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30. Juli 1925, BGBl. 286 (2. Heimatrechtsnovelle) hat für das Heimatrecht jener zahlreichen österreichischen Staatsbürger Vorsorge getroffen, die entweder auf Grund des Friedensvertrages von Saint-Germain oder des Staatsvertrages von Brünn vom 7. Juli 1920, BGBl. 163 aus 1921, oder des Staatsbürgerschaftsgesetzes vom 5. Dezember 1918, StGBl. 91, sei es nun unmittelbar durch Gesetz oder durch eine Optionserklärung das Staatsbürgerrecht der Republik, aber nicht das Heimatrecht einer Gemeinde der Republik erworben haben. Die heimatlosen Bundesbürger erlangen im Sinne der komplizierten Zuweisungsbestimmungen teils unmittelbar auf Grund des Gesetzes, teils auf Grund eines rechtsbegründenden Verwaltungsaktes das Heimatrecht in jener Gemeinde, in der sie schon früher einmal das Heimatrecht besessen haben oder zu der sie kraft sonstiger Umstände (gegenwärtiger oder früherer Wohnsitz, Aufenthalt usw.) in einer näheren Beziehung stehen. Diese Zuweisungsbestimmungen nehmen darauf Bedacht, ob der betreffenden Gemeinde äußerstenfalls die aus dem Heimatrecht fließende Armenlast für den betreffenden Staatsbürger aufgebürdet werden kann. XVI. Einschneidende Neuerungen hat die Gesetzgebung der jüngsten Zeit auf dem Gebiete der Sozialversicherung gebracht. Zum Verständnis des neuen Rechtszustandes sei voraus bemerkt, daß in Österreich die Sozialversicherung etappenweise für die einzelnen Versicherungszweige eingefühlt worden ist. Der erste Versicherungszweig war die Unfallversicherung der Arbeiter, die mit Gesetz vom 28. Dezember 1887, RGBl. 1 aus 1888, eingeführt wurde. Ihr folgte alsbald die Krankenversicherung der Arbeiter auf Grund des Gesetzes vom 30. März 1888, RGBl. 33. Erst ein Gesetz vom 9. Dezember 1906, RGBl. 1 aus 1907, brachte die Pensionsversicherung der Angestellten. Die Arbeitslosenversicherung wurde zunächst durch eine kriegswirtschaftliche Verordnung des Staatsamtes für soziale Verwaltung vom 9. Mai 1919, StGBl. 259, eingeführt und mit dem Gesetz vom 24. März 1920, StGBl. 153, auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Zu jedem dieser Gesetze ist eine größere Anzahl von Novellen ergangen, die unter anderem nicht nur die Versicherungsleistungen gesteigert, sondern insbesondere zum Teil auch den Kreis der Versicherten beträchtlich erweitert haben. Aus der Berichtsperiode ist namentlich das Krankenkassenorganisationsgesetz vom 28. Dezember 1926, BGBl. 21 aus 1927, hervorzuheben. Charakteristisch

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für die bisherige österreichische Versicherungsgesetzgebung ist die Beschränkung des einzelnen Versicherungsgesetzes auf je einen Versicherungszweig bei gleichzeitiger Erfassung aller Personen, die der betreffenden Versicherung teilhaftig werden. Von dieser Methode der Versicherungsgesetzgebung ist neuestens das Bundesgesetz vom 29. Dezember 1926, BGBl. 388, betreffend die Kranken-, Stellenlosen-, Unfall- und Pensionsversicherung der Angestellten („Angestelltenversicherungsgesetz") abgewichen, indem es zusammenfassend sämtliche Zweige der Sozialversicherung mit grundsätzlicher Beschränkung auf die Angestellten neu geregelt und damit diese Gruppe von Arbeitnehmern aus dem Anwendungsbereich der auf die einzelnen Versicherungszweige beschränkten Sondergesetze ausgenommen hat. Die sogenannte Angestelltenversicherung ist demnach eine sachlich unbeschränkte, dem Personenkreis nach jedoch innerhalb der Gesamtheit der Zwangsversicherten sehr beschränkte Einrichtung der Sozialversicherung. Die wesentlichen Neuerungen im Vergleiche mit dem bisherigen Rechtszustande liegen in der Gestaltung der Beitragsleistungen und der Versicherungsleistungen sowie in der Organisation der Versicherungsträger. Nach dem neuen Gesetze sind versicherungspflichtig und versichert jene im Inland unselbständig erwerbstätigen Personen, die bei einem oder mehreren Dienstgebern vorwiegend zur Leistung kaufmännischer oder höherer nicht kaufmännischer Dienste oder zu Kanzleiarbeiten angestellt sind und hiedurch in ihrer Erwerbstätigkeit hauptsächlich in Anspruch genommen werden, kurz gesagt also die hauptberuflichen Privatangestellten - nicht auch die Arbeiter. Der Versicherungspflicht unterliegt auch, wer in einem Lehrverhältnis steht, das für ein die Versicherungspflicht begründendes Dienstverhältnis vorbereitet. Die Versicherungspflicht beginnt hinsichtlich der Kranken- und Unfallversicherung mit dem vollendeten 14., hinsichtlich der Stellenlosenversicherung mit dem vollendeten 16. und hinsichtlich der Pensions Versicherung mit dem vollendeten 17. Lebensjahre. Der Versicherungspflicht unterliegen jedenfalls alle Personen, deren Dienstverhältnis durch das Angestelltengesetz, Gutsangestelltengesetz und Schauspielergesetz geregelt ist. Es sind nicht nur die vorgenannten Personen unmittelbar versichert, sondern es gelten auch die Angehörigen der „unmittelbar Versicherten" als „mittelbar versichert". Der Kreis der Angehörigen, auf die sich Versicherungsleistungen erstrecken, ist in bemerkenswerter Weise abge-

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grenzt. Als Angehörige gelten die Ehegattin, wenn nicht die Ehe gerichtlich getrennt oder aus dem alleinigen Verschulden der Ehegattin gerichtlich geschieden oder eine als Angehörige geltende Gattin aus früherer Ehe vorhanden ist. Damit ist der durch eine anfechtbare Verwaltungspraxis möglich gewordenen Eingehung von „Dispensehen" bei aufrechtem Bestände einer früher eingegangenen Ehe in der Weise Rechnung getragen, daß versicherungsrechtlich die spätere Dispensehe zugunsten der früheren legitimen Ehe ignoriert wird; außer der Ehegattin die ehelichen, legitimierten und Wahlkinder unmittelbar Versicherter, ferner die unehelichen Kinder weiblicher unmittelbar Versicherter, alle diese bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres; ferner Stiefkinder ehelicher Geburt, eheliche Enkel unmittelbar Versicherter und selbst uneheliche Kinder, sofern sie das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, in der Hausgemeinschaft des Versicherten leben und mangels anderweitiger Versorgung von ihm vorwiegend erhalten werden; sodann Eltern und Großeltern unter der Voraussetzung, daß sie ständig in der Hausgemeinschaft des unmittelbar Versicherten leben und von ihm auf Grund gesetzlicher Verpflichtung vorwiegend erhalten werden; endlich in Ermangelung einer anspruchsberechtigten Ehegattin die Wirtschaftsführerin, das ist jene Person, die seit mindestens acht Monaten ununterbrochen in der Hausgemeinschaft des oder der Versicherten lebt und unentgeltlich die Hauswirtschaft führt. (Die „Wirtschaftsführerin" ist an die Stelle der in der österreichischen Gesetzgebung der letzten Jahre eingebürgerten „Lebensgefährtin" getreten. Damit sind außer „illegitimen Verhältnissen" auch legitime Hausgemeinschaften zu einem gesetzlichen Versorgungstitel geworden.) In der vorgeführten Liste der nach dem Angestelltenversicherungsgesetz Anspruchsberechtigten kommt die grundsätzliche Auffassung der österreichischen Gesetzgebung über den sozialpolitisch gebotenen Umfang der Versorgungspflicht zum Ausdruck. Die Gegenstände der Versicherung sind natürlich je nach dem Versicherungszweig verschieden. Die Leistungen der Krankenversicherung sind Krankenpflege, Krankengeld, Wochenhilfe, Begräbnisgeld. Gegenstand der Stellenlosenversicherung ist die Stellenlosenunterstützung. Gegenstand der Unfallversicherung sind Verletztenrenten, Heilverfahren, Hinterbliebenenrenten und zwar Witwenrenten, Waisenrenten, Renten für sonstige Hinterbliebene. Gegenstand der Pensionsversicherung sind Invaliditäts- und Altersrenten, Hinterbliebenenrenten, und zwar Witwenrenten und Waisenrenten, einmalige Abfertigungen und Ausstattungsbeiträge. Als Beitragsgrund-

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läge dient der auf den Monat entfallende Gehalt des Versicherten, wobei Beträge unter 80 Schilling auf diesen Betrag aufgerundet werden, Beträge über 400 Schilling jedoch bei Berechnung der Versicherungsleistungen außer Betracht bleiben. Aus der Liste der Versicherungsleistungen seien besonders hervorgehoben: das Krankengeld gebührt nur den aktiven unmittelbar Versicherten, die an der Ausübung ihrer Dienstesobliegenheiten verhindert sind, vom vierten Tage der Erkrankung an, wenn aber der Dienstnehmer weiterhin seinen vollen Gehalt bezieht, erst von der fünften Krankheitswoche an durch 30 Wochen für denselben Krankheitsfall; falls der Kranke schon 12 Monate Mitglied der Versicherung ist, durch 52 Wochen, nach fünfjähriger Versicherungszeit durch 78 Wochen. Das tägliche Krankengeld beträgt 2 1/2% der Bemessungsgrundlage, d.i. des vorletzten Monatsbezuges, soweit er der Berechnung zugrunde zu legen ist. Die Wochenhilfe gebührt den weiblichen Versicherten und der Gattin des unmittelbar Versicherten durch mindestens sechs Wochen nach der Niederkunft; außerdem gebührt ein fester einmaliger Betrag für jedes Kind. Hinsichtlich der Voraussetzungen für die Gewährung der Stellenlosenunterstützung, ferner der Dauer und Höhe dieser Unterstützung finden auf die nach dem Angestelltengesetz versicherten Personen die Bestimmungen des Arbeitslosenversicherungsgesetzes vom 24. März 1920, RGBl. 153, samt dessen Novellen Anwendung. Der Anspruch auf Renten aus der Pensions Versicherung ist an die Zurücklegung einer Wartezeit von mindestesn 60 anrechenbaren Beitragsmonaten geknüpft. Das Erfordernis der Wartezeit entfällt, wenn der Versicherungsfall die Folge eines Dienstunfalles ist. Anspruch auf die Invaliditätsrente hat der unmittelbar Versicherte, wenn er dauernd berufsunfähig geworden ist, desgleichen der nicht dauernd berufsunfähige Erkrankte nach Erschöpfung des Anspruches auf Krankengeld. Anspruch auf die Altersrente im Ausmaße der Invaliditätsrente haben ohne Nachweis der Berufsunfähigkeit: Unmittelbar Versicherte männlichen Geschlechtes, die das 65. und solche weiblichen Geschlechtes, die das 60. Lebensjahr vollendet haben; unmittelbar Versicherte männlichen Geschlechtes, die das 60. und solche weiblichen Geschlechts, die das 55. Lebensjahr vollendet haben, sofern sie mindestens 120 anrechenbare Beitragsmonate erworben haben; beide Gruppen auch nur unter der weiteren Voraussetzung, daß der Anspruchswerber in keinem versicherungspflichtigen Dienst- oder Arbeitsverhältnis steht.

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Zur Durchführung der Angestelltenversicherung sind besondere Versicherungsträger berufen, denen der Charakter selbständiger, d.h. mit Rechtspersönlichkeit ausgestatteter öffentlicher, aber nicht staatlicher Anstalten zukommt. Die Versicherungsorganisation ist nicht in einer einzigen Versicherungsanstalt zentralisiert, sondern einerseits nach dem Personalitätsprinzip, andererseits nach dem Versicherungszweig dezentralisiert. Immerhin stellt sich der organisatorische Aufbau der Angestelltenversicherung im Vergleiche mit der bisherigen außerordentlichen Zersplitterung auf eine Vielzahl von Zwerganstalten, deren Aufwand einen beträchtlichen Teil der Versicherungsbeiträge absorbiert hat, als eine starke Konzentration und in deren Gefolge als wesentliche Rationalisierung der ganzen Versicherung dar. Träger der Versicherung sind die Versicherungsanstalt für Kreditunternehmungen, die Versicherungsanstalt für Angestellte in der Land- und Forstwirtschaft, die Versicherungsanstalt der Presse, die Versicherungsanstalt für Pharmazeuten, die Versicherungskassen für Angestellte und endlich die Hauptanstalt für Angestelltenversicherung. Der Kreis der bei den erstgenannten drei „Sonderversicherungsanstalten" kraft Gesetzes versicherten Berufsangehörigen ist schon durch die Bezeichnung der Anstalten annähernd angedeutet. Zu diesem Kreise obligatorisch Versicherter kommen noch fakultativ Versicherte', durch die Satzungen der Sonderversicherungsanstalten kann nämlich bestimmt werden, ob und unter welchen Bedingungen der Angestelltenversicherung nicht unterliegende Arbeitnehmer jener Dienstgeber, deren Angestellte bei ihnen versichert sind, ferner ob und unter welchen Bedingungen selbständig Erwerbstätige verwandter Art bei den Sonderversicherungsanstalten als Mitglieder aufgenommen werden können. Damit ist die grundsätzliche Neuerung einer sämtliche Gruppen von Berufsangehörigen eines bestimmen Wirtschaftskreises, Arbeitgeber und Arbeitnehmer und innerhalb der Arbeitnehmer die Angestellten und Arbeiter zugleich umfassenden öffentlichen Versicherung angebahnt, und zwar in der Weise, daß die für die Angestellten unbedingt obligatorische Versicherung gewissen berufszugehörigen Arbeitern und berufsverwandten Selbständigen fakultativ eröffnet werden kann. Die fraglichen Arbeiter sind zwar bei der zuständigen Arbeiterversicherungsanstalt versichert, falls sie sich nicht bei der Angestelltenversicherungsanstalt versichern lassen, die Versicherung bei dieser gilt aber als Erfüllung der Versicherungspflicht nach den Vorschriften über die Sozialversicherung der Arbeiter.

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Soweit für die Versicherung nicht eine der vorgenannten Sonderversicherungsanstalten zuständig ist, erfolgt sie durch die Versicherungskassen, in deren Sprengel der Dienstort des betreffenden Angestellten liegt, sowie durch die Hauptanstalt. Den Versicherungskassen obliegt die Durchführung der Krankenversicherung und die Mitwirkung an der Durchführung der Stellenlosen-, Unfall- und Pensionsversicherung für ihre Mitglieder und die mittelbar Versicherten. Der Hauptanstalt obliegt die Durchführung der Unfall- und Pensionsversicherung für ihre Mitglieder und deren Hinterbliebene. Die Mitgliedschaft beim zuständigen Versicherungsträger wird unabhängig von der Erstattung der Anmeldung mit dem Tage des Eintrittes in die versicherungspflichtige Beschäftigung erworben. Darin äußert sich das Wesen der Angestelltenversicherung als Zwangs-, oder besser gesagt, als Pflichtversicherung. Über die Frage, welcher Versicherungsträger in einem gegebenen Zeitpunkt versicherungszuständig ist, entscheidet im Streitfalle der örtlich zuständige Landeshauptmann in seiner Eigenschaft als politische Landesbehörde. Die für den Versicherungsdienst erforderlichen Mittel werden durch laufende, an jedem Monatsletzten fällige Beiträge aufgebracht. Die Beiträge sind in der Regel vom Dienstnehmer und Dienstgeber zu gleichen Teilen zu tragen. Diese Regel erfährt folgende Ausnahmen: Für Versicherte unter 17 Jahren fällt der Beitrag zur Gänze dem Dienstgeber zur Last; dasselbe gilt für den auf Sachbezüge entfallenden Teil der Beiträge. Die Beiträge zur Krankenversicherung der Rentenempfänger fallen zur Gänze dem Träger der Pensionsversicherung zur Last. Die die Versicherung freiwillig Fortsetzenden haben die Beiträge aus eigenen Mitteln zu leisten. Der Gesamtbeitrag summiert sich aus den auf die einzelnen Versicherungszweige entfallenden, teils fixen, teils variablen Beitragsquoten. Für Zwecke der Krankenversicherung sind als laufende Beiträge bis auf weiteres 4 1/2% der vorerwähnten Beitragsgrundlage zu zahlen. Unter gewissen, vom Gesetz sehr einengend umschriebenen Voraussetzungen kann dieser Satz eine Erhöhung oder Herabsetzung erfahren. Der Beitrag für die Stellenlosen Versicherung beträgt bis auf weiteres 3,2% der Beitragsgrundlage. Die Höhe dieses - begreiflicherweise vom Aufwände für Stellenlosenunterstützung und somit vom Stande der Arbeitslosigkeit abhängigen - Beitrages

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wird in Hinkunft durch Verordnung des Bundesministers für soziale Verwaltung im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Finanzen bestimmt. Für Zwecke der Stellenlosenversicherung sind überdies noch Zusatzbeiträge zu entrichten, die den Aufwand für Notstandsaushilfen zu decken bestimmt sind. Durch diese länderweise verschiedenen Zuschläge erhöht sich der Gesamtbeitrag für Stellenlosenversicherung derzeit durchschnittlich auf die Höhe des Krankenversicherungsbeitrages. Der laufende Beitrag für die Unfall- und Pensions Versicherung beträgt im ersten Geschäftsjahr nach Wirksamkeitsbeginn des Gesetzes 6% der Beitragsgrundlage; er steigt in den folgenden vier Geschäftsjahren um je 1/2% der Beitragsgrundlage. Vom Beginn des sechsten Geschäftsjahres an ist der Beitrag vom Bundesminister für soziale Verwaltung im Verordnungswege alljährlich in der Höhe festzusetzen, die zur Deckung des Jahresaufwandes und zur Bildung einer entsprechenden Rücklage voraussichtlich ausreicht. Der Beitrag für die freiwillige Fortsetzung der Pensionsversicherung beträgt 12% der Beitragsgrundlage oder den etwa höheren Satz der Pflichtversicherung. Die Dienstgeber sind verpflichtet, die gesamten für einen Monat zu leistenden Beiträge bis 10. des folgenden Monats an den zur Entgegennahme der Meldungen berufenen Versicherungsträger abzuführen. Sie sind überdies verpflichtet, für ihre nach dem Gesetze versicherten Angestellten eine Gehaltsliste zu führen, aus der die Berechnungsgrundlage des für jeden einzelnen Versicherten entfallenden Versicherungsbeitrages ersichtlich ist. Der Dienstgeber ist berechtigt, den auf den Dienstnehmer entfallenden Teil der von ihm abzuführenden Beiträge von dessen Bezügen abzuziehen. Dieses Recht muß bei sonstigem Erlöschen innerhalb Monatsfrist nach der ersten auf die Fälligkeit des Beitrages folgenden Gehaltszahlung ausgeübt werden. Bis zur Abfuhr gilt der im Abzugswege eingehobene Beitragsteil des Versicherten als dem Dienstgeber an vertrautes Gut, wodurch die Abfuhr des Beitrages unter Umständen unter die Sanktion der Strafe auf Veruntreuung gestellt ist. Rückständige Beiträge samt Nebengebühren werden im Verwaltungs- oder gerichtlichen Wege eingetrieben; sie genießen im Konkurs- und Ausgleichsverfahren das Vorzugsrecht der Steuerrückstände. Die ansehnlichste Bereicherung hat das bei seiner sonstigen Fortschrittlichkeit auf dem Gebiet der Sozialversicherung merkwürdig zurückgebliebene soziale Verwaltungsrecht der österreichischen Republik durch das Bundesgesetz vom 1. April 1927, BGBl. 125, betreffend die Kranken-,

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Unfall- und Invalidenversicherung der Arbeiter (Arbeiterversicherungsgesetz) erfahren. Das Gesetz nimmt einen Anlauf, eine der größten Rückständigkeiten Österreichs gegenüber dem Deutschen Reiche wettzumachen, bleibt aber doch vor dem Ziele stecken und gibt statt der Tat eine Verheißung. Das Gesetz regelt zusammenfassend die Krankenversicherung, Unfallversicherung, Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter, während es bezüglich der Arbveitslosenversicherung der Arbeiter auf das geltende Gesetz vom 24. März 1920, StGBl. 153, und dessen Novellen verweist. Bringt das Gesetz auf dem Gebiet der Kranken- und Unfallversicherung nur Änderungen und Verbesserungen des seit Jahrzehnten bestehenden Rechtszustandes, so ist die Invalidenversicherung der Arbeiter für Österreich eine Neueinführung. Doch in Wirklichkeit ist sie nur eine, freilich bis in alle Einzelheiten kodifizierte, Promesse für eine - auch nach den Wünschen der Parlamentsmehrheit - nahe, aber doch zeitlich unbestimmte Zukunft, während für die Gegenwart in der sogenannten Altersfürsorge nur ein Surrogat der Alters- und Invaliditätsversicherung geboten wird. Der Art. III des Arbeiterversicherungsgesetzes suspendiert nämlich die unmittelbare Geltung der ersten neun Abschnitte des Art. I mit ihren 263 Paragraphen (mit Ausnahme einiger Paragraphen) und läßt bloß den 10. Abschnitt (§§ 264272) mit 1. Juli 1927 in Kraft treten. Dieser unmittelbar aktuelle Gesetzesabschnitt gewährt (gewesenen) Arbeitern unter gewissen Voraussetzungen eine Altersfürsorgerente, die im Durchschnitt einerseits zwar über die Leistungen, deren sie aus dem Titel der Armenversorgung teilhaftig wären, hinausgeht, andererseits aber die Leistungen der künftigen Altersversorgung nicht erreicht. Die vom Arbeiterversicherungsgesetz vorerst allein gewährleisteten Altersfürsorgerenten setzen keinerlei vorgängige Leistungen des Rentenempfängers oder eines Dritten voraus, beruhen also nicht auf dem Versicherungs-, sondern auf dem Versorgungsprinzip. Anspruch auf Rente haben österreichische Bundesbürger, die am 1. Juli 1927 das 60. Lebensjahr vollendet haben oder in der Folge das 60. Lebensjahr vollenden, wofern sie die Voraussetzungen für die Gewährung der Notstandsaushilfe gemäß der XVIII. Novelle zum Arbeitslosenversicherungsgesetz erfüllen (ausgesteuerte Arbeitslose) oder nach dem 1. Juli 1927 lediglich wegen Arbeitsunfähigkeit vom Bezüge der Arbeitslosenunterstützung oder der Notstandsaushilfe ausgeschlossen werden. Die Bezugsberechtigten scheidet das Gesetz in zwei Altersklassen, deren jüngerer nur ein bedingter und deren älterer ein unbedingter Rentenanspruch

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gewährleistet ist. Solange der Rentner das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ruht der Anspruch auf Altersfürsorgerente während der Zeit einer krankenversicherungspflichtigen Beschäftigung, zu deren Anzeige der Rentenempfänger bei Strafe und anderen Rechtsfolgen verpflichtet ist. Nach Vollendung des 65. Lebensjahres hat der Eintritt in eine entlohnte Beschäftigung auf den Rentenbezug keinen Einfluß. Die Altersfürsorgerente beträgt monatlich das Zwanzigfache jener täglichen Arbeitslosenunterstützung, die der Anspruchsberechtigte zuletzt bezogen hat oder die er bei Arbeitsfähigkeit bezogen hätte. Die Rente wird monatlich im voraus im Wege der Arbeiterunfallversicherungsanstalt in Wien flüssig gemacht. Bei Zusammentreffen des Anspruches auf Altersfürsorgerente mit einem späterhin erworbenen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung oder mit einem Anspruch auf Invaliditäts-(Alters-)Rente gemäß dem Angestelltenversicherungsgesetz oder seinerzeit (sobald es zur Gänze in Kraft getreten sein wird) gemäß dem Arbeiterversicherungsgesetz ruht der niedrigere Bezug vom Tage des Zusammentreffens der Ansprüche an. Die Kosten der Altersfürsorge werden vorschußweise vom Bunde bestritten. Der Aufwand wird zur Hälfte durch Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, zu einem Sechstel vom Bund, zu einem Drittel vom Land, in dem der Rentner seinen Wohnsitz hat, gedeckt. Die Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden als Zuschlag zu den Arbeitslosenversicherungsbeiträgen in der Höhe von 20% des Normalbeitrages zur Krankenversicherung eingehoben. Eine Anpassung der Beiträge an das tatsächliche Erfordernis ist unter gewissen Voraussetzungen vorbehalten. Im Hinblick auf die Mitbeteiligung des Bundes an der Altersrentenlast schreibt Art. I I des Gesetzes vor, daß die Deckung der aus dem Gesetze dem Bunde erwachsenden Ausgaben durch Schaffung entsprechender Einnahmen sicherzustellen ist. Die damit angekündigten Finanzvorlagen stehen noch aus. Die vorerwähnte Suspension der gesamten versicherungsrechtlichen Bestimmungen des Arbeiterversicherungsgesetzes ergibt sich aus der Anordnung, daß der Beginn der Versicherung - selbstverständlich unbeschadet der schon längst bestehenden Unfall-, Kranken- und Arbeitslosigkeitsversicherung der Arbeiter - durch eine Verordnung der Bundesregierung zu bestimmen ist, die der Zustimmung des Hauptausschusses des Nationalrates bedarf. Der Grund, daß der Geltungsbeginn des nach mühsamer jahrelanger

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Arbeit fertiggestellten und mit Stimmeneinhelligkeit zum Beschluß erhobenen Gesetzes - unter Ablehnung eines das terminierte Inkrafttreten des ganzen Gesetzes begehrenden Minderheitsantrages - auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben wurde, liegt darin, daß die Parlamentsmehrheit die Wirtschaftskraft des Landes bei dem außerordentlichen Stande der Arbeitslosigkeit für unzulänglich hielt, um auf einmal und sofort die ganze soziale Last der Arbeiterversicherung ertragen zu können. Indes ist die Inkraftsetzung der Arbeiterversicherung nicht in das freie Ermessen der Regierung gestellt, sondern für den Fall gewisser Voraussetzungen, die ein Erstarken der Wirtschaftskraft erkennen lassen, zur rechtlichen Pflicht gemacht. Die erwähnte Verordnung ist nämlich zu erlassen, wenn die Zahl der im Bezüge der Arbeitslosenunterstützung oder Notstandsaushilfe stehenden Personen im Durchschnitt eines Kalenderhalbjahres auf 100 000 gesunken ist, wobei die im Genüsse einer Altersfürsorgerente Stehenden nicht einzurechnen sind, und wenn ferner aus dem Zusammenhalt der Steigerung des Außenhandels, der Zunahme der Inlandsverfrachtung und der Fortschritte der landwirtschaftlichen Produktion eine derartige Besserung der Gesamtlage der Wirtschaft zu erkennen sind, daß die Mehrbelastung der Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung durch die Durchführung des Arbeiterversicherungsgesetzes kompensiert erscheint. Die zur Beurteilung der Wirtschaftslage notwendigen statistischen Nachweisungen sind vom Bundesamt für Statistik spätestens drei Monate nach Ablauf jedes Kalenderhalbjahres der Bundesregierung vorzulegen, die sie unverzüglich dem Hauptausschuß des Nationalrates mitzuteilen hat. Mit diesen Direktiven sind trotz Mangels jeder kalendermäßigen Terminierung immerhin bestimmte Garantien dafür geboten, daß die Sozialversicherung nicht übermäßig verzögert wird. Ihr Inkrafttreten läßt sich aber bei der heutigen Wirtschaftslage noch nicht absehen. Unter diesen Umständen wäre es verfrüht, an dieser Stelle auf die Einzelbestimmungen des Gesetzes einzugehen, zumal da es dem am 24. April 1927 neugewählten Nationalrat freisteht, das Gesetz nur in einer mehr oder weniger geänderten Fassung in Kraft treten zu lassen. XVII. Aus der bunten Reihe sonstiger Bundesgesetze aus der Berichtszeit, die in das Verwaltungsrecht einschlagen oder ganz verwaltungsrechtlicher Natur sind, verdienen insbesondere die nachstehenden Maßnahmen Erwähnung.

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Vor allem ist an dieser Stelle die Währungsreform zu erwähnen. Das Bundesgesetz vom 20. Dezember 1924, BGBl. 461 (,,Schillingrechnungsgesetz!") hat an Stelle der Kronenwährung die Schillingwährung eingeführt und die Ausprägung von Gold- und Silbermünzen, die auf Schilling lauten, angeordnet. Mit diesem Währungsgesetz fand die Inflationsperiode auch äußerlich einen solennen Abschluß. Die jetzige Währungseinheit ist bekanntlich geringerwertig als die vormalige, denn während die Krone auf den 14 400sten Teil ihres Vorkriegs wertes gesunken war, wurde ein Schilling nur 10 000 Kronen gleichgesetzt. In diesem Zusammenhang ist auch das Bundesgesetz vom 15. Juli 1924, BGBl. 252, über die Erhöhung der gesetzlichen Zinsen zu nennen. Dieses Gesetz hat den im § 2 des Gesetzes vom 14. Juni 1868, RGBl. 62, festgesetzten Zinssatz von 5% auf 10% erhöht und zugleich den Bundeskanzler ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Finanzminister die Zinssätze durch Verordnung zu erhöhen oder herabzusetzen, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse es geboten erscheinen lassen. Das Messewesen (Muster- und Warenmessen) wurde durch Bundesgesetz vom 19. Dezember 1924, BGBl. 25 aus 1927, geregelt. Ein Bundesgesetz vom 3. Dezember 1924, BGBl. 427, mit dem langatmigen Titel „über einige Bestimmungen zur Ergänzung der Vorschriften betreffend die bundesbehördliche Bewilligung zum gewerbsmäßigen Betriebe von Bankgeschäften und betreffend die Auflösung von Aktiengesellschaften (Konzessionsergänzungsgesetz)" hat aus Anlaß verschiedener Unzukömmlichkeiten im Bankbetriebe rigorosere Bestimmungen für die Konzession und den Betrieb von Banken getroffen. Ein Bundesgesetz vom 26. Juni 1924, BGBl. 212, betreffend die Aufhebung des Gesetzes über die registrierten Hilfskassen hat diesen Typus von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit beseitigt. Die bestehenden registrierten Hilfskassen können auf Grund ihrer Statuten ihre Tätigkeit fortsetzen. Ihre Rechtslage ist nunmehr durch das Vereinspatent vom 26. November 1852, RGBl. 53, und die Ministerialverordnung vom 7. März 1921, BGBl. 141 (Versicherungsregulativ) geregelt. Die Postsparkasse bekam aus Anlaß großer Verluste, die sie durch gewagte Bankgeschäfte erlitten hat, im neuen Postsparkassengesetz vom 29. De-

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zember 1926, BGBl. 9 aus 1927, das an die Stelle des ersten Postsparkassengesetzes vom 28. Mai 1882, RGBl. 56, getreten ist, eine strengere organisationsrechtliche Grundlage für ihre Geschäftsführung. Die Statistik des auswärtigen Handels wurde durch Bundesgesetz vom 17. Juli 1924, BGBl. 253, neu geregelt. Das Bundesgesetz vom 16. März 1927, BGBl. 98, über die Förderung der österreichischen Ausfuhr nach der Union der sozialistischen Sowjet-Republiken ist eine kreditpolitische Maßnahme zur Eindämmung der Arbeitslosigkeit. Das Gesetz ermächtigt den Bundesminister für Finanzen, inländischen Erzeugungs- oder Handelsunternehmungen die Lieferungsverträge mit einer Vertretung der Union der Sowjet-Republiken, einem anderen Wirtschaftsorgan dieser Union oder einer von den Behörden dieser Union zum Einkauf im Ausland zugelassenen Gesellschaft abschließen, bis zu einem Gesamtwert der Lieferungen von 100 Millionen Schilling die Gewährung von Darlehen zuzusagen. Das Ausmaß der Darlehen beträgt 60 vom Hundert des Gesamtwertes jener Lieferungen, deren Abchluß von einer eigens berufenen Kommission („Rußlandkommision") überprüft und gutgeheißen worden ist. Der Bundesschatz hat das Darlehen unter gesetzlich fixierten außerordentlich günstigen Bedingungen dem österreichischen Vertragsteil zu gewähren, wenn der russische Besteller seine Verbindlichkeit ganz oder teilweise nicht erfüllt. Eine Notstandsmaßregel, ebenfalls zum Zwecke der Linderung der Arbeitslosigkeit, ist das wichtige Bundesgesetz vom 19. Dezember 1925, BGBl. 457, über die zeitweilige Beschränkung der Beschäftigung ausländischer Arbeiter und Angestellen (Inlandarbeiterschutzgesetz). Gemäß diesem Gesetz darf kein Arbeitgeber ohne behördliche Bewilligung einen Arbeiter, Angestellten, Hausgehilfen oder Lehrling beschäftigen, der nicht österreichischer Bundesbürger ist oder sich nicht seit mindestens 1. Jänner 1923 im Bundesgebiete ständig aufhält. Die Bewilligung darf nur erteilt werden, wenn es die Lage des Arbeitsmarktes zuläßt, wenn wichtige Interessen der Volkswirtschaft es erfordern oder wenn sonstige triftige Gründe, insbesondere wichtige Familienrücksichten oder Gründe der Menschlichkeit, dafür sprechen. Zur Erteilung der Bewilligung ist das Bundeskanzleramt zuständig, das aber hinsichtlich land- und forstwirtschaftlicher Arbeiter die Landeshauptleute, im übrigen die industriellen Bezirkskommissionen delegieren kann.

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Ein Bundesgesetz vom 3. Dezember 1925, BGBl. 432, hat einen Bergbaufürsorgefond zur teilweisen Bestreitung besonderer Fürsorgeleistungen des Bergbaues geschaffen. Der für Österreich vom wirtschaftspolitischen und sozialpolitischen Standpunkt aus gleich wichtigen Verwertung der Wasserkräfte für elektrische Anlagen dient das „Elektrizitätsförderungsgesetz" vom 3. März 1925, BGBl. 149, das hauptsächlich Steuer- und Gebührenbefreiungen für Stromlieferungsunternehmungen vorsieht. Die Elektrifizierung der österreichischen Staatsbahnen wurde durch das Gesetz vom 23. Juli 1920, StGBl. 359, eingeleitet. Nachdem das Bauprogramm dieses Gesetzes ausgeführt war, hat ein Bundesgesetz vom 16. Juli 1925, BGBl. 211 „über die Fortführung der Elektrisierungsarbeiten durch die österreichischen Bundesbahnen" ein weiteres Bauprogramm aufgestellt, aus dem sich ergibt, daß die noch mit Dampf betriebenen Hauptbahnlinien in den Ländern Salzburg, Tirol und Vorarlberg bis Ende 1928 auf den elektrischen Betrieb umzustellen sind. Die Erstreckung der Elektrifizierungsaktion auf die östlichen Länder wird vorbereitet. Der Telegraphenverkehr wurde als Monopol des Bundes durch das Telegraphengesetz vom 18. Juli 1924, BGBl. 263, neu geregelt. Dieses Gesetz gibt auch dem Rundspruchverkehr, der im einzelnen durch Verordnung geregelt ist, die rechtliche Grundlage. Ein Bundesgesetz vom 1. April 1927, BGBl. 128 (Schiffahrtspolizeigesetz) hat im Rahmen des Staats Vertrages von Saint-Germain und des Übereinkommens betreffend das endgültige Donaustatut vom 23. Juli 1921, BGBl. 706 aus 1922, Vorschriften für die Schiffahrt auf der Donau und den anderen österreichischen Binnengewässern erlassen. Das Invalidenentschädigungsgesetz wurde in seiner durch mehrere Novellen verbesserten Gestalt durch Textverordnung der Bundesregierung vom 31. Januar 1925, BGBl. 55, republiziert. Genannt sei endlich das Bundesgesetz vom 2. Juli 1925, BGBl. 257, betreffend die Inanspruchnahme von Grundeigentum für die Kriegsgräber, das dafür Zeugnis ablegt, daß die für die Lebenden gewiß nicht unfruchtbare Gesetzgebung der Nachkriegszeit die Kriegsopfer nicht vergessen hat.

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XVIII. Es war eine der paradoxen Neuerungen der österreichischen Bundesverfassung, daß sie die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern in vielen Punkten unitarischer gemacht hat, als seinerzeit die Zuständigkeitsverteilung zwischen Reich und Ländern gewesen war. Zwar hat die Verwaltungskompetenz der Länder der Republik im Vergleiche mit jener der vormaligen Kronländer eine beträchtliche Erweiterung erfahren; dieser Kompetenzzuwachs auf dem Gebiete der Verwaltung ist aber durch Kompetenzeinbußen auf dem Gebiete der Gesetzgebung von vornherein kompensiert worden. Eine wesentliche Verschärfung erfuhr der unitarische Zug der Zuständigkeitsverteilung noch durch die Verfassungsnovelle vom 30. Juli 1925, BGBl. 268. So erklärt es sich, daß die Landesgesetzgebung, die zeitweilig die ergiebigste Quelle des Verwaltungsrechtes gewesen war, fast versiegt ist. Das Wasserrecht und das Forstrecht - zwei Rechtsgebiete, auf denen sich einzelne Länder nach dem Umsturz in sehr fruchtbarer und origineller Weise betätigt hatten, - sind nach Gesetzgebung und Vollziehung ausschließlich Sache des Bundes geworden. In den mannigfachen Angelegenheiten, die nach Art. 12 des B-VG der Rahmengesetzgebung des Bundes unterliegen, sind Grundsatzgesetze des Bundes bisher noch nicht ergangen, sondern die aus älterer Zeit stammenden gesamtstaatlichen oder landesgesetzlichen Rechtsquellen der betreffenden Materie vorläufig beibehalten worden, so daß die Länder noch keine Gelegenheit bekommen haben, ihre immerhin ansehnlichen Kompetenzen zur Ausführungsgesetzgebung auszuüben. Die Landesgesetzgebung in Unterrichtsangelegenheiten ist zwar quantitativ sehr reichlich, qualitativ jedoch wenig ergiebig, da sie nicht nur an und für sich kompetenzmäßig sehr beschränkt, sondern überdies durch das von der Bundesverfassung für die Landesgesetzgebung in Schulangelegenheiten ausnahmslos eingeführte Erfordernis übereinstimmender Gesetze des Bundes beengt ist; der Großteil der einschlägigen Landesgesetze befaßt sich lediglich mit Fragen des Lehrerdienstrechtes. Aus dem den Ländern verbliebenen Bestände ausschließlicher Landesgesetzgebung gehören zum ständig Wiederkehrenden bloß die Gesetzgebung über Landesabgaben und über Landesanstalten. Aus inhaltlich singulären Landesgesetzen seien zunächst die Kinogesetze erwähnt. Sie wurden durch ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom März 1926 ausgelöst, in dem ausgesprochen worden ist, daß der bisher

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ausgeübten Theater- und Filmzensur durch den später zum Verfassungsgesetz erklärten „Zensurbeschluß" vom 30. Oktober 1918 die rechtliche Grundlage entzogen worden sei, da die bisher geübte Auslegung dieses Beschlusses im Sinne eines bloßen verfassungsrechtlichen Ausschlusses der Pressezensur zu eng gewesen, sondern jede Zensur als ausgeschlossen zu betrachten sei. Vereinzelte Landesgesetze, namentlich das Wiener Kinogesetz vom 11. Juni 1926, versuchen nun den durch den Entfall der Rechtsvorschriften über die Filmzensur entstandenen Leerraum auszufüllen und den Auswüchsen des Filmwesens zu steuern, indem sie nicht bloß eine verwaltungsbehördliche Konzession für die Unternehmung des Lichtbildtheaters vorsehen, sondern auch die Vorführung jedes einzelnen Films vor einer behördlichen Kommission zur Voraussetzung seiner öffentlichen Vorführung machen. Pflichtet man der allerdings nicht ganz überzeugenden Rechtsanschauung des Verfassungsgerichtshofes bei, so ist die Filmgesetzgebung der Länder verfassungsrechtlich bedenklich, da sie ja doch auf eine verschleierte Wiedereinführung der Filmzensur hinausläuft. Eine Lösung dieses rechtlichen Schwebezustandes etwa nach dem Vorbilde des Art. 118 der deutschen Reichsverfassung steht bisher nicht in Frage. Auf ein anderes Blatt gehört der landesgesetzliche Ausbau des landwirtschaftlichen Organisationswesens. Hervorgehoben sei das niederösterreichische Landesgesetz vom 22. Februar 1922, LGB1. 59, das in Analogie zu den bundesrechtlich eingerichteten Kammern für Handel, Gewerbe und Industrie sowie für Arbeiter und Angestellte eine Landes-Landwirschaftskammer als zentrale Interessenvertretung der Land- und Forstwirtschaft eingerichtet hat. Diesen Kammern kommt für das österreichische Recht eine höhere prinzipielle Bedeutung zu, weil mangels einer verfassungsgesetzlichen Verankerung des Rätegedankens allein in diesen Kammern - neben den Betriebsräten - der Rätegedanke rechtlich verkörpert ist. Als letzte in der Reihe der landesgesetzlichen Maßnahmen sollen die Naturschutzgesetze einzelner Länder schon wegen der Beachtung, die sie in Fachkreisen des Auslandes gefunden haben, einer kurzen Betrachtung unterzogen werden. Gesetzlicher Naturschutz ist in den österreichischen Alpenländern, die der Welt so viel an eigenartiger und sogar einzigartiger Naturschönheit zu bieten haben, nichts Neues. Doch die bisherigen gesetzlichen Maßnahmen auf diesem Gebiete, wie etwa die Landesgesetze zum Schutze der Alpenpflanzen und zum Schutze der Singvögel, betrafen nur

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vereinzelte übermäßig gefährdete Naturerscheinungen. Das Neue der österreichischen Naturschutzgesetze aus den letzten Jahren ist der Übergang vom partiellen zum totalen Naturschutz, die gesetzgeberische Zielsetzung, grundsätzlich die gesamte freie Natur, soweit sie schutzbedürftig und schonwürdig ist, vor wirtschaftlich nicht gerechtfertigten Eingriffen und vollends Zerstörungen in Schutz zu nehmen, sowie die Anwendung gewisser, noch nicht dagewesener rechtlicher Mittel zur Erreichung dieses Zieles. Das erste in der Reihe dieser Naturschutzgesetze ist das niederösterreichische Gesetz betreffend Maßnahmen zum Schutze der Natur vom 3. Juli 1924, LGB1. 130, das in der Folge für ein Tiroler und ein Burgenländer Naturschutzgesetz als Muster gedient hat. In anderen Ländern sind Naturschutzgesetze in Vorbereitung, doch will man ein Bundesgesetz zum Schutz der Naturdenkmale abwarten, zu dem mittlerweile ebenfalls durch die Verfassungsnovelle vom 30. Juli 1925 der Bund zuständig geworden ist, um die sonach noch erforderlichen landesgesetzlichen Maßnahmen zur Ergänzung des bundesgesetzlichen Naturschutzes treffen zu können. Im einzelnen haben die aus der Zeit der ungeschmälerten Landeskompetenz stammenden Naturschutzgesetze den Schutz der Naturdenkmale, den Schutz des Landschaftsbildes, den Schutz des Tier- und Pflanzenreiches und die Schaffung von Banngebieten zum Gegenstande. Die Gesetze statuieren die rechtliche Pflicht, zu Naturdenkmalen alle Naturgebilde zu erklären, die wegen ihrer Eigenart oder Seltenheit, wegen ihres wissenschaftlichen oder kulturellen Wertes oder wegen des besonderen Gepräges, das sie dem Landschaftsbilde verleihen, erhaltungswürdig sind. Der Erklärung unterliegen insbesondere natürliche Seen, Wasserläufe, Höhlen, Felsbildungen, Vogelhorste, hervorragende Bäume oder Baumgruppen und sogar ganze Standorte seltener Tier- und Pflanzenarten. Diese Erklärungen spricht die politische Bezirksbehörde entweder auf Antrag des Eigentümers des Naturgebildes oder der Landesfachsteile für Naturschutz des Bundesdenkmalamtes aus. Die Erklärung von Naturdenkmalen ist vom Bezirksgericht im Grundbuch anzumerken und überdies von der politischen Bezirksbehörde in einem eigens zur Verzeichnung der Naturdenkmale eingeführten öffentlichen Buch, dem Naturdenkmalbuche, mit einer kurzen Beschreibung des Naturdenkmales einzutragen. Damit ist die seit langem erhobene Forderung der naturwissenschaftlichen Kreise nach einer systematischen amtlichen Inventarisierung der Naturdenkmale erfüllt. Die bemerkenswerteste Rechtsfolge der rechtskräftigen Erklärung eines Naturdenkmales besteht darin, daß

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die Veränderung oder Zerstörung des Naturdenkmales selbst für den Eigentümer und Pächter nur mit verwaltungsbehördlicher Genehmigung statthaft ist, und daß die vorsätzliche oder fahrlässige, nicht behördlich genehmigte Veränderung und Zerstörung eines Naturdenkmales verwaltungsbehördlich strafbar macht sowie zur möglichsten Wiederherstellung des vorigen Standes bei sonstiger Ersatzvornahme von Seiten der Verwaltungsbehörde verpflichtet. Die Naturhöhlen sind in Niederösterreich aus dem allgemeinen Naturdenkmalschutze ausgenommen und durch ein eigenes Höhlenschutzgesetz vom 3. Juli 1924, LBG1.131, weitergehenden besonderen Schutzvorschriften unterstellt. Der Schutz des Landschaftsbildes besteht in der Hauptsache darin, daß im Zuge eines verwaltungsbehördlichen Verfahrens, aus dem sich Rückwirkungen auf ein schönes Landschaftsbild ergeben können, von Amts wegen, namentlich bei Vorschreibung der Genehmigungsbedingungen, auf möglichst unversehrte Erhaltung des Landschaftsbildes und auf möglichste Anpassung allfälliger Bauwerke an ihre natürliche Umgebung Bedacht zu nehmen ist. Unter Umständen ist sogar die beantragte Genehmigung aus Rücksichten des Naturschutzes zu versagen. In allen diesen Verwaltungsverfahren kommt der Fachstelle für Naturschutz gewissermaßen als staatlichem Anwalt des Naturschutzes Parteirolle zu. Außerdem erteilt das Gesetz den politischen Behörden die Ermächtigung, auch sonstige Eingriffe in das Landschaftsbild, insbesondere die Anbringung störender Plakate in freier Landschaft und die grobe Verunstaltung und Verunreinigung der Landschaft und der Gewässer entweder im allgemeinen oder im Einzelfall zu verbieten sowie die Herstellung des natürlichen Zustandes anzuordnen. Zum Schutz des Tier- und Pflanzenreiches enthält das Gesetz eine Reihe von Blankettbestimmungen, die erst im Verordnungswege zu konkretisieren waren. Die Durchführungsverordnung enthält zu diesem Abschnitt des Gesetzes unter anderem ganze Listen seltener Tierarten, die nicht verfolgt, gefangen oder getötet werden dürfen, ferner Listen seltener Pflanzenarten, die entweder überhaupt nicht oder nur unter Beschränkungen gesammelt oder feilgeboten werden dürfen, endlich Listen seltener Arten von Bäumen und Sträuchern, die nicht gefällt werden dürfen. Der Kern des Abschnittes über Banngebiete ist die Ermächtigung an den Landeshauptmann, Gebietsflächen, die wegen ihres Reichtums an Natur-

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denkmälern oder wegen ihrer hervorragenden landschaftlichen Bedeutung in erhöhtem Maße schutzbedürftig und schonwürdig sind - allerdings nur mit Zustimmung des Eigentümers - zu Banngebieten zu erklären. Die Erklärung zum Banngebiet hat Beschränkungen des Eigentümers in der wirtschaftlichen Nutzung des Grundstückes sowie Beschränkungen anderer Personen zur Folge; die Art der Beschränkungen ist in der Verordnung, mit der die Bannlegung ausgesprochen wird, festzusetzen. Die auf Grund des Gesetzes verhängten Geldstrafen und der Erlös der für verfallen erklärten Waren fallen einem vom Gesetze vorgesehenen Naturschutzfonde zu. Die Fondseinkünfte sind für Zwecke des Naturschutzes, nach Tunlichkeit zur Prämiierung von dem Naturschutz förderlichen Maßnahmen zu verwenden. Die einzelnen Einrichtungen des Gesetzes zeigen, daß hier der Gedanke des gesetzlichen Schutzes von Menschen gegenüber Menschen, wie er namentlich in der Sozialpolitik verwirklicht ist, auf das Verhältnis zwischen Mensch und Natur übertragen ist. Ist das Recht aus seiner ursprünglichen alleinigen Rolle eines Mittels zur Beherrschung des Menschen zur Rolle eines Mittels zum Schutze des Menschen vor seiner eigenen Art emporgewachsen, so offenbart sich in den zuletzt besprochenen Rechtseinrichtungen ein Wandel des Rechtes von seiner ursprünglich alleinigen Rolle eines Mittels zur Beherrschung der Natur zu einem Mittel der Schonung der Natur. Literatur: Rudolf Herrnritt, Österreichisches Verwaltungsrecht, Tübingen 1925; Ludwig Adamovich, Österreichisches Verwaltungsrecht, Wien 1924; Adolf Merkl, Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Berlin 1946, Artikel: Österreich, Verwaltungsrecht.

Rezension von:

Friedrich Tezner, Das freie Ermessen der Verwaltungsbehörden. Kritisch-systematisch erörtert auf Grund der österreichischen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, Leipzig und Wien 1924 Die Literatur über das freie Ermessen hat durch Friedrich Tezner , dem sie bisher bereits mehrere wertvolle Beiträge verdankte, mit dem vorliegenden, Hans Kelsen gewidmeten Buche eine wesentliche Bereicherung erfahren. Es handelt sich nicht so sehr um eine systematische Abhandlung, als vielmehr um eine Sammlung essayartiger Monographien über Einzelprobleme aus unserem Problemkreise, zum großen Teile wahre Kabinettstücke der Darstellungskunst. In gewohnter Weise kombiniert der Verfasser Ausführungen über österreichisches Recht mit Ausführungen, die einer allgemeinen Rechtslehre, im besonderen einer allgemeinen Verwaltungsrechtslehre angehören, kombiniert er des weiteren Ausführungen aus dem Gebiete des positiven Rechtes und der Rechtspolitik. In der Einleitung setzt sich der Autor in gedrängter Kürze mit der widerspruchsvollen Literatur und Judikatur in Sachen des freien Ermessens auseinander. Seine Polemik richtet sich hauptsächlich gegen die BernatzikLaunsche Lehre von der Inhaltslosigkeit des Begriffes des öffentlichen Interesses und von seiner Bedeutung als Ausdruck für eine Blankovollmacht, desgleichen gegen den Versuch derselben Autoren, die in gewissem Sinne nihilistischen Konsequenzen dieser Lehre - Unmöglichkeit der An-

Österreichische Zeitschrift für Verwaltung, 57. Jg. (1924), S. 93-95.

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nähme und Erkenntnis objektiver Ermessensfehler - dadurch zu paralysieren, daß nach dolosem Ermessensmißbrauch oder nach schwer fahrlässigem Gebrauch des Ermessens, also nach Willensfehlern, subjektiven Ermessensüberschreitungen gefahndet wird. Tezners Auffassung vom Wesen des Ermessens wird am besten durch seinen von ihm schon vor Jahrzehnten ausgesprochenen Satz veranschaulicht, daß es einerseits kein Ermessen ohne rechtliche Schranke gibt, und daß andererseits keine rechtliche Schranke so eng gezogen ist, daß sie nicht noch einen Raum für Freiheit ließe, daß strikte und dehnbare Normen nur quantitativ, nicht qualitativ verschieden sind. (Diese Ermessenstheorie wurde viel später auch von Hans Kelsens Rechtslehre übernommen und hat bei diesem Verfasser zu der weiteren wichtigen Nutzanwendung geführt, daß zwischen Akten der gesetzlichen Bindung und des freien Ermessens kein essentieller, sondern nur ein gradueller Unterschied bestehe, indem Bestimmgrund für die Zuordnung der Akte zu der einen oder anderen Gruppe nur der wechselnde Grad der in jedem Falle vorhandenen Bindung sei.)1 Im § 1 „Ermessensbegriffe und Ermessensurteile" leuchtet der Verfasser in die auf „Die Lehre von den Ermessensbegriffen und Ermessensurteilen" gestützte Praxis des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes hinein, in ausgesprochenen Verwaltungsrechtssachen, den Rechtssachen der „vagen" Kategorien, die Behörden ganz frei gewähren zu lassen, kein Verfahren, keine Auslegung, keine Begründung zu fordern und all dies ohne eine praktisch brauchbare Bestimmung ihres Wesens" (S. 15). Treffend hält der Verfasser dieser Praxis, durch die sich der Gerichtshof selbst um eine offenbare Kompetenz und die Parteien um eine Kontrollinstanz bringt, unter anderem entgegen, daß der im Verwaltungsgerichtshofgesetz des Jahres 1875 angefühlte Unzuständigkeitsgrund des freien Ermessens kein absoluter ist, wie etwa der der Zivilrechtssache. Man könnte hinzufügen, daß es in weitem Umfange Ermessenssache ist, ob ein Rechts- oder Ermessensakt vorliegt und daß bei dieser Sachlage ein in rechtsstaatlichem Geist orientierter Gerichtshof konsequent (und nicht bloß gelegentlich) im Sinne seiner Zuständigkeit die Ermessensentscheidung zu treffen hätte. Zumal der „Ent-

1

B-VG.

Vgl. Verfassungsgesetze der Republik Österreich, V. Teil, Kommentar zu Artikel 129

F. Tezner: Das freie Ermessen der Verwaltungsbehörden

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scheidungsgrund des öffentlichen Interesses" (§ 2) als Grenzfall der sogenannten ,,vagen Kategorien" wirkte bei dieser Haltung des Verwaltungsgerichtshofes geradezu „als ein zur Verfügung der Behörde gestellte, gegen die Verwaltungsgerichtsbarkeit gerichtete Sperrvorrichtung" (S. 30). Die Anschauung der behördlichen Personen über das, was im öffentlichen Interesse gelegen ist, wurde für schlechthin maßgebend und darum der verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung entzogen erklärt. Wird somit hauptsächlich dank der praktisch überaus bedeutsamen, oft nur zur Verdeckung einer Rechtserletzung herangezogenen Ermessensformel des öffentlichen Interesses das freie Ermessen zu einer „uneinnehmbaren Bastion des autoritären Absolutismus innerhalb des konstitutionellen Staatsrechtes" (S. 2930), so fordert Tezner demgegenüber revisioneile verwaltungsgerichtliche Entscheidung über den Inhalt und die Grenzen des Begriffes des öffentlichen Interesses. Auch „das Ermessen der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit" (§ 3) ist bis zu einem gewissen Grade verwaltungsgerichtlich kontrollierbar. Das technische Ermessen (§ 4) wird in vielen Fällen zu Unrecht als Ermessen behandelt. Der Grundtenor dieser und aller folgenden Ausführungen kann in der Forderung zusammengefaßt werden, daß die gerichtliche Verwaltungskontrolle nicht aus Scheu vor dem ihr förmlich Tabu gewordenen Warnungszeichen,,Ermessenl" hinter diesem Warnungszeichen verborgene Rechtsverletzungen passieren lasse. Der Verfasser leuchtet in alle Winkel hinein, in denen sich eine anfechtbare Verwaltungspraxis hinter dem bequemen Vorhang der Ermessensfreiheit verbirgt. Würde die Verwaltungsgerichtsbarkeit alle von Tezner gewiesenen Wege der Rechtskontrolle, die gewiß rechtlich zulässig, wenn auch nicht immer rechtlich geboten sind, beschreiten, so könnte die mißbräuchlich aufgefaßte Ermessensfreiheit nie zum Faulbett einer schlampigen oder gar parteiischen und gesetzwidrigen Verwaltungspraxis werden. Wie vielseitig der Verfasser den Problemkreis durchfurcht, davon geben schon die nachstehenden Paragraphentitel eine annähernde Vorstellung: Das Schätzungsermessen, Ermessen und Billigkeit, Zuständigkeitsnormen und Ermessensakte, Beispiele sachlicher Begründung von Ermessensakten, Die Bepackung von Ermessensakten mit gesetzwidrigen Auflagen, Über die bindende Kraft von Ermessensakten und Ermessensurteilen, Das Verordnungsermessen, Ermessen als Wahlfreiheit, Freies Ermessen und Legitimation, Das freie Ermessen und der Gleichheitsanspruch, Das Détournement de pouvoir, Kundgegebene und wahrhafte Beweggründe, Das freie Eimes-

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III.A. Verwaltungsrecht

sen und der Sprachgebrauch der Theorie und der Praxis, Die Ermessensformel des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes und die unzulässigen Ermessensbeschwerden, Das freie Ermessen und die Gesetzesstaatstheorie, Die Regierungsakte und die politischen Schranken der verwaltungsgerichtlichen Ermessenskontrolle, Das Ermessen und das Verwaltungsverfahren, Freies Ermessen und die Quaestio facti, Die freie Beweiswürdigung der Behörden und die verwaltungsgerichtliche Beweiskritik, Freies Ermessen der Verwaltungsbehörden und das private Wissen des Verwaltungsrichters, Unbegreifliche Ermessensurteile, Verwerfung von Ermessensurteilen der Verwaltungsbehörden durch den Verwaltungsrichter wegen falscher Subsumtion der ordnungsmäßig erhobenen Tatsachen, Der Recursus ab abusu oder die Aufsichtsbeschwerde als Rechtsmittel, Freies Ermessen und Mandatsverfahren, Der natürliche Gegensatz von Verwaltung und Justiz und dessen Überbrückung durch die Hilfsfunktion des modernen Verwaltungsrichters, Der Dualismus der österreichischen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung und die bevorzugte Stellung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes in Betreff der Mittel der Ermessenskritik, Die Haftung des Staates und der öffentlichen Verbände für Verfehlungen ihrer Beamten als unentbehrliche Bürgschaft für die Einhaltung der Ermessensschranken, Die Beziehung der Verwaltung des Grerichtswesens des öffentlichen Rechtes zur gerichtlichen Kontrolle der Verwaltung. Es würde weit den unserer Zeitschrift gesteckten Rahmen einer Besprechung übersteigen, wollte man auf alle Problemstellungen und Problemlösungen des Verfassers in gebührender Weise eingehen. Übrigens dürfte sich mir an anderer Stelle demnächst die Gelegenheit bieten, die Ausführungen über einzelne Punkte näher zu beleuchten. Nur eine meritorische Bemerkung sei schon an dieser Stelle gestattet. In einem Nachtrag reflektiert Tezner mit einigen Worten auf mein Buch ,,Die Lehre von der Rechtskraft", sofern ich dortselbst positiv-rechtliche Handhaben zur Änderung von änderungsbedürftigen Verwaltungsakten vermisse, und zitiert sodann einige Bestimmungen des österreichischen Rechtes, welche ,,die jederzeitige Zulässigkeit der Herstellung des polizeilich gebotenen Rechtszustandes ermöglichen sollen, schließt aber diese (für andere Rechtsordnungen offenbar unmaßgebliche) Reihe mit dem Hinweis auf den „vernünftigen Willen des Gesetzgebers" und den „gesunden Menschenverstand".

F. Tezner: Das freie Ermessen der Verwaltungsbehörden

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Diese beiden letzten Rechtsquellen kann man aber - selbst in einer bloß subsidiären Rolle neben dem gesetzten Rechte - vom positivistischen Standpunkte aus nicht gelten lassen. Im Konfliktsfall zwischen gesetztem Recht und gesundem Menschenverstand muß leider vor dem Forum einer vorurteilslosen, nicht ethisch denaturierten Rechtswissenschaft das gesetzte Recht (juristisch) Recht behalten, mag es ethisch oder logisch auch noch so im Unrecht sein. In einem solchen leider nicht seltenen Konfliktsfall ist nicht eine pseudojuristische Retouchierung des „unvernünftigen Rechtes", sondern - neben der Feststellung seiner Unvernunft - nur die rechtspolitische Forderung am Platz, daß sich das gesetzte Recht dem „gesunden Menschenverstände" anpasse. Ich will also nicht anders als Tezner das „vom gesunden Menschenverstand Geforderte", appelliere aber mit dieser Forderung nicht an die Rechtswissenschaft, der damit Unmögliches zugemutet wird, sondern an die Gesetzgebung. Nur ungern nimmt man von dem Buche Abschied, das, mag es zu entschiedener Zustimmung oder zum Widerspruche Anlaß geben, immer fesselt, weil es - was von juristischen Werken nicht allzu häufig festgestellt werden kann - der Ausdruck einer starken, unabhängigen Persönlichkeit darstellt, und geradezu die Bekenntnisschrift eines idealen Verwaltungsrichters ist, der das Rüstzeug seines Berufes theoretisch und praktisch in vorbildlicher Weise meistert.

Die neuen Verwaltungsgesetze in ihrer Bedeutung für das Wirtschaftsleben Das gegenwärtige Verwaltungsrecht ist zum Unterschied von den „Polizeigesetzen" des Polizeistaates und selbst noch von den Verwaltungsgesetzen aus der vom Liberalismus beherrschten Epoche des Rechtsstaates zum weitaus überwiegenden Teile Wirtschaftsrecht. Und der Zuwachs an neuen Verwaltungsgesetzen - man denke etwa an die verschiedenen agrarpolitischen Gesetze, Wasserrechtsgesetze, an das Elektrizitätswegegesetz, an die Neuerungen auf dem Gebiete der Sozialversicherung - verschiebt das Verhältnis innerhalb des gesamten Verwaltungsrechtsstoffes immer mehr zugunsten des schlechthin wirtschaftsrechtlichen oder wenigstens wirtschaftspolitisch bedeutsamen Anteiles innerhalb des Verwaltungsrechtes. Diese Entwicklung des Verwaltungsrechtes hat es mehr noch als die Tatsache, daß Österreich - zum Unterschied etwa von den angelsächsischen Staaten, aber auch selbst von den wichtigsten Gliedstaaten des Deutschen Reiches - , typischer Verwaltungsart ist, d.h. Aufgaben, die anderweitig dem gerichtlichen „Rechtsweg" vorbehalten sind, der reinen Verwaltung überträgt, mit sich gebracht, daß die Wirtschaftskreise hierzulande mehr und wichtigere Berührungspunkte mit verschiedenartigen Verwaltungsbehörden als mit Gerichten haben und desgleichen auch mehr am Zustande des Verwaltungsrechtes und der Verwaltungspraxis als am Zustande des Justizrechtes und der Justizpraxis interessiert sind. Mit dieser Entwicklung des materiellen Verwaltungsrechtes hat nun aber das Recht des Verwaltungsverfahrens nicht im entferntesten Schritt gehalten. In der Zeit des Elektrizitätswege- und Luftschiffahrtsrechtes - um nur die allermodernsten Errungenschaften der Verwaltungsgesetzgebung zu erwähnen - bewegte sich die Verwaltung auf einem Geleise, das ihr durch ein Verfahrensrecht aus der Zeit und dem Zeitgeist der Postkutsche vorge-

Mitteilungen des Verbandes österreichischer Banken und Bankiers 1925, Nr. 9/10, S. 257-272.

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zeichnet war. Kein Wunder, wenn auf diesem Wege die sinnvollsten Verwaltungsvorschriften um ihren Sinn gebracht würden. Was bisher das - nur mit Nachsicht so zu nennende - österreichische Verfahrensrecht dargestellt hat, das war eine bunte Reihe meist vorkonstitutioneller Rechtsquellen, zusammen mehr als dürftigen Inhalts, ergänzt durch die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, der in jahrzentelanger Tätigkeit als gewiß sehr verdienstliches, aber für die moderne Verwaltungspraxis unmöglich zureichendes Surrogat verbindlicher Verfahrensgesetze unverbindliche Verfahrensgrundsätze ausgeprägt hat: im ganzen doch nur ein unzulängliches Konglomerat von Rechtsnormen und Quasinormen, der Gegenstand einer Geheimkunde von Spezialisten, für die große Masse der Interessenten der Verwaltung und selbst der Rechtsanwälte undurchsichtig und unberechenbar. Dieser Zustand des Verwaltungsverfahrens gab der ganzen Verwaltung, mochte sie sich auch auf noch so modernes materielles Verwaltungsrecht stützen können und noch so modern gehaben, bisweilen einen anachronistischen Charakter. Unter diesen Umständen lag dem in Österreich Jahrzehnte alten Schlagworte der ,, Verwaltungsreform" hauptsächlich die Forderung nach einer Reform des Verwaltungsverfahrens zugrunde. So erklärt es sich auch, daß das dankenswerte, aber bloß als „schätzbares" Material verwendete Reformoperat der im Krieg entschlafenen „Kommission zur Förderung der Verwaltungsreform" vornehmlich Verfahrensentwürfe betraf. Und wenn auch in der ersten Zeit nach dem Umstürze der Gedanke der Verfahrensreform im Hintergrunde gestanden war, weil die Forderung nach sogenannter Demokratisierung, d.h. im Grunde nach einer Komplikation und Verteuerung der Verwaltung, in den Vordergrund getreten war, so hat man sich doch noch rechtzeitig des - diesmal guten - alten Sinnes des vielgenannten Schlagwortes der „Verwaltungsreform" besonnen und auf ihr Kernproblem, auf die Verfahrensreform, zurückgegriffen. Es ist gewiß nicht ein Fehler der am 27. Juli 1925 verabschiedeten und am 7. Jänner 1926 in Kraft tretenden Verfahrensgesetze, daß sie den Stempel ihrer Zeit insoferne an sich tragen, als sie unter der Etikette und zum guten Teil wohl auch mit dem Effekt einer ,, Verwaltungsvereinfachung" auf den Plan treten. Die in den „Gesetzen zur Vereinfachung der Verwaltung" niedergelegte Verwaltungsreform ist somit in der Hauptsache eine Verwaltungsverfah-

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rensreform. Abgesehen von dem Verfassungsgesetze, das die Kompetenz des Bundes zu der auch für die Länder verbindlichen Verfahrensreform geschaffen hat, und einem Einführungsgesetze zu den Verfahrensgesetzen, das hauptsächlich die den Verfahrensgesetzen gemeinsamen Bestimmungen enthält, besteht das Reformwerk aus drei Verfahrensgesetzen: dem allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz, dem Verwaltungsstrafgesetz und dem Verwaltungsvollstreckungsgesetz und nur aus einem materiellrechtlichen, und zwar vorwiegend wirtschaftsrechtlichen Gesetze, dem Verwaltungsentlastungsgesetze, das zur Rechtfertigung des Gesamttitels des Reformwerkes zwar unentbehrlich, inhaltlich aber im Vergleiche mit den Verfahrensgesetzen unbedeutender ist. Die genannten drei Verfahrensgesetze stellen die Kodifikation der drei großen Verfahrensarten der Verwaltung und damit bis zu einem gewissen Grade das verwaltungsrechtliche Gegenstück der Zivilprozeß-, Strafprozeßund Exekutionsordnung dar. Die bloße Tatsache dieser Kodifikation eines Rechtes, das bisher teils ungeschrieben, teils so beschaffen war, daß es für den Interessenten einem ungeschriebenen Rechte gleichkam, bedeutet gewiß an sich schon einen unschätzbaren Fortschritt. Erst mit diesem Akte der Gesetzgebung ist für die Rechtstechnik der österreichischen Verwaltung die Forderung der Justizförmigkeit als erfüllt anzusehen, soweit diese doktrinäre Forderung des Liberalismus ökonomisch vertretbar ist. Eine weitergehende Justizförmigkeit der Verwaltung, eine inhaltliche Angleichung des formloseren Verwaltungsverfahrens an das formenreichere Gerichtsverfahren wäre eine überflüssige Erschwerung der Verwaltung für Behörden und Parteien. Einen weiteren Vorteil bedeutet die starke Vereinheitlichung des Verfahrensrechtes, die an sich schon eine ausgiebige Vereinfachung der Verwaltung bewirkt. Die bloße Tatsache der Kodifikation des Verfahrensrechtes hat ja an sich noch keine Gleichförmigkeit des Verfahrens bedungen; im Gegenteil hätte das Vorbild des gerichtlichen Verfahrens eine Differenzierung des Verwaltungsverfahrens nach den verschiedenen Behördentypen, Instanzen und Verwaltungsmaterien nahegelegt. Doch erfreulicherweise nichts davon! Die neuen Verfahrensgesetze sind zwar nicht von allen Verwaltungsbehörden anzuwenden und selbst in ihrem Anwendungsbereiche sind sie nicht die ausschließliche Verfahrensrechtsquelle. Nichtsdestoweniger ist ihr

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Anwendungsbereich so umfassend, daß es nicht viel weiter hätte gezogen werden können. Man kann höchstens bedauern, daß die Ermächtigung, die Geltung der neuen Verfahrensvorschriften im Verordnungswege noch auf weitere Behördenarten auszudehnen, aus dem Regierungsentwurf nicht in den endgültigen Gesetzestext übernommen worden ist. Ohne daß an dieser Stelle die Grenzen des Anwendungsbereiches der neuen Verfahrensgesetze bis in alle Einzelheiten verfolgt werden sollen, kann festgestellt werden, daß sie für die wichtigsten Behördentypen, abgesehen von den Finanzbehörden und von den Postbehörden, entweder zur Gänze oder größtenteils gelten: namentlich für die Behörden der politischen Verwaltung in den Ländern, also Landesregierungsämter (diese in ihrer doppelten Eigenschaft als Nachfolgerinnen der Statthaltereien und der Landesausschüsse, später Landesräte) und Bezirkshauptmannschaften sowie Bundespolizeibehörden, autonome Bezirksbehörden wie die Bezirksvertretungen und Bezirksstraßenausschüsse, Behörden der Gemeinden, vor allem auch der Städte mit eigenem Statut, Schulbehörden, Bergbehörden, Telegraphenbehörden, endlich für Ministerien insoweit, als sie als Oberbehörden der vorgenannten Behördenarten fungieren. Schon aus dieser kursorischen Aufzählung geht hervor, daß das neue Verfahrensrecht die wichtigsten zentralen und lokalen, Bundes- und Lawdesverwaltungsbehörden gleicherweise ergreift. Diese Uniformierung des Verfahrensrechtes über die vom Bundesstaate gezogenen Grenzen hinweg ist ein unitarischer Zug, wie er nicht nur allen Bundesstaaten unbekannt ist, sondern selbst dem altösterreichischen ,,Einheits"-Staate fremd war. Vom wirtschaftspolitischen Standpunkte kann man sich dieses Sieges eines gesunden Opportunismus über in derlei Fragen irrationellen Doktrinarismus nur freuen. Die für die einzelnen Verwaltungsagenden zuständigen Behörden zu bestimmen, ist grundsätzlich nicht Aufgabe der Verfahrensvorschriften, sondern der materiell-rechtlichen VerwaltungsVorschriften. So ist z.B. aus der Gewerbeordnung zu entnehmen, welche Behörden in Gewerbesachen zuständig sind, welche z.B. Gewerbescheine auszustellen und Konzessionen zu erteilen haben, so ist gleicherweise aus dem Berggesetze zu entnehmen, welche Behörden dieses Gesetz anzuwenden berufen sind und dergleichen mehr. Die neuen Verfahrensgesetze hatten keinen Anlaß, diese überkommene und bewährte gesetzgeberische Arbeitsteilung zu durchbrechen, und verweisen daher grundsätzlich auf jene Zuständigkeitsregelung, die sich

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aus den einzelnen materiellen Verwaltungsvorschriften ergibt. Um in Erfahrung zu bringen, welche Verwaltungsbehörde im Einzelfall zuständig ist, muß man also zunächst die besondere Verwaltungsvorschrift, deren Anwendung in Frage steht, sei es nun die Gewerbeordnung, das Elektrizitätswegegesetz, ein Sozialversicherungsgesetz usw., zu Rate ziehen. Nur für jene Fälle, für welche die Verwaltungsvorschriften besondere Zuständigkeitsregeln vermissen lassen, enthält das allgemeine Verfahrensgesetz subsidiär allgemeine Zuständigkeitsregeln. Enthalten die erwähnten Verwaltungsvorschriften über die sachliche Zuständigkeit keine Bestimmungen, so sind in den Angelegenheiten der Bundesverwaltung in erster Instanz die politischen Bezirksbehörden (Bundespolizeibehörden), in zweiter Instanz der Landeshauptmann und in dritter Instanz das Bundeskanzleramt sachlich zuständig. Soweit die erwähnten Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit nichts bestimmen, richtet sich diese: in Sachen, die sich auf ein unbewegliches Gut beziehen, nach der Lage des Gutes, in Sachen, die sich auf den Betrieb einer Unternehmung beziehen, nach dem Ort, an dem das Unternehmen betrieben oder die Tätigkeit ausgeübt wird oder werden soll, in sonstigen Sachen zunächst nach dem Wohnsitz (Sitz) des Beteiligten, und zwar im Zweifelsfalle des belangten oder verpflichteten Teiles, dann nach seinem Aufenthalt, hierauf nach seiner Heimatgemeinde, schließlich nach seinem letzten Wohnsitz (Sitz) im Inlande; wenn aber keiner dieser Zuständigkeitsgründe in Betracht kommen kann oder Gefahr im Verzug ist, nach dem Anlaß zum Einschreiten; kann jedoch auch danach die Zuständigkeit nicht bestimmt werden, so ist die sachlich in Betracht kommende oberste Behörde zuständig. Diese subsidiären Zuständigkeitsregeln haben die Bedeutung, daß für jeden denkbaren Fall im Geltungsbereich der Verfahrensgesetze jede Zuständigkeitsfrage eindeutig beantwortet und der unfruchtbarste Rechtsstreit, nämlich der Kompetenzstreit, fast ausgeschlossen ist; damit verbindet sich der weitere gesetzestechnische Vorteil, daß künftige Verwaltungsvorschriften nur dann, wenn sie die Kompetenzfrage abweichend von jenen subsidiären Kompetenzregeln lösen wollen, überhaupt zu ihr Stellung zu nehmen genötigt sind, daß sie jedoch, wenn die Kompetenzregeln des Verfahrensgesetzes beabsichtigt sind, diese durch das bloße Stillschweigen anwendbar machen. Gewissermaßen die Gegenspieler der Behörden im Prozesse sind die Beteiligten und im besonderen die Parteien. Unter den Beteiligten versteht das Gesetz ,,alle Personen, die eine Tätigkeit der Behörde in Anspruch

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nehmen oder auf die sich die Tätigkeit der Behörde bezieht". Diese Beteiligten erlangen den Charakter von Parteien, „insoweit sie an der Sache vermöge eines Rechtsanspruches oder eines rechtlichen Interesses beteiligt sind". Der Motivenbericht erläutert diese juristisch anfechtbare Begriffsbestimmung in der Weise, daß sie als Partei jeden bezeichnet, der einen Rechtsanspruch, d.h. einen Anspruch auf eine bestimmte behördliche Tätigkeit oder ein rechtliches Interesse, d.h. einen Anspruch auf ein bestimmtes Verfahren hat. Wer keinerlei materiell- oder formalrechtlichen Anspruch, sondern nur ein tatsächliches Interesse habe, sei bloß Beteiligter. Diese Definitionen weichen augenscheinlich von jenen des Gesetzes ab und sind womöglich noch weniger gelungen als jene. Es ist hier nicht der Ort, diese Rechtsfrage weiter zu erörtern, wiewohl sie von mehr als akademischem Interesse ist; denn wenn sich die Rechtsstellung der Partei im Verwaltungsverfahren von der eines sonstigen Beteiligten wesentlich unterscheidet, dann müßten sich diese beiden unterschiedlichen Interessenten nach eindeutigen Unterscheidungsmerkmalen unterscheiden lassen. Voraussichtlich wird die prozessuale Tradition trotz dem in diesem Punkte schwerlich wegweisenden Gesetz zu einer eindeutigen Grenzziehung zwischen den fraglichen Personenkategorien gelangen. Von beträchtlicher praktischer Bedeutung ist auch die Regelung der Vertretungsbefugnis. Die Art dieser Regelung offenbart das Bestreben, den Bedürfnissen des Wirtschaftslebens weitgehend entgegenzukommen. Die Vertretungsvorschriften des Verwaltungsverfahrens sind um vieles formloser und in demselben Maße für die Beteiligten bequemer als die des zivilgerichtlichen Verfahrens: einer der nicht wenigen Vorteile, daß die Justizförmigkeit des Verwaltungsverfahrens nicht in einem bloßen Kopieren des Zivilprozesses gesucht worden ist. Selbstverständlich ist die Regelung auch im Vergleiche mit dem bisherigen Rechtszustand ein bedeutender Fortschritt. Die Beteiligten und ihre gesetzlichen Vertreter können sich, sofern nicht ihr persönliches Erscheinen gefordert wird, durch eigenberechtigte Personen vertreten lassen. Das gilt selbstverständlich auch von juristischen Personen; der verantwortliche Geschäftsführer, der für eine juristische Person die Rolle des gesetzlichen Vertreters spielt, kann sich also im Fall einer an die Unternehmung oder an ihn persönlich gerichteten Vorladung vor der Verwaltungsbehörde regelmäßig durch einen beliebigen Angestellten der Unternehmung vertreten lassen. Allerdings kann die Behörde das persönliche Erscheinen des Beteiligten, im Falle des erwähnten Beispieles

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also des verantwortlichen Geschäftsführers der Unternehmung, nach freiem Ermessen ausdrücklich fordern, wodurch die Vertretungsmöglichkeit eine Einschränkung erfährt, doch ist ein schikanöses Beharren auf dem persönlichen Erscheinen in Fällen, wo dies überflüssig ist, gewiß nicht zu besorgen. Das Gesetz hat den Rechtsanwaltszwang, der durch das Vorbild des gerichtlichen Prozesses in gewissem Umfang immerhin nahegelegt war, durchgängig abgelehnt. Es genügt für alle Arten und Instanzen des Verwaltungsverfahrens die Vertretung durch eine eigenberechtigte Person. Diese hat sich entweder durch eine schriftliche Vollmacht auszuweisen oder kann vor der Behörde auch mündlich bevollmächtigt werden. Die Behörde kann sogar von einer ausdrücklichen Vollmacht absehen, wenn es sich um die Vertretung durch amtsbekannte Familienmitglieder, Haushaltungsangehörige, Angestellte oder durch amtsbekannte Funktionäre von beruflichen oder anderen Organisationen handelt und Zweifel über Bestand und Umfang der Vertretungsbefugnis nicht bestehen. Von erfreulicher Formlosigkeit ist auch der Verkehr zwischen Behörden und Beteiligten. Anträge, Gesuche, Anzeigen, Beschwerden und sonstige Mitteilungen können, wofern eine Verwaltungsvorschrift für bestimmte Fälle nicht anderes vorsieht, bei der Behörde schriftlich oder telegraphisch und, „soweit es der Sache nach tunlich erscheint", auch mündlich angebracht werden. Das mündliche Anbringen ist also allerdings dem schriftlichen Einschreiten nicht ganz gleichgestellt, hauptsächlich wohl aus dem Grunde, weil die Nötigung der Behörden zu beliebigen protokollarischen Aufnahmen mit der Notwendigkeit zu möglichster Arbeitsersparnis nicht in Einklang zu bringen wäre. Telephonische Mitteilungen und Auskünfte sind zwar nicht ausgeschlossen, doch hat es das Gesetz zum Unterschied vom Regierungsentwurf vermieden, den Beteiligten geradezu einen Anspruch auf telephonisches Einschreiten zu geben. Für die Einbringung von Rechtsmitteln und Eingaben, die an eine Frist gebunden sind, oder durch die der Lauf einer Frist bestimmt wird, ist aus begreiflichen Gründen der schriftliche oder telegraphische Weg vorgeschrieben. Im Vergleiche mit der bisherigen Rechtslage bedeutet es eine bemerkenswerte Erleichterung für die Partei und eine gewisse Erschwerung für die Behörde, das Formgebrechen schriftlicher Eingaben wie auch das Fehlen einer Unterschrift an sich die Behörde noch nicht zur Zurückweisung der

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mangehaften Eingabe berechtigen. Die Behörde ist vielmehr verpflichtet, die Behebung von Formgebrechen von Amtswegen zu veranlassen, und kann dem Einschreiter die Behebung der Formgebrechen oder die schriftliche Bestätigung telegraphischer oder mündlicher Anbringen mit der Wirkung auftragen, daß das Anbringen nach fruchtlosem Ablauf nicht mehr berücksichtigt wird. Wird das Formgebrechen rechtzeitig behoben, so gilt die Eingabe als ursprünglich richtig eingebracht. In dieser Vorschrift liegt eine auffällige Ausnahme von der Regel, daß Unkenntnis des Gesetzes schadet. Konnte bisher irgendein Formfehler eine Partei um eine Frist und damit vielleicht um einen beträchtlichen Vermögenswert bringen, so wird es nunmehr Sache der Behörde sein, die Partei gelegentlich ihres Einschreitens bei der Behörde vor solchen Folgen einer Rechtsunkenntnis oder eines sonstigen Versehens nach Möglichkeit zu schützen. Die Lösung der Frage der Akteneinsicht muß man, wenn sie vielleicht auch nicht alle Erwartungen befriedigt, einen beträchlichen Fortschritt nennen. Was bisher in bezug auf diese Frage in Geltung stand, waren in der Hauptsache teils vorkonstitutionelle Vorschriften, die den Amtsorganen die Mitteilung von Akten an Parteien strengstens verboten haben, teils interne Dienstinstruktionen, die, dem Zeitgeist entgegenkommend, in gewissem Umfang die Akteneinsicht freigaben. Selbst der liberale Erlaß vom 1.November 1903, mit dem Ministerpräsident Koerber die politischen Behörden angewiesen hat, die Akteneinsicht zu gestatten, sofern nicht öffentliche Rücksichten augenscheinlich dagegen sprechen und sofern nicht ein berechtigter Anspruch dritter Perosnen auf Geheimhaltung der bezüglichen Aktenstücke besteht, konnte seiner rechtlichen Natur nach keinen Anspruch der Parteien auf Akteneinsicht begründen. Erst die neuen Verfahrensgesetze haben das Verdienst einer solchen schon lange geforderten Reform. Schon die Festlegung des Grundsatzes des Gehörs bedingt in gewissem Umfange die Notwendigkeit der Akteneinsicht. Die Behörde wird aber nunmehr auch ausdrücklich gesetzlich verpflichtet, soferne die Verwaltungsvorschriften nicht ausnahmsweise anderes bestimmen, den Parteien die Einsicht und Abschriftnahme der Akten und Aktenteile zu gestatten, deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist. Von der Akteneinsicht ausgenommen sind Beratungsprotokolle, Amtsvorträge, Erledigungsentwürfe und sonstige Schriftstücke (Mitteilungen anderer Behörden, Meldungen, Berichte und dergleichen), deren Einsichtnahme durch die Parteien eine Schädigung berechtigter Interessen einer

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Partei oder dritter Personen oder eine Gefährdung der Aufgaben der Behörde herbeiführen oder den Zweck des Verfahrens beinträchtigen würde. Unstreitig sind gerade im Verwaltungsverfahren gewisse Beschränkungen der Akteneinsicht und deren sorgfältige Beobachtung gerade im Privatinteresse dringlich geboten, da durch die schrankenlose Freigabe der Akteneinsicht die wichtigsten Betriebsgeheimnisse den Interessenten preisgegeben sein würden. Allen an einem Verfahren beteiligten Parteien muß auf Verlangen die Akteneinsicht in gleichem Umfange gewährt werden. In gewissem Umfang ist demnach die Akteneinsicht gesetzlich gewährleistet, in gewissem Umfang ist sie jedenfalls ausgeschlossen. Die Abgrenzung dieser beiden Bereiche, zwischen denen übrigens eine Sphäre ungebundener Entschlußfreiheit der Behörde zu liegen scheint, gibt dem behördlichen Ermessen immerhin nicht wenig Raum. Die ziemlich weitgehende Wahlfreiheit in den Formen des amtlichen Verkehrs kommt, ähnlich wie der Partei beim Einschreiten, der Behörde bei der Erledigung zugute. Die Behörde hat Anbringen soviel als möglich, insbesondere im Falle von Belehrungen und vorläufigen informativen Verhandlungen, mündlich oder telephonisch zu erledigen. Eine schriftliche Ausfertigung ist jedenfalls auszufolgen oder zuzustellen, wenn sie in den Verwaltungsvorschriften ausdrücklich angeordnet ist oder von der Partei verlangt wird. Die Ausfertigung kann auch telegraphisch erfolgen, wenn die Kosten von der Partei gedeckt werden. Das Ziel des Verwaltungsverfahrens ist normalerweise die Erlassung eines recht- oder pflichtbegründenden Verwaltungsaktes. Derlei Enderledigungen im Verwaltungsverfahren wurden bisher teils als Entscheidungen, teils als Verfügungen bezeichnet, ohne daß freilich zwischen diesen beiden Gruppen von Verwaltungsakten eine strenge Grenzlinie gezogen werden konnte. Zweckmäßigerweise gibt das Gesetz diese theoretisch nicht haltbare Unterscheidung auf und bezeichnet die fraglichen Verwaltungsakte zusammenfassend als Bescheide. In diesem Zusammenhange sind nicht so sehr die Voraussetzungen des Bescheides, namentlich das vom Gesetze besonders eingehend geregelte Ermittlungs- einschließlich des Beweisverfahrens, als vielmehr die Formen und Folgen der Bescheide von Interesse. Die verwaltungsbehördlichen Bescheide sind ausdrücklich als solche zu bezeichnen; sie haben den Spruch über die fragliche Rechtssache und,

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soferne es sich nicht um den Bescheid eines Bundesministeriums oder einer Landesregierung handelt, die Rechtsmittelbelehrung zu enthalten. In den beiden bezeichneten Fällen entfällt die Rechtsmittelbelehrung aus dem Grunde, weil, wenn der Instanzenzug nicht schon früher endet, Bundesministerium oder Landesregierung jedenfalls letzte Instanz sind, jenes für Bundes-, diese für Landesverwaltungssachen. Die Rechtsmittelbelehrung hat anzugeben, ob der Bescheid noch einem weiteren Rechtszug unterliegt oder nicht und bejahendenfalls, innerhalb welcher Frist und bei welcher Behörde die Berufung einzubringen ist. Enthält ein Bescheid fälschlich keine Rechtsmittelbelehrung oder fälschlich die Erklärung, daß kein Rechtsmittel zulässig sei, oder ist keine oder eine kürzere als die gesetzliche Berufungsfrist angegeben, so gilt die Berufung als rechtzeitig, wenn sie innerhalb der gesetzlichen Frist angebracht wurde. Ist in dem Bescheid eine längere als die gesetzliche Frist angegeben, so ist die innerhalb der angegebenen Frist eingebrachte Berufung rechtzeitig. Enthält der Bescheid keine oder eine unrichtige Angabe über die Behörde, bei der die Berufung einzubringen ist, so ist die Berufung auch dann richtig eingebracht, wenn sie bei der Behörde, die den Bescheid ausgefertigt hat, oder bei der irrig angegebenen Behörde eingebracht wurde. Der Sinn dieser zwar etwas verwickelt erscheinenden, aber doch durchaus sinnvollen Vorschriften ist der, daß der Irrtum, welcher der Behörde bei der Rechtsmittelbelehrung unterläuft und bei der bunten Vielzahl von juristisch oft ganz ungebildeten Verwaltungsorganen niemals ganz ausgeschlossen werden kann, keinesfalls der Partei zum Nachteil gereichen darf. Ob sich nun diese an die gesetzlichen Rechtsmittelvorschriften oder an die fälschliche Rechtsmittelbelehrung hält, jedenfalls gilt das Rechtsmittel als gehörig angebracht. Ein weiterer Bestandteil des Bescheides ist seine Begründung. Bescheide sind zu begründen, wenn dem Standpunkte der Partei nicht vollinhaltlich Rechnung getragen oder über Einwendungen oder Anträge von Beteiligten abgesprochen wird. Bescheide können mangels einer ausdrücklichen anderweitigen Vorschrift schriftlich oder mündlich erlassen werden. Eine schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Bescheides ist den bei der Verkündung nicht anwesenden und jenen Parteien zuzustellen, die spätestens drei Tage nach der Verkündung eine Ausfertigung verlangen. Das einzige ordentliche Rechtsmittel gegen verwaltungsbehördliche Bescheide ist die Berufung. Dieses Rechtsmittel tritt auch an die Stelle der

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bisher gelegentlich sogenannten Beschwerde oder des Rekurses. Ob und an welche Stelle eine Berufung zulässig ist, das richtet sich nach den einzelnen Verwaltungsvorschriften, z.B. für Gewerbesachen nach der Gewerbeordnung usw. Die Formen der Berufung regeln aber nunmehr einheitlich die neuen Verfahrensgesetze, die somit an die Stelle der bezüglichen Vorschriften des Rechtsmittelgesetzes vom 12. Mai 1896, RGBl. Nr. 101, treten. Die Berufung ist von der Partei schriftlich oder telegraphisch binnen zwei Wochen bei der Behörde einzubringen, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat. Die Frist beginnt für jede Partei mit der an sie erfolgten Zustellung der schriftlichen Ausfertigung des Bescheides, im Falle bloß mündlicher Verkündigung mit dieser. Diese vierzehntägige Berufungsfrist hat nun aber nicht mehr wie die des Rechtsmittelgesetzes subsidiäre Geltung, d.h. bloß für die Fälle Geltung, wo das einzelne Gesetz eine Bestimmung der Rechtsmittelfrist vermissen läßt, sondern ist bestimmt, die vielfältigen, verschieden festgesetzten Rekursfristen für das gesamte Geltungsbereich des neuen Verwaltungsverfahrens zu ersetzen. Diese Vereinheitlichung der Rechtsmittelfrist ist offenbar ein Vorteil für Behörde und Partei. Nur für Verwaltungsstrafsachen ist - wiederum einheitlich - eine Berufungsfrist von einer Woche festgesetzt. Die Berufung hat den Bescheid zu bezeichnen, gegen den sie sich richtet, und einen begründeten Berufungsantrag zu enthalten. Diese Vorschrift bringt der Partei eine gewiß nicht drückende Belastung, für die Behörde jedoch eine Entlastung, indem sie auf gewisse, völlig haltlose Berufungen nicht mehr einzugehen braucht. Rechtzeitig eingebrachte Berufungen haben aufschiebende Wirkung. Die Behörde kann jedoch die aufschiebende Wirkung ausschließen, wenn die vorzeitige Vollstreckung im Interesse einer Partei oder des öffentlichen Wohles wegen Gefahr im Verzuge dringend geboten ist. Das neue Recht nimmt also zum Unterschiede vom bisherigen Recht einen den Privatinteressen meist günstigeren Standpunkt ein, nämlich den, daß die aufschiebende Wirkung der Berufung die Regel, der Mangel der aufschiebenden Wirkung die im Einzelfalle festzusetzende Ausnahme sein soll. In diesem Zusammenhange verdient der allerdings dem materiellen Verwaltungsrecht angehörige Art. 3 des Verwaltungsentlastungsgesetzes Er-

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wähnung, der eine allgemeine Abkürzung des Instanzenzuges bei geringwertigen Angelegenheiten anordnet. In Angelegenheiten der Bundesverwaltung ist eine Berufung an ein Bundesministerium, auch wenn sie sonst nach den die verschiedenen Gebiete der Verwaltung regelnden Gesetzen und Verordnungen statthaft wäre, unzulässig, sofern es sich um Geldleistungen handelt, für die Berufungsentscheidung ein Geldbetrag von unter 200 S in Frage käme und in der Angelegenheit bereits zwei Instanzen entschieden haben. Für die Fälle, in denen die dem Bundesministerium unmittelbar untergeordnete Behörde eine Entscheidung im Berufungswege bestätigt, erhöht sich die Grenze für die Unzulässigkeit der Berufung an ein Ministerium von 200 Sauf 500 S. An sonstigen Wegen zur Abänderung von Bescheiden sieht das Gesetz die Abänderng und Behebung von Amts wegen, die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor. Zum Unterschiede von dem ordentlichen Rechtsmittel der Berufung kann man jene Rechtsmittel als „außerordentliche" zusammenfassen. Von weitesttragender wirtschaftlicher Bedeutung wird die Regelung der amtswegigen Abänderung von Bescheiden durch die Bestimmungen, welche sich auf die in der Theorie und Praxis heiß umstrittene Frage der Rechtskraft von Bescheiden beziehen. Das Problem, das in Frage steht, wird in seinem Wesen und in seiner Bedeutung am besten durch einige Beispiele beleuchtet. Einem Unternehmen sei für einen Fabriksbetrieb von der Gewerbebehörde die Betriebsanlagegenehmigung erteilt worden. Nachträglich stellt sich heraus, daß die Sicherheitsvorkehrungen zum Schutze der Arbeiterschaft, die in der behördlichen Genehmigung vorgeschrieben wurden, unzulänglich sind. Es fragt sich, ob und unter welchen Voraussetzungen die Behörde nachträglich die Anbringung der ihr erforderlich scheinenden Sicherheitsvorkehrungen anordnen darf. Ein anderer Fall: Ein Unternehmer habe den wasserrechtlichen Konsens zur Anlage und zum Betrieb eines Wasserwerkes erhalten; nachträglich stellt sich heraus, daß das Wasserwerk für die Anrainer Überschwemmungsgefahr mit sich bringt oder den Wasserbedarf von weiter unten am Flußlaufe siedelnden Industrien beeinträchtigt oder auch nur, daß durch die genehmigte Anlage eine rationelle Verwertung der restlichen Wasserkraft unmöglich gemacht wird. Um noch ein drittes aktuelles Beispiel anzuführen: Es habe ein Unternehmer die bahnbehördliche Konzession zur Errichtung einer Bahn erhalten und im Vertrauen auf

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die Konzession den Bahnbau begonnen, vielleicht ihn schon in der vorgeschriebenen Weise beendigt. Nachträglich komme man zu der Einsicht, daß der Betrieb der Bahn sanitäre Gefahren mit sich bringen könne. Es fragt sich in den beiden letzterwähnten Fällen, ob und unter welchen Bedingungen die Behörde die wasserrechtliche oder eisenbahnrechtliche Genehmigung zurücknehmen, einschränken oder deren Ausübung von der Erfüllung weiterer Bedingungen abhängig machen darf. Es sind dies offenbar keine Fragen von bloß akademischer, sondern im Gegenteil von hervorragender praktischer Bedeutung. Jede Kalkulation wird unmöglich, selbst die Rentabilität eines Unternehmens in Frage gestellt, wenn der Unternehmer, der im Besitze einer behördlichen Genehmigung ist und sich vorschriftsmäßig verhält, nicht vor neuen Aufträgen einer Behörde sicher ist, die sich eines Besseren besonnen hat. Andererseits muß man zugeben, daß das „wohlerworbene" „subjektive" Recht des Konzessionärs kein unbedingtes Rührmichnichtan sein kann, wenn Leben oder Gesundheit von Menschen, aber selbst auch, wenn weniger zwingende öffentliche Interessen gefährdet sind. Wenn aber bloß materielle Interessen auf dem Spiele stehen, muß auch das entgegengesetzte öffentliche Interesse, daß die in dem Unternehmen investierten Kapitalien produktiv verwertet werden, in Betracht gezogen werden. Aus diesem Interessenkonflikt hat das bisherige österreichische Verwaltungsrecht keinen Weg gewiesen. Die Verwaltungspraxis hat zwischen dem starren Festhalten an dem Verwaltungsakt im Interesse der Partei und zwischen der Berücksichtigung jedes durch das Parteirecht gehemmten öffentlichen Interesses auf Kosten der Partei ein Kompromiß gesucht. Freilich glich die Judikatur der Verwaltungsbehörden und des Verwaltunsgerichtshofes in diesem Punkt einer Zickzacklinie, deren Verlauf durch den persönlichen Standpunkt des Organs bestimmt und daher für die Interessenten unberechenbar war. 1 Man kann angesichts dieser Sachlage ermessen, welche Bedeutung es hat, daß und auf welche Weise das neue Verfahrensrecht zu dem angedeuteten Interessenkonflikt Stellung nimmt und ihn zu lösen versucht. Das Gesetz geht einen Mittelweg, der zwar dem Ermessen des Organs bei der Abwiegung der gegensätzlichen Interessen noch immer und unvermeidlicherweise

1 Vgl. zu dem Problem auch mein Buch ,,Die Lehre von der Rechtskraft", Wien 1923, Verlag Deuticke.

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ziemlich breiten Spielraum läßt, aber doch solche extreme Lösungen auszuschließen geeignet ist, die den Eindruck von Willkür erwecken müssen. Die Verhaltensweisen gegenüber einem formell rechtskräftigen Bescheide, d.i. einem Bescheide, der einer Berufung nicht oder nicht mehr unterliegt, sind je nach den typischen Fällen, in denen ein Bedürfnis nach der Abänderung eines Bescheides zutage tritt, abgestuft. Völlig starr und unangreifbar ist der Bescheid nur gegenüber dem Angriff eines Beteiligten, namentlich einer Partei. Anbringen von Beteiligten, welche die Abänderung eines derart rechtskräftigen Bescheides begehren, sind wegen entschiedener Sache zurückzuweisen (§ 68 Abs. 1). Ausnahmen erfährt dieser Grundsatz nur in den Fällen, wo die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des Verfahrens, für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und für eine amtswegige Abänderung oder Aufhebung des Bescheides vorliegen. Während aber dem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens und auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Folge zu geben ist, wenn gewisse, taxativ aufgezählte Voraussetzungen dafür vorliegen, hat der Beteiligte unter keinen Umständen auf das amtswegige Einschreiten der Behörde Anspruch, das ja in diesem Falle den Charakter eines amtswegigen Verfahrens verlöre und durch Parteibegehren bedingt sein würde. Für das amtswegige Vorgehen kommt es darauf an, ob jemandem aus dem fraglichen Bescheid ein Recht erwachsen ist oder nicht. Feste Grenzen sind mit dieser Grenzziehung des Gesetzes, das bei dieser Unterscheidung einer falschen Theorie gefolgt ist, allerdings nicht gezogen, da in keinem Falle apodiktisch gesagt werden kann: Aus diesem Bescheid ist ein Recht erwachsen, aus diesem nicht. Das Gesetz schweigt ja meist über die Frage, ob ein subjektives Recht vorliegt, und so ist der Rechtspraktiker auf die Theorie des subjektiven Rechtes verwiesen, die ohne ersichtliche positivrechtliche Gründe in dem einen Fall ein subjektives Recht bejaht, in dem anderen Fall verneint. Jedenfalls werden subjektive Rechte in allen Fällen von Konzessionen, Konsensen, Lizenzen und wie immer diese „konstitutiven" Verfügungen genannt sein mögen, desgleichen aber auch in allen Fällen von Entscheidungen angenommen, mit denen in strittigen Fragen Recht gesprochen wird. Bescheide, aus denen niemandem ein Recht erwachsen ist, können von Amts wegen sowohl von der Behörde, die den Bescheid erlassen hat, als

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auch in Ausübung des Aufsichtsrechtes von der sachlich in Betracht kommenden Oberbehörde aufgehoben oder abgeändert werden. Also freie Widerruflichkeit des Aktes ungefähr in den Fällen, wo man annehmen kann, daß niemand an der Aufrechterhaltung interessiert ist; dieser Widerruf ist nicht einmal an irgendwelche sachliche Voraussetzungen geknüpft; es genügt, daß sich die Behörde eines Besseren besonnen hat. Andere Bescheide - also solche, aus denen nach Auffassung der Theorie und der dieser folgenden Praxis ein Recht erwachsen ist, - kann in Wahrung des öffentlichen Wohles sowohl die Behörde, die den Bescheid in letzter Instanz erlassen hat, als auch die sachlich in Betracht kommende Oberbehörde insoweit abändern, als dies zur Beseitigung von das Leben oder die Gesundheit von Menschen gefährdenden Mißständen oder zur Abwehr schwerer volkswirtschaftlicher Schädigungen notwendig und unvermeidlich ist. Indem das Gesetz eine ausdrückliche positivrechtliche Handhabe für die amtswegige Abänderung von Bescheiden aus Gründen des öffentlichen Interesses für nötig hält und einführt, stellt es sich auf den Boden jener Theorie, die auch den Verwaltungsakten, nicht anders als gerichtlichen Urteilen, Rechtskraft, d.h. Unabänderlichkeit selbst gegenüber den Anforderungen des öffentlichen Interesses zuschreibt. Die Abänderungsmöglichkeit besteht nicht schon bei jedem beliebigen, sondern nur bei qualifiziertem öffentlichen Interesse, oder, wie sich das Gesetz ausdrückt, „öffentlichem Wohle". Es ist nicht dem Ermessen der Behörde anheimgestellt, aus welchen öffentlichen Interessen sie einen Bescheid aufhebt, sie ist dazu nur aus zwei vom Gesetz bezeichneten öffentlichen Interessen ermächtigt: erstens zur Beseitigung von das Leben oder die Gesundheit von Menschen gefährdenden Mißständen, z.B. Explosions- oder Feuersgefahr einer Fabrik, deren Anlage genehmigt ist, aber ebenso auch jede sanitäre Gefahr, z.B. Gefahr der Verunreinigung von Trinkwasser durch eine genehmigte Anlage; zweitens zur Abwehr schwerer volkswirtschaftlicher Schädigungen. Dieser zweite Behebungsgrund ist schon nicht mehr so deutlich umrissen wie der ersterwähnte und gibt dem Ermessen der Behörde einen noch weiteren Spielraum. Wenn nur „schwere" volkswirtschaftliche Schädigungen die amtswegige Behebung des Bescheides rechtfertigen, so ist damit zwar die Möglichkeit der Behebung von Bescheiden eingeengt, zugleich aber die Ermessenssphäre erweitert, denn die Beurteilung, ob eine volkswirtschaftliche Schädigung schwer ist oder nicht, hängt doch fast ganz von der subjektiven Auffassung des Beurteilenden ab.

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In beiden Fällen, in denen die amtswegige Aufhebung von Bescheiden vorgesehen ist, besteht nur eine derartige Möglichkeit, keine Verpflichtung der Behörde. Praktisch ist dieser Unterschied allerdings kaum von Belang, denn in den Fällen, für die amtswegige Behebung des Bescheides vorgesehen ist, wird sich eine Behörde schwerlich der Forderung der öffentlichen Meinung entziehen können. Gerade im Hinblick auf das tatsächliche Übergewicht des öffentlichen Interesses über das vom Bescheide repräsentierte private Interesse ist es nicht überflüssig, daß das Gesetz ein retardierendes Moment gegen das zu starke Vordrängen des öffentlichen Interesses einführt. Es geschieht dies mit den Worten: ,,In allen diesen Fällen hat die Behörde mit möglichster Schonung erworbener Rechte vorzugehen." Diese Anordnung mildert zwar, beseitigt aber nicht die Tatsache, daß sich jedermann die Abänderung eines rechtmäßig erlassenen und in Rechtskraft erwachsenen Bescheides ohne Entschädigung gefallen lassen und sich den Bedingungen eines neuen Bescheides unterwerfen muß, falls einer der vom Gesetz bezeichneten Fälle des öffentlichen Interesses zutrifft. Außer diesen Fällen, wo ein qualifiziertes öffentliches Interesse die Abänderng von Bescheiden rechtfertigt, können Bescheide von Amts wegen in Ausübung des Aufsichtsrechtes von der sachlich in Betracht kommenden Oberbehörde als nichtig erklärt werden, wenn der Bescheid von einer unzuständigen Behörde oder einer nicht richtig zusammengesetzten Kollegialbehörde erlassen wurde, einen strafgesetzwidrigen Erfolg herbeiführen würde, tatsächlich undurchführbar ist oder an einem durch gesetzliche Vorschrift ausdrücklich mit Nichtigkeit bedrohten Fehler leidet. Eine wenig beachtete, aber sehr bemerkens- und beachtenswerte Neuerung ist die Einführung der Entscheidungspflicht (§ 73). Was bisher den Verwaltungsakt in vielen Fällen nicht zu dessen Vorteil vom gerichtlichen Urteil unterscheidet, ist die Tatsache, daß nicht einmal so sehr sein Inhalt als sein Zeitpunkt völlig unberechenbar ist. Wenn auch die große Masse der kleinen Verwaltungssachen eine im Durchschnitt viel raschere Erledigung als geringfügige Justizsachen erfährt, so stehen dem doch auch wieder in der Verwaltungspraxis, teils infolge Überlastung einzelner Verwaltungsbehörden, teils aber auch infolge der beliebten Taktik des Liegenlassens, mit der man um unbequeme Entschließungen herumzukommen sucht, Höchstleistungen der Langsamkeit gegenüber, die in der Justiz unerreicht und undenkbar, gerade auf dem Gebiete der Verwaltung jedoch mitunter viel

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bedenklicher sind, weil durch die Passivität der Verwaltungsbehörde unter Umständen die Eröffnung eines betriebsfertigen Betriebes und die Ausnützung einer seltenen Konjunktur vereitelt wird. Die Reformgesetze beweisen am besten ihren Sinn für wirtschaftliche Notwendigkeiten, indem sie gegen solche Erscheinungen eine radikale und offenbar auch wirksame Abhilfe gewähren. Es ist dies die generelle Aufstellung eines Termines für die Erledigung grundsätzlich aller Verwaltungsangelegenheiten mit Ausnahme der Verwaltungsstrafsachen. Die Behörden sind verpflichtet, wenn in den Verwaltungsvorschriften nichts anderes bestimmt ist, über Anträge von Parteien und Berufungen ohne unnötigen Aufschub, spätestens aber sechs Monate nach deren Einlangen den Bescheid zu erlassen. Wird der Partei innerhalb dieser Frist der Bescheid nicht zugestellt, so geht auf ihr schriftliches Verlangen die Zuständigkeit zur Entscheidung an die sachlich in Betracht kommende Oberbehörde über. Ein solches Verlangen ist unmittelbar bei der Oberbehörde einzubringen. Das Verlangen ist abzuweisen, wenn die Verzögerung ausschließlich auf ein Verschulden der Partei zurückzuführen ist. Die sechsmonatige Frist ist also eine Höchstfrist, denn die Bescheide sollen womöglich früher ergehen, und eine Frist für die Enderledigung, nicht etwa für irgendeine Zwischenerledigung. Die Behörde hat es sich demnach auch angelegen sein zu lassen, die einzelnen Stadien des Verwaltungsverfahrens, z.B. Kommissionierungen oder Beweisaufnahmen so anzusehen, daß ihr für die Enderledigung immer noch Zeit bleibt, und man wird es der Partei nicht verwehren dürfen, auf die Anberaumung der einzelnen Verfahrensakte in dem Sinn Einfluß zu nehmen, daß ein zeitgerechter Abschluß des Verfahrens sichergestellt werde. Die Sanktion der Befristung des Verfahrens besteht in dem - durch Parteiantrag bedingten - Übergang der Zuständigkeit auf die instanzmäßig übergeordnete Behörde, sofern sich nicht etwa die im Instanzenzug höchste Behörde die Säumnis zuschulden kommen läßt. Es ist dies wohl eine für alle Beteiligten unerwünschte Folge eines solchen Parteibegehrens, für die an der Erledigung interessierte Partei vielleicht mehr als für die beteiligten Behörden, weil sie durch einen solchen Antrag unter Umständen genötigt wird, bei der Landes- oder bei der Zentralinstanz entweder selbst zu erscheinen oder sich vertreten zu lassen. Das Gesetz rechnet aber offenbar nicht unbegründetermaßen damit, daß es die Behörde auf diese Wirkung einer ungebührlichen Verzögerung der Erledigung gar nicht ankommen lassen, sondern sich angesichts der Möglichkeit oder Gefahr eines derartigen

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Mißtrauensvotums, das sie vor der Oberbehörde bloßstellt, bemühen werde, das Verfahren rechtzeitig zum Abschluß zu bringen. Die Tatsache, daß es im Falle einer behördlichen Fristüberschreitung ganz der Partei anheimgestellt ist, ob die zur Entscheidung berufene Instanz zuständig bleibt oder nicht, stärkt selbstverständlich sehr die Stellung der Partei gegenüber der Behörde. Begreiflicherweise ist diese Parteidisposition dadurch bedingt, daß ausschließlich die zum Bescheide zuständige Behörde das Verschulden an der Verzögerung trägt, womit gesagt ist, daß die Verzögerung überhaupt verschuldet sein muß, und daß sich insbesondere nicht die Partei, etwa durch unvollständige Instruierung ihres ursprünglichen Antrages, Nichtvorlage von Dokumenten, Plänen und dergleichen, an der Verzögerung mitschuldig gemacht hat. Eine Gefahr bringt allerdings eine so strenge Terminierung des Verfahrens mit sich: daß die Behörde unter dem Drucke des drohenden Fristablaufes selbst bei noch nicht völlig geklärtem Tatbestand die Erledigung trifft und eher die instanzmäßige Abänderung einer Fehlentscheidung als die Anrufung der Oberbehörde wegen Fristüberschreitung riskiert. Man wird die praktischen Auswirkungen der in Rede stehenden, vielleicht interessantesten Bestimmung des Gesetzes erst abzuwarten haben, ehe ihr Wert endgültig beurteilt werden kann. Voraussichtlich wird aber das Tempo der verwaltungsbehördlichen Praxis eine erfreuliche Auffrischung erfahren. Sollte die Beschleunigung die Qualität der Verwaltungspraxis ungünstig beeinflussen, so stellt es das Gesetz selbst frei, soweit sich für weitwendigere Verwaltungsakte bestimmter Art ein solches Bedürfnis herausstellt, die im Verfahrensgesetz allgemein statuierte Frist in einzelnen Verfahrensvorschriften zu verlängern. Von entscheidender wirtschaftlicher Bedeutung ist an der Regelung des Verwaltungsverfahrens naturgemäß die Regelung der Kostenfrage. Man wird offenbar die Tätigkeit einer Verwaltungsbehörde freiwillig nur in Anspruch nehmen, wenn der aus dem Verwaltungsakt erwartete wirtschaftliche Vorteil den Aufwand der Inanspruchnahme der Behörde wesentlich überwiegt. Unter diesem Gesichtspunkte wird man es begrüßen, daß sich die Verfahrensgesetze keineswegs den in der „Sanierungsära" ja immerhin denkbaren Standpunkt zu eigen gemacht haben, daß die Verwaltung sich selbst bezahlt machen müsse, und nirgends die Absicht merken lassen, etwa durch starke finanzielle Inanspruchnahme der Verwaltungsinteressenten diese von einer starken Inanspruchnahme der Verwaltungsbehörden abzuschrecken. Sicherlich wird das Verwaltungsverfahren auch in Hinkunft für

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die Beteiligten im allgemeinen viel weniger kostspielig sein, als es der Zivilprozeß schon heute ist. Was zunächst die Kosten der Beteiligten betrifft, so hat grundsätzlich jeder Beteiligte die ihm im Verwaltungsverfahren erwachsenden Kosten selbst zu bestreiten. Dieser vom Zivilprozeßrecht weit abweichende Grundsatz erfährt nur insoweit eine Durchbrechung, als ausnahmsweise eine einzelne Verwaltungsvorschrift einem Beteiligten einen Kostenersatzanspruch gegen einen anderen Beteiligten zubilligt. Die Frage der Kosten der Behörden ist in der Weise geregelt, daß diese Kosten grundsätzlich von Amts wegen zu tragen sind und lediglich die aus einer Amtshandlung erwachsenden Barauslagen den Beteiligten aufzuerlegen sind, welche die Amtshandlung entweder durch ihr Ansuchen oder durch ihr Verschulden verursacht haben. Für Amtshandlungen der Behörden, die außerhalb des Amtes verrichtet werden, können Kommissionsgebühren eingehoben werden. Die Kommissionsgebühren sind in Bauschbeträgen (nach Tarifen) oder, soweit keine Tarife festgesetzt wurden, als Barauslagen den Beteiligten aufzurechnen. Die Tarife sind nach der für die Amtshandlung aufgewendeten Zeit, nach der Entfernung des Ortes der Amtshandlung vom Amt oder nach der Zahl der notwendigen Amtsorgane durch Verordnung der Bundesregierung, für die Behörden der Länder, Bezirke und Gemeinden durch Verordnung der Landesregierung festzusetzen. Mit den Verfahrenskosten sind die Verwaltungsabgaben nicht zu verwechseln, das sind Gebühren, die aus Anlaß gewisser Amtshandlungen von den Parteien, denen sie zugute kommen, eingehoben werden können, also das Gegenstück der Gerichtsgebühren. Das Gesetz enthält Rahmenbestimmungen über Voraussetzungen und Grenzen solcher Verwaltungsabgaben, die an die Stelle der durch das Gesetz vom 8. Juni 1923, BGBl. Nr. 316, eingeführten Amtstaxen treten sollen. Verwaltungsabgaben können den Parteien nur für die Verleihung von Berechtigungen oder sonstige wesentlich in ihrem Privatinteresse liegende Amtshandlungen auferlegt werden, sofern die Freiheit von derlei Abgaben nicht ausdrücklich durch Gesetz festgesetzt ist. In den Angelegenheiten der Bundesverwaltung sind für das Ausmaß der Verwaltungsabgaben, abgesehen von den durch Gesetz besonders geregelten Fällen, durch Verordnung der Bundesregierung zu erlassende Tarife maßgebend, in denen die Abgaben

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mit festen Ansätzen, die nach objektiven Merkmalen abgestuft sein können, bis zum Höchstbetrag von 100 S im einzelnen Falle festzusetzen sind. Das Ausmaß der Verwaltungsabgaben in den Angelegenheiten der Landes-, Bezirks- und Gemeindeverwaltung richtet sich nach den auf Grund des Finanz-Verfassungsgesetzes und des Abgabenteilungsgesetzes bestehenden landesgesetzlichen Vorschriften. Die Art der Einhebung ist für die Bundesbehörden durch Verordnung der Bundesregierung, für die Behörden der Länder, Bezirke und Gemeinden durch Verordnung der Landesregierung zu regeln. Hinter dieser Ermächtigung verbirgt sich zwar die Absicht einer beträchtlichen Erhöhung der gegenwärtigen, größtenteils freilich ganz geringfügigen Verwaltungsabgaben. Mit dieser voraussichtlich bevorstehenden Tatsache wird man sich aber wohl um den Preis abfinden können, daß die Qualifikation der zitierten Bestimmungen als Verfassungsbestimmungen die Folge hat, daß nunmehr der Bundes- und Landesgesetzgebung über das Ob und Wie der Verwaltungsabgaben unverrückbare verfassungsrechtliche Schranken gezogen sind und daß die verfassungsgesetzliche Höchstgrenze von 100 S - für eine wertvolle wassergesetzliche Konzession und dergleichen gewiß keine übertriebene Gebühr - dafür sorgt, daß die Bäume des Fiskalismus nicht in den Himmel wachsen. Die neue, in ihrer Art gewiß auch höchst beachtliche Kodifikation des Verwaltungsstrafrechtes ist für das Wirtschaftsleben naturgemäß weniger von Belang. Nur vereinzelte Bestimmungen verdienen auch in diesem Zusammenhange hervorgehoben zu werden. Der bisher schon sehr enge Kreis der Privatanklagesachen wird zugunsten der grundsätzlich amtswegigen Verfolgung von Verwaltungsübertretungen noch weiter eingeschränkt. Auf Parteiantrag werden in Hinkunft außer den Ehrenkränkungen nur noch die Eingriffe nach dem Musterschutzgesetze zu verfolgen sein. Unberührt bleibt die Sonderbestimmung des § 3 Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 29. Oktober 1924, BGBl. Nr. 395, wonach ein Strafverfahren wegen der von den politischen Behörden zu bestrafenden Übertretungen der Devisenvorschriften nur auf Antrag der Österreichischen Nationalbank einzuleiten ist. Bei allen sonstigen Verwaltungsübertretungen muß sich also der Geschädigte, wofern er an der Einleitung eines Strafverfahrens Interesse hat, damit begnügen, bei der zuständigen Strafbehörde die Anzeige zu erstatten, auf Grund deren die Behörde bei gegründetem Verdacht das Verfahren einzuleiten verpflichtet ist.

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Erwähnenswert ist ferner, daß das Gesetz nunmehr ausdrücklich die Frage beantwortet, wer für Übertretungen, die sich in der Betriebsführung juristischer Personen ereignen, verantwortlich zu machen ist. Bisher ist die Praxis in dieser Beziehung nicht einheitlich vorgegangen, wenngleich die Tendenz bestand, den allgemein der Behörde namhaft gemachten Geschäftsführer auch für Verwaltungsübertretungen verantwortlich zu machen. Es ist jedoch vorgekommen, daß beliebige Funktionäre einer Unternehmung, vom leitenden Direktor eines Betriebes herab bis zu irgendeinem Werkführer oder sonstigen subalternen Angestellten, wofern sie von der von der Unternehmung im Einzelfalle als verantwortlich bezeichnet worden sind oder sich selbst als verantwortlich ausgegeben haben, zur Verantwortung gezogen worden sind. In Hinkunft gilt der nachstehende Rechtszustand: Trifft eine Handlungs- oder Unterlassungspflicht, deren Nichterfüllung mit Verwaltungsstrafe bedroht ist, eine Gesellschaft, eine Genossenschaft oder einen Verein, so finden, sofern die Verwaltungsvorschrift nichts anderes bestimmt, die Strafbestimmungen auf die satzungsgemäß zur Vertretung nach außen berufenen Organe Anwendung. Diese Organe sind berechtigt und auf Verlangen der Behörde verpflichtet, aus ihrem Kreise eine oder mehrere handlungsfähige Personen zu bestellen, denen für den Gesamtbetrieb oder für bestimmte räumlich oder sachlich abgegrenzte Gebiete die Verantwortung für die Einhaltung der Verwaltungsvorchriften obliegt, soweit solche verantwortliche Vertreter bestellt wurden, finden die Strafbestimmungen zunächst auf sie Anwendung. Für die über ihre Organe oder verantwortlichen Vertreter verhängten Geldstrafen haften die Gesellschaften (Genossenschaften, Vereine) zur ungeteilten Hand mit dem Bestraften. Diese strafrechtliche Haftpflicht der juristischen Personen ist eine Übergangsstufe zwischen ihrer bisherigen völligen strafrechtlichen Unverantwortlichkeit und ihrer hie und da geforderten Strafbarkeit im Verwaltungsstrafverfahren. Im Strafverfahren selbst bringt das neue Gesetz im Vergleiche mit dem bisherigen Rechtszustand eine auffällige Erleichterung. War bisher die Verwaltungsbehörde genötigt, den wegen des geringfügigsten Deliktes Beschuldigten unter allen Umständen zum Amt zu stellen, weil im Verwaltungsstrafverfahren im Gegensatze zum gerichtlichen Strafverfahren eine Kontumazierung ausgeschlossen war, so kann in Hinkunft die Behörde dem Beschuldigten freistellen, entweder zu einem bestimmten Zeitpunkt zu seiner Vernehmung zu erscheinen oder sich bis zu diesem Zeitpunkte schriftlich zu rechtfertigen. Diese Formlosigkeit bedeutet nicht bloß für die

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Behörde, sondern auch für den Beschuldigten, namentlich für den verantwortlichen Geschäftsführer eines größeren Betriebes, in dem gelegentliche kleine Ordnungswidrigkeiten, z.B. die versehentliche Unterlassung der Anmeldung eines Angestellten bei der Krankenkassa und dergleichen, kaum zu vermeiden sind, eine merkliche Erleichterung. Eine noch weitergehende Vereinfachung bedeuten die Strafverfügungen, die in Hinkunft allgemein an Stelle eines förmlichen Straferkenntnisses erlassen werden können, wenn eine Verwaltungsübertretung von einem behördlichen Organ auf Grund eigener dienstlicher Wahrnehmung oder eines vor ihm abgelegten Geständnisses zur Anzeige gebracht wird und die Strafbehörde eine Freiheitsstrafe von höchstens drei Tagen oder eine Geldstrafe von höchstens 200 S zu verhängen findet. Für den Beschuldigten ist diese Formlosigkeit aus dem Grunde keinesfalls nachteilig, weil der bloße Einspruch gegen die Strafverfügung diese zunichte und die Einleitung des ordentlichen Strafverfahrens notwendig macht. Das dritte der drei Verfahrensgesetze, das Verwaltungsvollstreckungsgesetz, stellt die Exekutionsordnung für den Bereich der Verwaltung dar und ersetzt somit den wichtigsten Teil des so viel angefochtenen kaiserlichen Patents vom 20. April 1854, dessen Langlebigkeit sich wohl in der Hauptsache aus diesem seinem unentbehrlichsten Bestandteil, aus der Regelung der verwaltungsbehördlichen Exekution, erklärt. Die Reform auf diesem Gebiete besteht nicht so sehr darin, daß etwa die Verwaltungsvollstreckung der gerichtlichen Exekution nachgebildet worden wäre, sondern darin, daß die Verwaltungsbehörden (mit Ausnahme der Finanzbehörden) Verpflichtungen zu Geldleistungen wahlweise durch die politische Bezirksbehörde als ,, Verwaltungsvollstreckungsbehörde" nach den über die Einbringung direkter Steuern bestehenden Vorschriften oder durch das zuständige Gericht nach den für das gerichtliche Exekutionsverfahren geltenden Bestimmungen vollstrecken können. Es schwebt dabei die Absicht vor, das Doppelgeleise der Eintreibung von Geldleistungen auf ein Geleise, und zwar das gerichtliche Geleise einzuengen. Als Mittel zur Erzwingung anderer Leistungen und Unterlassungen sieht das Gesetz die Ersatzvornahme, die Zwangsstrafe und die Anwendung unmittelbaren Zwanges vor. Die Ersatzvornahme besteht darin, daß eine Arbeits- oder Naturalleistung dann, wenn der hiezu Verpflichtete dieser Pflicht gar nicht oder nicht vollständig oder nicht zur gehörigen Zeit

Die neuen Verwaltungsgesetze in ihrer Bedeutung für das Wirtschaftsleben

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nachgekommen ist, von der Behörde nach vorheriger Androhung auf Gefahr und Kosten des Verpflichteten bewerkstelligt werden kann. Auf diesem Wege können beispielsweise gewerbepolizeiliche Aufträge zu Sicherheitsmaßnahmen in einem Gewerbebetriebe oder baupolizeiliche Aufträge zu Sicherungsmaßnahmen an einem Gebäude im Falle der Nichtfolgeleistung des Beauftragten auf dessen Kosten von der Behörde vollzogen werden. Die Zwangsstrafe wird nach reichsdeutschem Muster allgemein für die Vollstreckung von Verpflichtungen vorgesehen, die eine Duldung oder Unterlassung oder eine Handlung betreffen, die sich wegen ihrer eigentümlichen Beschaffenheit nicht durch einen Dritten bewerkstelligen läßt. Die Zwangsstrafe besteht darin, daß der dieserart Verpflichtete von der Vollstreckungsbehörde durch Geldstrafen oder durch Haft zur Erfüllung seiner Pflicht angehalten wird. Die Zwangsmittel dürfen in jedem einzelnen Fall an Geld den Betrag von 1500 S, an Haft die Dauer von vier Wochen nicht übersteigen. Endlich kann der einem Bescheid entsprechende Zustand, soferne die Gesetze nicht anderes bestimmten, durch Anwendung unmittelbaren Zwanges hergestellt werden, wenn dies auf andere Weise nicht oder nicht rechtzeitig möglich ist.

Verwaltungsrecht Die Republik Österreich ist zum Unterschied von Justizstaaten typischer Verwaltungsstaat. Es sind nicht nur dem „ordentlichen Rechtsweg" entsprechende und ebenbürtige Verwaltungswege ausgebildet, sondern die gesetzliche Zuständigkeitsverteilung bevorzugt den Verwaltungsweg und behält ihm Staatsaufgaben vor, die anderweitig auf den Justizweg verwiesen sind. Dieser Wesenszug trifft für alle Perioden des österreichischen Verwaltungsrechtes zu. Die für die deutschen Lande charakteristische Reihenfolge verwaltungspolitischer Systeme findet sich ebenso wie die Abfolge der entsprechenden staatspolitischen Systeme in Österreich geradezu in Vorbildlichkeit ausgeprägt. Wenn man von der Ära der Landeshoheit mit ihren auf die Verwaltung bezogenen landesfürstlichen Hoheitsrechten absieht, so ist es zunächst die maria-theresianisch-josefinische Ära (1740-1790), deren aufgeklärter Absolutismus sich in der Verwaltung als klassischer polizeistaatlicher Eudämonismus auswirkt. Dem Übergang zum reaktionären Absolutismus der franziszeisch-ferdinandeischen Ära (1792-1848) entspricht im Bereiche der Verwaltung die Umkehr zum repressiven Polizeistaat, der bloß auf Selbstbehauptung des von der nahenden Revolution bedrohten Absolutismus bedacht ist. Im Metternichschen System wird es zur Hauptaufgabe der Verwaltung, Dämme gegen die Gedankenflut der neuen politischen Strömungen des Nationalismus, Liberalismus und Demokratismus aufzurichten. Alle auf diese Aufgabe abgestellten Verwaltungskünste vermögen indes die Revolution des März 1848 nicht aufzuhalten. Jedoch greift die Revolution vorläufig noch nicht vom Bereich der Verfassung auf das der Verwaltung über, sondern ist im Gegenteile von einer anachronistischen Renaissance des aufgeklärten Polizeistaates gefolgt. Gerade in diese Zeit des intermittie-

Österreichisches Recht - Verwaltungsrecht. In: Stier-Somlö/Elster (Hrsg.): Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Berlin, Leipzig: W. de Gruyter & Co. 1927, Bd. IV, S. 326-337.

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renden, durch längere absolutistische Zwischenspiele unterbrochenen Konstitutionalismus (1848-1867) fällt die fruchtbarste Verwaltungsgesetzgebung, von der die konstitutionelle Monarchie während ihres ganzen Bestandes gezehrt und selbst die neue Republik noch die wertvollsten Bausteine übernommen hat. Erst die Staatsgrundgesetze vom 21.XII. 1867 bringen zugleich mit der endgültigen konstitutionellen Verfassung das rechtsstaatliche Regime in der Verwaltung. Der zunächst vorherrschende liberale Doktrinarismus, sodann ein gewisser sozialreformatorischer Interventionismus drücken dieser Epoche (1867-1918) auch verwaltungspolitisch den Stempel auf. Von der Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit (1875) und der etwas lebhafter im Jahre 1885 einsetzenden sozialpolitischen Gesetzgebung abgesehen, bleibt das durch chronische Obstruktion gehemmte Parlament größere verwaltungsrechtliche Leistungen schuldig. Die mit der provisorischen Verfassung vom 30.X. 1918 konstituierte, mit Gesetz vom 12.XI. 1918 (StGBl. 5) proklamierte Republik entfaltet dagegen eine überreichliche Verwaltungsgesetzgebung, die vorzugsweise Organisationsrecht, Wirtschaftsrecht und am meisten soziales Verwaltungsrecht zum Gegenstande hat. Daneben besteht dank der Rezeptionsklausel des § 16 des Gesetzes vom 30.X. 1918 (StGBl. 1) zum großen Teile noch Verwaltungsrecht der Monarchie zu Recht. Rechtsquellen des österreichischen Verwaltungsrechtes sind abgesehen von vorkonstitutionellen Akten wie Patente, Hofdekrete usw.: Gesetze und zwar Reichs-, Staats- und Bundesgesetze einerseits, Landesgesetze andererseits; Staatsverträge, denen mit Eintritt ihrer völkerrechtlichen zugleich auch innerstaatliche Verbindlichkeit zukommt [als Verwaltungsrechtsquellen sind namentlich der „Friedensvertrag" von Saint Germain vom 10.IX.1919 (StGBl. 303 aus 1920) und der Staatsvertrag mit der tschechoslowakischen Republik von Brünn vom 7.VI.1920 (BGBl. 163 aus 1921) von Bedeutung] ; Verordnungen, die zum Unterschied von den gesetzesändernden kaiserlichen Verordnungen der Monarchie und gewissen gesetzesändernden Verordnungen der früheren republikanischen Ära derzeit nach Art. 18 B-VG nur noch zur Vollziehung einfacher Gesetze zulässig sind, zahlenmäßig aber dem Gesetze starke Konkurrenz machen, endlich das Gewohnheitsrecht, das nur kraft gesetzlicher Delegation möglich und von ganz untergeordneter Bedeutung ist. Der Verwaltungsbrauch und mehr noch der verwaltungsgerichtliche Brauch ist zwar wirksam, aber nicht rechtsverbindlich.

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In der Organisation der Verwaltung kommt die bundesstaatliche Verfassung in dem Dualismus der Bundes- und Landesverwaltung zum Ausdruck. Die Vollziehung der Bundesgesetze erfolgt, soweit sie nicht auf den Weg der Gerichtsbarkeit verwiesen ist, teils im Wege der Bundesverwaltung (Art. 10 B-VG), teils im Wege der (autonomen) Landesverwaltung (Art. 11 B-VG), die Vollziehung der Landesgesetze ist ausschließlich Sache der Landesverwaltung (Art. 12, 15 B-VG), soweit nicht ausnahmsweise ein in diesem Punkte an die Zustimmung der Bundesregierung gebundenes Landesgesetz bei der Vollziehung die Mitwirkung von Bundesorganen (z.B. Bundesfinanzbehörden) vorsieht (Art. 97 B-VG). Die Bundesverwaltung wird, soweit nicht eigene Bundesbehörden bestehen (unmittelbare Bundesverwaltung) im übertragenen Wirkungskreise des Bundes von Landesbehörden unter verantwortlicher Oberleitung des vom Landtage gewählten Landeshauptmanns, in Wien vom Bürgermeister in seiner Eigenschaft als Landeshauptmann, versehen (mittelbare Bundesverwaltung) (Art. 102 B-VG). Die Bundeszentralbehörden können in diesen Angelegenheiten an den Landeshauptmann Weisungen richten, für die er der Bundesregierung vor dem Verfassungsgerichtshof verantwortlich ist, und der Rechtsmittelzug geht mangels besonderer gegenteiliger Gesetzesbestimmung vom Landeshauptmann an den zuständigen Bundesminister. Bundeseigene Verwaltungsorgane sind außer dem verfassungsgesetzlich organisierten Bundespräsidenten, dem Rechnungshof und der Bundesregierung sowie den Bundesministern die 7 Bundesministerien und zwar das Bundeskanzleramt und die Ministerien für Unterricht, soziale Verwaltung, Finanzen, Land- und Forstwirtschaft, Handel und Verkehr, Heereswesen (gesetzeskräftige Verordnung der Bundesregierung vom 9.IV. 1923, BGBl. 199). Das Bundeskanzleramt ist zwar nicht dem Range, wohl aber dem Wirkungskreise nach das überragende Ministerium. Um den Kern eines mit dem Verfassungswesen betrauten Ministerratspräsidiums gruppieren sich die Aufgaben der aus Ersparungsrücksichten zusammengelegten Ministerien für Inneres, Äußeres und Justiz. Die den Bundesministerien untergeordneten Bundesverwaltungsorgane scheiden sich in solche der Hoheitsund solche der Wirtschafts-(Betriebs)verwaltung. Verwaltungsorgane des ersten Typus sind: die Staatsanwaltschaften, die in gewissen größeren Städten bestehenden Bundespolizeibehörden, die Schulbehörden, Bergbehörden, Finanzbehörden. Betriebsverwaltungszweige des Bundes sind die Monopolbetriebe (Tabakregie, Salinen, Schieß- und Sprengmittelmonopol-

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betriebe), die Bundesbahnen und Bundesforste (beide als sogenannte Wirtschaftskörper eingerichtet), das Post-, Telegraphen- und Fernsprechwesen, die Bundesdruckereibetriebe. Landesbehörden sind die Landesregierungen (in Wien Stadtsenat) unter Vorsitz des Landeshauptmanns (in Wien Bürgermeister). In einzelnen Ländern sind die obersten Landesverwaltungssachen an die einzelnen Regierungsmitglieder (in Wien amtsführende Stadträte) nach dem Büroprinzip aufgeteilt. Den kanzleitechnischen Apparat der obersten Landesverwaltung stellt das Amt der Landesregierung unter der obersten Leitung des Landeshauptmanns und unter unmittelbarer Leitung des Landesamtsdirektors dar. Der Landeshauptmann bildet mit dem Amt der Landesregierung die „politische Landesbehörde". Untere Landesbehörden sind die „politischen Bezirksbehörden" (regelmäßig Bezirkshauptmannschaften, ausnahmsweise wichtigere Stadtgemeinden, die mit dem Wirkungskreise einer Bezirksbehörde betraut sind - „Statutarstädte" oder „Gebietsgemeinden"). Die politischen Landes- und Bezirksbehörden sind zur Besorgung der (mittelbaren) Bundesverwaltung in der Mittel- und Unterinstanz berufen, soweit nicht besondere Bundesbehörden bestehen. Neben den „politischen" bestehen auch „autonome" Bezirke, das sind höhere Selbstverwaltungskörper für vereinzelte Verwaltungsaufgaben (Schulbezirke, Straßenbezirke, Armenbezirke). Endlich als niedrigste Verwaltungsorgane die Orts- oder politischen Gemeinden, durch das Reichsgemeindegesetz vom 15.111.1862 (RGBl. 18) und in dessen Rahmen durch Landesgemeindeordnungen organisiert und mit einer wohl einzig dastehenden Autonomie ausgestattet. Die Angestellten der Gebietskörperschaften (Bund, Länder, Bezirke, Gemeinden) sind teils „pragmatische", teils „Vertragsangestellte". Jene stehen in einem öffentlich-rechtlichen, in „Dienstpragmatiken" (z.B. Gesetz vom 25.1.1914, StGBl. 15, Dienstpragmatik der Bundesangestellten) geregelten, diese in einem privatrechtlichen Dienstverhältnis; Gerichtsstand für Ansprüche aus dem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis ist der Verfassungsgerichtshof, für Ansprüche aus dem Vertragsverhältnis das ordentliche Gericht. Das Verwaltungsverfahren wurde durch die große Verwaltungsreform des Jahres 1925, die in der Hauptsache formelles Recht zum Gegenstande hatte, zum Teile reformiert, zum Teile erstmals kodifiziert. Das allgemeine Ver-

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waltungsverfahrensgesetz, das Verwaltungsstrafgesetz und das Verwaltungsvollstreckungsgesetz, drei Bundesgesetze vom 21.VII. 1925 (BGBl. 274276) sind annähernd Gegenstücke der Zivilprozeßordnung, Strafprozeßordnung sowie des allgemeinen Teiles des Strafgesetzbuches, endlich der Exekutionsordnung. Das Vorbild dieser Justizgesetze brachte eine ziemlich weitgehende Justizförmigkeit des Verwaltungsverfahrens mit sich. Die Scheidung in ein Beschluß- und Streitverfahren ist dem österreichischen Rechte fremd; alle Arten individueller Verwaltungsakte gehen aus dem nämlichen Verfahren hervor, das insbesondere hinsichtlich der Stellung der Parteien und sonstigen Beteiligten den Bedingungen eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens entspricht, sich jedoch vor gewöhnlichen Verwaltungsbehörden abspielt. Noch auffälliger als diese Uniformierung des Verwaltungsverfahrens ist sein weitgetriebener Unitarismus. Die Verfahrensgesetze gelten nämlich mit wenigen Ausnahmen gleicherweise für Bundes-, Landes- und Gemeindebehörden; an wichtigen Behörden sind vom Geltungsbereich der Gesetze nur die Finanz- und Postbehörden ausgenommen. Die Verfahrensvorschriften nehmen auf die Bedürfnisse der privaten Interessenten der Verwaltung mindestens in demselben Maße Bedacht wie auf das öffentliche Interesse. Als Beweismittel sind Urkunden, Zeugen, Vernehmung von Beteiligten, Sachverständige und Augenschein vorgesehen. Das Verfahren endigt normalerweise mit einem Bescheide, der aus dem Spruche und in der Regel einer Rechtsmittelbelehrung besteht. Mit dem Worte Bescheid wurde ein zusammenfassender Ausdruck für die individuellen obrigkeitlichen Verwaltungsakte, namentlich für die verfahrensrechtlich völlig gleichgestellten Verfügungen und Entscheidungen, in die österreichische Gesetzessprache eingeführt. Das ordentliche Rechtsmittel ist die Berufung, außerordentliche Rechtsmittel sind die Wiederaufnahme des Verfahrens, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, endlich die Abänderung und Behebung von Amts wegen. Mit der ausdrücklichen Zulassung und Regelung des letztgenannten Rechtsmittels stellt sich die österreichische Gesetzgebung auf den Boden der Theorie, die auch den Verwaltungsakten Rechtskraft zuspricht und die Zulässigkeit der Abänderung von Verwaltungsakten aller Art durch positivrechtliche Zulassung bedingt erklärt. Bescheide können in Wahrung des öffentlichen Wohles nur insoweit abgeändert werden, als dies zur Beseitigung von Mißständen, die das Leben oder die Gesundheit von Menschen gefährden, oder zur Abwehr schwerer volkswirtschaflticher Schädigungen notwendig und unvermeidlich ist. Eine be-

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merkenswerte Neuerung ist die sogenannte Entscheidungspflicht: Wird der Partei binnen 6 Monaten nach Einlangen ihres Begehrens aus dem Verschulden der Behörde der Bescheid nicht zugestellt, so geht auf Verlangen der Partei die Zuständigkeit zur Entscheidung auf die Oberbehörde über. Für die Verleihung von Berechtigungen und sonstige wesentlich im Parteiinteresse liegende Amtshandlungen können den Parteien Verwaltungsabgaben auferlegt werden. Das österreichische Verwaltungsstrafrecht ist dadurch gekennzeichnet, daß sich das Verfahren einschließlich des Rechtsmittelzuges gänzlich im Bereiche der Verwaltung abspielt. Verwaltungsübertretung im Sinne der österreichischen Gesetzessprache ist eine von Verwaltungsbehörden zu verfolgende strafbare Handlung. Die Tatbestände finden sich in einer Unzahl von Verwaltungsvorschriften umschrieben, wobei das Bereich der Verwaltungsdelikte im Vergleiche mit den Kriminaldelikten in unverkennbarem Vordringen begriffen ist. Die Fragen der Zurechnung, der Schuld und der Mitschuld, des Versuches, endlich der Strafmittel sind im Verwaltungsstrafgesetze geregelt. Wenn eine Verwaltungsvorschrift über das Verschulden nicht anderes bestimmt, genügt zur Strafbarkeit grundsätzlich fahrlässiges Verhalten. Strafmittel sind Arrest (der in einer Reihe von Strafsätzen bis zur Obergrenze von 6 Monaten geht), Geldstrafen, Verfall von Waren. Außerordentliche Milderung der Strafe im Straferkenntnis ist unter bestimmten Voraussetzungen in der Weise möglich, daß an Stelle der Arreststrafe eine Geldstrafe, bei Jugendlichen auch an Stelle der Arreststrafe Hausarrest oder eine Verwarnung verhängt wird. Das Verwaltungsstrafverfahren ist vom Legalitätsprinzip und von der Offizialmaxime beherrscht: die zuständige Verwaltungsbehörde hat Verwaltungsübertretungen von Amts wegen zu verfolgen. Nur in drei Übertretungsfällen herrscht das Anklageprinzip in Gestalt der Privatanklage von Seiten des Verletzten. Festnehmung wegen einer Verwaltungsübertretung ist nur unter sehr erschwerten Voraussetzungen, Festhaltung des Festgenommenen nur durch höchsten 48 Stunden zulässig. Für das Verfahren wegen Verwaltungsübertretungen sind 3 Wege eröffnet: das ordentliche Strafverfahren, das die zuständige Verwaltungsbehörde durchzuführen hat und von den beiden anderen Verfahrensweisen vornehmlich dadurch unterschieden ist, daß die Verwaltungsbehörde den Beschuldigten Gelegenheit zu geben hat, sich zu rechtfertigen; die Strafverfügung, die unter bestimmten Vorausset-

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zungen von der Behörde wahlweise statt der Durchführung des ordentlichen Verfahrens ergehen kann; das Organstrafmandat, das unter noch weiter eingeengten Voraussetzungen von besonders geschulten Organen der öffentlichen Aufsicht erlassen werden kann. Einspruch gegen die Strafverfügung und Verweigerung der Zahlung der im Organmandat auferlegten Geldstrafe haben ordentliches Strafverfahren der Verwaltungsbehörde zur Folge. Das ordentliche Strafverfahren endigt mit einem Straferkenntnis oder mit der Einstellung des Verfahrens, die zugleich auch die Funktion des Freispruches hat. Gegen das Straferkenntnis steht dem Beschuldigten, gegen die Einstellung dem allfälligen Privatankläger die Berufung an die höhere Verwaltungsbehörde, in keinem Falle jedoch ein Rechtsmittel an das ordentliche Gericht offen. Wurden aus der Verwaltungsübertretung abgeleitete Ansprüche im Bescheide der Verwaltungsbehörde nicht anerkannt, so steht es dem Anspruchsberechtigten frei, sie im ordentlichen Rechtsweg geltend zu machen. Auf Grund einer rechtzeitig eingebrachten Berufung kann die Oberbehörde bei Überwiegen rücksichtswürdiger Umstände die verhängte Strafe auch in eine mildere Strafe umwandeln oder ganz nachsehen. Eine Begnadigung von rechtskräftigen Verwaltungsstrafen ist ausgeschlossen. Für das Verwaltungsstrafverfahren gegen Jugendliche gilt eine Reihe von Sonderbestimmungen. Die Verwaltungsvollstreckung dient der Exekution der von Verwaltungsbehörden erlassenen Bescheide sowie der Einbringung von Geldleistungen, für die durch besondere Vorschriften die Einbringung im Verwaltungswege (politische Exekution) gewährt ist (z.B. Kultusbeiträge und Sozial Versicherungsbeiträge). Zur Verwaltungsvollstreckung sind, soweit nicht ausdrücklich anderes bestimmt ist, also auch zur Vollstreckung nicht eigener Verwaltungsakte, die politischen Bezirksbehörden zuständig. Die finanzbehördliche Steuerexekution folgt besonderen Vorschriften. Die Verpflichtung zu einer Geldleistung ist in der Weise vollstreckbar, daß die Vollstreckungsbehörde entweder selbst die Eintreibung vornimmt oder durch das zuständige Gericht nach den für das gerichtliche Exekutionsverfahren geltenden Vorschriften die Eintreibung veranlaßt. Die Exekutionsmittel zur Erzwingung anderer Leistungen und Unterlassungen sind die Ersatzvornahme, die darin besteht, daß die Verwaltungsbehörde eine ausstehende Arbeits- oder Naturalleistung auf Gefahr und Kosten des Verpflichteten bewerkstelligen läßt, die Zwangsstrafe, die darin besteht, daß der Verpflichtete durch Androhung und Vollziehung von Geldstrafen oder Haft zur Erfüllung seiner Pflicht angehalten wird, endlich die Anwendung unmittelbaren Zwanges.

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Die österreichische Verwaltungsgerichtsbarkeit ist in der Regel Kontrolle der in einem mehr oder weniger justizförmigen Verwaltungsverfahren erzeugten und vor einer Verwaltungsbehörde nicht mehr anfechtbaren individuellen Verwaltungsakte durch echte, mit voller richterlicher Unabhängigkeit ausgestattete Gerichte. Zur Ausübung dieser Verwaltungsgerichtsbarkeit sind weder irgendwelche Verwaltungsbehörden noch auch die ordentlichen Gerichte, sondern ausschließlich Sondergerichte zuständig, in der Hauptsache der durch Gesetz vom 22.X.1875 (RGBl. 36 aus 1876) geschaffene, nunmehr in seinen Grundlagen verfassungsgesetzlich (Art. 129 ff. B-VG) organisierte Verwaltungsgerichtshof und in gewissen Fällen seiner Kompetenz der Verfassungsgerichtshof (Art. 137 ff. B-VG). Die Gerichtsbarkeit des Verwaltungsgerichtshofes ist grundsätzlich aposteriorisch, nämlich durch die Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges bedingt, durch eine Generalklausel so umfassend umschrieben, daß sie einer Popularklage nahekommt, ferner bloß kassatorisch, endlich eine bloße Rechtsprüfung; nur die (bis zur Erlassung eines neuen Organisationsgesetzes noch suspendierte) Zuständigkeit zur Überprüfung des Strafausmaßes gewisser Verwaltungsstraferkenntnisse wird einen reinen Fall von Ermessensprüfung darstellen. Das Recht der einzelnen Verwaltungsaufgaben läßt sich nach Inhalten und Zwecken der österreichischen Verwaltungsgesetzgebung am zweckmäßigsten gruppieren in das Recht des Bevölkerungswesens, der Polizei- und Heeresverwaltung, der Wirtschaftsverwaltung und der kulturell-sozialen Verwaltung. Verwaltungsrechtlich sind in gewissen Beziehungen sowohl die Einzelpersonen als auch die Personengemeinschaften relevant. Vor allem ist der Name in gewisser Hinsicht Gegenstand der Verwaltungstätigkeit; insbesondere ermöglicht ein Hofdekret vom 5.VI.1826 aus rücksichtswürdigen Gründen die Namensänderung durch rechtsbegründenden Verwaltungsakt. Der Adel, wie übrigens auch die bloß zur Auszeichnung verliehenen, mit einer amtlichen Stellung, dem Beruf oder einer wissenschaftlichen oder künstlerischen Befähigung nicht im Zusammenhang stehenden Titel und Würden und die damit verbundenen Ehrenvorzüge österreichischer Staatsbürger wurden durch Verfassungsgesetz vom 3.IV. 1919 (StGBl. 211) mit der Rechtsfolge aufgehoben, daß die Führung des Adels

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verwaltungsbehördlich strafbar macht. - Die Ehe ist in Österreich vorwiegend eine konfessionelle, indem die Seelsorger der gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaften im übertragenen Wirkungskreise des Staates als Trauungsorgane fungieren. Daneben bestehen drei Formen der Zivilehe: die obligatorische, die fakultative und die Notzivilehe. Der § 83 ABGB gibt die Möglichkeit, daß die politische Landesbehörde von Ehehindernissen Dispens erteilt, wobei allerdings die Frage offen geblieben ist, welche Ehehindernisse dispensabel sind. - Auch die Standesregister (Matriken), deren es drei Arten, nämlich Tauf- und Geburts-, Trauungs- und Sterbematriken gibt, sind grundsätzlich konfessionell, d.h. die Seelsorger der gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaften haben im übertragenen Wirkungskreise des Staates für ihre Angehörigen die Standesregister zu führen; nur für die Konfessionslosen und für die standesamtlichen Trauungen werden von der politischen Behörde Zivilstandesregister geführt. - Als wichtigstes Mittel der Bevölkerungsevidenz sieht das Gesetz vom 25.111.1869 (RGBl. 67) periodische Volkszählungen vor, deren Ergebnisse vom Bundesamt für Statistik statistisch zu bearbeiten sind. - Das Staatsbürgerrecht ist im Rahmen der Grundsatzbestimmung des Art. 6 B-VG, demzufolge die Staatsbürgerschaft die Doppelgestalt der Bundes- und Landesbürgerschaft aufweist, im Bundesgesetz vom 30.VII. 1925 (BGBl. 285) geregelt. Daneben sind wichtige Quellen des Staatsbürgerrechtes die Art. 70-82 des Staatsvertrages von Saint Germain und die Art. 1-16 des Brünner Staatsvertrages mit der tschechoslovakischen Republik. Rechtsquelle des Heimatrechtes sind das Heimatgesetz vom 3.XII.1863 (RGBl. 105) mit den Novellen vom 5.XII.1896 (RGBl. 222) und vom 30.VII.1925 (BGBl. 286). Stellen die politischen Rechte den rechtlichen Inhalt der Staatsbürgerschaft dar, so gibt das Heimatrecht das Recht auf ungestörten Aufenthalt und auf Armenversorgung in der Heimatgemeinde. Dem Organisationsrecht gehört als loseste Form einer nur ganz vorübergehenden Gemeinschaft die Versammlung an. Das Versammlungsgesetz vom 15.XI.1867 (RGBl. 135) steht auf dem Boden der Versammlungsfreiheit, die jedoch durch Anzeigepflicht der Veranstalter und durch Verbotsvorbehalt zugunsten der politischen Behörde beschränkt ist; Verbotsgründe sind ein strafgesetzwidriger Zweck oder ein die öffentliche Sicherheit oder das öffentliche Wohl gefährdender Charakter der Versammlung. Für das Vereinswesen stehen verschiedene Rechtsformen zur Verfügung. Der allgemeinste Rechtstyp ist der des Gesetzes über das Vereinsrecht vom

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15.XI.1867 (RGBl. 134), der für alle die Fälle dauernder Vereinigung zu gesellschaftlichen Zwecken platzgreift, für die keine besondere Organisationsform vorgesehen ist. Insoweit, also z.B. für kulturelle oder charitative Zwecke oder auch für Unternehmerverbände und Gewerkschaften, herrscht Vereinsfreiheit, wiederum beschränkt durch Anmeldepflicht der Vereinsgründer unter Vorlage der Vereinsstatuten und Verbotsvorbehalt der politischen Behörde; Verbotsgründe sind rechtswidrige oder staatsgefährliche Zweckbestimmung oder Einrichtung des Vereines. Einem Sonderrechte innerhalb des Systems der Vereinsfreiheit folgen die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften im Sinne des Gesetzes vom 9.IV.1873 (RGBl. 70), z.B. Produktiv- und Konsumgenossenschaften, Vorschuß- und Kreditvereine. - Für einzelne, durch besondere Zwecke charakterisierte Vereinstypen herrscht das Konzessionssystem, und zwar einerseits für religiöse Körperschaften, andererseits für Vereine, die auf Gewinn berechnet sind. Kirchen und Religionsgesellschaften bedürfen zur Erlangung der mit besonderen Berechtigungen und Verpflichtungen verbundenen Rechtsfähigkeit der kultusbehördlichen Anerkennung durch das Ministerium für Unterricht. Es besteht ein Anspruch auf diese Anerkennung (religiöses Koalitionsrecht) unter der Voraussetzung, daß Religionslehre, Gottesdienst, Verfassung und Benennung nichts Gesetzwidriges oder sittlich Anstößiges enthalten und daß die Errichtung sowie der Bestand wenigstens einer gesetzlich eingerichteten Kultusgemeinde gesichert ist. Anerkannt sind die katholische Kirche des römischen, griechischen und armenischen Ritus, die evangelische Kirche beider Bekenntnisse, die griechisch-orientalische Kirche, die isarelitische Religionsgesellschaft, die Lippovaner, Gregorianer und Mohammedaner. Nur die anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften haben Recht bzw. Pflicht der konfessionellen Eheschließung und Matrikenführung, das Recht der Erteilung des Religionsunterrichtes an öffentlichen Schulen, das Recht der exekutiven Eintreibung von Kultusbeiträgen, nur sie unterliegen aber auch der staatlichen Aufsicht, einschränkenden Bestimmungen über die innere Einrichtung und dergleichen. Die gemeinsame öffentliche Religionsübung steht nach dem Staatsvertrag von Saint Germain nichtanerkannten ebenso wie anerkannten Bekenntnissen frei. Die einzelnen anerkannten Bekenntnisse haben eine gesetzliche Sonderregelung erfahren. Demnach herrscht das System der staatlichen Kirchenhoheit und Gleichberechtigung der anerkannten religiösen Körperschaften, die nur zugunsten der katholischen Kirche insofern durchbrochen ist, als deren Geistlichen aus staatlichen Mitteln ein Mindesteinkommen gewährleistet ist (Kongruagesetz vom

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16.IX.1898 [RGBl. 176]). Für den Einzelnen herrscht von Verfassungswegen das System der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die interkonfessionellen Verhältnisse, insbesondere die Fragen der Religionszugehörigkeit, sind durch Gesetz vom 25.V.1868 (RGBl. 49) geregelt. Eheliche Söhne folgen der Religion des Vaters, Töchter und uneheliche Kinder der Religion der Mutter unter Vorbehalt gewisser abweichender Verfügungen der Eltern. Zwischen dem 7. und 14. Lebensjahr ist die Religionszugehörigkeit unveränderlich, mit vollendetem 14. Lebensjahr tritt Religionsmündigkeit, d.h.Wahlfreiheit in bezug auf das Religionsbekenntnis ein. Der Religionsaustritt erfolgt durch Erklärung bei der politischen Bezirksbehörde, der Eintritt in eine andere religiöse Gemeinschaft durch Erklärung bei deren Seelsorger. Das Konzessionssystem herrscht ferner noch nach dem Vereinsgesetz vom 26.XI.1852 (RGBl. 253) für gewisse wirtschaftliche Vereine und Gesellschaften!, und zwar solche, die auf Gewinn berechnet sind, dann alle Vereine für Bank-, Kredit-und Versicherungsgeschäfte sowie Rentenanstalten, Sparkassen und Pfandleihanstalten. Dergleichen Vereine erlangen die Rechtsfähigkeit durch konstitutiven Verwaltungsakt. Die Ermessensfreiheit der Verleihungsbehörde (in der Regel ist dies das Bundeskanzleramt im Einvernehmen mit dem Finanzministerium) ist nicht gesetzlich, sondern nur durch Verordnungen beschränkt, hinsichtlich der wichtigsten Art der hierher gehörigen Organisationen durch das Aktienregulativ vom 20.IX.1899 (RGBl. 175), in dem die Bedingungen der Konzessionierung von Aktiengesellschaften umschrieben sind. Gesellschaften mit beschränkter Haftung im Sinne des Gesetzes vom 6.III.1906 (RGBl. 58) werden durch gewisse Gegenstände des Unternehmens konzessionspflichtig. Endlich besteht das Konzessionssystem auch für Gewerkschaften zur gemeinschaftlichen Ausübung des Bergbaues im Sinne des Berggesetzes vom 23.V.1859 (RGBl. 146). Die sogenannte Koalitionsfreiheit im Sinne des Koalitionsgesetzes vom 7.IV.1870 (RGBl. 43) besteht nicht in der Einrichtung einer besonderen Organisationsform, sondern nur in der Straflosigkeit von Verabredungen, die auf gemeinsame Aussperrungen oder Arbeitseinstellungen abzielen. - Beruhen alle bisher angeführten Organisationsformen auf Freiwilligkeit, so gibt es im Gegensatz dazu auch Zwangsverbände in dem Sinne, daß unter gewissen Voraussetzungen ihre Gründung und der Beitritt bestimmter durch gewisse Berufe oder Berechtigungen gekennzeichneter Personen obligatorisch ist. Hierher werden die verwaltungsrechtlichen

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Zwangsgenossenschaften, und zwar Gewerbe-, Landwirtschafts-, Wasser-, Jagd- und Fischereigenossenschaften gerechnet. Im Grunde gehören auch die Berufs- und Klassenvertretungen hierher, die auch als personelle Selbstverwaltungskörper aufgefaßt werden, das sind einerseits die Rechtsanwalts-, Notariats-, Ärzte-, Ingenieur- und Architektenkammern, die zur Wahrnehmung der Standesinteressen und zur Ausübung der Disziplinarkompetenz über ihre Mitglieder berufen sind, andererseits die Kammern für Handel, Gewerbe und Industrie, die Arbeiter- und Angestellten-, endlich die Landwirtschaftskammern, in deren Wirkungskreis die Begutachtung der für die betreffende Gesellschaftsgruppe belangreichen Gesetzentwürfe hervorragt. Diese Einrichtungen stellen zugleich (abgesehen von den noch zu besprechenden Betriebsräten) für das österreichische Recht die Summe dessen dar, was man rechtliche Verankerung des Rätegedankens nennt. Das Heeres- und das Polizeirecht als die Rechtsordnung des sogenannten staatlichen Machtzweckes ist einesteils infolge des Friedensvertrages, andererseits infolge der fortgesetzten Verdrängung repressiver durch pflegschaftliche Verwaltung zum kleinsten Teilbereiche des Verwaltungsrechtes geworden. Der Staatsvertrag von Saint Germain schreibt Österreich das Söldnersystem und eine Präsenzstärke von höchstens 30 000 Mann vor. Das B-VG (Art. 79-81) sieht als Zwecke des Heeres den Schutz der verfassungsmäßigen Einrichtungen und der Grenzen der Republik, der Ruhe und Ordnung sowie die Hilfeleistung bei Elementarereignissen größeren Umfanges vor. In die Verfügung über die Wehrmacht teilen sich der Nationalrat, die Bundesregierung und der Minister für Heereswesen, nicht der Bundespräsident. Innerhalb dieser Vertrags- und verfassungsmäßigen Rahmenbestimmungen hat das Wehrgesetz vom 18.111.1920 (StGBl. 122) das Heereswesen näher geregelt. Das Polizeirecht ist außerordentlich zersplittert und vorwiegend im Verordnungswege geregelt. An Einrichtungen der Personenpolizei sind bemerkenswert das sogenannte Schubgesetz vom 27.VII.1871 (RGBl. 88), das die Abschiebung und Abschaffung bedenklicher Personen zuläßt, das sogenannte Vagabundengesetz vom 29.V.1885 (RGBl. 89), das polizeiliche Maßnahmen gegen Arbeitsscheue und Landstreicher, insbesondere deren Anhaltung in Besserungs- und Zwangsarbeitsanstalten ermöglicht, das Gesetz vom 10.V.1873, RGBl. 108, das den gerichtlichen Ausspruch der Zulässigkeit der Stellung gewisser Verbrecher unter Polizeiaufsicht vorsieht.

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Bedeutsame Einrichtungen der Sachenpolizei sind die Bauvorschriften der einzelnen Landesbauordnungen, die vornehmlich im Interesse der Sicherheit und Gesundheit Bau- und Benutzungskonsense für Bauten vorsehen, ferner die Feuerpolizeiordnungen der Länder, endlich das Waffenpatent vom 29.X. 1852 (RGBl. 223), das für das Tragen von Waffen die verwaltungsbehördliche Ausstellung eines Waffenpasses zur Voraussetzung macht. - Weiters findet sich im Rahmen zahlreicher sonstiger Verwaltungsvorschriften, die ohne Verkennung ihres Hauptzweckes nicht schlechthin dem Polizeirecht zugezählt werden können, Bestimmungen polizeilichen Charakters. Die Suspension von Grundrechten im Verwaltungswege, das polizeiliche Institut des Ausnahms- oder Belagerungszustandes, ist verfassungsrechtlich ausgeschlossen. Besondere Polizeiexekutivorgane sind die in größeren Städten stationierte Sicherheitswache des Bundes, im übrigen die Gendarmerie des Bundes und Gemeindewachorgane. Auch die Wehrmacht erlangt durch ihre erwähnte Zweckbestimmung stark polizeilichen Charakter. Spezialorgane für besondere polizeiliche Zwecke sind die Forst-, Jagd-, Feldschutz- und Strompolizeiorgane. Das Wirtschaftsrecht regelt sehr verschieden eingehend die einzelnen wirtschaftlichen Prozesse. Die einschlägigen Vorschriften zielen mit ihren interventionistischen Maßregeln darauf ab, einerseits die privatwirtschaftliche Tätigkeit zu fördern, andererseits sie den im öffentlichen Interesse wünschenswerten Beschränkungen zu unterwerfen. - Das Forstrecht ist im Reichsforstgesetz vom 3.XII.1852 (RGBl. 250) kodifiziert und in mehreren Landesgesetzen, namentlich dem niederösterreichischen Walderhaltungsgesetz vom 13.VI.1922 (LGB1. 251) für das Bereich der betreffenden Länder novelliert. Das Verbot der eigenmächtigen Rodung, d.h. der Umwandlung von Waldgrund in anderweitigen Zwecken dienlichen Boden, das Verbot der Waldverwüstung, d.h. einer Wirtschaftsweise, die fernere Holzzucht gefährdet, das Gebot der Wiederaufforstung abgeholzten Waldgrundes, in einzelnen Ländern überdies das Gebot der Anmeldung beabsichtigter Abholzungen mit Verbotsmöglichkeit der Behörde, die Verpflichtung zur Bestellung staatlich geprüfter Wirtschaftsführer für größere Forste, die Möglichkeit der Bannlegung einzelner Wälder, d.h. der Vorschreibung einer besonderen Waldbehandlung, endlich dem Nachbarschutz dienende Verpflichtungen stellen insgesamt ein ganzes System von Vorschriften dar, das

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die Forstwirtschaft zum Zwecke der Erhaltung und Erhöhung der Waldsubstanz reglementiert und das Waldeigentum mehr als jedes andere öffentlichrechtlichen Beschränkungen unterwirft. Eingehende Vorschriften über die Ausübung der Waldservituten und über die Bringung des Holzes, namentlich die Holztrift, sollen die Holzgewinnung möglichst produktiv gestalten. Ein Gesetz vom 28.VII.1925 (BGBl. 282) schafft in der Gestalt des Wirtschaftskörpers „Österreichische Bundesforste" eine neue Organisation für die Forste des Bundes (als des größten österreichischen Grundbesitzers), die darauf abzielt, unter strenger Wahrung des gemeinnützigen Charakters der Staatswälder diesen staatlichen Betriebszweig rentabler zu gestalten. - Im Gegensatz zum forstwirtschaftlichen hat der landwirtschaftliche Grundeigentümer fast völlige Bewegungsfreiheit. Zahlreiche, aber meist unbedeutende landesrechtliche Vorschriften dienen dem Schutz der Landwirtschaft vor der Beeinträchtigung durch dritte Personen und vor den Schädigungen durch verschiedene Schädlinge aus dem Tier- und Pflanzenreich. - Die landesgesetzliche Regelung von Jagd und Fischerei läuft darauf hinaus, den Wild-und Fischstand möglichst zu schonen. Den Inhabern nicht genügend großer Jagd- und Fischereireviere ist die eigene Ausübung ihres Rechtes verwehrt und die Ausübung durch Gemeinden oder eigens zu gründende Genossenschaften, vorwiegend im Wege der Verpachtung, vorgeschrieben. - Das allgemeine Berggesetz vom 23.V.1854 (RGBl. 146) unterwirft alle Mineralien, die wegen ihres Gehaltes an Metall, Schwefel, Alaun, Vitriol oder Kochsalz benützbar sind, ferner insbesondere alle Arten von Kohle dem „Bergregal", d.h. diese sogenannten „vorbehaltenen Mineralien" dürfen vom Grundeigentümer wie von einem Dritten nur mit bergbehördlicher Bewilligung aufgesucht und gewonnen werden. Verschiedene Einrichtungen (Enteignungsermächtigung, Betriebspflicht usw.) sollen die Ergiebigkeit und Sicherheit des Bergbaues sicherstellen. - Das in einem Reichswassergesetz vom 30.V.1869 (RGBl. 93) und in ausführenden sowie abändernden und ergänzenden Landesgesetzen kodifizierte Wasserrecht regelt die für Österreich unschätzbar wichtige Ausnutzung der Wasserkräfte. An öffentlichen Gewässern, wozu in erster Linie die zur Schiffahrt benutzten Flüsse gehören, besteht Gemeingebrauch, an Privatgewässern hingegen ausschließliches Nutzungsrecht des Grundeigentümers unter Vorbehalt der Enteignungsmöglichkeit zugunsten anderer Personen. Die große Nutzung an öffentlichen Gewässern, d.h. eine Benützung, die auf die Beschaffenheit, den Lauf des Wassers oder die Höhe des Wasserstandes Einfluß nehmen kann, insbesondere die Errichtung von Triebwerken und Stauanlagen, bei

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Rückwirkungen auf die Rechte anderer Personen selbst die Nutzung an Privatgewässern, bedarf der Bewilligung von Seiten der politischen Behörde (,,wasserrechtlicher Konsens"). Bei Konkurrenz mehrerer Interessenten erhält der Benutzungsplan von überwiegender volkswirtschaftlicher Wichtigkeit den Vorzug. Eigene neue Wasserkraftnutzungsgesetze einzelner Länder wollen die Verwertung der verfügbaren Wasserkräfte für öffentliche Großkraftwerke sicherstellen. - Mit dem Wasserrecht steht in engstem technischen Zusammenhang das Elektrizitätsrecht. Das Elektrizitätswegegesetz vom 7.VI. 1922 (BGBl. 348) sieht namentlich für Unternehmungen zur Erzeugung von elektrischer Energie wie übrigens auch für die Bundestelegraphenverwaltung die Einräumung von Leitungsrechten über fremden Grund vor. Das Elektrizitätsförderungsgesetz vom 3.III.1925 (BGBl. 149) gewährt den Großkraftwerken finanzielle Begünstigungen. Die älteste Maßnahme des Bodenrechts war die Grundentlastung durch das Patent vom 7.IX.1848. Die Zusammenlegung landwirtschaftlicher Grundstücke hat das Kommassationsgesetz vom 7.VI.1883 (RGBl. 92) in die Wege geleitet. Aus der bodenrechtlichen Gesetzgebung der Republik ragen hervor: das Wiederbesiedlungsgesetz vom 21 .V. 1919 (StGBl. 310) (in novellierter Fassung wiederverlautbart unter BGBl. 688 aus 1921), das die Besiedlung gelegter Bauerngüter und somit die Förderung des Kleingrundbesitzes auf Kosten des Großgrundbesitzes bezweckt, ferner das Grundverkehrsgesetz vom 13.XII.1919 (StGBl. 583), das gewisse Verfügungen über land- und forstwirtschaftliche Grundstücke von der Zustimmung einer Grundverkehrskommission abhängig macht. Die Gewerbeordnung vom 20.XII.1859 (RGBl. 227) behandelt als Gewerbe in einer sehr komnplizierten Abgrenzung im großen und ganzen die erwerbsmäßige Weiterverarbeitung der Rohprodukte bis zum Endprodukt und den Vertrieb aller Produkte mit Ausnahme der Rohprodukte durch den Erzeuger; es fallen also unter den rechtlichen Gewerbebegriff Gewerbe, Industrie und Handel im wirtschaftlichen Sinn, jedoch nicht die liberalen Berufe (wie Ärzte, Rechtsanwälte, Notare) und nicht die wirtschaftlichen Tätigkeiten, die einem Sonderrechte unterliegen, namentlich Privatschulen, Theater und sonstige Vergnügungsstätten, Kreditanstalten, Banken, Versicherungsanstalten sowie Sparkassen, Zeitungsunternehmungen, Eisenbahn- und Dampfschiffahrtsunternehmungen. Die Grundeinteilung der Gewerberechte scheidet sie in die Realgewerbe, die wie eine Sache übertragen

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werden können, und die Personalgewerbe, die in der Weise persönlicher Natur sind, daß sie spätestens mit dem Tode oder Untergange ihres Inhabers erlöschen. Da Realgewerbe nicht mehr begründet werden dürfen, stellen die Personalgewerbe den Normaltypus der Gewerberechte dar. Ihre drei Hauptarten, die freien, konzessionierten und handwerksmäßigen Gewerbe, repräsentieren zugleich die drei nebeneinander herrschenden gewerbepolitischen Systeme: die freien Gewerbe, deren Ausübung durch eine bloße Anmeldung bei der politischen Behörde bedingt ist, das System der Gewerbefreiheit, die konzessionierten Gewerbe, die nur auf Grund einer behördlichen Bewilligung ausgeübt werden dürfen, das Konzessionssystem, die handwerksmäßigen Gewerbe, für die zugleich mit der Anmeldung bei der Behörde ein Befähigungsnachweis, in der Regel durch Bescheinigung der erfolgreich vollstreckten Lehrzeit und der Gehilfenzeit erbracht werden muß, ein erneuertes Zunftsystem. Die zünftlerische Tendenz hat in der Gewerbenovelle vom 5.11.1907 (RGBl. 26) die paradoxe Abart der „an den Befähigungsnachweis gebundenen freien Handelsgewerbe" gezeitigt. Das Erfordernis der Betriebsanlagegenehmigung, das für eine große Reihe vorwiegend fabrikmäßig betriebener Erzeugungszweige besteht, dient der behördlichen Vorschreibung der im Interesse des Lebens, der Gesundheit und der Sittlichkeit der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer sowie des Nachbarschutzes gebotenen Betriebseinrichtung. - Das Verkehrswesen hat je nach den verschiedenen Verkehrsmitteln eine stark differenzierte rechtliche Regelung erfahren. Gegenstand des Eisenbahnrechts sind nur öffentliche Bahnen, das sind im Gemeingebrauch stehende, der Kontrahierungspflicht unterworfene Bahnen, gleichgültig, ob sie im Eigentum oder Betrieb einer öffentlichen Körperschaft oder einer privaten Unternehmung stehen. Im alten Österreich haben Staatsbahn-und Privatbahnsystem wiederholt gewechselt; seit Jahrzehnten besteht ein gemischtes System bei starkem Vorwiegen der Staats-, nunmehr Bundesbahnen. Die Schaffung einer Bundesbahn bedarf eines besonderen Ermächtigungsgesetzes, die Verwaltung der Bundesbahnen beruht auf dem Bundesgesetz vom 19. VII. 1923 (BGBl. 407) über die Bildung eines Wirtschaftskörpers „Österreichische Bundesbahnen". Durch dieses Gesetz wurde die Verwaltung der Bundesbahnen von der Hoheitsverwaltung losgelöst und einer mit juristischer Persönlichkeit ausgestatteten Anstalt mit der Verpflichtung übergeben, den Betrieb bei Wahrung und Sicherung der allgemeinen Interessen nach kaufmännischen Gesichtspunkten zu führen. Allfällige Betriebsüberschüsse sind der Bundeskasse abzuführen, Betriebsabgänge vom Bunde zu decken. Das Anstaltssta-

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tut wird durch Verordnung der Bundesregierung erlassen. Ein Gesetz vom 23.VII.1920 (StGBl. 359) hat die Überführung der Bundesbahnen in die elektrische Betriebsform eingeleitet. Die öffentlichen Bahnen anderer öffentlicher Körperschaften (Land, Bezirk, Gemeinde) und privater Unternehmungen bedürfen der Konzessionierung, deren Voraussetzungen und Folgen für Hauptbahnen im Eisenbahnkonzessionsgesetz vom 14.IX.1854 (RGBl. 238), für Bahnen niederer Ordnung (Lokalbahnen und Kleinbahnen) in einem diese Bahntypen begünstigenden Gesetz vom 8.VIII.1910 (RGBl. 149) geregelt sind. Rechtsfolgen der Konzessionierung sind unter anderen ein Verkehrsmonopol, aber auch eine Betriebspflicht der Bahn für die fragliche Strecke, die Tarifhoheit und das Heimfallsrecht des Bundes, wonach die Bahn spätestens nach 90 Jahren entschädigungslos in das Eigentum des Bundes übergeht. Ein Gesetz vom 18.11.1878 (RGBl. 80) hat die Enteignung für Eisenbahnzwecke in der Weise geregelt, daß das Enteignungserkenntnis von der politischen Landesbehörde zu fällen und die Entschädigung vom Gericht zu bemessen ist; das Eisenbahnenteignungsgesetz ist für die meisten späteren Enteignungsermächtigungen vorbildlich geworden. - Das Straßenrecht, kodifiziert im Bundesgesetz vom 8.VII.1921 (BGBl. 387) und in Landesgesetzen, verteilt die Straßenlast, d.h. die Verpflichtung zum Bau und zur Erhaltung von öffentlichen Straßen je nach der Bedeutung der Straßen für den Verkehr auf alle Gebietskörperschaften, so daß es in Österreich Bundes-, Landes-, Bezirks- und Gemeindestraßen gibt.Die Schiffahrt ist in verschiedenen Rechtsquellen in der Weise geregelt, daß für die Schiffahrtsunernehmung und für das einzelne Fahrzeug eine Konzession erforderlich ist. - Die Luftschiffahrt ist nach ähnlichen Grundsätzen im Gesetz vom 10.XII.1919 (StGBl. 578) geregelt. - Das Postwesen ist im Patente vom 5.XI.1837 und in dessen Rahmen von der „Postordnung" [Ministerialverordnung vom 5.VII.1922 (BGBl. 406)] geregelt. Die Post ist ein von der (unselbständigen) Postanstalt ausgeübtes „Regal" des Bundes, was in diesem Falle so viel wie Monopol bedeutet. - Das Telegraphenwesen wurde durch Bundesgesetz vom 18.VII.1924 (BGBl. 263) neu geregelt; danach besteht auch ein Telegraphenmonopol des Bundes, das grundsätzlich von der (unselbständigen) Telegraphenanstalt auszuüben ist, dessen Ausübung aber auch teilweise (z.B. hinsichtlich des Rundspruchverkehres) Privatunernehmungen übertragen werden kann. Das vorherrschende privatkapitalistische Wirtschaftssystem hat eine nach dem Umsturz einsetzende Sozialisierungsgesetzgebung zu durchbre-

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chen versucht. Die einschlägigen Gesetze, vor allem das grundlegende Gesetz über die Vorbereitung der Sozialisierung vom 14.III. 1919 (StGBl. 181), besteht zwar größtenteils noch zu Recht, es wird aber von den in ihnen ertreilten Ermächtigungen nicht Gebrauch gemacht. Zu praktischer Bedeutung ist nur das Gesetz vom 29.VII. 1919 (StGBl. 389) über gemeinwirtschaftliche Unternehmungen gekommen. Einzelne Betriebe wurden auf die in diesem Gesetz vorgesehene Weise „sozialisiert" und bestehen auch heute noch in dieser Rechtsform. Das Betriebsrätegesetz vom 15.V.1919 (StGBl. 283), das als Vorstufe des sozialisierten Betriebes eine konstitutionelle oder demokratische Form des kapitalistischen Betriebes schaffen sollte, hat sich vollkommen eingelebt, die darein gesetzten Erwartungen jedoch nur teilweise erfüllt. Das kulturell-soziale Recht gliedert sich nach der vorwiegenden kulturpolitischen oder sozialpolitischen Tendenz in zwei Teilbereiche. Das Unterrrichtsrecht ist von den Verfassungsgrundsätzen der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre, der allgemeinen Unterrichtsfreiheit und der staatlichen Unterrichtshoheit beherrscht. Die öffentlichen, d.h. von einer Gebietskörperschaft errichteten und erhaltenen Schulen aller Stufen sind als Simultanschulen eingerichtet (§ 3 des Gesetzes vom 25.V.1868 [RGBl. 48]), indem Angehörige aller Konfessionen zur Unterrichtserteilung wie zum Schulbesuche zugelassen sind; private Schulen (hauptsächlich Vereins- und Klosterschulen) können als konfessionelle Schulen geführt werden. Ist die öffentliche Schule interkonfessionell, so ist sie doch nicht konfessionslos. Das Reichsvolksschulgesetz vom 14.V.1869 (RGBl. 62) stellt der Elementarschule unter anderem die Aufgabe, die Kinder sittlich-religiös zu erziehen. Religionslehre ist Pflichtgegenstand. Selbstverständlich statuiert das Gesetz allgemeine Schulpflicht, eine Einrichtung, die in Österreich auf eine Entschließung der Kaiserin Maria Theresia zurückreicht; im Grunde handelt es sich um eine durch Verwaltungsstrafe sanktionierte Verpflichtung der Eltern und verantwortlichen Erzieher, die Kinder zwischen dem vollendeten 6. und 14. Lebensjahre zum Schulbesuche anzuhalten. Die Schullast ist landesgesetzlich derart verteilt, daß der Sachaufwand für die öffentlichen Volksschulen von der Schulgemeinde, der Personalaufwand in der Regel vom Lande zu tragen ist. Die einzelnen Mittelschul- und Hochschultypen sind durch besondere Organisationsvorschriften, meist Verordnungen, geregelt. Die Universitäten durch das mit Bundesgesetz vom 20.VII. 1922 (BGBl. 546) novellierte Reichsgesetz vom 27.IV. 1873 (RGBl. 63). Es be-

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stehen 3 Universitäten (Wien, Graz, Innsbruck), 2 technische Hochschulen (Wien, Graz), die Hochschule für Bodenkultur, die tierärztliche Hochschule, die Akademie der bildenden Künste, die Hochschule für Musik und darstellende Kunst, die Hochschule für Welthandel (alle in Wien), die montanistische Hochschule in Leoben. An diesen Hochschulen werden das theologische, philosophische, juristische, staatswissenschaftliche, medizinische, technische Doktorat, endlich die Doktorate der Bodenkultur und der Tierheilkunde vergeben; die Hochschulen, mit Ausnahme der privaten Welthandelshochschule, sind ausschließlich, die Mittelschulen vorwiegende Bundesanstalten. Art. 68 des Staatsvertrages von Saint Germain erlegt Österreich die Verpflichtung zur Erhaltung von öffentlichen Schulen für die nationalen Minderheiten auf. - Das weitverzweigte hochstehende Volksbildungswesen Österreichs ist zur Gänze in den Händen privater Vereine. - Die Organisationsvorschriften für die staatlichen Einrichtungen zur Pflege der Kunst und Wissenschaft finden sich, abgesehen vom Organisationsgesetz für die Akademie der Wissenschaften vom 14.X.1921 (BGBl. 569), in den verschiedensten Organisationsverordnungen verstreut. - Für das Gesundheitswesen stellen die wichtigsten gesamtstaatlichen Rechtsgrundlagen das Reichssanitätsgesetz vom 30.IV. 1870 (RGBl. 68) und das Epidemiegesetz vom 14.111.1913 (RGBl. 67) dar; sehr verzweigt sind die Vorschriften über das Heilpersonal und die Heilanstalten. Das organisatorisch mit dem Sanitätswesen verknüpfte Begräbniswesen ist Gegenstand der wohl ältesten noch teilweise geltenden Verwaltungsvorschriften, zweier Hofdekrete aus dem Jahre 1784. - Die geschichtlich und begrifflich grundlegende und zugleich primitivste Maßregel der Sozialpolitik ist die Armenpflege. Die Heimatordnung hat, wie erwähnt, die Armenlast den Gemeinden aufgebürdet; einzelne Landesgesetze haben zur gemeinsamen Tragung der Armenlast je eine Mehrzahl von Gemeinden in ,,Armenbezirken" zusammengefaßt. Die Armenlast besteht in der Verpflichtung zur Gewährung des notwendigen Unterhaltes, der Krankenverpflegung und Sorge für die Erziehung verwaister Kinder; diese Verpflichtung ist insofern subsidiär, als anderweitige verwaltungsrechtliche oder zivilrechtliche Unterhaltsansprüche dem Versorgungsanspruch aus dem Titel des Armenrechtes vorangehen. - Die Sozialversicherung bedeutet den Hauptfall verwaltungsrechtlicher Versorgungsansprüche, welche die Armenversorgung auszuschalten bestimmt sind. An Versicherungszweigen wurden bisher eingeführt: die Unfallversicherung durch Gesetz vom 28.XII.1887 (RGBl. 1 aus 1888), die Krankenversicherung durch Gesetz vom 30.111.1888 (RGBl. 33), die Pensionsversi-

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cherung der Angestellten durch Gesetz vom 9.XII. 1906 (RGBl. 1 aus 1907), die Arbeitslosenversicherung durch Vollzugsanweisung vom 9.V.1919 (StGBl. 289), gesetzlich fundiert mittels Gesetz vom 24.111.1920 (StGBl. 153); alle genannten Gesetze wurden häufig novelliert. Ein Gesetzentwurf für eine Alters- und InvaliditätsVersicherung wurde 1925 im Nationalrat eingebracht. Das Invalidenentschädigungsgesetz vom 25.IV. 1919 (StGBl. 245), in neuer Fassung verlautbart mittels Verordnung vom 31.1.1925 (BGBl. 55) regelt die Versorgung der Kriegsinvaliden. Ein Gesetz vom 18.XII.1919 (StGBl. 573) hat das ehemals hofärarische Vermögen entschädigungslos einem Kriegsgeschädigtenfonds überantwortet. Den breitesten Raum in der sozialpolitischen Gesetzgebung nimmt der Arbeiter- und Angestelltenschutz ein. Die ersten Beschränkungen der Arbeitszeit im Bergbau (Zehnstundentag) hat ein Gesetz aus 1884, im Gewerbe (Elfstundentag) ein Gesetz aus 1885 eingeführt. Der gegenwärtig mit verhältnismäßig geringfügigen Beschränkungen geltende Achtstundentag hat im Gesetz vom 17.XII.1919 (StGBl. 581) seine rechtliche Grundlage. Ein Gesetz vom 15.V.1919 (StGBl. 282) verbietet die Nachtarbeit in gewerblichen Betrieben für Frauen und für jugendliche männliche Arbeiter. Eine Novelle zur Gewerbeordnung vom 16.1.1895 (RGBl. 1) hat die gewerbliche Sonntagsruhe eingeführt. Ein Gesetz vom 14.1.1910 (RGBl. 19), novelliert durch Gesetz vom 15.V.1919 (StGBl. 282) regelt den Ladenschluß im Handelsgewerbe. Ein ziemlich schwächliches Gesetz vom 19.XII.1918 (StGBl. 141) regelt die Kinderarbeit, um wenigstens die ärgsten Ausbeutungen der kindlichen Arbeitskraft hintanzuhalten. Ein Gesetz vom 19.XII.1918 (StGBl. 140) enthält Schutzvorschriften für die Heimarbeiter, worunter namentlich die Möglichkeit der Festsetzung von Mindestlöhnen durch Heimarbeitskommissionen bemerkenswert ist. Das Gesetz vom 18.XII.1919 (BGBl. 16 aus 1920) über die Errichtung von Einigungsämtern und über kollektive Arbeitsverträge sieht insbesondere die Möglichkeit vor, daß partitätisch zusammengesetzte Kommissionen den Inhalt von Kollektivverträgen über das Vertragsbereich hinaus durch Satzung für verbindlich erklären. Ein ganzer Komplex von Vorschriften zum Schutz von Leben, Gesundheit und Sittlichkeit der im Betrieb beschäftigten Arbeiterschaft bietet die rechliche Grundlage für den technischen Arbeiterschutz. Zur Wahrnehmung des Arbeiterschutzes sind außer den politischen Behörden die Gewerbeinspektorate berufen. Diese wurden durch Gesetz vom 17.VI.1883 (RGBl. 177) als bloße Kontrollorgane eingeführt und durch

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Gesetz vom 14.VII.1921 (BGBl. 402) mit behördlichen Kompetenzen ausgestattet. - Der kulturell-sozialen Gesetzgebung ist auch das Bundesgesetz vom 7.VII. 1922 (BGBl. 448) betreffend die Einschränkung der Verabreichung geistiger Getränke an Jugendliche zuzuzählen, das den ersten gesetzlichen Schritt zur Bekämpfung des Alkoholmißbrauches darstellt. - Wie die Gesetzgebung aus einem Mittel zur Beherrschung und Ausbeutung des Menschen mindestens in ihrem kulturrechtlichen Teil zu einem Mittel der Pflege und Förderung des Menschen, so ist sie in jüngster Zeit mit gewissen Maßnahmen aus einem Mittel der Beherrschung und Ausbeutung der Natur zu einem Mittel des Schutzes der Natur geworden. Diesen legislativpolitischen Gedanken verwirklichen eine im Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen vom 21.VII. 1925 (BGBl. 273) enthaltene Strafbestimmung gegen Tierquälerei, ferner die mannigfachen Landesgesetze zum Schutze der Singvögel, der Alpenpflanzen und die neuestens nach dem Vorbild eines niederösterreichischen Gesetzes vom 3.VII.1924 (LGB1.130) erlassenen Naturschutzgesetze der Länder, die im einzelnen den Schutz der Naturdenkmale, des Landschaftsbildes, des Tier- und Pflanzenreiches und die Schaffung von Banngebieten zum Gegenstande haben. Endlich dient ein Bundesgesetz vom 25.IX.1923 (BGBl. 523) betreffend Beschränkungen in der Verfügung über,,Gegenstände von geschichtlicher, künstlerischer oder kultureller Bedeutung" (Denkmalschutzgesetz) der Erhaltung dieser Werte. Mit dem Schutz der heimischen Natur- und Kunstschätze sind derzeit Gesetzgebung und Verwaltung an der Grenze ihrer Wirkungsmöglichkeit angelangt. Schrifttum: Ulbrich, Österreichisches Verwaltungsrecht, Wien 1904. - Mayrhofer, Handbuch für den politischen Verwaltungsdienst, 10 Bde., Wien 1895-1913. - Adamovich, Österreichisches Verwaltungsrecht, Wien 1924. - Herrnritt, Österreichisches Verwaltungsrecht, Tübingen 1925. - Merkl, Die Verwaltungsgesetzgebung der österreichischen Republik, Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Tübingen 1923/24.

Diskussionsbeitrag:

Überprüfung von Verwaltungsakten durch die ordentlichen Gerichte Das Grundthema der heutigen Diskussion ist meines Erachtens mit dem Grundthema der gestrigen Diskussion identisch. Es handelt sich bei dem heutigen wie bei dem gestrigen Diskussionsgegenstand um die Frage der Überprüfung von Akten einer bestimmten Sphäre der Staatstätigkeit durch Gerichte - das eine Mal der Sphäre des Verfassungsvollzuges, das andere Mal der des Gesetzesvollzuges - der Unterschied der Diskussionsgegenstände besteht außer im Objekt auch im Subjekte der Prüfung. Das eine Mal ist es ein Sondergericht, das Verfassungsgericht, das andere Mal das ordentliche Gericht. Das hauptsächliche Bedenken, das gegen eine Überprüfung von Verwaltungsakten durch ordentliche Gerichte aufgetaucht ist, geht dahin, ob sich eine solche Kontrollfunktion mit dem Grundsatze der Trennung der Gewalten vereinbaren lasse. Ein solches Bedenken hat jedoch überhaupt nur insoweit Raum, als der Grundsatz der Trennung der Gewalten positivrechtlich anerkannt ist. Für die Gesetzgebung ist der Grundsatz der Trennung der Gewalten als bloßes politisches Postulat selbstverständlich kein Noli me tangere. Wenn z.B. eine Verfassung die Überprüfung durch ordentliche Gerichte oder besondere Verwaltungsgerichte vorsieht, so ist das eine verfassungsgesetzliche Ausnahme von dem Grundsatz der Trennung der Gewalten und von einem Widerspruch gegen die Rechtseinrichtung der Trennung der Gewalten kann nicht die Rede sein. Ich würde hier sogar einen Schritt weitergehen als Professor Layer in seinen Leitsätzen, indem ich meine, daß nicht bloß die kassatorische, sondern auch die meritorische Verwaltungsgerichtsbarkeit mit der positivrechtlichen Anerkennung des Grundsatzes der Trennung der Gewalten in Einklang zu bringen ist, zumal

Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 5 (1929), S. 218222, 226-227.

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wenn die Verfassung auch eine solche meritorische Verwaltungsgerichtsbarkeit ausdrücklich anerkennt. Damit ist nämlich den Bedenken, die sich aus dem Grundsatze der Gewaltentrennung zu ergeben scheinen, positivrechtlich der Boden entzogen. Der Gesetzgeber kann ganz nach freiem Ermessen für diese oder jene Staatstätigkeit den Justiz- oder den Verwaltungsweg eröffnen und nach Belieben das Verfahren von der Justiz auf die Verwaltung, von der Verwaltung auf die Justiz überleiten. Ich bekenne mich zu dem Grundsatz der vollständigen Parität von Justiz und Verwaltung, der vollständig gleichen Zulässigkeit des Rechtsweges der Justiz und des Rechtsweges der Verwaltung als der beiden Wege des Gesetzesvollzuges. Es ist eine rein positivrechtliche Zweckmäßigkeitsfrage, ob individuelle Vollzugsakte auf den Weg der Justiz oder der Verwaltung verwiesen werden. Das ganze Problem der Gewaltenteilung ist positivrechtlich nichts anderes als ein Problem der Zuständigkeitsordnung, im besonderen der Zuständigkeitsverteilung zwischen Justiz und Verwaltung, und es gibt m.E. keine Materie der Gesetzesanwendung, die ihrer Natur nach entweder Justiz oder Verwaltung ist oder für die ihrer Natur nach der Justizweg, d.h. die Gerichtszuständigkeit oder die Verwaltungszuständigkeit verwehrt wäre. In meinem „Allgemeinen Verwaltungsrecht" wie übrigens auch schon in meinem „Grundriß des österreichischen Verfassungsrechtes" habe ich der Grenzabscheidung zwischen Justiz und Verwaltung das organisationsrechtliche Merkmal der richterlichen Unabhängigkeit einerseits, der Bindung der Verwaltungsorgane an Weisungen andererseits zugrunde gelegt. Über die Zugehörigkeit eines Vollzugsaktes zu Justiz oder Verwaltung entscheidet letztlich die Frage, ob es zweckmäßig ist, irgendeinen Gesetzesvollzugsakt in die Hand eines dermaßen unabhängigen oder in die Hand eines an Weisungen gebundenen Organs zu legen. Wird diese organisationspolitische Frage in dem Sinne gelöst, daß ein Gegenstand des Gesetzesvollzuges in die Kompetenz eines solchen unabhängigen Organs gestellt wird, dann stellt sich dieser Gegenstand als eine Funktion der Justiz dar, und wenn dieselbe Materie in die Kompetenz eines abhängigen Vollzugsorgans gestellt wird, ist sie ein Gegenstand der Verwaltung, der Exekutive im engeren Sinne des Wortes. Freilich ist diese organisationspolitische Frage jetzt von geringerer Bedeutung geworden, weil die richterliche Unabhängigkeit mit dem Wandel der Staatsform einen Bedeutungswandel erfahren hat, den ich in meiner Schrift „Demokratie und Verwaltung" näher ausgeführt habe. Während ursprüng-

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lieh - ich meine die Zeit der absoluten und auch der konstitutionellen Monarchie - die richterliche Unabhängigkeit die Funktion hatte, die richterlichen Gesetzesvollzugsakte dem Einflüsse des Monarchen und der vom Monarchen abhängigen Regierung zu entziehen, bekam begreiflicherweise mit dem Wandel der Staatsform die Zuordnung einer Materie zur Justiz den Sinn, denselben Vollzugsakt dem Zugriff der Parlamentsmehrheit und der von ihr abhängigen Regierung, also dem Zugriff demokratischer - im Gegensatz zu früheren autokratischen - Faktoren zu entziehen. Wenn daher vordem die richterliche Unabhängigkeit als eine relativ demokratische Institution angesehen werden konnte, so hat sie nunmehr gegenüber dem durch allgemeine Wahlen berufenen Parlament einen relativ weniger demokratischen Charakter angenommen. Es ist auch charakteristisch, daß seinerzeit gerade die radikalen Parteien das Hauptgewicht auf die Unabhängigkeit der Richter legten, während diese Einrichtung nunmehr bei den konservativen oder reaktionären Parteien Anwert gefunden hat. In diesem Wechsel von Gunst und Mißgunst drückt sich deutlich der sicher den Parteien nicht ganz bewußt gewordene Bedeutungswandel der richterlichen Unabhängigkeit aus, der durch den Wandel der Staatsform eingetreten ist. Gerade dieser Bewertungswandel kann aber für die Kompetenzabgrenzung zwischen Justiz und Verwaltung noch sehr bestimmend werden, gerade daran zeigt sich auch, daß die Grenzlinie zwischen Justiz und Verwaltung durch keinerlei begriffliche Notwendigkeiten fixiert, sondern je nach Bedürfnis für das positive Recht frei beweglich ist. Nun noch einige Worte zum Hauptthema, nämlich der Frage, inwieweit die Lösung einer Vorfrage durch eine Verwaltungsbehörde für ein Gericht maßgebend ist. Das Problem der Vorfrage darf natürlich nicht, wie es gelegentlich in der Diskussion geschehen ist, mit dem der Präjudizialfrage verwechselt werden; Präjudizien sind, wenn sie nicht positivrechtlich für maßgebend erklärt sind, weder für das Gericht noch für die Verwaltungsbehörde bindend. Es ist ein Präjudiz des Obergerichtes nicht für das Untergericht, der oberen Verwaltungsbehörde nicht für die untere und um so weniger natürlich ein Präjudiz des Gerichtes für eine Verwaltungsbehörde oder umgekehrt maßgebend. Was die Frage der Vorentscheidung betrifft, so meine ich, wie ich schon in meinem Buche über die Rechtskraft ausgeführt habe, daß grundsätzlich die Rechtskraft der Verwaltungsakte für die Gerichte und der Gerichtsakte

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für die Verwaltungsbehörden besteht und zwar in dem Sinne, daß mangels einer anderen positivrechtlichen Norm ein Verwaltungsakt für jede andere Verwaltungsbehörde und für jedes Gericht und ein gerichtliches Urteil für ein anderes Gericht sowie für jede Verwaltungsbehörde bindend und unabänderlich ist. In diesem Sinne spreche ich somit auch jedem Verwaltungsakt Rechtskraft zu. Ich lehne insbesondere die Differenzierung zwischen verschiedenen Typen der Verwaltungsakte ab, nämlich die für die Rechtskraftlehre so wichtig gewordene Differenzierung zwischen verwaltungsbehördlichen Entscheidungen und verwaltungsbehördlichen Verfügungen. Ein Verwaltungsakt und ein Urteil können aber m.E. im Zweifel nur insoweit und unter der Voraussetzung als verbindlich und unabänderlich anerkannt werden, als sie rechtmäßig sind, d.h. als sie der determinierenden höheren Stufe der Rechtsordnung entsprechen. Die Rechtskraft deckt also an sich nicht Rechtswidrigkeiten, Fehler, die bei der Setzung des Justiz- oder Verwaltungsaktes aufgetreten sind. Der Rechtskraft ist an sich nur der rechtmäßige, nicht der fehlerhafte Staatsakt teilhaftig. Und jedes Organ wie übrigens auch jeder Untertan ist mangels einer anderen positivrechtlichen Normierung berechtigt, jeden Akt, der mit dem Ansprüche der Rechtsverbindlichkeit auftritt, auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen. Daraus ergibt sich für unser besonderes Problem, daß im Zweifel insbesondere auch ein Gericht seinem Urteil nur einen fehlerlosen Verwaltungsakt zugrunde zu legen braucht, also einen Akt, der mit dem Prätexte eines Verwaltungsaktes auftritt, auf seine Fehlerfreiheit prüfen kann. Die angedeutete Lehrmeinung ist schon zur theoretischen Voraussetzung der positivrechtlichen Behandlung und Lösung der Rechtskraftfrage in der österreichischen Verwaltungsgesetzgebung geworden. Der von Herrn Professor Layer zitierte § 68 des allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes aus 1925 hat die Frage der Rechtskraft von Verwaltungsakten behandelt und damit diese crux der Verwaltungsrechtslehre für den Bereich unserer Rechtsordnung aus der Welt geschafft. In dieser Gesetzesstelle wird die Rechtskraft der Verwaltungsakte als selbstverständlich vorausgesetzt; zugleich werden die Bedingungen aufgezählt, unter denen ein Verwaltungsakt abgeändert oder aufgehoben werden kann, und zwar wird diese Möglichkeit auf die Verwaltungsbehörden eingeschränkt, woraus sich allerdings m.E. für das österreichische Recht die Konsequenz ergibt, daß die Aufhebung oder Nichtbeachtung eines Verwaltungsaktes durch die Gerichte unzulässig ist.

Überprüfung von Verwaltungsakten durch die ordentlichen Gerichte

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Es ist also hier einerseits die theoretische Lehrmeinung zum positivrechtlichen Grundsatz geworden, daß Verwaltungsakte der Rechtskraft teilhaftig sind und daß positivrechtlich die Fälle aufgezählt werden müssen, in denen ein Verwaltungsakt für nichtig erklärt oder abgeändert werden kann. Dann allerdings sind alle Verwaltungsakte, bei denen diese Möglichkeiten der Nichtigerklärung oder Aufhebung ausgeschaltet sind, als vollgültig rechtskräftig anzusehen, gleichviel ob sie a priori rechtmäßig waren oder nicht. Damit ist für das Bereich der österreichischen Rechtsordnung der Überprüfung der Verwaltungsakte durch die Gerichte meines Erachtens der Boden entzogen. Das halte ich für eine rechtstechnisch durchaus entsprechende Lösung. Meine Stellungnahme zur Verfassungsgerichtsbarkeit hat mir den Vorwurf eingetragen, daß ich der gerichtlichen Kontrolle von Staatsakten ein viel zu weites Feld einräume. Auch zu unserem heute zur Diskussion stehenden Problem meine ich, daß in denkbar weitestem Umfange eine Überprüfung von Verwaltungsakten durch Gerichte zweckmäßig ist, aber eben durch Sondergerichte, Verwaltungsgerichte, daß es andererseits unzweckmäßig ist, ordentliche Gerichte mit der Überprüfung zu betrauen, weil das zu den größten Ungleichheiten, ja Willkürlichkeiten führt. Man sieht dies namentlich in den heute wiederholt zitierten Fällen der Ehedispense, wo der Staatsbürger je nach dem Zufall, vor welchem Gericht er steht, zu dem Ergebnis gelangt, daß seine Dispensehe als gültig anerkannt wird oder nicht. Es müßte dieses Überprüfungsverfahren in Spezialgerichten zentralisiert werden. Es könnten wie die Verfassungsgerichtsbarkeit so auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit noch vielfach ausgebaut werden. Es ist bezeichnend, daß die österreichische Bundesverfassung zugleich mit der Verfassungsgerichtsbarkeit auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit erweitert hat. Wir haben jetzt - allerdings in der politischen Stelle des Ministers - gewissermaßen auch einen Antragsteller zur Wahrung des Verwaltungsgesetzes. Es gibt eine Beschwerde vor dem Verwaltungsgerichtshof außer durch die Parteien auch durch einen Minister wegen Verletzung von Bundesgesetzen. Gerade eine Rechtsordnung, die so weitgehende und wirksame sondergerichtliche Garantien der Verfassung und Verwaltung aufrichtet, kann und soll darauf verzichten, jeden einzelnen Staatsakt obendrein der Kontrolle jedes beliebigen ordentlichen Gerichtes zu unterstellen, sondern nach dem Vorbilde des österreichischen Rechtes rechtskräftige Verwaltungsakte auch für die ordentlichen Geriche verbindlich machen.

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III.A. Verwaltungsrecht

Ich habe aus den letzten Worten Professor Nawiaskys erstmals ersehen, wie gefährlich vermeintlich meine Rechtstheorie für die Rechtspraxis geworden ist. Ich glaube indes, daß Herr Professor Nawiasky diese Gefahr außerordentlich überschätzt. Wenn ich mich mit einem Wort über diese Rechtstheorie verbreiten darf, so möchte ich feststellen, daß sich der Grundsatz der Unabänderlichkeit von Staatsakten auf alle Akte normierender Natur, also auf alle generellen und individuellen rechtsetzenden und rechtsgeschäftlichen Staatsakte erstreckt, daß ich also den für die Justiz ganz unangefochten herrschenden Grundsatz, daß ein späteres Urteil einem früheren Urteil im Zweifel nicht derogiert, auch für die Verwaltungsakte und selbst für die Akte der Gesetzgebung aufstelle. Der Grundsatz: lex posterior derogat priori ist nicht, wie die herrschende Lehrmeinung behauptet, ein rechtstheoretisches Axiom, sondern ist von der Rechtswissenschaft nur als Inhalt positivrechtlicher Sätze zu erkennen. Damit ist aber doch nicht die gewiß unerwünschte Unabänderlichkeit der Staatsakte besiegelt, sondern nur dem Gesetzgeber die Aufgabe gestellt, die erwünschte Biegsamkeit der Staatsakte positivrechtlich herzustellen. Ich habe sogar zu beanstanden, daß der Satz: lex posterior derogat priori, weil man sich der Notwendigkeit seiner positivrechtlichen Einordnung nicht voll bewußt ist, positivrechtlich meist nicht entsprechend zum Ausdruck kommt. Daher kann ich allerdings nicht einsehen, was diese Rechtskraftlehre für einen Schaden in der juristischen Praxis anrichten kann. Ich möchte nur noch darauf hinweisen, daß in Konsequenz dieser theoretischen Auffassung das österreichische Recht die positivrechtliche Anordnung getroffen hat, daß Verwaltungsakte nur unter bestimmten Voraussetzungen aufgehoben werden können. Daß sich diese originelle Neuerung noch nicht ganz eingelebt hat, ist doch nicht Schuld der Rechtstheorie, sondern Schuld der Praxis. Daß gerade die Gerichte die positivrechtliche Verankerung der Rechtskraft der Verwaltungsakte häufig übersehen, kommt wohl auch daher, daß diese Bestimmung des allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes noch nicht genügend zum Bewußtsein gekommen ist, ja vielleicht nicht einmal überall bekannt geworden ist.

Wesen und Wirkungen der Verwaltungsreform in Österreich I. Die deutsch-österreichische Republik hat von der österreichischen Monarchie als eines der wenigen kostbaren Erbstücke einen Verwaltungsapparat übernommen, der im schwierigen Dienste des kompliziertesten Nationalitätenstaates emporgewachsen, auch den neuen Aufgaben und andersartigen Schwierigkeiten des deutsch-österreichischen Nationalstaates gewachsen war. Man kann getrost behaupten, daß die deutsche Beamtenschaft nicht nur den festesten Kitt des vielsprachigen alten Österreich mit den ihm seit Beginn eines parlamentarischen Lebens innewohnenden zentrifugalen Tendenzen der Nationalitäten gebildet, sondern auch dem deutsch-österreichischen Nationalstaat, der vom Unfriedensvertrag von Saint Germain so gräßlich verstümmelt worden und wiederholt von Bolschewismus und Faschismus bedroht war, den festesten Halt geboten hat. Vor allem der deutschen Beamtenschaft Deutschösterreichs ist es zu danken, daß der Umsturz in Österreich und die Gründung der Republik, die hierzulande sogleich in demokratisch-parlamentarischer Gestalt ins Leben trat, ohne Todesopfer vor sich ging. Die Beamtenschaft hatte sich nämlich wie ein Mann mit allen noch in ihren Händen befindlichen Machtmitteln in den Dienst der neuen Machthaber gestellt, nachdem sie der Kaiser des Eides entbunden und die scheidende Regierung der Monarchie die Bevölkerung zum Gehorsam gegen die neue republikanische Staatsautorität aufgefordert hatte. Diese Beamtenschaft war das Subjekt und das Objekt, die Trägerin, zugleich aber auch das Opfer der einschneidenden Verwaltungsreformen, über die im folgenden ein kurzer Überblick geworfen werden soll. Es war ein Glück des neuen Staates, daß sich der Beamtenkörper des alten Österreich aus der deutschen Nation in einem stärkeren Hundertsatz als aus allen

Beamtenjahrbuch 1930, S. 300-316.

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anderen Nationen Österreichs rekrutiert hat, und insbesondere die hohen Posten der Beamtenschaft trotz gelegentlich starker slavischer Inflationen der Ministerialbürokratie durch tschechische und polnische Minister - wovon in den Ministerien heute noch Spuren vorhanden sind - , vorwiegend von Deutschen besetzt waren; diese tatsächliche Bevorzugung der deutschen Nation im Beamtenkörper sowie im Heere war übrigens die einzige sachliche Grundlage für die von den nichtdeutschen Nationalitäten verbreitete, im übrigen der Rechts- und Tatsachenlage widersprechende Legende von der Vorherrschaft der Deutschen in Österreich. Diese deutschen Beamten, die in den selbständig gewordenen nichtdeutschen Staaten um Amt und oft auch um ihre Habe gekommen waren, strömten alle der deutsch-österreichischen Republik zu, die sie zunächst unbeschränkt in ihre Dienste übernahm, obwohl ohnedies bereits in den Zentralstellen, deren Geschäftskreis geradezu über Nacht von den Bedürfnissen eines Großstaates auf die eines Kleinstaates zurückgegangen war, Beamtenüberfluß bestand. Auf die Dauer allerdings konnte sich die österreichische Republik mit einem derart unnatürlich hohen Beamtenetat nicht belasten, obwohl man in der Inflationszeit ohnehin die Lebenshaltung der öffentlichen Beamtenschaft auf ein ungeheuer tiefes Niveau hatte sinken lassen, das erst im Laufe der letzten acht Jahre durch eine Reihe von Gehaltsreformen allmählich, wenngleich in den höheren Rängen noch lange nicht auf das Vorkriegsniveau gehoben worden ist. Unter dem harten Druck der Volkerbundkontrolle mußten dem Zwecke der Sanierung der Bundesfinanzen nahezu 100 000 Bundesangestellte - ungerechnet die später abgebauten Bundesbahnangestellten - teils im Wege des Zwangsabbaues gegen Abfertigung, teils im Wege der Zwangspensionierung zum Opfer gebracht werden. Erst später kam man zur Einsicht, daß ein so einschneidender Abbau weder sachlich gerechtfertigt, noch finanziell ergiebig genug war, denn die klaffenden Lücken, die der schablonenhafte Abbau gerade in die qualifzierte höhere Beamtenschaft gerissen hatte, machten sich wegen Überlastung des Pensionsetats und wegen der Notwendigkeit von Neuanstellungen nicht einmal finanziell bezahlt. Der Bundeshaushalt und die Währung waren durch die vom Staatsvertrag von Genf vom November 1922 eingeleitete Sanierungsaktion fast noch eher ins Gleichgewicht gekommen - der Bundeshaushalt ist seit fünf Jahren aktiv als die Behörden und Ämter nach der erwähnten personellen Umwälzung.

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II. Die deutsch-österreichische Republik hatte von der Monarchie nicht bloß den Organapparat, sondern - gleich den anderen Sukzessionsstaaten - vorläufig auch mittels einer Rezeptionsklausel der provisorischen Verfassung vom 30. Oktober 1918 die ,,Gesetze und Einrichtungen" der Monarchie übernommen. Erst mit zunehmender sozialer und wirtschaftlicher Konsolidierung hat sodann der neue Staat die Organ- und Funktionsordnung der Verwaltung in mehreren Etappen einer durchgreifenden Neuordnung unterworfen. Die Grundlagen der Verwaltungsorganisation der Republik sind in der Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 verankert. Diese stellt sich somit, von einem provisorischen Vorläufer abgesehen, als das erste grundlegende Verwaltungsreformwerk der Republik dar. Naturgemäß prägte der Bundesstaat, der mit dem im wesenlichen heute noch geltenden Bundesverfassungsgesetz (BVG) eingeführt worden war, auch der Organisation der Verwaltung die ihr eigentümlichen föderalistischen Züge auf. Aber doch fanden die Kodifikatoren der BV mehrere rechtstechnische Kunstgriffe, vermittels deren die Verwaltungstätigkeit von Oberstaat und Gliedstaaten (dem bei uns sogenannten Bund und den Ländern) in einen so engen funktionellen Zusammenhang gebracht wurden, wie er wohl in keinem anderen Bundesstaat anzutreffen ist. Schon die Monarchie kannte den Unterschied von Reichs- und Landesverwaltung im Sinne eines zentralen und vieler lokaler Verwaltungsapparate, die jedoch beziehungslos nebeneinander und nur zu oft gegeneinander funktionierten. In den Ländern gab es einerseits Statthaltereien, die unter der Leitung eines vom Kaiser ernannten Statthalters zur Gänze aus Reichsbeamten zusammengesetzt waren und die allgemeine Verwaltung des Reiches in der Mittelinstanz in unmittelbarer Unterordnung unter den Ministerien des Reichs zu versehen hatten. Neben ihnen residierten in den Landeshauptstädten Landesausschüsse; diese waren die kollegialen Spitzenorgane der autonomen Landesverwaltung. Den Statthaltereien unterstanden als lolake allgemeine Verwaltungsbehörden des Reiches die Bezirkshauptmannschaften, gleichfalls ausschließlich aus Berufsbeamten des Reichsdienstes zusammengesetzt; in größeren Gemeinden trat an die Stelle der Bezirkshauptmannschaft das Gemeindeamt (der Magistrat) mit dem von der Gemeindevertretung gewählten Bürgermeister an der Spitze. Die Bundesverfassung hat nun das sogenannte ,,Doppelgeleise" in

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der Landesverwaltung, nämlich die Aufteilung der Zentralverwaltung in der Landesinstanz und der autonomen Landesverwaltung auf zwei von einander unabhängige Behörden durch die Zusammenlegung dieser Behörden beseitigt. Es gibt zwar auch gegenwärtig noch zwei Typen von Verwaltung in der Landesinstanz: einerseits eigene Verwaltung der Länder in Vollziehung von Landesgesetzen oder auch von Bundesgesetzen, deren Vollziehung jedoch kraft bundesgesetzlicher Vorschrift in den selbständigen Wirkungsbereich der Länder fällt, z.B. in Staatsbürger- und Heimatrechtssachen; andererseits vom Bunde übertragene Verwaltung, die sogenannte „mittelbare Bundesverwaltung". Auf dem Wege der mittelbaren Bundesverwaltung werden in unmittelbarer Unterordnung unter die Bundesministerien von den Landesbehörden als „Auftragsbehörden" des Bundes alle Bundesgesetze vollzogen, soweit es sich nicht um solche Verwaltungsaufgaben handelt, für deren Vollziehung die Bundesverfassung die Errichtung eigener Bundesbehörden zugelassen hat. So brachte die BV die Neuerung, daß der bei weitem überwiegende Teil der Verwaltungsgeschäfte des Bundes in der Mittel-und Unterinstanz nicht von bundeseigenen Behörden, sondern von Landesbehörden besorgt wird. Immerhin ist der Kreis der bundeseigenen Behörden unverhältnismäßig größer als der Kreis der Reichsbehörden, denn es bestehen nicht bloß für die Außen-, Heeres- und Verkehrsverwaltung in allen deren Zweigen besondere Bundesbehörden, sondern auch wichtige Spezialverwaltungszweige sind teils seit der BV, teils seit den zentralisierenden Verfassungsreformen der Jahre 1925 und 1929 besonderen Bundesorganen vorbehalten, namentlich die gesamte Schulverwaltung, soziale Verwaltung, soweit sie gesetzlich durch SpezialVerwaltungsorgane, z.B. die Gewerbeinspektoren, zu versehen ist, die gesamte Bergverwaltung, die Monopol-, Zollund die Steuerverwaltung, soweit es sich um Bundessteuern handelt, endlich zum Teil selbst die Polizei Verwaltung. Doch auch auf die den Ländern übertragene Vollziehung von Bundesgesetzen hat der Bund, wie noch zu zeigen sein wird, einen beträchtlich weitergehenden Einfluß als das Reich auf die Vollziehung der Reichsgesetze durch die deutschen Länder. Der Verwaltungsapparat der Länder besteht aus dem Kollegium der Landesregierung, die überall vom Landtag zu wählen ist. Ihr Vorsitzender ist der Landeshauptmann, der zugleich Chef des „Landesregierungsamtes" ist. Zur Leitung des inneren Dienstes des Landesregierungsamtes ist dem Landeshauptmann - als einem der Landtagsmehrheit entnommenen gewählten Politiker - kraft Verfassungsvorschrift ein rechtskundiger Landes-

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amtsdirektor beigegeben. Die Geschäfte der eigenen Landesverwaltung werden nun je nach den Vorschriften der Landesverfassung teils kollegial von der Landesregierung, teils bürokratisch von den einzelnen Mitgliedern der Landesregierung geführt. Die Geschäfte der mittelbaren Bundesverwaltung der Länder sind jedoch kraft Vorschrift der B V beim Landeshauptmann konzentriert, dürfen also keinesfalls kollegial von der Landesregierung besorgt werden. Diese Betrauung eines Einzelorganes, und zwar des obersten Repräsentanten der Länder mit der mittelbaren Bundesverwaltung dient einer strengen Individualhaftung der Länder für eine korrekte Besorgung dieser Verwaltungsaufgaben des Bundes. Die Verantwortlichkeit des Landeshauptmanns für die gesetz- und weisungsgemäße Führung der mittelbaren Bundesverwaltung wird durch Anklage des Landeshauptmanns von Seite der Bundesregierung beim Verfassungsgerichtshof geltend gemacht. Findet der Gerichtshof die Anklage für begründet, so hat er den Landeshauptmann des Amtes zu entsetzen; bei geringeren Gesetzesverletzungen kann er sich auf die Feststellung beschränken, daß eine Rechtsverletzung vorliegt, worin aber auch schon eine Disqualifikation des Landeshauptmanns von Seite des höchsten Gerichtes gelegen ist. Zu einer gerichtlichen Absetzung eines Landeshauptmanns ist es allerdings noch nicht gekommen, doch hat die Begründung des Freispruches eines Landeshauptmanns, die aus formellen Gründen erfolgen mußte - der Bundesminister hatte nämlich seinen Auftrag an den Landeshauptmann, wie sich in der Gerichtsverhandlung herausstellte, überhaupt nicht unterschrieben, so daß kein verbindlicher Befehl vorlag, - den Ländern deutlich gezeigt, daß der Verfassungsgerichtshof vor diesem radikalen Mittel zur Wahrung der Gesetz-und Weisungsgemäßheit der von den Ländern namens des Bundes besorgten Verwaltung keineswegs zurückschrecken würde. So wirkt diese strenge Verantwortlichkeit des obersten Landesverwaltungsorganes gegenüber der Bundesregierung als bisher nicht versagende Prophylaxe gegen Unbotmäßigkeiten der Länder, denn kein Land wird mutwillig den ungeheuren Prestigeverlust der gerichtlichen Absetzung seines obersten Repräsentanten riskieren, wenn die Bundesregierung auch nur verblümt zu verstehen gibt, daß sie von ihrem Anklagerecht Gebrauch machen wolle. Auch reichsdeutsche Fachleute, die sich mit dieser spezifisch österreichischen Verwaltungssanktion vertraut gemacht haben, ziehen sie der analogen Einrichtung der deutschen Reichsverfassung, der Reichsexekution gegen die Länder, vor. Das ausführende Organ der Länder ist sowohl für die Geschäfte der eigenen Landesverwaltung als auch für die der mittelbaren Bundesverwaltung das schon genannte

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Landesregierungsamt. In dieser Vereinigung heterogener Verwaltungsfunktionen in der Hand einer Behörde besteht die schon erwähnte Zusammenlegung der Verwaltung im Lande, die paradoxerweise eine Errungenschaft der in der Idee dezentralisierenden Bundesverfassung war, und der Anfang jenes, in seinem Fortgang noch zu schildernden Zentralisationsprozesses, den die Verwaltung gerade in der bundesstaatlichen Ära erfahren hat. Als originelle Einzelheit in der Ordnung der Landesverwaltung verdient hervorgehoben zu werden, daß der Weg der von den Ländern zu besorgenden Verwaltung allerdings je nach ihrem Gegenstande verschieden ist. In Angelegenheiten der eigenen Landesverwaltung entscheidet die Landesregierung als höchste und letzte Instanz, vorbehaltlich des unerhört zentralistischen Rechtsmittels einer Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof des Bundes. In Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung ist die zuständige Landesbehörde - wie gesagt der Landeshauptmann - in der Regel nur Mittelinstanz und geht der weitere Instanzenzug an den sachlich zuständigen Bundesminister. Aber auch in den Fällen, in denen ein solcher Instanzenzug ausnahmsweise nicht zulässig ist, ist der Landeshauptmann und durch seine Vermittlung die Gesamtheit der mit Geschäften der mittelbaren Bundesverwaltung betrauten Landesverwaltungsorgane an allgemeine und auch im Einzelfall ergehende Weisungen der Bundesregierung und der einzelnen Bundesminister gebunden. Für die Beobachtung dieser Weisungen ist der Landeshauptmann in der schon geschilderten Weise verantwortlich. Dieses weitgehende und wirksam sanktionierte Weisungsrecht ist ein viel gebrauchtes Mittel, der Geschäftsführung der Länder auch über das Maß gesetzlicher Bindung hinaus den Willen der Bundesregierung aufzuzwingen, und gibt, zumal im Zusammenhalt mit dem erwähnten regelmäßigen Instanzenzug vom Landeshauptmann zum Bundesminister der mittelbaren Bundesverwaltung der österreichischen Länder ein ungleich zentralistischeres Gepräge, als die entfernt vergleichbare unter Reichsaufsicht stehende Verwaltung der deutschen Länder. So straff wie diese Unterordnung der Landesbehörden unter die obersten Bundesbehörden, sind auch die niederen Landesbehörden den Spitzenbehörden des Landes untergeordnet, und zwar in Angelegenheiten der eigenen Landesverwaltung der Landesregierung, in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung dem Landeshauptmann. Die regelmäßige Lokalbehörde des Landes ist auch heute noch die Bezirkshauptmannschaft, die durch

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die Verfassungsreform des Jahres 1925 aus einer Bundes- zu einer Landesbehörde geworden, in ihrer inneren Organisation jedoch unverändert geblieben ist; das heißt, sie besteht wie zur Zeit ihrer Gründung im Jahre 1867 aus ernannten Berufsbeamten unter der Leitung eines juristisch gebildeten und für den höheren Verwaltungsdienst geprüften Bezirkshauptmannes. Das Programm der sogenannten Demokratisierung der Bezirksverwaltung, das in der Weise gedacht war, daß der bürokratische Apparat der Bezirkshauptmannschaft durch eine aus der Bevölkerung des Bezirks gewählten Bezirksvertretung vorläufig ergänzt und in der Folge zu deren bloßen Hilfsorgan dekapitiert werden sollte, ist heute der Erfüllung ferner denn je - sicherlich im Interesse der Einfachheit, Sachlichkeit und Billigkeit der Verwaltung. Territoriale Selbstverwaltungskörper unterhalb des Landes sind, abgesehen von funktionell eng begrenzten Kommunal verbänden einzelner Länder, z.B. den Straßenbezirken und Armenbezirken, lediglich die Gemeinden , die sich allerdings in Österreich seit dem Reichsgemeindegesetz des Jahres 1849 einer geradezu einzig dastehenden, sachlich kaum mehr vertretbaren und durch die Staatsaufsicht nicht ernstlich beengten Autonomie erfreuen. Gemeinden mit mehr als 20 000 Einwohnern haben überdies den Anspruch, als autonome Städte erklärt zu werden. Diese Hebung der Gemeinde bedeutet, daß sie aus dem Sprengel der örtlich zuständigen Bezirkshauptmannschaft ausgenommen und selbst mit deren Wirkungskreis betraut wird, den sie in Unterordnung unter die Landesbehörde ebenfalls durch ein Einzelorgan, und zwar durch ihren gewählten Bürgermeister mit Hilfe des Magistrats auszuüben hat. In einer Anzahl von autonomen Städten, allen voran Wien, sind aus dem Wirkungskreis der Bezirksverwaltung die Polizeiangelegenheiten ausgeschieden, und eigenen ßwnöfespolizeibehörden vorbehalten, die in Polizeiangelegenheiten in unmittelbarer Unterordnung unter den Landeshauptmann für das Stadtgebiet die Bezirksbehörde 1. Instanz darstellen. Gekrönt wird dieses, im Vergleich mit den Einrichtungen der Monarchie vereinfachte und rechtstechnisch sehr rationell durchkonstruierte Verwaltungsgebäude durch die Bundesministerien. Aus Ersparungsgründen wurde die aus der Monarchie überkommene Zahl von zunächst 15 Ministerien etappenweise auf 7 verringert, und dann durch die Neuschaffung des vorübergehend aufgelassenen Justizministeriums, das in Anbetracht des Vorbehaltes der gesamten Gerichtsbarkeit für den Bund allerdings fast unentbehrlich ist, auf 8 vermehrt. Demnach bestehen gegenwärtig das Bundeskanz-

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leramt und die Ministerien für Unterricht, Justiz, soziale Verwaltung, Landund Forstwirtschaft, Handel und Verkehr, Finanzen, endlich Heereswesen. In der Verwaltungsorganisation der Länder ist infolge der Zusammenfassung der obersten Landesverwaltungsgeschäfte im Landesregierungsamt für Landesministerien kein Platz. In einzig dastehender Vorsorge für die Bedürfnisse einer einheitlichen Verwaltung regelt die Bundesverfassung in grundsätzlicher Weise auch das Weisungsrecht und die Gehorsamspflicht in der Verwaltung. Es werden nämlich alle Verwaltungsorgane an die Weisungen der ihnen vorgesetzten Organe für gebunden und diesen für ihre amtliche Tätigkeit verantwortlich erklärt. Zugleich wird das Prüfungsrecht in der Weise geregelt, daß das nachgeordnete Organ die Befolgung einer Weisung ablehnen kann, wenn die Weisung entweder von einem unzuständigen Organ erteilt wurde oder die Befolgung gegen strafgesetzliche Bestimmungen verstoßen würde. Diese und eine andere Bestimmung über die Verschwiegenheitspflicht bedeutet einen sehr zweckmäßigen Anfang der Schaffung eines in den Grundsäzten einheitlichen Dienstrechtes für Bund und Länder. Außer der verfassungsrechtlichen Verankerung eines kardinalen Dienstrechtssatzes ist damit aber auch in sehr zweckmäßiger Weise schon von Verfassungswegen die Gehorsamspflicht aller nachgeordneten gewählten Funktionäre sichergestellt. III. Das Schwergewicht der Neuerungen in der österreichischen Verwaltung ist in den „Gesetzen zur Vereinfachung der Verwaltung" vom 21. Juli 1925 niedergelegt. Den Anstoß zu diesen kurzweg als „Verwaltungsreformgesetze" bezeichneten Gesetzen bot die Sanierung der österreichischen Finanzen auf Grund des Genfer Sanierungsprogramms. Der in Wien residierende Generalkommissär bestand mit unerbittlicher Entschiedenheit auf Maßnahmen zu Ersparungen in der Bundesverwaltung. Dieser außenpolitische Druck kam den Strömungen entgegen, die in Österreich schon durch Jahrzehnte auf eine Verwaltungsreform auf verfahrensrechtlichem Gebiete abgezielt hatten. Diese innerpolitischen Bestrebungen waren dahin gegangen, das in zahlreichen, meist in vorkonstitutionellen Rechtsquellen zersplitterte, trotz dieser Zersplitterung jedoch nur auf einzelne Verfahrensfragen des Verwaltungsverfahrens beschränkte Verwaltungsverfahrensrecht in einigen wenigen, die großen Prozeßgebiete erschöpfenden Prozeßrechtsordnungen

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zu kodifizieren. Selbstverständlich ließ sich durch die Schaffung von Prozeßordnungen, die sich überdies nicht so sehr als Reform von veralteten und prozeßtechnisch unzulänglichen Verfahrensbestimmungen, sondern als erstmalige Kodifikation von Prozeßfragen, die bisher in der Praxis nach dem freien Ermessen der Verwaltungsbehörden beantwortet wurden, eine wesentliche Entlastung der Verwaltung und damit eine nennenswerte Ersparnis nicht erzielen. Daher mußte die große Prozeßreform, zu der sich durch die Verwirklichung der Staatssanierung der Anlaß bot, mit wirklichen Maßnahmen zur Entlastung der Verwaltung verknüpft werden, wenn anders der Inhalt des Verwaltungsreformwerkes dessen Titel als „Gesetze zur Vereinfachung der Verwaltung" rechtfertigen sollte. Diese doppelte - außenpolitische und innenpolitische - Motivation erklärt das eigentümliche Junktim zwischen den formell- und materiellrechtlichen Gesetzen, die als „Gesetze zur Vereinfachung der Verwaltung" zusammengefaßt sind. Im einzelnen stellen dieses Verwaltungsreformwerk dar: 1. Ein Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen; 2. ein allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz ; 3. ein Verwaltungsstrafgesetz ; 4. ein Verwaltungsvollstreckungsgesetz und 5. ein Verwaltungsentlastungsgesetz . Eine verfassungsrechtliche Voraussetzung für die genannten Gesetze wurde durch ein besonderes Verfassungsgesetz erfüllt, das kurz vor dem Inkrafttreten der unitarischen Zuständigkeitsbestimmungen des Bundes-Verfassungsgesetzes bereits die Zuständigkeit des Bundes zur Regelung des Verwaltungsverfahrens der Länder herstellte und damit die Möglichkeit bot, das Anwendungsbereich der Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes auf die Verwaltungsbehörden der Länder zu erstrecken, womit die Wirkung der Verwaltungsreform begreiflicherweise vertieft wurde. Das Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen hat vor allem das Anwendungsbereich der neuen Verwaltungsverfahrensgesetze zum Gegenstande und regelt es in einer unerhört umfassenden Weise. Vor allem fällt an der Umschreibung dieses Anwendungsbereiches auf, daß die Verwaltungsprozeßordnungen des Bundes gleicherweise für die Behörden der Länder wie für die des Bundes Geltung haben. Überraschenderweise finden sich sogar in der Bundesverwaltung einschneidendere Exemptionen vom Anwendungsbereiche der genannten Gesetze als in der Landesverwaltung. Sämtliche Landesbehörden einschließlich der Gemeinden und der in Österreich bisher nur rudimentär entwickelten höheren Kommunal verbände

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gehören zum Anwendungsbereich der Gesetze; nur einzelne wenige Gesetzesbestimmungen, die für die Gemeinden eine zu weitgehende Neuerung dargestellt hätten, und deren juristisch nicht vorgebildete Organe mit zu weitgehenden prozessualen Kompetenzen ausgestattet hätten, wurden aus dem Anwendungsbereich der Gesetze in der Gemeindeverwaltung ausgenommen. In der Bundesverwaltung stellen die Finanzbehörden und daneben die Postbehörden die einzigen wichtigen Behördenkategorien dar, die vom Anwendungsbereiche der neuen Verfahrensgesetze zur Gänze ausgenommen sind. Die Bundesministerien sind insoweit den neuen Verfahrensgesetzen unterstellt, als sie als Oberbehörden über solche Behörden fungieren, die zur Anwendung der neuen Gesetze berufen sind. Die allgemein zufriedenstellenden Erfahrungen in der Praxis der neuen Verfahrensgesetze haben jedoch das Bestreben ausgelöst, ihr Anwendungsbereich auch auf die bisher vorsichtshalber noch ausgenommenen Verwaltungszweige und Verwaltungsbehörden auszudehnen. Für Fachleute der Verwaltung bedarf es keiner Begründung, wie vielseitig und vielfältig die Vorteile einer Prozeßordnung sind, der bisher schon der Großteil und in einer vielleicht schon sehr nahen Zukunft die Gesamtheit der Verwaltungsbehörden eines Staates ohne Rücksicht auf ihre staatsrechtliche Gliederung und auf ihre Kompetenzunterschiede unterworfen sind. Man vergegenwärtige sich nur den Verwaltungsbeamten, der, mag er nun in Diensten des Bundes, der Länder oder der Gemeinden stehen, in seinem ganzen behördlichen Wirkungskreis dieselben Verfahrensregeln anzuwenden hat, und die Stellung der Partei, die, gleichviel ob sie zu einer Verwaltungsbehörde des Bundes, eines Landes oder einer Gemeinde in Beziehung tritt, von ihrer ersten Eingabe oder Vorladung an bis zur Enderledigung eines Falles durch die oberste Instanz mit denselben Prozeß Vorschriften zu rechnen hat! Der Vorteil dieser die Behördenvielheit gewissermaßen überwindenden Unifizierung des Prozeßrechts vervollständigt sich erst durch seine ebenso radikale sachliche Vereinheitlichung. Der Gegenstand des Verfahrens spielt nämlich bei Beantwortung der Frage des anzuwendenden Prozeßrechtes für die Behörde, die den neuen Prozeßgesetzen unterstellt ist, nicht die geringste Rolle. Soweit eine Behörde überhaupt den neuen Prozeßgesetzen unterstellt ist, hat sie diese in ihrem gesamten behördlichen Wirkungskreise anzuwenden. Das bedeutet beispielsweise, daß Unterrichtssachen und Kultusangelegenheiten, Agrar- und Forstsachen, Gewerbe-, Eisenbahn- und Telegraphenangelegenheiten, Steuerangelegenheiten der Länder und Gemeinden nebst

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hunderten anderen Verwaltungsfunktionen ein und derselben Verfahrensmethode unterliegen. Vom Standpunkt des deutschen Rechtes mag jedoch die Eigentümlichkeit der österreichischen Verwaltungsprozeßgesetze am meisten befremden, daß die Wesensunterschiede der Verwaltungsakte prozeßrechtlich nicht zum Ausdruck kommen. Der Verfahrensweg ist insbesondere der nämliche, gleichviel ob sich der Verwaltungsakt als ein Akt der Rechtsprechung, womit nach einem Verwaltungsgesetze ein Rechtsstreit zwischen mehreren Parteien entschieden wird oder etwa als eine rechtsbegründende Verfügung darstellt. In allen Fällen obrigkeitlicher Verwaltung ist das Verfahren gleichförmig, und zwar justizähnlich, insbesondere in bezug auf den Rechtsschutz der Parteien den Grundsätzen des gerichtlichen Verfahrens angenähert, seinem rechtlichen Wesen nach aber doch reines Verwaltungsverfahren, dem sich nur nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges, ausgelöst durch eine außerordentliche Beschwerde der Partei wegen Verletzung ihrer subjektiven Rechte oder unter Umständen auch des Bundesministers wegen Verletzung des objektiven Rechtes des Bundes durch eine Landesbehörde, ein verwaltungsgerichtliches Verfahren als Mittel der Rechtskontrolle der Verwaltung anschließen kann. Diese doppelte rechtliche Sicherung der Parteien in der Verwaltung - einerseits justizförmige Kautelen bei der Setzung sämtlicher Arten von Verwaltungsakten und andererseits verwaltungsgerichtliche Rechtskontrolle sämtlicher rechtskräftigen Verwaltungsakte - machte der österreichischen Gesetzgebung eine Differenzierung des Verwaltungsverfahrens nach der Art des Verwaltungsstreitverfahrens einerseits und des Beschlußverfahrens andererseits überflüssig. Es dürfte schwerlich ein zweites formelles Recht geben, das so ausgebreitete und inhaltlich von einander abstehende Bereiche des materiellen Rechtes prozessual unter einen Hut bringt. Dieses scheinbare Mißverhältnis zwischen radikal unifiziertem formellen und je nach den Verwaltungsgegenständen differenzierten materiellen Recht wurde dadurch praktisch ermöglicht, daß die Verfahrensvorschriften in der Regel ziemlich allgemein und - bei Wahrung bestimmter Verfahrensgrundsätze - bald für die Behörde, bald für die Partei elastisch gestaltet wurden. Zugleich wurde der materiellen Verwaltungsgesetzgebung das Blankett eröffnet - wiederum bei Wahrung der zwingenden Prozeßvorschriften der allgemeinen Prozeßgesetze - bestimmten Verwaltungsaufgaben angepaßte

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ergänzende Sondervorschriften prozessualer Natur zu treffen; von dieser Möglichkeit wurde in der österreichischen Verwaltungsgesetzgebung insbesondere zur Regelung gewisser obligatorischer mündlicher Verhandlungen, z.B. der Verhandlung über die Konsentierung einer gewerblichen Betriebsanlage, eines Wasserwerkes, einer Elektrizitätsanlage oder einer Eisenbahn Gebrauch gemacht. Diese Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrensrechtes ist sinngemäß nichts als die Anwendung des Wirtschaftsprinzipes der Rationalisierung auf die Verwaltung und hat sich in der Verwaltungspraxis unbestrittenermaßen so außerordentlich bewährt, daß dieser Grundgedanke der österreichischen Verwaltungsreform, der übrigens bereits Gegenstand des Studiums nicht weniger reichsdeutscher und gelegentlich auch außerdeutscher Verwaltungspraktiker geworden ist, wohl auch im Reiche Nachahmung verdienen würde. Die einzige durchgreifende Differenzierung des Verfahrens ist durch die Titel der drei Verfahrensgesetze angedeutet. Das allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz ist in dem Sinne ,,allgemein" zu nennen, daß es überall und in allen jenen Fällen anzuwenden ist, wo nicht abweichende Sonderbestimmungen des Verwaltungsstrafgesetzes und Verwaltungsvollstreckungsgesetzes platzgreifen. Es ist nur durch die Art und Weise der Verfahrensregelung, nicht aber durch sein Anwendungsbereich mit der Zivilprozeßordnung vergleichbar, die unserem Verwaltungsverfahrensgesetz in allen seinen Teilen, freilich in einem sehr ungleichen Maße, zum Vorbild gedient hatte. Abgesehen von einzelnen Bestimmungen, die im Verwaltungsstrafgesetz und Verwaltungsvollstreckungsgesetz eine vom allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz abweichende Regelung erfahren haben, ist nämlich das zuletzt genannte Gesetz auch für das Verwaltungsstrafverfahren und das Verwaltungsvollstreckungsverfahren eine subsidiäre Rechtsquelle. Das Verwaltungsstrafgesetz ist komplexer Natur. Es enthält einesteils die allgemeinen Bestimmungen des materiellen Verwaltungsstrafrechtes und ist insoweit dem allgemeinen Teile des Strafgesetzbuches vergleichbar, dessen Einrichtungen indes, den Bedürfnissen der Verwaltungsstrafrechtspflege entsprechend, modifiziert und vereinfacht wurden. Zugleich wurden in diesem Teile des Verwaltungsstrafgesetzes gewisse neue Gedanken des für das Deutsche Reich und Österreich gemeinsamen Strafgesetzentwurfes vorweggenommen, so daß sich das Verwaltungsstrafgesetz als die modernste Kodifikation von Strafrecht im deutschen Rechtsbereiche darstellen dürfte.

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Die einzelnen strafrechtlichen Tatbestände finden sich nach wie vor in zahllosen materiellrechtlichen Verwaltungsgesetzen verstreut und zwar immer im Zusammenhang mit jenen Gesetzesvorschriften, deren Sanktion sie darstellen; so zum Beispiel im Forstgesetze, in den Wasserrechtsgesetzen, in der Gewerbeordnung, im Berggesetze usw. Die gelegentlich aufgetauchte Absicht einer zusammenfassenden Kodifikation des speziellen Teiles des Verwaltungsstrafrechtes ist wohl für eine unabsehbare Zukunft ausgeschlossen, da die Mannigfaltigkeit, die verschiedene Wichtigkeit und die außerordentlich schwankende, oft durch Augenblicksbedürfnisse bedingte Geltungsdauer eine dem Kriminalstrafgesetzbuch wesensgleiche Kodifikation des Verwaltungsstrafrechtes, sei es des Bundes oder auch der Länder, schlechterdings ausschließt. Diese Schwierigkeit steigert sich hierzulande noch dadurch, daß die österreichische Gesetzgebung die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden vor den Gerichten auch in Strafsachen in ungewöhnlicher Weise bevorzugt und bemerkenswerterweise sogar eine allgemeine Zuständigkeitsregel in Strafsachen zugunsten der allgemeinen Verwaltungsbehörde (politische Bezirksbehörde) aufstellt, soweit nicht andere Behörden, insbesondere die Strafgerichte, zur Verfolgung zuständig erklärt sind. Zum andern Teil stellt sich das Verwaltungsstrafgesetz als Strafprozeßordnung für die Verwaltungsstrafrechtspflege dar. Insoweit hat diesem Gesetze die gerichtliche Strafprozeßordnung, allerdings nur in ziemlich entfernter Weise, zum Vorbild gedient. Das Verfahren in Verwaltungsstrafsachen ist nämlich trotz strenger Wahrung der Interessen des Beschuldigten - insbesondere an einer wahrheitsgetreuen Sachverhaltsermittlung und Sicherung des „rechtlichen Gehörs" zugunsten des Beschuldigten - im Vergleiche mit der gerichtlichen Strafprozeßordnung beträchtlich vereinfacht und verkürzt. Insbesondere wurde nach deutschem Muster das Organstrafmandat neu eingefühlt. Hingegen wurde auch im neuen Verwaltungsstrafgesetze an jener Eigentümlichkeit des österreichischen Verwaltungsstrafverfahrens festgehalten, wonach es durchgängig, auch im Rechtsmittelzuge, vom Justizstrafverfahren geschieden ist und es dem Beschuldigten unter keinen Umständen freisteht, durch irgendein Rechtsmittel die Zuständigkeit des ordentlichen Gerichtes herbeizuführen. Nur die Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof steht der Partei sowie gegen grundsätzlich jeden Verwaltungsakt auch gegen Straferkenntnisse nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges offen, allerdings nicht bloß wegen Rechtsverletzung, sondern bei Verwaltungsstrafen von

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mehr als einer Woche Arrest oder mehr als 200 S in Geld, ferner im Falle der Strafe des Verfalls von Gegenständen in diesem Wert, oder der Entziehung einer Berechtigung auch wegen des Strafausmaßes, also ausnahmsweise in einer Ermessensfrage. Diese weitgespannte Zuständigkeit der österreichischen Verwaltungsbehörden in Strafsachen bedeutet für diese in Anbetracht der Tatsache, daß die verwaltungsbehördlich strafbaren Tatbestände die gerichtlich strafbaren um ein Vielfaches übersteigen, eine beträchtliche Inanspruchnahme, die unter anderem mit dazu beiträgt, in der österreichischen Staatspraxis das Schwergewicht in die Verwaltung zu verlegen. In diesem Zusammenhange sei noch erwähnt, daß die Verfassungsnovelle vom 7. Dezember 1929 die Rechtsprechung oberster Instanz im Verfahren vor den Verwaltungsbehörden wegen Verwaltungsübertretungen an Verwaltungsstrafsenate überträgt, die bei den heute schon zuständigen Verwaltungsbehörden höherer Instanz zu bilden sind. Die Einführung des Kollegialprinzipes für das Rechtsmittelverfahren in Verwaltungsstrafsachen, in Verbindung mit der Vorschrift, daß die Mitglieder dieser Strafsenate bei Ausübung ihres Amtes unabhängig und an keine Weisungen gebunden sind, wird geeignet sein, die Justizförmigkeit des Verwaltungsstrafverfahrens wenigstens in der Rechtsmittelinstanz noch zu steigern und dabei zugleich an der Tradition des österreichischen Verwaltungsstrafwesens durchgängige und ausschließliche Administrativkompetenz mit gänzlicher Ausschaltung der ordentlichen Gerichte - auch in Zukunft festzuhalten. Die Einrichtung der Verwaltungsstrafsenate ist allerdings vorläufig ein bloßes Programm, das erst durch einfaches Bundesgesetz - wiederum zugleich für die Bundes- und Landesverwaltung - zu regeln sein wird. Ein viertes Verwaltungsreformgesetz, das Verwaltungsvollstreckungsgesetz, vereinheitlicht und vereinfacht die Verwaltungsvollstreckung. Dieser kommt bei dem außerordentlichen Kompetenzumfang der österreichischen Verwaltung eine um so größere Bedeutung zu, als die Verwaltungsbehörden die rechtskräftigen Verwaltungsakte grundsätzlich selbst zu vollstrecken haben. Nur wenn es sich um die Vollstreckung von Geldforderungen handelt, kann die zur Vollstreckung zuständige Verwaltungsbehörde nach ihrer Wahl die Vollstreckung entweder selbst vornehmen oder durch das örtlich zuständige Gericht vornehmen lassen. Steuerforderungen haben die Steuerbehörden jedenfalls selbst zu vollstrecken. Im übrigen ist die Verwaltungsvollstreckung zur Gänze bei den allgemeinen Verwaltungsbehörden (politischen Bezirksbehörden, Bundespolizeibehörden und Magistraten der autonomen

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Städte) konzentriert, so daß die zahlreichen Arten von Spezialbehörden, die in der SpezialVerwaltung geschaffenen Exekutionstitel durch die allgemeine Verwaltungsbehörde exequieren lassen müssen. Diese Konzentrierung bedeutet zugleich eine Rationalisierung und Verbilligung der Verwaltungsvollstreckung. Bloß das letzte der Reformgesetze ist materiellrechtlicher Natur: das sogenannte Verwaltungsentlastungsgesetz beseitigte einerseits eine Reihe von Verwaltungseinrichtungen, die insbesondere während des Krieges ins Leben gerufen, seither aber mit der Konsolidierung der Wirtschaftsverhältnisse entbehrlich geworden waren; andererseits wurden auf Grund einer eingehenden Sichtung und Siebung der gesamten Verwaltungsrechtsquellen des Bundes viele Dutzende Verwaltungsgesetze in der Richtung reformiert, daß überflüssige Inanspruchnahmen der Behörden und der Bevölkerung entfallen sind. Zugleich brachte das Gesetz eine Reform des Haushalts- und Buchhaltungswesens. In diesem Gesetze liegt ein mächtiges Stück Verwaltungsvereinfachung. Es soll indes nicht verschwiegen werden, daß der Abbau an Verwaltungsarbeit in den verschiedenen Ressorts in ziemlich verschiedenem Maße erfolgt ist; über das Maß entschied nicht immer das sachliche Bedürfnis, sondern in manchen Fällen auch Ressortpatriotismus und die Zähigkeit, mit der die Vertreter der einzelnen Ressorts ihren Wirkungskreis ungeschmälert zu erhalten trachteten. Wenn nach der kürzlich verabschiedeten Verfassungsreform neuerlich das Schlagwort einer Verwaltungsreform aufgeflattert ist und der gegenwärtige, für aktuelle Forderungen überaus feinhörige Bundeskanzler unlängst diesen Ruf aufgenommen und sich zu eigen gemacht hat, so handelt es sich um eine Fortführung des vom Verwaltungsentlastungsgesetz angebahnten Abbaues an entbehrlichen Verwaltungsaufgaben. Allerdings gibt man sich in Wirtschaftskreisen, in denen man der sogenantnen „Vielregiererei" der Gebietskörperschaften wenig hold ist, darüber doch wohl übertriebenen Illusionen hin, daß durch einen weiteren einschneidenden Abbau wirklich überflüssiger Verwaltungsaufgaben ein noch einschneidenderer Abbau des mitunter ebenso scheel angesehenen Verwaltungspersonals erzielt werden könnte, es wäre denn, daß man an die Abstoßung der Staatsbetriebe denkt, die man aber bisher noch nicht ernstlich in Diskussion zu stellen gewagt hat. Das Schlagwort, das in der Sanierungsepoche für die Reform der Staatsbetriebe ausgegeben wurde, hieß „Kommerzialisierung". Das Programm

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der Kommerzialisierung wurde indes nur hinsichtlich der Bundesbahnen und der Bundesforste verwirklicht. Das Bundesgesetz vom 19. Juli 1923 über die Bildung eines Wirtschaftskörpers „Österreichische Bundesbahnen" hat den Betrieb der Bundesbahnen aus der Hoheitsverwaltung des Bundes losgelöst und ihn einer mit eigener juristischer Persönlichkeit ausgestatteten Anstalt übertragen. Diese Anstalt hat in ihrer Organisation zwar eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Aktiengesellschaft, ist aber doch von einer solchen wesensverschieden und ein Rechtsgebilde eigener Art. Ihr oberstes beschließendes und kontrollierendes Organ, die 14gliedrige Verwaltungskommission mit einem Präsidenten an der Spitze, wird von der Bundesregierung bestellt. Bezeichnenderweise hat hinsichtlich dreier Mitglieder der Verwaltungskommission das Personal ein Vorschlagsrecht, so daß die Bundesbahnen unter intensiver Kontrolle und Mitverwaltung der Eisenbahnen stehen. Der Wirtschaftskörper der Bundesbahnen ist gesetzlich verpflichtet, bei Wahrung der im Eisenbahnbetrieb mitspielenden öffentlichen Interessen den Betrieb nach kaufmännischen Gesichtspunkten zu führen. Bahnkörper und Fahrpark wurden unter Aufrechterhaltung des Eigentums des Bundes dem Wirtschaftskörper zur treuhändigen Verwaltung übergeben. Der Wirtschaftskörper steht, ungeachtet der orgnisatorischen Loslösung von der Hoheitsverwaltung des Bundes, unter einer sehr weitgehenden Kontrolle und sogar Mitbestimmung teils der Bundesregierung, teils des Ministeriums für Handel und Verkehr. Insbesondere bedarf die Festsetzung der Tarife der Bundesbahnen der Zustimmung der Bundesregierung, die ihrerseits hierzu wieder die Zustimmung des Hauptausschusses des Nationalrates einzuholen hat. Kommt zwischen Bundesregierung und Hauptausschuß eine Einigung über die beabsichtigte Tarifmaßnahme nicht zustande, so entscheidet das Plenum des Nationalrates durch Beschluß. Der finanzielle Zusammenhang zwischen Bundesbahnen und Bundesverwaltung ist auch in der Weise gewahrt, daß ein Betriebsüberschuß der Bundesbahnen nach Sammlung einer Rücklage an die Bundeskassa abzuführen, ein Betriebsabgang von der Bundeskassa zu decken ist. Unter dem Regime des Wirtschaftskörpers der Bundesbahnen ist es trotz mancher Kritik der Öffentlichkeit an der Tarifpolitik einerseits und der Personalpolitik andererseits (die Bundesbahnen sind nämlich immer, wenngleich in einem gewissen Abstand, den Tarifmaßnahmen der deutschen Reichsbahnen gefolgt) doch gelungen, trotz der unverhältnismäßig hohen Erhaltungskosten der wenig frequentierten Gebirgsstrecken bald das finanzielle Gleichgewicht herzustellen und die, während des Krieges ungeheuer stark in Mitleidenschaft

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gezogenen Betriebseinrichtungen technisch ganz außerordentlich zu vervollkommnen, so daß der europäische Durchzugsverkehr von West nach Südost zum guten Teile wieder an Österreich gezogen wurde. Erwähnt sei noch, daß auf Grund mehrerer Elektrifizierungsgesetze binnen weniger Jahre annähernd 1200 km Hochgebirgsstrecke auf den elektrischen Betrieb umgestellt wurde. Andere Wege ging die sogenannte Kommerzialisierung der Bundesforste. Sie beruht auf dem Bundesgesetz vom 28. Juli 1925 über die Bildung eines Wirtschaftskörpers „österreichische Bundesforste". Dieser sogenannte Wirtschaftskörper hat den Charakter einer unselbständigen Anstalt, teilt also die Rechtspersönlichkeit des Bundes. Die Forste des Bundes, der der weitaus größte Grundeigentümer Österreichs ist, wurden diesem Wirtschaftskörper zur treuhändigen Verwaltung übertragen. Gemäß dem Charakter der Bundesforste als einer nicht erwerbswirtschaftlichen, sondern gemeinnützigen Unternehmung wurden die gesetzlichen Richtlinien für die Verwaltung dieses Bundesbetriebes wesentlich anders gefaßt, als im Falle der Bundesbahnen. Die oberste Aufgabe der Bewirtschaftung der Bundesforste ist nämlich, ,,bei strengster Wahrung und Sicherung der mit der Forstwirtschaft verbundenen allgemeinen und öffentlichen Interessen" die Waldsubstanz und die Bodenkraft zu wahren. Nur bei der Verwertung der Forstprodukte wurde vom Gesetze der Forderung der Kommerzialisierung Raum gegeben, indem insoweit vorgeschrieben ist, die „Grundsätze kaufmännischer Betriebsführung" zu beobachten. Unter der Herrschaft dieses Gesetzes wurde bisher der Bundeswald, der nach dem Umsturz zeitweilig der Gefahr der Verschleuderung oder wenigstens einer die Waldsubstanz mindernden Ausbeutung ausgesetzt war, als das nach verbreiteter Meinung wertvollste Nationalgut Deutschösterreichs unversehrt erhalten. Die anderen Bundesbetriebe, namentlich die Post- und Telegraphenanstalt, das Salzregal, die anderen Bergwerksbetriebe, die Monopolbetriebe und die Bundesdruckereien wurden in ihrer bisherigen organisatorischen Stellung, also in engster Verbindung mit der Hoheitsverwaltung belassen. IV. Den vorläufigen Abschluß der auf die Verwaltung Bezug habenden Reformgesetzgebung bildet die Bundesverfassungsnovelle vom 7. Dezem-

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ber 1929, BGBl. Nr. 392. Die Eigentümlichkeit dieser letzten, auch außerhalb der Grenzen Österreichs viel beachteten Verfassungsreform besteht nämlich darin, daß unter dem Schlagwort der „Stärkung der Staatsmacht" eine gewisse Umgruppierung der Kompetenzen auf Kosten der Gesetzgebung zugunsten der Verwaltung vorgenommen wurde. Unter dem Gesichtspunkt der Staatsform gesehen, wurde durch diese Verfassungsreform das extrem parlamentarische System, das in der ursprünglichen Verfassung der österreichischen Republik wesentlich radikaler als in der des Deutschen Reiches verwirklicht war, in der Richtung einer gewaltentrennenden, die Verwaltung von der ungewöhnlichen Bevormundung der Gesetzgebung befreienden Demokratie gemildert. Für die Verwaltung sind folgende Neuerungen der Verfassungsreform wesentlich: die Zuständigkeit des Bundespräsidenten wurde unter anderem auf die Bestellung der Bundesregierung und der einzelnen Bundesminister sowie deren Abberufung, ferner auf den Oberbefehl über die bewaffnete Macht ausgedehnt, was bisher in die Kompetenz des Nationalrats gefallen war. Während nach der bisherigen Rechtslage Verordnungen nur zur Durchführung einfacher Gesetze möglich waren, räumt die Verfassungsnovelle dem Bundespräsidenten und den Sicherheitsbehörden ein, allerdings mehrfach beschränktes, selbständiges Verordnungsrecht ein, das indes in keinem der beiden Fälle so weit geht wie die analogen Rechtseinrichtungen des Deutschen Reiches. Der Bundespräsident wurde ermächtigt, allerdings nur für die Zeit, in der der Nationalrat nicht versammelt ist, und unter der weiteren Voraussetzung, daß er nicht rechtzeitig zusammentreten kann, auf Vorschlag der Bundesregierung gesetzändernde Verordnungen zu erlassen. Diese Verordnungen sind aber, insbesondere inhaltlich, stark beschränkt, denn sie dürfen nicht eine Abänderung bundesverfassungsgesetzlicher Bestimmungen bedeuten, und weder eine dauernde finanzielle Belastung des Bundes, noch eine finanzielle Belastung der Länder, Bezirke oder Gemeinden, noch finanzielle Verpflichtungen der Bundesbürger, noch eine Veräußerung von Staatsgut, und endlich nicht Änderungen des Arbeiterrechts, sowie Arbeiter- und Angestelltenschutzes, des Koalitionsrechtes und des Mieterschutzes zum Gegenstande haben. Es bedarf keiner näheren Ausführung, wie weit das diesen inhaltlichen Schranken unterworfene Notverordnungsrecht hinter den Möglichkeiten, die sich für den Deutschen Reichspräsidenten aus dem Art. 48 Reichsverfassung ergeben, zurückbleibt; beispielsweise können in Österreich Steuermaßnahmen oder Eingriffe in die

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sogenannten sozialen Errungenschaften, die hierzulande in nicht wenigen Punkten weitergehen als im Deutschen Reich, hingegen allerdings durch den Mangel einer Alters- und Invaliditätsversicherung der Arbeiter hinter dem deutschen Sozialrechte zurückbleiben, mittels Notverordnungen nicht vorgenommen werden. Derartige Verordnungen des Bundespräsidenten sind überdies an die vorgängige Zustimmung eines ständigen Unterausschusses des Hauptausschusses des Nationalrates gebunden, und müssen von der Bundesregierung unverzüglich dem Nationalrat vorgelegt werden, der jedenfalls für einen der der Vorlage folgenden acht Tage zur Ausübung seines Kontrollrechtes einzuberufen ist. Auf Verlangen des Nationalrates hat die Bundesregierung eine solche Verordnung des Bundespräsidenten sofort außer Kraft zu setzen. Immerhin bedeutet dieser vielseitig beschränkte Kompetenzenzuwachs eine beträchtliche Stärkung der bis vor kurzem noch überaus schwachen Stellung des österreichischen Staatsoberhauptes. Die mit Aufgaben der Sicherheitspolizei betrauten Behörden werden von der Verfassungsnovelle ermächtigt, zum Schutz der gefährdeten körperlichen Sicherheit von Menschen oder des Eigentums innerhalb ihres Wirkungsbereiches die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Anordnungen zu treffen, und deren Nichtbefolgung als Verwaltungsübertretung zu erklären. Damit wurde zum ersten Male, und zwar sehr zurückhaltend den Sicherheitsbehörden ein Polizeiverordnungsrecht neben dem Gesetze zur Ergänzung des - wie allen Verwaltungsbehörden, so auch den Polizeibehörden - zustehenden Verordnungsrechtes zur Durchfuhrung der Gesetze eingeräumt. Die Voraussetzung für die Erlassung solcher selbständiger Polizeiverordnungen ist indes, daß eine gegenwärtige Gefährdung der körperlichen Sicherheit von Menschen oder des Eigentums vorliegt. Solche Verordnungen dürfen auch nicht gegen bestehende gesetzliche Vorschriften verstoßen. Das Gesetz schreibt auch ausdrücklich vor, daß solche Verordnungen aufzuheben sind, sobald der Grund zu ihrer Erlassung weggefallen ist. Für die österreichische Polizeiverwaltung bedeutet diese Verordnungskompetenz, die anderweitig selbstverständlich sein mag, eine unerwartete Errungenschaft, denn sie schlägt in den bisher extrem durchgeführten Vorrang der Gesetzgebung über die Verwaltung eine weitere Bresche. Hingegen ist das Programm der Regierungsvorlage zur Verfassungsreform, nach dem Vorbilde der Deutschen Reichsverfassung eine Suspension von Grundrechten zu ermöglichen und damit den Polizeibehörden rechtliche Handhaben zur Vorbeugung und Bekämpfung von Unruhen zu bieten, nicht Gesetz gewor-

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den, obwohl in der Regierungsvorlage die analogen Bestimmungen des Art. 48 Reichsverfassung ohnehin bereits stark abgeschwächt waren. In Österreich fehlt somit nach wie vor jedwede Möglichkeit zur Verhängung eines sogenannten Ausnahms- oder Belagerungszustandes. Eine gewisse Kompensation für diesen Mangel, den man nach der bisherigen Erfahrung gewiß nicht als dem Staatsleben bedrohlich beurteilen kann, schafft die straffe Zentralisation der Polizeiverwaltung in der Hand des Bundes. Die Verfassungsnovelle hat auch jenen Teil an Polizeifunktionen, der bisher im selbständigen Wirkungskreis der Länder gestanden war, auf den Bund übernommen, und selbst die den Gemeinden zustehende Lokalpolizeiverwaltung wurde einer intensiven Kontrolle des Bundes unterstellt, der den Gemeinden über die Ausübung der Lokalpolizei auch im Einzelfalle Weisungen erteilen und Inspektionsorgane zur Inspektion der Gemeindepolizei entsenden kann. Diese wenigen, wenn auch wichtigsten Beispiele, zeigen, wie die Gesetzgebung mit Erfolg bemüht war, die dualistische Konstruktion des Bundesstaates in der Verwaltungspraxis allmählich auszuschalten und ein harmonisches Zusammenwirken der verschiedenen Gebietskörperschaften zu erzielen. So wurde die Verwaltungsreform in ihrer die einzelnen Etappen beherrschenden Grundtendenz zum rechtstechnischen Mittel, das Irrationelle, das die Einführung des Bundesstaates in einem Kleinstaate bedeutet, zu rationalisieren. Verwaltungstechnisch ist der Dualismus von Bund und Ländern zum nicht geringen Teile im Interesse der Bevölkerung überwunden. Damit wurde eine nicht zu unterschätzende Vorarbeit für den Einbau Österreichs in das Deutsche Reich geleistet, denn es ginge weder vom Standpunkte Österreichs noch des Deutschen Reiches an, daß ein einzelnes Land des Reiches in sich tiefgreifende Gegensätze der Verwaltungseinrichtungen aufwiese. So bedeutet die Quintessenz der österreichischen Verwaltungsreform - Vereinheitlichung der Verwaltungseinrichtungen von Bund und Ländern - ein wirksames Stück Anschlußpolitik.

Österreichisches Verwaltungsrecht Die wesentlichste Neuerung auf dem Gebiete der Verwaltungsorganisation bedeutet die Schaffung eines Bundesministeriums für Justiz (Bundesgesetz vom 2.VIII. 1927, BGBl. Nr. 264). Hiermit wurde dem Bundeskanzleramt die oberste Justizverwaltung hinsichtlich der gesamten ordentlichen Gerichtsbarkeit abgenommen; die Justizverwaltung hinsichtlich der öffentlich-rechtlichen Gerichtshöfe (Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof) ist jedoch dem Bundeskanzleramt neben seinen Hauptkompetenzen (Innenund Außenverwaltung) verblieben. Den Schlußstein der Verfahrensreform vom 21.VII. 1925 bildet der Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit ; diese Neuerung hat im Sinne der Normativbestimmungen der Verfassungsnovelle vom 7.XII.1929, BGBl. Nr. 392, das Bundesgesetz vom 16.V.1930, BGBl. Nr. 153, unternommen. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist nach wie vor ausschließlich gleich der ordentlichen Gerichtsbarkeit Sache des Bundes, gleichviel ob sie Kontrolle von Verwaltungsakten des Bundes oder der Länder zum Gegenstande hat. Die Generalklausel, wonach sämtliche Entscheidungen und Verfügungen der Bundes- und Landesverwaltungsbehörden der Überprüfung des Verwaltungsgerichtshofes - ausnahmsweise, soweit durch diese Verwaltungsakte verfassungsmäßig gewährleistete Rechte verletzt wurden, des Verfassungsgerichtshofes - unterliegen, wurde um mehrere Spezialklauseln erweitert: der Verwaltungsgerichtshof ist nunmehr auch an Stelle des Verfassungsgerichtshofes zur Entscheidung über Klagen zuständig, womit gegen den Bund, die Länder, die Bezirke oder die Gemeinden vermögensrechtliche Ansprüche geltend gemacht werden, sofern diese Ansprüche nicht im ordentlichen Rechtsweg auszutragen sind, ferner zur Entscheidung von Streitfällen, die sich aus dem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis der Ange-

ln: Stier-Somlö/Elster (Hrsg.): Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. VII. Berlin, Leipzig: W. de Gruyter & Co. 1931, S. 351-354.

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stellten des Bundes, der Länder, der Bezirke oder der Gemeinden ergeben. Ferner ist dem Verwaltungsgerichtshof auch die Rechtsprechung über die Haftung des Bundes, der Länder, der Bezirke oder der Gemeinden für den durch deren Organe verursachten Schaden sowie über die Haftung dieser Organe gegenüber der Gebietskörperschaft zugedacht. Indes harrt diese Rahmenbestimmung noch eines Ausführungsgesetzes; bisher besteht nur eine zivilrechtliche Haftpflicht des Bundes für den im Bereiche der Justiz nicht auch der Hoheitsverwaltung - verursachten Schaden, dessen Ersatz gemäß Gesetz vom 12.VII. 1872, RGBl. 112, gegen den Bund oder gegen das schuldige richterliche Organ oder gegen beide durch Klage beim Oberlandesgericht geltend zu machen ist. Der Verwaltungsgerichtshof besteht aus einem vom Bundespräsidenten ernannten Präsidenten und Vizepräsidenten sowie der erforderlichen Zahl von Senatspräsidenten und Räten. Für die Ernennung der Senatspräsidenten und Räte hat die Vollversammlung des Verwaltungsgerichtshofes dem Bundeskanzler auf Grund einer vorangegangenen allgemeinen Bewerbung Besetzungsvorschläge zu erstatten. Die Vollversammlung beschließt alljährlich die Geschäftseinteilung des Verwaltungsgerichtshofes. Der Verwaltungsgerichtshof gliedert sich in je eine Fachgruppe für Rechtsfälle der allgemeinen Verwaltung und der Finanzverwaltung. Er judiziert in Senaten von je fünf Mitgliedern, von denen der Vorsitzende vom Präsidenten bestellt, drei ständige Mitglieder von der Vollversammlung in der Geschäftseinteilung bestellt und nur das fünfte Mitglied fallweise vom Präsidenten aus den Mitgliedern der Fachgruppe zugewiesen wird; durch diese überwiegend stabile Zusammensetzung der Senate soll eine politischen Interessen dienende Beeinflussung der Rechtsprechung hintangehalten werden. Als Mitglieder des Verwaltungsgerichtshofes können schon seit seiner Gründung (1875) nur rechtskundige Personen fungieren; neu ist die Berufungsbedingung, daß in den Verwaltungsgerichtshof nur Personen berufen werden können, die bereits durch mindestens zehn Jahre eine Berufsstellung bekleidet haben, für die die Vollendung der rechts- und staatswissenschaftlichen Studien vorgeschrieben ist. Wenigstens der dritte Teil der Mitglieder muß die Befähigung zum Richteramte haben; jedem Senat muß mindestens ein solches Mitglied angehören. Beschwerden und Klagen sind in der Regel binnen 60 Tagen nach der Entscheidung der letzten Verwaltungsinstanz unmittelbar beim Verwaltungsgerichtshof einzubringen. Beschwerden und Klagen, die wegen Versäumung der Einbringungsfrist oder wegen offenbarer Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlung nicht geeignet sind, ebenso Beschwerden und Kla-

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gen, denen offenbar der Einwand der entschiedenen Sache oder der Mangel der Berechtigung zur Erhebung der Beschwerde oder Klage entgegensteht, sind ohne weiteres Verfahren durch Beschluß zurückzuweisen. Ansonsten ordnet der Präsident des Verwaltungsgerichtshofes eine öffentliche mündliche Verhandlung an. Diese wird durch mündlich zu verkündendes und schriftlich auszufertigendes Erkenntnis erledigt. Das Erkenntnis über Klagen ist meritorisch, über Beschwerden, denen stattgegeben wird, kassatorisch. Im letztgenannten Falle sind die Verwaltungsbehörden insofern an das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes gebunden, daß sie mit allen ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Gerichtes entsprechenden Rechtszustand herzustellen verpflichtet sind. Für die einzelnen Gegenstände der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung sind prozessuale Sondervorschriften getroffen. Das Anwendungsbereich der Verwaltungsverfahrensgesetze vom 21.VII. 1925 wurde durch das Bundesgesetz vom 4.III.1927, BGBl. 79, mit gewissen Einschränkungen auf die Agrarbehörden erstreckt, so daß an wichtigeren Verwaltungsbehörden nur noch die Finanzbehörden und Postbehörden aus dem Herrschaftsbereich der neuen justizähnlichen Verwaltungsprozeßordnung ausgenommen sind. Für die Außenverwaltung haben der Beitritt Österreichs zum Volkerbund (Ratifikation vom 16.VIII. 1927, BGBl. 267) und der Beitritt zum Kelloggschen Antikriegspakt (Ratifikation vom 28.XI.1928, BGBl. 268) eine neue Rechts- und Sachlage hergestellt. Durch das Haager Übereinkommen vom 18.VIII.1930 wurden Österreich die Reparationslasten erlassen. Auf dem Gebiete der Innenverwaltung haben unter zahlreichen neuen Sondergesetzen nur wenige größere Bedeutung. Einen Behelf für die Wahlen sämtlicher Vertretungskörper sowie des Bundespräsidenten, ferner für Volksbegehren und Volksabstimmungen bilden gemäß dem Bundesgesetz vom 20.111.1930, BGBl. 85, an Stelle der bisher immer eigens angelegten Wählerverzeichnisse ständige Bürgerlisten. In diese sind alljährlich im Monat Dezember die in jeder Gemeinde wohnhaften Bundesbürger einzutragen, die bis Ende Januar des folgenden Jahres mindestens das 21. Lebensjahr vollendet haben und gegen die kein Ausschließungsgrund vom Wahlrecht vorliegt. Während des Januar und Juni jeden Jahres hat der Bürgermeister und in Orten, wo sich eine Bundespolizeibehörde befindet, diese die

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Bürgerliste zur allgemeinen Einsicht aufzulegen. Gegen die Bürgerliste kann jeder Bundesbürger innerhalb der Auflagefrist wegen Aufnahme vermeintlich Nichtberechtigter oder wegen Nichtaufnahme vermeintlich Berechtigter beim Bürgermeister bzw. der Polizeibehörde Einspruch erheben. Über die Einsprüche entscheiden besondere Einspruchskommissionen, die aus Verwaltungsbeamten, Richtern und verhältnismäßig von den politischen Parteien abgeordneten Beisitzern auf je zwei Jahre zusammengesetzt sind. Das Staatsbürgerschaftsgesetz vom 30.VII.1925 wurde durch ein Bundesgesetz vom 8.VII. 1927, BGBl. 236, novelliert. Während bis dahin der freiwillige Eintritt in den öffentlichen Dienst oder Militärdienst eines fremden Staates unter allen Umständen den Verlust der Bundesbürgerschaft zur Folge hatte und in solchen Fällen auch die Landesregierung nicht wie im allgemeinen beim Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit die österreichische Bundesbürgerschaft vorbehalten konnte, bestimmte die vorerwähnte Novelle, daß der Verlust der Bundesbürgerschaft nicht eintritt, wenn ein Bundesbürger die Stelle eines Hochschullehrers im Auslande antritt und wenn nach den Gesetzen dieses Staates mit dem Antritt des Hochschullehramtes der Erwerb der fremden Staatsbürgerschaft nicht verbunden ist. Eine Novelle zur Heimatordnung vom 20.XII.1928, BGBl. 355, sieht die Führung von Heimatrollen durch die Gemeinden vor. Dies sind gemeindeweise Verzeichnisse der in der Gemeinde heimatberechtigten Bundesbürger. Verschiedentliche vom Gesetz vorgeschriebene Anzeigen sollen eine zuverlässige Evidenz der in der Gemeinde heimatberechtigten und damit sämtlicher in einer österreichsichen Gemeinde heimatberechtigten Bundesbürger sicherstellen. Eine Verordnung des Bundeskanzlers vom 4.VII. 1929, BGBl. 218, regelt die Einrichtung und Führung der Heimatrollen im Sinne des vorerwähnten Bundesgesetzes. Unter den mittlerweile erlassenen Polizeigesetzen hat die Novelle zum Waffenpatent, Bundesgesetz vom 17.VI.1930, BGBl. 178, am meisten Beachtung gefunden. Dieses Gesetz stellt sich als Abschlagszahlung an die von der Botschafterkonferenz der alliierten und assoziierten Mächte erhobenen Forderung nach Auflösung der bewaffneten Schutzformationen dar, die in den Bestimmungen des Staatsvertrages von Saint Germain, welcher die innere Abrüstung Österreichs anordnet, ihre Rechtsgrundlage hat. Die Novelle zum Waffenpatent ermächtigt den Bundeskanzler und bei Gefahr im

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Verzuge die Landeshauptleute, wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert, die auf Grund des Waffenpatentes erteilten Erlaubnisse zum Besitz und Tragen von Waffen und Munitionsgegenständen zeitweilig überhaupt oder auch nur für bestimmte Orte oder Personen zu beschränken oder zu widerrufen. Diese Bestimmung kommt offenbar nicht einer Auflösung oder Entwaffnung der von radikalen politischen Gruppen aufgestellten Selbstschutzverbände gleich, gibt aber doch den Spitzenorganen der Polizei eine wirksamere gesetzliche Handhabe als bisher, um Auswüchsen der Militarisierung von Bevölkerungsgruppen entgegenzutreten. Das vielumstrittene Bundesgesetz vom 5.IV.1930, BGBl. 113, zum Schutz der Arbeits- und Versammlungsfreiheit hat nicht nur strafrechtlichen, sondern auch polizeirechtlichen Charakter. - Das Straßenpolizeiwesen wurde gemäß der durch die Verfassungsnovelle vom 30.VII. 1925, BGBl. 268, herbeigeführten neuen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern in Angelegenheiten der Straßenpolizei neu geregelt, und zwar durch das Bundesgesetz vom 4.IV.1930, BGBl. 111, über die Berufung der Bundespolizeibehörden zur Vollziehung auf dem Gebiete der Straßenpolizei auf Bundesstraßen und durch das Bundesgrundsatzgesetz vom 20.XII.1929, BGBl. 438, über Grundsätze der Straßenpolizei, soweit sie sich nicht auf Bundesstraßen beziehen. - Das Kraftfahrwesen wurde durch Bundesgesetz vom 20.XII.1929, BGBl. 437, geregelt. Das Gesetz trifft im einzelnen Bestimmungen über das Fahrzeug, wie Genehmigungspflicht von Kraftfahrzeugen, Registrierung der zum Verkehr zugelassenen Kraftfahrzeuge, Schutzbestimmungen für den Betrieb, sodann Bestimmungen über die Führung von Kraftfahrzeugen, namentlich die behördliche Ausstellung eines Führerscheins als Bedingung der erlaubten Führung eines Kraftfahrzeuges, sowie Bestimmungen über den Verkehr von Kraftfahrzeugen. Eine Verordnung des Bundesministers für Handel und Verkehr vom 17.VII.1930, BGBl. 243, richtet auf Grund des Kraftfahrgesetzes als begutachtendes kollegiales Organ für das genannte Ministerium einen Kraftfahrbeirat ein. - Die Schiffahrt auf der Donau und den anderen österreichischen Binnengewässern wurde einem neuen Schiffahrtspolizeigesetz vom 1.IV. 1927, BGBl. 121, unterworfen. Als wirtschaftsfördernde Gesetze der jüngsten Zeit verdienen Hervorhebung: das Wohnbauförderungs - und Mietengesetz, das zur Ermöglichung des durch den fortdauernden Mieterschutz so gut wie lahmgelegten privaten Wohnungsbaues für Orte, in denen Wohnungsnot besteht, zur Errichtung von Wohnhäusern, deren Bau bis zum 31.XII. 1931 begonnen wird, bei

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Erfüllung gewisser Voraussetzungen zu ungewöhnlich günstigen Bedingungen, z.B. 1% Zinsen vom Darlehensbetrag, Bundeszuschüsse in Aussicht stellt. Der für diese Bundeszuschüsse präliminierte Betrag von 96 000 000 Schilling ist durch die bisher gewährten Darlehen bereits erschöpft. Im Dienste der Wohnungspolitik steht auch das Bundesgesetz vom 14.VI.1929, BGBl. 202, betreffend die Enteignung zu Wohnungs- und Assanierungszwecken. - Das Luftverkehrsförderungsgesetz vom 18.VII.1929, BGBl. 261, das Erdölförderungsgesetz vom 17.1.1929, BGBl. 75, und das Weinbauförderungsgesetz vom 11.11.1930, BGBl. 70, sind in ihrem wesentlichen Inhalt durch ihren Titel gekennzeichnet. - Das Bundesgesetz vom 16.VII.1930, BGBl. 220, trifft außerordentliche Hilfsmaßnahmen zur Linderung des landwirtschaftlichen Notstandes. Im Sinne dieses Gesetzes wurden zur Gewährung von Anbauprämien für den Getreidebau, zur Unterstützung der Brotgetreideverarbeitung sowie zur Gewährung einer außerordentlichen Hilfe an die Gebirgsbauernschaft Bundesmittel im Gesamtbetrage von 96 000 000 Schilling aufgewendet. Ein Bundesgrundsatzgesetz vom 2.VII. 1929, BGBl. 250, regelt das Elektrizitätswesen,, soweit die Durchführungsgesetzgebung und Vollziehung Sache der Länder ist; das ist in allen jenen Fällen, wo sich die Leitungsanlage des Elektrizitätsweges nicht auf zwei oder mehrere Länder erstreckt. Wirtschaftspolitischer und zugleich sanitätspolizeilicher Natur ist das Bundesgesetz vom 21 .III. 1930, BGBl. 88, über die grundsätzliche Regelung des Heilquellen-und Kurortewesens. Das Unterrichtswesen hat in den letzten Jahren bemerkenswerte Neuerungen erfahren. Das Bundesgesetz vom 2.VII.1930, BGBl. 234, gewährt der Hochschule für Welthandel in Wien das Promotionsrecht in Form der Verleihung eines „Doktorates der Handelswissenschaften". Berechtigungen leiten sich aus diesem für Österreich neuen akademischen Grad nicht ab, doch wurde hierdurch erst die volle Gleichstellung der allerdings von einem privaten Verein geführten Welthandelshochschule mit den anderen Hochschulen, die sämtlich den Charakter von Bundesanstalten haben, hergestellt. - Die Mittelschulen haben durch das Bundesgesetz vom 2. VIII. 1927, BGBl. 244, betreffend die Regelung des Mittelschulwesens, eine neue Organisation erhalten. Als Zweck der Mittelschulen bezeichnet das Gesetz die Vermittlung einer höheren Allgemeinbildung, die zugleich zum Studium an

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den Hochschulen befähigt. „Die Mittelschulen haben das Bildungsziel, die sittlichen und körperlichen Kräfte der ihnen anvertrauten Jugend zu entwickeln und die jungen Menschen in sozialem, staatsbürgerlichem, nationalem und sittlich-religiösem Geiste zu erziehen." Die Mittelschulen sind achtklassige mittlere Lehranstalten mit einer für das ganze Bundesgebiet einheitlichen Organisation. Die zulässigen Mittelschultypen sind Gymnasien, Realgymnasien und Realschulen, für Mädchen auch Frauenoberschulen. Die Aufnahme in die erste Klasse dieser Mittelschulen erfordert die erfolgreiche Beendigung mindestens der vierten Volksschulstufe und setzt die erfolgreiche Ablegung einer Aufnahmsprüfung voraus. Koedukation von Knaben und Mädchen wird vom Gesetze nicht ausgeschlossen, aber auch nicht gefördert. Wurde durch diese Neuordnung die Mannigfaltigkeit der bisherigen Mittelschultypen wesentlich vereinfacht, so wurde andererseits doch der Bundesminister für Unterricht ermächtigt, probeweise binnen sechs Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes sogenannte „Aufbauschulen", ferner Arbeitermittelschulen, endlich einjährige Überleitungskurse einzurichten. Diese Sondertypen sind auf besondere pädagogisch-didaktische Bedürfnisse abgestellt und für Schülergruppen bestimmt, die nicht den normalen Studiengang zurückgelegt haben. Das Tempo der sozialpolitischen Gesetzgebung hat sich in den letzten Jahren verlangsamt. Nichtsdestoweniger sind auch in der Berichtszeit zahlreiche, wenngleich nicht sehr einschneidende Gesetze, insbseondere Novellen zu den Sozmlversicherungsgesetzen, ergangen. Aus der Fülle der einschlägigen Gesetze sei das Bundesgesetz vom 12.VII.1929, BGBl. 247, betreffend Abänderung des Arbeiterversicherungsgesetzes, hervorgehoben. Dieses Gesetz bezweckte, den nach der ursprünglichen Fassung des Arbeiterversicherungsgesetzes ganz problematischen Termin des Inkrafttretens der Alters- und Invalidenversicherung zu präzisieren und damit die Verwirklichung dieser sozialen Einrichtung zu beschleunigen. Das zitierte Gesetz weist die Regierung an, den Beginn der Versicherung durch Verordnung zu bestimmen. Diese Verordnung „ist zu erlassen, sobald sich die Möglichkeit ergibt, die Volkswirtschaft durch Reformen auf dem Gebiete der öffentlichen Abgaben derart zu entlasten, daß dadurch die aus der Durchführung des Arbeiterversicherungsgesetzes erwachsende Mehrbelastung aufgewogen wird". Die Wirtschaftskrise mit ihrer Minderung des Steuereingangs hat allerdings die Erfüllung dieser Bedingung in eine unbestimmte Zukunft gerückt.

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Nach dem Vorbild der Länder Niederösterreich, Burgenland und Tirol haben mittlerweile auch die Länder Oberösterreich am 29.XI.1927 und Salzburg am 16.V.1929 einschneidende Naturschutzgesetze erlassen, wodurch der Kreis des auf sämtliche schutzwürdigen Naturobjekte erstreckten Rechtsschutzes fast um ganz Österreich geschlossen ist.

Rezension von:

Walter Jellinek, Verwaltungsrecht, Berlin 1928 Die Verlegenheitsphrase, daß ein Werk eine literarische Lücke ausgefüllt habe, ist im Falle des in dichter zeitlicher Folge in erster und zweiter Auflage erschienenen „Verwaltungsrechtes" von Walter Jellinek ein Wahrwort, das der Wahrheit nicht einmal voll gerecht wird. Denn das deutsche Verwaltungsrecht, das, quantitativ besehen, mindestens neun Zehntel des gesamten betr. Rechtsstoffes ausmacht und, qualitativ beurteilt, für das Rechtsleben und damit für eine dem Rechtsleben gerecht werdende Rechtswissenschaft eine immer steigende, dem Justizrecht jedenfalls bereits ebenbürtige Bedeutung angenommen hat, ist literarisch bisher doch verhältnismäßig stiefmütterlich behandelt worden. Gewiß, die monographische Behandlung verwaltungsrechtlicher Probleme und Einrichtungen hat die verwaltungsrechtliche Literatur auch nur in deutscher Sprache in wenigen Jahrzehnten ungeahnt anschwellen lassen. Auch an systematischen Einführungen in das deutsche Verwaltungsrecht und seine Wissenschaft leiden wir dank den keiner Empfehlung mehr bedürftigen Werken Otto Mayers, Fritz Fleiners, Paul Schoens, Rudolf Herrenritts, Friedrich Gieses und Julius Hatscheks keinen Mangel. An einem Werke aber, das über den gegenwärtigen Stand des Verwaltungsrechts des Deutschen Reiches und der deutschen Länder in einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Weise informieren würde, hat es bisher gefehlt. Diese Arbeit hat nun J. in seinem jüngsten Werk geleistet, und zwar mit einer wissenschaftlichen Tiefe und Gründlichkeit sowie - nicht zuletzt - mit einem unerhörten Sammeleifer, den wohl nur der voll zu würdigen weiß, der sich mit der Summe der verwaltungsrechtlichen Probleme bereits selbst (wie etwa der Referent in seinem „Allgemeinen Verwaltungsrecht", Verlag Julius Springer 1927) literarisch auseinandergesetzt hat. Die Art und Weise, wie J. den schier unübersehbaren Stoff erfaßt

Deutsche Literaturzeitung, 1931, Spalte 1039-1046; ebenfalls erschienen in Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 10 (1931), S. 313-320.

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und verarbeitet hat, indem er einerseits nicht etwa bloß vom positiven Recht abstrahierend die verwaltungsrechtlichen Probleme stellt und löst, sondern, Rechtstheorie mit Rechtsanalyse verbindend, einen Querschnitt durch das positive Verwaltungsrecht des Reiches und seiner Länder zeichnet, der von diesem Rechte ein verläßliches inhaltsreiches Bild gibt, andererseits jedoch sich auf die Grundzüge der Rechtseinrichtungen beschränkt und Besonderheiten nur, so weit sie rechtstechnisch oder rechtspolitisch bemerkenswert sind, hervorhebt, verrät die Meisterhand des Verfassers. Dabei muß man bedenken, daß der Mangel eines gleichartigen Vorbildes in der verwaltungsrechtlichen Literatur die an sich schon durch die Uferlosigkeit des Rechtsstoffes bedingten Schwierigkeiten für den Verfasser eines solchen Werkes weit über jenes Maß hinaus erhöht, das der Verfasser eines vergleichbaren zivil- oder strafrechtlichen Werkes zu bewältigen hat. Diese Anerkennung für eine unbestreitbar bewunderungswürdige Leistung wird selbstverständlich durch eine Reihe von Einwendungen nicht in Frage gestellt, die der Referent von seinem abweichenden rechtstheoretischen Standpunkt aus gegen die rechtstheoretischen Ausführungen J.s zu erheben hat. Auch die Disposition des Werkes, die für eine solche allgemein orientierende Darstellung des Verwaltungsrechtes von besonderer Bedeutung ist, darf im allgemeinen als sehr glücklich bezeichnet werden. In der Einleitung behandelt der Verfasser den Begriff und die Einteilung der Verwaltung in ihre einzelnen Erscheinungsformen und das Verwaltungsrecht; daran schließt sich in etwas befremdendem Zusammenhang ein Überblick über die Verwaltungsorganisation und über die Geschichte des Verwaltungsrechts mit ihren drei neuzeitlichen Epochen des älteren Justizstaates, des Polizeistaates und des heutigen Rechtsstaates und daran erst ein Paragraph über Verwaltungsrechtswissenschaft mit einer eingehenden Literaturangabe. Der allgemeine Teil behandelt die Quellen des Verwaltungsrechtes, worunter sich auch die Probleme der zeitlichen und räumlichen Herrschaft der Verwaltungsrechtssätze sowie der Gesetzesanwendung behandelt finden; die Subjekte des Verwaltungsrechtes, welche in Menschen und juristische Personen (mit deren zahlreichen verwaltungsrechtlich relevanten Erscheinungsformen) gegliedert werden; die Rechtsverhältnisse in der Verwaltung, öffentliche Pflichten und Rechte; die rechtserheblichen Tatsachen (Zeit, Raum, Zahlen, Gegenstände des Verwaltungsrechts, Zustände, Begebenheiten und Handlungen); die Verwaltungsakte, ihre Gültigkeit und Ungültigkeit; Schutz gegen Übergriffe der Verwaltung, im besonderen Rechtsschutz

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durch Verwaltungsgerichte; Amtshaftung und öffentlich-rechtliche Entschädigung für schuldlos rechtswidrige Eingriffe; Verwaltungszwang und andere Mittel zur Verwirklichung des staatlichen Willens. Der besondere Teil behandelt den öffentlichen Dienst, die Grundzüge des Finanzrechts, die Enteignung und öffentlich-rechtliche Eigentumsbeschränkung, die öffentlichen Lasten (Naturalleistungspflichten), die Polizei mit ihren einzelnen Zweigen, die öffentlichen Sachen und Anstalten (im Zusammenhang damit die Grundzüge des Schulrechts), endlich die Verwaltung durch beliehene öffentliche Unternehmer und die Selbstverwaltung. Ein Werk mit derart unerschöpflichem Inhalt kann selbstverständlich nicht erschöpfend besprochen werden; die Besprechung muß sich auf die Hervorhebung der markantesten Problemlösungen und gelegentliche kritische Bemerkungen hierüber beschränken. Die Verwaltung wird - wenn auch nicht dem Wortlaut, so doch dem Sinne nach übereinstimmend mit der vornehmlich durch Otto Mayer repräsentierten herrschenden Lehre - als die „Tätigkeit des Staates oder eines sonstigen Trägers öffentlicher Gewalt außerhalb von Rechtsetzung und Rechtsprechung" bestimmt. Diesem von J. sogenannten „gegenständlichen" Begriff der Verwaltung wird ein „organisatorischer" Begriff der Verwaltung gegenübergestellt; hiernach ist Verwaltung soviel wie „Tätigkeit der Verwaltungsbehörden, oder in verneinender Ausdrucksform Tätigkeit des Staates oder eines sonstigen Trägers öffentlicher Gewalt außerhalb von Gesetzgebung und Justiz". Auch wenn man von der definitio per idem absieht, die in der Bestimmung der Verwaltung als Tätigkeit der Verwaltungsbehörden gelegen ist, haben die vorerwähnten Begriffsbestimmungen das Mißliche an sich, daß sie die Verwaltung durch die nicht minder erklärungsbedürftigen Begriffe der Gesetzgebung und Rechtsprechung bestimmen. Durch die Verweisung auf diese vieldeutigen Begriffe bleibt der Begriff der Verwaltung so lange schwankend, als nicht die Begriffe der Gesetzgebung und Rechtsprechung völlig klargestellt sind. Übrigens geht auch bei J. die Subtraktion der drei Staatsfunktionen Rechtsetzung, Rechtsprechung und Verwaltung von der Summe der Staatstätigkeit - im Widerspruch zur vorstehenden Begriffsbestimmung - nicht restlos auf. Wenn J. die dem Völkerrecht und Bundesstaatsrecht „angehörige", das heißt wohl von ihm geregelte Staatstätigkeit von der Verwaltung ausscheidet, obwohl sie nach seiner Meinung gewiß auch nicht zur Rechtsetzung oder Rechtsprechung zu rech-

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nen ist, so stellt sich der Verwaltungsbegriff als enger heraus als die Differenz zwischen der Summe der Staatstätigkeit und der Summe der Rechtsetzung und Rechtsprechung. An dieser Exemption wird übrigens auch ein Unterschied zwischen dem Verwaltungsbegriffe Otto Mayers und dem J.s offenbar. Denn die von Otto Mayer vorgenommenen Exemptionen der sogenannten verfassungsrechtlichen Hilfstätigkeiten, des völkerrechtlichen Verkehres, des Kriegswesens und des Staatsnotrechtes verengern den Begriffsumfang der Verwaltung weitergehend. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß rechtswissenschaftliche Begriffe von der Rechtswissenschaft nicht entdeckt und erwiesen werden können, sondern willkürlich, freilich gemäß den Geboten der Denkökonomie aufgestellt werden müssen, so kann man dem von J. aufgestellten Begriffe der Verwaltung gewiß nicht unrecht, sondern möchte ihm vor der Begriffsbestimmung Otto Mayers den Vorzug geben. Denkökonomisch ist allerdings eine solche Begriffsbestimmung der Verwaltung am wertvollsten, die den Gesamtbereich der Staatstätigkeit nach Abzug der beiden anderen sogenannten Staatsgewalten erschöpft. Diesem Ideal eines Verwaltungsbegriffes kommt jedenfalls der J.s um vieles näher als der Otto Mayers. J. bemüht sich übrigens auch, die traditionelle negative Begriffsbestimmung der Verwaltung durch eine positive zu überwinden. Es soll indes keine Begriffsbestimmung, sondern nur eine das Typische unterstreichende Beschreibung der Verwaltung sein, ,,wenn man sie bezeichnet als die auf die Schaffung oder Verhinderung von etwas Neuem im Einzelfalle gerichtete Tätigkeit des Staates oder eines sonstigen Trägers öffentlicher Gewalt". Diese Kennzeichnung der Verwaltung trifft freilich auch vom rechtsgestaltenden Gerichtsurteil zu, wogegen sie die entscheidende und beurkundende Tätigkeit von Verwaltungsorganen nicht umfaßt. Im Rahmen der Betrachtung der Verwaltung untersucht der Verfasser auch das freie Ermessen. Er findet es zutreffenderweise in den Fällen der vom Gesetze gewollten Mehrdeutigkeit (S. 29) und definiert es als „die vom Gesetze für maßgeblich erklärte, fehlerfrei zustande gekommene individuelle Abgrenzung eines unbestimmten Begriffes innerhalb seiner beiden äußersten Grenzen, insbesondere die individuelle Auffassung über den inneren Wert oder Unweit seiner Verwirklichung" (S. 31). Das Verwaltungsrecht ist nach J. „nicht das Recht der Verwaltung im ganzen Umfange, sondern das der Verwaltung eigentümliche Recht. Das für

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den Fiskus, wenn er wie eine Privatperson auftritt, geltende Recht gehört also nicht zum Verwaltungsrecht im heute gebräuchlichen Sinne" (S. 39). Die Kennzeichnung des Verwaltungsrechtes als des der Verwaltung eigentümlichen Rechtes wirft aber wiederum die Frage auf, welches Recht denn eigentlich der Verwaltung eigentümlich ist. Die Antwort darauf wäre: das von Verwaltungsorganen anzuwendende Recht. Erst in dieser Begriffsbestimmung findet sich ein Kennzeichen für die Aussonderung des Verwaltungsrechtes aus der Gesamtrechtsordnung. Die Analyse der Quellen des Verwaltungsrechtes ist wohl der originellste Teil des gedankenreichen Buches. Man verdankt bekanntlich schon dem früheren Schrifttum J.s eine ungewöhnliche Erweiterung des Systems der Rechtsquellen - insbesondere durch die von unserem Verfasser mit Scharfsinn und Entdeckergabe bloßgelegten „Tatsachen mit abgeleiteter Rechtsatzwirkung". Der Lehre vom Gewohnheitsrecht, dem J. auch die Rolle einer ursprünglichen, dem Gesetze ebenbürtigen Rechtsquelle einräumt, vermag der Referent nicht zu folgen. Für das Deutsche Reichsrecht, und für dieses soll wohl auch die Antwort nach der Stellung des Gewohnheitsrechtes gelten, scheint mir der Vorrang des Gesetzes vor dem Gewohnheitsrechte festzustehen. Der immanente Sinn einer Verfassung, die für die Rechtsetzung die Gesetzesform - als eine qualifizierte Form geschriebenen Rechtes - einführt, kann wohl nur der sein, daß die Gesetzesform für die (generelle) Rechtsetzung obligatorisch sein soll, soweit nicht andere Rechtsatzformen von der Verfassung delegiert sind. Übrigens sind wohl auch die „Tatsachen mit abgeleiteter Rechtsatzwirkung" nichts als Inhalte bestimmter Rechtsnormen. Was J. zum Beweise des Charakters des Gewohnheitsrechtes als ursprünglicher Rechtsquelle anführt, beweist eigentlich mehr, als zu beweisen war, nämlich den Vorrang des Gewohnheitsrechtes vor dem Gesetzesrecht einschließlich der Verfassung, die, wenn sie einmal gewohnheitsrechtlich abgeschafft sein sollte, doch nicht von sich aus, mittels der ihr eigentümlichen Rechtssatzformen dem Gewohnheitsrechte derogieren könnte. Die Frage an das Gewohnheitsrecht, bei welchem Grade der Häufigkeit einer rechtswidrigen Praxis diese zu einer gewohnheitsrechtlich legitimierten wird, bleibt auch bei unserem Verfasser unbeantwortet. Widerspruchsvoll scheint auch die Behauptung, daß es der Vollziehung verwehrt sei, „von der allgemein anerkannten und als zweckmäßig empfundenen Praxis abzuweichen, weil dadurch die Rechtssicherheit auf das schwerste gefährdet wäre". Diese Behauptung würde streng genommen bedeuten, daß

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das Gewohnheitsrecht - ungeachtet der darin begründeten Gefährdung der Rechtssicherheit - zwar gesetzesderogatorische Kraft hat, jedoch nicht durch anderes Gewohnheitsrecht abgeändert werden könnte. Die vorhin der Verfassungsrechtslage entommenen Bedenken gegen ein ursprüngliches Gewohnheitsrecht richten sich übrigens auch zum Teil gegen die von J. vorgetragene Lehre der Verordnung. Für Verordnungen genügt m.E. nicht, wie der Verfasser im Einklang mit der herrschenden Lehre annimmt, die einfachgesetzliche Grundlage, sondern bedarf es einer verfassungsgesetzlichen Ermächtigung, da die Verordnung die verfassungsgesetzliche Regel der Gesetzesform für die Rechtsetzung durchbricht. Mangels eines solchen Blankettes, wie es in der Deutschen Reichsverfassung - allerdings mit Beschränkung auf die sogenannten Verwaltungsvorschriften - enthalten ist, bedeutet die Verordnungsermächtigung in einfachen Gesetzen eine unzulässige Subdelegation der Kompetenz zur Rechtsetzung. Als Ziel der Gesetzesauslegung, welche die Voraussetzung der Gesetzesanwendung ist, erachtet der Verfasser nicht Höchstwertigkeit der Entscheidung im Einzelfalle, ,,denn darüber werden die Meinungen meist weit auseinandergehen", sondern Einhelligkeit (S. 141). Die Erkenntnis, daß die Entscheidung richtig ist, die vermutlich auch von jeder anderen frei entscheidenden Stelle getroffen werden würde, lasse es nicht zu, einige bestimmte Auslegungsmittel im Verwaltungsrecht unbedingt auszuschließen (S. 141). In diesem Satze liegt die wertvolle systematische Einsicht, daß das Verwaltungsrecht für die Auslegung in der Gesamtrechtsordnung nicht eine Sonderstellung einnehmen darf. Eine Hauptaufgabe aller Verwaltungsrechtswissenschaft ist es ja, alle von sonstigen Teilgebieten der Rechtsordnung abweichenden Aufstellungen, die nicht aus positivrechtlicher Satzung, sondern aus der Natur oder dem Wesen der Verwaltung und des Verwaltungsrechtes abgeleitet werden, auszumerzen. Rechtstheoretisch tief fundiert sind im folgenden insbesondere die Ausführungen über die Subjekte des Verwaltungsrechtes, über öffentliche Rechte und Pflichten (woraus insbesondere die feine Unterscheidung zwischen Freiheiten und Freiheitsrechten hervorgehoben sei, insbesonders S. 189), sodann die Lehre von den Verwaltungsakten, die besonders einläßlich Gültigkeit und Ungültigkeit der Verwaltungsakte behandelt. Auf eine Auseinandersetzung mit den Skalen der einzelnen Mängel, die Unwirksamkeit einerseits, Anfechtbarkeit und Widerruflichkeit andererseits begründen, kann an dieser Stelle leider nicht eingegangen werden; man kann sich indes

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des Eindrucks nicht erwehren, daß für die Einordnung der einzelnen Mängel in die Mängelskalen außerrechtliche Wertmaßstäbe maßgebend sind. Wenn es der Verfasser,,mit Absicht vermieden" hat, ,,die Unwiderruflichkeit eines Verwaltungsaktes mit dem Worte ,Rechtskraft 6 zu bezeichnen, da der Ausdruck für Verwaltungsakte im allgemeinen so wenig paßt, wie für Handlungen des Privatrechts", so richtet sich diese Feststellung vermutlich gegen mein Buch, „Die Lehre von der Rechtskraft" (Verlag Deuticke, Wien 1923). Die Terminologie ist bekanntlich nicht ein Gegenstand des Beweises, sondern der freien Wahl nach Maßgabe des persönlichen Geschmackes; so wenig wie es einem Autor verwehrt sein kann, die Eigenschaften der Rechtskraft in ihrer Anwendung auf Verwaltungsakte mit dem gewiß sehr zutreffenden Ausdruck „Unwiderruflichkeit" zusammenzufassen, sowenig dürfte es verwehrt sein, auch bei Verwaltungsakten wie bei Justizakten von Rechtskraft zu sprechen, was schon sprachlich die Verwandtschaft dieser beiden Geschwisterbildungen der Vollzugssphäre zum Ausdruck bringt und in der den Gerichtsurteilen ebenbürtigen individuellen Rechtsatznatur der Verwaltungsakte auch seine juristische Erklärung findet. Auf den besondern Teil des Werkes kann hier nicht einmal andeutungsweise eingegangen werden. Es wäre für den Referenten besonders reizvoll, an der Hand der Ausführungen J.s insbesondere die weitgehenden Übereinstimmungen und desgleichen die allerdings viel spärlicheren großen Unterschiede zwischen dem deutschen und dem österreichischen Verwaltungsrecht aufzuzeigen, welch letztere sich zum guten Teil aus der extensiv und intensiv weitergehenden Geltung des Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung im österreichischen Rechte (namentlich im Polizeirecht) ergeben; doch soll darüber an anderer Stelle gehandelt werden.

Wege und Irrwege der Verwaltungsreform Die Bundesregierung hat dem Nationalrat im Laufe seiner Frühjahrstagung eine Reihe von Gesetzentwürfen zur Verwaltungsreform überreicht und der Nationalrat hat eine Reihe davon Gesetz werden lassen. Aber das Problem der Verwaltungsreform erschöpft sich nicht in der Produktion von Gesetzen, und das Gesetzemachen, um den Gesetzesvollzug zu vereinfachen, kann leicht dem Versuch gleichkommen, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Als taugliche Mittel einer Verwaltungsreform können offenbar nur Änderungsvorschläge gelten, die eine Vereinfachung oder einen gänzlichen Abbau von Verwaltungsaufgaben und infolgedessen eine Ersparnis an Verwaltungsaufwand mit sich bringen. An der Hand dieses Beurteilungsmaßstabes müssen mancherlei vorliegende Reformvorschläge als nicht zur Sache gehöriges Beiwerk beurteilt werden, die an sich vielleicht ganz nützlich oder wenigstens vertretbar sind, jedoch nicht der Verwaltungsvereinfachung, sondern der Erfüllung von Interessentenwünschen dienen sollen. Es ist selbst ein Zeichen reformbedürftiger Verwaltungsmethoden, wenn solche, vielleicht an sich durchaus vertretbare, Interessentenpolitik unter dem verschleiernden Motto der Verwaltungsreform, also mit dem Anspruch der Verwaltungsvereinfachung, auftritt. Charakteristisch in dieser Richtung ist beispielsweise die Bestimmung des Art. 21 der Gewerbeordnungsnovelle, wonach die Gewerbebehörde bei zweijährigem Rückstand des Genossenschaftsbeitrages das Gewerberecht zurücknehmen kann. Was im Motivenbericht umständlich mit verschiedenen verwaltungstechnischen Erwägungen, Evidenzzwecken und dergleichen motiviert wird, entpuppt sich als der für die Genossenschaften sehr bequeme, der Gewerbebehörde aber Mehrarbeit verursachende Versuch einer legalen Pression zur Zahlung der Genossenschaftsbeiträge, da es der Inhaber eines konzessionierten oder an den Befähigungsnachweis gebunde-

Der Österreichischer Volkswirt, 25. Jg. (1932/33), S. 138-141.

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nen Gewerbes wohl nur bei völliger Zahlungsunfähigkeit darauf ankommen lassen wird, daß ihm wegen des Rückstandes bei der Genossenschaft das Gewerberecht aberkannt wird. Freilich nehmen solche Retuschen in der Begründung einzelner Reformbestimmungen nicht mehr wunder, nachdem man erlebt hat, daß ganze bedeutende Gesetze aus optischen Gründen in ein schiefes Licht gerückt werden. So trat der Entwurf des Bundesgesetzes vom 17. Juli 1931, betreffend die Errichtung eines Milchausgleichsfonds, um die seinem Inhalt nach gegebene Kompetenz der Länder auszuschließen und die Kompetenz des Bundes herzustellen, mit dem Vorwand einer ernährungspolitischen Maßnahme auf, obwohl das Gesetz seiner Tendenz nach ein Eingriff in die Preisgestaltung mit einem Agrarprodukt, juristisch genommen also eine agrarrechtliche Maßnahme war, die sich als solche an verschiedenen Stellen des Gesetzes deutlich genug demaskiert. Diese Feststellung will allerdings ebenfalls nur über die Begründung und nicht über die sachliche Begründetheit der Maßnahme absprechen. Wenn man solche mit den Gesetzentwürfen verfolgte Nebenabsichten in Betracht zieht, vergrößert sich selbstverständlich der Abstand zwischen der optischen Wirkung und dem tatsächlichen Nutzeffekt an Ersparungen, der von den vorliegenden Gesetzentwürfen zu erwarten ist. Dieselbe Erscheinung, das tatsächliche Zurückbleiben der Ersparungsmaßnahmen gegenüber dem mehr oder minder feierlich verkündeten Programm, erklärt es ja, daß wir überhaupt nach kurzer Frist wiederum vor der Aufgabe einer Verwaltungsreform stehen. Die Reformgesetze vom 21. Juli 1925, politisch ein Verdienst der Regierung Ramek, der die Opposition bei diesem rühmlichen Werk sachlich und sachkundig sekundiert hat, hat nur eine Seite der Reformaufgabe, die zu ihrer Zeit dringlichere der Verfahrensreform erfüllt, die andere Seite, den Agendenabbau, jedoch fast unerfüllt gelassen. Während die Verwaltungsgesetze im Rahmen dieses Gesetzeswerkes „zur Vereinfachung der Verwaltung" Österreich, und zwar den Ländern wie dem Bund, einen einfachen, aber allen Bedürfnissen der Rechtssicherheit genügenden Verwaltungsprozeß gebracht haben, der, heute schon weit über unsere Grenzen beachtet und teilweise auch nachgeahmt, ein vollwertiges Gegenstück des vielbewunderten Zivilprozesses zu werden verspricht, ist das materiellrechtliche Anhängsel dieser Verfahrensgesetze, das Verwaltungsentlastungsgesetz vom 21. Juli 1925, obwohl es den äußeren Anstoß zur Prozeßreform gegeben hatte, nach dem Urteil aller Kenner, ja selbst der Gesetzesredaktoren, ein bescheidener Torso geblieben.

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Die einzelnen Ressorts verteidigten damals ihren Besitzstand mit soviel Zähigkeit und Erfolg, daß nur in der Richtung des geringsten Widerstandes eine zahlenmäßig ja ganz erkleckliche Summe nebensächlicher Verwaltungsaufgaben vereinfacht oder aufgelassen werden konnte. Ja, manche Neuerungen dieser Paragraphenfülle sind sogar überhaupt nur im buchstäblichen Sinne papierener Natur. So etwa die damals bewerkstelligte „Entlastung" des Bundesgesetzblattes, die darin bestand, daß die Verwaltungsverordnungen von der Kundmachung im Bundesgesetzblatt ausgenommen wurden. Sie änderte an der bisherigen Übung, wonach die Verwaltungsverordnungen tatsächlich nicht im Gesetzblatt publiziert wurden, nicht das geringste, sondern legalisierte bloß den bisherigen gesetzwidrigen Zustand. Aber auch wenn man die positiv zu bewertenden Neuerungen des Verwaltungsentlastungsgesetzes aus dem Jahre 1925 in Rechnung stellt, war doch jedem Eingeweihten klar, daß der dem Personalabbau korrespondierende Agendenabbau der Zukunft vorbehalten blieb. Leider sind mittlerweile sieben Jahre dieser Zukunft unbenützte Vergangenheit und damit der zweite Teil der Verwaltungsreform Aufgabe der Gegenwart geworden. Wenn nun im folgenden untersucht werden soll, inwiefern die Gesetzentwürfe und Gesetze des laufenden Jahres ihrem Ansprüche genügen, den legislativen Teil der Verwaltungsreform zu bewerkstelligen, so muß man bei aller Anerkennung wertvoller Kleinarbeit, die in diesen Gesetzentwürfen und Gesetzen steckt, doch feststellen, daß sich der größere Teil einer wirklichen und möglichen Verwaltungsreform erst im vorparlamentarischen Stadium befindet, soweit er sich überhaupt bereits zu Gesetzentwürfen konkretisiert hat. Man muß ferner rückhaltlos anerkennen, daß die fruchtbareren und ungleich weiter reichenden Reformgedanken, wenngleich sie durchaus nicht alle originell sind, von den Ländern beigesteuert wurden und in den dem Nationalrat noch nicht vorliegenden Länderentwürfen verarbeitet sind. Man kann es sich nur mit mangelnder Vertrautheit mit den Möglichkeiten und Zielen einer wahren Verwaltungsreform erklären, daß an die Spitze der Reformarbeit eine Novelle des Verwaltungsstrafgesetzes aus dem Jahre 1925, also gewissermaßen eine Reform der glücklich abgeschlossenen Verwaltungsreform, gestellt wurde. Hat jedes Gefühl dafür gefehlt, daß solches Reformieren, noch dazu an einem Punkt, wo es so gut wie gar nichts

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zu reformieren gab, nicht nur die junge Verwaltungsreform des Jahres 1925, sondern auch die künftige Reformarbeit diskreditieren muß? Zur Entschuldigung kann man höchstens anführen, daß die Kodifikatoren von heute von der systematischen Geschlossenheit und der rechtspolitischen Bedeutung sowie der allgemeinen fachlichen und fachwissenschaftlichen Bewertung der Gesetze, in die hiemit ahnungslos eingegriffen wurde, keine rechte Vorstellung hatten. Nur die Beziehungslosigkeit zu den Fachkreisen erklärt wohl auch das Festhalten der Regierung an diesem Gesetzentwurf, trotz der geradezu vernichtenden Kritik, die die Verwaltungsstrafgesetznovelle in der von der Wiener politischen Gesellschaft veranstalteten Diskussion über die Verwaltungsreform allseits erfahren hat, am schärfsten von Seiten so prominenter Fachleute und maßvoller Kritiker, wie es der Altmeister des österreichischen Verwaltungsrechtes Professor Brockhausen und die erfahrensten Praktiker der Verwaltung, Senatspräsident Dr. Mannlicher und Rat des Verwaltungsgerichtshofes Dr. Coreth sind. Zur Charakterisierung dieses Gesetzes, das den Auftakt zur Verwaltungsreform gegeben hat, sei nur bemerkt, daß der Königsgedanke dieses Entwurfes, nämlich die Ersetzung des Legalitätsprinzips durch das Opportunitätsprinzip, entweder von der Regierung im Nationalrat fallen gelassen oder vom Nationalrat zu Fall gebracht wurde und daß somit dieser gefährliche Angriff auf den Rechtscharakter und damit auf die Qualität der Verwaltung im Einverständnis aller Parteien vom Parlament abgewehrt wurde, das sich hier besser als sein Ruf gezeigt hat. Die besten Köpfe der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechtes haben jahrzehntelang um das Prinzip gekämpft, daß die Frage der Strafverfolgung der Willkür der Behörde entzogen werde, und nachdem dieses Prinzip im Jahre 1925 gesetzlich anerkannt worden ist, wird es 1932 von der Regierung wieder in Frage gestellt! Wäre nach den bekannten Wünschen das Parlament ausgeschaltet und die Regierung mit der Reformierungsvollmacht ausgestattet gewesen, so wären wir natürlich schon längst gemäß dem vom Parlament abgewehrten Vorschlag irgend eines anonymen Reformers mit dem neuen Verfahrensregime beglückt, wonach es vom Ermessen der Verwaltungsbehörde abhinge, ob eine adminsistrativ strafbare Handlung behördlich verfolgt wird oder nicht. So hat man die Paradoxie erlebt, daß die Regierung bereit und willens war, einen der letzten Dämme vor der Überflutung der Verwaltung mit Parteipolitik niederzureißen und daß dies die parlamentarischen Parteien mit vereinter Kraft verhindert haben! Damit aber in der Tragödie nicht die Groteske fehle, war

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in der Regierungsvorlage trotz völlig inkommensurabler Rechtsverhältnisse im Reich und in Österreich als einer der Gründe des Reformvorschlages die Rechtsangleichung an das Deutsche Reich angeführt, als ob es die brennendste Sorge unserer Regierungen wäre, dem Reich näher zu kommen, und als ob nicht ein Dutzend besserer Gelegenheiten der Rechtsangleichung mit mehr oder weniger Bedacht versäumt worden wären, vor allem die immer wieder vergeblich geforderte Schadenshaftung für rechtswidrige Verwaltung, die von der Weimarer Verfassung für das ganze Reich in Kraft gesetzt, von der Bundesverfassung aber nur versprochen wurde! Da nun aber das Prinzip der Legalität erhalten geblieben ist, so fragt man vergeblich, wozu überhaupt das Verwaltungsreformwerk aus dem Jahr 1925 angetastet wurde. Während nämlich die Einführung des Opportunitätsprinzips im Verwaltungsstrafrecht gewiß um so ausgiebigere Ersparungen an Verwaltungsarbeit bewirkt hätte, je mehr man aus Opportunität auf die Verfolgung von Verwaltungsübertretungen verzichtet hätte - was freilich einer Preisgabe des durch Verwaltungsstrafen sanktionierten Verwaltungsrechtes, z.B. des Gewerberechtes, großer Gebiete des sozialen Verwaltungsrechtes usw., gleichgekommen wäre - ist der Ersparungseffekt der mehr oder minder guten nebensächlichen Neuerungen der Verwaltungsstrafgesetznovelle in ihrer Gesetz gewordenen Fassung gleich Null. Es war offenbar eine Forderung des Prestiges, aus optischen Gründen einen Teil des an die Spitze der Reformgesetze gestellten Entwurfes zu retten. Auf fast allgemeine Zustimmung kann das fast gleichzeitig mit der Verwaltungsstrafgesetznovelle erledigte Bürgerlistengesetz rechnen. Freilich erschöpft sich die Bedeutung dieses Gesetzes darin, die ständigen Wählerlisten abzuschaffen, die trotz mancher Gegenvorstellungen in überflüssigem Reformeifer erst im Jahre 1929 eingeführt worden waren. Die größeren gesetzgeberischen Aufgaben, die dem Nationalrat mit den Entwürfen eines Vereinsgesetzes und einer Gewerbeordnungsnovelle gestellt waren, wurden bekanntlich in der Sommersession des Nationalrates zurückgestellt. Über weitergreifende Pläne scheint sich die Regierung selbst noch nicht im klaren zu sein oder wenigstens die Meinungsäußerung der neu eingesetzten Reformkommission einholen zu wollen. Man darf gewiß von diesem Kreis zum guten Teil renommierter Verwaltungsfachleute zweckmäßige Vorschläge und Entwürfe erwarten. Nur darf man nicht übersehen, daß ihnen

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schon von vornherein programmatisch die Hände gebunden wurden und daß ihre bessere Einsicht durch höhere Weisungen mehr oder minder oft zum Schweigen verurteilt sein wird. Das gilt nicht bloß von der Verfassung, die der Reformkommission schon am Tage ihrer Konstituierung als fast unverrückbare Schranke vorgezeichnet wurde. Am bundesstaatlichen Prinzip zu rütteln, weil es verwaltungstechnisch komplizierter ist und daher durchschnittlich teurer kommt als ein zentralistischer Staatsapparat, wäre in Österreich nur auf dem Weg eines Staatsstreiches und nicht einer legalen Verfassungsänderung möglich, da derzeit beide großen Parlamentsparteien Österreichs am Bestand möglichst starker Länder interessiert sind. Die verwaltungstechnischen Auswirkungen einer derartigen Gesamtänderung der Verfassung darf daher eine Diskussion der Möglichkeiten und Aufgaben der Verwaltungsreform nicht in den Kalkül ziehen, wenn sie sich nicht dem Vorwurf des Aufrichtens von Utopien aussetzen will. Selbst der überzeugte Zentralist muß übrigens auf Grund der Erfahrungen eines zwölfjährigen bundesstaatlichen Regimes bekennen, daß die Verwaltung der österreichischen Länder an kulturellen Leistungen unvergleichlich fruchtbarer war als die des Bundes und daß man daher durchaus nicht erwarten dürfte, daß die Abgaben, die heute den Ländern zufließen, nach dem hypothetischen Abbau der Länder vom Gesamtstaat rationeller verwendet werden würden. Man braucht nur die Zweckbestimmung der Subventionen in Betracht zu ziehen, die beim Bund zum größten Teil den Charakter von Zuwendungen an Privathaushalte angenommen haben, so als ob nicht oft die wichtigsten öffentlichen Bedürfnisse auf ökonomischem und kulturellem Gebiet unbefriedigt blieben! Indes wäre es ein Mißvertändnis, zu glauben, daß bei Zugrundelegung des nun einmal unverrückbaren bundesstaatlichen Prinzips auf dem Boden der Verfassung jegliche auf die Verwaltung zielende Reform ausgeschlossen sei. Die publizistische Kritik müßte dem vom Standpunkt der Länderpolitiker naheliegenden Versuch entschieden entgegentreten, daß durch die vorbehaltlose Anerkennung des bundesstaatlichen Prinzips auch dessen rechtstechnische Ausführung in Bundes- und Landesverfassungen außer Diskussion gestellt sei. Es gibt kostspielig verwaltete Einheitsstaaten und billig verwaltete Bundesstaaten. Man muß selbstverständlich verlangen, daß, wenn sich schon Österreich den komplizierten und daher durchschnittlich teureren Apparat eines Bundesstaates leistet, die Einrichtung des Staatsge-

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bäudes überflüssigen Luxus vermeide. Den nächstliegenden Vergleichsmaßstab bilden wohl die Einrichtungen der Schweiz, die sich insbesondere, was die Organisation der Kantone betrifft, durch wohltuenden Puritanismus von manchen österreichischen Ländern unterscheidet. Beispielsweise erscheint, an solchen Maßen gemessen, die vierzehnköpfige Landesregierung eines österreichischen Zwerglandes als unverantwortliche Großmannsucht eines Gernegroß. Zahlenmäßig wirkt sich die Bescheidenheit im obersten Apparat der Landes- wie der Bundesverwaltung vielleicht nicht sonderlich aus, aber sie ist doch eine moralische Voraussetzung, um durch vorbildliche Wirkung im ganzen Verwaltungsapparat die Disposition zur Sparsamkeit entstehen zu lassen. Eine funktionelle Vereinfachung im bundesstaatlichen Mechanismus, die vielleicht mit den in Aussicht gestellten verfassungsgesetzlichen „Grenzberichtigungen" gemeint ist, würde sich aus einer großzügigen Kommassation der übermäßig zerrissenen Kompetenzen von Bund und Ländern ergeben. Kein Bundesstaat der Erde hat eine derart komplizierte und irrationelle Kompetenzverteilung zwischen Oberstaat und Gliedstaaten und eine derartig sinnlose Parzellierung der Kompetenzbereiche aufzuweisen wie Österreich - nicht infolge eines lebensfremden Doktrinarismus irgendwelcher geistiger Urheber der Verfassung, sondern infolge engherziger Kompromisse zwischen den Forderungen unitarischer und föderalistischer Politik. Die Verfassungsnovellen von 1925 und 1929 haben die schon in der ursprünglichen Anlage reichlich komplizierte Kompetenzordnung noch viel unübersichtlicher gemacht: mit dieser Kompetenzordnung - dem sachlich anfechtbarsten, aber ausschließlich von der Politik zu verantwortenden Teil der Bundesverfassung - wurde sie zur Quelle unfruchtbarer Doppelarbeit von Bundes- und Landesorganen in zahlreichen Grenzbereichen und des weiteren zur Quelle des unfruchtbarsten Rechtsstreites, nämlich des Kompetenzstreites. Doch darf man hoffen, daß sich Bund und Länder auf eine großzügigere und daher reinlichere Verteilung der Kompetenzen einigen werden, nachdem bisher jede Auseinandersetzung über die Kompetenzverteilung zu einer erweiterten Zersplitterung der Materien und Zerreißung zusammengehöriger Kompetenzen geführt hat? Eine solche Kompetenzbereinigung wäre jedenfalls der ergiebigste Beitrag zur Verwaltungsreform in der Sphäre der Verfassung. Der Bereich der Verfassung wird auch durch die Neuordnung des Instanzenzuges berührt, der in seiner heutigen Abundanz teilweise verfassungsge-

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setzlich festgelegt ist. Die Ausgiebigkeit dieses Ersparungsmittels erklärt sich daraus, daß es sich nicht auf eine einzelne Verwaltungsmaterie beschränkt, sondern sämtliche Verwaltungsangelegenheiten erfaßt, die einem bestimmten Instanzenzug unterworfen sind. Am zweckmäßigsten erscheint es mir, um hier vorläufig eine Lösung anzudeuten, nur einen zweistufigen administrativen Instanzenzug zuzulassen, soweit überdies eine Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof offensteht. Schon das wäre im Vergleich mit dem heute normalerweise dreigliedrigen und vereinzelt sogar viergliedrigen Instanzenzug der Bundesverwaltung eine wesentliche Vereinfachung. Die große technische und politische Schwierigkeit dieser Vereinfachung liegt namentlich darin, ob und in welchen Fällen eine landesbehördliche oder bundesbehördliche Instanz erspart werden soll, zumal da hier vermeintliche oder wirkliche Existenzfragen der entbehrlich werdenden Beamtenschaft hereinspielen. Die umfangreichsten Verwaltungsmaterien, die gewiß nicht ihrer Natur nach, sondern nur infolge der Komplikation und Unübersichtlichkeit der gegenwärtigen Rechtslage einschneidender Vereinfachungen teilhaftig werden können, sind das Gewerbewesen, das Sozialversicherungswesen und das Dienstrechtswesen. Auf die bezüglichen Reformvorschläge wird noch im einzelnen einzugehen sein. Daneben gibt es aber bei der ungeheuren Ausdehnung der modernen Staatsverwaltung, die beispielsweise 95% des gesamten Bundesaufwandes absorbiert, noch zahllose, im einzelnen unansehnliche Vereinfachungen vorzunehmen, die aber in ihrer Summe ganze Aktenberge ersparen könnten und die bisher wohl nur deshalb unbeachtet geblieben sind, weil sich kein Referent in der Zeit der Krise und des Abbaues die Aktenzahlen schmälern lassen will. Um in diesen skizzenhaften Betrachtungen nur ein von mir schon oft, aber vergeblich vorgeführtes Beispiel zu erwähnen, beschäftigt das welterschütternde Problem der Berichtigung der Schreibweise eines Namens in der Taufmatrik nicht nur das Pfarramt, sondern auch die Bezirkshauptmannschaft oder das Bezirksamt, sodann das Amt der Landesregierung, dann neuerlich die politische Bezirksbehörde und endlich wiederum das Pfarramt; und bei allen diesen Amtsstellen eine Mehrzahl, zwar nicht von Hirnen, aber von Händen. Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, daß - vielleicht als Erfolg des neuerlichen Versprechens der Verwaltungsreform - auch in Österreich der fälschlich so geschriebene Herr Maier zu dem ihm gebührenden Namen Mayer dereinst auf einem einfacheren und für seine Mitbürger weniger kostspieligen Weg gelangen wird, als es ihm derzeit möglich ist.

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Schon an dieser Stelle sei aber auch bemerkt, daß es eine unumgängliche Bedingung einer wahren Verwaltungsreform ist, in den eigentlichen Trägern der Verwaltungsreform, in der zur Vollstreckung der Reformgesetze berufenen Beamtenschaft, die seelische Disposition zu jener geistigen Einstellung aufkeimen und ausreifen zu lassen, die den Reformgesetzen erst zum Leben verhelfen wird. Die Beamtenschaft wurde durch eine Politik, die ihr mit der einen Hand erworbene Rechte genommen hat, um gleichzeitig nach gewissen anderen Seiten geradezu wie aus einem Füllhorn Gaben auszuteilen, in einer maßgebenden Ortes vielleicht noch nicht voll durchschauten Weise staatsmüde gemacht, was sich zugleich auch in einer fast durchgängigen politischen Radikalisierung ausspricht. Will man von der ganzen Reformarbeit mehr als papierene Erfolge, so muß man der Beamtenschaft wirkliche Garantien bieten, daß sie mit der ihr zugemuteten opferreichen Arbeit nicht in Siebe schöpft.

Pläne und Ziele der Verwaltungsreform Der Abstand zwischen den Forderungen, die als Aufgaben der Verwaltungsreform seit der Entstehung der österreichischen Republik öffentlich aufgestellt worden sind, und den bisher vollbrachten Reformen ist so ungeheuer, daß noch immer eine auf einen Schlag nicht ausschöpfbare Reihe von Reformmöglichkeiten zur Auswahl steht. Die Tatsache, daß die Forderung nach einer Verwaltungsreform nie verstummt, ja nie verstummen darf, sondern, wenngleich mit wechselndem Inhalt der Forderungen, immer aktuell bleibt, erklärt sich zur Genüge aus dem Umfang und der Mannigfaltigkeit der Verwaltung, die nach den Bundesvoranschlägen zwischen 97 und 98% des Bundesaufwandes erfordert; problematisch kann nur sein, welche der mannigfaltigen Reformwünsche zum Zuge gelangen sollen. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen hat sich ein Reformprogramm dadurch zu rechtfertigen, daß es den Verwaltungsaufwand mindert, ohne zugleich den Nutzeffekt der Verwaltung zu mindern. Daß die im Vorjahr im Nationalrat eingebrachten Entwürfe zur Verwaltungsreform, die zunächst in der Regierungspresse als große Tat begrüßt worden sind, schon wegen des überengen Rahmens dieser Reformpläne, zum Teil auch wegen ihrer ungeeigneten Objekte, zum anderen Teil wegen der Einbeziehung abwegiger Reformwünsche der vorgesetzten Ersparungsaufgabe nicht entsprechen, habe ich in den Aufsätzen „Wege und Irrwege der Verwaltungsreform", „Gewerbereform" und „Vereinsreform" 1 darzutun versucht. Die letzten Äußerungen des Bundeskanzlers über die Verwaltungsreform zeigen übrigens, daß sich die Reihe namhafter Fachleute, die in der Verwaltungsreformkommission vereinigt sind, die Reformziele viel weiter gesteckt hat, als sie der Regierung vor dem Zusammentreten dieser Kommission vorgeschwebt haben. Allerdings ist die Arbeit dieser Kommission einem solchen Kreuzfeuer großenteils unverein-

Der Österreichischer Volkswirt, 25. Jg. (1932/33), S. 412-414,438-440. 1

Vgl. Nr. 6, 10 und 17 vom 5. November und 3. Dezember 1932 und 21. Jänner 1933.

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barlicher Wünsche und solchen Hemmungen durch Rücksichten auf bestehende Einrichtungen und parteipolitische Programme ausgesetzt, daß das Kompromiß über Gegenstände und Ziele der weiteren Reform kaum vorhersehbar und auch schwerlich der unverfälschte Ausdruck der persönlichen Überzeugung der berufenen Fachleute sein dürfte. Um so notwendiger ist unter solchen Umständen die fortgesetzte fachliche Kritik der Reformarbeiten von einer politisch völlig unbeeinflußten Seite, zumal da diesen Arbeiten, zum Unterschied von der Tradition der Monarchie, rechtlich unabhängige Fachwissenschafter nicht zugezogen zu werden pflegen. Der weitestgehende Reformplan will bekanntlich eine Reform der Verfassung zur Voraussetzung der Verwaltungsreform machen. Es ist dies insbesondere der Standpunkt der großdeutschen Partei, aber auch der größten Organisation der Bundesbeamtenschaft. Der Reichsverband der öffentlichen Angestellten hat kürzlich in einer jedenfalls sehr beachtenswerten Kundgebung die „Übergabe der allgemeinen politischen Verwaltung von den Landesregierungen an die Landesamtsdirektionen" gefordert. Mit dieser allerdings unzutreffend ausgedrückten Forderung ist vermutlich gemeint, daß dem Landeshauptmann, dem persönlich (und nicht der Landesregierung) die Leitung der „mittelbaren Bundesverwaltung" im Lande obliegt, diese Verwaltung abgenommen und nach dem Vorbild der ehemaligen Statthaltereien einem aus ernannten Berufsbeamten zusammengesetzten Organ - offenbar unter unmittelbarer Leitung der Bundesregierung und der einzelnen Bundesminister - übertragen werden soll. Mit einer solchen Reform würde ein Grundpfeiler aus der Bundesverfassung herausgebrochen werden, denn die als mittelbare Bundesverwaltung bezeichnete Form der Beteiligung der Länder an der Vollziehung des Bundes ist eine Kompensation dafür, daß die Bundesverfassung paradoxerweise die Gesetzgebungszuständigkeit der Bundesländer im Vergleich mit jener der altösterreichischen Kronländer einschneidend geschmälert, insbesondere den Ländern fast die gesamte Landeskulturgesetzgebung abgenommen hat, die in der Monarchie zum unbestrittenen Besitzstand der Länder gehört hatte. Diese von der Beamtenschaft an die Spitze ihres Programmes gestellte Forderung rollt also geradezu das ganze politische Kompromiß auf, das der Bundesverfassung zugrunde liegt. Die weitere Feststellung des bezeichneten Forderungsprogramms, daß die Landtage und Landesregierungen überflüssig seien, stellt sogar nicht bloß den Bundesstaat, für den der Dualismus von Bundes- und Landesgesetzgebung wesentlich ist, sondern selbst jenes Maß

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an föderalistischen Staatseinrichtungen in Frage, das schon im altösterreichischen Einheitsstaat bestanden hat, und läuft auf eine straffe Zentralisation hinaus, wie sie etwa in Frankreich besteht. Derart weitgespannte Forderungen, die übrigens auch in der Bevölkerung ungeahnt weit verbreitet sind, sind gewiß psychologisch verständlich und entspringen namentlich bei den Beamtenorganisationen einem begreiflichen Ressentiment gegen die Parteipolitik, die der Bundesbeamtenschaft mit dem Bundesgesetzvom 16. Juli 1931 über die „Verminderung der Personallasten" das erste Notopfer zur Budgetsanierung aufgenötigt hat, obgleich oder richtiger, weil man zum ersten Juli 1931 ein Mehrfaches des bei der Beamtenschaft eingesparten Betrages ohne jede gesetzliche Nötigung, ja sogar unter Überspannung einer gesetzlichen Ermächtigung, unter dem Titel des landwirtschaftlichen Notopfers an Subventionen flüssig gemacht hatte. (Die Verbitterung der gewerblichen Kreise, als der anderen Leidtragenden solcher einseitiger Subventionspolitik, ist übrigens nicht ausgeblieben.) Der Verwaltungsreform ist indes ein solches Junktim mit Verfassungsfragen gewiß keinesfalls dienlich. Wenn ich auch bereits in meinem ersten Artikel zur Verwaltungsreform ausgeführt habe, daß auf dem Verfassungswege namhafte Ersparungen in der Verwaltung erzielt werden könnten, so gibt es doch auch genug Reformmöglichkeiten in der Verwaltung, die durch keinerlei Verfassungsänderungen bedingt sind, die aber durch die Voranstellung der Verfassungsprobleme in Frage gestellt werden würden. Die Erfahrungen des Verfassungskampfes des Jahres 1929, der uns übrigens im Gesamtergebnis infolge der Komplikation der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern eher Erschwerungen als Vereinfachungen der Verwaltung gebracht hat, sollten davor warnen, in dieser Krisenzeit neue Verfassungskämpfe heraufzubeschwören, abgesehen davon, daß so weitgespannten Forderungen infolge der gleichartigen Einstellung der beiden großen politischen Parteien zum Bundesstaatsproblem parlamentarisch kein Erfolg beschieden sein kann. Übrigens scheinen mir die gegenständlichen Forderungen nicht bloß taktisch, sondern auch sachlich unangebracht. Das Problem der richtigen Verwaltung ist kein bloßes Rechenexempel; das Höchstmaß der Rationalisierung der Verwaltung, das restlose Zentralisation bedeutet, würde die Verwaltung ad absurdum führen. Die Beseitigung der Länderautonomie und eine Beschränkung der Gemeindeautonomie, wie sie in Einklang mit einer in der Bundesbeamtenschaft weit verbreiteten Stimmung der Reichsverband fordert, namentlich die Kompetenz des Bundes,

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III.A. Verwaltungsrecht

zwangsweise den Gemeindevoranschlag zu erstellen und damit den Kreis der Gemeindeaufgaben zu bestimmen, würde vielleicht zu einer Minderung des Verwaltungsaufwandes der öffentlichen Körperschaften, jedenfalls aber zu einer unerhörten Uniformierung der Verwaltungstätigkeiten und Minderleistung auf dem Gebiet der kulturellen Verwaltung führen. Denn man kann nicht verkennen, daß die Länder und Gemeinden zu den Hauptträgern der kulturellen Verwaltung geworden sind, wogegen sich der Bund, von der Sozialversicherung abgesehen, in der Hauptsache auf die sogenannten Staatsnotwendigkeiten beschränkt. Für die Dosierung der Bundesausgaben ist kennzeichnend, wie sehr es sich die Finanzverwaltung des Bundes zugute gehalten hat, daß sie den Hochschulaufwand im Jahre 1931 auf 29 Mill. S emporschnellen ließ, wogegen dieselben amtlichen Feststellungen wohlweislich verschweigen, daß in demselben Finanzjahr (Bundesfmanzgesetz für das Jahr 1931, BGBl Nr. 63 aus 1931) für die Förderung des Zuckerrübenbaues 33,4 Mill. S, für die allgemeine Förderung der Landwirschaft 11,8 Mill. und die außerordentlichen Hilfsmaßnahmen 66,6 Mill. verausgabt wurden. Während sich aber der Bund bei Großmühlenbesitzern und sonstigen begönnerten Bundesbürgern mitunter zu deren eigener großen Überraschung wie ein Onkel aus Amerika, der für sein Einkommen keine bessere Verwendung weiß, mit Spenden bis zu je einer halben Million Schilling einstellte, um, wie das Gesetz sagt, ihren „Notstand" zu „lindern", fand es dieselbe Bundesverwaltung auf der anderen Seite eine staatspolitische Notwendigkeit, einem einäugigen Kriegskrüppel, dem die Invalidenentschädigungskommision Wien eine Brille aus Bundesmitteln zugesprochen hatte, diese Brille durch eine Beschwerde gegen die so verschwenderische Invalidenbehörde beim Verwaltungsgerichtshof streitig zu machen. In der „Amtlichen Sammlung der Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes", Jahrgang 1930, Nr. 16172, ist nachzulesen, wie gesetzestreue und sozial fühlende Verwaltungsrichter diese „soziale" Verwaltung des Bundes vor einem unrühmlichen Sieg über den Kriegsinvaliden und seine Finanzverwaltung vor der Schande bewahrten, auf diesem Wege den Betrag von höchstens 2 S eingespart zu haben. Dergleichen leider nicht vereinzelte Leistungen einer je nach Bedarf - aber nicht nach dem Bedürfnis - sozialen oder fiskalischen Verwaltung und manches noch Üblere können leider durch eine noch so tadellose Haltung der Masse der Bundesbeamtenschaft und die ausgezeichneten Leistungen ganzer Ressorts nicht wettgemacht werden und erwecken dann bei ausländischen Beurteilern, wie etwa dem so österreichfreundlichen Berliner Schriftsteller Adolf Grabowsky, den Eindruck eines „von halb-

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orientalischen Reizen schimmernden Staatswesens". Aber auch österreichischen Kritikern sollten solche Erfahrungen eine Warnung sein, Licht und Schatten zwischen der Bundes- und Landesverwaltung so einseitig zu verteilen und durch die Forderung einer weitgehenden ,,Verbundlichung" der Verwaltung solche Verwaltungsmaximen des Bundes auf Länder und Gemeinden übertragen zu helfen. Wenn nun aber die Verwaltungsreform die Grundlagen der verfassungsmäßigen Staatsorganisation aus dem Spiele läßt, so darf man anderseits Vorsorge für eine sparsame Führung der Länder- und Gemeindeverwaltung fordern. Im Wesen des Bundesstaates ist schon nicht die Gliederung des Staatsgebietes in neun Länder mit teils so irrationellen Grenzen und so ungeheuren Größenunterschieden begründet, wie sie derzeit zutreffen. Dem Charakter des Bundesstaates wäre gewiß nicht nahegetreten, wenn man etwa den Ländern Tirol und Vorarlberg, Oberösterreich und Salzburg, Steiermark und Kärnten zumutete, sich in je ein Bundesland zusammenzuschließen. Dem moralischen Anspruch des Landes Tirol auf Südtirol würde man gewiß nicht präjudizieren, wenn man den bei Österreich gebliebenen Stumpf von Südtirol (Bezirk Lienz) ,,auf Dauer der Trennung Südtirols von Österreich" als Bezirk ,,Osttirol" mit dem anschließenden Land Kärnten vereinigte. Bei der ohnehin bestehenden Einschränkung der Verfassungsautonomie der Länder durch die Bundesverfassung würde es auch naheliegen, daß die legislative und exekutive Einrichtung der Länder von Bundes wegen grundsätzlich nach dem Bevölkerungsschlüssel vorgezeichnet oder wenigstens durch Höchstsummen begrenzt würde, denn es ist wiederum keine Notwendigkeit, sondern ein Mißbrauch der Bundesverfassung, wenn sich Zwergländer einen Gesetzgebungs- und Verwaltungsapparat beilegen, der den ursprünglichen Verwaltungsaufwand dieser Verwaltungsgebiete vervielfacht. Es wäre ein nichtiger Vorwand, wenn man derartigen Versuchen einer Rationalisierung des Länderapparates die verfassungsmäßige Selbstbestimmung der Länder entgegenhielte. In ähnlicher Weise müßte und könnte die Gemeindeverwaltung rationalisiert werden, ohne daß man der geschichtlich und sachlich begründeten Gemeindeautonomie nahezutreten brauchte. Vor allem müßte den allerdings schon weit gediehenen, geradezu selbstmörderischen Sezessionsbestrebungen innerhalb der Gemeinden ein unbedingt wirksamer Riegel vorgeschoben werden. Wenn schon in der Monarchie ein Hauptbedenken gegen die

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österreichische Gemeindeorganisation war, daß die zahlreichen Zwerggemeinden von ihrer ungewöhnlich weitgehenden Selbstverwaltung keinen rationellen Gebrauch machen konnten, so potenziert sich natürlich dieses Übel bei der Zerlegung so vieler Gemeinden, die meist nur parteitaktischen Absichten entspringt. Der Verwaltungsaufwand für den Kopf der Bevölkerung ist durchschnittlich um so kleiner, je größer die Bevölkerungszahl der Gemeinde ist, da der Gemeindeapparat keinesfalls im Verhältnis zu der Bevökerungszahl der Gemeinde wachsen muß. Der Zerlegung der Gemeinden folgt alsbald die schwere Enttäuschung darüber, daß die Bevölkerung der beiden neuen Gemeinden nunmehr für den doppelten Gemeindeapparat aufkommen muß. Es ist demnach geradezu ein Gebot im Dienste der kompromittierten Gemeindeautonomie, eine großzügige Zusammenlegung der irrationell begrenzten Gemeinden zu unternehmen oder wenigstens den freiwilligen Zusammenschluß von Gemeinden durch verschiedene Maßnahmen, die hier nicht näher ausgeführt werden können, zu fördern. An Stelle einer zu weitgehenden Bevormundung der Verwaltungskörperschaften durch die Bundesverwaltung, wie sie von zentralistischer Seite gefordert wird, könnte die Bundesverfassung gewissermaßen interne rechtliche Sicherungen gegen eine zu freigebige Finanzwirtschaft der Länder und Gemeinden vorschreiben. Der Idee der Selbstverwaltung entspricht es jedenfalls viel eher, die Bevölkerung des Selbstverwaltungskörpers selbst und nötigenfalls unabhängige Gerichte über die Verwendung des Vermögens und der Einnahmen der Selbstverwaltungskörper wachen zu lassen, als neben dem Rechnungshof, dessen Kontrolle sich gut bewährt, die politisch nicht neutrale Bundesregierung zum Kurator der Gemeinde zu machen. In dieser Richtung läge die Vorschrift, daß Verfügungen über das Landes- und Gemeindevermögen, Investitionen und Subventionen der Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit der Vertretungskörper bedürfen und unter bestimmten Voraussetzungen einer plebiszitären Kontrolle unterliegen, beispielsweise auf Antrag eines bestimmten Teiles der Stimmberechtigten von der Mehrheit der stimmberechtigten Bevölkerung oder der Mehrheit der Abstimmenden verworfen werden können. Auch müßten die gewählten wie die beamteten Funktionäre der Selbstverwaltungskörper nicht bloß für rechtswidrige, sondern auch für zweckwidrige, nicht genügend sorgfältige Führung der Gemeindeverwaltung, insbesondere Verwaltung des Gemeindevermögens, zivilrechtlich haftbar gemacht werden. Soll diese Haftung wirksam sein, so müßte allerdings das Klagerecht einer unbeteiligten Instanz, etwa

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wahlweise einem qualifizierten Teil der stimmberechtigten Bevölkerung oder dem Rechnungshof, eingeräumt werden. Derlei Einrichtungen würden es vermeiden, die Initiative der Selbstverwaltungskörper, insbesondere ihr interventionistisches Auftreten von Bundes wegen zu hemmen, und würden doch - bisher verantwortungslose - Experimente auf Kosten der Bevölkerung hintanhalten. Die vorstehend nur angedeuteten, gewissermaßen autonomen Sicherungen einer rationellen Lokalverwaltung würden die immer wiederkehrenden Klagen über die kontrollose und verschwenderische Wirtschaft des bundesstaatlichen Apparates, soweit sie berechtigt sind, zum Verstummen bringen und die viel radikaleren Vorschläge einer „Verbundlichung" von Agenden der Länder und Gemeinden, wie sie namentlich wieder das Reformprogramm des „ReichsVerbandes der öffentlichen Angestellten" aufgestellt hat, überflüssig machen. Selbstverständlich müßte sich der Bund selbst ebenso weitgehenden Beschränkungen unterwerfen, wie er sie den Ländern vorschriebe, allerdings wäre beim Bunde eine parlamentarische Erschwerung des freiwilligen Bundesaufwandes, namentlich der finanziellen Beteiligungen, und eine strenge Haftung der Regierung und ihrer einzelnen Mitglieder für eine sorgfältige Gebarung plebiszitären Kontrollen vorzuziehen. Mit den vorstehenden Ausführungen wurde auch wiederum an die Fälligkeit der Syndikatshaftung für rechtmäßige (und unter gewissen Bedingungen auch für zweckmäßige) Verwaltung erinnert. Es ist geradezu ein Gradmesser für den Ernst der Verwaltungsreform, ob man endlich die im Bundes-Verfassungsgesetz (Art. 23) gegebene Promesse einlöst oder sie weiterhin mit verständnislosen fiskalischen Argumenten sabotiert, obwohl die Syndikatshaftung für die Verwaltung im Deutschen Reich seit dem Jahr 1900 und selbst in Österreich für die Justiz schon seit dem Jahr 1872 einwandfrei und insbesondere kostensparend funktioniert. Erfahrungsgemäß macht die allgemeine präventive Funktion dieser Rechtseinrichtung im Dienste einer korrekten, d.h. zugleich sparsamen Verwaltung einzelne Haftungsfälle auch rein finanziell reichlich wett. Freilich empfiehlt es sich, voraussetzungsweise die Verschlimmbesserungen, welche die Verfassungsnovelle des Jahres 1929 an den Grundsätzen der Syndikatshaftung vorgenommen hat, am besten nach dem Vorbilde des Deutschen Reichsrechtes zu reformieren. Als letzte auf die Verwaltung abzielende verfassungsgesetzliche Reformmaßnahme scheint mir eine Beschränkung des Weisungsrechtes in der Verwaltung wenigstens erwägenswert, ein alter Gedanke, für den in letzter

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Zeit namentlich der Ersparungskommissär Propaganda gemacht hat. Solche Bestrebungen fallen insofern in den Rahmen der Verwaltungsreform, als die Beschränkung des Weisungsrechtes der vorgesetzten Verwaltungsorgane und ihres Korollars, der Gehorsamspflicht der nachgeordneten Verwaltungsorgane, die Verwaltung justizförmiger gestaltet und unsachliche parteipolitische Einflüsse, denen die sogenannte Demokratisierung der Verwaltung Raum gibt, abzuschwächen geeignet ist. 2 Eine allgemeine Aufhebung des Weisungsrechtes wäre allerdings mit den Erfordernissen der Disziplin und Einheitlichkeit der Verwaltung unvereinbar und würde geradezu die Beibehaltung des Dualismus von Justiz und Verwaltung sinnlos machen. Sachlich berechtigt ist jedoch der Wunsch nach Beseitigung des Weisungsrechtes der Behörde höherer an die Behörde niederer Instanz in den dem Instanzenzug unterliegenden Verwaltungssachen, da ja der ganze Instanzenzug zu einer Farce wird, wenn die Unterbehörde in ihrer Entscheidung nicht ihre eigene Auffassung, sondern die durch Weisung vorgezeichnete Auffassung der Oberbehörde zum Ausdruck bringt. Eine Einschaltung in den Art. 20 B-VG, womit Weisungen der Behörden höherer Instanz an die Behörden niederer Instanz in den dem Rechtsmittelzug unterliegenden Angelegenheiten ausgeschlossen werden, hätte allerdings das eine Bedenken gegen sich, daß dadurch das öffentliche Recht und öffentliche Interesse mangels eines Staatsanwaltes im Verwaltungsverfahren der entscheidenden Behörde gegenüber fast schutzlos würde, wenn die Behörde das ihr anvertraute Recht und Interesse zugunsten der Partei verletzt, da ja in einem solchen Fall die Partei von ihrem Berufungsrechte nicht Gebrauch machen wird. Die Beschränkung des Weisungsrechtes müßte also durch einen Ausbau der Handhaben der ,,amtswegigen" Korrektur von Verwaltungsakten ausgeglichen werden. Jedenfalls könnte aber durch die besprochene Einschränkung des Weisungsrechtes viel überflüssiger Aktenlauf, der durch Vorlageberichte und dergleichen entsteht, vermieden werden. Weitergehenden Experimenten auf dem Gebiete der Verfassung, wie sie im Dienste der Verwaltungsreform so oft gefordert werden, muß widerraten werden. Nicht genug kann man insbesondere vor einem Abbau der sogenannten rechtsstaatlichen Sicherungen der Verwaltung warnen, die in der

2

Vgl. meine Broschüre ,,Demokratie und Verwaltung", M. Perles, 1923.

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Bundesverfassung in Gestalt des sogenannten Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung, der Verfassungs- und der Verwaltungsgerichtsbarkeit vorbildlich verankert sind, aber in Österreich in steigendem Maße benörgelt werden. Es ist ein völliges Mißverstehen dieser Einrichtungen, wenn man in ihnen Ursachen für überflüssige Verwaltungsarbeit sieht. Durch ihre motivierende Kraft im Sinne einer korrekten Verwaltung sollen und können sich diese Einrichtungen selbst auf ein spärliches Funktionieren reduzieren, ohne daß aber darum ihre prophylaktische Rolle entbehrlich würde. Auch auf das viel angefochtene parlamentarische Interpellationsrecht möchte ich gerade um einer korrekten und rationellen Verwaltung willen nicht verzichten. Wenn auch die Fragebeantwortungen viel Verwaltungsarbeit kosten, so ist doch die Notwendigkeit, dem Parlament für das Tun und Lassen in der Verwaltung Rede stehen zu müssen, ein meines Erachtens unentbehrlicher Antrieb für ein richtiges Funktionieren der Verwaltung. Es sollte sogar die Pflicht zur Fragebeantwortung oder deren begründeter Verweigerung befristet werden. Anderweitigen parlamentarischen Interventionen sollte allerdings nach Möglichkeit ein Riegel vorgeschoben werden; daß ein solcher Versuch wirksam wäre, wage ich allerdings nicht zu behaupten, da die Mittel politischer Beeinflussung der Verwaltung unübersehbar sind. Viel mannigfaltiger, aber doch in bezug auf ihre Ziele geklärter sind die Möglichkeiten der Verwaltungsreform auf dem Wege einfacher Gesetzesänderungen. Aus Raumgründen können die mir realisierbar scheinenden Vorschläge hier nur schlagwortartig zusammengefaßt werden. Am ergiebigsten ist die Kürzung des Instanzenzuges , der derzeit in Sachen der Bundesverwaltung grundsätzlich dreigliedrig und, soweit Gemeinden entscheiden, sogar viergliedrig und mit Hinzurechnung des Verwaltungsgerichtshofes fünfgliedrig ist. Ausnahmslose Regel müßte wenigstens werden, daß höchstens drei Behörden in derselben Sache entscheiden oder verfügen; welche Behörden, diese Frage wird durch das Problem Wien fast unlösbar politisch erschwert. Ein sachlich vertretbarer Kompromißweg scheint mir dahin zu gehen, daß in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung (also im umfangreichsten Teil der Verwaltung) in erster Instanz die politische Bezirksbehörde, in zweiter Instanz (in sämtlichen Ländern einschließlich Wien) der Landeshauptmann entscheidet. In Rechtsfragen sollte in diesem Stadium die

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Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, in Ermessensfragen die Berufung an das zuständige Ministerium offenstehen, wie es ungefähr schon der im übrigen viel zu komplizierte Entwurf der im Jahre 1912 eingesetzten Verwaltungsreformkommission vorgeschlagen hatte. Diese Gabelung des Rechtsmittelweges bedingt allerdings eine kasuistische Zuständigkeitsverteilung zwischen Ministerialinstanz und Verwaltungsgericht. Viel überflüssiger Aktenleerlauf würde dadurch erspart werden, daß in allen Fällen, in denen eine Verwaltungssache örtlich auf einen Bezirkssprengel beschränkt ist, die Kompetenz vom Landeshauptmann auf die Bezirksbehörde übertragen wird, die derzeit ohnehin die Grundlagen für die Entscheidung des Landeshauptmannes beizubringen hat. Die so bewährten Verwaltungsverfahrensgesetze von 1925 sollten den einhelligen Wünschen der Interessenten gemäß auf die Verwaltungsgebiete ausgedehnt werden, die bisher noch von einem alten, meist unmodernen Prozeßrecht beherrscht werden; insbesondere das starre Festhalten der Finanzbehörden an dem gegenwärtigen Steuerverfahren wäre einer besseren Sache würdig. Der Entwurf zur Vereinheitlichung und Vereinfachung des Verfahrens in der Sozialversicherung wird zwar dieser seiner Aufgabe im ganzen und großen gerecht. Doch ist es völlig ungerechtfertigt, gerade diesen Verwaltungszweig, an dem geradezu die Existenz großer Massen hängt, in der beabsichtigten Weise zu bagatellisieren und insbesondere generell die Kontrolle des Verwaltungsgerichtshofes auszuschließen. Das öffentliche Dienstrecht beschäftigt infolge seiner kasuistischen Gliederung der Angestellten- und Pensionistentypen, zahlreichen irrationellen Atavismen und der neuerdings eingeführten Ratenzahlung der Monatsbezüge eine überflüssige Menge von Beamten mit der Behandlung der Angelegenheiten anderer Beamter. Doch sind hier wohl alle ernstlichen Reformmaßnahmen durch fiskalische Schwierigkeiten hoffnungslos blockiert. Scheiterte ja doch selbst der von der Deutschösterreichischen Arbeitsgemeinschaft mit Unterstützung namhafter Verwaltungsbeamter unternommene Versuch, die großzügigen Einrichtungen des Deutschen Reiches im Dienste der Beamtenfortbildung auf Österreich zu übertragen, an finanziellen Schwierigkeiten, obwohl der Aufwand des Bundes für solche Einrichtungen im Betrage von etwa 30.000 bis 50.000 S durch Besserung der Qualität der Beamtenleistungen und Vermeidung von Fehlleistungen reichlich wettgemacht worden wäre! Völlig unabsehbar und aus Raumgründen nicht einmal für eine illustrierende Aufzählung geeignet sind die Verwaltungsvorschriftendie teils einer Vereinfachung zugänglich, teils völlig entbehrlich sind.

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Wer mit wirklichem gutem Willen und ohne Ausreden an die Verwaltungsreform geht, findet also jedenfalls ein fast unerschöpfliches Betätigungsfeld. Ebenso entschieden wie der Wille zur Tat müßte aber der Wille sein, die unausbleiblichen günstigen Wirkungen einer wahren Tat nicht wiederum durch unverantwortliche Belastungen des Staatshaushaltes zu gefährden und zu verschütten.

Le régime administratif. Avantages et inconvénients. Rapport général I. Der Begriff der Verwaltung im kontinental-europäischen Sinn deckt eine Erscheinung im Staatsleben, die sehr kompliziert aufgebaut ist und darum nicht in einem verhältnismäßig einfachen typisierenden Verfahren auf eine Formel gebracht werden kann, die ohne weiteres ein Urteil über die Vorteile und Nachteile dieser Einrichtung ermöglichen würde. Die Schwierigkeiten beginnen schon beim historischen Werden des institutionellen Kernes, das je nach seinem verschiedenen Verlauf die gegenwärtige Verwaltungseinrichtung bestimmt hat und das nicht übersehen werden darf, wenn man die gegenwärtige Einstellung von öffentlicher Meinung und Wissenschaft gegenüber der Verwaltung verstehen will. Als der Prototyp europäischer Verwaltung wird seit Diceys Antithese zum Rule of Law das französische Régime administratif angesehen. Der zentralistische Aufbau der französischen Verwaltung geht ins ancien régime zurück und man kann ihn - wenn man es nicht vorzieht noch weiter zurückzugreifen - für seine Anfänge in die Periode der Zentralisierung durch Richelieu und die abschließende Entaristokratisierung und Verbeamtung der Verwaltung durch den jungen Ludwig X I V datieren; seine gegenwärtige durchsichtige rationale Form hat er durch die Revolution, abschließend mit Napoleons Pluviôse-Gesetzgebung des Jahres VIII, bekommen. Dieser Kern des Verwaltungssystems geht also historisch zurück auf die allmähliche Auflösung der feudalen Verwaltungsdezentralisation, auf die Depossedierung des Feudaladels von seinen finanz-, militär-, gerichts- und polizeirechtlichen Funktionen und die parallele Stärkung der königlichen Zentralgewalt mit ihrem eigenen Beamtenstab. Um den Kern der Herausbildung eines Instruments In: Mémoires de l'Académie Internationale de Droit comparé, Bd. II/3. Paris: Recueil Sirey 1936, S. 126-149 (gemeinsam mit Erich Voegelin).

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zentraler Staatsbeherrschung im Kampf des ausgehenden feudalen mit dem aufsteigenden absolutistischen Staat lagert sich die Schicht der Idee der Gewaltenteilung, wie Montesquieu sie formuliert hat - die als solche, als Idee, gesamteuropäisch wirksam war und auch den amerikanischen Rechtskreis entscheidend berührte, aber gerade in Frankreich sich durch eine besondere politische Situation in einer Weise auswirkte, zu der wir in anderen Staaten kaum eine Parallele finden. Es scheiterten nämlich in der vorrevolutionären Periode die Reformversuche der aufgeklärt-absolutistischen Verwaltung, im besondern das Reformwerk Turgots, an dem konservativen Widerstand der Höchstgerichte, der Parlamente, die sich großer Unabhängigkeit erfreuten, und zwar nicht durch die uns geläufigen Garantien richterlicher Unabhängigkeit, sondern durch Käuflichkeit der Richterstellen. Da die Krone in ihrer stetigen finanziellen Bedrängnis nie über die Mittel zum Rückkauf dieser Stellen verfügte, waren die Richter praktisch inamovibel und nützten diese Situation aus. Die Verwaltungsgesetze von 1790 und vom Jahr III, welche die Trennung von Justiz und Verwaltung begründen, sind in ihren rigorosen Formulierungen nur aus der revolutionären Wut über das retardierende Element der Gerichtsbarkeit zu verstehen; nur von hier aus können die heute noch geltenden Grundsätze erklärt werden, daß es den Gerichten verboten ist «de connaître des actes de l'administration» und daß es ihnen schärfstens untersagt wird «de troubler» die Tätigkeit der Verwaltung. Die Begünstigung der Verwaltung ist in dieser Beziehung der Ausdruck eines revolutionären Willens gegen eine konservative Institution des ancien régime. Gleichförmig, die Verwaltung stärkend, wirkt nun der gegenläufige Wunsch, eine autoritäre, die Tradition bewahrende Institution gegen den zu radikalen Demokratismus und Liberalismus der Legislative zu schaffen. Die Verwaltung wird möglichst straff, umfassend und unabhängig gestaltet, das einemal aus einem Sentiment gegen die cours souveraines , das andere Mal aus der Idee, das Instrument der nationalstaatlichen Machtfülle intakt und schlagkräftig zu erhalten gegenüber den spezifisch französischen Gefahren eines doktrinären Radikalismus. Hauriou hat das Gesetz einen Rechtssatz im Dienste der Freiheit genannt, die Verwaltungsregel einen Rechtssatz im Dienste der Zentralisation und der Autorität der Regierung. Die Tradition und Einheit des Staatshandelns, wie es sich in der Verwaltung verkörpert, soll geschützt werden gegen die möglichen Ausschweifungen der demokratischen Organe.

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Wie ganz unmöglich es ist, den komplizierten Bau des Phänomens der Verwaltung auf eine einzige Begriffsebene, sei es des historischen Werdens, des institutionellen Aufbaues, der politischen Situation oder der Idee zu beziehen, ist daran zu sehen, daß die gleiche Gewaltenteilungstheorie in anderer historischer und politischer Lage zu völlig verschiedenen institutionellen Bildungen drängt. Die Furcht vor radikalen Experimenten der Legislative, die in Frankreich die Stellung der Verwaltung stärken half, bewirkte in den Vereinigten Staaten die Stärkung der Justiz, als der Einrichtung, welche die Tradition der Rechtsidee bewahren sollte. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat im Wege der Usurpation von Befugnissen sich zu einem konservativen retardierenden Institut entwickelt, dessen Haltung in Bezug auf sozialreformerische Gesetzgebung und Lahmlegung fortschrittlicher Verwaltungstätigkeit manche Ähnlichkeit mit der Haltung der Parlamente des ancien régime hat. Sehr deutlich wird an diesem Beispiel die Beweglichkeit der verschiedenen konstitutierenden Elemente einer Staatsfunktion gegeneinander sichtbar. Die Funktion der autoritären, die Tradition bewahrenden Einrichtung kann einmal von der Verwaltung, das andere Mal von der Justiz ausgeübt werden; und die Justiz kann kraft der richterlichen Unabhängigkeit einmal als Garant liberaler Forderungen gegen den Absolutismus auftreten, das andere Mal als Vertreter konservativer Ideen wie im ancien régime , oder heute in den Vereinigten Staaten, oder im deutschen Reich der Nachkriegszeit. Die französische Verwaltung entstand als Instrument der königlichen Zentralgewalt im Kampf gegen die mitteflüchtigen Kräfte der feudalen Verwaltung. Die Verwaltung in den deutschen Territorien ist umgekehrt das Ergebnis eines Kampfes, in dem sich die einzelnen landesherrlichen Gewalten gegenüber dem Reichsverband verselbständigten und schließlich aus ihm lösten. Die starke, von der Kontrolle ordentlicher Gerichte unabhängige und bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunders auch einer verwaltungsgerichtlichen Kontrolle entbehrende Administration der deutschen Einzelstaaten ist in dem Prozeß föderativer Zerstückelung entstanden, in dem die landesfürstliche Verwaltung sich von der Kontrolle des Reichskammergerichtes befreite, ohne fürs erste einer gerichtsförmigen Kontrolle innerhalb der einzelnen Territorien unterworfen zu werden. Für die Zeit von 1495, der Gründung des Reichskammergerichtes bis zur Auflösung des Reiches, 1806, war durch das Beschwerderecht der Untertanen gegen die landesherrliche Verwaltung beim Reichskammergericht eine justizförmige Kontrolle der territorialen Verwaltung gegeben, die sachlich und ihrer historischen Wurzel

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nach mit dem englischen Rule ofLaw verwandt war, wenn auch in der Praxis die Kontrolle sich gegenüber den großen Landesherren immer weniger durchsetzen konnte und wirkungsvollen Rechtsschutz nur in Konflikten in Angelegenheiten der kleinsten Territorien bot. Das innerstaatliche Verhältnis von Justiz und Verwaltung kann man für diese Periode nach Belieben interpretieren als Unabhängigkeit der Verwaltung oder als einen Zustand der gerichtlichen Kontrolle, da die kollegial organisierten höheren Behördeninstanzen für Justiz und Verwaltung typisch zusammenfielen; die Verwaltungsbehörde war zugleich Gerichtsbehörde, aber die Gerichtsbehörde war nicht unabhängig. Von der Belästigung der Untertanen durch die Verwaltungstätigkeit dieses sogenannten landesfürstlichen Polizeistaates darf man sich allerdings keine übertriebenen, liberal schreckhaften Vorstellungen machen, da die Verwaltungsagenden dieser Periode verglichen mit dem gegenwärtigen Umfang äußerst geringfügig waren. Mit der Reichsauflösung beginnt die innerterritoriale Entwicklung der Trennung von Justiz und Verwaltung. Die Gerichtsbarkeit wird selbständig organisiert, die Kompetenz der Gerichte auf Zivil- und Strafrechtssachen eingeschränkt, mit dem Konstitutionalismus die richterliche Unabhängigkeit eingeführt, der Prozeß verbessert usw.; parallel damit verliert die Verwaltung viel von ihren justizförmigen Qualitäten, die sie früher hatte, da die Einzelstaaten für die oberen Instanzen vom Kollegial- zum bureaumäßigen Ministerialsystem übergehen und die Verwaltung zugleich straffer der zentralen Leitung unterstellt wird. Der Kontrast des hochwertigen Verfahrens der ordentlichen Gerichte und der Rückständigkeit des Verwaltungsverfahrens wird in der konstitutionellen Ära immer deutlicher und führt zu der bekannten Diskussion (Bähr, Gneist) über Notwendigkeit und Form der gerichtsmäßigen Kontrolle der Verwaltung, die mit der Einführung der Verwaltungsgerichte in den deutschen Staaten endet (Preußen 1872, Österreich 1875). Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wird entweder in einem Zug von mehreren Instanzen in das Verwaltungssystem selbst eingebaut wie in den reichsdeutschen Staaten, oder als Gerichtshof erster und letzter Instanz über der Verwaltung eingerichtet, so daß Beschwerden an den Verwaltungsgerichtshof nur nach der Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges gelangen können, wie in der österreichischen Monarchie und den Nachfolgestaaten, der österreichischen und der tschechoslowakischen Republik. Mit den Typen der französischen und der deutschen Genesis der starken Zentralverwaltung aus einer bestimmten politischen Kampfsituation, die

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letztlich mit der Umgestaltung der Struktur des Karolingerreiches zusammenhängt, sind die kontinentalen Haupttypen gegeben, denen gegenüber die anderen Typen geographisch und sachlich peripher liegen, wenngleich auch in den Randstaaten des Karolingerreiches, besonders in den skandinavischen, bemerkenswerte Eigenentwicklungen vorliegen. 1 Das Wesen des abgeleiteten kontinentalen Verwaltungstyps wird für die ältere Zeit ausgezeichnet vertreten durch die niederländische Entwicklung. Der wesentlich auf Selbstverwaltung aufgebaute Bund der niederländischen Staaten wird unter französischem ideellem und machtpolitischem Einfluß zentralisiert, zuerst in der Batavischen Republik von 1798. Dann, nach verschiedenen Zwischenspielen, durch die Gesetzgebung Louis Napoleons über die Departmental- und Kommunalverwaltung von 1807, die alle Selbstverwaltung der Provinzen austilgte. Die späteren Verfassungen, 1814, 1815, sehen allerdings wieder vom König genehmigte Provinzialstatuten vor, ,,allein die von französischem Zentralisationsgeist durchtränkte Verwaltungspraxis der Restaurationszeit hat diese Bestimmungen dahin interpretiert, daß eine möglichst große Uniformierung angestrebt werden sollte, sodaß all diese Provinzialstatuten fast wörtlich übereinstimmen." Professor F.J.A. Huart, aus dessen Bericht ich diesen Satz zitiere, hebt weiter ausdrücklich hervor: ,,Zwar wurde 1802 ein oberster Gerichtshof errichtet, und 1805 ein allgemeines Steuersystem eingeführt, aber es bedurfte der auf französischen Verwaltungsgedanken beruhenden Regierung Louis Napoleons (1806) und der Fremdherrschaft (1810), um den herkömmlichen »Kantönligeist6 ganz auszurotten und den Gedanken der Staatseinheit aus einem theoretischen Postulat in eine die ganze Verwaltung beherrschende, praktisch wirksame Idee umzuwandeln." Ein jüngeres Beispiel für den abgeleiteten Typus ist die italienische Organisation der Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit. Sie beginnt mit einer Nachahmung des französischen Systems von Präfekturräten und Staatsrat; sie geht 1865 zu einem System über, das sich nahe mit den deutschen justizstaatlichen Gedanken der Zeit berührt, denn die Zuständigkeit für den Rechtsschutz in Verwaltungssachen wird den ordentlichen

1

Vgl. zur Typologie der europäischen Staatenwelt die Arbeiten von Otto Hintze.

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Gerichten übertragen; und sie übernimmt schließlich 1890 wieder ein dem französischen verwandtes System, das alle Streitsachen ergreift, außer jenen die durch positive Gesetze im einzelnen oder durch das Gesetz von 1865 im allgemeinen (Verletzung bürgerlicher oder politischer Individualrechte) den ordentlichen Gerichten überwiesen worden sind. II. Es ist notwendig, sich das historische Werden des Phänomens der kontinentalen Verwaltung aus ihren eigenen Bedingungen und Situationen heraus vor Augen zu halten, um die Bedeutung zu ermessen, die dem vielbesprochenen Gegensatz von régime administratif und rule of law zukommt, und noch mehr jene, die ihm nicht zukommt. Die Substanz des Gegensatzes scheint mir, wie aus den ausgezeichneten Spezialreferaten hervorgeht, weniger in den technischen Vorzügen und Nachteilen des einen oder anderen Typus zu liegen, sondern vielmehr, und besonders auf englischer Seite (fast gar nicht dagegen in den Referaten über Kanada und die Vereinigten Staaten) in einem historischen und politischen Sentiment, das stark die Betrachtung der Rechtsformen und ihres Funktionswertes färbt. Um die Aura von Sentiment abzulösen stelle ich zuerst in drei Punkten den schlichten institutionellen Kern heraus, auf den sich die Diskussion des Gegensatzes ständig bezieht; es sind 1) der größere oder geringere Umfang der Verwaltungstätigkeit, 2) die Rechtskontrolle der Verwaltung - durch eigene Verwaltungsgerichte oder durch die ordentlichen Gerichte, 3) die Staats- und Organhaftung. Vergleichen wir nun mit diesem Kern der Frage die Formulierung, die Sir Leslie Scott dem Rule ofLaw in seinem Referat gibt; er stellt vier Prinzipien als relevant auf, 1) daß die Kontrolle der ordentlichen Gerichte erhalten bleiben sollte für die Fälle eines behaupteten „usurpation or excess of a Minister in the use ofhis powers either legislative or judicial"; 2) daß die Kontrolle zu fordern sei als Berufungsinstanz gegen Verwaltungsentscheidungen wegen Rechtsirrtums; 3) Gleichheit aller vor dem Gesetz; 4) daß die Entscheidungen auf „legal principles" zu begründen seien und nicht auf

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„ministeriell expediency ". Jeder Kenner weiß, daß diese Forderungen, deren Erfüllung als die besondere Leistung des Rule of Law angesehen wird, in genau der gleichen Weise, wenn nicht besser durch die kontinentale Organisation der Verwaltung und ihre Rechtskontrolle erfüllt werden. Die Berechtigung des Gegensatzes liegt nicht in der Ebene der Leistung der Institutionen, sondern in der der politischen Idee, durch die Ablehnung der ,, Usurpation", die Befürchtung des ministeriellen ,,Exzessesdie Forderung der Gleichheit vor dem Gesetz, die Abneigung gegen „ministerial expediency" schimmert das tiefe Mißtrauen gegen Übelstände der Verwaltung in vergangenen Perioden, im Stuartabsolutismus, im ancien régime , im deutschen Polizeistaat; es klingt in diesen Formulierungen noch die sittliche Entrüstung über die miserable Behandlung Voltaires durch die französische Verwaltung und Justiz seiner Zeit nach, die das Hauptingrediens von Diceys Ablehnung des régime administratif gewesen zu sein scheint; es spricht aus ihnen die grundsätzlich ablehnende Haltung des klassischen Liberalismus gegen alle Staatsaktivität. Es handelt sich bei der Befürwortung des Rule of Law nicht so sehr um die Verteidigung einer bestimmten Institution als des Sentiments, von dem diese Institution getragen wird - wobei ich nicht verfehlen will, meinen Respekt vor der Ehrwürdigkeit dieses Sentiments ausdrücklich zu versichern. In der Entwicklung der kontinentaleuropäischen Verwaltung konnte sich aus den oben angeführten Gründen die eigentümlich englische Hochschätzung der Gerichtsbarkeit nicht herausbilden. Das englische régime administratif der Tudor- und Stuartzeit mit seiner Spitze in der Starchamber war im 17. Jahrhundert gebrochen worden, so daß sich eine lange Tradition der ausschließlichen Rechtspflege durch die ordentlichen Gerichte bildete, besonders begünstigt durch die starke Schrumpfung der Verwaltungsaufgaben in der nachmerkantilistischen Zeit. In der Manchester-Periode hatte die englische Verwaltung ihrem Umfang nach ein Minimum erreicht, das in den kontinentalen Staaten ohne Parallele ist und nur sehr langsam unter den Anforderungen des Industrialismus wieder anwuchs. Diese Begünstigung der herrschenden Stellung der Gerichte durch die Geringfügigkeit ihrer Aufgaben gegenüber der Verwaltung darf nicht vergessen werden. Wenn mit Recht die frühe gerichtsförmige Kontrolle der Verwaltung in England und deren Vorzüge der keineswegs tadelfreien Rechtskontrolle der Verwaltung auf dem Kontinent in den ersten Zweidritteln bis Dreivierteln des 19. Jahrhunderts gegenübergestellt wird, so muß nachdrücklich betont werden, daß

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dieser temporäre Vorzug mit einer Einschränkung der Verwaltungstätigkeit erkauft wurde, über deren Nutzen und Nachteil für die englische Nation nur politische Urteile gefällt werden können, die keineswegs immer günstig für das System der Verwaltungsrestriktion ausgefallen sind. III. Nach der Isolierung und Durchleuchtung der Geschichte und der Gefühlseinstellungen, die in ihr wurzeln, kann nun die positive Rechtslage auf ihren eigenen Sachgehalt hin geprüft werden. M. Laferrière faßt in seinem Referat über Le Régime administratif français seine Darstellung in der Form einer Verteidigung gegen die Thesen Diceys, und zwar berücksichtigt er, gemäß den Angriffen, weniger die Frage des Umfanges und des Ermessenspielraumes der Verwaltung als die des Rechtsschutzes des Individuums in seinen Beziehungen zur Verwaltung. Die charakteristische Einrichtung, die der Gegenstand der Ablehnung Diceys war, ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit mit ihrer Spitze im Conseil d'Etat. Die Bedenken, die gegen diesen Gerichtshof in früheren Perioden sprechen mochten, sind verschwunden. Er ist zwar formell nicht als unabhängiges Gericht organisiert und seine Mitglieder können ihres Amtes entsetzt werden, aber praktisch hat dieses Residuum von Unterordnung unter die Verwaltung, das durch die Entstehungsgeschichte des Conseil zu erklären ist, keinen Einfluß auf die Unabhängigkeit des Gerichtes. Man kann sagen, daß faktisch die Kontrolle über die Verwaltung in oberster Instanz durch ein unabhängiges Spezialgericht ausgeübt wird. Die etwaigen Bedenken gegen die Tätigkeit dieses Gerichtshofes rühren vielmehr an die rechtstechnischen Mängel in der Umschreibung seiner Kompetenz. Die generelle Grundlage der Kompetenz ist die Revolutionsgesetzgebung, die den ordentlichen Gerichten verbietet, die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden zu stören und über Verwaltungsakte Entscheidungen zu fällen. Der Begriff des Verwaltungsaktes jedoch wird nicht durch das Gesetz umrissen, sondern ist der Gegenstand eines stetigen definitorischen Prozesses durch die Entscheidungen des Conseil selbst und im Falle von Kompetenzstreitigkeiten durch das Tribunal des conflits. Aus dieser Unsicherheit der Kompetenzabgrenzung ergeben sich unter Umständen jahrelange Prozesse, die im Falle außergewöhnlichen Unglücks mit einem negativen Kompetenzkonflikt und praktischer Rechtsverweigerung für die Partei enden. Diese Nachteile der strikten Trennung

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von Justiz und Verwaltung können jedoch durch geeignete gesetzliche Maßnahmen beseitigt werden, und in der Tat hat der Senat unterm 15. Dezember 1931 einen Gesetzesentwurf angenommen, der verfügt: »peuvent être déférées au tribunal des conflits, lorsqu'elle présentent contrariété conduisant à un déni de justice, les décisions définitives rendues par les tribunaux administratifs et les tribunaux judiciaires dans les instances introduites devant les deux ordres de juridiction pour des litiges portant sur le même objet.« Trotz dieser Mängel ist der Conseil d'Etat ein sehr gesuchtes Gericht und seine wachsende Popularität hat in kurzen Abständen wiederholte Reformen seiner inneren Organisation nötig gemacht, die der Bewältigung der steigenden Aktenzahl dienen sollten. Der Conseil ist außergewöhnlich leicht zugänglich und das Verfahren nicht kostspielig. M. Jèze schrieb 1911: „Zweifellos gibt es kein Land, wo eine durch einen Verwaltungsakt geschädigte Person sich an den höchsten Verwaltungsgerichtshof wenden kann, ohne eine höhere Summe auszulegen als 60 centimes." Seine Popularität verdankt er dem immer weiteren Bekanntwerden seiner Vorzüge. Der Conseil d'Etat ist nicht bloß Gerichtshof, sondern auch Berater der Regierung, ja er wird gelegentlich auch mit der Vorbereitung von Gesetzen betraut (Entwurf für die Organisation der Verwaltung in Elsaß-Lothringen); diese enge Verbindung mit der Verwaltung wirkt nun keineswegs zum Nachteil der Parteien, sondern kraft seiner genauen Kenntnis der Verwaltung und ihrer wirklichen Bedürfnisse steht der Conseil ihr sicherer und freier gegenüber als die ordentlichen Gerichte, die nach Möglichkeit alles tun um den begründeten oder unbegründeten Vorwurf zu vermeiden, sie behinderten durch ihre zivilistischen Vorurteile die Verwaltung in der Erfüllung ihrer Aufgaben. Er hat ferner den verwaltungspolitischen Charakter seiner Gründungszeit und der Restauration verloren und sich zu einem Spezialgerichtshof gewandelt, an dessen Unparteilichkeit niemand zweifelt und dessen Sachkenntnis ihn befähigt, die Rechte der Parteien besser zu wahren als die ordentlichen Gerichte es je könnten. Und schließlich ist durch das Zugeständnis des Beschwerderechtes gegen einen rechtswidrigen Verwaltungsakt an jedermann, der sich durch ihn in seinem Interesse (nicht etwa in seinem Recht) verletzt fühlt, der Kreis der Beschwerdeberechtigten so weit gezogen, daß dieses Recht für gewisse Materien fast den Charakter einer actio popularis bekommt. Der Hauptangriff der Vertreter des Rule of Law richtet sich gegen den Rechtsdualismus, der durch das régime administratif bedingt wird; die

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Beziehungen des Untertans zum Staat unterliegen einem anderen Normkomplex als die Beziehungen der Untertanen untereinander. Der Stolz des Rule of Law ist der Rechtsgrundsatz, daß der Beamte, sei er Minister oder untergeordnetes Organ für seine Handlungen nach gleichem Recht haftet wie der Privatmann und von den gleichen Gerichten zur Verantwortung gezogen werden kann wie dieser. M. Lafarrière belegt nun durch eine Reihe von Beispielen, daß als Folge der älteren Theorie von der puissance publique nur mehr die Akte der Regierung der gerichtlichen Kontrolle entzogen sind; sie sind die einzige Klasse von Akten der Verwaltung, die weder kassiert werden können noch eine Haftpflicht begründen. In allen anderen Fällen von Beziehungen zwischen Untertan und Verwaltung wird ein Rechtskomplex angewendet, der nicht kodifiziert ist, sondern durch die Judikatur auf der Grundlage der Prinzipien des Zivilrechts entwickelt wurde mit dem Ergebnis, daß die Rechte des Untertans ebenso gewahrt werden, wie sie durch die ordentlichen Gerichte nach Zivilrecht gewahrt würden, ja daß in zahlreichen Fällen die verwaltungsrechtliche Regelung den Untertan besser stellt als der Code Civil. Zusammenfassend ist zu sagen: die Verwaltungsgerichtsbarkeit mit ihrer Spitze im Conseil hat vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit den Vorzug a) der Einfachheit und Billigkeit des Verfahrens, b) der Sachkundigkeit und der aus ihr sich ergebenden Möglichkeit, die Verwaltung leichter in ihren Schranken zu halten, und c) wird der Untertan durch das Verwaltungsrecht in vielen Fällen materiell besser gestellt als durch das Zivilrecht. Die vorhandenen Mängel dieser Gerichtsbarkeit - die unscharfe Kompetenzabgrenzung; die Unsicherheit, die das Präzedenzrecht gegenüber dem kodifizierten hat; die Verzögerung des Verfahrens durch die Überlastung des Gerichtshofs - liegen nicht im Wesen der Organisation, sondern können durch entsprechende Gesetzgebung behoben werden. Der französische und der englische Verwaltungstypus stehen bei aller Gegensätzlichkeit in dem gemeinsamen Raum einer alten liberalen Tradition und M. Lafarrière konnte darum in seiner Verteidigung des französischen Systems die Situation des Individuums und seinen Rechtsschutz als die primär wichtige Frage des Verwaltungsrechtes in den Vordergrund rücken. Das österreichische nachrevolutionäre régime administratif basiert auf jüngeren politischen Ideen, die sich in der Richtung einer staatssozialistischen Demokratie bewegen, und das Referat Professor Merkls stellt

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darum in den Vordergrund die Unterordnung der Verwaltung unter das Gesetz als den Ausdruck des Volkswillens. Die in der französisch-englischen Diskussion übliche Bedeutung des Ausdrucks droit administratifdls des Sonderrechtes, welches die Schadensansprüche der Untertanen gegen den Staat regelt im Gegensatz zum droit commun, das über Schadensansprüche und -Verpflichtungen der Untertanen untereinander entscheidet, ist der österreichischen Rechtsprache fremd. Die Haftpflicht des Staates ist zwar durch einen Verfassungssatz anerkannt, aber sie tritt in der Praxis und im politischen Interesse der Bevölkerung in den Hintergrund, und die Aufmerksamkeit richtet sich vor allem auf die Sicherung der Rechte des Einzelnen durch eine genaue gerichtsförmige Überprüfung der Verwaltungsakte aller Stufen auf ihre Rechtmäßigkeit. Die Verlagerung des Interesses dürfte außer durch die politische Geschichte vor allem durch den ungeheuren Umfang der Verwaltungstätigkeit zu erklären sein. Der große Umfang ist zum Teil das Erbe des polizeistaatlichen Interventionismus, zum anderen Teil rührt er von der immer noch wachsenden Ausdehnung der Agenden unter dem Einfluß staatssozialistischer Ideen. Die Voraussetzung für die gerichtsförmige Kontrolle dieser umfangreichen Verwaltung wird durch eine auf dem Kontinent einzigartig strenge Bindung der Verwaltungstätigkeit an gesetzliche Ermächtigungen geschaffen. Vor der Verfassung von 1920 war die Verwaltung im Sinne des rechtsstaatlichen Prinzipes an Gesetze gebunden, soweit sie in Freiheit und Vermögen der Untertanen eingriff, aber es bestand daneben ein nicht unbeträchtlicher Raum für die Verwaltung als sogenannte freie Staatstätigkeit ohne besonders feste gesetzliche Grundlage. Durch den Artikel 18 der Bundesverfassung von 1920 wurde der Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung erstmals in der denkbar weitestgehenden Fassung in den klassischen Worten, die von dem Verfassungsschöpfer Professor Hans Kelsen herrühren, kodifiziert: ,,Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden." Durch diese Bestimmung wird die gesamte Verwaltungstätigkeit ohne Unterschied ihres Inhaltes, die privatwirtschaftliche ebenso wie die obrigkeitliche, von der Verwaltungsgesetzgebung abhängig, wenn auch die gesetzliche Regelung dem Wesen der Materie gemäß nicht überall gleich tief in den Einzelheiten binden kann die Außen Verwaltung z.B. hat einen sehr großen Spielraum verglichen mit dem besonders geringen der Abgabenverwaltung. Der Fülle der Aufgaben und dem bundesstaatlichen Charakter der Republik entspricht ein reich gegliederter Verwaltungsapparat, in dessen Man-

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nigfaltigkeit das neue Verfahrensrecht eine gewisse Einheit bringt. Die Verwaltungsverfahrensgesetzgebung von 1925 hat für den gesamten bundes- und gliedstaatlichen Behördenapparat (mit der wesentlichen Ausnahme der Abgabenverwaltung) einheitliche Verfahrensgrundsätze eingefühlt. Sie haben dem Verfahren der obrigkeitlichen Verwaltung Formen gegeben, „die einerseits durch die Sicherung des Parteiengehörs, von Parteienrechtsmitteln usw., insbesondere der Rechtskraft der Verwaltungsakte der Bevölkerung die Möglichkeit einer wirksamen Vertretung ihrer Interessen gegenüber der Verwaltungsbehörde und andererseits den Verwaltungsbehörden die Möglichkeit einer vom Verdacht der Willkür freien Vertretung der öffentlichen Interessen bieten". Der große Umfang der Verwaltungstätigkeit, die in das Leben des Bürgers in allen seinen Phasen und Richtungen der Betätigung eingreift, erfordert gegen die Willkür der Verwaltungsorgane Garantien anderer Art als die verhältnismäßig bescheidenen der nachträglichen Klage auf Schadenersatz wegen rechtswidrigen Eingriffs in Freiheit und Eigentum. Die österreichische Rechtsordnung legt das Hauptgewicht auf präventive Garantien der Rechtmäßigkeit der Verwaltung. Diesem Zweck dienen die Parteirechtsmittel des rationalisierten Verwaltungsverfahrens, das gemäß dem Vorschlag Professor Merkls 1925 eingeführte Institut der Rechtskraft der Verwaltungsakte, und schließlich die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Außer einer Anzahl von Spezialverwaltungsgerichten gibt es den Verwaltungsgerichtshof, der in veränderter Organisation an der Stelle des Verwaltungsgerichtshofes der Monarchie steht. Im Gegensatz zum französischen Conseild'Etat ist er auch formell unabhängiger Gerichtshof. Außerdem prüft der Verfassungsgerichtshof die Gesetze auf ihre Verfassungmäßigkeit und die Verordnungen auf ihre Gesetzmäßigkeit. Die Kompetenz des Verwaltungsgerichtshofes ist durch eine Generalklausel möglichst weit gefaßt, wobei allerdings das Beschwerderecht nur Personen zugestanden wird, die durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde in ihren Rechten verletzt zu sein behaupten, und nicht wie in Frankreich schon die behauptete Interessenverletzung als Beschwerdelegitimation genügt. Die tatsächliche Garantieleistung dieses Gerichtshofes ist daraus zu ersehen, daß er jährlich nur einige hundert Beschwerdefälle zu erledigen hat; dies ist vor allem zu erklären ,,aus der erzieherischen Wirkung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die es dahin gebracht hat, daß die Verwaltungsbehörden bei ihren Millionen einzelnen Verwaltungsakten auf die mögliche Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof Bedacht zu nehmen gewohnt sind."

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Die österreichische Verwaltung repräsentiert innerhalb des allgemeinen kontinentalen régime administratif einen Typus, der sich deutlich gegen den französischen abhebt. Rein äußerlich wird die Gleichwertigkeit der Verwaltung mit der Justiz dadurch vollendet zur Geltung gebracht, daß der Abschluß des Systems im Verwaltungsgerichtshof die gesamte Verwaltung unter eine Instanz stellt, die als formell unabhängiges Gericht den ordentlichen Gerichten in nichts nachsteht und durch ihre Sachkenntnis ihnen überlegen ist. Ferner aber rückt die staatssozialistische Ausdehnung der Verwaltungsagenden das gesamte System unter einen politischen Gesichtspunkt, der sich von dem westlich-liberalen wesentlich unterscheidet: die Idee der Freiheit des Bürgers hat nicht primär den Schutz der Rechtssphäre des Einzelnen im Auge, sondern die Garantie der Freiheit durch die Sicherung der Gesetzmäßigkeit des Staatshandelns. Die Rechte des Einzelnen werden nicht minder gut gewahrt als in Frankreich oder England, aber der Rechtszweck des Staates tritt zweifellos in der öffentlichen Meinung und den Prinzipien der Politik zurück hinter dem Kulturzweck. Bei der Ausgestaltung des Systems gilt nicht der erste Gedanke der möglichen Schädigung der Bürger durch die Verwaltung und den entsprechenden Schutzvorrichtungen, sondern dem Bemühen, die positiv gewertete Leistung der Verwaltung unter die demokratische Kontrolle der Legislative zu bringen. IV. Der Gegensatz zwischen dem französischen Typus der Verwaltung und dem österreichischen, den ich eben zu umreißen versuchte, wird noch deutlicher, wenn wir das englische Interesse an der Verwaltung mit dem österreichischen kontrastieren. Sir Leslie Scott schreibt in seinem Referat: ,,There is a général impression amongst Englishmen that we live under the Rule of Law, and that no Community is well-governed which does not; and the ordinary Englishman thinks of the Rule of Law solely in terms of remedy ; he pictures himself vindicating his rights in the Law courts, or being tried and punished if he were to commit a crime." Das typisch englische Problem der Verwaltung ist das Rechtsmittel gegen einen Schaden, der durch Verletzung der Amtspflicht seitens des Verwaltungsorganes entstanden ist; während im österreichischen Verwaltungstypus die große Sorge die technische Bewältigung der legislativen Aufgaben in solcher Art ist, daß einerseits die Verwaltung angemessen gebunden ist, andererseits die Gesetze nicht zu einem unübersehbaren Chaos von Detailbestimmungen werden.

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Daß die englische Rechtspolitik bisher von Sorgen dieser Art nichts wußte und mit dem verhältnismäßig primitiven Instrument der Common Law Courts auch die Probleme der Verwaltungskontrolle meistern konnte, hat, wie schon angedeutet, seinen Grund darin, daß die Verwaltungsagenden in größerem Umfang bisher gefehlt haben. Der Krieg mit seiner Anspannung der Verwaltungstätigkeit hat hier die große Wendung gebracht und eine, wenn auch verhältnismäßig geringe, so doch immerhin so beträchtliche Vermehrung der Agenden hinterlassen, daß sich die Betrauung der Ministerien und untergeordneten Behörden mit Verordnungs- und Entscheidungsbefugnissen in einem Maß als nötig erwies, das in der Öffentlichkeit lebhafte Beunruhigung erweckte. Die Beunruhigung ist zum Teil traditional-sentimentalen Charakters und wird erregt, weil durch die jetzt auch für England unabwendbar heraufziehende staatssozialistische Ausweitung der Verwaltung das ehrwürdige Rule of Law in seiner Alleinherrschaft bedroht wird; zum Teil ist sie aber auch nach kontinentalen Begriffen sachlich gerechtfertigt, weil der Ausdehnung der Agenden keine entsprechende Kontrollorganisation im französischen und österreichischen Sinn gegenübersteht. Sehr bezeichnend sind die Beispiele, die Sir Leslie Scott gibt. Das Parlament, das die technischen Einzelheiten der Verwaltung nicht in Gesetzesform erledigen kann, ist gezwungen, den Ministerien ein bedeutendes Verordnungsrecht einzuräumen, was beispielsweise in der Form der Bestimmung des s. 47 des Endowed Schools Act folgendermaßen geschieht: ,,The Order in Council approving a scheme shall be conclusive evidence that such scheme was within the scope of and made in conformity with this Act; and the validity of such scheme and order shall not be questioned in any legal proceedings whatsoever." Durch diese und ähnliche Bestimmungen wird den Ministerien ein Recht zur Erlassung von gesetzersetzenden Verordnungen und Verfügungen gegeben, die selbstverständlich der Kontrolle durch die Gerichte entzogen sind. Nun kennt die kontinentale Verwaltung zwar auch die gesetzersetzende Verordnung, aber diese spielt in normalen Zeiten im Prozeß der Rechtserzeugung eine ganz untergeordnete Rolle. In Frankreich ist nach dem Krieg die Regierung einige Male durch einfaches Gesetz mit außerordentlichen Vollmachten ausgestattet worden und unter anderem wurde auch die Verwaltungsreform von 1926 im Verordnungswege durchgeführt, aber diese außerordentlichen Maßnahmen wurden mit großem Mißtrauen betrachtet, die Befugnisse waren mit wenigen Monaten befristet, und nach kompetenter Meinung waren sie verfassungswidrig. Auch in

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Österreich wurden einigemale in kritischen Situationen durch besondere verfassungsgesetzliche Ermächtigung legitimierte Regierungsverordnungen erlassen, aber sie nehmen in der Gesamtverwaltung einen praktisch verschwindenden Raum ein; von dem präsidentiellen Verordnungsrecht ist überhaupt noch kein Gebrauch gemacht worden. In England dagegen häufen sich nach dem Referat Sir Leslie Scotts in den letzten Jahren die Fälle in der Art des obigen Beispiels in solchem Maß, daß die allgemeine Beunruhigung in einem Buch des Lord Chief Justice mit dem Titel „The New Despotism" und in der Ernennung eines Komitees zum Studium der „legislative and judicial powers conferred on Ministers" seinen Ausdruck gefunden hat. Das Gleiche wie für die Ausdehnung des Instituts der gesetzersetzenden Verordnung gilt für die unvermeidliche Ausdehnung der Entscheidungsbefugnis der Verwaltungsbehörden bei der Durchführung ihrer Aufgaben. Das Rule of Law wird durch diese Ausdehnung angegriffen, ohne daß der Verlust durch eine adäquate Kontrolle der neuen Rechtsform ausgeglichen würde. Eine ähnliche Situation enthüllt das Referat der Professoren Kennedy und Finkelman für Kanada. Das allmähliche Anwachsen eines kanadischen Verwaltungsrechtes hat die gleichen generellen Ursachen wie in England Industrialismus, Anwachsen der Bevölkerung, Umwandlung der Agrargesellschaft mit geringem Interventionsbedürfnis in eine städtische mit großem, etc. - und außerdem lokale wie die Regierungshilfe bei der Erschließung und Ausbeutung der Naturschätze in einem großräumigen und dünn besiedelten Land, der geringere Widerstand gegen eine Ausdehnung des Verwaltungsrechtes in einem Dominion, in dem der Kampf um die Selbstverwaltung nicht die heftigen Formen wie im Mutterland gehabt hat, und schließlich die Nachbarschaft der Vereinigten Staaten mit ihren zahlreichen Verwaltungsexperimenten in den Einzelstaaten. Das Wachstum vollzieht sich in der Form der Schöpfung von Verwaltungsbehörden mit sehr weitgesteckten Verordnungs- und Entscheidungsbefugnissen. „Generally the legislation has done no more than create the board and indicate the problem to be dealt with, leaving it entirely to the administrators to evolve for themselves the principles which are best suited for application for the immediate problem." Die Ermächtigungsgesetze enthalten typisch Formeln, die nach einer allgemeinen Angabe der Materie, auf die sich die Verwaltungstätigkeit zu erstrecken hat, und des allgemeinen Verwaltungszweckes dem Minister die Wahl der Mittel zur Erreichung dieser Zwecke überlassen. Das Naturgasgesetz von Ontario z.B. ermächtigt den Minister, Verordnungen

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und Verfügungen betreffend die Konkurrenzmethoden, die Handelspolitik und das Verhalten jedermanns zu erlassen, das nach seiner Meinung ,,unreasonable or improvident or inconsistent with the due conservation of the supply of natural gas in Ontario" ist. Der Workmen's Compensation Act bestimmt, daß das zuständige Board ,,upon the real merits and justice of the case" entscheiden und nicht irgendwelchen Präzedenzregeln folgen solle. Ein anderes Gesetz ermächtigt das Verwaltungsorgan, Lizenzansuchen zum security-Handel zu bewilligen oder abzulehnen ,,for any reason which he may deem sufficient". Die Legislative delegiert in weitestem Umfang ihre Kompetenz an die Verwaltung: Ziele werden knapp umrissen, die Wege, sie zu erreichen, werden nicht vorgezeichnet, Verfahrensvorschriften fehlen völlig. Als Folge dieser Verwaltungstechnik ergibt sich eine arge Rechtsunsicherheit für die Bürger, noch verschärft durch verschiedene Übelstände, die zu vermeiden wären. Sowohl in Bezug auf ihre Entscheidungen wie ihre Verordnungen schließen die Verwaltungsbehörden weitgehend die Öffentlichkeit aus. Mit der Ausnahme weniger Boards publizieren die Verwaltungsorgane ihre Entscheidungen nicht, so daß die Öffentlichkeit nichts über die von den Behörden selbst ihren Entscheidungen zugrunde gelegten Prinzipien erfahren kann. Allerdings sind die Referenten der Ansicht, daß diese Geheimhaltung auch ihre Vorzüge habe, da besonders im Anfang ihres experimentierenden Herumsuchens nach den richtigen Mitteln zur Erfüllung ihrer Aufgabe eine Verwaltungsbehörde sich durch ihre eigenen Entscheidungen sehr behindert finden könnte, wenn sie sich ihre Entscheidungsgrundsätze zu ändern veranlaßt sieht. Keine entschuldigenden Gründe aber könnten für die Geheimhaltung der Verordnungen angeführt werden. Das Verordnungsrecht ist nicht grundsätzlich geregelt: manche Verordnungen können nur mit Zustimmung des Gouverneurs erlassen werden, andere mit Zustimmung des Ministers, wieder andere müssen dem Parlament vorgelegt werden, einige müssen im Amtsblatt veröffentlicht werden, andere nicht; manche Ämter geben Sammlungen ihrer Verordnungen heraus, andere halten es nicht für nötig; ob Verordnungen publiziert werden müssen oder nicht, scheint manchmal geradezu vom Geschmack des Beamten abzuhängen, der das Ermächtigungsgesetz redigiert. Infolge der Unübersichtlichkeit des Verordnungsmaterials, die häufig zur Unzugänglichkeit für die Interessenten wird, hat die Verwaltungstätigkeit einen starken Beigeschmack von Willkür, der sich entsprechend im Mißtrauen des Publikums

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ausdrückt. Die Referenten schlagen zur Abhilfe ein Gesetz vor, daß die Publikation der Verordnungen generell regelt und sie ebenso leicht zugänglich macht wie die Statutes. Die Rechtskontrolle gegenüber diesen weitgehenden Verwaltungsbefugnissen ist völlig unzulänglich. Zwar sind im allgemeinen die Akte der Verwaltung in Bezug auf ihre Gesetzmäßigkeit der Prüfung durch die ordentlichen Gerichte unterworfen, aber diese Prüfung ist als Instrument der Kontrolle nicht sehr wirkungsvoll, da der Rahmen der Delegation so außerordentlich weit gezogen ist, daß es kaum einen Verwaltungsakt, der sich auf die ihm zugewiesene Materie bezieht, geben wird, der nicht innerhalb des Kompetenzraumes fällt. Auf eine Überprüfung der in das behördliche Ermessen fallenden Akte auf ihre Verträglichkeit mit den Prinzipien des Common Law aber gehen die Gerichte nicht ein und können dies auch gar nicht tun, wenn sie nicht die Leistung der Verwaltung zerstören wollen, die doch gerade zur Lösung von Problemen eingerichtet wurde, an denen die bisherigen legislativen und gemeinrechtlichen Institutionen versagten. In dieser Situation scheint es mir kaum noch ins Gewicht zu fallen, wenn, wie die Referenten berichten, die Ermächtigungsgesetze nicht selten, so wie in England, die Klausel enthalten, daß die Verordnungen, die auf Grund des betreffenden Gesetzes erlassen werden, so gelten sollen, als ob sie durch das Gesetz selbst erlassen worden wären, - wenn sie also zu gesetzersetzenden Verordnungen gemacht und dadurch der Kontrolle der Gerichte entzogen werden. Die Referenten schlagen zur Beseitigung dieser Übelstände die Einrichtung eines Spezialgerichtshofes zur Überprüfung der Verwaltungsakte aller Stufen vor, und denken dabei vermutlich an eine Institution in der Art der kontinental-europäischen obersten Verwaltungsgerichte. Ich möchte hinzufügen, daß gleiche Wichtigkeit einer Verbesserung der Gesetzestechnik zukommt, ein Problem, auf das die Referenten nicht näher eingehen. Vom englischen Referat zieht sich über das kanadische bis zu dem Professor Franklins über die Nordamerikanische Union eine Linie zunehmender Einsicht in das Versagen der Common Law Institutionen gegenüber den neuen Rechtsproblemen, und abnehmenden Entsetzens über die Verdrängung des Rule of Law. Dies mag für den Fall der Vereinigten Staaten seinen besonderen Grund in der Verfassungsrechtslage haben, die es dem Supreme Court ermöglicht, in weit wirkungsvollerer Weise als die englischen und kanadischen Gerichtshöfe die Tätigkeit der Verwaltung zu kon-

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trollieren. Das 14. Amendment sieht vor, daß kein Bürger ohne due process oflaw seines Lebens, seiner Freiheit oder seines Eigentums beraubt werden dürfe; und diese Verfassungsbestimmung wird vom Obersten Gerichtshof zur Grundlage einerrigorosen Überprüfung der Verwaltungsgesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit gemacht. Die englischen und kanadischen Referate haben gezeigt, daß angesichts der umfassenden Ermächtigungsklauseln der Gesetze den Gerichten eine Überprüfung der Verwaltungsentscheidungen und der Verordnungen kaum möglich ist. Die geltende Regel der Souveränität des Parlamentes erlaubt keine Überprüfung der Ermächtigungsgesetze selbst an einer höheren Norm. In den Vereinigten Staaten steht über dem Gesetz die Verfassung und an Stelle der Parlamentssouveräntität hat sich die Institution der Gerichtssouveränität entwickelt. Aus der Kombination dieser zwei Elemente hat sich die amerikanische Kontrolle der Verwaltungsgesetzgebung ergeben, die durch viele Jahrzehnte, wie wir eingangs andeuteten, praktisch einer Vernichtung aller sozialreformerischen Gesetzgebung gleichkam; erst nach 1910 ist eine deutliche und zunehmende Milderung in der Haltung des Obersten Gerichtshofes bemerkbar und eine allmähliche Wendung von den starren Rechtsbegriffen des klassischen Liberalismus zu einer Interpretation des 14. Amendments, die sich mit den sozialpolitischen Forderungen der nationalen und der einzelstaatlichen Parlamente besser verträgt. Prof. Franklin befaßt sich nicht näher mit der tatsächlichen Ausgestaltung der Institutionen auf dem Gebiete des Verwaltungsrechtes (und es dürfte auch unmöglich sein, auf wenigen Seiten generelle Züge einer so bunten Fülle von Rechtsformen zu geben), sondern begnügt sich mit einer besonders eingehenden Durcharbeitung der Gründe, die das Entstehen eines ausgedehnten Verwaltungsrechtes nötig machten. Außer den allgemeinen Gründen der neuen Rechtsprobleme des Industrialismus war für die Entstehung des Verwaltungsrechtes nach der Meinung des Referenten das Versagen des Common Law Courts in zwei Beziehungen wesentlich: Einmal erwies sich die Richterschaft als unfähig, die Common Law-Begriffe, die ihre letzte entscheidende Formung durch die Naturrechtstheorien des 18. Jahrhunderts bekommen hatten, mit der nötigen Geschwindigkeit den Bedürfnissen einer Gesellschaft entsprechend zu transformieren, die sich dem Sozialismus zuneigte. So wurde z.B. die Verschuldenstheorie, welche die Grundlage für Schadenersatzansprüche von Arbeitern aus Industrieunfällen war, nicht ersetzt durch eine Theorie der Ausdehnung der Unterneh-

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merhaftung, obwohl ältere historische Materialien zur Begründung dieser Wandlung vorgelegen hätten, zweitens aber hätten die Gerichte nicht eine Theorie gefunden, welche die Individualisierung des strikten Common Law entsprechend den modernen Problemen ermöglicht hätte. Darüber hinaus erforderten die neuen Situationen technische Kenntnisse, die keiner der alten Common Law Courts, auch wenn er seine Begriffe gewandelt hätte und sich seiner methodischen Probleme voll bewußt gewesen wäre, besaß. „Administrative law has given what the traditional law has pretended that it would not give: new precepts and individualization of adjudication. With the decline of certainty as the end of law the unique elements of juridical life have come to the fore. Conventional courts have failed to take account avowedly of these elements, and these new institutions have been created." Professor Franklin interpretiert das Versagen der Gerichtshöfe als Symptom der allgemeinen Erscheinung des Übergangs aus der amerikanischen Pionierperiode, nach deren demokratischem Ideal jedermann zu allen Leistungen des Lebens befähigt war, zu einer neuen Periode arbeitsteiliger staatssozialistischer Gesellschaft. Die Gerichte versagen nicht nur gegenüber den Problemen, die von der Verwaltung bewältigt werden, sondern die steigende Spezialisierung treibt innerhalb der gemeinrechtlichen Sphäre einem Zustand entgegen, in dem der einzelne Richter nicht mehr die gesamte Rechtsmaterie beherrschen kann. Der Referent spricht von der „accomodation of democracy to the existence of the expert". Und er sieht in aller Klarheit das Problem, das im englischen Report völlig, im kanadischen sehr stark zurücktrat - das Problem der Gesetzestechnik, das die Frage des Rule of Law in den Schatten zu stellen bestimmt ist. Wir haben einzusehen, „that the task of legislation is paramount in this century, and that the pressure of needs calls for general formulation by a general legislature and a subsidiary complementary formulation by executive specialists, working out the standards set". „This need for the socialisation of society has been entrusted to administrative law, which has undertaken a task that the ordinary courts will not assume." Zusammenfassend ist festzustellen, daß die vorliegenden Berichte über die Verwaltungssysteme von England, Frankreich, den Vereinigten Staaten von Amerika, Canada, den Niederlanden und Österreich in bezug auf das Verwaltungsproblem nicht mehr die herkömmliche Gliederung der Staatenwelt in eine kontinentaleuropäische und in eine anglo-amerikanische Staa-

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tengruppe zulassen. Umso weniger ist aber eine solche zweigliedrige Gruppierung zulässig, wenn man die bunte Fülle von Staaten in die Untersuchung einbezieht, über die keine Berichte vorliegen. Das Vorbild der sogenannten kontinental-europäischen Staatengruppe, als das Frankreich gilt, wurde nämlich hinsichtlich gewisser Grundzüge seiner Verwaltung von anderen europäischen Staaten überboten, wie z.B. auch die parlamentarische Regierungsweise vereinzelt, namentlich in der österreichischen Bundesverfassung, wesentlich radikaler durchgebildet wurde, als in deren Ursprungsländern. Dagegen gibt es verschiedene europäische Staaten, die dem französischen Vorbild nur zögernd gefolgt sind oder es bewußt abgelehnt haben, was wohl in keinem Staate so deutlich wie in der russischen Sowjetrepublik zutage tritt. Aber auch die englischen Verwaltungseinrichtungen haben auf amerikanischem Boden nicht unbedingte Nachahmung gefunden. Insbesondere weist die nordamerikanische Union gewisse Züge des kontinental-europäischen Verwaltungssystemes auf, ja selbst die englische Verwaltung nähert sich mit der Ausbildung eines Verwaltungsrechtes und einer Verwaltungsrechtsprechung dem sogenannten kontinentalen Verwaltungstypus an. Für eine das gesamte Erfahrungsmaterial der heutigen Staatenwelt erfassende Untersuchung ergibt sich jedenfalls eine viel reichere Gliederung der Verwaltungstypen, als sie durch den Gegensatz zwischen dem régime administratif und dem rule of law begründet wird. Auch zeigt sich, daß der Gegensatz der Verwaltungseinrichtungen zweier Staaten, die sich in diesem Punkte unterscheiden, bei weitem nicht so tief geht, wie der Gegensatz, der durch manche andere rechtliche Differenzen begründet wird. Noch immer pflegt aber die Staats- und Rechtslehre den Gegensatz zwischen diesen beiden Verwaltungstypen, den man weniger verallgemeinernd den englischen und französischen nennen mag, zu überschätzen und ihn zur Grundeinteilung der staatlichen Verwaltungsordnungen zu verwerten. Die empirisch feststellbaren Unterschiede zwischen den Verwaltungsordnungen der einzelnen Staaten lassen sich, wenn man sie großzügig kategorisiert, vielleicht auf drei Hauptwurzeln zurückführen. 1.) Die Unterschiede in der Staatsform wirken sich nicht bloß in der Gesetzgebung, sondern auch in der Verwaltung aus; dies leuchtet ein, wenn man sich vergegenwärtigt, daß auch die Verwaltung nicht anders als die Gesetzgebung ein Weg staatlicher Willensäußerung ist. Bekannt ist der

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Gegensatz zwischen polizeistaatlicher und rechtsstaatlicher Verwaltung, wie er zwischen den west- und mitteleuropäischen Staaten des 18. und eines verschieden langen Abschnittes des 19. Jahrhunderts einerseits, der jüngsten Vergangenheit andererseits besteht, oder der Gegensatz zwischen der Verwaltung demokratisch-parlamentarischer Staaten einerseits, autokratischdiktatorischer Staaten andererseits. Es bedarf keiner Begründung, daß der Abstand zwischen der Verwaltung des gegenwärtigen Frankreich und der des Frankreich der Ludwige, des ancien régime , oder zwischen der Verwaltung des heutigen Frankreich und des heutigen Rußland, größer ist als der zwischen der Verwaltung Englands und Frankreichs von heute. Die Strukturunterschiede der Verwaltung, die in gegensätzlichen Staatsformen begründet sind, greifen also tiefer als die inhaltlichen Utnerschiede in bezug auf die Technik des Rechtsschutzes des Untertanen gegenüber der Verwaltung, worauf sich der Gegensatz zwischen sogenanntem régime administratif und rule of law zurückführen läßt. 2.) Nebst der Verschiedenheit der Staatsformen bedingt auch die Verschiedenheit des Staatszweckes Verschiedenheiten der Verwaltung, weil sich die Schwankungen der politischen Grundrichtung, z.B. der Wechsel zwischen individualistischer und kollektivistischer Staatsauffassung und zwischen expansivem und limitierndem Staatszweck nirgends so wie in der Verwaltung ausprägt, so daß man geradezu sagen könnte, die Verwaltung sei das Barometer der herrschenden politischen Kräfte und Spannungen. Und auch in diesem Falle läßt sich wiederum sagen, daß es einen tieferen Unterschied in der Verwaltung ausmacht, ob sie ihren Hauptzweck in der Ordnungsbewahrung hat und somit vorwiegend obrigkeitlich, besonders polizeilich vorgeht, oder ob sie sich in dem Maße zivilisatorischen und kulturellen Aufgaben zugewendet hat, daß die obrigkeitlichen Verwaltungstätigkeiten geradezu nur als unvermeidliche Hilfstätigkeiten für darüber hinaus liegende Verwaltungszwecke erscheinen. In dieser Hinsicht besteht beispielsweise zwischen der vorwiegend liberal-individualistisch eingestellten französischen und englischen Verwaltung einerseits, der deutschen und österreichischen Verwaltung andererseits, welch letztere unter den sogenannten kapitalistischen Staaten Europas wohl den stärksten staatssozialistischen Zug aufweisen, ein größerer Abstand, als jener, der etwa zwischen der englischen Verwaltung einerseits, der französischen und österreichischen andererseits aus dem Grunde besteht, weil diese kontinentalen Verwaltungen dem rule of law nicht entsprechen.

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3.) Endlich ergeben sich Unterschiede in den Verwaltungsordnungen der verschiedenen Staaten aus dem unterschiedlichen Verhältnis der Verwaltung zu den anderen Staatsgewalten, nämlich zur Legislative und zur Justiz. Dieses Verhältnis kann, auf die einfachste Formel gebracht, die Beziehung der Koordination und der Subordination sein. Hieher gehört der in Rede stehende Unterschied zwischen dem rule of law und dem entgegengesetzten Verwaltungstypus, der sich wiederum in verschiedenen Erscheinungsformen, namentlich den französischen einerseits, den deutsch-österreichischschweizerischen andererseits gliedert. Die zuletzt genannte Variante des régime administratif tritt uns literarisch beispielsweise in den Werken Institutionen des Verwaltungsrechtes von Fritz Fleiner (Verlag Mohr, Tübingen), Deutsches Verwaltungsrecht von Walter Jellinek (Verlag Springer, Berlin) und Allgemeines Verwaltungsrecht von Adolf Merkl (Verlag Springer, Wien) entgegen. Die vorstehenden Ausführungen sollten durch die Aufdeckung der verschiedenen Wurzeln der Abweichungen zwischen den einzelstaatlichen Verwaltungsverordnungen der Einsicht dienen, daß mit den in den vorliegenden Berichten behandelten Verwaltungstypen nur zwei bestimmte Verwaltungstypen behandelt wurden, neben denen es zahlreiche andere, durch sonstige Merkmale gekennzeichnete Verwaltungstypen gibt, und daß der hier vorzugsweise behandelte neben sonstigen möglichen Unterschieden relativ zurücktritt. Was nun Wert oder Unwert, Vorteile und Nachteile der miteinander verglichenen Verwaltungstypen betrifft, möchten wir, wiewohl uns in Anbetracht unserer heimischen Einrichtungen der französische Typus näherliegt, doch auch die Vorteile und damit die volle Existenzberechtigung der englisch-amerikanischen Verwaltungseinrichtungen innerhalb ihres nationalen Rahmens umso weniger bestreiten, als sie ja vollkommen dem alten deutschen Ideal des Justizstaates entsprechen, wie es in der Verfassung der Frankfurter Paulskirche (1848) kodifiziert wurde. Nur das müßten wir im Einklang mit den vorzüglichen und überzeugenden Ausführungen des Herrn Professors Lafarrière entschieden bestreiten, daß dem Schutz des Individuums vor Übergriffen der Verwaltung ausschließlich das System des rule of law zu dienen vermöge, während die Selbständigkeit der Verwaltung gegenüber der ordentlichen Gerichtsbarkeit den Untertan der Willkür der Verwaltung ausliefere. Es ist Herrn Lafarrière unbedingt beizupflichten, daß solche

Le régime administratif. Avantages et inconvénients. Rapport général

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Erfahrungen mit unserem Verwaltungssystem, - falls es sich wirklich um Erfahrungen und nicht um bloße Vorurteile handelt, - nicht im System sondern in Mängeln seiner Durchführung begründet sind. Wir dürfen wohl unter Hinweis auf den Bericht über die österreichische Verwaltung behaupten, daß mit der restlosen Durchführung des Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung, wonach alle Verwaltungstätigkeiten inhaltlich vom parlamentarisch erzeugten Gesetz vorgezeichnet sein müssen, ferner mit einem Verwaltungsprozeßrecht, das dem Staatsbürger die gleichen Mitwirkungsrechte und Sicherheiten gibt wie ein Gerichtsprozeß, endlich mit einer Kontrolle der Verwaltungsbehörden durch der Regierung gegenüber unabhängigen Spezialgerichten denselben Zwecken wie durch den rule of law, aber in einer unter Umständen wirksameren Weise gedient ist. Auch die Länder des rule of law werden vielleicht diese fremden Einrichtungen in umso größerem Umfange sich zu eigen machen, je weiter sie ihre Verwaltungsaufgaben ausdehnen, weil die bloß repressiven und nicht präventiven Einrichtungen des rule oflaw und die mangelnde Sachkenntnis des ordentlichen Richters den neuen Verwaltungsaufgaben kaum gewachsen sein werden. Übrigens ist es durchaus nicht unerwünscht, wenn verschiedene Verwaltungssysteme in verschiedenen Staaten nebeneinanderbestehen. Das Recht wie alle Erzeugnisse der nationalen Kultur sollen urwüchsig und bodenständig, aus der nationalen Tradition erwachsen und den nationalen Bedürfnissen angepaßt sein. Nicht immer ist nationale Uniformierung, sondern oft nationale Differenzierung Zeichen des kulturellen Fortschrittes.

Die Verwaltungslehre des neuen Deutschland1 Die Erfahrungstatsache, daß jedes politische System eine ihm zugeordnete, im eigentlichsten Sinn des Wortes kongeniale Sozialwissenschaft und im besonderen Rechtswissenschaft hat, bestätigt sich nach den geschichtlichen Erprobungen am Konservativismus, Liberalismus, Sozialismus usw., neuerdings auch am Faschismus und Nationalsozialismus. In dieser Anpassung der vorherrschenden Soziallehre und Rechtslehre an die herrschende politische Lage erweist sich der Selbstbetrug behaupteter „ Voraussetzungslosigkeit" mancher Sozialwissenschafter, die bewußt oder unbewußt meist die Tatsachenlage legitimierende Funktion der Sozialwissenschaft. Ein Unterschied zwischen der heutigen und der jüngst vergangenen Epoche deutscher Rechtswissenschaft äußert sich nur darin, daß die Voraussetzungslosigkeit in politischer Hinsicht, die ehedem wenigstens Programm war, bewußt und ehrlich von einer arteigenen neuen Rechtswissenschaft, die das

Österreichisches Verwaltungsblatt, 7. Jg. (1936), S. 228-234, 245-259. 1 Zur ersten Orientierung über die Verwaltungslehre des neuen Deutschland dienen die Werke: Otto Koellreutter, Grundriß der Allgemeinen Staatslehre, Deutsches Verfassungsrecht, Deutsches Verwaltungsrecht; Otto von Köhler, Grundlehren des deutschen Verwaltungsrechts; Arnold Köttgen, Deutsche Verwaltung; Meißner-Kaisenberg, Staats- und Verwaltungsrecht im Dritten Reich; Maunz, Neue Grundlagen des Verwaltungsrechts, Jerusalem, Das Verwaltungsrecht und der neue Staat; Die Verwaltungsakademie, ein Handbuch für den Beamten im nationalsozialistischen Staat, hgg. von Lammers und Pfundtner unter Mitwirkung von Koellreutter. - An Fachzeitschriften über die Verwaltung des heutigen Deutschland sind in erster Linie zu nennen: Deutsche Verwaltung, hgg. von Stuckart, Deutsche Verwaltungsblätter, hrsg. von Kollmann, Jahrbuch des öffentlichen Rechts, hrsg. von Koellreutter, Reichsverwaltungsblatt, hrsg. von Mirow, Lammers, Pfundtner, Koellreutter; Medicus, Verwaltungsarchiv, hrsg. von Koellreutter, Lammers, Pfundtner, Mirow, Medicus. Als Vertreter der älteren „liberalen" Verwaltungslehre werden ständig zitiert: Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht; Fritz Fleiner, Institutionen des deutschen Verwaltungsrechtes; Walter Jellinek, Verwaltungsrecht. - Österreichische Verfasser werden in der enzyklopädischen verwaltungsrechtlichen Literatur des Dritten Reiches nicht mehr zitiert. - Eine neutrale und überaus objektive Würdigung der nationalsozialistischen Staatsauffassung und damit auch der auf ihr beruhenden Verwaltungseinrichtungen bietet Professor Roger Bonnard (Bordeaux) in seinem neuesten Werk ,,Le droit et l'Etat dans la doctrine nationale-socialiste".

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III.A. Verwaltungsrecht

Bestehende restlos aus der Staats- und Rechtsidee heraus legitimieren will, ersetzt worden ist, und daß mit dieser Klärung des Zieles sozialwissenschaftlicher Erkenntnis eine Gleichschaltung derselben parallel geht, die der vergangenen Epoche gefehlt hat. Denn ein meist ehrlich gemeintes, wenn auch nicht folgerichtig verwirklichtes Programm politischer Voraussetzungslosigkeit, wie es der deutschen Rechtswissenschaft bis in die jüngste Vergangenheit eigentümlich war, gibt eben doch mehr Richtungsunterschieden, nicht nur verschiedenen Graden und Tonarten der Legitimierung, sondern auch der Diskreditierung der bestehenden staatlichen Einrichtungen, Raum. Was die neueste Kritik etwas schablonenhaft als (ihr vermeintlich polar entgegengesetzte) „liberale Staats- und Rechtslehre" bezeichnet, ist in Wirklichkeit nichts weniger als uniform, sondern eine bunte Fülle mehr oder weniger politikfreier und politikerfüllter Theorien, die gemäß der Toleranz (heute sagt man Neutralität) des mehr oder weniger liberalen Staates verschiedene politische Ideologien rein oder gemischt widerspiegeln und zwischen der Bejahung des liberalen Staates und einer unverkennbaren Forderung des autoritären und totalen Staates abgestuft sind. Wenn trotz dieser heterogenen ideologischen Unterbauung, trotz mancher Outsider eine gewisse Einheitlichkeit auch innerhalb der im liberalen Staat gepflegten Sozialwissenchaft wahrzunehmen ist, so erklärt sich dies weniger aus einer systemfremden oktroyierten Gleichschaltung als aus einer freiwilligen Angleichung der Rechtswissenschafter, die geistige Isolierung scheuen. Unleugbar hat die Verwaltungslehre des Dritten Reiches im Vergleiche mit jener des zweiten Reiches eine stärker betonte nationale Note bekommen, denn die Verwaltungslehre des zweiten Reiches war unter starkem Einfluß der französischen Verwaltungslehre gestanden, die ihr geradezu als Lehrmeisterin gedient hatte, während sich die heutige Verwaltungslehre von jedem fremdnationalen Einfluß lossagt. Selbst dieser Unterschied zwischen alter und neuer Verwaltungslehre wird jedoch durch die Einsicht verkleinert, daß die ältere deutsche Verwaltungslehre das traditionelle deutsche Justizstaatsideal mit seinen theoretischen Folgerungen durchaus nicht vom Vorbild des französischen Verwaltungsstaates überwuchern ließ und dem romanischen Etatismus betonte Schranken aus der germanischen Idee des Rechtsstaates gezogen hat, daß dagegen auch die gegenwärtige Verwaltungslehre bei aller betonten und tatsächlichen Eigenständigkeit doch auch ausländische Gegenstücke hat. Man kann also die alte und neue Verwaltungslehre nicht einfach auf die Formel „undeutsch" und „deutsch" bringen.

Die Verwaltungslehre des neuen Deutschland

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I. Die Abgrenzung des Verwaltungsbegriffes Jede Verwaltungstheorie, die sich gegen die Vergangenheit abzugrenzen unternimmt, muß sich über das Wesen und die Grenzen ihres Gegenstandes Klarheit verschaffen. Die Geschichte des Verwaltungsbegriffes würde es sogar begreiflich erscheinen lassen, daß er mehr als es in Wirklichkeit geschehen ist, problematisch geworden wäre. Denn die systematische Aussonderung der Verwaltung aus dem Gefüge der Staatstätigkeit ist bedingt durch jene rechtliche Zäsur zwischen den Staatsfunktionen und den mit diesen Funktionen befaßten Staatsorganen, die man Gewaltenteilung nennt. Diese rechtliche Zäsur ist aber wenigstens in der Neuzeit Forderung und Erfüllung einer individualistischen, und zwar der liberalen Ideologie, so wie sie in klassischer Weise der Vater des französischen Liberalismus Baron Montesquieu geprägt hat. In der Tat haben die neuen autoritären Staaten Europas die organisatorische Scheidung zwischen Gesetzgebung und Verwaltung, die, allerdings von der parlamentarischen Demokratie durchaus nicht rein beibehalten worden war, bis zur Unkenntlichkeit verwischt, indem nicht, wie in der parlamentarischen Demokratie, die Gesetzgebungsorgane an der Verwaltung beteiligt werden, sondern umgekehrt die bisherigen Verwaltungsorgane auch die überragende Rolle in der Gesetzgebung zu spielen berufen wurden. (Ausschließliche oder fakultative Regierungsgesetzgebung) Akte des nämlichen Organes werden heutzutage als Gesetze oder Verordnungen, also als Erscheinungen der Legislative oder Administrative nach dem höchst willkürlichen Merkmal unterschieden, daß sich die einen als Gesetze, die anderen als Verordnungen bezeichnen, während sich die Verfahren zur Erzeugung dieser Akte bis auf geringe Formunterschiede gleichen. Auch die neue Verwaltungslehre begnügt sich aber offenbar mit dem Kriterium, daß gewisse Akte ohne Rücksicht auf das gleichartige Verfahren und den gleichartigen Inhalt von ihren Urhebern als Gesetze oder Verordnungen bezeichnet werden, um sie an Hand dieses sprachlichen Kriteriums der Legislative oder Administrative zuzuordnen, beispielsweise die Akte der Regierungsgesetzgebung der Gesetzgebung, Akte aus dem Titel der Notrechte sogar dann, wenn sie verfassungsändernden Inhaltes sind, der Verwaltung. Man kann sich freilich keine größere Gewaltenkonfusion vorstellen als in der Annahme verfassungsändernder Verwaltungsakte zutage tritt. Halbwegs deutlich hebt sich im autoritären Staat nur noch die Gerichtsbarkeit von der übrigen Staatstätigkeit ab, wofern, wie es in Mitteleuropa in der Tat der Fall ist, die richterliche Unabhängigkeit, übrigens auch ein

III.A. Verwaltungsrecht

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Erbstück des Liberalismus, erhalten geblieben ist. Deren Konservierung ist übrigens in extrem autoritären Staaten nur der Absicht zuzuschreiben, die Idee des Rechtsstaates, die man letzten Endes in der richterlichen Unabhängigkeit verwirklicht sieht2, nach Möglichkeit festzuhalten. Aus dem hier angeschnittenen Problemkreise des Wesens der Verwaltung und ihres begrifflichen Verhältnisses zur übrigen Staatstätigkeit wird der Verwaltungslehre des neuen Deutschland fast nur die Unterscheidung der öffentlichen Verwaltung von der freien gesellschaftlichen Tätigkeit und von der öffentlichen Wirtschaft zum Problem. Die Problematik des Verhältnisses von Verwaltung und freier gesellschaftlicher Tätigkeit ergibt sich daraus, daß „an die Stelle jener voraussetzungslosen Berufsausübung, von der der Liberalismus auch im Falle des staatlich gebundenen Berufs ausging, die in der Voraussetzung der völkischen Zugehörigkeit gebundene Berufsausübung getreten ist". 3 Kein Zweifel, nicht bloß der „beliehene Unternehmer" von der Art eines privaten Konzessionärs, sondern überhaupt der private Unternehmer wird vom nationalistischen Recht und, wenn schon nicht vom Recht, so von der politischen Ideologie jedes totalitären Staates dem Staate beträchtlich angenähert, zur Disposition des Staates gestellt. Dies ist gewissermaßen der Preis, um den die als grundsätzlich wünschenswert erkannte Privatinitiative im Einzelfalle toleriert wird, denn wenn auch ,,der heutige Staat entscheidendes Gewicht auf die Eigeninitiative legt, so ist damit immer an eine verantwortliche Eigeninitiative gedacht, die sich aus der substanzmäßigen Bindung an die Volksgemeinschaft heraus vollzieht" 4 . Doch trotz dieser Annäherung von öffentlichem Amt und privatem Beruf wird richtig an der Unterscheidbarkeit und Unterschiedlichkeit der beiden Bereiche festgehalten. ,,Der gebundene Beruf ist nicht eine Abart des Staatsamts. Hieran darf auch der Umstand nicht irremachen, daß die allgemeine Disziplinarformel des Beamtenrechts in diesen standesgerichtlichen Ordnungen häufig wiederkehrt" 5. Denn wenn auch einerseits der Berufsge-

2

Koellreutter, Staatslehre, S. 255 f.

3

Köttgen, a.a.O., S. 155.

4

Köttgen, a.a.O., S. 164.

5

Ebenda, S. 156/7.

Die Verwaltungslehre des neuen Deutschland

377

nosse als solcher gewissermaßen Organ der Volksgemeinschaft geworden und dem Staat angenähert ist, so ist andererseits der Staat ganz entprivatisiert und ungewöhnlich vom Einzelnen distanziert. ,,Heute, wo der Staat als solcher wieder auf eine tragfähige geistige Basis gestellt worden ist, und wo damit die Einzigartigkeit dieses Staates im Vergleich zu aller lediglich privaten Existenz außer Zweifel steht, kann über die Besonderheit öffentlicher Verwaltung schwerlich ein Zweifel bestehen." Der juristisch faßbare Unterschied zwischen der Tätigkeit einer öffentlichen Körperschaft und eines gewissermaßen im Dienste der Völksgemeinschaft stehenden Volksgenossen beschränkt sich aber doch auf die Tatsache, daß diese Tätigkeit zwei verschiedenen Rechtssubjekten zuzurechnen ist. Wenn sich auch die Funktionsweise des neuen Staates grundlegend von jener des neutralen Staates unterscheiden will, „der als solcher über keinerlei spezifisch staatliche Würde mehr verfügen konnte", und daher „schlechterdings nicht mehr in der Lage (war), seiner Verwaltungsarbeit gegenüber gegenständlich gleichartigen Verrichtungen privater Personen eine eigentümliche Note zu verleihen" 6 , so wird damit ein juristisch nicht faßbarer Unterschied angedeutet, also keinerlei juristisches Unterscheidungsmerkmal geboten. Dasselbe wie für diesen funktionellen Unterscheidungsversuch zwischen der Tätigkeit privater und öffentlicher Rechtssubjekte gilt aber auch von der neuen Zäsur, die zwischen staatliche Tätigkeiten gelegt wird, die bisher von der Verwaltungslehre gemeiniglich der Verwaltung zugerechnet worden sind. Das Neue an der Umschreibung der Verwaltung besteht darin, daß sie nicht bloß zu jeder privaten Tätigkeit, insbesondere zur privaten Wirtschaft, sondern selbst zur staatseigenen Wirtschaft in Gegensatz gestellt wird. „„Verwaltung", so sagt Arnold Röttgen, läßt sich eben in ihrer Besonderheit gegenüber aller „Wirtschaft" nicht dem äußeren, sondern allein dem inneren Bestand nach scheiden." Und in einer Fußnote wird beigefügt, „dies gilt insbesondere auch im Hinblick auf den komplizierten Sachverhalt staatseigener Wirtschaft" 7. Wirtschaftsbetriebe hat bekanntlich der Staat schon zu einer Zeit geführt, als die als liberal abgezeichnete deutsche Verwaltungslehre den Begriff der Verwaltung in der bekannten negativen Weise als die Staatstätigkeit, die weder Gesetzgebung noch Gerichtsbarkeit ist, umschrieben hat.

6

Röttgen, a.a.O., S. 11.

7

A.a.O., S . l l .

378

III.A. Verwaltungsrecht

Bei aller kasuistischen Suche nach Staatsfunktionen, die sich nicht in eine der drei herkömmlichen Staatsgewalten reihen ließen, ist aber keinem Staats- oder Verwaltungstheoretiker die staatliche Wirtschaftsbetätigung begegnet. Wenn beispielsweise Otto Mayer verfassungsrechtliche Hilfstätigkeiten, Außenverwaltung und Kriegführung aus seinem Verwaltungsbegriffe ausgeschieden hat8, so ist kein Zweifel geblieben, daß staatliche Wirtschaftsbetriebe in seinem Restbegriffe der Verwaltung ihren systematischen Ort finden. Infolge der Zweiteilung des Inhaltes dieses herkömmlichen Verwaltungsbegriffes in Verwaltung im engeren Sinn - nach Köttgen überhaupt nur „Verwaltung" - und in Wirtschaft gliedert sich die gesamte Staatstätigkeit nach der neuen Lehre unvermeidlich in vier Funktionsbereiche, unter denen einer eben - auf gleichem Fuße mit Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung - die staatliche Wirtschaft, nicht zu verwechseln mit der Staatswirtschaft gleich Finanzwirtschaft, ist. Die neue Verwaltungslehre zögert, auch diesen Funktionsbereich einer besonderen Staatsgewalt zu subsumieren, wie es etwa die ältere Lehre mit der der Staatsverwaltung gegenübergestellten Selbstverwaltung, insbesondere Gemeindeverwaltung, vermittels des Begriffes des pouvoir municipal getan hat; und zwar wohl aus dem naheliegenden Grunde, weil zumindest in staatlicher Wirtschaft keine über die übrigen Rechtssubjekte hinausgehobene Autorität in Erscheinung tritt. Wodurch unterscheidet sich nun aber Wirtschaft von Verwaltung des Staates, zumal, soweit sich auch diese nicht des Befehls und Zwanges bedienen? „ U m eine bestimmte Aufgabe der Verwaltung zurechnen zu können, kommt es entscheidend nicht darauf an. um welches Arbeitsgebiet es sich jeweils handelt, sondern allein auf die Haltung, aus der heraus die betreffende Arbeit in Angriff genommen wird. ... Verwaltung wird zur Verwaltung allein durch eine besondere geistige Haltung. Verwalten heißt eben nicht allein diese oder jene Aufgabe sachgemäß erledigen, sondern die Erledigung dieser Aufgaben aus jener besonderen geistigen Substanz heraus, die den Staat als ausschließlichen Träger aller öffentlichen Verwaltung trägt" 9 . Nach diesem Kriterium Verwaltung und Wirtschaft unterscheiden zu wollen, kann man sich nur darum erlauben, weil das positive Recht diesen Unterschied nicht kennt, d.h. für jene Staatstätigkeiten, die hier als Verwal-

o 9

Mayer, Deutsches Verwaltungsreclit, 3. Aufl., 1. Bd. Köttgen, a.a.O., S. 11.

Die Verwaltungslehre des neuen Deutschland

379

tung und Wirtschaft auseinandergehalten werden, keine verschiedenen Rechtssätze aufstellt. Würde eine Rechtsordnung den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit für die ganze staatliche Verwaltung aufstellen, - wie es beispielsweise der Artikel 18 der österreichsichen Bundesverfassung 1920 und nach deren Vorbild der Artikel 9 der Verfassung 1934 getan hat - so wäre es an der Hand des vorstehenden Kriteriums fast vergeblich, den Geltungsbereich des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit von jenem Nachbarbereiche abzugrenzen, der als Wirtschaft von der verfassungsmäßigen Ordnung für die Verwaltung ausgenommen ist. Denn die Frage der Zugehörigkeit irgend einer Staatstätigkeit zur Verwaltung oder zur staatseigenen Wirtschaft wird zu einem psychologischen Problem gemacht, wenn die geistige Haltung, also die psychische Einstellung des Handelnden zur augenblicklichen Tätigkeit entscheidend für die Zugehörigkeit einer Tätigkeit zu Verwaltung oder Wirtschaft ist. Man wird mit bestem Grund vom Beamten verlangen dürfen, daß er die übertragene Verwaltungsarbeit mit anderer altruistischer Einstellung und mit sozialem Verantwortungsbewußtsein leiste - zum Unterschied vom privaten Unternehmer - , aber diese Erwartung wird auch auf dem Gebiet erwerbswirtschaftlicher Betätigung gehegt werden dürfen, damit die staatseigene Wirtschaft doch etwas der erwerbswirtschaftlichen Natur entkleidet werde; wenn aber diese Erwartung im Einzelfall vom Handelnden enttäuscht wird, darf man doch nicht daraus folgern, daß die Handlung überhaupt nicht der staatlichen Verwaltung zuzurechnen sei. Wenn aber diese bestimmte geistige Haltung einerseits nicht auf die im engeren Sinn sogenannte Verwaltung beschränkt, anderseits in diesem Bereiche nicht ausnahmslos anzutreffen ist, darf der Begriff der Verwaltung nicht durch dieses psychische Merkmal ausgedrückt werden. Wenn ein führender Vertreter der neuen Verwaltungslehre selbst zugibt, daß sich ,,diese Unterscheidung zwischen öffentlicher Verwaltung und öffentlicher Wirtschaft ... nur sehr schwer begrifflich faßbar machen läßt" 10 , so gibt dieser Autor damit selbst die Unhaltbarkeit des bisher besprochenen Unterscheidungsversuches zu. Und es ist darüber hinaus eine wertvolle Einsicht, ,,daß der Unterschied zwischen Wirtschaft und Verwaltung nicht irgendwie in dem objektiven Bestand begründet liegt" 11 . Objektiv lasse sich allein die

10

Röttgen, a.a.O., S. 137.

11

Ebenda.

380

III.A. Verwaltungsrecht

Eingriffsverwaltung (ich habe diese Form der Verwaltung interventionistisch genannt) von einer Wirtschaft, der solche herrschaftlichen Möglichkeiten fehlen, unterscheiden, dagegen versage dieses Kriterium regelmäßig im Falle der Anstaltsverwaltung. Gemeint ist - in der österreichischen Terminologie gesprochen - , daß sich zwar die Hoheitsverwaltung durch das Merkmal des Imperium von nicht obrigkeitlicher Anstaltsverwaltung unterscheiden lasse, daß sich aber nicht obrigkeitliche Anstaltsverwaltung und wirtschaftliche Eigentätigkeit der öffentlichen Körperschaft fast ununterscheidbar gegenüberstünden. Beispielhaft gesprochen steht in Frage: wie lassen sich etwa ein staatlicher Schulbetrieb oder Krankenhausbetrieb von einem staatlichen Bahnbetrieb, Bergwerks- oder Forstbetrieb derart unterscheiden, daß jene staatlichen Betätigungen zusammen mit der Polizei und Abgabenverwaltung noch zur Verwaltung zu rechnen sind, die zuletzt genannten Betätigungen jedoch nicht? Auf dieses Problem bleibt aber die neue Verwaltungslehre eine schlüssige Antwort schuldig. Gewiß, der neue Staatsmythos macht es manchem seiner Vertreter schwer, zuzugeben, daß der Staat auf das Niveau eines gewöhnlichen Industriellen, Gewerbetreibenden, Handeltreibenden „herabsteigt", die Tatsachen beweisen aber, daß er es dennoch tut - übrigens ohne seiner Würde etwas zu vergeben. Der Versuch einer neuen Abgrenzung der Verwaltung von sonstiger gesellschaftlicher und staatlicher Tätigkeit vermag wohl die überkommene Begriffsbestimmung der Verwaltung nicht zu erschüttern; demzufolge gehören wirtschaftliche Tätigkeiten, die als solche des Staates zu erkennen sind, weil sie weder der Gesetzgebung noch der Gerichtsbarkeit zuzurechnen sind, ohne Rücksicht auf die geistige Einstellung der handelnden Organe zur Verwaltung, und zwar im besonderen zur privatwirtschaftlichen Verwaltung, und unterliegen somit allen Rechtsgrundsätzen, die für die Verwaltung schlechthin aufgestellt sind, in Österreich also insbesondere dem Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung (Art. 9 Verfassung 1934). I I . Verwaltung und Verwaltungsrecht Die Annahme von Rechtsquellen der Verwaltung, genauer und richtiger von Rechtsquellen des Verwaltungsrechtes, ist nur unter der Voraussetzung sinnvoll, daß die Verwaltung an das Recht gebunden, anders gesehen, die Vollziehung von ihr zugeordnetem Recht ist, das nach dem Zweige der Staatstätigkeit, den es, juristisch genommen, beherrscht, und dem es, soziologisch gesehen, dient, Verwaltungsrecht heißt. Diese Herrschaft des Rech-

Die Verwaltungslehre des neuen Deutschland

381

tes wird aber im neuen Staate durch zwei seiner Eigentümlichkeiten fraglich: durch den Vorrang einer politischen Idee über alles Recht, das nur als Instrument dieser Idee Daseinsberechtigung, ja Geltung hat, und durch das Führerprinzip, das die ungebundene und verantwortliche Entscheidung eines einzelnen im Einzelfalle zu bedingen scheint. In der Tat erscheint der Zusammenhang von Verwaltung und Verwaltungsrecht in der Verwaltungslehre des neuen Deutschland im Vergleich mit jener Lehre, die zeitlich mit dem konstitutionellen und demokratischen Staate zusammenfällt und als deren geistiger Ausfluß gilt, stark aufgelockert. Symptom dieser relativen Emanzipation der Verwaltung vom Verwaltungsrecht ist beispielsweise, daß Gegenstand des akademischen Studiums nicht mehr das Verwaltungsrecht, sondern die Verwaltung ist, die ja freilich dank ihrer teilweisen Bindung an Rechtssätze auch ein Verwaltungsrecht zum Problem macht. Während in der Verwaltungslehre des sogenannten liberalen Staates das Verwaltungsrecht - als Bedingung jeglicher Verwaltung - der primäre Begriff ist, wird im nationalsozialistischen Führerstaat, ähnlich wie es für den absoluten Polizeistaat zutrifft, wieder die Verwaltung zum primären Begriff, der als eine unter mehreren Determinanten der Verwaltung auch das Verwaltungsrecht zur Folge hat. Es ist bereits der Ausdruck eines intensiven Zusammenhanges von Verwaltung und Recht, wenn das logische Verhältnis dieser beiden Begriffe folgendermaßen dargestellt wird: „Anderseits kann aber auch heute der Einsatz der Staatsgewalt sich nicht in eine Unzahl beziehungslos nebeneinander stehender Einzelakte zersplittern. Es bedarf daher bestimmter Ordnungen, die ihrerseits einen geschlossenen staatlichen Einsatz erst möglich machen. Gewiß steht der Führerstaat zur Regel anders als der bürgerliche Rechtsstaat, aber auch er kann der Regel nicht entbehren. Dies gilt nicht überall gleichmäßig, gilt aber in gesteigertem Grade für die Verwaltung, die ohne eine feste institutionelle Ordnung überhaupt nicht gedacht werden kann. Diese Ordnung erhält die Verwaltung in Gestalt des Gesetzes, das also hienach unter die konstitutiven Faktoren der Verwaltung zu rechnen ist." 12 Gesetz ist in diesem Zusammenhang nur eine pars pro toto für Recht. An der wiedergegebenen Auffassung des Verhältnisses von Verwaltung und Recht fällt zweierlei auf: daß das Recht zwar immerhin konstitutiver Faktor, logisch gesprochen also Bedingung oder Vorausset-

12

Röttgen, a.a.O., S. 31.

382

III.A. Verwaltungsrecht

zung der Verwaltung, aber doch nur einer von mehreren als paritätisch gedachten Faktoren ist, die freilich nicht genannt werden, und wohl auch im System einer doch irgendwie als juristisch gedachten Verwaltungslehre keinen Platz hätten. Zum Unterschied von der letzten Einsicht der sogenannten liberalen Rechtslehre, daß die Abhängigkeit der Verwaltung wie jeglicher staatlicher Tätigkeit vom Rechte wesenhaft, d.h. in der Natur des Staates als eines Rechtsphänomens - sei es nun Rechtsperson oder was immer sonst von Rechtscharakter - begründet sei, wird in der neuen Verwaltungslehre die Abhängigkeit der Verwaltung vom Recht als nothaft, also im weitesten Sinn als Forderung der Zweckmäßigkeit gedacht, der somit in der Idee, wenn auch nicht in der Praxis entgangen werden kann. Die Vorstellung ist etwa die: Eine rechtlich völlig ungebundene Verwaltung wäre zwar denkbar, ist aber überhaupt oder wenigstens derzeit aus zwingenden technischen Gründen nicht Wirklichkeit. Darüber freilich besteht in der neuen Verwaltungslehre noch keine Klarheit, geschweige denn Einhelligkeit, ob diese Abhängigkeit der Verwaltung vom Recht eine ausnahmslos für jede einzelne Verwaltungshandlung gültige Einrichtung ist, und wie sie sich in ihrem Anwendungsbereiche mit den anderen Determinanten der Verwaltung verträgt. Als solche werden, wie erwähnt, bestimmte Ideologien vorausgesetzt, die übrigens ebenfalls miteinander in Konkurrenz treten und irgendwie ausgeglichen werden müssen. Die bald als nebengesetzlich, bald als übergesetzlich gedachten Autoritäten sind, auf die zwei einfachsten Nenner gebracht, der Führerwille und das nationale Erfordernis. Es wäre verfehlt, diese Determinanten der Verwaltung mit dem Recht in der Weise harmonisieren zu wollen, daß das Recht die positive Ausdrucksform dieser anderen Determinanten sei, so daß es ihnen vorgehe, und nur zweifelhafte objektive Normen in ihrem Sinne auszulegen wären. Vielmehr werden diese Autoritäten gegen das Recht ausgespielt. Der Verwaltungsbeamte „bleibt auch dort, wo der Gesetzgeber dem Verwaltungsbeamten eine sogenannte Ermessensfreiheit eingeräumt hat, gebunden an die Lebensnotwendigkeit der Nation" 13 . Und deutlicher: „Der Führerstaat verlangt lediglich, daß grundsätzlich ... auch der Verwaltungsbeamte in eine persönliche Verantwortung hineingestellt wird, ohne sich hinter gegebenen Ordnungen verschanzen zu können. Der Führerstaat

13

Röttgen, a.a.O., S. 9.

Die Verwaltungslehre des neuen Deutschland

383

muß dies nicht zuletzt im Hinblick auf die von ihm geforderte Volksverbundenheit der Verwaltung verlangen, der sich jede bloße Vollzugsverwaltung notwendig entzieht." 14 Im Konfliktsfall zwischen diesen beiden Determinanten hat nun zweifellos nach unserem Autor und nach der weitaus überwiegenden Meinung der Literatur die außergesetzliche Autorität den Vorrang. Die Entscheidung für diese Art Naturrecht gegen das Gesetzesrecht erinnert durchaus an die Haltung der sogenannten Freirechtsschule gegenüber dem Gesetzesrecht. Wo die Natur der Sache, die Billigkeit, oder, altertümlich gesprochen, die Natur eine vom geschriebenen Rechte nicht gedeckte Lösung heischt, da hat das geschriebene Recht zu weichen. Nur war diese individualistische Freirechtslehre ein viel durchsichtigerer Appell an die Individualität des Organs als die Verweisung auf die „Lebenserfordernisse der Nation", eine Formel, die freilich nicht weniger vom Organ konkretisiert werden muß. Noch auffälliger ist freilich, daß nach der Rechtsquellenlehre des heutigen Deutschland wenigstens für den Bereich der Verwaltung - nicht so unbestritten auch für den Bereich der Justiz - die Führeridee gegen das positive Recht entscheidet, so daß auch von dieser Seite her die reine Vollzugsnatur der Verwaltung in Frage gestellt wird. Diese Auflockerung der Gesetzesherrschaft von Seite der Führeridee hat man sich so zu denken, ,,daß die heutige Staatsführung im Gegensatz zu aller institutionalisierten Verwaltung als die ganz persönliche Führung seitens einer konkreten Person zu verstehen ist. Gewiß fehlt es auch heute nicht an einer gewissen gesetzlichen Ordnung, in der sich diese Staatsführung bewegt. Aber diese Ordnung ist niemals in dem Grade ein konstitutives Element der Staatsführung, wie dies von der verwaltungsgesetzlichen Ordnung in Bezug auf die Verwaltung gelten muß. Das einzigartige persönliche Charisma des derzeitigen Führers erlaubt es, im Räume der Staatsführung in einem Grade auf institutionelle Ordnungen zu verzichten, der seinerseits auch nur als einzig angesehen werden kann" 15 . In Anbetracht der Tatsache freilich, daß nach der neuen verfassungsrechtlichen Ordnung das Gesetz, wenigstens fakultativ, Ausfluß des Führerwillens ist, werden mit dem Dualismus von Gesetz und Führer-

14

A.a.O., S. 21.

15

Röttgen, a.a.O., S. 20.

384

III.A. Verwaltungsrecht

entscheidung nicht zwei verschiedene Autoritäten, sondern nur zwei verschiedene Äußerungsformen der nämlichen Autorität einander gegenübergestellt. Es begegnet uns in dieser Antithese die platonische Gegenüberstellung von Richterkönigtum und Gesetzesstaat - ein Gegensatz, der organisatorisch derart überwunden wird, daß das Gesetz auch zur Kompetenz des Führers wird und der Führer nun eben nach seinem Ermessen von der Gesetzesform teils zu abstrakten Regelungen, teils zu Einzelentscheidungen Gebrauch machen kann. Ob diese, um mit dem Gesetze rangsgleich und daher ihm gegenüber von derogatorischer Kraft zu sein, auch an die Gesetzesform gebunden sind, oder ob der wie immer geäußerte Führerwille das Gesetz, das abstrakte Rechtsnormen enthält, durchbrechen oder aufheben kann, ist freilich eine offene Frage. Viel problematischer wird die Konkurrenz von Gesetzesherrschaft und Führerprinzip, wenn Repräsentant des letzten nicht der oberste Gesetzgeber, sondern ein beliebiges anderes Organ ist. Wenn „Volkstum, gesetzliche Ordnung und konkrete Führerentscheidung die (objektiven) Maßstäbe sind, die dem Verwaltungsbeamten in seiner Arbeit gegeben sind" 16 , so ist damit der Verwaltungsakt noch nicht in seiner Gänze inhaltlich bestimmt. Die vierte und letzte Komponente des Verwaltungsaktes ist die Führerfunktion des Verwaltungsbeamten: „ I m Gegenteil verlangt gerade ein auf dem Gedanken verantwortlicher Führung beruhende Staat, daß auch der Verwaltungsbeamte nicht lediglich ein technisches Vollzugsorgan ist, sondern in eine persönliche Verantwortung hineingezwungen wird. Gewiß ist dieser Beamte als Führer nicht nur graduell von dem obersten politischen Führer unterschieden. Wir haben gesehen, daß gerade der Führerstaat den sachlichen Unterschied zwischen Staatsführung und Verwaltung mitnichten aufhebt, sondern denkbar vertieft. Trotzdem wäre es falsch, diese Antithese so zu deuten, daß Verwaltung als der extreme Gegensatz zu aller Führung, d.h. als bloßer Vollzug verstanden wird" 1 7 . Die Verwaltungslehre ist augenscheinlich bemüht, mit solchen und ähnlichen Kennzeichnungen der Tätigkeit des Verwaltungsbeamten im Führerstaat einen grundsätzlichen Gegensatz zur Stellung des Verwaltungsorganes im gewaltenteilenden liberalen

16

Röttgen, a.a.O., S. 20.

17

Ebenda, S. 21.

Die Verwaltungslehre des neuen Deutschland

385

Staat sicherzustellen; doch wird man vergeblich einen prinzipiellen Unterschied suchen. Denn diese relative, durch objektive Determinanten gebundene „Führung" ist in jeder Verwaltung vorhanden und der Verwaltungslehre seit langem als freies Ermessen bekannt. Es kann in dieser Hinsicht zwischen den verschiedenen Staatstypen, sofern sie überhaupt den Dualismus von Gesetzgebung und Verwaltung aufweisen, keine essentiellen, sondern nur graduelle Unterschiede geben. Und gerade die Vermehrung der unpersönlichen, transsubjektiven Bestimmgründe des Organhandelns im Führerstaat deutet auf eine Verengerung des freien Ermessens, modern ausgedrückt der Führungsmöglichkeiten, hin. Wenn das Organ außer dem Gesetz auch dem Gesetz allenfalls widersprechende konkrete Führerentscheidungen und die weder durch generellen noch durch individuellen Befehl konkretisierten, also sehr verschwommenen Gebote des Volkstums beachten muß, dann wird sein Ermessensspielraum durchschnittlich schmäler, als wenn er nur an das Gesetz und die innerhalb der Gesetze erlassenen Verordnungen und Weisungen gebunden ist. Allerdings kann sich der Gesetzgeber in seiner Normierungsfunktion Schranken auferlegen, um der konkreten Führerentscheidung des obersten Führers und innerhalb des damit gegebenen Rahmens auch jener des handelnden Verwaltungsorganes Raum zu geben, aber die Erfahrung zeigt, daß die Rechtsetzung auch im nationalsozialistischen Staat um so eher als im politisch neutralen Staat dem Beamten das im Sinne der Staatsidee Gebotene vorzuzeichnen bestrebt ist, womit naturgemäß der Ermessensspielraum der Unterführer verengt wird. Die persönliche Verantwortung, die dem Verwaltungsorgane auferlegt wird, ist nicht neu, sondern bloß gesteigert, und sie ist auch nicht ein wesentliches und ausschließliches Attribut der Führung - gerade der oberste Führer ist rechtlich unverantwortlich - sondern ebensowohl mit einer rein ausführenden Rolle vereinbar. So bleibt denn die ganze Verwaltung auch, und gerade im Führerstaat, Vollzug, Vollzug freilich nicht mehr des einen persönlichen Wollens eines Monarchen, wie in der absoluten Monarchie, nicht mehr des parlamentarisch zustande gekommenen Gesetzes wie im konstitutionellen Staat, sondern einer komplexen Ordnung, die sich aus Gesetz, konkreter Führerentscheidung und Volkstumserfordernis zusammensetzt. Die Entscheidung des Verwaltungsbeamten, mag er sich nun dank seiner relativ leitenden Stellung als Unterführer qualifizieren oder ein in jeder Hinsicht untergeordnetes Organ sein, wird durch diese Vollzugsnatur durchaus nicht um jede persön-

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liehe Note gebracht. Es ist eine tiefe Einsicht der Theorie des freien Ermessens, daß keine Bindung des Organhandelns das Organ zu einem bloßen Automaten machen kann, daß alle Vollziehung der Persönlichkeit irgendwie Raum gibt. In dieser theoretischen Einsicht ist es auch begründet, wenn die österreichische Verfassung 1934 nach dem Vorbild der Bundesverfassung 1920 selbst die privatwirtschaftliche Verwaltung und die sogenannten besonderen Gewaltverhältnisse, allen voran das Staatsdienstverhältnis, die selbst nach der Doktrin des demokratisch-parlamentarischen Deutschland als vom Gesetzesvorbehalt ausgenommen gegolten haben, der Herrschaft des Gesetzes unterstellt (Art. 9) und folgerichtig die ganze staatliche Verwaltung als Zweig der Vollziehung behandelt hat (Titel des 5. Hauptstückes). Es ist nur eine Titelerhöhung, wenn die Verwaltungslehre des neuen Deutschland das freie Ermessen des Verwaltungsbeamten ganz oder teilweise als Führerfunktion deutet, dagegen ein Mißverständnis, wenn der Führerfunktion von Unterführern die Vollzugsnatur bestritten wird. Die in der neuen Staatsidee begründete neue Staatsform bedingt nur eine theoretische Neukonstruktion im System der Verwaltung: die Regierung - im Sinn des Wirkungskreises des höchsten Führers, des Führers schlechtweg - ist nicht mehr gewissermaßen die Oberschicht der Verwaltung 18, sondern gemäß der einzigartigen Stellung des Führers, weil nicht mehr Ausführung eines höheren Willens, sondern selbst Ausfluß der höchsten Autorität, wenn nicht Teilfunktion der Gesetzgebung, so eine Staatsfunktion sui generis. I I I . Die Rechtsquellenlehre Gesetz, Rechtsverordnung, Satzung und Gewohnheitsrecht waren die Rechtsquellen der Verwaltungslehre des konstitutionellen und parlamentarischen Staates und sind es auch für die eine Reihe von Vertretern der Verwaltungslehre des autoritären und totalen Staates geblieben.19 In dieser

18

19

Adolf Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, Julius Springer 1927, S. 45 ff.

Was Ludwig von Köhler in seinen tiefschürfenden „Grundlehren des Deutschen Verwaltungsrechtes" zur grundlegenden Bestimmung des Verhältnisses der von ihm ex professo genannten Rechtsquellen sagt: „Gesetz und Gewohnheitsrecht sind in erster Linie ursprüngliche Rechtsquellen. Sie können aber auch als abgeleitete Rechtsquellen auftreten. Rechtsverordnung und Satzung sind stets abgeleitete Rechtsquellen. Abgeleitete Rechtsquellen entstehen rechtswirksam auf Grund einer Ableitung (Delegation) von einer ursprünglichen Rechtsquelle. Die grundlegende Rechtsvorschrift fußt dann ihrerseits auf einer Grund-

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Tatsache steckt ein Anachronismus, der nur dadurch abgeschwächt wird, daß in anderen Zusammenhängen doch auch andere Rechtsquellen auf dem Plan erscheinen: Der Führerwille, der ja auch in anderer Weise als in Gesetzesform auftreten kann, und in der Gesetzesform durch Mitwirkung anderer Faktoren kompliziert ist, die nationalsozialistischen Rechts- und Staatsgrundsätze20, deren unmittelbare Verbindlichkeit indes bestritten ist, die aber doch wenigstens als Auslegungsregeln vielfach anerkannt werden; endlich das Naturrecht in der Gestalt der „nationalen Erfordernisse" oder dergleichen. Der aus dem bürgerlichen Staat überkommene Dualismus von Gesetz und Verordnung - als der beiden hauptsächlichen, wenn nicht ausschließlichen geschriebenen Rechtsquellen - würde im System der neuen Rechtsquellenlehre eine Klärung erheischen, denn das Staatsrecht, das Substrat dieser Rechtsquellenlehre ist, hat sich grundlegend gewandelt. War schon im konstitutionellen und parlamentarischen Staat der Gegensatz von Gesetz und Verordnung dadurch abgeschwächt, ja geradezu in Frage gestellt, daß es Verordnungen gegeben hat, die nicht vom „einfachen Gesetze" abgeleitet, sondern dieser Hauptart des Gesetzes gleichgeordnet waren („selbständige Verordnungen"), so hat das neue Staatsrecht den Abstand zwischen nach wie vor sogenannten Gesetzen und Verordnungen dermaßen verringert, daß die Aufrechterhaltung dieser beiden Begriffe als grundsätzlich verschiedener Arten von Rechtsquellen vom begriffsökonomischen Standpunkt aus höchst fragwürdig geworden ist. Was im konstitutionellen und parlamentarischen Staat Gesetz und Verordnung, auch soweit sie rangsgleich sind, zu unterscheiden ermöglicht und bedingt, ist der kompetenzmäßige und prozessuale Unterschied. Gesetz nannte man ausschließlich den unter Mitwirkung eines Parlaments zustande gekommenen rechtssetzenden Staatsakt, Verordnung, den wenn auch dem Gesetze unter Umständen ebenbürtigen Staatsakt, der unter Ausschluß des Gesetzgebungsapparates bloß auf dem Geleise der Verwaltung zustande gekommen ist. Unter Voraussetzung dieser Kriterien von Gesetz und Verordnung hatte

legung durch eine Rechtsvorschrift höheren Ranges." (A.a.O., S. 60) könnte mit mehr Recht in einem Lehrbuch des konstitutionellen oder parlamentarischen Verwaltungsrechtes stehen. 20 Als vollwertige Rechtsquelle behandelt sie beispielsweise Theodor Maunz, Neue Grundlagen des Verwaltungsrechts, S. 48.

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III.A. Verwaltungsrecht

allerdings schon das ältere Verfassungsrecht Grenzverwischungen mit sich gebracht. Man denke an die Verordnungen, die gemäß dem Bundesverfassungsgesetz vom 26. November 1922, BGBl. Nr. 844, der Zustimmung des außerordentlichen Kabinettsrates bedurften, also, da dieser sogenannte Kabinettsrat seiner Zusammensetzung nach kein Exekutivorgan, sondern ein Ausschuß des Nationalrates und Bundesrates gewesen ist, parlamentarischer Mitwirkung bedurften. Dasselbe gilt von den sogenannten „Verordnungen des Bundespräsidenten" gemäß Art. 18 Abs. 2 bis 5 der österreichischen Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 in der Fassung der Verfassungsnovelle vom 7. Dezember 1929, insoferne, als diese Verordnungen der Zustimmung eines parlamentarischen Ausschusses bedurften. Gleiches gilt von den zahlreichen „einfachen" - verfahrensmäßig aber doch komplizierten - Rechtsverordnungen, die nach der Rechtsordnung des parlamentarischen Österreich von der Zustimmung des Hauptausschusses des Nationalrates abhängig waren. Eine rationelle Abgrenzung zwischen Gesetz und Verordnung als zwei grundsätzlich verschiedenen, wenn auch einander angenäherten Methoden der Rechtserzeugung hat sich angesichts dieser positivrechtlichen Komplikationen immerhin auf die Weise vornehmen lassen, daß man Staatsakte, die in dem qualifizierten, namentlich durch den Beschluß des parlamentarischen Plenums gekennzeichneten „Verfahren der Gesetzgebung" zustande gekommen sind, als Gesetze im formellen Sinn ausgezeichnet hat, dagegen Akte der Rechtssetzung, an denen das Parlament nur in weniger formeller Weise, insbesondere bloß durch einen formlosen Beschluß eines Ausschusses beteiligt oder gänzlich unbeteiligt war, als Verordnung beurteilt und bezeichnet hat. Der Abstand zwischen Gesetz und Verordnung ist freilich durch die Annahme von Verordnungen, die nur mit Zustimmung eines parlamentarischen Ausschusses zustande kommen konnten, bei denen also doch irgendwie das Parlament Faktor der Rechtserzeugung war, geringer geworden. Die parlamentarische Demokratie hatte eben, soweit das Verhältnis von Gesetzgebung und Verwaltung in Frage kommt, bereits den Grundsatz der Gewaltentrennung, der bloß ein Charakteristikum der konstitutionellen Monarchie und konstitutionellen Republik ist - man nennt die letzgenannte Staatsform meist Präsidentschaftsrepublik - preisgegeben. Der autoritäre Staat der Gegenwart vollendet in diesem Punkte nur die Entwicklungstendenz des parlamentarischen Staates, indem er den von der konstitutionellen Doktrin entwickelten Unterschied von Gesetzgebung und Vollziehung und insbesondere des formellen Gesetzes einerseits, der Verordnung als der höchsten Erscheinungsform der Vollziehung ande-

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rerseits verwischt. Das Übergreifen der einen Staatsgewalt in die andere tritt freilich in entgegengesetzter Richtung in Erscheinung. Beteiligt der parlamentarische Staat das Parlament in ungeahnter Weise an der Verwaltung, so werden im modernen autoritären Staat die bisherigen Verwaltungsorgane an der Gesetzgebung beteiligt, ja zu deren wichtigsten Faktoren. Das Deutsche Reich hat nicht anders wie das autoritäre Österreich eine neue Form des formellen Gesetzes oder wenigstens eines Staatsaktes, der unter dem Titel eines Gesetzes auftritt und von der Staats- und Verwaltungslehre so benannt wird, geschaffen: Das Regierungsgesetz, und zwar gemäß dem noch aufrecht erhaltenen föderalistischen Dualismus in der Doppelgestalt des von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetzes und des von der Landesregierung beschlossenen Landesgesetzes. Der Unterschied zwischen Gesetz und Verordnung müßte indes - dieser Rechtsentwicklung gemäß - nunmehr in anderen Merkmalen gesucht werden als im Ursprung aus verschiedenen Staatsgewalten. Denn der Gewaltengegensatz ist aufgehoben, wenn dasselbe Organ, die Regierung, Gesetze geben und Verordnungen erlassen kann. Die Begriffsbestimmung der Verordnungsarten, namentlich die Unterscheidung zwischen den Rechtsverordnungen und den Verwaltungsverordnungen., verrät wertvolle Einsichten der neuen Lehre und bedeutet m.E. einen Fortschritt gegenüber der früheren Verordnungslehre. Die vorläufige Begriffsbestimmung der Rechtsverordnung bei Koettgen ist allerdings noch sehr allgemein und ungenau, wenn er als Rechts Verordnungen „alle diejenigen Rechtssätze" bezeichnet, ,,die in einem bestimmten Verfahren, das sie nach außen als solche kenntlich macht, erlassen werden und weder auf die Reichsregierung noch den Reichstag zurückgehen". Aus der Kompetenz zur Erlassung von Regierungsgesetzen folgt nicht, daß jeder generell normierende Akt der Reichsregierung formelles Gesetz ist. In diesem obersten Reichsorgan treffen eben mehrere Rechtsetzungkompetenzen zusammen. Der Begriff der Rechtsverordnung wird inhaltlich erst durch die Konfrontation mit der Verwaltungsverordnung aufgehellt. ,,Nicht zu den eigentlichen verwaltungsrechtlichen Rechtsquellen gehören auch heute die sogenannten Verwaltungsverordnungen. Der Unterschied zwischen Rechtsverordnungen und Verwaltungsverordnungen kann dabei allerdings nicht mehr aus dem jeweiligen Inhalt abgeleitet werden. Inhaltlich bezweckt die Verwaltungsverordnung nicht anders als die Rechtsverordnung und das formel-

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III.A. Verwaltungsrecht

le Gesetz, der Verwaltung in Gestalt auf die Dauer berechneter allgemeiner Regeln eine Ordnung zu geben."21 In diesen Sätzen drückt sich wohl die richtige Einsicht aus, daß die Verwaltungsverordnungen nicht anders als die Rechtsverordnung normativen Inhalt hat. Für eine autoritäre Staatsauffassung kann ja der Umstand nicht maßgebend sein und insbesondere den Rechtscharakter eines Aktes in Frage stellen, daß eine Staatswillenserklärung nicht Untertanen, sondern Staatsorgane zu Adressaten hat, und daß sich somit in der Regel aus dieser Staatswillenserklärung keinerlei rechtliche Folgen für den Untertanen ergeben, sondern, daß sie höchstens sogenannte Reflexwirkungen auslöst. Diese Angleichung der Verwaltungsverordnung an die Rechtsverordnung hat ihre Parallele in der noch zu besprechenden Angleichung der Weisungen an die individuellen Verwaltungsakte. Die einschneidendste Neuerung der neuen Rechtsquellenlehre ist die Beseitigung des Dualismus zwischen öffentlichem und privatem Recht und die Rückführung des gesamten Rechtsstoffes auf einen einheitlichen Rechtstypus, der dem bisherigen Begriffe des öffentlichen Rechtes nahekommt. Dieser Umprägungsprozeß ist nicht so sehr das Ergebnis theoretischer Erwägungen als der politischen Ideologie. Das verrät sich am deutlichsten in Sätzen, die einer der entschiedensten Vorkämpfer der Rechtseinheit, Verwaltungsgerichtsdirektor Bahrmann (Berlin), geprägt hat:,,Heißes Bemühen ist es heute, unser Recht, formelles und materielles, von dem, was rassefremd und daher unerträglich und unzuträglich ist, zu reinigen, und seinen Geist wieder ausgehen zu lassen aus dem Gesamtgeiste unseres Volkes, wie er unsere Gesamtkultur schafft. Da drängt sich zunächst eine Empfindung hervor, die, wieder zu voller Klarheit gebracht und in die wirksamen Ausdrucksformen geleitet, zur folgerechten Umgestaltung des Rechtes für den neuen Staat führen muß: dem Deutschen ist eine Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht fremd. Das Recht ist ihm eben das, was es stets sein soll, die Regelung des Gemeinschaftslebens, woraus sich ohne weiteres die Unmöglichkeit der Abgrenzung ergibt." 22 Diese Thesen lassen nicht eindeutig erkennen, ob sie als rechtswissenschaftliche Erkenntnisse oder rechtspolitische Forderungen gemeint sind. Eine

21

22

Koettgen, Deutsche Verwaltung, S. 45.

„Das Verhältnis des Verwaltungsstreitverfahrens zu den tragenden Gedanken des neuen Staates" in „Deutsche Verwaltung", 11. Jg., 1934, S. 52.

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„Empfindung", die der Verfasser zum Ausdruck bringen will, ist eigentlich weder das eine, noch das andere. Wenn diese Empfindung erst zu einer „folgerechten Umgestaltung des Rechtes für den neuen Staat" führen muß, so deuten solche Worte auf die Annahme hin, daß der Rechtsdualismus von öffentlichem und privatem Recht noch eine gesetzliche Gegebenheit sei und gesetzgeberisch überwunden werden soll. Die wiedergegebenen Schlußworte und mancherlei Ausführungen darüberhinaus rechtfertigen aber die Deutung, daß im Sinne der nationalsozialistischen Rechtslehre der behauptete Unterschied schon de lege lata - erkenntnismäßig - unhaltbar sei. Dabei bleibt freilich die Frage offen, wie in jenen Fällen die Grenze zwischen den beiden Rechtsbereichen zu ziehen sei, wo das positive Recht für das „öffentliche" und „private" Rechtsbereich Verschiedenes anordnet, zum Beispiel „öffentlichrechtliche" Ansprüche einen anderen Gerichtsstand unterstellt als „privatrechtliche" Ansprüche. Es bleibt ungewiß, ob es den Theoretikern der neuen Rechtswissenschaft bewußt geworden ist, daß sie diesen Kardinalsatz der Rechtswissenschaft mit ihrem rechtswissenschaftlichen Antipoden Hans Kelsen gemeinsam haben, der schon in seinen „Hauptproblemen der Staatsrechtslehre", auf manche Vorläufer, namentlich Franz Weyr, gestützt, die theoretische Unhaltbarkeit der verschiedenen Unterscheidungsmittel von öffentlichem und privatem Recht und zugleich auch der Unterscheidung selbst nachgewiesen hat. Dagegen stellt der Verfasser sehr richtig fest: „So kennt denn das ganze deutsche Mittelalter die Grenzstreitigkeiten zwischen beiden Gebieten nicht und selbst noch das preußische Allgemeine Landrecht', durch das Fegefeuer der Aufklärung hindurchgegangen, wurde nicht als sündig befunden, als es sich von der Scheidung fernhielt" 23 . Freilich wären diese rechtsgeschichtlichen Tatsachen kein Beweis von der Unhaltbarkeit der Zweiheit des Rechtsstoffes, das moderne positive Recht hat vielmehr erst unter dem Banne der Theorie vom wesensnotwendigen Gegensatz der beiden Rechtsbereiche gewisse Zäsuren im positiven Rechte vorgenommen, die der Theorie Recht zu geben schienen. Sowohl der richtige Hinweis Bahrmanns auf das preußische Landrecht als Dokument des individualistischen Nationalismus, als auch die moderne Kritik an der Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht, deren Urheber als abschreckende Beispiele liberaler Rechtstheorie gelten, müssen indes das Dogma erschüttern, daß der Rechtsdualismus ein Kern-

23

A.a.O., S. 52.

392

I I A . Verwaltungsrecht

stück der liberalen Rechtsauffassung sei. Die Annahme zweier Rechtsordnungen, genauer Teilrechtsordnungen, von denen die eine durch die Herrschaft des öffentlichen Interesses oder durch die Vorherrschaft des Staates über die Untertanen, die andere durch die Herrschaft des privaten Interesses oder durch die Gleichberechtigung von Staat und Untertanen gekennzeichnet ist, bedeutet keineswegs reines liberales Gedankengut, sondern bestenfalls ein Kompromiß zwischen autoritärer und liberaler Staatsidee, wobei das private Recht die Domäne der liberalen und das öffentliche Recht die Domäne der autoritären Staatsidee ist. Es liegen zwar noch nicht eindeutige Symptome in der Richtung vor, doch ist es im Ideengang des Nationalsozialismus als wahrscheinliches Ergebnis begründet, daß das einheitliche Rechtssystem, das an die Stelle des bisherigen Rechtsdualismus treten soll, die Charakterzüge des bisherigen öffentlichen Rechtes annehmen, daß also gewissermaßen das private Recht vom öffentlichen Recht absorbiert werden wird. Das subjektive öffentliche Recht als typisches Erzeugnis individualistischer Rechtslehre ist selbstverständlich für eine kollektivistische Rechtsauffassung unvollziehbar. Es fragt sich nur, ob der Herzog dem Mantel folgen muß, d.h. ob die Gegebenheit der Rechtsordnung, die bisher als subjektives öffentliches Recht gedeutet wurde, mit dieser Konstruktion der Rechtswissenschaft verschwinden muß. Die Meinung, daß die Institution an sich schon mit dem Begriffe des subjektiven öffentlichen Rechtes beseitigt sei, ist jedenfalls nur unter der Voraussetzung vertretbar, daß man Erscheinungen, wie die Rechtsauffassung, die Rechtsidee und dergleichen, an sich schon als Rechtsquellen gelten läßt. Ein Kritiker der rechtswissenschaftlichen Konstruktion und der Rechtsfigur des subjektiven öffentlichen Rechtes - Theodor Maunz - hält, wenngleich zu sehr verallgemeinernd, der Lehre des subjektiven öffentlichen Rechtes zutreffenderweise vor, der Gedanke, „daß es echte subjektive Rechte auch zwischen staatsunterworfenen Personen gibt", sei „über der Befriedigung, daß der Staat sich bestimmte, vom Untertanen in Bewegung gesetzte Hemmungen gefallen lassen muß, in den Hintergrund getreten" 24. Die Polemik richtet sich mit Entschiedenheit nur gegen das von dem zitierten Autor so genannte „staatsgerichtete subjektive öffentliche Recht", das von Otto Mayer in seinem „Deutschen Verwaltungsrecht" in extrem

24

Theodor Maunz, Neue Grundlagen des Verwaltungsrechtes, S. 25.

Die Verwaltungslehre des neuen Deutschland

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individualistischer Weise als „rechtliche Macht über die Ausübung der öffentlichen Gewalt" definiert worden ist. Dieses „staatsgerichtete subjektive öffentliche Recht" galt als „Figur dieses Sicherungssystems (zur Sicherung des Individidualinteresses). Die Verwaltungsrechtspflege aber, die an das subjektive staatsgerichtete Recht anknüpft, wird von selbst zu einer Kontrolle der Staatstätigkeit. Sie ist eine Einrichtung zur Sicherung des Individuums gegen den Staat geworden" 25. Derartige „Teilsicherungen der Individualsphäre" hätten mit der Verdrängung des individualistischen Denkens durch das Gemeinschaftsdenken die Grundlage verloren. „Der nationalsozialistische deutsche Staat kann aber keine Trennung und Gegenüberstellung der Gemeinschaftssphäre von der Individualsphäre aufrechterhalten, wie es der liberale Staat tat, und er hat damit schon aus seinem Wesen heraus eine Entscheidung über die gegen die öffentliche Gewalt gerichteten Rechte gefällt." 26 Indes werden selbst die gegen öffentliche Körperschaften gerichteten Ansprüche von Untertanen nicht restlos ausgemerzt. Die Gegenströmung gegen solche Ausrottungsversuche kommt von Tatarin-Tarnheyden, der sogar ein Programm für die Gewährleistung „nationaler, persönlicher Rechtsgüter" aufstellt, mit der Begründung, daß die aufrechte, gesinnungstüchtige, selbstverantwortliche Persönlichkeit - denn auch der neue Staat könne keine Knechte brauchen - nur möglich sei, wenn ihr bestimmte nationale Gemeinschaftsweite auch individuell garantiert werden. 27 Der genannte Verfasser geht sogar im Dienste dieser richtigen Idee so weit, eine Popularklage zur Geltendmachung dieser Rechtsgarantien in Erwägung zu ziehen, also eben doch wiederum subjektive Rechte, die freilich nicht unter diesem Namen auftreten und bestimmte inhaltliche Schranken finden. Um die in der herrschenden Staatsideologie gegründeten Schranken dieser individuellen Rechtsgarantien festzustellen, sei nochmals auf Theodor Maunz zurückgegriffen: „Es bedarf keiner Ausführung, daß es Rechte weder des einzelnen, noch von Untergemeinschaften gegen den politischen Führer geben kann. Das würde dem konkreten Rechtsgebilde,Führer' vollkommen widersprechen. Die beiden Rechtsgebilde: Politischer Führer, Gefolgschaft, sind im nationalsozialistischen Staate inkommensurable Größen." (Warum

25

A.a.O., S. 28.

26

A.a.O., S. 26.

27

„Werdendes Staatsrecht", S. 1934.

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III.A. Verwaltungsrecht

eigentlich? Denn die Gefolgschaft ist doch nichts als das Volk, also gerade nach nationaler Staatsauffassung der wahre Souverän, und der Führer ist bei aller Gehobenheit seiner Rechtsstellung doch nur ein Glied dieses Volkes.) Doch weiter: ,,Der politische Führer ist nicht ein Subjekt wie die anderen Subjekte, auch nicht wie die politischen Unterführer oder Leiter, die Gegenüberstellung Staatsperson - Einzelperson ist in Bezug auf die politische Führung unmöglich. Daher braucht nur geprüft zu werden, ob subjektive öffentliche Rechte innerhalb der Sphäre der politischen Durchführung möglich sind; denn über diese hinaus, in der Richtung auf die politische Führung, scheiden sie aus." 28 Dagegen seien Ansprüche gegen den Staat innerhalb der Sphäre der politischen Durchführung möglich. In dieser Sphäre sei zu unterscheiden, ob es sich um Unterordnungsverhältnisse oder um Mitarbeiterverhältnisse handelt. ,,Auf dem Boden von Unterordnungsverhältnissen gibt es Befehl und Gehorsam, also Pflichten, aber keine subjektiven öffentlichen Rechte des Unterstellten gegen den Übergeordneten. Es widerspricht dem Wesen der Unterordnungsverhältnisse, wie sie besonders deutlich auf militärischem Gebiet ausgebildet sind, solche Rechte zuzulassen." Die Sphäre der Mitarbeiterverhältnisse umfaßt zum Beispiel Mitgliedschaftsrechte, innerhalb einer Untergemeinschaft etwa Genossen einer Wasser- oder Siedlungsgenossenschaft ,,oder auch Kontrollrechte innerhalb einer Untergemeinschaft". Was unter dem letzten Begriff zu denken ist, wird durch nachstehendes Beispiel klar: ,,Im nationalsozialistischen Staat, in dem die politische Bewegung die Führung hat, und der Staatsapparat ein Organ in der Hand des Führers ist, kann auch der Staatsapparat selbst in gewisser Hinsicht unter einem speziellen beschränkten Zweck, zum Beispiel als Apparat zur Aufbringung von Steuern von Steuergenossen - nicht von allen Volksgenossen - als eine Untergemeinschaft aufgefaßt werden, und es ist denkbar, daß auch innerhalb dieser Untergemeinschaft Mitgliedschaftsbeziehungen oder Kontrollrechte eingeräumt werden. Das sind keine subjektiven Rechte gegen das Ganze oder gegen den politischen Führer, sondern gegen ein Organ des politischen Führers, die also aus Beziehungen der Mitarbeiter entspringen. Daraus ergibt sich zum Beispiel die Rechtfertigung auch einer Steuergerichtsbarkeit im neuen Staate."29 28

A.a.O., S. 31.

29

A.a.O., S. 32.

Die Verwaltungslehre des neuen Deutschland

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Es ist offenbar das rechtspolitische Bedürfnis, in einem gewissen Umfang Verwaltungskontrollen Raum zu geben, dafür bestimmend, das subjektive Recht, nachdem es grundsätzlich als mit der neuen Staatsideologie unvereinbar erklärt worden ist, doch wiederum anzuerkennen. Zu diesem Zwecke werden die aus dem Verwaltungsrecht sich ergebenden Beziehungen zwischen Staat und Untertan in Unterordnungs- und Mitarbeiterverhältnisse geschieden. Wo verläuft aber die Grenze zwischen diesen Bereichen? Offenbar dort, wo der Verwaltungskontrolle eine Grenze gezogen, beziehungsweise Raum gegeben werden soll. Soweit die Verwaltungskontrolle als wünschenswert erscheint, also etwa Steuersachen, spricht man von Mitarbeiterverhältnissen, wo sie ausgeschlossen sein soll, von Unterordnungsverhältnissen. Juristisch gesehen, liegen aber in beiden Bereichen verpflichtende Staatswillenserklärungen vor; das Steuermandat ist beispielsweise nicht weniger Befehl als ein Polizeibefehl oder ein Befehl der Heeresverwaltung. Die besprochene Zäsur hat auch die theoretisch befremdliche Folge, daß das subjektive Recht nicht als ein Rechtverhältnis des Individuums zu einer öffentlichen Körperschaft, sondern zu bestimmten Organen dieser Körperschaft gedeutet wird, woraus sich die Einteilung in passiv rechtsfähige und passiv rechtsunfähige Organe ergibt. Die Einheit des Organapparates bedingt aber, daß alle Ansprüche gegen bestimmte Organe der durch diese Organe repräsentierten Körperschaft zuzurechnen sind. Wenn die Ausführungen unseres Gewährsmannes in die Feststellung münden:,,Diese Sphäre der Mitarbeiterverhältnisse wird der Boden sein, auf dem auch in Zukunft subjektive öffentliche Rechte bestehen werden und bestehen können", so ist damit letzten Endes doch wiederum subjektiven öffentlichen Rechten gegen den Staat Raum gegeben. Die rechtspolitische Notwendigkeit desavouiert die rechtstheoretische Erkenntnis. In diesem Zusammenhang sei auch noch erwähnt, daß die Antithese von Recht und Ermessen aufgelöst, aber schließlich doch beibehalten wird. Die Argumentation ist ungefähr die, daß die Sphäre des Rechtes politisiert erscheint, daß hingegen die Sphäre des Ermessens durchrechtlicht wird, indem in durchaus konsequenter Weise die Wahlfreiheit des ausführenden Organes in Abrede gestellt und in der Sphäre mangelnder gesetzlicher Determination die Bindung des Organes durch außergesetzliches Recht, die Bindung an den irgendwie erkennbaren Führerwillen behauptet wird. ,,War die Idee von der Lückenlosigkeit des Rechtes im Gesetzmäßigkeitsstaate eine Fiktion, mittels derer außerrechtliche Entscheidungen im Sinne des

396

III.A. Verwaltungsrecht

damaligen Staatsdenkens in das Rechtssystem hineingetragen und dann mittels logischer Schlüsse wieder aus ihm abgeleitet wurden, so kann man in einem Staate, in dem das staatlich gesetzte Recht nicht die einzige Erscheinungsform des Rechtes ist, mit viel größerer Berechtigung von einer Geschlossenheit des Rechtes sprechen; denn aus der Gesamtheit der volklichen Lebensordnung läßt sich auch eine gesetzlich nicht geregelte Frage lösen ... Auch für die Frage des Verwaltungsermessens besteht dann eine Bindung, und zwar auch eine inhaltliche Bindung an das Recht, wenn auch nicht an das Gesetz. Es gibt mit anderen Worten zwar noch Verwaltungsermessen ohne starre Eindeutigkeit der gesetzlich gewollten Entscheidung, aber nur mehr gebundenes, kein freies Ermessen." Auch das ,,freieste Verwaltungsermessen" sei an die Grundsätze des Nationalsozialismus gebunden.30 IV. Das Problem des Rechtsstaates Seit den Tagen der absoluten Monarchie ist der Rechtsstaatsbegriff das Herzstück und Paradestück der deutschen Verwaltungsrechtslehre. Soll ja die Eigentümlichkeit der Verwaltung in der konstitutionellen, d.i. gewaltentrennenden Monarchie und in der demokratischen Republik darin bestehen, daß sie den vormals polizeistaatlichen mit dem rechtsstaatlichen Charakter vertauscht hat. In der Verwaltungslehre der beiden letzten Menschenalter hatte der Begriff des Rechtsstaates seinen materiellen Charakter als eines in seinen Zwecken auf die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung, d.i. soviel wie Friedensbewahrung beschränkten Staates, wie ihn die klassische Philosophie, allen voran Immanuel Kant, verstanden hatte, abgestreift, und den Sinn eines formal, d.h. durch die Bindung an die Rechtsnormen beschränkten, innerhalb dieser Bindung aber zu allen gesellschaftlichen Aufgaben befähigten Staates angenommen. In diesem Bedeutungswandel des Rechtsstaates drückte sich die Preisgabe der konsequentesten liberalen Position, nämlich des aufs äußerste limitierten Staatszweckes aus, und wurde der als möglich akzeptierte Kultur- und Wohlfahrtszweck ebenso wie der Ordnungs- und Machtzweck des Staates in die liberale Staatsauffassung derart eingegliedert, daß der Staat zwar allen diesen Staatszwecken dienen dürfe,

30

Theodor Maunz, Neue Grundlagen des Verwaltungsrechtes, S. 19.

Die Verwaltungslehre des neuen Deutschland

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aber doch nur nach Maßgabe der formellgesetzlichen Ermächtigungen. Damit wurde wenigstens die Mindestanforderung des Staatsbürgers an den Staat, Rechtssicherheit im Sinne der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des staatlichen Handelns, beibehalten. Diese rechtspolitische Wurzel des Begriffes des Rechtsstaates würde es begreiflich machen, daß die neue Verwaltungslehre das Wort Rechtsstaat, das nach dem zutreffenden Urteil Carl Schmitts eine schlechte Wortverbindung und jedenfalls ein an sich nichtssagender Ausdruck für einen schillernden Begriff ist, samt dem Begriffe Rechtsstaat über Bord werfen würde. Wenn nichtsdestoweniger die hervorragendsten Theoretiker des neuen Staates und seines Rechts, Otto Koellreutter, Hans Gerber und manche andere, am Ausdruck und Begriffe des Rechtsstaates festhalten, so mag dafür, bewußt oder unbewußt, hauptsächlich die Rücksicht auf optische Wirkungen bestimmend sein: ob mit Recht oder Unrecht, gehört es sozusagen zum guten Ton der europäischen Staatenwelt, „Rechtsstaat" zu sein, und man kann es jedem deutschen Juristen nachfühlen, wenn er seinen Staat aus diesem Kreise vollwertiger Staaten nicht ausgeschlossen sehen will. Begreiflicherweise wird aber unter diesen Umständen der Begriff des Rechtsstaates stark umgedeutet. Programmatisch sagt Carl Schmitt zu dieser Neukonstruktion des Begriffes Rechtsstaat: „Wir bestimmen also nicht den Nationalsozialismus von einem ihm vorgehenden Begriff des Rechtsstaates, sondern umgekehrt den Rechtsstaat vom Nationalsozialismus her." 31 Der neue Begriff des Rechtsstaates muß sich vor allem der Verfassungsrechtslage anpassen, daß die Gesetze nicht, wie es die Lehre von der Gewaltenteilung gefordert und der liberale Rechtsstaat vorgesehen hatte, von einer anderen Autorität als der Exekutive, nämlich von einer plebiszitär bestellten Legislative ausgehen; diese, dem autoritären Staat charakteristische Verfassungsrechtslage, daß die sogenannte Legislative und Exekutive in ihren Spitzen zusammenfallen - in Österreich dank der Einrichtung der rein autoritären Regierungsgesetze und dank der Initiativkompetenz der Regierung bei den konstitutionellen Gesetzen im Wesen nicht anders als im Deutschen Reich - hebt unvermeidlich den individualistischen Zweck des Rechtsstaatsmechanismus, nämlich die Vorhersehbarkeit und Berechenbar-

31

„Nationalsozialismus und Rechtsstaat" in „Deutsche Verwaltung", 11. Jg., 1934.

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keit des Staatshandelns an der Hand einer dem Zugriff der Exekutive entrückten, dagegegen vom Staatsbürger her beeinflußten Norm auf, denn die Verwaltung kann sich ja jederzeit in der Form der Gesetzgebung, die nur eine andere Maske derselben Autorität ist, die gewünschten Gesetze ihres Handelns vorzeichnen; die obersten Verwaltungsorgane sind demnach im autoritären Staat faktisch ungebunden, um nicht zu sagen absolut, und für den übrigen Verwaltungsapparat sind die Verwaltungsvorschriften nicht wesentlich im anderen Sinne Schranken des Handelns als die Dienstanweisungen des Herrschers im absoluten Staat. Worin besteht sonach das Wesen des Rechtsstaates, im besonderen des autoritären Rechtsstaates, also nicht allein, aber auch des nationalsozialistischen Rechtsstaates? ,,Wir erkennen also selbstverständlich den Grundsatz der Unabhängigkeit des Richters an, auch den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, aber können weder unsere Gerechtigkeitsvorstellungen, noch unseren Gesetzesbegriff, noch unsere Begriffe von Staatsbürgern und staatsbürgerlicher Gleichheit, noch unsere Grundrechte, noch endlich das Verbot jeder, außerhalb der NSDAP vorgenommenen parteipolitischen Betätigung durch einen fremden Begriff von Rechtsstaat trüben lassen."32 Bestehe ja doch eine Hautpaufgabe,,jedes Mitglieds des Nationalsozialistischen deutschen Juristenbundes" darin, „nationalsozialistischen Rechtsbegriffen zum Siege zu verhelfen und die Gefahr überlieferter, vergangener, rechtsverdrehender Begriffe zu bekämpfen". 33 Die von Schmitt angestellte Analyse des Rechtsstaatsbegriffes kommt zu dem Ergebnis: „Wir sind auch in diesem gesellschaftlichen Sinne ein Rechtsstaat und haben das Recht, mehr als die meisten anderen Völker, unseren Staat als Rechtsstaat zu bezeichnen, wenn man darunter einen Staat versteht, in dem es streng und unverbrüchlich nach Gesetz und Ordnung zugeht." 34

32

A.a.O., S. 39.

33

Der Verfasser erinnert sich wohl an dieser Stelle nicht, daß er selbst der vielzitierte Urheber von Begriffen ist, die er nun so hart beurteilt. 34 Zur Lehre vom Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung in seiner neuen Bedeutung siehe besonders Franz W. Jerusalem, ,,Das Verwaltungsrecht und der neue Staat".

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V. Probleme der Verwaltungsorganisation Es gilt geradezu als organisationspolitisches Dogma des neuen Staates, daß er in seiner ganzen Organhierarchie nach dem Führerprinzip organisiert werden müsse. Unter dem Führerprinzip versteht man die Besorgung von Staatsgeschäften durch ein Einzelorgan, das nach oben abhängig und verantwortlich, nach unten, d.h. gegenüber dem seiner Betreuung überantworteten Beamtenstab und Volksteil unabhängig und unverantwortlich ist. In diesem Sinne kann das Führerprinzip als besondere Erscheinungsform des autoritären Prinzipes, aber auch als selbständige Organisationsform neben dem autoritären Prinzip verstanden werden. Die gelegentliche Identifikation von autoritärem und Führerprinzip ist zwar begrifflich durchaus möglich, aber darum unzweckmäßig, weil es zwei verwandte Bedeutungen gibt, für die je ein besonderer Ausdruck erforderlich ist. Autoritär in dem heute gebräuchlichen, zumindest weiteren Sinne ist ein Organ, wenn und weil es nicht von den ihm unterstellten Organen bestellt und nicht von ihrem Vertrauen abhängig ist. Bei dieser Bedeutung unseres Ausdruckes sind ein Erbmonarch, aber auch das Kurfürstenkollegium, eine vom Staatsoberhaupt bestellte Regierung, ein von der Regierung oder einem Minister ernannter Beamter, insbesondere aber auch ein führendes Staatsorgan wie der Führer im deutschen Reiche, der Duce in Italien autoritäre Organe. Dagegen ist ein vom Staatsvolk oder von der Völksvertretung gewählter Staatspräsident, ein von der Gemeindebevölkerung oder einer Gemeindevertretung gewählter Bürgermeister, eine vom Parlament gewählte oder wenigstens kraft Rechtsvorschrift vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit abhängige Regierung kein autoritäres, sondern - um mangels eines festen Sprachgebrauches ein einigermaßen bezeichnendes Wort einzführen - ein demokratisches oder besser plebiszitäres Organ. 35 Der Ausdruck demokratisch und selbst plebiszitär ist allerdings deshalb nur mit Vorbehalt zu verwenden, weil im strengen international gangbaren Sinn dieser Ausdrücke nicht das Vertrauen eines kleinen Kreises einer Minderheit genügt, sondern das Vertrauen der Mehrheit des Kreises, dem das Organ vorsteht, erforderlich ist. Nicht alle in den vorigen Beispielen vorgeführten autoritären Organe folgen aber dem Führerprinzipe. Führer kann man im strengen Sprachsinne nur einen einzelnen

35 Zum Begriff des „demokratischen Organs" vgl. meine Abhandlung „Demokratie und Verwaltung", Wien, M. Perles, 1923, und mein „Allgemeines Verwaltungsrecht".

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Vorangehenden, nicht aber eine Gruppe Gleichberechtigter nennen. Daher erfüllt zwar der Monarch, der ernannte Beamte, der bloß von seinem Vorgesetzten abhängig und ihm verantwortlich ist, das Führerprinzip, nicht aber eine Regierung oder Gemeindevertretung, auch wenn sie in dem bezeichneten Sinne autoritär, d.h. gegenüber den Regierten oder Verwalteten unabhängig und unverantwortlich ist. Das Aufsichgestelltsein und die Alleinverantwortlichkeit machen also den Führer aus, und sind das Merkmal des Führerprinzipes neben jener Unabhängigkeit und Unverantwortlichkeit, die für jedes, auch kollegial organisiertes autoritäres Organ wesentlich sind. 36 Nach dieser hier nur skizzierten Begriffsbestimmung ist das Führerprinzip nur ein Sonderfall des autoritären Prinzipes und freilich ebensowenig originell wie dieses, war es doch schon in der Einrichtung des absoluten Monarchen in Reinkultur verwirklicht. Der heutige Staatsführer im republikanischen Führerstaat - zum Unterschied vom monarchischen Führerstaat, wo sich der Duce mit dem Monarchen in die obersten Staatsfunktionen teilen muß - unterscheidet sich vom absoluten Herrscher nur durch die Formen des Erwerbes und die Mittel der Garantie seiner Organstellung, nicht einmal aber in Bezug auf die Verantwortlichkeit, da von Rechts wegen der Führer ebensowenig wie der Monarch verantwortlich ist. Doch auch in Anwendung auf den ganzen Organapparat, der den obersten Führer unterstellt ist, ist das Führerprinzip nicht originell, denn insoweit ist es als Bureauprinzip auch in anderen Führerstaaten - das sind Staaten, die es an der Staatsspitze verankert haben, - weit verbreitet. Man denke nur an die Bureaukratie in der konstitutionellen Monarchie und Präsidentschaftsrepublik. Die Beweggründe der Einführung des Führertums beleuchten noch deutlicher sein Wesen. ,,Die Prinzipien des Führertums mußten sich zur Gewährleistung einer verantwortungsbewußten autoritären und volksverbundenen Führung auch in der öffentlichen Verwaltung durchsetzen. Das bedingte die Beseitigung des Kollegialprinzipes und der von ihm beherrschten Beschlußbehörden in der staatlichen Verwaltung und der Vertretungen und Ausschüsse in der Selbstverwaltung." 37 Demnach ist das Führerprinzip

36 Vgl. hiezu meinen „Grundriß der ständisch-autoritären Verfassung Österreichs", Wien, Verlag Springer, 1935. 37

Koellreutter, Deutsches Verwaltungsrecht, S. 47.

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durch die Merkmale autoritär und monokratisch gekennzeichnet; es ist nicht bloß nicht plebiszitär, sondern auch nicht kollegial. Seine folgerichtige Durchführung räumt nämlich mit den Kollegialorganen, zumindest in der Verwaltung, auf, während beispielsweise das autoritäre Prinzip für sich allein echte Kollegialorgane nicht ausschließt. Es zeigt sich an der Hand dieser reichsdeutschen Neuordnung, daß das autoritäre System in Österreich nur in beschränktestem Umfang mit dem Führerprinzip gepaart ist, denn trotz der autoritären Neuordnung sind echte Kollegien, das sind zusammengesetzte Organe, deren Mitglieder gleichberechtigt sind und in gemeinsamer Beratung und Abstimmung Beschlüsse fassen, in großer Zahl bestehen geblieben. (Bundesregierung, Landesregierungen, Gemeindevertretungen, akademische Kollegien - akademische Senate und Fakultäten - berufständische Kollegien.) Im deutschen Reiche wurden an Stelle der überkommenen Kollegien Führerräte eingeführt. In diesen Führerräten wird aber nicht abgestimmt und keine Mehrheitsentscheidung getroffen. Der Leiter der betreffenden Verwaltung entscheidet allein und nach eigener Verantwortung, aber er ist berechtigt und nach gesetzlicher Bestimmung unter Umständen sogar verpflichtet, den Führerrat zur Beratung beizuziehen."38 Könnte man bei dieser Konstruktion immerhin noch an Kollegien denken, denen nur ein votum decisivum versagt ist, die vielmehr auf ein votum consultativum beschränkt sind, so wird der kollegiale Charakter dadurch aufgehoben, daß den Leiter der Verwaltung nicht der Führerrat als solcher, sondern die einzelnen Mitglieder des Führerrates unter eigener Verantwortung beraten. Der „Rat" ist also ein zusammengesetztes Organ ohne eine Kompetenz seines Plenums. Das Führerprinzip verwirklicht sich demnach in der Kombination von autoritärem und monokratischem Prinzip. 39 Ein im neuen Staatsrecht begründetes weiteres organisationsrechtliches Problem ist das der Partei als Verwaltungsträger. Im konstitutionellen Staat, gleichviel, ob Monarchie oder Republik, sind die politischen Parteien juristisch gesehen, wenn überhaupt Rechtspersönlichkeiten, dann Vereine des allgemeinen Vereinsrechtes. Diese ihre Rechts-

38 OQ

Koellreutter, Verwaltungsrecht, S. 48. Vgl. mein Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1927, Julius Springer.

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Stellung steht in starkem Widerspruch zu ihrem Einfluß auf das Staatsleben, demzufolge geradezu die Parteien zu den konkurrierenden Akteuren der Politik werden, die um den Staat als Form rechtlicher Macht konkurrieren und sich des Staates zur Herrschaftsübung bedienen. Der Parteibetrieb spielt sich aber, juristisch gesehen, so wie irgend ein privater Konkurrenzkampf unter der Schwelle des Staatsrechtes ab und greift nur vereinzelt in das Bereich der Staatstätigkeit über, beispielsweise durch die Rolle der politischen Parteien als Wahlorgane, die ihnen in Wahlordnungen zur Volksvertretung eingeräumt wird. Dieses rechtliche Verhältnis zwischen den politischen Parteien und dem Staate erklärt sich einerseits aus der Tendenz des politischen Individualismus, die Sphäre des Staates im Verhältnis zur freien Gesellschaft möglichst einzuschränken, andererseits aus der bedingungslosen Freigabe der Parteigründung und Parteienbewerbung um die Staatsmacht. Derartige fluktuierende freie Gebilde, deren Gründung und Untergang ganz im Belieben von Privaten gelegen ist, können natürlich nicht den uniformen Charakter von Verwaltungsträgern erhalten. Anders, wenn eine Partei unter Verbot aller anderen Parteibildungen mit Monopolcharakter ausgestattet wird. Das ist bekanntlich die typische Form des Übergangs von der Formaldemokratie zum Autoritätsstaat, der sich durch Überwindung des Parteienpluralismus zum Einparteienstaat entwickelt hat. Eine monopolistische Partei gilt als Mittel der Führung neben Bureaukratie und Wehrmacht. 40 Allerdings besteht, juristisch gesehen, zwischen diesen gesellschaftlichen Erscheinungen keine Parität. Denn Bureaukratie und Wehrmacht sind Verwaltungseinrichtungen, Komplexe von Staatsorganen, die Partei gilt aber als eine vom Staat verschiedene öffentlich-rechtliche Körperschaft und ist darum für die juristische Betrachtung dem Staate untergeordnet, während sie soziologisch gesehen den Staat beherrscht. Das Verhältnis zwischen Partei und Staat wird noch durch die personellen Querverbindungen, die zwischen den beiden Körperschaften bestehen, indem gewisse Parteiorgane als solche auch Staatsorgane sind, und insbesondere der Parteiführer von Verfassungs wegen auch Staatsführer ist, kompliziert. Jedenfalls ist die Partei, ihrer Organisation nach, eine nach dem

40

Koellreutter, Staatsrecht, S. 55 ff.

Die Verwaltungslehre des neuen Deutschland

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Personalprinzip organisierte öffentliche Körperschaft und ihrem Wirkungskreis nach ein mit den anderen Gebietskörperschaften und öffentlich rechtlichen Körperschaften konkurrierender Verwaltungsträger geworden. 41 Für jeden autoritären Staat ist endlich das Berufsbeamtentum ein organisationspolitisches Problem, das eine Lösung aus der herrschenden Staatsidee bedingt. Im Bestände eines besonderen Beamtenrechtes als Funktionsordnung der im dauernden Dienstverhältnis zu den öffentlichen Körperschaften stehenden Organe und in der theoretischen Konstruktion dieses Beamtenrechtes hatte die Rechtswissenschaft des konstitutionellen Staates in bemerkenswerter Weise die Rechtsordnung und Rechtslehre des autoritären Staates antizipiert. Das Beamtentum galt als Instrument der Staatshoheit gegenüber dem Untertanen und als Anwalt der Staatsinteressen gegenüber der Gesellschaft. Mit einer solchen Konstruktion wurde dem bestehenden Rechte insoweit Gewalt angetan, als seine Grundidee und seine Institutionen vorzugsweise auf den Schutz des Untertanen vor dem Staat hinausliefen. Unter den gegenwärtigen staatsrechtlichen Verhältnissen ist weniger der Bestand des Beamtentums als einer besonderen öffentlich-rechtlichen Institution, als vielmehr die Aufrechterhaltung des Dualismus von Berufsbeamtentum und „Arbeitnehmerschaft", worunter man die in Österreich sogenannten „Privatangestellten" der öffentlichen Körperschaften versteht, eine offene Frage. Zur Erklärung dieses Dualismus und der gleichzeitigen Erweiterung des Kreises der Angestelltenschaft finden sich in der Literatur verwaltungsökonomische, aber auch ideologische Erwägungen. „Einem übermäßigen Anschwellen des Beamtenkörpers beugt die nationalsozialistische Gesetzgebung dadurch vor, daß sie grundsätzlich nur die Aufgaben als staatliches Mittel der Führung durch Beamte wahrnehmen lassen will, und die Wahrnehmung sonstiger Dienstleistungen für den Staat und öffentliche Körperschaften, Personen im Angestellten- und Arbeitsverhältnis (Staatsangestellte und Staatsarbeiter) zuweist." 42 Wenn man indes mit Koettgen die von öffentlichen Körperschaften entfaltete privatwirtschaftli-

41

Vgl. hiezu besonders „Partei und Staat" von Gottfried Neeße, Hamburg 1936.

42

Koellreutter, Verwaltungsrecht, S. 34.

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III.A. Verwaltungsrecht

che Tätigkeit überhaupt aus der Verwaltung ausscheidet und zu ihr in Gegensatz stellt, so ist die Verwendung verschiedener Dienstrechtsformen für diese beiden Gruppen staatlicher Tätigkeit nicht bloß verwaltungsökonomisch, sondern aus der Idee der Wesensverschiedenheit des Wirkungskreises heraus geboten. Arnold Koettgen argumentiert in typisch ideologischer Weise folgendermaßen: „Nur diejenigen staatlichen Aufträge, die sich in ihrer obrigkeitlichen Natur unmittelbar aus dem besonderen Wesen des Staates ableiten lassen, sollen Beamten übertragen werden, während in allen denjenigen Fällen, in denen der Staat sich seiner eigentümlichen Würde begibt und mit seinen Bürgern privatrechtlich verkehrt, Vertragsangestellte berufen werden sollen." 43 Wenn man auch nicht zugibt, daß der Staat seiner Würde etwas vergibt, wenn er das eine Mal durch einen Beamten, das andere Mal aber durch einen Angestellten dem Staatsbürger gegenübertritt, so ist es doch durch die Verschiedenartigkeit obrigkeitlicher und nichtobrigkeitlicher Tätigkeit gerechtfertigt, wenn für deren Versehung verschiedenartige Dienstrechtsformen verwendet werden. Darin liegt nun ein außerordentlicher Fortschritt der nationalsozialistischen Gesetzgebung, daß sie der wahlweisen und mithin möglicherweise auch unsachlichen Verwendung der beiden Dienstrechtsformen ein Ende gesetzt und für den („pragmatischen") Beamten- und den Angestelltentypus je ein zulässiges und gebotenes Wirkungsbereich abgegrenzt hat. Nach § 1 des Reichsgesetzes vom 30. Juni 1933 dürfen die Anstellungskörperschaften Beamte nur einstellen, „soweit dauernd erforderliche Amtsstellen zu besetzen sind, die die Wahrnehmung obrigkeitlicher Aufgaben in sich schließen oder die aus Gründen der Staatssicherheit nicht von Angestellten oder Arbeitern versehen werden dürfen". Dieses Funktionsbereich ist aber auch dem Beamtentum vorbehalten, während alle sonstigen im Namen des Staates übernommenen Aufgaben, insbesondere solche gewerblicher Natur, Vertragsangestellten überlassen bleiben. (Gesetz zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben vom 23. März 1934.) Damit greift, wie Koellreutter richtig feststellt, „der nationalsozialistische Gesetzgeber wieder auf den eigentlichen Sinn des Beamten ,als Hoheitsbeamten' zurück". Diese gesetzliche Umschreibung der Domänen des Beamten und des Vertragsangestellten festigt nicht bloß den Begriff des Beamten durch

43

A.a.O., S. 114.

Die Verwaltungslehre des neuen Deutschland

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Einbeziehung des Wirkungsbereiches in die Begriffsmerkmale, sondern beseitigt auch die Unsicherheit der Bestimmung im Einzelfall, ob ein Funktionär als Beamter oder Angestellter anzusehen, d.h. nach öffentlichem Dienstrecht oder nach bürgerlichem Recht zu behandeln sei. Mangels eindeutiger Formen für die Eingehung des einen oder anderen Dienstverhältnisses erklärte die Rechtsprechung des Reichsgerichtes auch denjenigen als Beamten, der sich nur im Angestelltenverhältnis befand, aber, wenn auch nur vorübergehend, mit der Erfüllung obrigkeitlicher Aufgaben betraut war. Nach § 1 des Reichsbeamtengesetzes wird heute die Beamtenteigenschaft nur durch den Formalakt der Anstellung als Beamter erworben. Die Beamtenanstellung wird durch Aushändigung einer Urkunde, in der die Worte „unter Berufung in das Beamtenverhältnis" enthalten sind, vollzogen. Die Aushändigung der Urkunde hat rechtsbegründende Bedeutung für das Entstehen des Beamtenverhältnisses. Das Reichsbeamtengesetz sagt selbst: „Wer keine solche Urkunde erhalten hat, ist nicht Reichsbeamter im Sinne dieses Gestezes." Damit ist für die Rechtswissenschaft eine klare gesetzliche Lage geschaffen. Beamter im Sinne des positiven deutschen Verwaltungsrechtes ist nunmehr der mit Anstellungsurkunde ausgestattete Reichsbürger, wobei sogar auf die Aufnahme des Funktionsbereiches (obrigkeitliche Verwaltung) in die Begriffsbestimmung des Beamten verzichtet werden kann. Nicht aus der Änderung der Rechtslage, sondern der herrschenden politischen Ideologie erklärt sich die noch schroffere Ablehnung der ehemaligen Konstruktion der Beamtenanstellung als ,,öffentlich-rechtlicher Vertrag". Indes ist der hiemit berührte Streit in Bezug auf die wissenschaftliche Qualifikation des Aktes der Anstellung nur ein terminologischer Streit, wenn man unter Vertrag jeden Akt der freiwilligen Willensübereinstimmung zwischen zwei Rechtssubjekten erblickt und aus der Vertragsnatur nicht irgend welche Konsequenzen bezüglich des Inhaltes des Aktes folgert, beispielsweise Parität und Dispositionsfreiheit der beiden Partner. Unter den bezeichneten Voraussetzungen ist die Beurteilung der Anstellung als öffentlich-rechtlicher Vertrag möglich, wenngleich es gewiß nicht zweckmäßig ist, diesen Staatsakt unter einen dem Privatrecht entlehnten Begriff zu subsumieren, wo nur das Ob der Anstellung der freien Willensübereinstimmung unterliegt, während der Inhalt der Anstellung durch detaillierte gesetzliche Regelung der freien Vereinbarung gänzlich entzogen ist. Ob man mit Koellreutter und anderen die Anstellung als einen Akt der staatlichen Führung deuten kann und soll, hängt davon ab, wie man die

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III.A. Verwaltungsrecht

Führung von der übrigen obrigkeitlichen Verwaltung abgrenzt. Eine solche Zuordnung ist immerhin darum sinnvoll, weil in der Beamtenbestellung und jedes obrigkeitliche Organ ist mit Beziehung auf die ihm unterstellten Untertanen Führer, wenngleich mit Beziehung auf seine Vorgesetzten nur Unterführer - zweifellos auch im soziologischen Sinn zumindest eine Hilfsfunktion der Staatsführung zu erkennen ist. 44 Wenn die Literatur einhellig die,, Angehörigen der politischen Führung" aus dem Berufsbeamtentum ausnimmt, so erklärt sich dies nicht aus irgend welchen ideologischen Unterschieden zwischen den beiden Organgruppen, sondern nur aus einer nicht allzu tief greifenden rechtsinhaltlichen Unterscheidung. Die Organfunktion der Reichsminister ist nämlich durch das Reichsministergesetz vom 27. März 1930, die Organfunktion der Reichsstatthalter durch das Reichsstatthaltergesetz vom 30. Jänner 1935, also vom Reichsbeamtengesetz gesonderte Rechtsquellen, geregelt. Immerhin können alle genannten Organtypen unter den Oberbegriff des Hoheitsverwaltungsbeamten subsumiert werden. Nach den vorstehenden Ausführungen ist es allerdings inkonsequent, terminologisch und begrifflich mit „Sparkassenbeamten", „Reichspost- und Reichsbahnbeamten" zu operieren, denn die genannten Verwendungsarten würden - soweit nicht ausnahmsweise obrigkeitliche Verrichtungen hereinspielen - die Verwendung des Beamtentypus ausschließen. Bei der durchgängigen starken Betonung des Autoritätsprinzipes im öffentlichen Dienst mag es vielleicht überflüssig erscheinen, daß dienstrechtlich aus der Gruppe der nichtrichterlichen Beamten die politischen Beamten durch Sondernormen (leichtere Amovierbarkeit und dergleichen) hervorgehoben sind. Die Umschreibung dieser Beamtenkategorie als „Berufsbeamte", deren Tätigkeitskreis in der unmittelbaren Vorbereitung und Gestaltung von Staatsakten besteht, und die sich deshalb in besonders enger Fühlung mit der politischen Führung befinden müssen45, gibt wohl kaum genügend deutliche Kriterien, um die politischen Beamten von sonstigen Hoheitsbeamten zu unterscheiden, wenn nicht das Gesetz durch taxative

44

Vgl. Koellreutter, Verwaltungsrecht, S. 35.

45

Koellreutter, Verwaltungsrecht, S. 37.

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Aufzählung den Kreis der politischen Beamten kenntlich machte. Übrigens sieht man den Abstand zwischen den politischen und sonstigen Beamten insoferne verkleinert, als „ i m nationalsozialistischen Staate die Beamten aller Kategorien unbedingt weltanschaulich zuverlässig sein müssen", so daß die Besonderheit der politischen Beamten nicht in der Steigerung gewisser Amtspflichten, namentlich der Treuepflicht, besteht, sondern sich auf die unterschiedliche Verwendungsart beschränkt. In dem angedeuteten Abgrenzungsversuch tritt übrigens das Mißverständnis zutage, als ob das Bekenntnis zu einem politischen Dogma - und mag es noch so tief wie ein autoritäres und totalitäres Staatssystem die Persönlichkeit ergreifen - eine Weltanschauung wäre. VI. Die Lehre vom Verwaltungsakt Die individualistische Brille, mit der die Verwaltungslehre der beiden letzten Menschenalter das Verwaltungshandeln untersucht hat, ließ jene Verwaltungstätigkeiten in den Vordergrund treten, mit denen sich das Verwaltungsorgan zum Staatsbürger in Beziehung setzt. Werden ja doch wenigstens im engsten Sinne des Wortes als Verwaltungsakte jene obrigkeitlichen Willenserklärungen bestimmt, mittels deren das Staatsorgan für den Untertan im Einzelfalle eine Rechtslage feststellt oder schöpferisch setzt. Eine antiindividualistisch eingestellte Verwaltungslehre muß naturgemäß diese individualistische Verengung oder Verzerrung des Aktbegriffes sprengen. Die geistige Erarbeitung eines neuen Begriffes und einer neuen Einteilung der Verwaltungsakte ist besonders charakteristisch. So führt Koellreutter aus: „Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das Verwaltungshandeln ,in Form' zu bringen. Dazu kommt die verschiedene Richtung des Verwaltungshandelns, je nachdem es sich im einzelnen Falle um die Gestaltung des Verwaltungskörpers oder darüber hinaus um die Eingliederung der Persönlichkeit in die Gemeinschaft handelt. Im ersteren Falle wird nur der einzelne Verwaltungsträger von dem Inhalt des Verwaltungsaktes betroffen. Man spricht dann von inneren Verwaltungsakten, die innerhalb des Verwaltungskörpers ablaufen, ohne unmittelbar auf die Volksgemeinschaft und die Stellung der ihr eingegliederten Volksgenossen einzuwirken. Findet dagegen eine solche unmittelbare Einwirkung statt, so spricht man von äußeren Verwaltungsakten." 46

46

Koellreutter, Verwaltungsrecht, S. 73 ff.

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III.A. Verwaltungsrecht

Die damit zum Ausdrucke kommende Zweiteilung der Verwaltungsakte in innere und äußere entspricht der bisherigen Gegenüberstellung von Dienstbefehlen an die Adresse der Staatsorgane und Individualakten - in der österreichischen Terminologie Bescheiden - an die Adresse von Untertanen. Nur eine Rechtsauffassung, die dem Rechte den Sinn einer Schutzanstalt des Individuums gegen den Staat einräumt, konnte einer Staatswillenserklärung, die für den Untertan Recht schafft oder außer Streit stellt, die unter prozessualer Mitwirkung des Untertanen zustande kommt und den Organapparat an die derart geschaffene Rechtslage bindet, vor der rein internen Willenserklärung der Verwaltung einen Vorzug einräumen. Eine konsequente Umdeutung der obrigkeitlichen Verwaltung im autoritären Sinn könnte sogar zu dem Ergebnis kommen, daß alle Akte der Verwaltung gleichartig, nämlich Gestaltungen von objektivem Recht seien, und daß es somit für das Wesen und die Gliederung der Verwaltungsakte bedeutungslos sei, ob gewisse derartige Akte von irgend welchen Interessenten in einem bestimmten Verfahren bekämpft werden können oder nicht. An der Unterteilung der „äußeren Verwaltungsakte" wird im großen und ganzen festgehalten. Nur wirkt sich das autoritäre Staatsdenken derart aus, daß im System der äußeren Verwaltungsakte die Verfügung noch stärker als bisher in den Vordergrund tritt. Die äußerste Konsequenz des bestimmenden Rechtsdenkens läge allerdings darin, die rechtsgestaltenden äußeren Verwaltungsakte mit sämtlichen inneren, in gewissem Sinn auch rechtsgestaltenden Verwaltungsakten - schaffen diese doch Verhaltenspflichten von Staatsorganen, was einer Verhaltenspflicht von Untertanen in keiner Weise nachsteht - unter dem weiteren Begriff der Verfügung zusammenzufassen. ,,In Gestalt der Verfügung wird das Rechtsverhältnis zwischen dem Träger der öffentlichen Verwaltung und einem einzelnen oder einem Verbände unmittelbar autoritär, letzten Endes befehlsmäßig bestimmt. In der obrigkeitlichen Verwaltung bildet diese Form des Verwaltungshandelns die Regel. Die Verfügung ist deshalb die wichtigste Rechtsfigur verwaltungsrechtlicher Gestaltung."47 Die Verfügung ist also im Vergleich mit dem Dienstbefehl dadurch gekennzeichnet, daß sie über die Verwaltung hinauswirkt, eine Verhaltensnorm für irgend einen Untertan statuiert.

7

o e l l r e u t t e r , Verwaltungsrecht, S. 7 .

Die Verwaltungslehre des neuen Deutschland

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Verschiebt sich das begriffliche Verhältnis der Verfügung zum Dienstbefehl kraft einer aus der neuen Staatsideologie erfließenden Notwendigkeit, so sind es logische Erwägungen, die für die neue Verwaltungslehre die Abgrenzung der Verfügung gegenüber anderen individuellen Verwaltungsakten, namentlich der Entscheidung, fraglich machen. Die Unterscheidung zwischen ,,Entscheidungen" als den deklaratorischen, feststellenden, und Verfügungen als den gestaltenden Verwaltungsakten 48 wird mit Recht in Frage gestellt, und zwar unter Hinweis auf die Begründung zum Entwurf der Württembergischen Verwaltungsrechtsordnung (S. 208), wo es heißt, ,,daß die Unterscheidung, die Entscheidung enthalte RechtsanWendungen auf einen einzelnen Tatbestand, wirke feststellend, und die Verfügung bedeute Rechtsschöpfung, Rechtsgestaltung, Änderung von Rechtsverhältnissen im Einzelfall, sich nicht anerkennen lasse, da auch die Verfügung in diesem Sinn häufig Rechtsanwendung enthalte, und die Entscheidung konstitutiv oder ändernd wirken könne. Ebenso versage das Unterscheidungsmerkmal, daß der Entscheidung eine rechtliche Gebundenheit, der Verfügung rechtliche Freiheit der Entschließung zugrunde liege" 49 . Es sei die Feststellung gestattet, daß mit dieser Abschleifung des Unterschiedes zwischen Entscheidungen und Verfügungen (der übrigens verfahrensrechtlich im österreichischen Verwaltungsprozeß und in der Verwaltungsgerichtsbarkeit durch die Zusammenfassung und Gleichbehandlung der beiden Akttypen unter der Rechtsform des „Bescheides" vernachlässigt ist), die neue deutsche Verwaltungslehre bewußt oder unbewußt in den Fußstapfen der österreichischen steht. Schon in meinem „Allgemeinen Verwaltungsrecht" habe ich ausgeführt: „Der Gegensatz, der mit den Worten deklarativ und konstitutiv bezeichnet wird, ist indes nicht, wie er in der Regel vorgestellt wird, absolut, sondern nur relativ. In jedem sogenannten konstitutiven Akt findet sich ein deklaratives und in jedem sogenannten deklarativen Akt ein konstitutives Element..." „Stellt man den Unterschied zwischen Entscheidungen und Verfügungen lediglich auf das quantitative Kriterium des konstitutiven und deklarativen Einschlages in den Akt ab, so mindert sich ... der Unterschied zwischen Entscheidungen und Verfügungen zu einem bloßen Gradunterschied und die Grenzen zwischen den beiden Aktbereichen

48

Ludwig von Koehler, Grundlehren des Deutschen Verwaltungsrechts, S. 159.

49

A.a.O., S. 159.

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III.A. Verwaltungsrecht

werden fließend, die Zuordnung eines einzelnen Aktes zu einem der beiden Bereiche kann dann nur a potiori nach dem überwiegenden deklarativen oder konstitutiven Einschlag vorgenommen werden. Der so verstandene Gegensatz von deklarativen und konstitutiven Akten ist dem ebenfalls nur graduellen Gegensatz von Akten der Gesetzesanwendung und des freien Ermessens verwandt, darf mit ihm jedoch nicht verwechselt werden." 50 Ein bemerkenswertes Zugeständnis an den Beriffsapparat der älteren Verwaltungslehre ist die Aufrechterhaltung der Kategorie des verwaltungsrechtlichen Vertrages. Setzt dieser Begriff doch die Annahme einer Gleichordnung zweier Verwaltungssubjekte im Zuge der verwaltenden Tätigkeit voraus. So ist es nur zu begreiflich, daß ,,die Frage, ob die Rechtsfigur des Vertrages, die der privatrechtlichen Regelung die entscheidende Prägung gibt, auch im Verwaltungsrecht Anwendung finden kann" 51 , ausdrücklich aufgeworfen wird, und vielleicht überraschend, daß sie bejahend beantwortet wird. Die „vertragliche Regelung", unter der die neue Lehre die vom Vertrag unterschiedene Vereinbarung ebenso wie den Vertrag versteht, „wird immer dann zur Anwendung kommen, wenn sich aus dem Wesen des betreffenden Lebensverhältnisses heraus der vertragliche Ausgleich mehr empfiehlt, als die befehlsmäßige Anordnung". Das Anwendungsbereich der Vertragskategorie sei die Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche sowie zwischen sonstigen öffentlichen Verbänden, namentlich Gemeinden. Ob dies eine bloß beispielsweise oder erschöpfende Umschreibung des Anwendungsbereiches unserer Rechtsform sein soll, ist nicht ersichtlich. Selbstverständlich ist die neue Lehre noch weniger als die alte geneigt, jeden Fall eines antrags- oder zustimmungsbedürftigen Verwaltungsaktes unter den Begriff des verwaltungsrechtlichen Vertrages zu subsumieren. V I I . Die Verwaltungsgerichtsbarkeit Unter allen Einrichtungen, die Gegenstand der Verwaltungslehre sind, bereitet naturgemäß die Verwaltungsgerichtsbarkeit der Verwaltungswissenschaft des neuen Deutschland die größten Konstruktionsschwierigkei-

50

Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 187 und 189.

51

Koellreutter, Verwaltungsrecht, S. 75.

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ten, soferne die Verwaltungslehre sich auch die Aufgabe der Politik, nämlich einer kritischen Stellungnahme zu den gegebenen Einrichtungen der Verwaltung setzt. Denn die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist ihrer Entstehung nach das echteste Kind des Liberalismus, das dem Mißtrauen gegen den Staat, insbesondere gegen dessen zentrale Funktion in der absolutistischen und jeden etatistischen Ära, also gegen die Verwaltung entsprungen, und dazu berufen ist, den Bürger gegen die Übergriffe der Staatsautorität in Schutz zu nehmen. Angesichts dieses unleugbaren Ursprunges der Verwaltungsgerichtsbarkeit bleibt einer weitenden Verwaltungslehre autoritär-etatistischen Charakters nur die Wahl, die Verwaltungsgerichtsbarkeit als eine zu überwindende Systemwidrigkeit zu verwerfen - oder ihre legislativpolitische Rolle umzudeuten. Da nun die erste Alternative überhaupt nicht in Frage kommt - gewiß nicht aus bloßer prinzipieller Kritiklosigkeit, sondern weil das Wesen des auch von der neuen Staatsideologie bejahten Rechtsstaates im Bestand einer gesicherten weitgreifenden Gerichtsbarkeit erblickt wird - muß der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine neue oder wenigstens gewandelte Aufgabe zugeschrieben werden. Die Gedankenbrücke zu dieser neuen Sinngebung der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist eine neue Sinngebung des Verwaltungsrechtes. Dieses war im liberalen, verfassungsgeschichtlich genommen, teils monarchisch-konstitutionellen, teils republikanisch-demokratischen Staat als Sicherung des Individuums gegen den Staat, als Schranke des Staates gedacht, und übernimmt durch die neue Sinngebung die Rolle einer Schranke des Individuums im Interesse des Staates. ,,So verstanden gehört das Verwaltungsrecht unter die Aufbaufaktoren der Verwaltung selbst und liegt also die Beachtung der einzelnen verwaltungsrechtlichen Bestimmungen durchaus im ureigensten Interesse der Verwaltungsbehörden." 52 Die frühere Verwaltungslehre war indes in einem Mißverständnis begriffen, wenn sie das Recht als eine Schranke des Staates angesehen hat. Im Sinne des Grundsatzes der rechtmäßigen Verwaltung, der in mehr oder minder großem Umfang die modernen Verwaltungsrechtsordnungen beherrscht, ist das Recht nicht Schranke, sondern Ermächtigungsgrundlage der Verwaltung. Dagegen ist, wie alles Recht, so auch das Verwaltungsrecht, Schranke für den Untertan. In diesem Punkt hat sich beim Übergang vom liberalen zum autoritären Rechtsstaat

52

Köngen, a.a.O., S. 213.

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III.A. Verwaltungsrecht

nichts Wesentliches geändert, und so hat die neue wie die alte Lehre bei der Deutung des liberalen als eines grundsätzlich durch das Recht beschränkten Staates gleicherweise Unrecht. Der unleugbare Unterschied zwischen der Rechtslage im liberalen und im autoritären und gar im totalen Staat besteht dagegen darin, daß die liberale Rechtsordnung die Ermächtigungen an den Staat in den engsten Grenzen gehalten hat, wogegen das Recht des autoritären und totalen Staates, vom expansiven Staatszweck beherrscht, fast uferlose Blankettermächtigungen erteilt. Die rechtspolitische Bejahung der Verwaltungsgerichtsbarkeit von Seite der Verwaltungslehre des neuen Deutschland wird vor allem dadurch erleichtert, daß man die Auffassung der Verwaltungsgerichtsbarkeit als Zweig der Verwaltung angetroffen und selbstverständlich übernommen hat. 53 „Unter Verwaltungsgerichtsbarkeit versteht man 54 den Teil der öffentlichen Verwaltung, der innerhalb derselben durch justizmäßig organisierte Behörden (Verwaltungsgerichte) Rechtspflege ausübt. Diese Verwaltungsrechtspflege steht in der Organisation der Staatsverwaltung. Die Verwaltungsgerichte ... unterstehen organisatorisch dem Ministerium des Inneren." 55 „Das Verwaltungsgericht ist daher seiner Natur nach integrierender Bestandteil der Verwaltung selbst, die hier aus sich selbst heraus eine besondere Kontrollmöglichkeit geschaffen hat, die sich in der Praxis immer anders auswirken muß als die Justizkontrolle der ordentlichen Gerichte." 56 Es soll hier auf den Meinungsgegensatz über die Subsumtion der Verwaltungsgerichtsbarkeit unter Justiz und Verwaltung nicht eingegangen werden. Nur so viel sei angedeutet, daß beide Standpunkte mehr oder weniger in der Rechtslage der beiden in Betracht kommenden Staaten begründet sind. Der Unterbau der im Deutschen Reiche bestehenden „Verwaltungsrechtspflege" steht nicht bloß im organisatorischen Zusammenhang mit der allgemeinen Verwaltung,

53

Eingehend habe ich mich mit dieser Lehrmeinung der reichsdeutschen Literatur in meinem „Allgemeinen Verwaltungsrecht" auseinandergesetzt. 54

Unter diesem „man" ist freilich nur die überwiegende reichsdeutsche Literatur zu denken. Österreichische Rechtswissenschafter haben die Verwaltungsgerichtsbarkeit immer zur Justiz gezählt. 55

5

Koellreutter, a.a.O., S. 134.

K ö g e n , a.a.O., S. 2 1 .

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sondern entbehrt auch des Attributes der „richterlichen Unabhängigkeit", so daß diese Einrichtungen, wenn die verfassungsmäßige Unabhängigkeit ein Merkmal der Gerichtsbarkeit ist, nicht zur Gerichtsbarkeit gezählt werden können, sondern als ein Stück Verwaltung aufgefaßt werden müssen; dagegen sind freilich die Spitzeneinrichtungen der Verwaltungsrechtspflege wie das preußische Oberverwaltungsgericht dank ihrer Teilnahme an den verfassungsmäßigen Attributen der Justiz nicht bloß als justizförmige, sondern als echte, gerichtliche Einrichtungen zu beurteilen - nicht weniger als der österreichische Bundesgerichtshof. Und so trifft die Behauptung, das Verwaltungsgericht sei „seiner Natur nach" Bestandteil der Verwaltung, nicht einmal von den reichsdeutschen Einrichtungen der Verwaltungsrechtspflege, gschweige von jeder anderweitigen Institution zu, die mit Recht als Verwaltungsgericht bezeichnet wird. Unter der Voraussetzung, daß die Verwaltungsrechtsprechung eine Stufe der Verwaltung ist, die sich unter gewissen prozessualen Bedingungen an den normalen Verwaltungsgang anschließt, fällt für eine etatistische Staatsauffassung das Hauptbedenken gegen die Verwaltungsgerichtsbarkeit, ihr Sinn eines Mißtrauensvotums gegen den Verwaltungsapparat weg: Die Verwaltungsrechtsprechung ist nämlich unter dieser Voraussetzung nicht ein Appell an eine fremde Autorität, sondern eine immanente Verwaltungskontrolle. Freilich muß eine falsche Theorie Gedankenkrücke der Rechtfertigung auch der rein justizmäßig verwaltungsgerichtlichen Einrichtungen sein, insolange man diese nicht im Sinne einer bloß justizähnlichen Organisation revidiert. Die Frage bleibt jedenfalls offen, ob die Einrichtung von Sondergerichten mit der Aufgabe der Verwaltungskontrolle noch dem Begriff der Verwaltungsgerichtsbarkeit entspricht oder nicht; ausdrücklich richtet sich die verengende Begriffsbestimmung nur gegen die Verwaltungskontrolle durch ordentliche Gerichte, stillschweigend, wenn auch vielleicht unabsichtlich, sind aber auch Sondergerichte aus dem Begriffe ausgenommen. Unter der Voraussetzung des administrativen Charakters der Verwaltungsgerichtsbarkeit, also der Gleichsetzung des Begriffes der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit einem bestimmten Organisationssystem, ist freilich nicht mehr ganz einleuchtend, wenn aus der „Natur" der Verwaltungsgerichtsbarkeit auch noch weitere Eigenschaften der Verwaltungsgerichtsbarkeit gefolgert werden, die einer Festlegung des Begriffes der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf bestimmte verwaltungsgerichtliche Systeme gleichkommen. Es ist im Sinne einer kollektivistisch-totalitären Staatsauffassung ganz

414

III.A. Verwaltungsrecht

folgerichtig gedacht, wenn die Enumerationsmethode und das System des Schutzes des objektiven Rechtes gefordert und die Ermessensprüfung abgelehnt wird, es ist aber vom Standpunkt einer rationellen Begriffsbildung abzulehnen, wenn diese rechtspolitischen Forderungen mehr oder weniger deutlich in der Maske rechtsbegrifflicher Notwendigkeiten auftreten. Gewiß ist es logisch unanfechtbar, wenn der Begriff der Verwaltungsgerichtsbarkeit einerseits auf den Fall einer administrativen, wenn auch gerichtsförmigen Verwaltungskontrolle, andererseits auf die Technik der Enumeration und des reinen Schutzes des objektiven Rechtes eingeengt wird - wie will man aber dann die bisher sogenannten verwaltungsgerichtlichen Einrichtungen qualifizieren, die nicht diesem rechtspolitischen Ideal entsprechen? Schließlich läßt man sie dann doch als Verwaltungsgerichtsbarkeit gelten, aber damit sind die begrifflichen Erfordernisse als rechtspolitische Wünsche demaskiert. Während die österreichische Verfassung ungeachtet des Systemwechsels des Jahres 1934 an einer großzügigen Generalklausel als Mittel der Umschreibung der verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit festgehalten hat (Art. 164 der Verfassung 1934 an Stelle des Art. 129 der Verfassung 1920), ja sogar die Möglichkeiten der Anrufung des Verwaltungsgerichtshofes auf den Fall qualifizierter Untätigkeit der Verwaltungsbehörden ausgedehnt und damit den individuellen Rechtsschutz über den Stand im liberalen Staat hinaus erweitert hat, ist die Gesetzgebung und noch mehr die Literatur im Deutschen Reiche auf eine rigorose Siebung der Fälle verwaltungsgerichtlicher Kontrolle bedacht - und die Verwaltungswissenschaft bemüht, diese rechtspolitisch bedingte Problemlösung rechtstheoretisch als einzig möglich zu erweisen. ,,Die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte wird vielmehr für jede einzelne Materie speziell anerkannt werden müssen, wie dies etwa im Unterschied zu den Hansestädten in Preußen immer gegolten hat. Die Berechtigung dieses sogenannten Aktionensystems ergibt sich schon aus der Tatsache, daß zur Wahrung der verwaltungsrechtlichen Ordnung vor allem anderen auch die Verwaltungsbehörden selbst berufen sind, neben denen der Verwaltungsrichter daher nur in besonders gelagerten Fällen tätig zu werden hat, die aus in der Natur des betreffenden Sachgebietes liegenden Gründen eine richterliche Kontrolle erforderlich erscheinen lassen."57 Vom Standpunkt eines autoritären, auf einer universalistischen Staatsauffassung

57

Köttgen, a.a.O., S. 215.

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beruhenden Verwaltungsrechtes ist es selbstverständlich durchaus begreiflich, wenn die als Garantie subjektiver Rechte sanktionierende Verwaltungsgerichtsbarkeit auf eine wohlüberlegte Enumeration eingeschränkt, und wäre es nur folgerichtig, wenn sie als Relikt des Liberalismus ganz aufgehoben werden würde, aber es ist vergebliche Mühe, aus der Natur eines Verwaltungsbereiches zu folgern, daß die einschlägigen Verwaltungsakte einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren zugänglich, ja sogar eines solchen bedürftig seien, die anderen nicht. Die Entscheidung für oder gegen verwaltungsgerichtliches Verfahren oder verwaltungsgerichtliche Kontrolle ist immer eine Frage rechtspolitischer Zweckmäßigkeit und ganz in das Ermessen des Gesetzgebers gestellt. Dieser wird sich bei eindeutiger, sei es auch unbewußter, individualistischer Einstellung eine großzügige Generalklausel zu eigen machen, bei eindeutig kollektivistischer Einstellung den verwaltungsgerichtlichen Schutz subjektiver Rechte gänzlich ausschließen und bei verschieden orientierter Rechtspolitik in Form von Enumerationen ein Kompromiß zwischen beiden Standpunkten anstreben. Es gibt keine Verwaltungstätigkeit obrigkeitlicher Natur, von der behauptet werden könnte, daß sie ihrem Wesen nach verwaltungsgerichtliche Kontrolle bedinge, und keine, die ihrer Natur nach verwaltungsgerichtliche Kontrolle ausschließt. Wenn jenes beispielsweise von der Steuerverwaltung und dieses von der Polizei gesagt worden ist, so ist dies zwar psychologisch verständlich - es deutet auf einen Menschen, dem sein Geldsack näher steht als seine geistige und physische Freiheit - aber theoretisch unhaltbar. Das Gesagte gilt selbst von der Regierung, wofern diese nicht auf bloßen Ermächtigungen beruht, sondern formell oder inhaltlich irgendwie gebunden ist. Ja selbst sozusagen völlig ungebundene, d.h. auf reinen Ermächtigungen beruhende Verwaltungstätigkeiten, die, weil sie naturgemäß in die Zuständigkeit von Spitzenorganen gestellt sind, im engsten Sinn als Regierungsgeschäfte angesehen werden können, sind nicht kraft begrifflicher Notwendigkeit, sondern nur aus Zweckmäßigkeit der verwaltungsgerichtlichen Überprüfung entzogen, und wären einer solchen Überprüfung zugänglich, sei es nun der Richtung, ob sie im Rahmen der Ermächtigung geblieben sind, also zur Korrektur von Ermessensüberschreitungen, sei es selbst in der Richtung, ob vom Ermessen sinnvoll Gebrauch gemacht worden ist. Die Verwaltungslehre des neuen Deutschland glaubt dagegen, eine begriffsnotwendige Exemtion der Regierung aus der Verwaltungsgerichtsbarkeit beweisen zu können: ,,Ist der Raum der Regierung, innerhalb dessen die

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grundlegenden politischen Entscheidungen fallen, im Unterschied zu der Verwaltungsführung grundsätzlich nicht institutionell verfestigt, so kann es auch gegenüber dem durch ein rein personales Charisma legitimierten Regierungsakt keine richterliche Kontrolle geben. Für eine Verfassungsgerichtsbarkeit ist daher heute kein Raum mehr und auch die aufrechterhaltene Verwaltungsgerichtsbarkeit muß gegenständlich unter allen Umständen auf die eigentliche Verwaltungsführung beschränkt bleiben." 58 In diesen Sätzen treten solche sehr einleuchtende rechtspolitische Wünsche mit dem Anspruch rechtstheoretischer Erkenntnisse auf. Wie wünschenswert auch mitunter eine Zügelung des parlamentarischen oder monarchischen Absolutismus sein mag, so ist es doch in ungeklärten politischen Lagen unklug, gerade der Justiz diese undankbare Aufgabe des Staatslebens zuzumuten. Wie Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit gezeigt haben, zieht sie bei einem so ungleichen Kampf den kürzeren und kompromittiert ihre eigentliche Aufgabe der Rechtspflege; und so ist es ein Gebot rechtspolitischer Klugheit und der Wahrung staatlicher Autorität in allen ihren Erscheinungsformen, wenn man der Justiz auf dem Gebiet der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit nur Aufgaben auferlegt, die sie voraussichtlich bewältigen kann, wo also die Rechtsprechung letzten Endes gegen die Gesetzgebung und Verwaltung Recht behält. Aber daß ein Regierungs- wie ein Gesetzgebungsakt wegen des persönlichen Charismas des Handelnden für alle Gerichtsbarkeit sakrosankt sei, ist eine unhaltbare Behauptung. Warum soll nicht der höchste Richter dem Inhaber einer anderen Staatsgewalt an persönlichem Charisma überlegen sein, und wo liegt die Gewähr jenes Charisma, wenn es sich jeder Prüfung, jeder außeramtlichen und amtlichen, insbesondere richterlichen, Kritik entzieht? Eine Forderung zäsaristischer Politik tritt hier als theoretische Erkenntnis auf. In ähnlicher Weise ist es nur eine Frage rechtspolitischer Zweckmäßigkeit, ob das Verwaltungsgericht ganz oder vorzugsweise mit der Aufgabe des Schutzes subjektiver Rechte oder des objektiven Rechtes betraut wird. Die Verwaltungslehre behauptet zwar neuestens: ,,Der Verwaltungsrichter ist heute ein aktiver Mitarbeiter der Verwaltung und als solcher durchaus nicht allein der Garant der individuellen Selbständigkeit"59, doch diese

58

Köttgen, a.a.O., S. 216.

59

Köttgen, a.a.O., S. 216.

Die Verwaltungslehre des neuen Deutschland

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Charakteristik des Verwaltungsrichters ist nicht an der richtigen Einsicht desselben Verfassers ausgerichtet, die in folgendem Satze beschlossen liegt: ,,In welchem Umfang allerdings nun die Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in dieser Art den Verwaltungsgerichten anvertraut wird, ist der Entscheidung des Gesetzgebers überlassen." 60 Es hängt also ganz von dieser freien Entscheidung des Gesetzgebers ab, ob das Verwaltungsgericht die Rolle eines Garanten von objektivem Recht, das zugleich subjektives Recht ist - wie alle Verwaltungsakte, die in die individuelle Rechtssphäre eingreifen, - oder auch oder ausschließlich die Rolle eines Garanten von objektivem Recht, dem kein subjektives Recht entspricht, zugewiesen erhält. Denn wenn auch zutreffend gesagt wurde: ,,Von der heutigen Auffassung des Verwaltungsrechts und damit auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit aus wird man ernstlich erwägen müssen, den Verwaltungsrichter auch mit der Garantierung des objektiven Rechts zu betrauen", so ist vor dem Mißverständnisse zu warnen, als ob ein solcher - zur Disposition eines Indivdiuums gestellter - Rechtsschutz nicht auch der Unversehrtheit des objektiven Rechtes diente. Denn der rechtswidrige Verwaltungsakt, der mit Beschwerde oder Klage angefochten werden kann, ist zwar - als sogenannter Individualaktkeine generelle Norm, aber doch ein Stück der Rechtsordnung, und Ziel der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist ja doch, ihn mit der höheren generellen Norm in Einklang zu bringen, also dem maßgeblichen objektiven Recht zum Durchbruch zu verhelfen. Das mit dem Wandel der Staatsauffassung gegebene, wenn auch nicht ganz zutreffend formulierte rechtspolitische Problem besteht darin, gegen die Verletzung des objekiven Rechtes durch Verwaltungsakt nicht bloß wegen der mitlaufenden Verletzung eines Individualinteresses, sondern wegen der Beugung des objektiven Rechtes Abhilfe zu bieten. Zu diesem Ziele müßte das verwaltungsgerichtliche Verfahren auch auf anderen Wegen als durch Initiative des in seinen Interessen Verletzten, der dank dieser prozessualen Rolle mit einem typischen usteron proteron der subjektiv Berechtigte genannt zu werden pflegt, in Gang gebracht werden können. Man braucht dabei durchaus nicht an die doch ebenfalls individualistische Popularklage zu denken, die in den einschlägigen Betrachtungen der deutschen Verwaltungslehre im Vordergrunde steht, denn ein solches Rechtsmittel könnte, zumal bei Herrschaft der Generalklausel, zu untragbaren Belästigungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit führen. Be-

60

Ebenda.

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kanntlich hat die österreichische Verwaltungsgerichtsbarkeit neben der auf breitester Basis belassenen Einrichtung der Parteibeschwerde auch Rechtsmittel im verwaltungsgerichtlichen Verfahren eingeführt, die lediglich dem Schutz des objektiven Rechtes und öffentlichen Interesses dienen, insbesondere das Beschwerderecht des sachlich zuständigen Bundesministers gegen gewisse Bescheide von Landesbehörden. (Art. 164 Abs. 2 Punkt 2 Verfassung 1934.) Auch die Parteistellung der Gewerbeinspektorate und der Landesfachsteilen für Naturschutz im Verwaltungsverfahren könnte als Vorbild für die Behandlung öffentlicher Interessen in der Verwaltungsgerichtsbarkeit dienen. Die jahrelange geistige Trennung hat das österreichische Recht und das österreichische Schrifttum dem Blick der deutschen Juristenwelt entrückt. Vielleicht findet dieses österreichische Gedankengut unter den geänderten politischen Verhältnissen auch im deutschen Reiche als Gewächs deutschen Denkens wieder Beachtung. Der Umfang des behandelten Gegenstandes gebot im Rahmen eines Zeitschriftaufsatzes insofern ein eklektisches Verfahren, als nur einige der wichtigsten, namentlich die allgemeinsten Probleme der Verwaltungslehre im Lichte der neuen reichsdeutschen Fachliteratur dargestellt werden konnten. Und selbst zu diesen ausgewählten Problemen der Verwaltungslehre konnten aus der täglich in emsiger Arbeit anwachsenden Fachliteratur nur charakteristische Stichproben aus den Schriften solcher Schriftsteller geboten werden, die sich zu dem Problem ausführlicher in charakteristischer Weise geäußert haben. Der auschließliche Zweck dieses anspruchslosen Literaturberichtes - eine vorläufige Orientierung des fachkundigen österreichischen Lesers - erklärt, daß die Kritik rein immanent gehalten ist und sich auf die nächstliegenden Bedenken beschränkt, womit natürlich durchaus nicht immer die Stellung der bisherigen deutschen, in Österreich bisher noch fast unangefochten herrschenden Lehre bezogen sein soll.

Rezension von:

Walter Antonioiii, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1954 Der das österreichische Verwaltungsrecht in Theorie und Praxis vollendet beherrschende Verfasser verfolgt mit dem vorliegenden Werke das Ziel, „die reichen Ergebnisse der Theorie des Verwaltungsrechts der Praxis zur Verfügung zu stellen, jene Ergebnisse aber gleichzeitig an einer bestimmten Rechtsordnung zu prüfen. Mit diesen Zielen sollen die allgemeinen Lehren des Verwaltungsrechts dargestellt werden, wie sie sich auf der Grundlage der österreichischen Rechtsordnung ergeben,Wenn nach dieser Feststellung des Vorwortes als rechtliches Erfahrungsmaterial ausschließlich österreichisches Recht benützt wird, so können die Forschungsergebnisse nur für den Bereich der österreichischen Rechtsordnung im Sinne allgemeiner Lehren des österreichischen Verwaltungsrechts Gültigkeit haben, was freilich nicht ausschließt, daß die klaren und meist zwingenden Gedankengänge auch bei der wissenschaftlichen Erfassung anderer geistesverwandter Rechtsordnungen verwertet werden können. In unangebrachter Bescheidenheit erklärt der Verfasser im Vorwort des weiteren: „Die gebotenen Lösungen wollen nicht originell sein. Ich habe die eigene Meinung nur dort in den Vordergrund gestellt, wo es bisher überhaupt keine oder nur unbefriedigende Lösungen gab." Selbstverständlich kann in einer Disziplin von solch umfangreicher Buch- und Zeitschriftenliteratur kein neues Werk geschrieben werden, das sich nicht in zahlreichen Ergebnissen wörtlich oder wenigstens inhaltlich mit bereits ausgesprochenen Erkenntnissen decken oder berühren würde. Indes ist jedes Ergebnis des besprochenen Werkes auf Grund gewissenhafter Prüfung der reichlich herangezogenen Literatur selbständig erarbeitet, mag es sich nun mit fremden Meinungen decken oder eine Neuschöpfung sein. In fast übertriebener wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit ge-

österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 6 NF (1955), S. 434-437.

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steht der Verfasser: ,,Mehr als alle Zitate dies dartun können, bin ich den Arbeiten von Adamovich, Forsthoff, W. Jellinek und Merkl verpflichtet, um nur jene zu nennen, die auf mich den größten Einfluß ausübten." In einem I. Teil des Werkes behandelt der Verfasser den Begriff der Verwaltung und deren inhaltliche Gliederung in die Hoheits- und Privatwirtschaftsverwaltung, ferner in die sogenannten Verwaltungszweige, das sind die Innere, Auswärtige, Justiz-, Heeres- und Finanzverwaltung; die Beziehung der Verwaltung zu den anderen Staatsfunktionen; das Problem des Verwaltungsrechts, im besonderen die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht, die Staatstypen Ordnungsstaat und Leistungsstaat, Justizstaat und Verwaltungsstaat, Polizeistaat und Rechtsstaat; abschließend die Verwaltungswissenschaft. Der II. Teil befaßt sich unter dem Titel ,,Die Rechtsordnung der Verwaltung" mit den Rechtsquellen, der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, dem Ermessen und der Gebundenheit, schließlich mit den Rechtsverhältnissen in der Verwaltung, im besonderen mit den Pflichten und Rechten im Bereich der Verwaltung. Der III. Teil bietet unter dem Titel „Personen und Behörden" eine Darstellung der „Rechtsträger" der Verwaltung, das sind die an der öffentlichen Verwaltung beteiligten juristischen Personen des öffentlichen Rechts, und einen Überblick über die Dienststellen des Bundes, der Länder und der Selbstverwaltungskörper. Der IV. Teil bringt in der Hauptsache eine Lehre von den Verwaltungsakten (im engsten Sinn des Wortes) und das Grundsätzliche des Verwaltungsverfahrens. Der V. Teil, mit dem Titel „Polizei" und der VI. Teil „Das öffentliche Vermögensrecht" greifen aus den Verwaltungsinhalten zwei in jedem Staate wiederkehrende Verwaltungsaufgaben heraus, um sie wesentlich einläßlicher als die übrigen Verwaltungsinhalte, fast in der Weise eines besonderen Verwaltungsrechts, zu behandeln. Der VII., Rechtsschutz benannte Teil, hat vorzugsweise die Amtshaftung, den Verwaltungsrechtszug und die Verwaltungsgerichtsbarkeit zum Gegenstande. Die Besprechung eines wissenschaftlichen Werkes, das auf engstem Raum eine ungewöhnliche Fülle von wissenschaftlichen Aussagen bringt, kann nicht einmal auszugsweise ein Bild der wissenschaftlichen Ergebnisse bieten. Dagegen sei es gestattet, einige bemerkenswerte Punkte zu berühren, wo ich dem Verfasser ausnahmsweise nicht beipflichten kann. Es sei vorausgeschickt: Soweit die Erkenntnis nicht durch ausdrückliche oder konkludente Legaldefinitionen gebunden ist, sind Begriffsbestimmun-

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gen nicht ein Gegenstand der Wahrheitserkenntnis, sondern ein willkürliches Mittel zur zweckmäßigen Ordnung des Rechtsstoffes. Versteht man unter der Verwaltung die Tätigkeit abhängiger (weisungsgebundener) Organe, dann empfiehlt es sich vielleicht, die Tätigkeit der bloß weisungsberechtigten Spitzenorgane, etwa der Minister, als Regierung von der Verwaltung auch sprachlich abzusondern (S. 6 ff.). Zumindest neben dem vom Verfasser im Einklang mit der herrschenden Lehre verwendeten Begriff der ,,HoheitsVerwaltung als der Funktionsbereich der dem Staat eigentümlichen Gewalt" (S. 10), hat auch der andere Begriff der Hoheitsverwaltung Daseinsberechtigung, der sie als den Inbegriff der Verwaltungshandlungen von Befehls- oder Zwangsnatur versteht. Das Erfordernis einer „bestimmten" (inhalterfüllten) gesetzlichen Regelung des Verwaltungshandelns nach Art. 18 B-VG gilt nur für Handlungen, die selbst obrigkeitlichen Charakter haben. Im Rahmen des österreichischen Rechts müßte zumindest ein verfassungsrechtlicher und einfinanzgesetzlicher Begriff der Hoheitsverwaltung unterschieden werden. Vielleicht darf man auch im Sinn der Bundesverfassung anregen, für Rechtsfunktionen den Ausdruck „Gewalt" zu vermeiden. Im Verfassungsausschuß der konstituierenden Nationalversammlung hat Seipel die Anregung Kelsens sich entschieden zu eigen und zum Gegenstand eines Antrages gemacht, die überkommene Formel „Die Staatsgewalt geht vom Volk aus" durch den Satz zu ersetzen: „Das Recht geht vom Volk aus." Daß Gerichte nur an Rechtsverordnungen gebunden sind, an Verwaltungsverordnungen dagegen nicht (S. 75), möchte ich nicht daraus folgern, daß bloß Rechtsverordnungen kundgemacht werden müssen, Verwaltungsverordnungen hingegen nicht, sondern aus der richterlichen Unabhängigkeit. Die Forderung, daß das Gesetz alle wesentlichen Merkmale der Regelung erkennen lasse (S. 76, im Einklang mit VerfGHSlg. 176/1923), scheint mir keinen objektiven Bestimmgrund für die Ermächtigung der Verordnung durch den Gesetzgeber abzugeben, sondern einem uferlosen Ermessen Raum zu geben. Dieses läßt sich freilich kaum allgemeingültig einengen. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit scheint mir nicht eine erschöpfende Normierung aller Tatbestände zu bedingen (S. 111). Mit der Annahme der revolutionären Entstehung der Republik Österreich folgt der Verfasser nur der in Österreich seit 1918 fast ausnahmslos vertretenen Lehre (S. 96). Dieser Entstehungsweg scheint mir aber durch die Tatsache in Frage gestellt zu sein, daß die Dismembration des Kaiserstaates in seine nationalen Bestandteile schon vor dem Staatsgründungsversuch der

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provisorischen Nationalversammlung (30. Oktober 1918) eingetreten ist. Es handelt sich daher um eine Staatsgründung in einem staatsfrei gewordenen Bereich. Die auch vom Verfasser angenommene Lehre vom Fortbestand der österreichischen Republik trotz der Machtergreifung des Nationalsozialismus, hat gewiß vieles für sich, ist aber besonders im heutigen Deutschland völlig unverstanden, in dem man etwa die Ernennung der Regierung SeyßInquart von Seite des österreichischen Bundespräsidenten als eine, wenngleich unter der Vorstellung gewisser persönlicher Gefahren oder Nachteile, gesetzte, freiwillige Willensäußerung deutet, die die Vertretungsbefugnis der von ihm bestellten Regierung und deren Fähigkeit mittels der Handhabe der österreichischen Verfassung den „Anschluß" zu verwirklichen, nicht in Frage stelle. Schließlich möchte ich der Annahme der Selbstausschaltung des Nationalrates (S. 98) durch die unglückliche Demission der Präsidenten am 5. März 1933, so, wie schon in meinen Aufsätzen im „Österreichischen Volkswirt" vom März 1933, eine entschiedenes Nein entgegensetzen. Unvorhergesehene Geschehnisse in einer Demokratie müssen gemäß dem Art. 1 B-VG im Sinne des demokratischen Prinzips, also des Fortbestandes der Volksvertretung, ausgelegt werden. Theoretisch war dies, wie ich an der zitierten Stelle nachzuweisen versucht habe, durchaus möglich, nur die Regierung hat es praktisch unmöglich gemacht. Nicht bloß der Wille zur Gerechtigkeit, zu dem sich der Verfasser im Vorwort bekennt, sondern die Fülle der dargebotenen Rechtserkenntnisse, verdient die Beachtung aller an der Verwaltung interessierten Theoretiker und Praktiker, einschließlich der angehenden Juristen.

2. Besonderes Verwaltungsrecht

Die neue Zeitrechnung I. Zur Einführung in die Sommerzeit A. Allgemeines über Recht und Zeit Das Recht unterliegt nicht nur einerseits wie alle menschlichen Dinge im bestimmten Sinne der Zeit, sondern unterwirft diese andererseits auch in manchen Belangen seiner souveränen Regelung. Unzertrennlich ist mit vielem Rechtsinhalte das Zeitmoment verknüpft, da ja doch das Recht von menschlichem Tun und Lassen handelt, welches zur Gänze zeitlich gebunden ist. Beispiele dafür sind unnötig, wie unendlich oft die Zeit von rechtlicher Bedeutung ist. Doch wenn wir von der souveränen Regelung zeitlicher Dinge durch das Recht sprechen, so müssen wir uns vorhalten, daß die Zeit als solche, das ist der Zeitablauf, etwas unwandelbar Gegebenes und von der Rechtsordnung als gegeben Hinzunehmendes ist; die Zeit ist eine der Mächte, an der sich die Kraft der souveränsten Rechtsordnung bricht. Stillstand oder rascherer Fortgang der Zeit sind kein möglicher Gegenstand eines Rechtsbefehles. In einem anderen Verhältnisse stehen Zeitbestimmungen und Zeitmaße zum Rechte. Zugleich mit der Zeit auch vor dem Rechte und unabhängig von ihm da, sind sie andererseits, da es sich ja doch nur gewissermaßen um menschliche Zutaten zum Zeitbegriffe 1 handelt, etwas, was der selbständigen rechtlichen Regelung unterliegt. Und da sei gleich vorausgeschickt, daß das Recht auf diesem Gebiete entweder anderweitig Bestehendes aufnehmen oder Neues schaffen kann.

Juristische Blätter, 45. Jg. (1916), S. 218-221. 1 Daß dieser selbst auch nur eine menschliche Bewußtseinsform ist, soll, um Mißdeutungen vorzubeugen, einfach als feststehend bemerkt werden.

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Das Recht ist hundertemale veranlaßt, auf die Zeit ausdrücklich Bezug zu nehmen; das tut es, indem es den sozial gegebenen Begriffsschatz der Zeitbestimmungen hebt und sich einverleibt. Nicht anders verfährt ja das Recht mit der gesamten menschlichen Begriffswelt, die von ihm nicht neu-, nicht umgeschaffen, die von ihm vorgefunden und in seine abstrakte Formenwelt eingekleidet wird. Das Recht operiert mit dem Begriff der Zeit wie mit dem des Raumes oder mit tausendfältigen anderen abstrakten Begriffen. Zuvörderst rechtsfremd werden sie durch Rezeption von Seite der Rechtsordnung, wenn man sie so nennen will, zu Rechtsbegriffen. Das ist überhaupt die Eigentümlichkeit des Rechtes - und im Grunde ist dies von einem solchen praktischen Dinge wie dem Rechte selbstverständlich - daß es nicht seine eigene, sondern die dem praktischen Leben entnommene Begriffswelt hat und mit dieser steht und geht. Es würde von unserem Thema zu weit abführen, wollten wir uns hier in die Beobachtung einlassen, wie die Rechtsentwicklung einem doppelten Bewegungsgesetze folgt: Dem der willkürlichen, auf dem Rechtswege erfolgenden Änderung, außerdem aber auch dem der unwillkürlichen, aus dem im Leben stehenden Rechtsinhalt hervorgehenden Änderung, die sich vornehmlich im Wege des Bedeutungswandels der (formell sich gleichbleibenden) Rechtssätze, Rechtsbegriffe, abspielt. So gelten auch die vom Gesetz verwendeten Raum- und Zeitbegriffe in dem Sinne, wie sie das praktische Leben ausbildet und ändert. Willkürlich, wie sie notwendig immer sind, bieten sie jedoch auch einer willkürlichen Anordnung des Rechtes Raum, das aber von den vom Leben geschaffenen Begriffen mit gutem Grunde nur ausnahmsweise und wieder nur aus guten Gründen abweichen wird. Bedingt ja doch eine Differenz zwischen dem vom Gesetz und vom Leben verwendeten Raum- und Zeitmaß eine meist umständliche und zeitraubende Umrechnung, da sich (wie selten etwas) die üblichen Maße in der menschlichen Vorstellung einwurzeln und ihre Entwurzelung durch das Gesetz einen höchst langwierigen und auf die stärksten Hemmungen stoßenden Prozeß darstellt. Haben wir es ja beim Übergang von der Gulden- zur Kronenwährung - einem Prozeß, der zu gesetzlichen Raum- und Zeitmaßänderungen ein nahe verwandtes Analogon abgibt erlebt, welch starken Reibungswiderständen im Denken gerade eine so wenig bedeutende, am Wesen der Dinge so gut wie nichts ändernde Reform begegnet, und sicherlich könnte man auch heute noch manchen Rechtsanwender beim „Umrechnen" ertappen.

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Ein Anlaß für das Recht zur Abweichung von den auf diesem Gebiete im Leben angetroffenen Begriffen wird umso weniger vorliegen und eine solche vom Rechte vorgenommene Änderung sich umso schwerer durchsetzen, als das im Leben angetroffene Maßsystem das Attribut des „natürlichen" verdient. Die beste Legitimation für eine vom Hergebrachten abweichende Regelung dieser Dinge durchs Gesetz ist hinwiederum die - merkwürdigerweise nicht seltene - Tatsache, daß das Kunstprodukt des Rechtes einem natürlichen Maßsysteme zum Sieg verhilft. Es sei an die gesetzliche Einführung des metrischen Systems erinnert! Man kann wohl annehmen, daß ein natürliches System die besten Aussichten hat, sich im Leben durchzusetzen; kann ja gerade die Möglichkeit und Tatsache der raschen, möglichst reibungslosen Einbürgerung als Maßstab einer mehr oder minder weitgehenden Natürlichkeit genommen werden! Die geringsten Triumphe solcher Art kann sich nun wohl, sollte man meinen, das Recht durch eigenbrödlerische Regelung von Zeitmaß und Zeitbestimmung holen, da sich auf diesem Gebiete ohne das Recht, vielleicht sogar auch trotz dem Rechte das Höchstmaß an - fast möchte man sagen naturwissenschaftlicher Natürlichkeit eingebürgert hat. Ohne eine geringe Abweichung vom Natürlichen ist es nun allerdings auch auf diesem Gebiete nicht gegangen, indem das Recht nicht nach natürlichen Sonnen-, sondern nach künstlichen Kalenderjahren mit 365 Tagen unter Vernachlässigung der Stunden, Minuten und Sekunden rechnet, welche die Astronomie zur Komplettierung des „natürlichen" Jahres ausgerechnet hat. Das Kalenderjahr als das Zeitmaß, das der normale Sprachgebrauch unter dem Begriff des Jahres versteht, gilt auch dann, wenn der gesetzliche Ausdruck des Jahres nicht in diesem Sinne definiert ist. Indem das Gesetz einfach von Jahren, Monaten, Tagen spricht und diese Größen als gegeben und bekannt voraussetzt, hat es den Sinn, der diesen Worten im normalen Sprachgebrauche zukommt, stillschweigend als gesetzliche Bedeutung übernommen. Die Einführung des Sonnenjahres als gesetzlichen Jahres (die einfach auf dem Weg erfolgen würde, daß das Gesetz das Wort in diesem Sinne definiert) oder die Einführung des dekadischen Systems, das im rechtlichen Raummaßsystem Herrschaft erlangt hat, in der Zeitrechnung, eine Reform, die (bei Beibehaltung der üblichen Zeitbenennungen) den Jahren oder Tagen, den Stunden und Minuten einen von dem üblichen durchaus abweichenden Sinn verleihen würde, sind Beispiele für eine selbständige gesetzliche Regelung in Zeitdingen. Theoretisch ohneweiters denkbar, werden sie sich praktisch aus dem

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Grunde niemals ereignen, weil sie höchstens der Forderung eines, wenn ich so sagen darf, arithmetischen Ästhetizismus und niemals einem wirklichen Verkehrsbedürfnisse entsprechen werden; kommt ja doch das Zeitmaß in der Rolle, die wohl das dekadische System für das Raummaß am wünschenswertesten erscheinen ließ, nämlich als Rechnungsfaktor, nur in untergeordneter Weise in Betracht. B. Die Sommerzeit Ein Eingriff des Rechts in die übliche Zeitbestimmung - und um einen solchen Eingriff handelt es sich bei Einführung der Sommerzeit - ist nun mit einem Eingriff in das Zeitmaßsystem, wofür eben ein paar Beispiele gebracht wurden, dem Wesen nach völlig gleichartig. Nur daß es sich - wie die Tatsache der gleichzeitigen Einführung in den mitteleuropäischen Staaten beweist - nebenbei bemerkt, der einzige, leider wahrhaft höchst bescheidene Ansatz einer Rechtseinheit von Mitteleuropa - hier tatsächlich um ein praktisches Bedürfnis handeln kann, während der hypothetische Charakter der vorangeführten Beispiele nicht zu verkennen war. Es handelt sich bei der gesetzlichen Sommerzeit nicht nur um eine willkürliche - die bisher übliche Zeitbestimmung war dies mitunter auch sondern insbesondere auch vom bisher Üblichen abweichende Zeitbestimmung durch die Rechtsordnung. Aber doch nicht um dies allein. Würde sich die Rechtsordnung ausdrücklich darauf beschränken und jede andere Rechtswirkung, die auf interpretativem Wege aus der Anordnung einer gesetzlichen Zeit zu entnehmen wäre, ausschließen, so würde es sich ausschließlich um unverbindlichen Gesetzesinhalt handeln. Das Gesetz kann nicht bestimmen, daß es 12 Uhr sein solle, wenn es in Wirklichkeit nach herkömmlicher oder natürlicher Zeitbestimmung erst 11 Uhr ist. Selbst wenn das Recht nichts als eine neue Zeitbestimmung ohne alle rechtliche Bedeutung in verbindlicher Weise einführen wollte, müßte es unter irgend einer Sanktion anordnen, daß man nach dieser Zeitbestimmung rechne, daß man sich etwa des Ausdruckes zu bedienen habe, es sei 12 Uhr, wenn es tatsächlich etwa erst 11 Uhr ist und dergleichen mehr. Das Hauptgewicht der rechtlichen Bedeutung der Einführung einer neuen Zeitbestimmung liegt, wie noch klar werden soll, in Dingen, die mit der Zeitbestimmung selbst nichts zu tun haben. Mit der gesetzlichen Zeitbestimmung ist es im Zweifel niemandem verwehrt, sich im Privatleben der gewohnten Zeitbe-

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Stimmung zu bedienen. Nur für die Fälle, wo sich ein RechtssatZy eine Rechtspflicht einer Zeitbestimmung bedient, ist diese durch die Anordnung der gesetzlichen Zeit in neuer Weise definiert. Die gesetzliche Zeit bedeutet im Zweifel nichts anderes als eine Legaldefinition der nach wie vor üblichen Ausdrücke für Zeitbestimmungen, die dadurch nötig wird, daß ihnen das Gesetz einen vom üblichen abweichenden Sinn beilegen möchte. Wenn die Zeitbestimmung 12 Uhr in einem Rechtssatz oder in einer Rechtspflicht vorkommt, so bedeutet das im Zweifel (wenn das Gesetz eine nähere Erklärung unterläßt) im Rechtssinn dasselbe wie im Sinne des natürlichen Sprachgebrauches; dieser ist nicht anders wie etwa bei den Zeitbestimmungen 1916, 1. Jänner und dergleichen einfach rezipiert. Werden nun durch die Sommerzeit Tagesstunden um je eine vornumeriert werden, so bedeutet dies, daß an Stelle der bisherigen Zeitbestimmungen in allen Fällen rechtlicher Relevanz die um eins niedrigere Stundenziffer einzusetzen ist. Es wird uns, konkret gesprochen, die Legaldefinition gegeben: 12 Uhr (im Sinne des Gesetzes) bedeutet 11 Uhr (in Wirklichkeit). Mangels einer Legaldefinition, die etwas anderes bestimmte, dauert ferner der Tag im Rechtssinne wie im Sinne des gewöhnlichen Sprachgebrauches 24 Stunden.2 Prinzipiell ist also, wenn eine Verbindlichkeit an einem bestimmten Tage, sagen wir also z.B. am 30. April zu erfüllen ist, auch in den Abendstunden zwischen 11 und 12 Uhr rechtzeitig erfüllt. Nun soll aber am 30. April 11 Uhr nachts gleich 12 Uhr nachts sein, die Erfüllungsmöglichkeit um eine Stunde verkürzt werden. Jede Minute in der 12. Stunde des letzten April wird schon das Datum des 1. Mai tragen, Nichtleistung bis 30. April 11 Uhr nachts wird - wenn nicht Übergangsbestimmungen dieser rechtlichen Wirkung der neuen Zeitbestimmung vorbeugen - , mora bedeuten. Den umgekehrten Sachverhalt, den man sich nunmehr leicht konstruieren kann, wird der Übergang zur Winterzeit, das ist die Rückkehr zur bisherigen Zeitrechnung ergeben: ein Tag mit 25 Stunden, mithin mangels Fälligkeit die Unmöglichkeit in der letzten Stunde zu fordern,

2 Eine Legaldefinition, die den Monat, vom normalen Sprachgebrauch abweichend, mit 30 Tagen ansetzt, ist bekanntlich üblich.

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obwohl die normalen 24 Stunden bereits verstrichen sind und dergleichen mehr.3 Soweit die Neuordnung der Grenzen der neuen Zeitrechnung, der Übergänge, mit der besonderen Komplikation, hier einer Kürzung, dort einer Verlängerung des Tages, genau des Zeitraumes, der von Rechtswegen als Tag zu zählen ist! Der fortdauernden rechtlichen Wirkungen wird es aber auch genug geben: ist z.B. eine Lieferung oder Zahlung für einen bestimmten Tag zu Mittag vereinbart, dann ist im Zweifel 4 11 Uhr nach alter Rechnung Fälligkeitstermin. - Ergeht die Vorladung für eine Gerichtsverhandlung auf 11 Uhr Vormittag, dann hat man Säumnisurteil zu erwarten, wenn man nicht nach alter Rechnung um 10 Uhr Vormittag erschienen ist. Der Zeuge, der für 10 Uhr 5 vorgeladen, erst um 10 Uhr nach alter Rechnung, nicht schon um 9 Uhr nach neuer erscheinen würde, hätte Ordnungsstrafe zu gewärtigen. Der Staatsbeamte, dessen Amtsstunden um 9 Uhr beginnen, würde, wenn er nach neuer Rechnung um 8 Uhr nicht schon im Amte wäre, eine Disziplinarwidrigkeit begehen. Das Schulkind hat, statt um 8 Uhr, bereits zu einer Zeit, wo es vordem 7 Uhr zeigte, in der Schule zu sein und

3 Es sollte uns wundern, wenn der Übergang zur Sommerzeit ohne alle unvorhergesehenen Unzukömmlichkeiten auf rechtlichem Gebiete abgehen würde; es dürften sich nachträglich manche redaktionelle Versehen, „Lücken" im Gesetze herausstellen. Handelt es sich doch um eine Maßregel, der die legislative Technik deswegen schwer gewachsen ist, weil sie sich an kein Vorbild halten und damit an keinen Fehlern der Vergangenheit lernen kann. Etwas wird das Gebiet der praktischen Wirkung der Reform auch auf rechtlichem Gebiete dadurch eingeengt, daß sich der Übergang zur Nachtzeit vollziehen wird. In der kritischen Stunde können keine „Rechtsmittel zur Post gegeben werden"; (im übrigen wäre es nicht zweifelhaft, daß etwa ein Rekurs, zu dem die Frist am 30. April abläuft - trotz des Sonntags kommt dieser Fall in Verwaltungssachen mehrfach vor - nach Einführung der Sommerzeit bei Einbringung in der Stunde zwischen 11 und 12 Uhr bereits als verspätet eingebracht anzusehen wäre. Der Fall, daß eine Lieferung mit dem ,,30. April zwischen 11 und 12 Uhr nachts" terminiert wäre - hiebei wäre schon zu mehr Bedenken Anlaß - wird sich kaum ereignen. Diese Beispiele mögen genügen. Die praktischen Wirkungen des Überganges würden, falls er sich um die Mittagsstunde ereignete, offensichtlich weiter reichen. 4

Hier ist übrigens noch ein anderer Zweifel möglich; wird nämlich ausdrücklich die Mittagsstunde bedungen, dann kann unter Umständen gerade damit etwas anderes als Punkt 12 Uhr nach neuer Rechnung, nämlich die alte, echte, natürliche Mittagsstunde gemeint sein; hier eröffnet sich ein - wie man sieht, ziemlich dorniges - Gebiet für die Auslegung. 5

Ohne jeden Zusatz, der eben über generelle gesetzliche Anordnung der neuen Zeit erübrigt.

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die Eltern würden sich unter Umständen einer Übertretung der Schulgesetze schuldig machen, falls sie ihr Kind zu dieser Änderung nicht verhalten sollten. Der Arbeiter, dem die Arbeitsordnung als Beginn der Arbeitszeit 7 Uhr morgens vorschreibt, hat - nach der Sonne gerichtet und gerechnet schon um 6 Uhr früh am Arbeitsplatz zu sein.6 Dies nur einige dürftige Beispiele für die rechtliche Relevanz der gesetzlichen Einführung der Sommerzeit! Worin besteht nun der Form nach die gesetzliche Einführung der Sommerzeit? Solcher Formen sind verschiedene denkbar. Der Beschluß des Deutschen Bundesrates vom 6. April 1916 (deutsches Reichsgesetzblatt Nr. 67 ex 1916) ging dahin, daß in der Zeit vom 1. Mai bis zum 30. September 1916 an Stelle der mitteleuropäischen Zeit (die in Deutschland durch Reichsgesetz vom 12. März 1893 eingeführt ist), als gesetzliche Zeit die mittlere Sonnenzeit des 30. Längengrades östlich von Greenwich gelten soll. Die Verordnung des österreichischen Gesamtministeriums vom 21. April 1916 Nr. 111 RGBl, bestimmt in ihrem § 1: „Für die Zeit vom 1. Mai bis 30. September 1916 wird eine besondere Zeitrechnung eingeführt, danach beginnt der 1. Mai 1916 am 30. April um 11 Uhr abends der bisherigen Zeitrechnung. 7 Der 30. September endet 1 Stunde nach Mitternacht der in dieser Verordnung festgesetzten Zeitrechnung." „Gesetzliche Zeit" also - ohne daß ein Rechtsbefehl, also der normale Inhalt eines Gesetzes im materiellen Sinne zum Ausdruck käme? Nichts

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Freilich kann es bei Vereinbarungen, die vor die Einführung der Sommerzeit zurückdatieren, zweifelhaft werden, ob die vereinbarte Stunde „nominell" oder „effektiv" gemeint ist. Heißt es also in der Arbeitsordnung, die Arbeitszeit beginne um 7 Uhr, dann kann damit definitiv eine bestimmte - als solche unverrückbare - Tageszeit gemeint sein, die durch eine gesetzliche, aber nicht zwingende Umbenennung der Tageszeiten nicht betroffen werden kann. Diese Auslegung scheint mir sogar näher zu liegen als jene, welche die Ziffer entscheiden läßt; ohne authentische Interpretationsnorm wird sich in solchen Fällen schwerlich mit nötiger Geschwindigkeit die so wünschenswerte Einhelligkeit der Theorie und gar der Praxis ergeben. 7

Eine gesetzliche Zeitrechnung wie im Deutschen Reiche hatten wir bisher nicht.

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davon, daß sich etwa alle oder zum mindesten die öffentlichen Uhren danach zu richten hätten8 - jedem steht es frei, seine Uhren gehen zu lassen, wie er will, keine Spur davon, daß diese Zeit im öffentlichen Verkehre irgendwie obligatorisch wäre 9 - sie ist vielmehr nur fakultativ, sie gilt nur mangels anderweitiger Vereinbarung und kann also durch eine Vereinbarung ausgeschlossen werden, es handelt sich also um ius dispositivum und nicht um ius cogens.10 Aber nichtsdestoweniger handelt es sich doch wieder - mag in der Formulierung der Sache ihr normativer Charakter auch nicht in den ihm charakteristischen Worten, als Gebot, als Befehl, als Anordnung zum Ausdruck kommen, um echtes normatives Recht. ,,Diese und diese Zeit ist gesetzliche Zeit" ist für sich allein selbstverständlich kein Rechtssatz; aber dieser Satz ist bestimmt, in zahlreiche andere Rechtsnormen, in zahllose Rechtspflichten als ein Bestandteil aufgenommen zu werden. Durch diesen Satz werden zahlreiche echte Rechtssätze, zahllose Rechtspflichten in ihrer gegenwärtigen Gestalt in einem Punkte modifiziert; in bezug auf ihre Zeitbestimmung, sofern sie eine solche enthalten ist. Um nochmals das Beispiel der Lieferungspflicht anzuführen: Die Rechtspflicht, an einem bestimmten Tage zu Mittag zu liefern, wird im Zweifel dahin modifiziert, effektiv eine Stunde vor Mittag zu liefern. Die Pflicht des Staatsbeamten, um 8 Uhr im Amt zu sein, wird dahin abgeändert, daß nunmehr effektiv um 7 Uhr der Dienst beginnt. Soweit es sich um Pflichten der Staatsorgane handelt, nimmt die gesetzliche Zeit (wie alle Rechtseinrichtungen) überhaupt den Charakter des ius cogens an. Es handelt sich also bei der Einfüh-

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Eine Ausführungsverordnung der n.-ö. Statthalterei vom 22. April 1916 Pr Z. 804/1 ordnet das letzte zwar an; doch kann hier schwerlich noch von einer „Ausführung" der kaiserlichen Verordnung die Rede sein. 9

Der Regierungskundmachung, wonach die politischen Behörden angewiesen, allfällige Versuche, die Wirkung dieser Maßnahme durch Verlegung der Geschäftsstunden und dergleichen zu durchkreuzen, stehen nicht die nötigen rechtlichen Mittel der Durchsetzung zu Gebote. 10

Eine „gesetzliche Zeit" könnte selbstverständlich auch als solche gestaltet sein. Ja, der Zwangscharakter solcher formeller Vorschriften kann auch soweit getrieben werden, daß der Gebrauch anderer als der gesetzlichen Zeitbestimmungen, anderer als der gesetzlich vorgeschriebenen Raummaße, Gewichte und dergleichen mehr auch im sonst rechtsfreien bürgerlichen Leben verwehrt ist. Eine Annäherung an diesen gesetzlichen Zustand, der in voller Durchführung wohl dicht an die Grenzen der Lächerlichkeit streifen würde, bedeutet es wohl, wenn die Anschreibung von Preisen - auch wo diese an sich nicht obligatorisch ist - nur in Kronenwährung gestattet wird und dergleichen mehr.

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rung der Sommerzeit - auch in dieser wenig straffen Form, wie es die bloße Einführung einer „gesetzlichen Zeit" ist - um Gesetzgebung im materiellen Sinn, also um einen Staatsakt, für den die Gesetzesform unentbehrlich ist. In Österreich steht also neben dem Gesetze als einziger Weg nur noch dessen Surrogat, die § 14-Verordnung offen. 11 Nachdem wir nunmehr gesehen haben, was die Einführung einer gesetzlichen Zeit im Rechtssinne zum mindesten und höchstens bedeutet, wollen wir uns nur noch fragen, was sie nicht bedeutet. Wenn wir ein wenig dieser Frage nachgehen, wird uns einigermaßen klar werden, wo die gedanklichen Schranken einer solchen gesetzlichen Maßregel gelegen sind. Man ist nämlich allzusehr geneigt, die Vorstellung der Anordnungsmöglichkeiten des Gesetzes zu überspannen; diese Vorstellung soll also mit wenigen Andeutungen auf das richtige Maß zurückgeführt werden. Die Einführung einer gesetzlichen Zeit bedeutet keine Neuerung, keine Änderung an der Zeit. Wie paradox es klingen mag: Die Reglementierung der Zeit ist eigentlich keine Reglementierung der Zeit, sondern bloß der Dinge, die dahinter liegen, der rechtlich relevanten Tatsachen, welche in der Zeit gelegen sind; eine eigentümliche, aber, wie sich zeigen wird, nicht ungeschickte, psychologisch vortreffliche Lösung eines legislativen Problems. Die Zeit selbst ist, wie man ohne Beweise glauben wird, einer rechtlichen Regelung, Beeinflussung im Wege Rechtens völlig unzugänglich. Sobald es für eine naturwissenschaftliche Betrachtung Mittag ist, dann ist es Mittag, mag das Gesetz auch noch so dezidiert erklären: Für mich ist es bereits ein Uhr. Und wenn auch das Gesetz Mittag annimmt, das hindert nicht, daß es nicht doch erst 11 Uhr ist, 11 Uhr in dem naturwissenschaftlichen Sinne, daß noch eine Stunde fehlt, bis die Sonne ihren Kulminationspunkt erreicht haben wird. Die Zeit, das ist wohl jetzt sonnenklar, die Zeit ändert sich nicht, sondern die Tatsachen, die in ihr gelegen sind. Richtet sich die gesetzliche Zeit nicht nach der natürlichen Zeit - immer die Gegebenheit einer solchen vorausgesetzt - dann haben wir eben, da es unmöglich ist, daß sich die natürliche nach der gesetzlichen richtet, einfach eine doppelte

11 Dieser Weg wurde formell eingehalten, indem die in Rede stehende Verordnung des Gesamtministeriums ,,auf Grund der kaiserlichen (Ermächtigungs)Verordnung" vom 10. Oktober 1914 Nr. 274 RGBl, erging. Nur daß die Ermächtigung zu Maßregeln ,,auf wirtschaftlichem Gebiet" erging, könnte vielleicht Bedenken erregen. Übrigens lautet die reichsdeutsche Ermächtigung nicht anders.

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Zeitbstimmung.12 Diese haben wir aber eigentlich, wie in Parenthese vermerkt sei, bereits heute, auch ohne Sommerzeit. Die mitteleuropäische Zeit ist um nichts mehr und nichts weniger unnatürlich als die kommende Sommerzeit; das heißt genauer, naturwissenschaftlich ausgedrückt, geben beide Zeitbestimmungen nur die Sonnenzeit der Punkte wieder, die ein bestimmter Längengrad durchschneidet. Für alle anderen Punkte ist z.B. die mitteleuropäische oder jede andere Zeit, mag sie nun gesetzlich eingeführt sein oder gewohnheitsmäßig gelten und dadurch indirekt den Charakter der gesetzlichen Zeit annehmen, unnatürlich-willkürlich. Ja auch die eigene der geographischen Lage entsprechende Zeit - die hie und da größere Städte in Übung haben13, ist willkürlich, denn sie paßt ja doch wieder nur für eine bestimmte Linie; die Bruchteile von Minuten oder Sekunden, die sich für die verschiedenen Stadtteile in positiver oder negativer Richtung ergeben, fallen praktisch nicht in Betracht, doch sie sind vorhanden und geben auch dieser lokalen Zeitbestimmung den Charakter des Fiktiven. Umsomehr gilt dies von jeder gesetzlichen oder auch rein gewohnheitsmäßigen (durch stillschweigende Delegation gesetzlichen)14 Einheitszeit. Die Einheitszeit eines Staates kann, wenn überhaupt, dann nur relativ natürlich sein; als „natürliche" ist vielleicht jede anzusprechen, die irgend einem Punkte des Staatsgebietes geographisch-astronomisch entspricht; als natürlicher mag man vielleicht jene ansprechen, welche sich als arithmetische Mitte der Sonnenzeit des westlichsten und östlichsten Punktes des Staatsgebietes ergibt. Weder die mitteleuropäische, noch die Sommerzeit ist für die in Betracht kommenden Staaten eine solche.15 Die Stunde, die von der mitteleuropäisch oder nach Sommerzeit gerichteten Uhr gezeigt wird, weicht - mit der einen bezeichneten Ausnahme16 12 Eine Dritte ergibt sich dadurch, daß sich das Gesetz nicht an die eingebürgerte konventionelle Zeitbestimmung hält, sondern überdies selbst eine willkürliche einführt. 13

Wien z.B. bis vor wenigen Jahren.

14

Besteht keine gesetzliche Zeit, dann gilt für jeden Ort von Rechtswegen die Zeit, nach der man sich zu richten pflegt. 15 Bei der Zeitbestimmung richtet man sich eben nicht nach der Astronomie oder Geographie, sondern nach Zweckmäßigkeitsmomenten. Die Zeitbestimmung, die hier in Frage kommt, ist übrigens keine heuristisch-deskriptive, sondern eine autonom-normative. 16

Für den Längengrad, der den allgemeinen gesetzlichen Zeitmaßstab abgibt.

Die neue Zeitrechnung

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regelmäßig von der Zeitangabe der Sonnenuhr mehr oder weniger ab. Wenn es nun nach der gesetzlichen oder nach der vom Gesetze delegierten übungsmäßigen Zeit etwa heißt: es ist 12 Uhr Mittag oder 12 Uhr Mitternacht, 6 Uhr morgens oder 6 Uhr abends, dann ist es in Wirklichkeit nicht so viel, sondern mehr oder weniger. Es handelt sich bei der gesetzlichen Zeitbestimmung um eine Legaldefinition dessen, was - wenn oder weil nicht der natürliche Sinn - anderes unter einer bestimmten Zeitangabe zu verstehen sei: Wir haben es mit einer Unzahl rechtlich relevanter Zeitpunkte zu tun; es wird aber nicht jeder einzelne in seinem Verhältnisse zur Sonnenzeit, in seiner Deklination von dieser bestimmt, sondern diese Bestimmung erfolgt generell durch den einen Satz, der die gesetzliche Zeit normiert. Dieser Satz enthält einen gemeinsamen Faktor sämtlicher rechtlich relevanten Zeitpunkte.17 Wenn nun die gesetzliche Zeit nichts anderes bedeutet, als daß in allen Fällen, wo es rechtlich auf einen bestimmten Zeitpunkt ankommt, zur natürlichen Angabe der Zeit da so und so viele Minuten zu addieren, dort so und so viele Minuten zu subtrahieren seien, warum nennt das Gesetz nicht gleich die rechtlich relativen Zeitpunkte in natürlicher Zeitrechnung? Zugegeben, daß die Einheitszeit ein Verkehrsbedürfnis ist, warum bleibt das Recht nicht bei dieser, bei der mitteleuropäischen, und verfolgt seine Zwecke nicht dadurch, daß es sagt: Alles, was rechtlich an eine bestimmte Stunde gebunden war, ist von nun an die vorangehende Stunde gebunden? Wenn das Gesetz sagte: ,,Die Amtsstunden in staatlichen Ämtern beginnen von nun an statt um 8 Uhr um 7 Uhr, statt um 9 Uhr um 8 Uhr und nach diesem Muster in allen Fällen, auf die man es abgesehen hat, so käme das auf dasselbe hinaus, wie wenn es (so in Wirklichkeit) sagt: 8 Uhr ist in Hinkunft 9 Uhr, 7 Uhr 8 Uhr usw.; jener Vorgang wäre aber doch wohl natürlicher zu nennen als dieser: und doch wäre die Wirkung vermutlich nicht im entferntesten so weitgehend, könnte bei solcher Methode schwerlich der Zweck erreicht werden, dessen Erreichung der tatsächlich eingeschlagene Weg bei seinem minimalen Aufwand an gesetzlichen Mitteln verspricht; nämlich der, das ganze große soziale Tagewerk um eine Stunde

17 Denen, die hier von Fiktion sprechen, wäre entgegenzuhalten, daß das Gesetz doch nicht die Stunden, die es als gesetzliche Zeit festsetzt, als wirkliche Zeit annimmt; es ist sich der Divergenz vollauf bewußt.

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III.A. Verwaltungsrecht

gegen den Morgen zu verschieben, der Nacht eine Stunde abzugewinnen. Eine Stundefrüherl: Dem Gebote fügt sich nur der, ,,der muß" ... Nach wie vor zu derselben Stunde - da paßt sich jeder an, wenn es auch nur nominell dieselbe Stunde ist, effektiv aber doch um eine Stunde früher;... mundus vult decipi. 18 Wir verkennen dabei nicht, daß diese Täuschung das erfolgreichste und einzige Mittel sein dürfte, um einer an sich sozial unbestreitbar vorteilhaften Neuerung zum Durchbruch zu verhelfen.

18

Ein bißchen nach diesem Rezept ist jedenfalls die ganze Regel geraten.

Das Wesen des Religionsaustrittes Eine Staats- und Rechtsordnung, welche an die Tatsache der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft Rechtsfolgen irgendwelcher Art knüpft, die also z.B. - wie unsere Rechts- und Staatsordnung - für den Abschluß der Ehe je nach der Religionszugehörigkeit verschiedene, mit den Vorschriften der einzelnen Konfessionen identische Formen statuiert, der aber auch sonst das Religionsbekenntnis in mannigfacher Weise1 relevant ist, sieht sich selbstverständlich genötigt, Kriterien für die Religionszugehörigkeit aufzustellen. Ist irgendwo gesetzlich auf die Religionszugehörigkeit Bezug genommen, so ist ja selbstverständlich die erste Frage, woran eine bestimmte Religionszugehörigkeit zu erkennen sei; die rechtlichen Folgen sind in ihrer Anwendung auf den konkreten Fall durch diese Erkenntnis bedingt. Da das Recht mit seiner Berücksichtigung des Religionsbekenntnisses auf eine ihm a priori fremde und unabhängig von ihm entstandene wie bestehende Institution, und zwar auf ein Normsystem ähnlich dem des Rechtes selbst Bezug nimmt, ist erklärlicherweise die Delegation der betreffenden konfessionellen Vorschriften das Nächstliegende; es hätte also, wer im Sinne einer bestimmten Religion als ihr angehörig gilt, auch für das Rechts- und Staatsbereich als derselben Religion zugehörig zu gelten. Der für die bestimmte Religionsgemeinschaft bestehende Erkenntnisgrund der Angehörigkeit ist dann gleichzeitig für Recht und Staat Erkenntnisgrund dieser Zugehörigkeit. Würde sich etwa die für das Bereich des Staates in Betracht kommende Religionsangehörigkeit regelmäßig nach einem eigens konstruierten staatlichen Erkenntnisgrunde richten und damit die prinzipielle Möglichkeit der regelmäßigen Divergenz zwischen Religionsbekennt-

Juristische Blätter, 45. Jg. (1916), S. 433-436. 1

Z.B. die Bestimmung, daß der Oberlehrer einer Schule derselben Religion anzugehören habe, wie die Mehrheit der Schüler; oder daß die Mitglieder des evangelischen Oberkirchenrates einem der beiden evangelischen Bekenntnisse zugehören müssen; oder: die Erziehung der Kinder; die Beitragspflicht für konfessionelle Zwecke usw.

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III.A. Verwaltungsrecht

nis im Rechtssinn und Religionsbekenntnis im Sinne jener Religionsgemeinschaft, von welcher der bestimmte Name entlehnt ist, ergeben, so wäre ja unserer Einrichtung ihr vernünftiger Sinn - rechtliche Berücksichtigung einer a priori rechtsfremden gesellschaftlichen Erscheinung - ebenso benommen, wie ihr ein Sinn abgehen würde, falls die Gesetzgebung an eine ausdrücklich gemachte Unterscheidung zwischen den einzelnen Konfessionen keine rechtlichen Konsequenzen knüpfen sollte. Da müßte dann einfach jede rechtliche Differenzierung zwischen Konfessionen - auch die im gesetzlichen Ausdrucke - wegfallen. Diese Delegation an die Auffassung der betreffenden religiösen Gemeinschaft ist so naheliegend, daß sie sich, wo sie nicht ausdrücklich gemacht ist, notwendig immer von selbst versteht. Wenn ein Gesetz von Christen und Juden, Katholiken und Evangelischen, Römisch- und Griechisch-Katholischen spricht, ohne hinzuzufügen, was es unter diesen Namen meine, dann ist eben das darunter verstanden, was der rechtlich undeterminierten gesellschaftlichen Auffassung entspricht. Die Sachlage ist keine andere, als wenn die Rechtsordnung von verschiedenen Volks- oder Sprachangehörigen, von Deutschen, Tschechen usw. spricht, ohne diese - keineswegs so eindeutigen - Begriffe zu definieren. Es ist eben einfach auf die gesellschaftliche Auffassung, besser die gesellschaftlichen Auffassungen verwiesen, die damit in ihrer ganzen Unstimmigkeit ins Gebiet des Rechtes hineingetragen sind. Ein Fall, der von den beiden genannten im Prinzip nicht abweicht, wäre etwa der, daß ein Armengesetz Rechte und Pflichten für „Arme" festsetzt, ohne eine Begriffsbestimmung des „Armen" zu bieten. Im Sinne des Gesetzes ist eben der arm, den die Gesellschaft oder deren letzten Endes maßgeblicher Exponent, nämlich das die Bestimmungen des Armengesetzes handhabende Staats- und Gesellschaftsorgan für arm erklärt. Es ist eine Situation, die auf dem Gebiete der Rechtsanwendung keine Ausnahmeerscheinung, sondern ausnahmslose Regel ist: Das notwendig in der (gesellschaftlichen) Sprach- und Denkform erscheinende Gesetz verweist stillschweigend auf die gesellschaftliche Auffassung der von ihm verwendeten Ausdrücke und Begriffe; und kann, auch wo es eigene Begriffsbestimmungen beliebt, diesen Rekurs auf ihm fremde Faktoren dadurch bloß hinausschieben, niemals unnötig machen. Die Definition ist lediglich die Ersetzung eines als unbekannt vorausgesetzten durch die Kombination mehrerer als bekannt vorausgesetzter Begriffe, die ihrerseits wieder eine Definition erfordern und zulassen würden. An einem bestimmten, praktisch nie sehr

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weit entfernten Punkte muß also die Legaldefinition halt machen und der wenn man so sagen will - Sozialdefinition Platz einräumen. Daß diese in sich wieder nicht einheitlich zu sein braucht, daß sie sich wieder etwa je nach der populären Meinung und wissenschaftlichen Auffassung, und weiterhin wieder nach verschiedenen voneinander abweichenden populären und wissenschaftlichen Ansichten differenziert, gibt den Rechtsbegriffen und damit dem ganzen Rechtssystem diesen eigentümlich vagen-relativen Charakter, der Grund für die gesamten Schwierigkeiten der Rechtsauslegung ist. Um das bisher Ausgeführte nunmehr auf den Fall der Religionszugehörigkeit anzuwenden: Ein Gesetz, das in seinen Bestimmungen nach der Religionszugehörigkeit Unterschiede macht, würde mit der bloßen Benennung verschiedennamiger Religionsangehöriger auf die von den einzelnen Religionsgesellschaften vorgenommenen Begrenzungen ihrer Mitgliederkreise verwiesen haben. Nun haben aber diese Kreise nicht die Eigenschaft sich auszuschließen, sondern die Eigentümlichkeit sich zu schneiden; das heißt es kommt der Fall sehr häufig vor, daß eine Person, welche im Sinne des Erkenntnisgrundes der einen Religionsgesellschaft als ihr zugehörig anzusehen ist und sich selbst als ihr Mitglied betrachtet, von einer anderen Religionsgesellschaft für sich reklamiert wird. Es liegt hier ein Fall doppelter Religionsangehörigkeit vor, der, wenn sich das staatliche Gesetz nicht für den einen oder anderen oder auch für einen dritten Standpunkt entschiede, zu den kompliziertesten Fragen der Rechtsauslegung führen müßte; gesetzt den Fall, es würde jemand vom Katholizismus als Katholik, von einem evangelischen Bekenntnis als Evangelischer angesehen werden und der Staat würde durch bloße Nominierung der beiden Religionsbekenntnisse (das heißt also gleichzeitige Delegierung ihrer Begriffsbestimmungen) diesen Konflikt für das Rechtsbereich rezipieren: nach welchen konfessionellen Formen wäre etwa in diesem Falle eine Ehe zu schließen? Um solchen Fällen zu begegnen, erweist sich also eine souverän-staatliche Begriffsbestimmung der einzelnen Religionszugehörigkeiten als geboten, eine Begriffsbestimmung, die sich ja im großen ganzen an die der einzelnen Religionsgesellschaften anschließen mag, wo sich aber die Möglichkeit solcher Konflikte ergibt, eben um sie auszugleichen, über die fremde Begriffsbestimmung erheben muß. Die Abgrenzung der Religionszugehörigkeiten geschieht nun durch die Merkmale des Eintrittes und des Austrittes. Der Eintritt und der Austritt sind

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die Pforten der Religionsangehörigkeit; wer sie durchschreitet, macht sich als Angehöriger der betreffenden Religion erkenntlich. Den Eintrittsfällen Geburt, vertragliche Vereinbarung, autonome Erklärung (das eigentliche Religionsbekenntnis) und welche sonstigen Fälle des Eintrittes die positive Rechtsordnung, konform mit der Auffassung einer Religionsgesellschaft oder abweichend von ihr, noch kennen mag, - stehen mehr oder minder analoge Austrittsfälle, namentlich Tod und autonome Austrittserklärung gegenüber. Durch eine besondere, von den konfessionellen Vorschriften prinzipiell unabhängige und daher denkbarer- und wirklicherweise von ihnen mitunter abweichende Regelung des Ein- und Austrittes - um vorläufig noch bei diesen der Richtigstellung bedürftigen Ausdrucksweise zu bleiben - führt der Staat die für ihn nötige Eindeutigkeit der Religionsangehörigkeit herbei. In Bezug auf den Eintritt in eine Kirche oder Religionsgesellschaft hält sich die österreichische Rechtsordnung im großen und ganzen an die betreffenden kirchlichen Einrichtungen. Nur in wenigen Fällen wird von Rechtswegen jemand als einer bestimmten Kirche oder Religionsgesellschaft angehörig betrachtet, den sie selbst nicht als ihr Mitglied ansieht. (Z.B. das ungetaufte Kind, das, wenn die Eltern einer christlichen Religion angehören, bereits mit der Geburt von Gesetzeswegen für einer christlichen Religion angehörig zu gelten hat, wiewohl etwa vom Standpunkt der christlichen Kirche aus die Aufnahme erst mit der Taufe erfolgt.) Der umgekehrte Fall, daß eine von einem konfessionellen Standpunkt aus reklamierte Person vom staatlichen Recht nicht als Mitglied dieser Kirche oder Religionsgenossenschaft betrachtet wird, ist viel häufiger. Dies erklärt sich einerseits aus der Erscheinung des Konfessionslosen, der oft zum mindesten von einer Kirche für sich reklamiert wird, andererseits aus der Tatsache, daß alle die Personen, die von zwei oder gar mehreren Kirchen oder Religionsgesellschaften reklamiert werden, vom Standpunkt der staatlichen Rechtsordnung immer nur höchstens einer Religion angehören, so daß alle anderen konfessionellen Ansprüche auf diese Person von Staatswegen unberücksichtigt bleiben. Die hauptsächlichen Rechtseinrichtungen, wodurch der Staat seine eigene Auffassung von Religionszugehörigkeit einer Person zum Ausdruck bringt, sind der Religionsaustritt (und daneben die vertragsmäßige Vereinbarung über die Religionszugehörigkeit von Kindern). Art. IV und V I des Gesetzes vom 25. Mai 1868, RGBl. Nr. 49 besagen bekanntlich: „Nach vollendetem vierzehnten Lebensjahre hat jedermann

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ohne Unterschied des Geschlechtes freie Wahl des Religionsbekenntnisses nach seiner eigenen Überzeugung und ist in dieser freien Wahl nötigenfalls von der Behörde zu schützen.... Damit jedoch der Austritt aus einer Kirche oder Religionsgenossenschaft seine gesetzliche Wirkung habe, muß der Austretende denselben der politischen Behörde melden, welche dem Vorsteher oder Seelsorger der verlassenen Kirche oder Religionsgenossenschaft die Anzeige übermittelt. Den Eintritt in die neugewählte Kirche oder Religionsgenossenschaft muß der Eintretende dem betreffenden Vorsteher oder Seelsorger persönlich erklären." Damit ist eine staatliche Religionsordnung getroffen, welche von kirchlichen Vorschriften grundsätzlich abweicht, mag sie mit ihr auch im Effekte zum großen Teile übereinstimmen. Ist aber damit wirklich staatlicherseits über ein individuelles Religionsbekenntnis oder eine Religionszugehörigkeit verfügt? In einem gewissen Sinne, glauben wir nämlich, entzieht sich die Regelung der Religionszugehörigkeit der staatlichen Regelung. Der Staat kann zwar z.B. anordnen, daß sich jemand zu einer bestimmten Religion bekenne und den Vorschriften dieser Religion gemäß lebe, oder er kann ein oder das andere oder überhaupt jedes Religionsbekenntnis und die entsprechende Religionsübung verbieten sowie diese konfessionellen Anordnungen durch Strafen durchzusetzen versuchen. Kurz der Staat kann in konfessionellen Dingen anordnen, daß etwas sein solle (was nicht ist), kann aber nicht autoritativ aussprechen, daß etwas sei (was nicht ist). Mit anderen Worten: der Staat kann Pflichten (zu einem Sollen), nicht aber Erkenntnisgründe (für ein Sein) schaffen. Ob jemand einer oder keiner Religion anzugehören habe, ist möglicher Gegenstand staatlicher Anordnung, ob aber jemand einer bestimmten Religion angehört oder nicht, ist ebenso bloß Sache logischer Erkenntnis wie die Frage, welcher Nationalität oder Rasse jemand angehört, wie sein Charakter oder wie sein Gesichtsausdruck beschaffen sei und vieles andere - gesetzlich läßt sich das nie ausmachen, das Gesetz kann nur wohl oder übel das normale Urteil rezipieren. Wenn nun aber das zitierte Gesetz vom 25. Mai 1868 RGBl. Nr. 49 tatsächlich Bestimmungen enthält, welche dem eben ausgeführten denklogischen Prinzipe zu widersprechen scheinen, indem sie sich - wenigstens dem Wortsinne nach unbekümmert um das rein Tatsächliche, um das gesellschaftliche oder konfessionelle Urteil, scheinbar ein Urteil darüber anmaße, welcher Konfession jemand angehört (ohne übrigens irgendwelche Pflichten in dieser Richtung zu statuieren), so gilt es eben, für die gesetzliche Terminologie,

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welche jenen Schein der Alogizität erweckt, einen vernünftigen Sinn aufzusuchen. Und dieser scheint sich ungezwungen auf folgende Weise zu ergeben. Was das Gesetz den Austritt aus einer Kirche oder Religionsgenossenschaft nennt, ist im Grunde gar nicht ein solcher - oder es kommt bei dem für das Staats- und Rechtsbereich gegebenen Religionsaustritt wenigstens gar nicht darauf an, ob die gesellschaftliche Meinung, insbesondere aber das kirchliche Urteil einen Religionsaustritt, einen Akt mit der Wirkung erblickt, daß der „Ausgetretene" nicht mehr Angehöriger seiner früheren Konfession ist. Das Urteil, daß bei einem bestimmten, vom Staate vorgezeichneten Akte ein Religionsaustritt vorliege, ist dem Rechte denklogisch verwehrt. Aber nicht einmal dem Staate, der staatlichen Rechtsordnung, braucht man das Urteil zu imputieren, daß hier ein Religionsaustritt vorliege. Der Religionsaustritt ist nur der gesetzliche Name für eine Parteierklärung, durch die sich eine Person dem Geltungsbereiche eines bestimmten Sonderrechtes entzieht, um sich gleichzeitig einem anderen Sonderrechte zu unterwerfen. Was sind die Wirkungen des sogenannten Religionsaustrittes? Jene rechtlichen Besonderheiten, welche mit der Tatsache - besser unter dem Titel der Konfessionslosigkeit verknüpft sind. Unmittelbare Folge der Religionsaustrittserklärung ist nach österreichischem Recht immer die sogenannte Konfessionslosigkeit. Auf diese und die für sie bestehenden rechtlichen Besonderheiten und auf das Erlöschen etwaiger staatlicher Pflichten gegen jene Kirche oder Religionsgenossenschaft, der man bisher angehörte, kommt es an. Oder auch - wenn dem Religionsaustritt der Eintritt in eine andere Religionsgesellschaft folgt - , auf den Eintritt in jenen Rechte- und Pflichtenkreis, welcher von Staatswegen für Angehörige dieses (neu gewählten) Religionsbekenntnisses besteht. Religionsaustritt und -eintritt als gesetzliche Termini sind Ausdrücke gewissermaßen von umschreibender, teils auch abbreviatorischer Bedeutung. Die Bestimmungen über den Religionsaustritt bedeuten eine genetische Definition für eine wichtige Gruppe sogenannter Konfessionsloser. Indem ferner das Gesetz den Weg weist für einen Religionsübertritt, berührt es den Kreis jener Personen, die es unter dem Titel eines bestimmten Religionsbekenntnisses einer bestimmten rechtlichen Behandlung unterwirft. Wenn (nach gesetzlicher Terminologie) sagen wir ein Katholik (auf dem Umwege der Konfessionslosigkeit) zu einem evangelischen Bekenntnis „übertritt", so maßt sich das Gesetz damit keineswegs das Urteil an, daß der Betreffende jetzt evangelisch und nicht mehr katholisch sei, und daß er in einem Übergangsstadium (zwischen Austrittserklärung

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gegenüber der politischen Behörde und Eintrittserklärung gegenüber dem neuen Seelsorger) tatsächlich konfessionslos, nämlich das, was die gesellschaftliche Meinung darunter versteht oder verstehen könnte, gewesen sei, sondern will nur sagen, daß es den Betreffenden in diesen drei, in unserem Falle zu unterscheidenden Stadien rechtlich so behandelt wissen wollte, wie jene, die es katholisch, konfessionslos und evangelisch nennt. Kaum kann man hier von einer gesetzlichen Fiktion des Religionsbekenntnisses sprechen; eine gesetzliche Fiktion läge höchstens dann vor, wenn das Gesetz Personen so behandelte, als ob sie Katholiken, Protestanten, Israeliten, Konfessionslose wären (und sie es tatsächlich nicht sind). Das hieße aber, dem Gesetze als Legalbegriff einer bestimmten Konfession deren Normalbegriff supponieren. Unser Gesetz abstrahiert aber von vornherein von jeglichen kirchlichen Voraussetzungen der Zugehörigkeit zu einem Religionsbekenntnis und stellt souverän eigene Voraussetzungen auf; allerdings nicht Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zu einer Konfession, sondern für die staatliche Behandlung in konfessionellen Dingen. Der Katholik z.B. im Sinne der katholischen Kirche ist a priori prinzipiell von dem verschieden (a posteriori in concrecto ergibt sich ja selbstverständlich in der Regel eine Identität), den die staatliche Rechtsordnung einen Katholiken nennt. Katholik im Rechtssinn ist jene Person, welche einem bestimmten Komplex von staatlichen Rechtsanordnungen unterliegt. Katholik in diesem Sinne ist nun aber zweifellos jeder, den die Rechtsordnung so nennt. Diese seine Religionszugehörigkeit, besser diese rechtliche Determiniertheit wird von der Rechtsordnung nicht fingiert, sondern geschaffen. Es wäre also schief zu sagen, daß die Rechtsordnung in solchen Fällen, wo staatliche und kirchliche Religionszugehörigkeit differieren, auf dem Standpunkt stehe, als ob er Katholik, Protestant, Jude wäre. Von einer Fiktion könnte nur dann die Rede sein, wenn das Gesetz prinzipiell auf dem Standpunkt des kirchlichen Wortsinns stünde. Das Wenige, was die gesetzliche Terminologie unter einem Katholiken, Evangelischen, Israeliten versteht, indem es sie einer unterschiedlichen Regelung unterwirft, - das ist der gesetzlich so benannte; insoweit liegt kein Fiktum, sondern ein Faktum vor. (Er hat übrigens auch in jenen Fällen, wo das Gesetz von ihm Auskunft über seine persönlichen Verhältnisse verlangt [Zeugenpflicht, Meldepflicht usw.], der Austritts- oder Übertrittserklärung gemäß sein Religionsbekenntnis namhaft zu machen.) Doch auch aus einem anderen Grunde fehlt oft der Platz für eine Fiktion; die gesellschaftliche Auffassung folgt in der Regel, wenn auch vielleicht

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anfänglich mit Widerstreben, der staatsgesetzlichen Nomenklatur. Heutzutage wird z.B. jedermann eine Person, welche im Sinne des staatlichen Gesetzes von der katholischen Kirche zu einem evangelischen Bekenntnis „übergetreten" ist, für evangelisch ansprechen, obwohl sie nach katholischem Kirchenrecht als Katholik zu gelten hat. Das staatliche Gesetz identifiziert sich nicht einmal mit dieser ihm scheinbar adäquaten populären Auffassung. Es läßt die Frage offen, ob der Betreffende katholisch oder evangelisch ist; es behandelt den Betreffenden nur so wie alle jene, die es der Kürze halber evangelisch nennt. Hingegen wird z.B. die gesellschaftliche Auffassung (desgleichen die der beteiligten Religionsgesellschaften) den im Ausland getauften Juden schwerlich noch als Israeliten ansehen - und doch ist er es noch nach österreichischem Staatskirchenrecht, da bei ihm die Voraussetzung dafür fehlt, ihn einer bestimmten christlichen Konfession zuzurechnen, besser: ihn so zu behandeln wie eine nach einer christlichen Konfession benannte Person, da nämlich die Form des Religionsaustrittes nicht eingehalten wurde. Hier liegt eben ein Fall vor, wo die gesellschaftliche Nomenklatur von der staatlich-rechtlichen abweicht. Ein der Praxis entnommener Fall ist vielleicht geeignet, das Gesagte charakteristisch zu beleuchten. Bekanntlich hat sich das österreichische Recht im Gegensatz zu anderen Rechtsordnungen, die eine Religionsaustrittserklärung doch mehr oder weniger schwierig gestaltet haben, bei diesem Akte an Formlosigkeit geradezu überboten, indem es die Religionsaustrittserklärung zum denkbar einfachsten, in wenigen Minuten abzuwickelnden Rechtsgeschäft gestaltete. Wenn nun ausländische kirchliche oder staatliche Stellen über den ihnen zur Kenntnis gelangten „Religionsaustritt" eines ihrer Angehörigen, der von einer österreichischen (also für sie ausländischen) politischen Behörde zur Kenntnis genommen wurde, Rekriminationen erheben, welche stets von der populären Erwägung ausgehen, daß der Betreffende durch den Religionsaustritt seinem heimischen Religionsbekenntnis widerrechtlich entzogen worden sei, so erledigen sich diese damit, daß es dem Heimatstaate wie der verlassenen Religionsgesellschaft nach wie vor freisteht, den Betreffenden als der letzteren derzeit noch angehörig zu betrachten und zu behandeln; daß es aber eben auch der inländischen Rechtsordnung freistehen muß, den Betreffenden in den Fällen, wo für sie die Religionszugehörigkeit von Belang ist, als konfessionslos

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zu behandeln, das heißt nichts anderes, als ihn von allen konfessionellen Sonderbestimmungen loszuzählen und ihn dem Sonderrechte des als Konfessionslose bezeichneten Personenkreises zu unterwerfen, ohne damit ihrerseits an dem wirklichen Religionsbekenntnisse dieser Person irgend etwas zu ändern. Die Tatsache, daß sich auf diesem Wege die Erscheinung einer doppelten und mehrfachen Religionsangehörigkeit bloß auf staatsrechtlichem Gebiete ergibt, mag ein deutlicher Fingerzeig sein, daß es sich hier nur um eigenartige gesetzliche Terminologien handelt; in Wirklichkeit ist ja bei einer einzelnen Person in einem einzigen Zeitpunkt als echtes Religionsbekenntnis höchstens eines denkbar. Nur durch die vorstehend versuchte Konstruktion kommt man denn auch über die Sinnwidrigkeit der Erscheinung der mehrfachen Religionsangehörigkeit hinweg und wandelt sie zu einer vollziehbaren Vorstellung. Abschließend sei eine analoge Erscheinung aus einem anderen Gebiete des Verwaltungsrechtes herangezogen. Mit ihrem weiten unwissenschaftlichen Begriff des Gewerbes wollte die österreichische Gewerbeordnung selbstverständlich keineswegs die Nationalökonomie korrigieren; sie wollte nur (sicherlich bewußtermaßen) nichtgewerbliche Beschäftigungen unter die Normen der Gewerbeordnung stellen und gab auch diesen Beschäftigungen - bloß a potiori - den Namen eines Gewerbes. So tragen auch viele vom Gesetz mit dem Namen einer bestimmten Konfession benannten Personen diesen ihren Namen logisch zu Unrecht - bloß a potiori, entgegen den Tatsachen der Wirklichkeit; mit denen in diesen Fällen lediglich die gesellschaftliche, insbesondere die außerrechtlich-konfessionelle Nomenklatur übereinstimmt.

Das Gewerberecht des feindlichen Ausländers ,, Ausländer sind gegen Nachweisung der formellen Reziprozität seitens des Staates, dem sie angehören, in bezug auf den Antritt und Betrieb eines Gewerbes den Inländern gleichgestellt.64: Dies ist der einzige Satz, den die Gewerbeordnung (§ 8 1 ) zur Beantwortung unserer Frage an die Hand gibt. Der für alle modernen Rechts- und Staatsordnungen geltende Grundsatz der Gleichstellung von In- und Ausländern erleidet hier also eine - wenn auch in die Form der Bestätigung gekleidete - Ausnahme. Die von einer Rechtsordnung statuierte Persönlichkeit ist - mag sie einem In- oder Ausländer zukommen - die gleiche. Dies entspricht der Natur der Dinge (nicht etwa weil es die Gerechtigkeit, sondern weil es die Denkökonomie erfordert) und die gegenteilige Annahme etwa einer Zurücksetzung des Ausländers hinter dem Inländer wäre unnatürlich = naturrechtlich. Die eine einheitliche Personsqualität bedingt nun völlig gleiche Rechtsfähigkeit, wofern das Gesetz nicht ausdrücklich Unterschiede macht. Die Ungleichheit - praktisch regelmäßig Zurücksetzung - des Ausländers ist eine vom Gesetz zu machende Ausnahme. Während nun die große Mehrzahl der subjektiven Berechtigungen (Eigentum, Foderungsrechte, Rechte aus dem Ehe- und Kindschaftsverhältnisse, Erbrecht, Strafrecht usw.) dem Ausländer völlig bedingungslos zustehen, ist das Gewerberecht in eigentümlicher Weise bedingt; nicht etwa durch die vom Heimatsstaat des Ausländers geübte formelle Reziprozität schlechthin, sondern durch den Nachweis dieser Reziprozität. Dieser vielleicht nicht immer beachtete - Unterschied soll für unsere Feststellungen noch sehr wichtig werden und darum sei er schon an dieser Stelle hervorgehoben! Das Gesetz spricht unterschiedslos von Ausländern; durch den Gesetzeswortlaut sind also auch Staatsbürger eines feindlichen Staates gedeckt. Die

Österreichische Zeitschrift für Verwaltung, 49. Jg. (1916), S. 25-26. 1

Gesetz vom 15. März 1883, RGBl. Nr. 39.

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Möglichkeit, daß der Untertan eines feindlichen Staates - der abbreviatorische Ausdruck „feindlicher Untertan" ist nur mit großer Vorsicht zu gebrauchen, da er an sich verfehlt ist - , daß also ein solcher Untertan ein Gewerberecht in Österreich erwirbt oder auf Kriegsdauer beibehält, könnte uns dann nicht mehr als außerordentlich erscheinen, wenn wir die unbezweifelte Tatsache bedenken, daß er seiner bürgerlichen Rechte sowie des strafrechtlichen Schutzes uneingeschränkt teilhaftig bleibt. Und doch ist dem nicht ganz so, vielmehr ist dem Erwerbe eines Gewerberechtes durch einen feindlichen Ausländer ein Hindernis errichtet, das freilich nicht so nahe liegt, als die Verwaltungspraxis in der Regel annehmen dürfte. Gesetzt den Fall, es meldet ein Untertan eines feindlichen Staates gemäß §11, Abs. 2 der Gewerbeordnung ein Gewerbe an und es lägen alle Voraussetzungen der Eingangsparagraphen zur Gewerbeordnung - vom § 8 zunächst abgesehen - ausnahmslos vor; die Gewerbebehörde wird trotzdem eben aus dem im § 8 Gewerbeordnung bezeichneten „gegen die Person" obwaltenden Grunde gemäß § 13 Gewerbeordnung die Ausfertigung zu versagen haben; die Versuchung liegt aber sehr nahe, daß sich die Behörde die Begründung allzu leicht macht. Die bloße Begründung etwa, daß „die formelle Reziprozität durch den Krieg erloschen" sei, ist nichts weniger als einwandfrei. Es bedürfte erst eines staatsrechtlichen Nachweises, daß die Reziprozität erloschen ist. Versteht es sich nicht von selbst, daß die rechtlichen Beziehungen von Staat zu Staat durch einen zwischen den beiden Staaten entstehenden Krieg, welcher ja als der gerade Gegensatz der rechtlichen Staatenbeziehung erscheint, abbrechen oder mindestens auf Kriegsdauer ruhen? Doch schon vom völkerrechtlichen Standpunkt aus ist der Inhalt dieser Frage bekanntlich nicht so selbstverständlich, als er vielleicht dem ersten oberflächlichen Blicke vorkommt. Es scheint nur so, daß der Krieg der reine Gegensatz des Rechtes ist; in Wirklichkeit ist er - völkerrechtlich und staatsrechtlich betrachtet - als Ganzes ein Rechtsinstitut und in zahllosen seiner Äußerungen von Rechtsnormen eingeengt, die durch die Tatsache, daß sie nur zu häufig übertreten werden, an ihrer Verbindlichkeit keinen Abbruch erleiden. Völkerrechtliche Pflichten zwischen kriegführenden Staaten sind also nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern werden oft erst gerade durch den Krieg

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aktuell. Und was für unser Problem von größerem Interesse ist: Diese völkerrechtlichen Pflichten für den Kriegsfall können sich denkbarerweise gerade aus einem zwischen den beiden kriegführenden Staaten (in der Regel selbstverständlich bereits im Friedenszustand abgeschlossenen) Vertrag ergeben. Man denke an einen Schiedsgerichtsvertrag zwischen zwei Staaten, der etwa dahin geht, daß für den Fall, als sich ein Krieg nicht vermeiden lasse, gewisse unmenschliche, aber durch die Normen des Gemeinen Volkerrechts doch wohl geduldete Kriegsmittel zwischen den beiden vertragschließenden Teilen ausgeschlossen seien. Anzunehmen, daß eine solche, gerade für den Kriegsfall berechnete Vertragsbestimmung mit dem Kriegsausbruch erlösche oder zu ruhen beginne, wäre doch wohl sinnwidrig. Und mehr noch: ein Waffenstillstand schafft im Kriege für die kriegführenden Gruppen vökerrechtliche Vertragspflichten. Freilich, in bezug auf die nicht gerade auf den Kriegsfall abgesehenen Vertragspflichten nimmt die völkerrechtliche Lehre ein Erlöschen an.2 Vom Standpunkt des Völkerrechts aus bestehen also die Pflichten, welche sich aus den Verträgen mit den mit Österreich im Kriege stehenden Staaten ergeben, nicht mehr zurecht. War ein solcher Vertrag Grundlage für eine zwischen den beiden Staaten bestehende Reziprozität, so ist auch dieser der Boden entzogen.3 Keinem Ausländer kann also völkerrechtliches Unrecht dadurch widerfahren, daß die Verträge und die aus ihnen sich ergebenden Vertragspflichten als nicht bestehend behandelt werden. Eine Frage für sich aber ist, ob dieses Vorgehen auch immer mit der innerstaatlichen Rechts-

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Vgl. „Das Völkerrecht" von Franz von Liszt, 8. Aufl., Berlin 1912, S. 169: „Durch den Krieg werden die zwischen den kriegführenden Staaten bestehenden rechtsgeschäftlichen Verträge aufgehoben, soweit sie nicht ganz oder in einzelnen ihrer Bestimmungen gerade für den Fall des Kriegs geschlossen worden sind." 3 Es kommen in Betracht: Der Handels-und Schiffahrtsvertrag mit Belgien vom 12. Februar 1906, RGBl. Nr. 55, die Handelskonvention mit Frankreich vom 18. Februar 1884, RGBl. Nr. 27, der Handelsvertrag mit Großbritannien vom 5. Dezember 1876, RGBl. Nr. 144, beziehungsweise die Erklärung vom 26. November 1877, RGBl. Nr. 117, der Handels- und Schiffahrtsvertrag mit Japan vom 5. Dezember 1897, RGBl. Nr. 218 ex 1898, der Friedens- und Handelsvertrag mit Marokko vom 19. März 1830, PGS Bd. 58, S. 206, bezüglich Montenegros die Ministerial-Verordnung vom 15. März 1906, RGBl. Nr. 63, die Handelskonvention mit Rußland vom 15. Februar 1906, RGBl. Nr. 49, der Handelsvertrag mit Serbien vom 9. August 1892, RGBl. Nr. 104 (Vertragsloser Zustand zufolge Verordnung vom 6. Juni 1906, RGBL Nr. 133).

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Ordnung in Einklang steht. Es handelt sich - dies ist mit Entschiedenheit zu betonen - beim Volkerrecht einerseits, innerstaatlichem Recht andererseits - um zwei grundsätzlich verschiedene Rechtsordnungen, deren Bestimmungen nur kraft Rezeption des fremden Rechtssatzes gemeinsame Geltung haben; das Volkerrecht ist im Verhältnis zum österreichischen Recht nicht minder ein fremdes Recht, als etwa das der schweizerischen Eidgenossenschaft und ist so wenig wie etwa dieses mit diesen oder jenen Einrichtungen bei uns als geltend anzunehmen. Ein Satz des österreichsichen Rechtes, welcher jene völkerrechtliche Bestimmung vom Erlöschen der internationalen Verträge durch Krieg rezipiert hätte, wird nun kaum nachzuweisen sein. Jene Verträge mit den feindlichen Auslandsstaaten haben nun aber nicht bloß völkerrechtliche Pflichten unseres Staates geschaffen, welche allerdings durch den Krieg unangezweifelt erloschen sind, sondern ihm auch, indem sie der verfassungsmäßigen Form von Staatsverträgen genügten, staatsrechtliche Pflichten auferlegt, welche mangels eines analogen Staatsrechtssatzes keineswegs gleichzeitig zu erlöschen vermochten. Es wäre also unschwer möglich, daß auf Grund eines der genannten Staatsverträge, die eben völkerrechtlich und nicht auch staatsrechtlich ihre Geltung verloren haben, dem Angehörigen eines feindlichen Staates ein Gewerbeschein ausgefertigt werden müßte. Und doch bietet sich eine gesetzliche Handhabe, einer solchen Person einen Gewerbeschein zu versagen, eine Handhabe, von der man zweckmäßigerweise Gebrauch machen wird, wofern man nicht auf dem - juristisch indiskutablen - Standpunkte steht, daß in unserem Falle die „Staatsräson" eine gesetzliche Handhabe entbehrlich mache. Fassen wir den konkreten Fall der Gewerbeanmeldung eines russischen Staatsbürgers ins Auge! Bei der Prüfung des Erfordernisses des § 8 Gewerbeordnung begegnen wir der Handelskonvention mit Rußland vom 15. Februar 1906, von welcher wir, da sie sich selbst erst mit dem Jahre 1917 terminiert, wohl oder übel annehmen müssen, daß sie den österreichischen Staat pro foro interno derzeit noch bindet. Wenn sich nun der russische Staatsangehörige bei seiner Gewerbeanmeldung auf diesen Vertrag, der dem österreichischen Staatsbürger in Rußland das Recht der Gewerbeausübung

Das Gewerberecht des feindlichen Ausländers

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gleich einem Inländer zusichert, beruft, so hat er damit unter normalen Umständen den im § 8 Gewerbeordnung geforderten Nachweis der formellen Reziprozität erbracht. Dasselbe gilt vom italienischen Staatsbürger, der sich auf den Art. 5 des Handels- und Schiffahrtsvertrages mit Italien vom 11. Februar 1906 beruft: ,,Die Österreicher und Ungarn in Italien und die Italiener in Österreich-Ungarn sollen die Freiheit haben, wie die Nationalen ihre Geschäfte selbst zu regeln etc." Der § 8 der Gewerbeordnung, der, da er ja zu jenen Vertragspflichten nicht in Widerspruch steht, neben dem Vertrage als zurecht bestehend anzunehmen ist, verlangt vom Staatsbürger des Vertragsstaates, daß er die wirkliche Übung, das tatsächliche Bestehen der formellen Reziprozität nachweise. Wenn man nun unter normalen Umständen diesen Nachweis durch den bloßen Hinweis auf den Staatsvertrag als erbracht ansehen wird, indem man von der begründeten Vermutung ausgeht, daß der Vertragspartner den Vertragsverpflichtungen pünktlich nachkomme, das heißt die papierene Reziprozität des Staatsvertrages in jedem einzelnen Anwendungsfalle in eine tatsächliche umsetze, wäre eine solche Annahme im Kriegszustand, der ja bekanntlich die völkerrechtliche Vertragspflicht aufhebt, höchst unbegründet und wird man sich rechtlich korrekter Weise auf den Nachweis tatsächlicher Reziprozität versteifen, welcher faktisch in keinem einzigen Fall zu erbringen sein wird. Der mangelnde Nachweis der faktischen Reziprozität allein - und nicht etwa die vermeintliche Aufhebung der Pflicht zur Reziprozität durch den Kriegszustand - ist es denn auch, was nicht nur die Handhabe bietet, die Ausfertigung eines Gewerbescheines dem feindlichen Staatsbürger zu versagen, sondern auch ein vor dem Kriege begründetes Gewerberecht - gemäß § 146 Abs. 2 - wegen ,,mangels eines gesetzlichen Erfordernisses" zu entziehen, korrekter: festzustellen, daß das Gewerberecht mangels des gesetzlichen Erfordernisses des § 8 (zu dessen Nachweisung er unter einer angemessenen Präklusivfrist aufzufordern wäre), ipso iure erloschen ist.

Studien aus dem österreichischen Gewerberecht I. Die Person des Gewerbsinhabers und der Übergang des Gewerbes Das Gewerberecht im subjektiven Sinn ist, wie man sich ausdrückt, ein „höchstpersönliches Recht"; und zwar ist es dies gerade als subjektives Recht. Persönliches Recht und subjektives Recht sind identische Begriffe, jedes subjektive Recht - besser würde man auch von der subjektiven Berechtigung sprechen, denn im Recht im subjektiven Sinn, einer lex media1, steckt eben auch die subjektive Verpflichtung, die Rechtspflicht, als gleichberechtigtes Element - also jedes subjektive Recht ist als solches zugleich ein persönliches , oder wenn man Überflüssiges liebt, ein höchst persönliches2 Recht; so daß sich unser erster - , vielleicht im ersten Augenblick als neu und vielsagend erscheinender Satz - als eine Tautologie herausstellt. Kein subjektives Recht überdauert den Bestand des berechtigten Subjekts. Ein Übergang des subjektiven Rechts ist undenkbar, dem Neu-Berechtigten steht es eben schon sofort als anderes, neues Recht zu; jedes subjektive Recht wird im Grunde originär erworben; dem Ausdruck: derivativer Rechtserwerb haftet Einseitigkeit und eine in dieser Einseitigkeit liegende Fehlerhaftigkeit an. Die derivativ erworbene Berechtigung scheint identisch mit der des Vormanns - und ist doch nicht dieselbe; deckt sie sich materiell, so differiert sie formal. Das subjektive Recht wird eben durch zwei Elemente

Separatabdruck aus der Österreichischen Zeitschrift für Verwaltung, Wien: M. Perles 1917; vgl. Österreichische Zeitschrift für Verwaltung, 49. Jg. (1916), S. 113-116, 123-125, 135-137, 155-157, 159-161; 50. Jg. (1917), S. 31-33; 51. Jg. (1918), S. 73-75, 89-91, 113115,117-119; 52. Jg. (1919), S. 3-4,10-11,16-17. Vom Abdruck der in den Jahrgängen 1918 und 1919 erschienenen Beiträge wurde abgesehen. 1

2

Vgl. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 568.

Die herrschende (namentlich Privatrechts-Lehre) macht nämlich zwischen diesen beiden Ausdrücken einen Unterschied, der mir unerfindlich ist; daher erscheint mir der zweite Ausdruck überflüssig.

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III.A. Verwaltungsrecht

konstituiert, ein sachliches und förmliches; ja gerade die Form überragt für das Rechtsbereich den Inhalt; man neigt aber dem gegenteiligen Standpunkt zu, indem man vom formellen Elemente abstrahiert und bei sich gleichbleibendem Inhalt (wie es beim derivativen Rechtserwerb zutrifft) eine Identifizierung vornimmt - ohne Rücksicht auf die Person des Berechtigten, ohne Rücksicht auf den Wechsel, der in dieser Person vor sich gegangen ist. Auch das Gesetz operiert mit einem solchen Gewerberechtsübergang, welcher eigentlich bloß einen Gewerbeübergang, ein Gleichbleiben der wirtschaftlichen Seite bei Veränderung der rechtlichen Seite (der Person des Gewerbeberechtigten) bedeutet und daher kein Gewerberec/zf¿Übergang ist. Der typische Fall, wo die Gewerbeordnung den theoretischen Standpunkt des Gewerberechtsüberganges (oder derivativen Gewerberechtserwerbes) einnimmt, ist der des Witwen- und Deszendentenfortbetriebs (§ 56, Abs. 4 und 5 Gewerbeordnung). Doch da sich an diese gesetzliche Konstruktion keine normativen Konsequenzen knüpfen, steht der wissenschaftlichen Theorie eine selbständige Konstruktion des gesetzlichen Tatbestandes offen. Unter Beachtung der einleitend angeführten Prinzipien wird man also auch in diesen Fällen (des § 56 Gewerbeordnung) keinen Übergang des Gewerberechtes im strengen Sinn, sondern bloß den eigentümlichen, erleichterten Erwerb eines neuen Gewerberechtes anzunehmen haben. Das Gewerberecht „erbt" sich nicht ununterbrochen vom Gatten auf die Witwe, vom Vater auf die Kinder fort, nein, mit dem Tode des ersteren ist es endgültig unbedingt erloschen. Jedoch die wirtschaftliche Basis dieses erloschenen Gewerberechtes, das Geschäftsunternehmen, welches im Wege des Erbgangs der Witwe und den Kindern zukommt, wird Inhalt einer von Gesetzes wegen leichter erworbenen Gewerberechtsform. Der sogenannte Witwenfortbetrieb läuft also auf nichts als einen erleichterten Neuerwerb eines bisher bestandenen aber erloschenen Gewerberechtes für eine bestimmte unveränderte wirtschaftliche Unterlage hinaus.3 Es tritt auch nicht sozusagen ipso iure-Erwerb des Rechtes ein, vielmehr bedarf es einer Anzeige von der

3

Emil Heller, Kommentar der österreichischen Gewerbeordnung, sagt S. 755 treffend: ,,Dem juristischen Wesen der persönlichen Gewerberechte gemäß haben dieselben grundsätzlich mit dem Ableben des Subjektes zu erlöschen." Ich möchte ergänzen: „Und ausnahmslos" - aber das wäre nicht mehr im Sinne Hellers. Die weiteren Ausführungen deuten eben darauf hin, daß Heller im Einklang mit der gesetzlichen Terminologie Ausnahmen annimmt.

Studien aus dem österreichischen Gewerberecht

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Fortführung des Gewerbebetriebes (als der wirtschaftlichen Erscheinung), womit allerdings bereits ohne weitere Förmlichkeiten das Gewerberecht begründet ist. Man kann das Recht der Witwe und der Deszendenten nach § 56 Gewerbeordnung auch als gesetzlichen Verzicht auf den Befähigungsnachweis und bei konzessionierten Gewerben als eine Legalkonzession konstruieren, einer Konstruktion, die darin ihre Stütze findet, daß dieser Witwenfortbetrieb nicht wie bei den an den Befähigungsnachweis gebundenen und den konzessionierten, so auch bei den nicht an den Befähigungsnachweis gebundenen freien Gewerben vorgesehen ist. Dadurch, daß der Erwerb eines an einen Befähigungsnachweis gebundenen oder freien Gewerbes bei der Witwe und den Kindern an die einfache Voraussetzung des freien Gewerbes (Anzeigepflicht) geknüpft ist, wird als ratio legis der Verzicht auf die sonst geforderten erschwerenden Bedingungen der Erbringung des Befähigungsnachweises, der Erwirkung der Konzession offenbar. Es handelt sich also um den Neuerwerb eines Gewerberechtes auf einem Wege, der noch um einen Grad einfacher ist, als jener, welcher für den Erwerb eines freien Gewerbes vorgeschrieben ist. Dasselbe gilt vom Übergang eines Gewerbes auf die Verlassenschaftsoder Konkursmasse. Betrachtet man diese als juristische Person, so ist die im § 56 Abs. 6 vorgesehene Anzeige an die Gewerbebehörde als erleichterte Neuanmeldung des Gewerbes zu Gunsten dieses Rechtssubjektes aufzufassen. Eine Theorie, die der Verlassenschafts- oder Konkursmasse die Qualität der juristischen Persönlichkeit bestreitet, wäre zu dieser Konstruktion der zitierten Anzeige als Neuanmeldung eines Gewerbes nicht genötigt, sondern würde dann eben in diesem Falle einer Anzeige gemäß § 56 eine bloße Veränderungsanzeige (wie sie zum Beispiel auch die §§39 und 40 Gewerbeordnung vorsehen) zu erblicken haben. Freilich würde sich diese Veränderungsanzeige von allen Anzeigen derselben Kategorie dadurch auffällig unterscheiden, daß sie die Person des Gewerbetreibenden (und nicht ein sachliches Moment) betrifft; und zwar eben eine solche Veränderung in der Person betrifft, wodurch deren Identität aufgehoben ist, wodurch also eine gewerbebehördliche Anzeige notwendig gemacht ist, welche eine Neuanmeldung repräsentiert. Wie man sieht, wieder nur ein Fall erleichterten Neuerwerbs. In allen anderen Fällen des Wechsels in der Inhaberschaft eines Gewerbes bedarf es aber prinzipiell der im § 11 Abs. 2 bezeichneten Anzeige, an die sich die Rechtswirkung der Begründung eines neuen Gewerberechtes

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knüpft; im Voranstehenden wurde bloß zu zeigen versucht, daß selbst die in der gesetzlichen Terminologie sich findenden Ausnahmen vom Prinzipe der Unübertragbarkeit des Gewerberechtes 4 (die Fälle der Beschränkung auf eine bloße „Anzeige" statt einer Neuanmeldung im Falle des Wechsels in der Person des Gewerbeinhabers) nur scheinbare sind, daß vielmehr auch in diesen scheinbaren Ausnahmsfällen Akte vorgesehen sind, welche in bezug auf das betreffende Gewerberecht von konstitutiver Bedeutung sind. Jeder Wechsel in der Person des Gewerbeinhabers ist nach der bestehenden Rechtslage für die Gewerbebehörde von Interesse. In dieser Hinsicht treffen die Absätze 1 und 2 des § 56 geläufige Vorschriften. Zu bemerken wäre hiezu nur - die Praxis stimmt nämlich darin nicht völlig überein - , daß nicht beide Seiten dieses Wechsels gewerberechtlich gleicherweise von Belang sind. Nur der Eintritt in das Gewerbe (als wirtschaftliche Erscheinungsform), nicht auch der Austritt, nicht die Aufgabe des Gewerbebetriebes ist gewerberechtlich relevant. Es ist ja selbstverständlich unbestritten, daß der Bestand eines Gewerberechtes von der Tatsache seiner Ausübung oder Nichtausübung prinzipiell unabhängig ist. Nicht einmal dafür besteht bekanntlich eine Handhabe, diese Art von Schönheitsfehler zu beseitigen, die darin besteht, daß etwa der Käufer eines Geschäftsunternehmens eine Neuanmeldung erstattet, während der Verkäufer die entsprechende Gewerberücklegung unterläßt. Es hat sicher als zulässig zu gelten, daß zwei Gewerberechte mit gleichem Inhalt und identischem Standort bestehen, sollte dies auch durch zivilrechtliche Abmachung ausgeschlossen und die gleichzeitige faktische Ausübung unmöglich sein. Wenn sich in diesem Falle die Praxis wohl ausnahmslos korrekt verhält, so finden sich doch schon hie und da in der Praxis Abweichungen von dem von der Theorie vorgesteckten Wege im Falle des Erwerbes eines Unternehmens von Todeswegen. Einer ernstlichen Widerlegung bedarf selbstverständlich der in der Praxis vorkommende Fall nicht, daß mit dem Erben, der die Neuanmeldung erstattet, die Gewerberücklegung von Seite des Erblassers zu Protokoll genommen wird, oder daß der Erbe, etwa die Witwe (obwohl sie oft gar nicht Alleinerbin ist), schriftlich das Gewerbe, in unserem Falle also des verstorbenen Gatten, anheimsagt. Abgesehen von der offenen Frage der gehörigen Legitimation zu einer solchen Anzeige - eine Frage, zu der es eben mit Rücksicht auf den

4

Eine wichtige, vom Gesetz nicht ausdrücklich, sondern geradezu unabsichtlich gemachte Ausnahme wird unten noch zur Sprache kommen.

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folgenden Punkt gar nicht kommt - ist es evident, daß ein durch den Tod des Gewerbeinhabers erloschenes Gewerbe nicht mehr anheimgesagt werden kann. Eine solche Anheimsagung könnte nicht konstitutive, sondern höchstens deklarative Bedeutung haben; ist also ein Widerspruch in sich selbst; eine solche Anzeige wäre denn auch mit dieser Begründung abzuweisen. Handelt es sich aber um eine rein deklarative Anzeige, eine Anzeige vom Erlöschen des Gewerbes durch den Tod, so liegt hier auch kein gesetzlicher Anlaß zur Kenntnisnahme durch die Gewerbebehörde vor. Es besteht hier für niemanden eine Anzeigepflicht und umgekehrt auch für die Gewerbebehörde nicht eine Pflicht zur Kenntnisnahme. Das Entsprechendste ist wohl, die Partei zu einem formellen Verzicht auf die (von Parteien Vertretern gerne beantragte) gewerbebehördliche Kenntnisnahme zu veranlassen; genau genommen ist nämlich die Verwaltungsbehörde durch die Gewerbeordnung zu einem solchen Akte nicht ausdrücklich legitimiert, und man muß es wohl als ein für den Rechtsstaat geltendes Prinzip ansehen, daß die staatliche Behörde zu Handlungen, welche nicht in irgend einer wenn auch noch so weiten Fassung vom Gesetze vorgezeichnet sind, nicht nur nicht verpflichtet, sondern auch nicht berechtigt ist; berechtigt allerdings nicht in dem Sinne, daß das Dawiderhandeln als Pflichtverletzung anzusehen wäre, sondern bloß in dem Sinne, daß einem solchen Handeln der staatsbehördliche Charakter, die Zurechnungsmöglichkeit zum Staate mangelt5; die Behörde hat eben einfach ihre sachliche Kompetenz überschritten - allerdings keine Kompetenzüberschreitung im engeren Sinne, nämlich kein Eingriff in die Kompetenz einer anderen Behörde, kein Kompetenzkonflikt im technischen Sinn - sondern in dem Sinn einer Kompetenzüberschreitung, daß überhaupt staatsfreier Raum betreten ist.6 Die einzigen behördlichen Handlungen, welche das Bekanntwerden vom Erlöschen eines Gewerbes (also insbesondere eine Anzeige hievon, zu der aber niemanden eine Pflicht trifft 7 ) auszulösen vermögen, sind im Schlußabsatz des § 144 und im § 145 Gewerbeordnung vorgesehen: Es sind die Bekanntmachungen vom Erlöschen eines

5

Vgl. Kelsen, a.a.O., S. 503 ff.

6 Ob vermöge Rechtskraftwirkung ein solcher Akt, der a priori „staatsfremd" ist, a posteriori zum Staatsakt wird, ist eine schwierige Frage für sich. 7

Insbesondere auch den Gewerbeberechtigten nicht, der seinen Betrieb einstellt; dessen Gewerberecht erlischt bekanntlich erst mit der Erklärung der Rücklegungsabsicht. (§ 144, R 6 Gewerbeordnung)

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Gewerbes an die Steuerbehörde, Handels- und Gewerbekammer sowie die Genossenschaft und die Eintragung des Falles ins Gewerberegister. Wie einfach diese Fälle des Gewerbeüberganges von der einen zur anderen sogenannten physischen Person sind, so kompliziert werden sie bei den juristischen Personen. Wenn die Praxis in jenen Fällen strengstens die Theorie verkörpert, so hat sich in diesen Fällen (wie sie im folgenden darzustellen sein werden), noch nicht rein das Prinzip verwirklicht, daß ein Gewerberecht unübertragbar und daher bei der Veränderung in der Person des Gewerbeinhabers die Neuanmeldung unentbehrlich ist.8 Der nächstliegende Fall: Die Umwandlung einer Einzelfirma in eine Gesellschaftsfirma; das Unternehmen bleibt, jedoch das Rechtssubjekt des Unternehmens wechselt. An die Stelle der Einzelperson ist die juristische Person oder die Gesellschaft getreten. Diese, bisher noch nicht gewerbeberechtigt, muß im Sinne der §§ 3 und 11 Gewerbeordnung eine Neuanmeldung erstatten; mit der bloßen Anzeige - etwa der Änderung in der handelsgerichtlichen Registrierung, worauf sich die Gewerbetreibenden gerne beschränken - wäre es nicht abgetan.9 Selbstverständlich beinhaltet eine derartige Anzeige oder Gewerbeanmeldung noch keineswegs (etwa in Form

8 Dem Ideale kommen von Laun, Das Recht zum Gewerbebetriebe, Wiener staatswissenschaftliche Studien 1908 (soweit dort unser Problem in Betracht gezogen ist), und insbesondere auch Heller, Kommentar I, S. 756, sehr nahe, ohne jedoch, wie mir scheint, das Prinzip der Unübertragbarkeit, der „Höchstpersönlichkeit" des Gewerberechtes bis in die letzte Konsequenz rein durchzuführen. 9 In dieser Hinsicht macht es keinen Unterschied, ob man die im § 3 Gewerbeordnung genannten „Gesellschaften" als juristische Personen ansieht oder nicht. An sich freilich ist es fast unbegreiflich, daß diese Frage eine so lebhafte Diskussion hervorgerufen hat. Die Antwort liegt ja doch so nahe, daß jedes „ I n die Ferne schweifen" ganz unnötig ist, die Antwort nämlich, daß zum mindesten durch die Gewerberechtsfähigkeit (wenn nicht schon durch anderweitig konstituierte Rechte und Pflichten) die Persönlichkeit jener Gesellschaften unzweifelhaft begründet ist. Wenn schon nicht Träger irgend eines anderen Rechtes oder einer anderweitigen Rechtspflicht, so sind sie eben gemäß § 3 fähige Träger eines Gewerberechtes. Damit ist aber, da ja Rechtsfähigkeit und Persönlichkeit in einem solchen Begriffsverhältnis zu einander stehen, daß jene gewissermaßen den Erkenntnisgrund für diese abgibt, die „Gesellschaft" ein für allemal zum Rechtssubjekt (wenn auch vielleicht mit sehr beschränkter Rechtsfähigkeit) erhoben. Die Formulierung Komorzinskys („Der Befähi-

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eines stillschweigenden Verzichtes) die Rücklegung des Gewerbes von Seiten des bisherigen Alleininhabers. Daß dieser das bisherige Gewerberecht mit dem gleichen Inhalt an demselben Standort, wie die nunmehrige Gesellschaftsfirma, obwohl er etwa auch deren Gesellschafter wird, neben ihr als Einzelperson beizubehalten vermag, gilt für den in Rede stehenden Fall nicht anders als für den schon besprochenen Fall des Überganges des Gewerbeunternehmens auf eine andere Einzelperson. Der contrarius actus, der Übergang einer Unternehmung von einer Gesellschaftsfirma auf eine Einzelperson, ist analog zu behandeln. Eine Neu-

gungsnachweis offener Handels- und Kommanditgesellschaften", JB1 vom 24. November 1907, Nr. 47, S. 554): ,,Es wird daran festzuhalten sein, daß offene Handels- und Kommanditgesellschaften im Sinne des § 3 der Gewerbeordnung als juristische Personen zu behandeln sind und als solche das Rechtssubjekt der ihrem Betriebe zugrunde liegenden Gewerbebefugnis bilden" kann man mit der Einschränkung akzeptieren, daß man seine Einschränkung („im Sinne des § 3 der Gewerbeordnung") fallen läßt. Ist durch den § 3 Gewerbeordnung ein Rechtssubjekt konstituiert, dann ist es Rechtssubjekt für das ganze Gebiet der österreichischen Rechtsordnung, wenn auch möglicherweise mit sehr zugeschnittener Rechtsfähigkeit. Übrigens kommt ja der Handelsgesellschaft auch zivilprozessual aktives und passives Klagerecht zu. Wenn man sich nun vorhält, daß die Klagefähigkeit bloß der Ausdruck der Geltendmachung von Berechtigungen, die Klagbarkeit der von rechtlichen Verpflichtungen ist, so zeigt sich gleich, daß der § 3 Gewerbeordnung nicht die einzige Gesetzesstelle ist, auf die sich das Urteil von der Rechtsfähigkeit sämtlicher Gesellschaften des Handelsrechts zu stützen vermag. Laun, a.a.O., S. 45 ff, steht ganz auf dem Standpunkt der Unpersönlichkeitstheorie und stützt sich insbesondere darauf, daß diese Auffassung dem Gesetzestext entspricht. Wenn das letztere auch völlig zutrifft, so vermag dieser theoretische Standpunkt des Gesetzgebers umso weniger maßgeblich zu sein, als der Gesetzgeber nicht etwa bloß keine praktischen Konsequenzen auf diese theoretische Stellungnahme folgen läßt, sondern durch seine positivrechtliche Maßregel diesen theoretischen Standpunkt geradezu ins Unrecht setzt. Diese positivrechtliche Maßregel ist eben die Ausstattung der Gesellschaft mit Gewerberechtsfähigkeit. Es ist unpositivistisch-naturrechtlich a priori Rechtssubjekte zu konstruieren und Erscheinungen, welche in diese Konstruktionsschablonen nicht hineinpassen, diese Rechts Subjektivität einfach abzusprechen, obwohl der einzige Erkenntnisgrund, die Personifizierung von Seite des positiven Rechts, die Ausstattung mit Rechten und Pflichten offen vorliegt. Wie alle rechtliche Relevanz ergibt sich auch die Rechtspersönlichkeit, diese Grundlage rechtlicher Relevanz, erst a posteriori, erst aus den Bestimmungen des positiven Rechts. Vgl. auch Brosche, Zur Frage der gesellschaftlichen Gewerbebetriebe, Zeitschrift für Verwaltung 1896. Heller macht für seine Person keinen Lösungsversuch, sondern verweist auf die zivilrechtliche Literatur. Die Worte (a.a.O., S. 47) ,,der theoretische Begriff der juristischen Person ist dem Zivilrecht zu entnehmen" sind nicht glücklich gewählt. Die juristische Persönlichkeit ist keine Spezialerscheinung des Zivilrechts, sondern gehört zu den Grundlagen der Rechtsordnung. Allerdings finden sich die veschiedenen Typen der Rechtssubjekte zerstreut in verschiedenen Spezialgesetzen konstituiert, aber gerade darum ist die Serie mit denen, die das Zivilrecht aufführt, noch keineswegs erschöpft.

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anmeldung von Seiten des Nachfolgers in der Unternehmung ist unentbehrlich. Die Gewerberücklegung von Seiten der Gesellschaftsfirma liegt im Belieben ihrer gesetzlichen Vertreter, kann also von der Behörde durch nichts veranlaßt werden. Ja in einem Falle ist die Rlicklegung logischerweise ausgeschlossen, nämlich im Falle der Auflösung der Gesellschaft durch diese ist ja das Gewerberecht bereits erloschen. Die mitunter gegenteilig verfahrende Praxis, welche gleichzeitig mit der Neuanmeldung eines bisherigen Gesellschafters, welche die Unternehmung nunmehr als Alleininhaber der Firma weiterführt, die Gewerberücklegung der aufgelösten Gesellschaft (auf Grund welcher Legitimation?) entgegennimmt, geht geradeso unlogisch vor, als wenn sie den Sohn, der das Unternehmen des verstorbenen Vaters übernimmt, das Gewerberecht seines Vaters anheimsagen ließe. Diesem letzten Fall kommt insbesondere jener nahe, daß eine offene Handelsgesellschaft mit zwei Gesellschaftern durch den Tod des einen von beiden endigt; der übrig bleibende Gesellschafter, der das Unternehmen allein weiterführt, ist nicht in der Lage, die sicher nicht selten von ihm verlangte Rücklegungserklärung namens der Gesellschaft abzugeben, da diese ja bereits zu bestehen aufgehört hat. Wenn so beim Übergang einer Gesellschaftsfirma in eine Einzelfirma eine Rücklegung immer entbehrlich und in vielen Fällen geradezu unmöglich ist, so kann andererseits von einer Neuanmeldung aus dem nicht selten geltend gemachten Grunde, daß die Firma dieselbe bleibt, abgesehen werden. Die Firma ist nur ein Name (bei Einzelfirmen ein gesetzlicher Sondername), der keineswegs von der Person unzertrennlich ist. Schon das bürgerliche Recht kennt Namensänderungen bei offenbar unverändert bleibender Persönlichkeit und verbietet bei dem häufigen Vorkommen gleicher Namen den Schluß von der Namensgleichheit auf die Personsidentität; das gilt auch für das Handelsrecht. Gemäß Art. 22 des Handelsgesetzbuches kann bekanntlich trotz des Wechsels in der Person des Firmeninhabers der Firmenname unverändert fortbestehen; insbesondere kann auch eine Einzelfirma, welche aus einer Gesellschaftsfirma entstanden ist oder eine solche abgelöst hat, einen Firmennamen weiterbehalten, der einen das bisherige Gesellschaftsverhältnis andeutenden Zusatz enthält. Diese Beibehaltung des Firmennamens erlaubt auf die Neuanmeldung des Gewerbes beim Wechsel in der Person des Firmeninhabers ebensowenig zu verzichten, als die Änderung des Firmennamens von Seiten eines und desselben Firmeninhabers (zum Beispiel Streichung des Zusatzes ,,& Co." von Seiten einer Einzelfirma,

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Änderung des Namens durch Verehelichung oder landesbehördlichen Verleihungsakt) eine gewerbliche Neuanmeldung bedingen würde. 10,11 Es bleibt nun auch die Übertragung von Gewerbebetrieben zwischen juristischen Personen in Betracht zu ziehen. Denn das ist wohl evident, daß auch auf diesem Gebiet für sich allein Änderungen vorkommen können, welche die Identität der Person berühren. Daß beim Verkauf eines Geschäfts von Seiten der Handelsgesellschaft A an die Handelsgesellschaft B etwas vor sich gegangen ist, was die Neuanmeldung eines Gewerbes durch die B notwendig macht, wird niemandem zweifelhaft sein; die Verschiedenheit der Personen der Gewerbetreibenden ist hier auf den ersten Blick offenbar. Nun kann aber auch eine Gesellschaft an sich sozusagen Häutungen vornehmen, welche den Charakter der Person ändern, welche sie vom Rechtssubjekte A zum Rechtssubjekte B wandeln, ohne daß dieser Prozeß so durchsichtig wäre wie im ersten Falle. Das, was den Kern der Sache verschleiert, ist die Tatsache, daß im Gegensatz zum früheren Fall, wo dann einfach zwei Rechtssubjekte nebeneinander bestehen, in unserm Fall vom ersten Rechts-

10 Das Einzige, was in diesen Fällen die Gewerbebehörde zu tun veranlaßt sein kann, ist die Anbringung eines die Namens- oder Firmaänderung feststellenden Amtsvermerkes am Gewerbeschein. Es ist aber festzuhalten, daß in allen diesen Fällen der unveränderte Gewerbeschein vermehrt um den Trauungsschein, das Namensänderungsdekret oder den handelsgerichtlichen Firmenänderungsbeschluß einem vollgültigen dokumentarischen Ausweis des (durch die Namens- oder Firmenänderung unberührten) Gewerberechtes darstellt. 11 Das Gewerberecht knüpft sich eben an die Person und nicht an den Namen; wenn Name und Person auseinandertreten, folgt also das Gewerberecht der Person, unbekümmert um den Namen. Es könnte ja übrigens das Gewerberecht auch an den Namen geknüpft sein, so, daß das Gewerberecht etwa dem jeweiligen Inhaber einer Firma zustünde - sei diese nun eine Einzelperson oder eine Gesellschaft, oder möge die Inhaberschaft zwischen beiden Gestalten wechseln. Es kann ja übrigens auch das Gewerberecht an eine Sache, an die wirtschaftliche Unternehmung geknüpft sein (was freilich nicht heißt, daß statt einer Person eine Sache berechtigt sei); dies ist der Fall des Realgewerbes; eine Neuanmeldung ist hier (es wird dabei vom österreichischen Rechtszustande völlig abgesehen) theoretisch wenigstens so lange ausgeschlossen, als die wirtschaftliche Basis dieselbe bleibt. Freilich wäre auch hier die Deutung, daß das Gewerberecht auf Bestand der Realität ununterbrochen weiterdauere, unangebracht. Gewerbeberechtigte Personen gibt es auch hier ebensoviele als Nutznießer des Realgewerberechtes; nur die Neuanmeldungen entfallen zu Gunsten eines ipso iure-Erwerbes. Von dieser - zum Aussterben bestimmten Ausnahmeerscheinung abgesehen - entspricht aber nicht die Verknüpfung von Sache und Gewerbe und noch weniger von Name und Gewerbe der Anordnung des österreichischen Gewerberechtes, sondern - dies ergibt sich deutlich aus dem § 11 im Zusammenhalt mit den § § 2 und 3 der Gewerbeordnung - die engste Verknüpfung zwischen Person und Gewerberecht.

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Subjekte nichts mehr übrig geblieben ist, daß das zweite als Universalsukzessor ganz an seine Stelle getreten ist: ein Vorgang, der auf den ersten Blick den Übergang im Wege des Erbgangs ähnelt; ohne daß jedoch das, wie schon an vielen Stellen gezeigt, höchstpersönliche Gewerberecht ,,ipso iure" diese Wandlung hätte mitmachen können; ohne daß also eine Neuanmeldung des Gewerbes erspart bliebe. Beispiele sind die Umwandlung einer offenen Handelsgesellschaft in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, dieser in eine Aktiengesellschaft samt allen möglichen Kombinationen. Auch bei der Umwandlung einer Kommanditgesellschaft in eine offene Handelsgesellschaft, die auf dem gewiß nicht umwälzenden Wege vor sich geht, daß, sagen wir, der eine Kommanditist austritt und zwei persönlich haftende Gesellschafter übrig bleiben, wird von einer Neuanmeldung nicht abgesehen werden dürfen. Die bisher gebrachten Beispiele deuten dadurch den Wechsel in der Rechtssubjektivität offenbarer an und scheinen damit auch die immerhin beschwerliche Formalität der gewerbehördlichen Neuanmeldung einigermaßen zu rechtfertigen, daß sich gleichzeitig mit der Persönlichkeit der Gesellschaftstypus geändert hat. Mag das rein Tatsächliche der Änderungen auch recht unbedeutend sein - die Pflicht zur Neuanmeldung wird damit plausibel gemacht werden können, daß die Firma etwa als Kommanditgesellschaft zu bestehen aufgehört und als offene Handelsgesellschaft zu bestehen begonnen hat. Dieses Argument der Änderung im Gesellschaftstypus fällt aber in jenen - nunmehr zum Schluß zu betrachtenden - Fällen weg, wo trotz Gleichbleibens der Firma und der Gesellschaftskategorie persönliche Änderungen eintreten, welche die Rechtssubjektivität berühren. Modifikation in der Rechtssubjektivität bedeutet, wie schon mehrfach gezeigt, Pflicht zur gewerbebehördlichen Neuanmeldung, eine Pflicht, zu der sich in diesen Fällen Theorie und Praxis gleicherweise ungern verstehen dürften. Jene Organisationsformen, die in ihrem Bestände vom Kreise ihrer Mitglieder unbedingt unabhängig12 sind - es sind dies die Aktiengesellschaften und die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften - bleiben hier gänzlich

12

Sei es nun, daß das Gesetz, wie das Gesetz über die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften vom 9. April 1873, RGBl. Nr. 170, ausdrücklich von der,,nicht geschlossenen Mitgliederzahl" spricht oder diese fraglich läßt, indem es solche Einrichtungen trifft, daß die Mitglieder unbekannt bleiben müssen oder können - weshalb die Aktiengesellschaft vom französischen Recht treffend société anonyme genannt wird.

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außer Betracht. Bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung ist der Gesellschafterkreis zwar nicht unbekannt und unbestimmt, es verfügt sogar insbesondere (§ 9, Abs. 2 des Gesetzes über die Gesellschaften m.b.H.) das Handelsgericht über eine Liste der Gesellschafter - aber doch kennt das Gesetz ein Ausscheiden von Gesellschaftern (vgl. § 66 des Gesetzes), wodurch der Bestand der Gesellschaft nicht berührt wird, so daß das Gewerberecht der Gesellschaft mit beschränkter Haftung - unbekümmert um ein Ausscheiden von Gesellschaftern, von einer Rücklegung oder Entziehung des Gewerberechtes selbstverständlich abgesehen - so lange als fortbestehend anzunehmen ist, bis nicht eine Auflösung der Gesellschaft gemäß § 84 des zitierten Gesetzes eintritt. Anders aber ist die Rechtslage bei offenen Handelsgesellschaften. Es sind hier zwei Fälle auseinanderzuhalten: Das Ausscheiden von Gesellschaftern (wobei aber immer noch eine Gesellschaftsfirma bestehen bleibt 13 ) und der Zuwachs von Gesellschaftern. Vom Punkt 2 des Art. 123 des Handelsgesetzes: „Die Gesellschaft wird aufgelöst durch den Tod eines der Gesellschafter, wenn nicht der Vertrag bestimmt, daß die Gesellschaft mit den Erben des Verstorbenen fortbestehen soll" scheint man überhaupt nicht Notiz zu nehmen. Auflösung der Gesellschaft bedeutet Endigung des Rechtssubjekts und hat die uns interessierende praktische Konsequenz, daß die Neuanmeldung des Gewerbes durch die von den übrigen Gesellschaftern fortgesetzte, das heißt eben neubegründete Gesellschaft nach allgemeinen Grundsätzen erforderlich wäre. Und dies gilt für jeden Fall des Ausscheidens eines Gesellschafters aus der offenen Handelsgesellschaft, es wäre denn, daß ,,die Gesellschafter vor der Auflösung der Gesellschaft übereingekommen sind, daß, ungeachtet des Ausscheidens eines oder mehrerer Gesellschafter die Gesellschaft unter den übrigen fortgesetzt werden soll" (Art. 127 Handelsgesetzbuch)14. Der Hinzutritt eines neuen Gesellschafters setzt aber immer eine Erneuerung des

13 Der Fall, daß eine Gesellschaftsfirma zur Einzelfirma wird, wurde schon oben dahin erledigt, daß eine Neuanmeldung des Gewerbes unvermeidlich ist. 14

Die Gesellschafter, die wegen Unterlassung der Neuanmeldung des Gewerbes nach dem Ausscheiden eines Mitgesellschafters zur Verantwortung gezogen werden, dürften sich

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Gesellschaftsvertrages voraus, schafft ausnahmslos ein neues Rechtssubjekt und bedingt die Neuanmeldung des Gewerbes oder würde dies wenigstens wieder nach dem allgemeinen Grundsatze des § 11 Abs. 2 Gewerbeordnung bedingen, wenn nicht das Gesetz (rein zufällig) für den Fall des Wechsels von Gesellschaftern eine weitgehende Erleichterung bereithielte: § 14 e, 2. Abs. der Gewerbeordnung sieht den Fall vor, daß bei unvorhergesehenem Austritt des einzigen befähigten Gesellschafters ,,der Gesellschaft" zur Namhaftmachung eines gleichqualifizierten Gesellschafters eine Frist von 6 Monaten eingeräumt wird. Das Gesetz steht also auf dem Standpunkt, als ob die alte Gesellschaft (und damit die durch den Gesellschaftsvertrag konstituierte juristische Person) während dieses Zeitraumes und auch nach Beitritt des neuen Gesellschafters fortbestünde. (Vielleicht war auch tatsächlich diese oder jene Person, welche an der Kodifikation mitwirkte, dieser irrigen Anschauung.) In Wirklichkeit erlischt durch derartige Vorkommnisse die Gesellschaft und mit ihr das Gewerberecht. Aber die dies nicht berücksichtigende Bestimmung des § 14e bringt doch die bedeutsame Wirkung mit sich, daß der § 11 (und somit auch die Strafbestimmung des § 132 a Gewerbeordnung) in solchen Fällen, auf welche sie grundsätzlich passen würden, keine Anwendung zu finden hat. Es genügt beim Wechsel der Gesellschafter, die bloße Anzeige von diesem Wechsel genügt, um die infolge dieses Wechsels neue Gesellschaft mit einem neuen Gewerberechte auszustatten. Es handelt sich um einen den Punkten des § 56 analogen Fall, den eine bessere Gesetzestechnik an dieser Stelle in Rücksicht gezogen haben würde. Wie sich zeigt, ist also gerade der häufigste Fall auf unserem Gebiete: Ausscheiden eines Gesellschafters, Ersatz durch einen andern, der Fall, wo sozusagen ,,im großen und ganzen alles beim Alten geblieben" ist, und wo, weil er so einfach scheint, von Parteien und Behörden sicherlich am meisten gefehlt wird, gewerberechtlich nichts weniger als irrelevant: trotz Gleichbleibens der Firma, des Gesellschaftstypus und der Gesellschafterzahl hat sich das Rechtssubjekt gewandelt, und das neue Rechtssubjekt verlangt sein neues Gewerberecht.

eben mit Sicherheit nur durch die Vorlage eines die zitierte Klausel enthaltenden Gesellschaftsvertrages exkulpieren können.

Studien aus dem österreichischen Gewerberecht

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I L Die „öffentlich-rechtliche Korporation" als Gewerbsinhaberin Gedanklich bestehen keine Schranken für irgendeine Berechtigung oder Verpflichtung als jene, welche das Recht aufstellt. In der Verteilung von Rechten und Pflichten ist die positive Rechtsordnung souverän. Es gibt keine Person, die von vornherein irgendeiner Berechtigung oder irgendeiner Verpflichtung unzugänglich, unfähig wäre; selbst unter Strafsanktion gestellte Pflichten kann die Rechtsordnung nach Belieben zum Beispiel auch für juristische Personen15 statuieren, ohne sich an der sogenannten, viel mißbrauchten ,,Natur der Dinge" zu brechen; das ganze Rechts- und Pflichtsystem ist ja nur ein Problem der Zurechnung und die Zurechnung ist eine Sache der Rechtsordnung. Auch des Gewerberechtes , des aus der Gewerbeanmeldung oder Konzessionsverleihung sich ergebenden Recht- und Pflichtenkreises kann a priori jede Person teilhaftig werden, die nicht a posteriori durch die Rechtsordnung davon augeschlossen ist. Dies gilt auch für die Person des Staates wie für jede andere Gebietskörperschaft. Wenn von einer juristischen Person schlechthin die Rede ist, dann ist auch Staat, Land, Kreis und Gemeinde darunter zu verstehen; im Zweifel gelten für diese keine anderen Rechte und Pflichten als für jede andere Person. Dies schließt aber keine rechtliche Exemtion des Staates von irgendwelchen Rechten und Pflichten aus, welche auf dem Gesetzeswege erfolgt. Wie es einerseits auf naturrechtlicher Denkweise beruhen würde, unbekümmert um das positive Recht dem Staate eine rechtliche Sonderstellung zu arrogieren, so wäre es nicht minder naturrechtlich, aus dem Prinzip der Koordination von Staat und Untertan, aus der prinzipiellen Gleichartigkeit beider Pesonsqualitäten heraus wieder unbekümmert um positivrechtliche Unterscheidungen eine durchgängige Gleichbehandlung der beiden Personentypen zu postulieren. Auch das ist quaestio facti, Frage des positiven Rechtes. Wir meinen nun - damit sprechen wir allerdings eine für das österreichische Recht kaum je vertretene Ansicht aus - , der österreichische Gesetzge-

15

Abgesehen vom Staate, der ja, ebenso wie für das Unrecht, auch für die Unrechtsfolgen (Exekution und Strafe) unerreichbar ist. (Vgl. Kelsen, Staatsunrecht, Grünhutsche Zeitschrift ex 1914).

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III.A. Verwaltungsrecht

ber konstituiere eine derartige Verschiedenheit zwischen Staatsperson und anderen Personen auf dem Boden des Gewerberechtes; eine Verschiedenheit, die darin besteht, daß der Staat, wie überhaupt alle Gebietskörperschaften (die aus später auszuführenden Gründen ihm gleichgestellt sind), von der Gewerbeordnung ausgenommen, des Gewerberechtes unfähig, aber auch unbedürftig sind; von der Gewerbeordnung ausgenommen, ohne hiedurch von den Funktionen, die bei anderen Personen ein Gewerbe darstellen würden, ausgeschlossen zu sein: ein und dieselbe Funktion fällt eben je nach der Person, die sie versieht, bald unter die Gewerbeordnung, bald nicht. Die bisherige Theorie (und auch Praxis) des österreichischen Gewerberechtes operierte nur mit sachlichen Exemtionen: Es sind das die großen Gebiete,,gewerbemäßiger" Tätigkeiten, welche der Art. V des Einführungspatentes zur Gewerbeordnung (kaiserliches Patent vom 20. Dezember 1859, RGBl. Nr. 227) aufführt. Wenn hier auch von Advokaten, Notaren, Ärzten die Rede ist, so handelt es sich doch nicht um persönliche sondern sachliche Ausnahmen; es sind zum Beispiel die advokatorischen, ärztlichen und anderen Berufsgeschäfte von der Gewerbeordnung ausgenommen; Advokaten, Ärzte usw. unterliegen ihr uneingeschränkt, wenn und inwieweit sie gewerbemäßig andere Geschäfte betreiben. Im Gegensatz zu dieser sachlichen Exemtion des Art. V enthält nun, wie mir scheint, der Art. IV eine persönliche Exemtion. Wie schon vorausgeschickt: die der Gebietskörperschaften. Das ist nun allerdings nicht direkt ausgedrückt; es ist nur mittelbar zum Ausdruck gebracht durch die Einschränkung des Geltungsbereiches der Gewerbeordnung auf die ,,gewerbemäßig betriebenen Beschäftigungen". Eine volkswirtschaftliche Kritik des Wortes,,gewerbemäßig" wird nämlich zu der Einsicht führen, daß es auf die Staats-, Landes-, Kreis- und Gemeindebetriebe nicht zutrifft. Auf den volkswirtschaftlichen Begriff des Wortes gewerbemäßig in einer im Sinne des Gesetzes mindestens möglichen, wenn nicht ausschließlichen Bedeutung ist nämlich durch die Gewerbeordnung stillschweigend verwiesen. Das Gesetz versucht zwar eine Definition des Gewerbes, indem es aber eine definitio per idem bietet (Gewerbe sind ... ,,alle gewerbemäßig betriebenen Beschäftigungen"), ist das Ergebnis dasselbe, als wäre von vornherein eine Definition unterlassen worden, und es tritt schon beim Worte Gewerbe selbst das ein (was sich ja schließlich und endlich auch nicht durch eine und nicht durch eine Serie von Legaldefinitionen, welche sich ja immer wieder

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Undefinierter Ausdrücke bedienen müssen), was sich also auch durch keine Legaldefinition vermeiden läßt: die Verweisung auf den Sprachgebrauch , die Ermächtigung, den gesetzlichen Ausdruck mit der dem Sprachgebrauch eigenen Begriffsumschreibung auszufüllen. Hier sozusagen ,,nationalökonomisch zu werden", wo das Gesetz mit Undefinierten nationalökonomischen Begriffen operiert, hier ein wenig Nationalökonomie zu treiben, verstößt nicht gegen das Prinzip des Rechtspositivismus, ist vielmehr echter Positivismus, weil sich eine solche Betrachtung die Aufdeckung aller im Gesetz beschlossenen Möglichkeiten zum Ziele setzt. Man wird zugeben, daß die populäre Auffassung vor der wissenschaftlichen nicht etwa den Vortritt hat - das billigste Urteil kann höchstens dahin gehen, daß beide Auffassungen dem Gesetzestexte gleich gut entsprächen - aber auch zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Auffassungen steht de lege die Wahl offen, wenn nur diese Auffassungen vor der diese Begriffe erforschenden Wissenschaft bestehen können. Die Familie, die auf primitiver Wirtschaftsstufe ihren gesamten Eigenbedarf deckt und zu diesem Zwecke die Tätigkeiten verschiedener, späterhin sehr differenzierter Gewerbe verrichtet, die betreibt zwar technisch aber nicht wirtschaftlich diese Gewerbe, besser ausgedrückt: sie ist technisch auf eine Art und Weise befaßt, welche bei anderer Wirtschaftsform den Inhalt eines Gewerbes abgeben würde. Das Gewerbe in dem Sinne, daß es die Qualität der Gewerbemäßigkeit begründet, mehr noch die Gewerbemäßigkeit als solche bedeutet hingegen eine Wirtschaftsform, welche zu dieser Deckung des Eigenbedarfs das gerade Gegenstück abgibt. Gewerbe ist eine verkehrswirtschaftliche Funktion , eine Tätigkeit für den fremden Bedarf. Die gewerbliche Tätigkeit bedeutet, wenn man den Eigenbedarf des Gewerbetreibenden im Gegenstande des Betriebs in Betracht zieht, notwendig eine Überdeckung und verweist ihn zwingend auf den Absatz. Der einzelne Gewerbebetrieb - Gewerbe ist hier nicht im technischen sondern kommerziellen Sinne zu verstehen, das Handelsgewerbe fällt also ebenso gut unter diesen Begriff wie das Produktionsgewerbe 16 - der einzelne Gewerbebetrieb also oder wie man hier ebenso gut sagen kann: die Unternehmung bildet

16 Durch Subsumtion des Handels unter die gewerblichen Tätigkeiten begeht also die österreichische Gewerbeordnung keineswegs einen Verstoß gegen die wissenschaftliche Terminologie.

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die Zelle der individualistischen Wirtschaftsorganisation. Der Staat jedoch oder jede andere Gebietskörperschaft, welche „gewerbliche", man kann eigentlich nur sagen: gewerbeähnliche Funktionen versieht, stellt ausnahmslos den Typus der kollektivistischen Wirtschaftsorganisation dar; das heißt: er wirtschaftet nicht für den Verkehr, sondern für den Eigenbedarf \ und zwar im Wesen nicht anders als auf tiefster Wirtschaftsstufe die Familie. Als juristische Person kann er freilich nicht das konsumieren, was er produziert; wohl aber die Summe jener Personen, deren ideeller Exponent er ist; der „Staatsbürger" würde hier wohl nicht zutreffen, gegen den farblosen Ausdruck Mitglieder dürfte man aber mit Grund keine Einwände erheben können. Gleiches gilt vom Land, vom Kreis, von der Gemeinde. Um bei dieser einen Augenblick zu verweilen: Die Nutznießung des Gemeindebetriebes beschränkt sich allerdings in der Regel nicht auf die Personen, welche in jenem engeren juristischen Zusammenhange mit der Gemeinde stehen, den etwa die österreichischen Gemeindeordnungen als Gemeindemitgliedschaft (Gemeindenangehörige und Gemeindegenossen) bezeichnet. Mit Einbeziehung der sogenannten „Auswärtigen" ergibt sich aber ein ganz bestimmter Kreis von Personen, die in der idealen Einheit der Gemeinde unifiziert gedacht, die mit ihr gleichgesetzt, durch sie gesetzt werden können. Nicht minder abbreviatorisch ist ja der Ausdruck: die Familie produziere und die Familie konsumiere; tatsächlich produzieren und konsumieren die einzelnen Familienmitglieder; auch wird bereits arbeitsteilig gewirtschaftet. Doch ist eben die Familie und nicht anders die wirtschaftlich tätige Gemeinde, der Kreis, das Land, der Staat die Einheit, in der sich Erzeuger und Verbraucher begegnen und (in dieser höheren Einheit) decken. Die Wirtschaft der Gebietskörperschaft, die eine Wirtschaft unterschiedslos für ihre Einwohner ist, stellt sich als eine planmäßige Kongruenzierung von Erzeuger und Verbraucher auf jener Wirtschaftsstufe dar, auf der die Arbeitsteilung eine natürliche Kluft zwischen ihnen hervorgerufen hat; im Grund ist es ja auch das Prinzip der Individualwirtschaft - allerdings in einem andern als dem landläufigen Sinne, in dem Sinne, daß sich jeder für seinen eigenen Bedarf produziert, wobei sich aber das „jeder" und das „eigen" auf ein Kollektivum beziehen - also auch, wenigstens formal und relativ, Individualwirtschaft, was hier auf dem Wege (materieller) Kollektivierung herbeigeführt wird. Alle anderen bestehenden Wirtschaftsformen 17 beinhalten hingegen einen grundsätzlich verschiede17

Vom Konsumvereine, welcher in einer eigenen Studie betrachtet werden soll, etwa abgesehen.

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nen wirtschaftlichen Habitus: Keine Gesellschaft verkauft prinzipiell nur an ihre Mitglieder - nein, prinzipiell die extranei bilden ihr Absatzgebiet. Sie produziert wie gesagt nicht für den Eigenbedarf, sondern für den Verkehr. Wo eine Gebietskörperschaft (regelmäßig außerhalb der Gebietsgrenzen) einen verkehrswirtschaftlichen Betrieb unterhält, da bestätigt diese Ausnahme nur die Regel. In dieser vereinzelten Richtung ist die Gebietskörperschaft denn auch als Gewerbeinhaberin zu behandeln, um so weniger aber eben, wo sie sich beim Absatz auf einen (formal, das bedeutet nicht notwendig: der Zahl nach) geschlossenen Mitgliederkreis beschränkt. Insoweit kann, um zusammenzufassen, bei den Gebietskörperschaften von einer Gewerbemäßigkeit des Betriebes ebensowenig die Rede sein wie bei der Familienwirtschaft, welche sich auf den Familienbedarf beschränkt, insofern ist weiters anzunehmen, daß mangels der Gewerbemäßigkeit, welche die österreichische Gewerbeordnung zum fundamentalen Begriffsmerkmal des Gewerbes erhebt, ein Gewerbe im Sinne des österreichischen Gesetzes nicht vorliegt. Der Staat (um nur ein paar Beispiele zu bringen), welcher an seine Einwohner Mehl abgibt, die Gemeinde, wenn sie etwa Kohlen verschleißt oder auch, sofern sie sich etwa auf ein Gebiet begibt, das sonst der Gast- und Schankgewerbekonzession unterliegt - (die Beispiele ließen sich verhundertfachen), unterliegt nicht der Gewerbeordnung, das heißt den immerhin lästigen - Voraussetzungen oder Einschränkungen für diese Tätigkeit (wofern sie gewerblicher Natur wären) 18, sondern sind lediglich an etwaige interne Vorschriften für diese Funktionen gebunden.

18

Vgl. Österreichische Zeitschrift für Verwaltung, Jg. 1901, Nr. 7 vom 14. Februar 1901, ,,Über den Begriff des Gewerbes nach österreichischem Gewerberecht" von Dr. Siegmund Brosche: ,,Eine Tätigkeit, die ausschließlich der eigenen Bedürfnisbefriedigung oder dem Bedarfe des eigenen Hausstandes dient, die nicht auf einen Austausch von Leistungen gerichtet ist, ist kein Gewerbe." Die Funktion zur „eigenen Bedürfnisbefriedigung" trifft aber gerade vom industriellen Betriebe des Staates oder der Gemeinde zu (es wäre denn, daß sie außerhalb oder auch innerhalb ihrer Grenzen einen industriell-kommerziellen Betrieb, verbunden mit dem Absatz der Waren an Ort und Stelle, also an extranei unterhalten würden). Gegen das etwaige Argument, daß bei juristischen Personen von einer „eigenen Bedürfnisbefriedigung" nicht die Rede sein könne, läßt sich sofort das Gegenargument anführen, daß ja auch nicht die „physische Person" als solche, sondern ihr physiologisches Substrat, der Mensch, die Bedürfnisse hat und befriedigt. Auch beim Staat und bei der Gemeinde hat man, wenn man von der Befriedigung eigener Bedürfnisse durch eine wirtschaftliche Tätigkeit spricht, vernünftigerweise an die ihrer materiellen Substrate zu denken. Es handelt sich für eine volkswirtschaftliche Betrachtung nicht um Bedürfnisse der juristischen Person des Staates, welche ja in ihrer Personsqualität für eine solche Betrachtung überhaupt nicht gegeben ist, sondern um Bedürfnisse der den Staat konstituierenden Menschen.

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Manche würden diesem Ergebnisse insoweit zustimmen, als es sich um wirtschaftliche Tätigkeiten der Gebietskörperschaften handelt, bei denen Gewinnabsicht ausgeschlossen ist, während sie sicher mit Entschiedenheit an der gewerblichen Natur jener Staats- und Gemeindebetriebe festhalten dürften, bei denen Gewinnabsicht erklärt oder offenkundig ist. Eine derartig bedeutende Stelle vermag ich jedoch der Gewinnabsicht, deren Bedeutung für die Qualifikation des Gewerbes meiner Ansicht nach überhaupt sehr überschätzt wird, in diesem Zusammenhange schon gar nicht zuzuschreiben. Im allgemeinen trifft der von Heller 19 aufgestellte Satz: „Die Gewerbemäßigkeit setzt die Absicht voraus, Gewinn zu ziehen" vollauf zu, wenn auch einzelne Fälle denkbar sind, wo die Gewinnabsicht mangelt, ohne daß hiedurch die gewerbliche Natur der betreffenden Tätigkeit berührt wäre. Wenn sich ein karitatives Unternehmen nicht darauf beschränken sollte, Geld oder fertig angeschaffte Güter geschenkweise zur Verteilung zu bringen, sondern Einrichtungen schüfe, diese Güter in eigener Regie zu erzeugen und die Erzeugnisse zum oder unter dem Selbstkostenpreis oder auch unentgeltlich zur Verteilung zu bringen, so ist hier trotz Ausschlusses der Gewinnabsicht die Gewerbemäßigkeit dieser produktiven Tätigkeit nicht ausgeschlossen. Das Ergebnis der Tätigkeit kommt an extranei es handelt sich nicht um Deckung des Eigenbedarfs, sondern um Absatz, allerdings ohne Gewinnabsicht. - Das typische Gewinnstreben bei der gewerblichen Tätigkeit, welches nur vereinzelte Ausnahmen erfährt, hängt eben mit der von mir betonten verkehrswirtschaftlichen Funktion der gewerblichen Tätigkeit zusammen. Wenn ich also einerseits der Ansicht sehr nahe stehe, welcher ein Gewerbe ohne Gewinnabsicht als Nonsens erscheint, so kann ich doch der verwandten Auffassung nicht zustimmen, welcher - beim Vorliegen der technischen Voraussetzungen eines Gewerbes - die obendrein festgestellte Gewinnabsicht bestimmend ist, in dem betreffenden Falle ein Gewerbe anzunehmen. Der Staats- oder Gemeindebetrieb ist vielmehr gleichgültig, ob Gewinnabsicht vorliegt oder nicht, kein Gewerbebetrieb. Was in diesem Falle die Gewerbemäßigkeit ausschließt, ist die wirtschaftlich-soziale Kongruenz von Produzent und Konsument, vom gewerblich Tätigen und Abnehmer des Ergebnisses der Tätigkeit; eine Kongruenz, die reelle Gewinne ausschließt,

19

A.a.O. II, S. 1660. Übereinstimmend Brosche im zitierten Artikel.

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die das, was als Gewinn erscheint, auf einen Betriebsüberschuß reduziert, welcher in die Taschen der den Gewinn verursachenden Abnehmer in irgendeiner Form - vielleicht auch in die Form eines gar nicht geschätzten und nicht einmal schätzenswerten ,,Gutes" verflüchtigt - zurückfließt. Der sogenannte Gewinn kann das Ergebnis einer vorsichtigen Kalkulation sein, er kann die Zwecke einer indirekten Besteuerung verfolgen 20 - niemals wird ihm die Rolle eines die Gewerbemäßigkeit konstituierenden privatwirtschaftlichen Gewinnes zuzuschreiben sein. Noch einen letzten Einwand gilt es zu zerstreuen! Nach Art. IV des Einführungsgesetzes zur Gewerbeordnung fällt unter „die gewerbemäßig betriebenen Geschäfte" unter anderem der „Betrieb von Handelsgeschäften". Daß die Gebietskörperschaften nach österreichischem Handelsrechte fähig sind, Handelsgeschäfte einzugehen und tatsächlich tausendfältig abschließen, soll keineswegs in Abrede gestellt werden. Aber nicht der Betrieb von Handelsgeschäften schlechthin genügt, ein Gewerbe zu konstituieren nein, „gewerbemäßig" muß dieser Betrieb vor sich gehen. Und daran, daß dies, wie gezeigt, bei der Handelsgeschäfte abschließenden Gebietskörperschaft nicht der Fall ist, scheitert ihre Qualität als Gewerbsinhaberin. - Nun sollte man meinen, es sei eine einfache Konsequenz, daß der des Betriebes von Handelsgeschäften fähige Staat auch ein Gewerbe betreiben könne. Dem ist aber keineswegs so und gerade an dieser scheinbaren Inkonsequenz vermag sich vielleicht am besten die Berechtigung meiner dem Staat und der Gemeinde eine gewerberechtliche Sonderstellung einräumenden Theorie zu erweisen. Dürfte man beim Begriffe des Handelsgeschäftes auf die nationalökonomischen Grundlagen zurückgreifen, der Staat und die Gemeinde würden sich dann (und zwar aus denselben Gründen) einem Handelsgeschäfte, wie überhaupt der Erscheinung des Handels gegenüber als ebenso unzugänglich erweisen, wie gegenüber einem Gewerbebetriebe. Jede derartige nationalökonomische Erwägung wird aber dadurch ausgeschlossen, daß das Gesetz (HGB Art. 271 ff.) die Handelsgeschäfte definiert oder eigentlich sie erschöpfend aufzählt und darunter eben auch solche

20 Bezeichnenderweise ist es noch niemandem eingefallen, den Staat als Inhaber des Tabakmonopols, obwohl, ja vielleicht gerade weil hier die Gewinnabsicht auf der Hand liegt, der Gewerbeordnung zu unterstellen; der Art. V I I I des Einführungsgesetzes zur Gewerbeordnung für sich allein würde das nicht hindern.

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anführt, welche zu Tausenden von Staat und Gemeinde geschlossen werden. Es ist dies im Grunde gar nicht eine Legaldefinition des Handelsgeschäftes, geschweige denn des Handels, es handelt sich lediglich um die Zusammenfassung von Geschäften, welche unter gleichen Rechtsregeln stehen, unter einem gemeinsamen willkürlich oder a potiori gewählten Namen. Wenn sich aber das Gesetz der Definition des von ihm gebrauchten Ausdruckes „Gewerbemäßigkeit" enthält und auch auf eine erschöpfende Aufzählung der „gewerbemäßigen Beschäftigungen" verzichtet, hat es der fachwissenschaftlichen Auslegung dieses gewiß auslegungsbedürftigen vieldeutigen Begriffes die Bahn freigegeben. I I I . Gewerberecht und Eigenberechtigung Der § 2 der Gewerbeordnung führt als das einzige allgemeine Erfordernis, welches das österreichische Gewerberecht kennt, die Eigenberechtigung des Gewerbetreibenden an; das Gesetz stellt sich aber im nächsten Absatz, oder genau genommen, gleich auf der Stelle dahin richtig, daß auch die nicht voll handlungsfähige Person möglicher Gewerbsinhaber sei, daß sie jedoch eines „geeigneten Stellvertreters (Geschäftsführers)" bedürfe. D.h. also: Mangelnde Eigenberechtigung schließt nicht - und zwar in keinem Falle - vom Gewerbebetriebe aus, sondern ist nur an die erschwerende Voraussetzung des (gemäß § 3 auch für juristische Personen) obligatorischen Geschäftsführers geknüpft. 21 Die vom gesetzlichen Vertreter des nicht Eigenberechtigten (desgleichen wohl auch die von diesem selbst mit der erklärten Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters) erstattete Gewerbeanmeldung, welche gleichzeitig die Genehmigung des eventuellen Vormundschafts-(Kuratels-)Gerichtes ausweist und einen geeigneten Stellvertreter namhaft macht, ist also von der Gewerbebehörde zweifellos zur Kennntis zu nehmen und mit der Ausfertigung eines - auf den Namen der nicht

21 Kulisch (System des österreichischen Gewerberechts, 2. Aufl., 1. Bd., S. 298) und Heller (Kommentar zur Gewerbeordnung, S. 40) gehen von der nicht ganz zutreffenden, durch eine isolierte Betrachtung des 1. Absatzes des § 2 der Gewerbeordnung allerdings sehr leicht suggerierten Vorstellung aus, der Gewerbebetrieb eines Minderjährigen sei prinzipiell ausgeschlossen und nur durch den Abs. 2 des § 2 ausnahmsweise gestattet. Völlig zutreffend sagt hingegen von Laun (Das Recht zum Gewerbebetrieb, S. 50): „Beschränkt erwerbsfähig sind Nichteigenberechtigte und juristische Personen." Auch Launs Terminologie von der beschränkten Handlungsfähigkeit ist entsprechend.

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eigenberechtigten Person lautenden - Gewerbescheines zu erwidern. Handelt es sich doch unter diesen Voraussetzungen um die Meldung einer Person, welche nach den „Bestimmungen des II. Hauptstückes nicht ausgeschlossen erscheint". Nur dann, wenn die Gewerbeanmeldung den Nachweis der gerichtlichen Zustimmung oder insbesondere die Namhaftmachung eines geeigneten Geschäftsführers vermissen läßt, wäre die gesetzliche Handhabe zur Abweisung dieser Gewerbeanmeldung aus dem Grunde des § 2 geboten. Denn eine derartige Gewerbeanmeldung würde den Willen „zum selbständigen Betriebe eines Gewerbes" bekunden, ein Fall, für den das Gesetz „ i n der Regel erfordert, daß der Unternehmer sein Vermögen selbst zu verwalten berechtigt sei". Wegen mangelnder Handlungsfähigkeit ist also diese einfache - aber auch nur diese - Gewerbeanmeldung abzuweisen. Es ist entschieden zu betonen, daß es sich im Falle der Gewerbeanmeldung einer nicht eigenberechtigten Person keineswegs um einen Fall von freiem Ermessen handelt. Eine Person, bei der die Voraussetzungen des 2. Absatzes des § 2 der Gewerbeordnung zutreffen, die also insbesondere über einen geeigneten Stellvertreter verfügt, hat einen festen Anspruch auf Ausfertigung des Gewerbescheins. Wenn auf diesem Wege nicht bloß etwa der Großjährigkeit nahestehende oder entmündigte, im übrigen aber faktisch zum Gewerbebetrieb geeignete Personen, sondern ebenso gut auch unmündige Kinder oder völlig unzurechnungsfähige Geisteskranke gewerbeberechtigt werden können, so kann diese legislativ-politisch vielleicht unerwünschte Tatsache an der de lege lata bestehenden Sachlage nichts ändern. Sie sind nun einmal durch den § 2 der österreichischen Gewerbeordnung bloß vom „selbständigen" Gewerbebetriebe ausgeschlossen, d.h. aber zum Gewerbebetriebe durch einen geeigneten Geschäftsführer zugelassen. Nur faktisch ergibt sich ein doch ziemlich weitgehender Ausschluß von handlungsunfähigen Personen auf dem Wege, daß man bei den an den Befähigungsnachweis gebundenen Gewerben auch von ihnen außer (gemäß § 55) vom Geschäftsführer den Befähigungsnachweis verlangen kann. Wiewohl der Befähigungsnachweis von Seite einer vom selbständigen Gewerbebetrieb notwendig ausgeschlossenen, an einen obligatorischen Geschäftsführer gefesselten Person geradezu sinnwidrig ist, kann man wohl auch dieses Erfordernis de lege lata als gegeben annehmen und die Praxis wird, falls sie sich auf unseren Standpunkt der freien Zulassung Minderjähriger

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begibt, um die Folgen dieser gegenüber Handlungsunfähigen wohl übertriebenen Gewerbefreiheit zu paralysieren, keinem Handlungsunfähigen den Befähigungsnachweis ersparen. Das Gesetz geht im Prinzipe der Gewerbefreiheit bei handlungsunfähigen Personen scheinbar noch weiter. Nicht nur, daß sie zum bedingungsweisen Gewerbebetriebe (durch Stellvertreter) ausnahmslos zugelassen sind, seien sie vom „selbständigen Betriebe eines Gewerbes" auch nur ,,in der Regel" ausgeschlossen. Das deutet auf begünstigende Ausnahmen, die zu machen allenfalls im freien Ermessen der Gewerbebehörde gelegen wäre. Doch der zweite Satz des § 2 sagt, daß ,,für Rechnung von Personen, denen die freie Verwaltung ihres Vermögens nicht eingeräumt ist, Gewerbe nur ... durch einen geeigneten Stellvertreter (Geschäftsführer) oder Pächter (§ 55) betrieben werden können". Da also das Erfordernis des Stellvertreters bei Handlungsunfähigen ausnahmslos besteht, handlungsunfähige Personen vom „selbständigen" Betriebe (das ist doch wohl der ohne Stellvertreter) ausnahmslos ausgeschlossen sind, kommen die vom Gesetze hier offenbar nur phraseologisch gebrauchten Worte „ i n der Regel" um ihren Sinn. 22 Auch die Worte ,fiir Rechnung von Personen", mit denen der zweite Absatz des § 2 beginnt, entbehren eines erklärlichen Sinnes und sind einfach zu streichen. Das steht gar nicht in Frage, ob für Rechnung einer Person, und sei es auch eines Handlungsunfähigen, ein Gewerbe betrieben werden kann, diese Frage wäre übrigens, wenn sie die Gewerbeordnung gar nicht aufwürfe, schon auf Grund des geltenden bürgerlichen Rechtes zu bejahen und geradezu widersinnig wäre das Ergebnis (das aber dem bloßen Wortlaut des § 2 entsprechen würde), daß in jedem Fall, wo ein Handlungsunfähiger an Gewinn und Verlust irgendeines Gewerbebetriebes beteiligt ist - solche Fälle entziehen sich noch dazu meist der Kenntnis der Gewerbebehörde die Genehmigung des Vormundschaftsgerichtes der Gewerbebehörde aus-

22 Sicherlich besteht die Regel nicht im normalen Ausschluß der Minderjährigen und die Ausnahme nicht in der allfälligen Zulassung. Eine Ausnahme, an die der Kodifikator vermutlich nicht gedacht hat, die seinem unüberlegten Ausdruck ,,in der Regel" doch wiederum Sinn verleiht, soll übrigens noch berührt werden. Vgl. letzten Absatz dieses Artikels.

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zuweisen und ein Geschäftsführer aufzustellen erforderlich wäre. „Für Rechnung" einer Person ein Gewerbe betreiben bedeutet ja doch in erster Linie, daß eine andere Person als die, auf deren Rechnung es geht, als Subjekt des Gewerberechtes auftritt, und darum bedeutet es eine höchst verunglückte Textierung, wenn unser § 2 Personen, die er als Inhaber von Gewerberechten qualifiziert, dadurch charakterisiert, daß auf „ihre Rechnung" der Betrieb erfolge. Es sollte also einfach heißen: „Von Personen , denen die freie Verwaltung ihres Vermögens nicht eingeräumt ist, können Gewerbe ... betrieben werden"; nur durch eine solche Textierung sind die Handlungsunfähigen als mögliche Träger von Gewerberechten (wozu ihnen ja eben durch den § 2 die Fähigkeit verliehen werden soll) charakterisiert. Daß ein solcher Gewerbebetrieb, deren Subjekte sie sind, auf ihre Rechnung gehen wird, ist nur eine gewerberechtlich unwesentliche, wenn auch regelmäßige Begleiterscheinung. Nicht vom obligatorischen Geschäftsführer des zweiten Absatzes des § 2, wohl aber vom Erfordernis der Eigenberechtigung überhaupt, das, wie ausgeführt, nur bei beabsichtigtem „selbständigen" Gewerbebetrieb besteht, kennt unsere Rechtsordnung bekanntlich eine Art von Dispens; allerdings ist nur in sehr uneigentlichem Sinne von einer Dispens zu sprechen, weil - anders als in den echten Dispensfällen - durch die von uns gemeinte gesetzliche Maßregel der Anlaß zur Dispens zugleich mit dem Hindernisse miteliminiert wird. Die Entlassung aus der väterlichen Gewalt und die Großjährigerklärung, welche beide auf dem einfachsten Wege die zum selbständigen Gewerbebetriebe aufgestellte Voraussetzung der Eigenberechtigung herbeiführen, sollen uns hier nicht weiter befassen. Mehr Beachtung verdient in diesem Zusammenhange das alte Rechtsinstitut des § 252 ABGB, wonach die Verleihung eines Gewerberechtes an einen Minderjährigen die Großjährigkeit begründet. Von den Redaktoren der Gewerbeordnung scheinbar ganz übersehen, fügt sich diese Bestimmung doch unschwer in die einschlägigen Anordnungen der Gewerbeordnung ein und braucht darum keineswegs als derogiert angesehen zu werden. Der Satz des bürgerlichen Gesetzbuchs: „Wird einem Minderjährigen der Betrieb einer Handlung oder eines Gewerbes von der Behörde verstattet, so wird er dadurch zugleich volljährig erklärt", scheint auf den ersten Blick mit

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dem Eingangssatze des § 2 Gewerbeordnung: „Zum selbständigen Betriebe eines Gewerbes wird in der Regel erfordert, daß der Unternehmer sein Vermögen selbst zu verwalten berechtigt sei" - gedanklich unvereinbar oder andererseits doch wieder als pleonastisch. Die Sachlage erinnert an eine andere ähnliche Erscheinung der österreichischen Rechtsordnung, daß nämlich durch das bürgerliche Gesetzbuch die Bestimmung getroffen ist, daß ein Ausländer durch Erlangung eines österreichischen Staatsamtes die österreichische Staatsbürgerschaft erwirbt, durch die Staatsgrundgesetze jedoch die Erlangung eines Staatsamtes vom Besitze der österreichischen Staatsbürgerschaft abhängig gemacht ist. Die zeitlich frühere Bestimmung scheint in beiden Fällen durch die zeitlich spätere illusorisch gemacht zu sein. Es wäre jedenfalls nur ein unzulässiger Gedankenkniff, wenn man die beiden Bestimmungen auf die Weise zu vereinbaren suchte (wodurch gleichzeitig auch der Schein eines Pleonasmus erweckt würde): Daß in dem einen der beiden erwähnten Fälle die Anstellung eines Ausländers auf Grund des bürgerlichen Gesetzbuchs nach wie vor zulässig sei, da dem Erfordernisse des Staatsgrundgesetzes, daß nur ein Inländerin unserem Staatsdienst stehen könne, jedesmal notwendig Genüge geschehe. Werde doch der entgegen dem Staatsgrundgesetz angestellte Ausländer gemäß dem ABGB durch die Anstellung österreichischer Staatsbürger! Das ist aber eben die Frage, ob diese durch das ABGB statuierte Wirkung der Anstellung eines Ausländers (daß er nämlich Inländer wird), durch eine Gesetzesbestimmung noch als aufrechterhalten anzunehmen ist, welche die Anstellung an die Voraussetzung der österreichischen Staatsbürgerschaft knüpft! Ähnlich ist es oder wäre es als fraglich anzusehen, ob durch eine Bestimmung, daß zum selbständigen Gewerbebtriebe Eigenberechtigung erforderlich sei 23 , nicht gemäß dem Satze „lex posterior derogat priori" einer früheren Bestimmung, wonach einem Minderjährigen der Betrieb einer Handlung oder eines Gewerbes gestattet werden kann 24 , derogiert sei. Nun findet sich aber, wie oben bereits angedeutet, im § 2 ein Ausdruck, der das Nebeneinanderbestehen der beiden zeitlich auseinanderliegenden Bestimmungen zu erlauben scheint. Ware uneingeschränkt der selbständige

23

§ 2 Gewerbeordnung.

24

§25 ABGB.

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Betrieb 25 von Gewerben Nichteigenberechtigten verwehrt, so wäre für die behördliche Bewilligung, wie sie das bürgerliche Gesetzbuch ins Auge faßt, kein Raum mehr. Da aber Eigenberechtigung nur,, in der Regel erfordert" ist, kann man nach wie vor die Gewerbebehörde als durch das bürgerliche Gesetzbuch delegiert erachten, von dieser Regel Ausnahmen zu machen. Es könnte sich aus dem Zusammenhalt der beiden, wie man sieht, auf diese Weise miteinander verträglichen Bestimmungen höchstens noch das eine ergeben, daß die Bestimmung des bürgerlichen Rechtes durch die der Gewerbeordnung in gewisser Richtung modifiziert ist: Steht nämlich auf Grund der Textierung jener Rechtsquelle ein schrankenloses Bewilligungsrecht offen, so kann man wohl annehmen, daß nunmehr, wo die Eigenberechtigung des selbständigen Gewerbeinhabers die Regel darstellen soll, die Bewilligung für den Nichteigenberechtigten als Ausnahmeerscheinung gedacht ist. Also in der Gewerbeordnung ein Wink zur sparsamen Anwendung des § 252 ABGB, wie ihn auf anderem Wege der von denselben Intentionen ausgehende Justizministerialerlaß vom 16. März 1860, Z. 2712, zum Ausdruck bringt! Unser behördlicher Akt stellt sich gleichzeitig als Dispens vom obligatorischen Geschäftsführer dar. Dabei sind aber diesem Akte der Verwaltungsbehörde (dem in der Rechtswirkung die zum Zwecke des selbständigen Antritts eines Gewerbes erfolgte Entlassung aus der väterlichen Gewalt oder vormundschaftsbehördliche Großjährigerklärung gleichsteht), keineswegs so enge Schranken gezogen, wie sie die bis auf diesen Punkt geradezu ausgezeichneten Ausführungen von Kulisch ziehen. Kulisch wird 2 6 nämlich durch den Gesetzeswortlaut, wonach die Behörde einem Minderjährigen den Gewerbebetrieb verstatten dürfe, verleitet anzunehmen, eine solche Ausnahmebewilligung sei nur bei konzessionierten Gewerben statthaft, bei freien und handwerksmäßigen aber ausgeschlossen. Die Gewerbebehörde sei ,,bei freien und handwerksmäßigen Gewerben gar nicht in der Lage, durch Verwaltungsakt eine Gewerbebefugnis zu schaffen". 27 Für die große Masse der Gewerbeanmeldun-

25 Sehr richtig bemerkt von Laun, a.a.O. S. 51, daß sich die Bewilligung des § 252 ABGB auf den selbständigen Gewerbebetrieb bezieht. Die Ausübung des Gewerberechts durch einen Stellvertreter ist ja schon auf Grund des § 2 Abs. 2 gestattet und bietet daher nicht erst für eine ausdrückliche Bewilligung Anlaß. 26

A.a.O. S. 295, 297.

27

A.a.O. S. 297.

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gen trifft dies zu; die Gewerbeanmeldung des § 11 Gewerbeordnung, das ist die Anzeige, daß man den Betrieb eines freien oder handwerksmäßigen Gewerbes eröffnen werde, hat tatsächlich, sofern gegen die Person, die Beschäftigung und den Standort (§13 Gewerbeordnung) kein Hindernis obwaltet, die Rechtswirkung, das gewünschte Gewerberecht zur Entstehung zu bringen - ohne Rücksicht auf das weitere Zutun der Behörde, insbesondere also auch vor der Ausstellung des Gewerbescheins, dem nur eine deklarative, in der Bescheinigung des bereits entstandenen Gewerberechtes bestehende Bedeutung zukommt. Nun obwaltet aber in unserem Falle voraussetzungsgemäß ein Hindernis „gegen die Personnämlich das im § 2 der Gewerbeordnung bezeichnete. Bringt eine nicht eigenberechtigte Person oder deren gesetzlicher Vertreter ohne Namhaftmachung eines geeigneten Vertreters ein freies oder handwerksmäßiges Gewerbe zur Anmeldung gemäß § 11, so hat dies eben nicht den Erwerb eines Gewerberechtes durch den anmeldenden Handlungsunfähigen zur Folge, sondern gibt der Gewerbebehörde die gesetzliche Handhabe, aus dem Hindernisse des § 2 gemäß § 13 der Gewerbeordnung den Beginn des Betriebes zu untersagen. Bei solcher Sachlage wird man die Möglichkeit einer besonderen ausnahmsweisen Gestattung des Betriebes, die zufolge der Ermächtigung des § 252 ABGB an Stelle der sonst für diesen Fall gebotenen Abweisung der Gewerbeanmeldung treten darf, nicht mehr bestreiten können. Die Bewilligung des § 252 ABGB hat eben mit der Konzession bei konzessionierten Gewerben (die wohl auch eine Bewilligung, aber doch eine solche ganz anderer Natur ist), nicht nur nichts gemein, sondern ist insbesondere auch in ihrem Auftreten nicht an sie gebunden. Wenn nun diese Ausführungen zu unserem Gegenstande keineswegs erschöpfend sein, sondern nur einige der interessanteren Punkte herausgreifen wollen, so verlohnt es sich doch noch und gebietet es sich geradezu, sofern einigermaßen Vollständigkeit der Darstellung erreicht sein will, noch der einen Frage nachzugehen, was für eine Wirkung der Verlust der Eigenberechtigung auf das bereits begründete Gewerberecht hat. Die Eigenberechtigung ist ja nämlich eine der wenigen Voraussetzungen des Gewerberechts (wie außerdem etwa noch die Unbescholtenheit, welche aber bekanntlich keineswegs condicio sine qua non ist, und wie die formelle Reziprozität, deren Verlust durch den Krieg mit dem Heimatstaat aktuell wird), deren man überhaupt nachträglich verlustig gehen kann. Hat aber dieser Verlust, was keineswegs so selbstverständlich ist, auch den gleichzeitigen Verlust (oder

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eine durch den Verlust der Eigenberechtigung bedingte Aberkennung) des bereits erworbenen Gewerberechtes zur Folge? Der Streit, was dann Rechtens sei, wenn diese Bedingungen vom Gesetze nur für den Gewerb ^antritt gesetzt sind, soll hier keineswegs gelöst, nur so viel soll hiezu vermerkt werden, daß viel dafür spricht, daß die ausdrücklich für den Gewerbsantritt gesetzte und in diesem Stadium erfüllte Bedingung nicht in jedem Augenblicke der Gewerbsausübung von neuem wieder gestellt werden könne. Anders, d.h. in völlig unzweideutiger Weise stellt sich aber die Sache bei jenen Fällen dar, wo nicht nur der Antritt , sondern auch der Betrieb eines Gewerbes an eine bestimmte Voraussetzung geknüpft ist, wie in unserem Falle, wo der § 2, um ihn nochmals zu zitieren, ,,zum selbständigen Betriebe eines Gewerbes ... erfordert, daß der Unternehmer sein Vermögen selbst zu verwalten berechtigt sei". Da ergibt sich wohl kein anderer Ausweg als mit dem Wegfalle der - als Resolutivbedingung zu denkenden - Voraussetzung der Eigenberechtigung das Erlöschen der - ganz gleichgültig, wie lange bereits bestehenden Gewerbeberechtigung anzunehmen, es sei denn, daß im Zeitpunkt der Entmündigung - das ist nämlich der Fall, bei dem unsere Frage aktuell wird - bereits ein geeigneter Stellvertreter bestellt wäre. Und da der Verlust der Eigenberechtigung niemals sozusagen über Nacht kommt, sondern stets ein längeres Verfahren erfordert, das hinlänglich Zeit läßt, der bezeichneten Rechtsfolge vorzubeugen, indem man für die Bestellung eines geeigneten Geschäftsführers Vorsorge trifft, wäre unsere Konsequenz praktisch nicht einmal so bedenklich, als sie vielleicht auf den ersten Blick erscheint. Nun gibt es aber de lege lata vielleicht noch einen Weg, unserer Konsequenz des Verlustes des Gewerberechtes beim Verluste der Eigenberechtigung trotz des Mangels eines Geschäftsführers zu entgehen. Diesen Ausweg scheinen ebenfalls die Worte ,,in der Regel" zu eröffnen, welche für uns schon in einer anderen Hinsicht bedeutungsvoll geworden sind. Der Verlust der Eigenberechtigung im Wege der Entmündigung wäre eben einer jener die Regel des 1. Absatzes des § 2 durchbrechenden Ausnahmefälle , wo auch ein Nichteigenberechtigter zum selbständigen Betriebe eines Gewerbes berechtigt wäre. Jedenfalls handelt es sich aber auch insoweit ebenso wie im Falle des § 252 ABGB um ein vollkommen freies Ermessen der Gewerbebehörde und bleibt durch die provisorische Ausübung das Recht der Behörde unbenommen, jederzeit im Sinne des 2. Absatzes des § 2 bei

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III.A. Verwaltungsrecht

Vermeidung der Rechtsfolge, welche zum mindesten im Verlust des Gewerbes bestehen könnte, auf die Bestellung eines geeigneten Geschäftsführers zu dringen. Es wäre nur noch zu erwähnen, daß ipso iure der Kurator diese Rolle nicht einnimmt. IV. Der unbefugte Gewerbebetrieb Eines unbefugten Gewerbebetriebes machen sich nach dem Gesetze (§ 132 der Gewerbeordnung) a) „diejenigen" schuldig, „welche ein Gewerbe selbständig betreiben, ohne es angemeldet oder, falls eine Konzession erforderlich ist, diese erwirkt zu haben"; b) „diejenigen, welche ein Gewerbe fortbetreiben, nachdem es ihnen eingestellt wurde". Das Delikt des unbefugten Gewerbebetriebes, das Kardinaldelikt gegen die Gewerbeordnung, kann also in der Übertretung zweier Pflichten 28 bestehen, der Pflicht zur Betriebsanmeldung und der zur Betriebseinstellung. Doch ist der Tatbestand nicht im entferntesten so einfach, wie diese - mit Klugheit wortkarge 29 - gesetzliche Textierung vermuten läßt, es handelt sich nicht bloß um zwei Tatbestände, sondern um einen ganzen Tatbestands/com/?/^, der sich allerdings nach der oben zitierten gesetzlichen Einteilung in zwei (ungleiche) Hälften scheidet. Die praktisch wichtigere und theoretisch ungleich interessantere ist jene Tatbestandshälfte, die durch Unterlassung der Anmeldung oder Verabsäumung der Konzessionserwirkung charakterisiert ist. Ihr vor allem sollen unsere folgenden Untersuchungen gewidmet sein, deren Zweck es insbesondere ist, die mannigfachen Tatbestände auseinanderzulegen, die unter dem Deliktsmerkmal der „unterlassenen Gewerbeanmeldung" zu begreifen sind.

28

Heller, Kommentar zur österreichischen Gewerbeordnung, S. 1534, faßt nicht den Fall des § 132 b, wohl aber den des § 133 c als „unbefugten Gewerbebetrieb" auf. Wiewohl es sich fürs erste nur um eine terminologische Frage handelt, sei doch festgestellt, daß diese Terminologie nicht glücklich gewählt ist, da sie zu sachlichen Irrtümern führen könnte, von denen allerdings Heller selbst wohl weit entfernt ist. Der Fall des 2. Absatzes des § 133 c behandelt wie der 1. Absatz ein Spezialdelikt: dieser die Deckung eines unbefugten Gewerbebetriebes Jener die Anstiftung hiezu von Seite des unbefugten Gewerbetreibenden. Dieses Delikt kann offenbar nur in Konkurrenz mit einem unbefugten Gewerbebetrieb begangen werden, ist aber gerade darum mit ihm nicht identisch. 29

Die in diesen Fällen so häufige Kasuistik führt oft die größten Unklarheiten herbei.

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Unbefugt betreibt, wer sein Gewerbe nicht angemeldet hat. § 13 Gewerbeordnung statuiert die Pflicht zur Gewerbeanmeldung. Im Zusammenhalt mit dem § 132 a Gewerbeordnung ergibt sich erst, daß die Gewerbeanmeldung vor der Betriebseröffnung zu erfolgen hat. Die Vorbereitungen zur Betriebseröffnung - wie Miete des Geschäftslokales, Errichtung der Fabrik, Einschaffung von Warenbeständen, Anstellung von Verkaufs- und Arbeitspersonal - sind selbstverständlich noch nicht inbegriffen. Naturgemäß bildet die gewerbebehördliche Anmeldung - selbst noch im Verhältnis zur Betriebseröffnung eine Vorbereitungshandlung - den Abschluß der vorbereitenden Schritte, wonach sofort die Betriebseröffnung folgen wird und kann. Der Abschluß eines einzigen Geschäftes vor der Anmeldung, welches in den Rahmen oder vielmehr an den Anfang eines normalen Gewerbebetriebes fällt (wofür gerade jene Vorbereitungshandlungen den besten Indizienbeweis darstellen), ein einzelner Geschäftsabschluß wird also unter Umständen schon strafbar machen. Dieser Indizienbeweis mangelt selbstverständlich dort, wo eine sichtbare und greifbare Betriebsstätte fehlt, wo z.B. der Standort mit dem Wohnort zusammenfällt, oder wenn das Gewerbe im Umherziehen betrieben wird. Zu betonen wäre, daß es sich in dieser Richtung nur um eine Beweis-, nicht um eine Tatbestandsfrage handelt. Der Tatbestand selbst ist gegeben mit der Betriebseröffnung, wenn ihr nicht die Gewerbeanmeldung vorausgegangen ist, d.h. also z.B. mit dem Abschluß eines einzigen Verkaufgeschäftes, welches nicht vereinzelt zu bleiben, sondern in einer Kette ähnlicher Geschäfte fortgesetzt zu werden bestimmt ist, welches also den ersten Akt einer ,,gewerbemäßigen" Handlungsweise darstellt. Für diese Gewerbemäßigkeit, in welcher offenbar ein innerlichsubjektives Element steckt, kann schon bei einem einzelnen Geschäft der äußerlich-objektive Tatbestand genügendes Erkenntnismittel sein, daß sich der Beschuldigte ein Geschäftslokal eingerichtet hat und dergleichen mehr. Bei der Handelsagentur jedoch z.B., bei welcher in der Mehrzahl der Fälle jenes Indiz mangelt, wird man sich nur bei einer Mehrzahl von Geschäftsabschlüssen entschließen können, den Beweis des unbefugten Gewerbebetriebes für gegeben zu erachten, es wäre denn, daß zu einem vereinzelten Geschäftsabschluß als weitere Beweispunkte noch das behördliche oder außerbehördliche Geständnis der Gewerbemäßigkeit - etwa die einem Geschäftsfreund gemachte Eröffnung, sich mit Handelsagentur befassen zu wollen - oder Beweise wie Zeitungsinserate und dergleichen, dazukämen. Die weiteren Geschäfte, die man in einem solchen Fall zur Erfüllung des Tatbestandes des unbefugten Gewerbebetriebes fordert, sind aber ledigliche

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Beweisstärkungsmittel, Beweismittel dafür, daß schon das erste Geschäft, welches eben durch die folgenden als gewerbemäßig charakterisiert wurde, das Delikt des unbefugten Gewerbebetriebes begründet hat - und nicht, wie man vielleicht anzunehmen versucht ist, Tatbstandsmerkmale. Hingegen gehört der Abschluß des einen Geschäftes unerläßlich zum Tatbestand des § 132 a Gewerbeordnung und tritt - mag man auf anderen Gebieten des Verwaltungsstrafrechtes über die deliktische Natur des Versuches30 wie immer denken, - erst mit dem ersten Geschäftsabschluß und nicht etwa schon mit den zu diesem Zweck getroffenen Vorkehrungen, mit der Miete des Lokales, mit der Bestellung der zur Veräußerung bestimmten Waren, mit der Annoncierung der Verkaufsquelle die Strafbarkeit ein. Worin dieser erste straffällig machende Geschäftsabschluß zu erblicken sei, ist wieder quaestio facti. Die Grenzziehung gegenüber den der Gewerbseröffnung dienenden Geschäften wird vielleicht nicht immer leicht sein. Die Einschaffung von Waren als solche ist niemals unter den Tatbestand des § 132 a zu subsumieren, weil sie ja für sich nicht möglicher Gegenstand des Gewerbes ist, wenn sie sich auch nach Handelsrecht als Grundhandelsgeschäft darstellt. Doch wird andererseits auch nicht ein Geschäft schon effektuiert sein müssen, damit man von einer Eröffnung des Gewerbes und damit auch von einem unbefugten Gewerbebetrieb reden könne. Ein Kleidermacher, der bereits die Bestellung entgegengenommen hat, ist nicht dadurch exkulpiert, daß er noch nicht geliefert hat. Und zwar ist er nicht etwa nur darum straffällig, weil die Entgegennahme der Bestellung in dem einen Falle auf effektuierte Aufträge in anderen Fällen schließen läßt, sondern eben wegen dieses einen Geschäftes, das zwar wirtschaftlich und technisch noch nicht vollendet, soweit es aber gewerberechtlich relevant sein kann, bereits abgeschlossen ist. Würde man den Versuch jedoch ebenfalls für strafbar erklären, so würde das geradezu einen Zwang bedeuten, ehe man irgendwelche Schritte zur Begründung eines Gewerbes unternimmt, die Gewerbeanmeldung vorzunehmen, da ja schließlich gar keine feste Grenze gegenüber den Vorbereitungshandlungen und damit die Mög-

30 Bezüglich des Versuches stehe ich - insoferne wohl mit der vorwiegenden Mehrzahl der Theoretiker und Praktiker eines Sinnes - auf dem Standpunkt, daß er dem Delikte selbst welches naturgemäß ein vollendetes Delikt ist - nicht gleichzuhalten, daß er also, wenn die Strafbarkeit nicht ausdrücklich ausgesprochen ist, straflos sei.

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lichkeit gegeben wäre, Handlungen zu bestrafen, die ebensogut die Vorbereitung für einen erlaubten Betrieb darstellen könnten. Das Gegenstück der unterlassenen Anmeldung und im Grunde auch auf diesen Tatbestand rückführbar ist die Fortsetzung des Gewerbebetriebes nach der Anheimsagung. Die korrekte Reihenfolge ist diese: Schließung des Betriebes - darauf Anheimsagung. Die sicherlich häufig vorkommende umgekehrte Reihenfolge schließt nämlich einen unbefugten Betrieb in sich, einen Betrieb, der durch keine Anmeldung gedeckt ist. Bei mündlicher Erklärung ist jeder weitere Betrieb ausgeschlossen, bei schriftlicher Anheimsagung ist die Fortsetzung des Betriebs auf Dauer des Postenlaufs zulässig, da erst mit Einlangen bei der Gewerbebehörde die Anzeige wirksam wird 31 , nämlich das Gewerberecht erlischt. Will man auch nur durch die kürzeste Zeit das zurückgelegte Gewerbe /ortbetreiben, etwa weil man sich plötzlich eines anderen besann, so bleibt nichts anderes übrig, als das zurückgelegte Gewerbe neuerlich anzumelden. Ein Widerruf ist möglicherweise bei der Gewerbeanmeldung vor Ausfertigung des Gewerbescheines solange handelt es sich um ein suspensiv, nämlich durch die gewerbebehördliche Kenntnisnahme bedingtes Gewerberecht - keinesfalls aber bei der Gewerberücklegung möglich, welche doch auf der Stelle die Rechtswirkung des Erlöschens des Gewerberechtes mit sich bringt. Anhaltspunkte zur Annahme der Willenstheorie finden sich im Gesetze nicht - auf der Erklärung liegt wie der Hauptton so das Hauptgewicht des Gesetzes. Die vom Gewerbeinhaber oder seinem bevollmächtigen Vertreter gleich unter welchen Umständen erklärte Gewerberücklegung qualifiziert also den etwa noch fortgesetzten Betrieb zu einem unbefugten und nur durch eine neuerliche Anmeldung kann er zu einem erlaubten umgewandelt werden. Als Termine der Anmeldung und Abmeldung, jenseits welcher sich ein Betrieb als unbefugt darstellt, ergeben sich also für jene als spätester Zeitpunkt der der Betriebseröffnung , für diese als frühester der Betriebsschluß. Damit ist auch schon zum Ausdruck gebracht, daß frühere An- und spätere Abmeldetermine grenzenlos offen stehen. Die materielle Tatsache des faktischen Betriebes muß zeitlich durch die formellen Tatsachen der An- und Abmeldung begrenzt sein und muß sich stets mit diesen decken, diese formellen

31

Vgl. § 144, Abs. 6 Gewerbeordnung.

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Tatsachen sind aber ohne diese faktische Begleiterscheinung ohneweiters rechtlich möglich. Die Erscheinung des Nichtbetriebes und als deren Abschluß die Anheimsagung eines oft schon seit langem nicht mehr betriebenen Gewerbes kommt in der Praxis häufig genug vor, aber wenn sie - dann muß auch ihr Gegenstück möglich sein: die Anmeldung eines Gewerbes, dessen Betrieb vorläufig noch nicht beabsichtigt ist, also Gewerbeanmeldung in Verbindung mit der Nichtbetriebsanzeige an die Steuerbehörde. Die Schwierigkeit der Standortsbestimmung in diesem Stadium kann kein rechtliches Hindernis sein. Die Angabe eines Standortes ist zwar unumgänglich, doch kann es nicht in diesem wie überhaupt in keinem Falle einem Anstand unterliegen, einen Standort namhaft zu machen, über den dem Anmeldenden jegliche juristische Verfügungsmacht noch mangelt, wenn nur die technische Möglichkeit dieses Standortes gegeben ist. 32 Soviel über die zeitlichen Grenzen des Gewerbes und damit eines unbefugten Gewerbebetriebes! Am nächsten liegen ihnen räumliche Grenzen, die im Sinne unserer Gewerbeordnung denn auch, und zwar sogar in engem Rahmen gegeben - jenseits derer das Delikt des unbefugten Gewerbebetriebes oder allenfalls verwandte Spezialdelikte gelegen sind. Voraussetzung für diese Gruppe von Tatbestandstypen, welche allenfalls unter den § 132 a der Gewerbeordnung zu subsumieren sind, ist im Gegensatz zu den oben angeführten Fällen, daß zwar ein Gewerberecht besteht, aber nicht für den Standort besteht, an dem auch oder ausschließlich ein Betrieb stattfindet. Bekanntlich genügt der Bestand eines irgendwo im Inland (geschweige denn im Ausland), ja sei es auch in demselben politischen Bezirk, in derselben Gemeinde, in derselben Straße begründeten Gewerberechtes nicht (wofern die ursprüngliche Standortsangabe detaillierter ist), um den Betrieb mit gleichem Betriebsgegenstande in einer anderen Örtlichkeit, als auf welche die Anmeldung lautet, zu rechtfertigen. Soweit herrscht communis opinio von Theorie und Praxis. Man muß aber weitergehen und nach derselben ratio den Betrieb für unbefugt erklären, wenn die Gewerbeanmeldung für das bestimmte Stockwerk, die bestimmte Türnummer eines Hauses lautet - eine so weitgehende Spezialisierung des Standortes, also über die normale Standortsangabe nach der Orientierungsnum-

32 Es würde vom Thema zu weit abführen, wenn ich die Besonderheiten der rechtlichen Behandlung einer Betriebsanlage in diesem Falle noch in Erwägung zöge.

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mer hinaus, muß man dem Anmeldenden ebenso zubilligen wie etwa die Beschränkung auf die Teilfunktion eines Gewerbes, z.B. innerhalb des Rahmens des Kleidermachergewerbes auf die Herren- oder Damenschneiderei - , einen unbefugten Gewerbebetrieb also auch dann annehmen, wenn diese selbstgewählte räumliche Spezialisierung nicht eingehalten wird, ebenso wie unbestritten ein unbefugter Gewerbebetrieb in dem Falle erblickt wird, daß sich ein Gewerbetreibender, dessen Gewerbeschein auf Herrenschneiderei lautet, mit Damenschneiderei befaßt, allgemein ausgedrückt, wie in dem Falle, daß eine sachliche Spezialisierung nicht respektiert wird. Das Gewerberecht ist eben nicht bloß an eine bestimmte Person und nicht bloß an einen bestimmten Gegenstand, sondern insbesondere auch an einen bestimmten Standort gebunden. In einem einzigen Falle begründet der Betrieb an einem anderen Standorte, als für welchen die Kenntnisnahme erfolgt, (jedoch innerhalb derselben Gemeinde), nicht das Delikt des unbefugten Gewerbebetriebes, nämlich im Falle der Verlegung (§ 39 Gewerbeordnung). Für diesen Fall besteht eben das Spezialdelikt der unterlassenen Übersiedlungsanzeige. (§ 39 Abs. 2 Gewerbeordnung). Wäre nicht dieser Spezialtatbestand aufgestellt, so wäre das Delikt nach der allgemeinen Norm des unbefugten Gewerbebetriebes zu behandeln. Es handelt sich ja im Grunde um nichts anderes als um einen unbefugten Gewerbebetrieb, welcher jedoch dadurch charakterisiert ist, daß der Gewerbetreibende für denselben Betriebsgegenstand an einem anderen Standort derselben Gemeinde gewerbeberechtigt ist, an diesem Standort aber den Betrieb eingestellt hat. (Besteht gleichzeitig der Betrieb am bisherigen Standort fort, dann handelt es sich um einen nach § 132 a Gewerbeordnung zu behandelnden Normalfall von unbefugtem Gewerbebetrieb. 33) Übrigens besteht kein gesetzliches Hindernis, den Fall der unterlassenen Übersiedlungsanzeige unmittelbar nach § 132 a Gewerbeordnung zu qualifizieren und zu bestrafen. Ausdrücklich findet sich nämlich das Delikt der unterlassenen Übersiedlungsanzeige nicht ausgesprochen, so daß die Subsumtion unter den weiteren Tatbestand des unbefugten Gewerbebetriebes

33 Bei der unerlassenen Übersiedlungsanzeige kommen eigentlich zwei Gewerbe in Frage: ein befugtes, das nicht betrieben wird, und ein unbefugtes - im Betrieb stehendes. (Unerläßliches Kriterium des unbefugten Gewerbes im Gegensatz zum befugten ist ja nämlich, daß es im Betriebe steht oder stand.)

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statt unter einen besonders konstruierten (auf Grund des § 39 Abs. 2 angenommenen) Tatbestand von vornherein offensteht. Da somit zwei Subsumtionsmöglichkeiten logischerweise gegeben sind - Subsumtion unter den § 39 Abs. 2 strafbar nach der allgemeinen Strafsanktion des § 131 oder Subsumtion unter den § 132 a strafbar nach dem Einleitungssatz desselben Paragraphen steht der weitere Strafspielraum der allgemeinen Strafnorm offen. Eine der unterlassenen Verlegungsanzeige analoge Übertretung, die in der Unterlassung der Anmeldung einer Zweigniederlassung oder einer weiteren Betriebsstätte bestünde, gibt es nicht. Was durch die Anmeldung unter der Voraussetzung, daß bereits eine Hauptbetriebsstätte besteht, als weitere Betriebsstätte oder Zweigniederlassung qualifiziert werden könnte, ist nämlich bei fehlender Anmeldung schlechthin unbefugter Gewerbebetrieb. Der Grund für diese abweichende Behandlung der unterlassenen Übersiedlungsanzeige34 einerseits und der Anmeldung eines Filialbetriebes oder eines Zweigetablissements andererseits besteht darin, daß zur Anmeldung dieser letztgenannten gewerberechtlichen Veränderungen unter diesen Titeln unter

34 Bezüglich des Termines der Übersiedlungsanzeige ist zu bemerken, daß es sich hier im Gegensatz zu dem nach vorne unbegrenzten Zeitraum für die Gewerbeanmeldung - oft nur um einen Zeitpunkt handeln wird. In den Fällen nämlich - und praktisch sind dies die häufigsten - , wo mit der gewerberechtlichen Verlegung eine faktische Geschäftsübersiedlung einhergeht, ist es oft geradezu unvermeidbar, daß die Anzeige bei der Gewerbebehörde für die bisherige Betriebsstätte zu früh, für die neue aber zu spät einlangt, nämlich vor der Schließung der ersteren oder erst nach Eröffnung der letzteren. Dies trifft in allen jenen Fällen zu, wo der Betrieb, wenn auch nur vorübergehend, auf Tage oder gar nur auf Stunden sowohl im alten als auch im neuen Geschäfte geführt wird. Der einzig korrekte Vorgang wäre hier, um das, wenn auch noch so kurze Nebeneinanderbestehen eines befugten und unbefugten Betriebes zu vermeiden, die Anmeldung eines der beiden Betriebe als Zweigniederlassung. Freilich wäre es schikanös, auf einer solchen Anmeldung in dem Falle zu bestehen, wo etwa nur während der Ausräumung des einen Geschäftslokales der Verkauf fortgesetzt und im neuen Lokale etwa vor dessen völliger Einräumung der Verkauf eröffnet wird. Greift man bei etwas längerer Übergangszeit - zum Auskunftsmittel der Filialanmeldung, so empfiehlt es sich, sofort das neue Lokal als nunmehrige Hauptbetriebsstätte und das alte Lokal als Zweigniederlassung zu klassifizieren; meldet man das neue Lokal zunächst, wie es vielleicht der wirtschaftlichen Sachlage besser entsprechen würde, als Zweigniederlassung an, so bleiben einem die zwei weiteren gewerbebehördlichen Anzeigen für die nächste Zukunft doch nicht erspart: die Anzeige der Verlegung der Hauptniederlassung auf den Standort des neuen Lokales und die Abmeldung der Filiale an diesem Standort. In diesem Falle liegt die Gefahr sehr nahe, daß die Anzeige nur auf Rücklegung des Gewerberechtes für den bisherigen Standort lautet, womit aber, wenn vorausgesetztermaßen das alte Lokal als Hauptbetriebsstätte, das neue als Filiale qualifiziert ist, mit der Anheimsagung des Hauptbetriebes das Filialrecht erlischt und damit der bisherige Filialbetrieb zum unbefugten Betriebe wird.

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keinen Umständen eine Pflicht besteht und die Qualifizierung eines Gewerbebetriebes als Zweigniederlassung oder Filiale eines anderen im Belieben des Gewerbetreibenden liegt. Es gibt eben a priori keinen Filialbetrieb und keine Zweigniederlassung - sondern es wird diese Qualifikation nur durch die selbstherrliche Bestimmung des anmeldenden Gewerbetreibenden erreicht, dem es freistünde, alle diese Betriebe als selbständige Betriebe zu qualifizieren. Die Anmeldung einer Betriebsstätte als Filiale oder Zweigniederlassung - statt daß eine neue Gewerbeanmeldung erstattet würde - ist ein Privileg und als solches niemals obligatorisch. Dies genüge zur Skizzierung der örtlichen und zeitlichen Schranken, deren Überschreitung die Übertretung des unbefugten Gewerbebetriebes begründet. Sie sowie die sachlichen Schranken, welche, wenn sie von einem prinzipiell nach irgend einer Richtung befugten Gewerbetreibenden überschritten 35 werden, ihn unseres Deliktes schuldig erscheinen lassen, sind die hervorstechendsten Gesichtspunkte, unter denen man den unbefugten Gewerbebetrieb zu betrachten gewohnt ist. Es gibt aber auch oft fast unmerkliche Verschiebungen in persönlicher Hinsicht, die einen Betrieb zum unbefugten zu stempeln vermögen. Vielleicht ist gerade die wichtigste Verschiebung im Gewerbebetrieb, nämlich die Änderung in der Person des Gewerbeinhabers beim Gleichbleiben der anderen Momente (Gegenstand und Standort der Unternehmung), im Vergleich mit einem unbefugten Gewerbebetrieb, welcher sich in einer Neuerung in bezug auf Standort oder in einer sachlichen Überschreitung äußert, jene Gestalt des Deliktes, in welcher es sich am verborgensten hält und am schwersten wahrnehmbar ist. Wenn wir diese Erscheinungsform des Deliktes in der Weise formulieren: „Unbefugt ist der Gewerbebetrieb auch dann, wenn er von Seite einer nicht berechtigten Person erfolgt", so hört sich dieser Satz wohl selbstverständlich wie nicht

Vollständig reibungslos gleich einer Neuanmeldung geht die Verlegung in dem Falle vor sich, daß sich das Gewerbe zur Zeit der Übersiedlungsanzeige im Stande des Nichtbetriebes befindet - denn auch ein solches Gewerbe unterliegt denkbarerweise dem rein formell-rechtlichen und keineswegs notwendig zugleich materiell-wirtschaftlichen Akt der Gewerbeverlegung. 35 Sachliche und örtliche Überschreitungen setzen ein bestehendes Gewerberecht voraus. In den unten zu behandelnden Fällen kann davon abstrahiert werden, ob der Übertreter in irgend einer Richtung gewerbeberechtigt ist.

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bald ein zweiter an, bietet jedoch unstreitig in der Praxis die größten Schwierigkeiten. Es handelt sich um die Interpretation der ,,nicht berechtigten Person". Von der berechtigten zur nichtberechtigten Person gibt es verschwindende Übergänge, die umsoweniger merklich sind, wenn Standort und Gegenstand des Unternehmens bereits gegeben sind und unverändert bleiben. Es wird der Fall sehr häufig vorkommen, daß Leute das Gewerbe tatsächlich anscheinend ausüben, auf welche der Gewerbeschein nicht lautet - und welche trotzdem nicht als unbefugte Gewerbetreibende anzusehen sind. Von vornherein ist dieser Verdacht bei jenen Personen in solcher Lage ausgeschlossen, welche die juristische Rolle des Stellvertreters oder Geschäftsführers einnehmen; doch wenn sie auch nicht ausdrücklich als solche bestellt und sie nicht als solche gewerbebehördlich gemeldet sind und ihnen daher die gewerberechtliche Stellung des Geschäftsführers nicht zukommt, wäre in vielen Fällen doch verfehlt, aus ihrer wirtschaftlichen Geschäftsführerfunktion oder etwa auch aus der Tatsache, daß sie nach außenhin als Gewerbeinhaber erscheinen, auf einen unbefugten Gewerbebetrieb zu schließen. Denn gerade dadurch, daß sie nur Stellvertreter sind und daß sich als wirtschaftlicher Herr des Gewerbes ein anderer zeigt, lenkt sich mit Grund der Verdacht von ihnen ab. Eine Pflicht, jemanden, der wirtschaftlich als Geschäftsführer anzusehen ist, rechtlich als solche zu qualifizieren, besteht eben in der Regel 36 nicht. Dies ist nur ein Recht des Gewerbeinhabers 37, ein Mittel, außer der technischen und kommerziellen Leitung auch die gewerbebehördliche Verantwortung auf eine andere Person abzuschieben. Der Fall ist ohne weiters denkbar, daß statt der Person, die in einer solchen nach außen sichtbaren Weise auftritt, welche sie in den Schein des Gewerbeinhabers bringt, ein anderer, der im Verborgenen steht, für einen unbefugten Gewerbebetrieb verantwortlich zu machen ist; daß man in keiner nach außenhin offenkundigen Weise ein Gewerbe betreibt, sondern daß ein anderer in diesem Scheine steht, macht keinen Gegenbeweis gegen die Anschuldigung des unbefugten Gewerbebetriebes.

36

Ausnahme § 3 Gewerbeordnung.

37

Der fakultative Geschäftsführer des § 55 Gewerbeordnung.

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Unbefugt ist also der Gewerbebetrieb dann, wenn ein anderes Rechtssubjekt de iure das Gewerbe betreibt als welches das Gewerbe angemeldet hat. Ein de facto-Betrieb ist demnach nicht maßgebend, kann, wenn gleichzeitig dasselbe Gewerbe als von einem anderen de iure ausgeübt anzusehen ist, nicht als unbefugter Betrieb angesehen werden. Aber wer übt de iure - was offenbar noch nicht heißt: rechtmäßig - das Gewerbe aus? Mangels einer Legaldefinition ist man auf den nationalökonomischen Begriffsschatz verwiesen und kann nichts anderes sagen als: wer als Unternehmer erscheint. Eine feste Begrenzung ist damit allerdings noch keineswegs erreicht. Die Sachlage ist konkreter gesprochen folgende: In einem Gewerbebetriebe sehen wir in leitender Stellung (als kommerziellen, technischen Chef) die Person A tätig. Dies bedeutet aber nach dem Gesetze noch nicht, daß gerade diese Person als Gewerbeinhaber anzusehen und damit sie zur persönlichen Anmeldung verpflichtet wäre; zwar ist die gewerberechtliche Inhaberschaft eines dieser Person Untergeordneten ausgeschlossen, doch ist der Rekurs an eine übergeordnete Instanz, an eine Person B ohne weiters denkbar und unter Umständen notwendig. In diesem Falle macht sich, wenn die Gewerbeanmeldung unterlassen wird, nicht der scheinbare Unternehmer A, sondern der im Hintergrunde stehende Unternehmer B des Deliktes schuldig. Es kommt aber immer nur eine einzige Person als Gewerbeinhaber in Betracht; juristische Personen machen von diesem Prinzipe auch keine Ausnahme, da es sich ja auch bei ihnen um eine Personeneinheit, besser eine Einheitsperson, handelt. Wendet man dieses Prinzip auf unseren Fall an, so muß man sagen: der dem gewerblichen Betriebe nächststehende Unternehmer ist als Inhaber anzusehen und daher wegen unterlassener Anmeldung strafbar. Eine eigentümliche Verkettung oder wenigstens Aneinanderreihung der Unternehmer ist im heutigen Wirtschaftsleben eine häufige Erscheinung. Wirtschaftlich Unternehmer - da an der Gebarung höchst interessiert - aber doch nur im entfernteren Sinn Unternehmer, weil es eine Person gibt, welche dem gewerblichen Betriebe jedenfalls näher steht und dabei doch auch Unternehmer ist, - ist zunächst der Geldgeber und insbesondere jener Typus des Geldgebers, welcher als Financier angesprochen wird; dieses Verhältnis kann zum juristischen Ausdruck kommen, indem er sich mit dem tatsächlich das Gewerbe ausübenden Unternehmer zu einer stillen Gesellschaft vereinigt. In der juristischen Form der offenen Handelsgesellschaft gewinnt er am Körper der gewerbeberechtigen Person selbst Anteil, wird er bereits mittelbar zum Gewerbeinhaber. - Der Subunterneh -

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mer ist für seinen Bereich selbst Gewerbeinhaber, der Unternehmer, der ihm die Lieferungsaufträge zukommen läßt, ist im Verhältnis zu seinem Gewerbebetriebe ein extraneus. Er ist geradeso Gewerbeinhaber wie etwa der Gewerbetreibende, welcher zur Gänze mit fremdem investierten Kapital arbeitet und dessen wirtschaftliche Funktion auf eine eigentümliche Art der Verwaltung fremden Vermögens herauskommt. Der Gewerbeinhaber ist also in der Person des Unternehmers und zwar des letzten Unternehmers zu suchen - desjenigen, nach dem in der wirtschaftlichen Hierarchie die Reihe der Angestellten anfängt. Wirtschaftlich werden die Grenzen wohl vielfach verschwimmen, juristisch wird sich aber wohl nach dem Kriterium: hier Werkvertrag - hier Lohn vertrag! eine Scheidelinie ziehen lassen. Wer im fremden Namen und auf fremde Rechnung nicht nur, sondern insbesondere auch in fremdem Dienst einen Betrieb ausübt, ist, mag er auch sozusagen die Seele des Unternehmens, mag er wirtschaftlich der Leiter des Unternehmens sein juristisch ein extraneus; die Person des Gewerbeinhabers ist hier anderswo zu suchen, mag dieser andere auch nur in einer ganz losen Beziehung zum Betriebe stehen. Wenn von ersterem die Gewerbeanmeldung ausgeht und der letztere sie unterläßt, macht sich dieser wegen unbefugten Gewerbebetriebes, jener allenfalls wegen Deckung eines unbefugten Betriebes straffällig. Nun ist aber die Gewerbebehörde über nichts so ununterrichtet wie über derartige Verhältnisse der in einem Betriebe tätigen oder zu einem Betriebe in Beziehung stehenden Personen und sie ist in der Regel genötigt, den als Gewerbeinhaber gelten zu lassen und als solchen zu behandeln, der sich durch seine Gewerbeanmeldung als solcher geriert hat; ihn dafür auch noch gelten zu lassen in einer Zeit, wo die einschlägigen persönlichen Verhältnisse oft schon längst eine Verschiebung erfahren haben. Hingegen ist für juristische Personen durch die Einrichtung der handelsgerichtlichen Registrierung auch für die Gewerbebehörde eine sehr genaue Evidenzmöglichkeit geschaffen und es ist nur begreiflich, daß in Anbetracht der völligen Unsicherheit und Ungenauigkeit, die notgedrungen bei der Behandlung der physischen Personen herrscht, wobei infolge des Mangels des Einblicks in die einschlägigen Verhältnisse sicherlich zahllose unbefugte Betriebe verborgen bleiben (indem die Behörde die Betriebe unter unrichtigen Namen in Evidenz führt), daß also gegenüber juristischen Personen um einer ausgleichenden Gerechtigkeit willen die bezüglichen Bestimmun-

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gen der Gewerbeordnung nur ziemlich lax gehandhabt werden. Hierher gehört es, wenn eine Gesellschaftsfirma, zu der sich eine Einzelunternehmung entwickelt hat; wenn ein Alleininhaber, der eine Gesellschaftsunternehmung übernommen hat; wenn eine Kommanditgesellschaft, die sich zu einer offenen Handelsgesellschaft umgewandelt hat, oder eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, welche aus einer Aktiengesellschaft entstanden ist, von der Gewerbebehörde eigens zur Gewerbeanmeldung namens des neuen Rechtssubjektes aufgefordert werden, wiewohl der Betrieb vom Augenblick der Wandlung an durch den Gewerbeschein des Rechtsvorgängers nicht mehr gedeckt war und sich daher von der ersten Stunde an als unbefugter darstellte. Ja es werden unbefugte Gewerbebetriebe der angeführten Entstehungsarten in manchen Fällen oft auf die Dauer toleriert, indem sich die Gewerbebehörden in diesen Fällen statt der einzig korrekten Neuanmeldungen mit sogenannten Veränderungsanzeigen begnügen. Daß durch derartige Anzeigen weder das Gewerberecht des Vorgängers übernommen noch ein neues Gewerberecht erworben wird, ist selbstverständlich, bestritten dürfte an unserer Behauptung nur eines werden, daß nämlich ein neues Gewerberecht in Frage stehe. Mangels eines verantwortlichen Geschäftsführers, für den nur beim befugten Gewerbebetrieb ein Platz ist, sind für den unbefugten Gewerbebetrieb einer juristischen Person alle Gesellschafter, beziehungsweise Vorstandsmitglieder haftbar zu machen. Zum Abschlüsse soll noch die Frage aufgerollt werden, ob ein unbefugter Gewerbebetrieb trotz erfolgter Anmeldung denkbar sei. Dies scheint auf den ersten Blick unmöglich, da ja nach dem Gesetze gerade die mangelnde Anmeldung das Kriterium des unbefugten Betriebes ist. Zur dauernden Begründung eines Gewerberechtes genügt aber nicht die Gewerbeanmeldung allein - es müssen gleichzeitig die Bedingungen für ihre Kenntnisnahme vorliegen. Nicht nur daß sich, wie auch Heller (a.a.O., S. 1534) und Kulisch (System des österreichischen Gewerberechts, 2. Aufl., S. 178) hervorheben, die zur Anmeldung gebrachte Tätigkeit objektiv (Art. 4 und 5 des Einführungsgesetzes zur Gewerbeordnung) als Gewerbe darstellen muß, müssen auch die subjektiven Voraussetzungen zum erlaubten Gewerbebetriebe in der Person des Anmeldenden zutreffen. Bis zur Erledigung der Anmeldung legitimiert allerdings dieser Formalakt allein , und

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zwar auch die gesetzlich nicht geeignete Person zum Gewerbebetrieb, wenn nur objektiv die Tätigkeit gewerblicher Natur ist. Zeitweilig kann also auch die nicht geeignete Person vermöge der eigentümlichen Gestaltung der Gewerbeanmeldung, welche für jedermann ein Betriebsrecht begründet, einen befugten Betrieb ausüben. Ein unbefugter Gewerbebetrieb stellt sich erst - trotz der Anmeldung, durch die man wie gezeigt, ein gesetzlich unmögliches Gewerbe wenigstens zeitweilig möglich machen, sanktionieren kann, durch die Versagung des Gewerbescheins, dessen Erlangung eine Resolutivbedingung des mit der Anmeldung begründeten Betriebsrechtes bedeutet und durch die gleichzeitige Untersagung des Betriebes (§13 Gewerbeordnung) heraus. Die Strafbarkeit tritt hier aber nicht unter dem Gesichtspunkt der mangelnden Anmeldung, sondern unter dem weiteren Gesichtspunkt (§ 132 b Gewerbeordnung) des Fortbetriebes trotz Einstellung ein. Unterbleibt aber ein derartiger Einstellungsauftrag, so ist der ungesetzliche Betrieb doch kein ,,unbefugter" im betonten Sinne unseres Deliktes. - Um so weniger ist aber jener Betrieb als ,,unbefugter" zu qualifizieren, dessen Anmeldung trotz des Vorhandenseins gesetzlicher Hinderungsgründe, sei es aus Versehen oder sonstigen Ursachen, von der Gewerbebehörde mit der Ausstellung eines Gewerbescheins erwidert wurde. Am allerwenigsten kann in jenen Fällen von unserem Delikte die Rede sein, wo objektiv kein Gewerbe vorliegt, mag auch der Betrieb rechtsirrtümlich als Gewerbe behandelt worden sein V. Gewerberecht und Konsumverein Für den Konsumverein sind die Grundhandelsgeschäfte des Artikels 271 Absätze 1 und 2 des Handelsgesetzbuches typisch. Er schafft beim Großhändler oder auch Produzenten im Wege des Kaufes Waren an, um sie an den Konsumenten weiter zu veräußern; und er gibt die so angeschafften Waren an diesen ab. Als Kaufmann, wozu er gemäß Artikel 1 des Handelsgesetzbuches durch den gewerbemäßigen Abschluß von Handelsgeschäften qualifiziert wurde, möchten wir ihn jedoch trotzdem nicht so rundweg erklären. Dieses Bedenken beruht auf Gründen, welche später deutlich werden sollen. Der Warenabsatz wird bei einem Konsumverein in den Statuten selbstverständlich als sein Zweck festgestellt sein. Dadurch würde, wofern man Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften unter den Vereinsbegriff des § 3

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Abs. 2 der Gewerbeordnung subsumiert, auch diese Voraussetzung zum Gewerbebetriebe erfüllt sein. Da endlich diese Tätigkeit,,gewerbemäßig" vor sich zu gehen scheint, kann, sollte man meinen, kein Zweifel mehr daran bestehen, daß die juristisch in dem regelmäßigen Abschluß von Handelsgeschäften bestehende Beschäftigung eines Konsumvereines sich im Sinne des Punktes IV des Einführungsgesetzes zur Gewerbeordnung als Gewerbe darstellt; und doch ist es umgekehrt, nämlich so, daß im besonderen auf Seite der Genossenschaft in der Regel keine Pflicht zur Anmeldung ihres Betriebes bei der Gewerbebehörde gemäß § 11 Gewerbeordnung, auf Seite der Gewerbebehörde in der Regel - die Ausnahme soll noch ins Auge gefaßt werden - kein Anlaß, ja nicht einmal die rechtliche Möglichkeit besteht, die Gewerbeanmeldung zur Kenntnis zu nehmen und einen Gewerbeschein auszustellen. Denn selbstverständlich gelten die Schranken des Legalbegriffes des Gewerbes nicht bloß für die Partei, sondern auch für die Behörde, und es liegt nicht in deren Belieben, falls sich eine zur Anmeldung gebrachte Beschäftigung nicht als Gewerbe darstellt, trotzdem für diese Beschäftigung (mit demselben guten Rechte als die Gewerbeanmeldung abgewiesen werden könnte) auch einen Gewerbeschein auszufolgen. Vielmehr ist nur eine negative Erledigung der Parteieingabe am Platze, welche sich aber doch wieder von jener Abweisung der Gewerbeanmeldung unterscheidet, welche in einem ,,gegen die Person, die Beschäftigung oder den Standort obwaltenden Hindernisse" (§13 Gewerbeordnung) ihren Grund hat. Hat in diesen letzteren Fällen die Behörde ,,die Partei zur Behebung des Anstandes den Beginn oder die Fortsetzung des Betriebes zu untersagen" (§13 Abs. 2 Gewerbeordnung), so wäre eine derartige Erledigung in unserem Falle um so weniger angängig, als die in Frage stehende Beschäftigung in gewerberechtlicher Hinsicht überhaupt an keine persönlichen, sachlichen oder örtlichen Voraussetzungen geknüpft ist, da sie der Gewerbeordnung gar nicht unterliegt. Der wahre Abweisungsgrund ist vielmehr der, daß der beabsichtigte Betrieb vom gewerberechtlichen Standpunkte aus ohnexveiters zulässig ist, daß er unter den Punkt IV des Einführungspatents zur Gewerbeordnung nicht zu subsumieren und daher die Ausstellung eines Gewerbescheines nicht nur nicht erforderlich, sondern nicht einmal zulässig ist. Der Grund, aus dem wir für die Regel der Fälle den Konsumverein von der Gewerbeordnung für eximiert erachten, ist der des Mangels des Kriteriums der Gewerbemäßigkeit. Dies allerdings, wie unter einem sofort be-

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merkt werden soll, nur unter der hiemit von uns zugleich gemachten Voraussetzung, daß die Gewerbemäßigkeit eine Gewinnabsicht des Unternehmers in sich schließt. Gewerbemäßig im Sinne des Gewohnheitsmäßigen, des Berufsmäßigen ist ja nämlich, soweit man bei einer juristischen Person überhaupt von einem Berufe sprechen kann, auch der Betrieb eines Konsumvereines. Der Beruf eines solchen kommt eben in seinem statutenmäßigen Zweck zum Ausdruck, der, wie schon der Name sagt, darin besteht, dem Konsum seiner Mitglieder zu dienen. Die Exemption des Konsumvereines von der Gewerbeordnung hat also im Mangel der Gewinnabsicht, die wir für die Gewerbemäßigkeit als begriffswesentlich erachten, ihren Grund. Ob nun eine Gewinnabsicht besteht, dafür könnte man das Statut für das sprechende Indiz halten. Aber doch kann eine solche statutenmäßige Festlegung der Gewinnabsicht nicht genügen, um den Konsumverein für alle diese Fälle zum Gewerbetreibenden zu stempeln. Vielmehr wird sich zufolge des eigentümlichen wirtschaftlichen Charakters des Konsumvereines der sogenannte Gewinn nur im uneigentlichen Sinne als solcher darstellen, wird nicht die Merkmale eines Gewinnes im volkswirtschaftlichen Sinne aufweisen, welch letzteren man, da das Gesetz eine Legaldefinition der Gewerbemäßigkeit, wie damit selbstverständlich auch des Gewinnes unterläßt, als maßgebend erachten wird. Wenn wir also die Aufstellung Hellers 38: ,,Die Gewerbemäßigkeit setzt die Absicht voraus, einen Gewinn zu erzielen", uns zu eigen gemacht haben, so können wir der Folgerung daraus, welche allerdings (und zwar in einer Formulierung des Protokolls der Handels- und Gewerbekammer Prag 1907, S. 48) die herrschende Lehre verdolmetscht, nicht so bedingungslos zustimmen. ,,Die Verwendung des Gewinnes zu einem nicht egoistischen Zwecke schließt die gewerbliche Tätigkeit keineswegs aus; deshalb hört eine Tätigkeit nicht auf, gewerbsmäßig zu sein, wenn der beabsichtigte Gewinn nicht dem Unternehmen selbst, sondern dritten Personen zufallen soll, wie dies bei den Konsumgenossenschaften geschieht." Auch noch dem ersten Satze dieses Zitates wollen wir Gültigkeit zusprechen und bloß gegen die im zweiten Satze daraus gezogene Folgerung Stellung nehmen.

38

Kommentar zur Gewerbeordnung, II. Bd., S. 1660.

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Die Verwendung des Gewinnes möchten wir sogar für gänzlich unwesentlich halten und können daher keinen Anstand nehmen (woran ja die Praxis tatsächlich auch niemals Anstand genommen hat), den Unternehmer, der den Gesamtertrag seiner Unternehmung wohltätigen Zwecken zuwendet, für einen Gewerbetreibenden zu erklären. Für die Beurteilung der Frage, ob und wie viel Gewinn gezogen wurde, kommt es nicht so sehr auf das rechnungsmäßige Gebarungsergebnis an. Nicht jeder buchmäßige Reinertrag ist als Gewinn zu werten. Man stelle sich einen Einzelunternehmer vor, der seinen eigenen Bedarf an den von ihm erzeugten oder gehandelten Artikeln aus seinem Betriebe deckt und diesen Eigenbedarf zu seinen normalen Preisen in Rechnung stellt. Wird man die Differenz zwischen diesem rechnungsmäßigen und dem Selbstkostenpreise auch als Gewinn ansehen? Dieser Unternehmer hat den Gewinn sozusagen in sich gemacht, in Wirklichkeit kann aber bei dieser Sachlage von einem Gewinne überhaupt nicht die Rede sein. Es handelt sich um die Ersparung von Mehrausgaben. Nicht anders ist aber der sogenannte Gewinn einer Konsumgenossenschaft, die zwar nichtjuristisch, wohl aber wirtschaftlich in gewisser Beziehung mit ihren Genossenschaftern eins zu setzen ist. Ein Gewinn der Genossenschaft ist in der Regel ein Gewinn der Genossenschafter, indem er, der aus den Taschen der Genossenschafter geflossen ist, wieder in deren Taschen zurückfließt. Der Konsumverein stellt einen Umweg, zugleich aber doch einen erleichterten Weg der Bedarfsdeckung dar. Wenn das Mitglied juristisch ein Kaufgeschäft mit der von ihm verschiedenen Person der Genossenschaft abschließt, so macht es doch wirtschaftlich ein Geschäft in sich. Was es für die Ware mehr, als die Gestehungskosten und der entsprechende Regiezuschlag betragen, bezahlt, erhält es in Form des Gewinnanteils zurück. Den Gewinn macht letzten Endes nicht die Genossenschaft - wie überhaupt nie eine juristische Person - sondern der Genossenschaften der aber - im Gegensatz zu dem Geschäftsbetriebe einer Handelsgesellschaft - mit dem geschäftlichen Kontrahenten der Genossenschaft identisch ist. Wenn man schon von einem Gewinn sprechen will, so ist es jene Ersparnis des Unternehmergewinnes, welchen an der Person des Genossenschafters ein unternehmungsweiser Lieferant gemacht haben würde. Das lucrum cessans des ausgeschalteten Unternehmers ist der Vorteil des Genossenschafters, welcher sich statt an den Unternehmer an die Konsumgenossenschaft hält.

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Diese Identität von Produzent und Konsument, welche auf dem Umwege der die Zahlungen der Genossenschafter in Form des Kaufpreises entgegennehmenden und Überzahlungen des Selbstkostenpreises in Form der Gewinnanteile refundierenden Genossenschaft hergestellt wird, diese in wirtschaftlichem Sinne gegebene Identität ist es also, die, wie beim Produzenten-Konsumenten, welcher seine eigenen Erzeugnisse verwendet, auch beim Konsumverein das Kriterium der Gewerbemäßigkeit ausschließt. Man kann nach dem Gesagten gar nicht einmal behaupten, daß es sich bei diesem Verfahren um ,,nicht egoistische Zwecke" der Genossenschaft oder Genossenschafter handle. Der egoistische Zweck, fremden Gewinn, Unternehmergewinn auszuschließen, liegt offen zutage. Nur der Zweck, durch die Güterbeschaffung und Versorgung zu verdienen - ein Zweck, der zum Wesen der unternehmungsweisen Wirtschaft gehört - liegt der Idee des Konsumvereines fern. Wo dieser Zweck ausnahmsweise zutage tritt, ist daher auch bereits, wie sofort zu zeigen sein wird, das Kriterium der Gewerbemäßigkeit mit der ihr zugrunde liegenden Gewinnabsicht gegeben. Es sei nochmals festgestellt, daß der egoistische Zweck der Ersparung fremden Unternehmergewinnes die gewerbliche Qualität des Konsumvereines nicht zu begründen in der Lage ist. Denn insoferne sind er und seine Mitglieder nicht Unternehmer. Dies gilt jedoch nur vom Konsumvereine, der auf seine Mitglieder beschränkt ist. Diesen, aber auch nur diesen, möchten wir von der Gewerbeordnung eximiert erklären - im Widerspruch zu dem Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 19. Dezember 1900, Z. 8961, Budw. Nr. 14.979, wonach „der gewerbemäßige Charakter eines Unternehmens deshalb nicht ausgeschlossen ist, weil das Unternehmen des Konsumvereines auf seine eigenen Mitglieder beschränkt ist, wenn nur der Verein im Sinne seiner Statuten die Erzielung eines Reingewinnes beabsichtigt". Diese Absicht, auch wo sie expressis verbis ausgesprochen wäre, liegt nämlich gar nicht im Bereiche der Möglichkeit eines Konsumvereines, wofern er sich auf die Bedarfsbefriedigung seiner Mitglieder beschränkt, und wofern er - kann man allenfalls noch als weitere Vorausetzung hinzufügen - den sogenannten Reingewinn periodisch an seine Mitglieder zur Verteilung bringt. Denn unter dieser Voraussetzung bedeutet der Reingewinn nur eine rückzuersetzende Summe von Überzahlungen oder wie man ihn sonst auffassen mag. Anders, wenn der Absatz der Artikel insofern ein echter Handel auch im volkswirtschaftlichen Sinne - an einen

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Kreis von Extranei erfolgt, an Personen, die an den Vorteilen, vornehmlich an der Überschußquote nicht partizipieren. Insoweit erfolgt nämlich der Betrieb unternehmungsweise. Hier ist die Annahme einer wirtschaftlichen Identität von Käufer und Verkäufer nicht mehr erlaubt. Der Warenabsatz erfolgt hier an Nichtmitglieder mit einem Gewinnzuschlag in der Absicht, Waren um so billiger an die eigenen Mitglieder abgeben zu können. Im Verhältnis zu diesen stellt sich auch bei diesem Genossenschaftstyp die Genossenschaft nicht als Unternehmer dar. Im Verhältnis zu den Nichtmitgliedern ist sie es aber und sind es im wirtschaftlichen Sinne alle ihre Mitglieder. Und insoferne unterliegt also ein solcher Konsumverein (der insoweit im Grunde bereits das genossenschaftliche Prinzip durchbrochen hat) der Gewerbeordnung. Es ist das Verhältnis dieses Konsumvereines zu seinen Nichtmitgliedern kein anderes als das einer Handel treibenden Handelsgesellschaft zu ihren Kunden, einer Handelsgesellschaft, die ja auch - insoweit nicht Unternehmerin - ihre eigenen Mitglieder zum Selbstkostenpreise bedienen kann. Wir verkennen nicht, daß dieses theoretisch aus dem Begriff des Gewerbes für die gewerberechtliche Relevanz, d.h. eigentlich Irrelevanz der Konsumgenossenschaft geholte Argument praktisch außerordentlich einschneidend sein muß. Manchem wird diese Stellung des Konsumvereines gegenüber der Gewerbeordnung - welche ihm im Deutschen Reiche übrigens unbestritten zukommt - geradezu als Durchbrechung des Gewerberechtes erscheinen, wogegen nur das eine Argument anzuführen ist, daß eben der Kreis der Gewerbeinhaber nach österreichischem Recht tatsächlich unter anderen mit Ausschluß der Konsumgenossenschaften (wie übrigens gleicherweise der öffentlichen Körperschaften 39) gezogen ist, und daß daher, falls der einer genauen Prüfung des Gesetzes nicht standhaltenden Praxis, welche Konsumvereine als Gewerbetreibende behandelt, ein Ende gemacht werden sollte, von einer Durchbrechung der Gewerbeordnung am allerwenigsten die Rede sein könnte. Ob diese Wendung der Praxis, wie überhaupt die nach österreichischem wie nach deutschem Recht den Konsumgenossenschaften wie jeglicher Eigenbedarfsdeckung eingeräumte Ausnahms-

39

Vgl. Artikel 2 dieser Serie.

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Stellung politisch erwünscht oder unerwünscht sei, soll und muß innerhalb dieser juristischen Untersuchung völlig außer Betracht bleiben. Es kann und darf sich im Rahmen dieser rein juristisch sein sollenden Auseinandersetzung lediglich darum handeln, ob etwas de iure gegeben oder geboten ist. Und da kann das Urteil eben kein anderes sein als: es ist so, wie im vorstehenden ausgeführt und begründet wurde. Nun sei von dem soeben gewonnenen Standpunkt aus ein kurzer Ausblick auf die Praxis gemacht! Am wenigsten würde sich begreiflicherweise bei jenen Konsumgenossenschaften ändern, deren wirtschaftliche Funktion eine solche ist, daß im Falle unternehmungsweisen Betriebes ein freies, nicht an den Befähigungsnachweis gebundenes Gewerbe vorläge. Die wenigen und überdies nicht kostspieligen Schritte, welche in diesem Falle die Einbeziehung in den Anwendungsbereich der Gewerbeordnung erfordert, werden selten als hemmend empfunden werden; es handelt sich in der Regel um vielleicht nicht sehr erquickliche, aber auch nicht beschwerlich abzutuende Formsachen. Anders ist es schon bei handwerksmäßigen und an den Befähigungsnachweis gebundenen freien Gewerben. Da bedeutet es schon einen großen Vorteil der Konsumgenossenschaft vornehmlich vor der Handelsgesellschaft, daß sich jene den für diese unentbehrlichen befähigten Geschäftsführer ersparen kann. Bevor man etwa diese unterschiedliche Behandlung für undenkbar erachten sollte, wolle man nur das eine Bedenken, daß es doch niemandem verwehrt ist, den Bedarf an einschlägigen Artikeln aus Eigenem, insbesonderes durch eigene Arbeit zu decken, ohne daß er etwa selbst eines Befähigungsnachweises bedürfte oder sich einer befähigten Person bedienen müßte. Banal ausgedrückt heißt das, daß jedermann für sich oder auch für andere - nur nicht zum Erwerbszweck - Kleider, Hüte, Schuhe usw. machen darf so viel und so gut er kann. Dasselbe gilt, wenn sich mehrere Personen zu dem Zwecke ähnlicher gemeinschaftlicher Bedarfsdeckung (durch sich selbst) zusammentun. Sozialwirtschaftlich ist aber mit dieser Assoziation die Genossenschaftsidee bereits realisiert. Es kann nun keinen Unterschied machen, wenn diese Genossenschafter auch von der Rechtsordnung zu einer Einheit verknüpft, in ihrer Gesamtheit zu einer juristischen Person erhoben werden, die als solche geeignete - d.h. ihr geeignet erscheinende - Arbeitskräfte zur Erfüllung des Genossenschaftszweckes anstellt; diese juristische Wandlung, diese Personifikation durch die Rechtsordnung kann, sage ich, für die Beantwortung der Frage, ob man es mit einem gewerblichen Betriebe zu tun habe oder nicht, von der rein

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sozialwirtschaftlichen Erscheinung freier Vereinigung zu gemeinsamer Bedarfsdeckung, im Verhältnis zu der sie sich nur als eine besondere Form darstellt, unter der Voraussetzung keinen Unterschied machen, daß durch die Rechtsordnung auf den sozialwirtschaftlichen Begriff des Gewerbes verwiesen ist. Eine solche - stillschweigende - Verweisung glauben wir eben dem Punkt IV des Einführungspatentes zur Gewerbeordnung entnehmen zu können. Kraft dieser Verweisung ist aber die besondere Rechtsform jener sozialwirtschaftlichen Erscheinung für die Beurteilung der gewerberechtlichen Relevanz bedeutungslos, vielmehr ist der sozialwirtschaftlichen Struktur der Erscheinung immer auf den Grund zu gehen. Unter welcher rechtlichen Hülle immer, bleibt aber diese stets dieselbe: es handelt sich, ob mit oder ohne Personifikation, um eine Verbindung zur Deckung des eigenen Bedarfes im Gegensatz zu den verkehrswirtschaftlichen Organisationstypen, die auf Deckxmgfremden Bedarfes an der erzeugten oder vertriebenen Güterart ausgehen. Eine Konsumgenossenschaft, die - im Gegensatz zur Produktivgenossenschaft derselben Branche - auf die Deckung des Bedarfes ihrer Mitglieder etwa an Uniformen oder an Kleidern und Schuhen ausgeht, kommt im Prinzipe dem Schneider oder Schuhmacher gleich, der sich die für seinen Bedarf nötigen Kleider oder Schuhe selbst macht. Am weitesten gehen natürlich die Konsequenzen aus unserer Auffassung bei konzessionierten Gewerben. Es bedeutet jedenfalls viel, wenn Konsumgenossenschaften Funktionen, die bei unternehmungsweisem Betriebe in die Kategorie der konzessionierten Gewerbe fallen würden, durch gewerberechtliche Schranken unbehindert, lediglich an etwa sonst bestehende Beschränkungen gebunden, ausüben können. Und doch reduziert sich dieses im Auge so manchen Betrachters vielleicht geradezu abenteuerlich erscheinende Vermögen einer Konsumgenossenschaft ganz bedeutend, wenn wir uns wieder auf den schon bei Gelegenheit der Betrachtung der handwerksmäßigen Gewerbe eingenommenen Standpunkt des einzelnen Verbrauchers begeben. Es ist im Grunde sozialwirtschaftlich dasselbe, ob man sich selbst allein oder im Familienkreise die Existenzgüter von Nahrung und Wohnung verschafft oder ob sich mehrere Leute mit gleich gerichtetem Bedürfnisse zu dessen gemeinsamer Befriedigung zusammentun; und dasselbe, ob sich diese Vereinigung in der Form der Sozietät oder der Wirtschaftsgenossenschaft abspielt; hingegen ein großer Unterschied, ob eine solche Funktion

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durch einen Einzelnen oder eine Korporation zu dem Zwecke geschieht, um den Bedarf anderer an diesen Existenzgütern zu decken; und so kann uns eine diesem augenfälligen Unterschied angepaßte Verschiedenartigkeit der rechtlichen Behandlung dieser Erscheinungen vielleicht nicht mehr in so hohem Maße wundernehmen; so ergibt sich zwanglos, daß zum Beispiel eine gemeinschaftliche Küche auf genossenschaftlicher Basis, das heißt mit dem gewerberechtlichen Terminus, die „Verabreichung von Speisen" (durch eine gemäß ihrem Statut diesem Zwecke dienende Wirtschaftsgenossenschaft an die Genossenschafter) oder eine gemeinsame Wohnung (Pension), - mit dem gewerberechtlichen, hier schon gar nicht passenden Terminus der „Beherbergung von Fremden", welche aber eigentlich nicht Fremde, sondern eigene Genossenschafter sind - , frei von Konzessionszwang sind. Eine Speisehaus- oder Wohnungsgenossenschaft übt ebensowenig verwandte konzessionspflichtige Gewerbe des § 16 Gewerbeordnung aus, wie wenn der Einzelne oder die einzelne Familie im eigenen Hause oder in der für sich selbst gemieteten Wohnung wohnt und Haushalt führt: dasselbe gilt von der genossenschaftlichen Organisation anderer Zwecke, deren Erfüllung durch einen Unternehmungstyp die Konzessionierung voraussetzt; handelt es sich doch um die Befriedigung eigenen und nicht fremden Bedarfes; um Konsum und nicht um Produktion!

Das Recht der Kriegstrauungen Billigerweise bietet im Ausnahmsfalle eines Krieges, der mit seiner Blutund Gutsteuer ins Volksleben aufs tiefste eingreift, die Rechtsordnung für schutzwürdige private Interessen mehr oder minder weite Erleichterungen. So besteht für den Kriegsfall ein eigentümliches Sonderrecht im formalen Eherechte; eine Statistik wird nachweisen, daß die Mehrzahl der in den Kriegsjahren abgeschlossenen Ehen von dem Normalfalle einer Eheschließung nach dem bürgerlichen Gesetzbuche abweicht. Die Dispens mannigfachster Art, die ihrer Natur nach und im Sinne des Gesetzes die Ausnahme zu bilden bestimmt ist, wird auf eine Weise zur Regel, wie wir es auf dem Gebiete des Strafrechtes etwa mit dem außerordentlichen Milderungsrechte erlebt haben. Doch handelt es sich nicht um einen gleichartigen Wandel in unserer Stellung zum Gesetze. Bekanntlich ist ein eigenes Kriegseherecht unserem bürgerlichen Rechte fremd. Wir sind auf die erleichternden Bestimmungen, welche bereits für die Friedenszeit gelten, angewiesen. Aber wenn auch, was im Frieden Ausnahme war und sein soll, im Kriege zur Regel wird, so bleibt doch der zum Normalfalle erhobenen Ehedispens durch die Begrenzung auf die Kriegszeit der Ausnahmecharakter gewahrt. Unter dem Gesichtspunkte eines Rechtes der Kriegstrauungen kommen selbstverständlich bei weitem nicht alle Dispensen in Betracht, sondern begreiflicherweise nur jene, die mit dem Trauungsakte zu tun haben, indem sie seine Formen vereinfachen und vor allem kürzen; also nicht die Dispensen von eigentlichen Ehehindernissen, sondern die von Form Vorschriften 1 des - wenn man so sagen will - formellen Eherechtes; ferner die Ehebewil-

Allgemeine österreichische Gerichtszeitung, 68. Jg. (1917), S. 49-51, 74-80. 1 Den Ausdruck des Ehehindernisses wird man sinngemäß auf gewissermaßen negative Voraussetzungen beschränken, während es sich im zweiten Falle um positive Handlungen handelt, von deren Vornahme dispensiert wird.

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ligung des Gerichtes und die gemäß § 54 ABGB, das heißt die im Sinne des Wehrgesetzes, und als letztes - nicht zuletzt - das Sonderrecht über die Ehen der Militärpersonen. Weitaus am häufigsten kommt die Dispens vom Aufgebote vor. Zunächst unter die allgemeine Dispensbefugnis des § 83 ABGB und damit in die Kompetenz der Landesstellen als der politischen Behörden zweiter Instanz fallend, wurde durch das Gesetz vom 4. Juli 1872, RGBl. Nr. 111, die Erteilung der Aufgebotsdispens für die meisten Fälle ,,den k.k. politischen Bezirksbehörden, beziehungsweise in denjenigen Städten, welche eigene Gemeindestatute besitzen, den mit der politischen Amtsführung betrauten Gemeindebehörden zur Entscheidung in erster Instanz" zugewiesen. Es sind hauptsächlich zwei Dispensfälle zu unterscheiden: ,,1. Die Erteilung der Nachsicht von der Vornahme einer zweiten und dritten Verkündigung, beziehungsweise die Bewilligung zur Abkürzung der Zeit, innerhalb welcher der Anschlag eines durch eine weltliche Behörde vorgenommenen Aufgebotes affigiert bleiben soll. 2 2. Die Erteilung der unter dringenden Umständen erbetenen gänzlichen Nachsicht des Aufgebotes." Diese im Gesetzeswege generell erteilte Delegation kann nicht im speziellen Falle auf administrativem Wege rückgängig gemacht werden, und so wäre die Dispens vom zweiten und dritten Aufgebote 3 durch die Landesstelle unstatthaft, während die aus Praktikabilitätsgründen gepflogene Übung der Statthaltereien, in Fällen, wo die hier nicht dringliche Aufgebotsdispens zusammen mit irgend einer anderen, zur Gänze in die Kompetenz der Statthalterei fallenden Dispens angesprochen wird, beide Dispensen, und zwar die Aufgebotsdispens sogleich sämtliche Aufgebote umfassend, unter einem zu erteilen, vom juristischen Standpunkte aus jedenfalls unbedenklich ist. Bezüglich der örtlichen Kompetenz gilt die Besonderheit, daß nicht notwendig die Wohnsitz-, sondern prinzipiell eine Aufenthaltsbehörde zur

2 Dieses sogenannte politische Eheaufgebot ist bekanntlich der Vorgang beim Aufgebote von Zivilehen und in den Fällen bloßer Aufgebotsverweigerung von Seite des Seelsorgers. 3 Dies um so mehr, als das Gesetz selbst jeden Schein einer etwa nur gewissermaßen prekaristischen Delegation oder einer konkurrierenden Kompetenz dadurch ausschließt, daß es nicht nur die zitierten Angelegenheiten den Bezirksbehörden zuweist, sondern gleichzeitig auch von ihnen sagt, daß sie ,,aus dem Wirkungskreise der politischen Landesbehörden ausgeschieden werden".

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Erteilung der Dispens berufen ist. Das Gesetz selbst spricht allerdings nur von den ,,k.k. politischen Bezirksbehörden" und von den,,Gemeindebehörden", so daß sich nach dem bloßen Gesetzes wortlaute eine Kompetenz aller im ganzen Staatsgebiete verteilten derartigen Behörden ergäbe, unter denen der Gesuchsteller nach Belieben zu wählen hätte, doch ergibt sich aus dem § 72 ABGB der Weg zu einer vernünftigen Einschränkung dieser allzu umfassenden Zuständigkeit in der Richtung, daß die politischen Behörden, in deren Sprengel sich die beiden Brautleute in den letzten sechs Wochen, vom Tage der Gesucheinbringung zurückgerechnet, aufgehalten haben, zur Dispenserteilung kompetent sind. Eigentlich spricht der § 72 ABGB nur von der Kompetenz zum Aufgebote, spricht sie (im Zusammenhalte mit § 71) dem Seelsorger zu, in dessen Sprengel ,,die Verlobten" ,,durch sechs Wochen wohnhaft sind" und ordnet für den Fall, daß die Aufenthaltszeit im letzten (gegenwärtigen) Aufenthaltsorte noch nicht sechs Wochen beträgt, an: ,,so ist das Aufgebot auch an ihrem letzten Aufenthaltsorte, wo sie länger als die eben bestimmte Zeit gewohnt haben, vorzunehmen, oder die Verlobten müssen ihren Wohnsitz an dem Orte, wo sie sich befinden, durch sechs Wochen fortsetzen". Da aber die Aufgebotsdispens nur als Surrogat des Aufgebotes zu betrachten ist, kann wohl die Gleichbehandlung bei der Kompetenzfrage als im Sinne des Gesetzes liegend angesehen, beziehungsweise dem Gesetze subintelligiert werden, daß, wenn es zur Nachsicht des Aufgebotes ein anderes Organ als zur Vornahme berief, im übrigen die Kompetenzvorschriften des § 72 angewendet wissen wollte. Wenn sich somit die örtliche Kompetenz zur Aufgebotsdispens nach dem Amtssitze des zum Aufgebote zuständigen Seelsorgers und erst auf diesem Umwege nach einer die Nupturienten berührenden Örtlichkeit richtet, so ist dies in unserem formellen Eherechte nicht der einzige derartige Fall. Vielmehr hat unser Fall ein Seitenstück in der Kompetenzanordnung bezüglich des politischen Aufgebotes bei einer nach staatlichem Gesetze unbegründeten Aufgebots Verweigerung des konfessionellen Trauungsorganes. Der Art. I I des Gesetzes vom 25. Mai 1868, RGBl. Nr. 47, bestimmt nämlich in seinem § 1: „Als die zur Vornahme des Aufgebotes und zur Entgegennahme der feierlichen Erklärung der Einwilligung berufene weltliche Behörde hat die k.k. politische Bezirksbehörde, in jenen Städten aber, welche eigene Gemeindestatute besitzen, die mit der politischen Amtsführung betraute Gemeindebehörde einzutreten, und es wird diejenige politische Bezirks-(Gemeinde-)ߣ/z6?rd£ hiezu als kompetent anzusehen

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sein, in deren Amtsbezirk der die Eheschließung verweigernde seinen Amtssitz hat."

Seelsorger

Wenn wir nunmehr nach den Voraussetzungen der Dispenserteilung fragen, so sind diese verschieden, je nachdem es sich bloß um die Nachsicht von einem Eheverbote, also vom zweiten und dritten oder nur vom dritten Eheaufgebote handelt - dem steht die Verkürzung der Affigierungszeit des politischen Eheaufgebotes gleich - oder ob auch von dem einzigen Aufgebote dispensiert werden soll, dessen Unterbleiben bekanntlich ein Ehehindernis begründet, beziehungsweise ob von jeder, auch der kürzesten Affigierung des Aufgebotsscheines bei der politischen Behörde abgesehen werden soll. Gemeinsam ist diesen Voraussetzungen, daß ihre Beurteilung dem Ermessen der Dispensstelle den denkbar weitesten Raum gibt. Ja, ob etwas zur Voraussetzung gemacht wird, liegt meist im Belieben der Behörde. Durch die Verweigerung der Dispens kann die Behörde niemals eine Gesetzesverletzung begehen, wohl aber durch deren Erteilung - daher auch keine Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, ein Rechtsmittel, das ja praktisch schon wegen der außer jedem Verhältnisse zum angestrebten Ziele - Verkürzung der Aufgebotsfrist! - stehenden Zeitdauer des Verfahrens außer jeder Erwägung stehen muß; selbstverständlich stehen aber die ordentlichen Rechtsmittel, also Statthalterei- und Ministerialrekurs, offen, die allerdings zu keiner Rechts-, sondern nur zu einer Ermessensüberprüfung führen können.4 Der § 83 ABGB sagt ausdrücklich, daß die Landesstelle Dispens erteilen kann - von einem „muß" ist nicht die Rede; und insoweit kommt dem zitierten Gesetze vom 4. Juli 1872, das nur die Kompetenz zu den Dispensen gemäß § 83 ABGB bezüglich einiger Ehehindernisse verschiebt, ohne grundsätzlich die Voraussetzungen zu ändern, keine derogierende Bedeutung zu; also handelt es sich bei der Dispenskompetenz der Bezirksbehörde auch nur um ein Können, nicht um ein Müssen.

4 Nebenbei sei bemerkt, daß sich diese Rechtsmittel - zum mindesten der Statthaltereirekurs - aus praktischen Gründen keineswegs bedingungslos verbieten. Dem Schreiber dieses Aufsatzes begegnete der Fall, daß von der Einbringung eines Dispensgesuches gemäß §120 ABGB bei der ersten Instanz bis zur Zustellung der Rekurserledigung der zweiten Instanz nur zwölf Tage verstrichen - bei einer zwei- oder gar dreiwöchigen Aufgebotsfrist immerhin eine Zeitersparnis.

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„Aus wichtigen Gründen" kann demnach vom zweiten und dritten Aufgebote nachgesehen und die Affigierungsdauer des Aufgebotsscheines beliebig gekürzt werden, wobei als „wichtig" alles das angesehen werden kann, was der Behörde - oder auch der Partei - als wichtig erscheint. Es gibt keine absolute, sondern nur eine relative Wichtigkeit; wichtig ist ein subjektiver Begriff. Kund tut sich die Wichtigkeit auf Seite der Partei schon dadurch, daß ihr die Sache „wichtig" genug ist, eigens um eine Dispens einzukommen, auf Seite der Behörde dadurch, daß sie diese Gründe würdigt und sich bestimmt findet, die Dispens zu erteilen. Es überschreitet daher die Grenzen des gesetzlich Vorgeschriebenen, wenn, WizMayrhofer 5 zustimmend zitiert, ein Statthaltereierlaß 6 besagt, daß „die Gesuche um Nachsicht von zwei Aufgeboten auf eine wichtige Ursache, das heißt eine solche, welche die Möglichkeit oder Unschädlichkeit eines auch bloß zweiwöchigen Aufschubes ausschließt, gestützt sein müssen", sowie daß „diese Ursache glaubwürdig nachzuweisen ist", und wenn ein anderer Statthaltereierlaß 7 des näheren ausführt, daß diese „wichtigen Ursachen" „nicht nur von den Gesuchstellern in ihren Gesuchen umständlich anzuführen" seien, „sondern ihr Vorhandensein entweder auf völlig glaubwürdige Art zu dokumentieren oder eine amtliche Bestätigung der Wichtigkeit der angeführten Tatsachen beizubringen" sei.8 Natürlich kann die Behörde ihre Bewilligung von diesen und sonstigen Bedingungen abhängig machen, wie sie sie ja auch ohne Gründe versagen kann; doch kann man, wenn man auf diesem Wege zu weit geht, leicht zu dem Sinne der Einrichtung in Gegensatz geraten.

5

Handbuch der politischen Verwaltung, Bd. 5, S. 23, Anm. 2.

6

Erlaß der böhmischen Statthalterei vom 18. April 1869, Z. 21.592.

7

Erlaß der Statthalterei für Steiermark vom 13. Oktober 1870, LGB1. Nr. 59.

8 Etwas pathetisch wird hinzugefügt: „Gesuche, welche mit diesen Erfordernissen nicht versehen sind, würden zurückgewiesen werden, und es hätten sich die Parteien die daraus entspringenden Nachteile selbst zuzuschreiben." Man darf wohl annehmen, daß während des Krieges auch in Steiermark und in Böhmen die Dispensvorschriften nicht so rigoros ausgelegt werden. Wie modern, das heißt den Ehewerbern entgegenkommend, die niederösterreichische Statthalterei das ganze administrative Eherecht handhabt, ist ja bekannt.

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Die Dispens vom Aufgebote ist berufen, bei Kriegstrauungen eine solche Rolle zu spielen, daß sie geradezu typisch wird. Gewissermaßen ins Juristische übersetzt, ist die Kriegstrauung schlechthin die mit Aufgebotsdispens. Dokumentarische Nachweise9 und dergleichen mehr hätten die notwendige Folge, unser Rechtsinstitut um jede praktische Bedeutung zu bringen. Entweder ohne viele Umstände oder gar nicht, sind hier die beiden alleinigen Möglichkeiten. Irgend welche längere Erhebungen oder die Forderung von halbwegs schwer zu beschaffenden Nachweisen verbieten sich schon im allgemeinen durch den Zeitaufwand und wären im besonderen für Personen, die vor der Einrückung stehen und tausend andere Sorgen haben als die Bedenken überängstlicher Behörden zu beschwichtigen eine unbillige Zumutung.10

9 Man wird an der häufig geübten Praxis nichts auszusetzen haben, daß der Umstand, daß der Bräutigam in Uniform erscheint, allein schon als Nachweis der „Wichtigkeit" (welche Voraussetzung die Dispens vom zweiten und dritten Aufgebote ist), aber auch der „Dringlichkeit", welche überdies bei der Dispens von allen drei Aufgeboten erforderlich ist, gewertet wird. 10 Man wird sich insbesondere auch gegenwärtig zu halten haben, daß eine rigorose Praxis mehr Schaden anrichten kann als eine liberale. Man frage sich, ob überhaupt durch wahllose Aufgebotsnachsicht ein öffentliches Interesse berührt werden könne. Fast ist das Bewußtsein dafür verloren gegangen, daß das Aufgebot die Aufdeckung von Ehehindernissen bezweckt - so wenig wird es unter den heutigen großstädtischen Verhältnissen einem solchen Zwecke gerecht. Schon beim kirchlichen Aufgebote gehört es zu den unwahrscheinlichsten Dingen, daß es gerade einer solchen Person zu Ohren kommt, welche ein etwa bestehendes Ehehindernis anzuzeigen in der Lage und bereit ist, und gar beim politischen Eheaufgebote wird es wohl kaum eine zu kühne Behauptung sein, es sei ein amtlich affigierter Aufgebotsschein noch nie einer Person zu Gesicht gekommen, welche um ein Ehehindernis gewußt und eine ungültige Ehe verhindert hätte. Man muß nur bedenken, daß Brautleute, welche sich trotz eines Ehehindernisses ehelichen wollen, es in der Hand haben, durch Verreisung oder auch bloße Geheimhaltung der beabsichtigten Eheschließung das Aufgebot für sich ganz ungefährlich zu machen. Wäre es unter diesen Umständen aber nicht angebracht gewesen - zumal da die kirchlichen Stellen sich durchaus entgegenkommend verhalten - an die Stelle der speziellen, tausendfältig wiederholten Dispens gewissermaßen eine generelle zu setzen und wenigstens für größere Städte und auf Kriegsdauer die Dispensvorschriften im Wege einer kaiserlichen Verordnung zu suspendieren? Viele Unbequemlichkeiten und unnötige Arbeiten wären dadurch Parteien und Behörden erspart geblieben. Kann man doch erzählen hören, daß in den ersten Tagen des Krieges sich die Parteien, welche um Aufgebotsdispense bittlich wurden, in den Bezirksämtern volkreicher Wiener Gemeindebezirke auf ähnliche Weise vor den Referentenzimmern in Reihen anstellten und stauten wie in späteren Kriegstagen etwa vor Lebensmittelhandlungen! Man wird zugeben, daß es damals eine unbillige Zumutung gewesen wäre, „umständliche Nachweise" zu verlangen - etwa eine beim besten Willen nicht zu erlangende Bestätigung über den Tag des Abganges an die

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Um einen Grad weiter gehen die Voraussetzungen für eine Dispens von allen drei Aufgeboten. Das Ansuchen um „gänzliche Nachsicht des Aufgebotes" muß sich nicht bloß auf „wichtige Gründe" stützen, die Dispens muß auch „unter dringenden Umständen" erbeten sein (Punkt 2 des Gesetzes vom 4. Juli 1872, RGBl. Nr. 111). Dringend sind die Umstände, welche die Behörde für dringend findet. Es steht auch hier der Behörde frei, den Maßstab der Partei zu dem ihrigen zu erheben. Das weitgehend freie Ermessen gibt der Behörde wiederum die Möglichkeit, den Mobilisierungsfall oder die Einberufung an sich als genügend dringenden Umstand zu werten. Übrigens gibt es bei den Wiener Verhältnissen für den Fall, daß eine allzu gewissenhafte Bezirksbehörde genügend dringende Umstände nicht sehen sollte, eine rasche Abhilfe, da die Statthalterei, deren Kompetenz für die gänzliche Nachsicht des Aufgebotes nach dem Stande des Gesetzes vom 4. Juli 1872 mit der Kompetenz der Bezirksbehörde konkurriert - wurden doch nur die Fälle der „unter dringenden Umständen" erbetenen gänzlichen Aufgebotsdispens aus ihrem Zuständigkeitsbereiche ausgeschieden - an diese weitere Voraussetzung nicht gebunden ist: Rasche Abhilfe in dem Sinne, daß der Partei sogar der Rekursweg erspart bleiben könnte, indem die bloße Auskunft, daß mangels genügender Dringlichkeit die allenfalls erbetene Dispens verweigert werden würde, Anlaß sein kann, sich unmittelbar an die Statthalterei zu wenden. Für alle Fälle wird man festzuhalten haben, daß die Auslegung der Begriffe Wichtigkeit und Dringlichkeit durch die Verwaltungsbehörde eine endgültige ist, und daß dem Gerichte, falls eine Ehe hinterdrein aus dem Hindernisse des § 74 ABGB mit der Begründung angefochten werden sollte, daß die Dispenserteilung mangels Wichtigkeit und Dringlichkeit unwirksam geblieben sei, ausgeschlossen ist. Die Gerichte haben in dieser Hinsicht das in der tatsächlichen Dispensbewilligung zum Ausdrucke gekommene Urteil der Verwaltungsbehörde einfach hinzunehmen.

Front - sondern daß die Gefahr, daß sich die Aufgebotsbewilligung in dem einen oder anderen Falle als nicht dringlich herausgestellt hätte, riskiert wurde. Die spätere Zeit brachte die Dispensbegehren zwar selbstverständlich nicht mehr so gehäuft, wohl aber, da bekanntlich Kriegsurlaube oft genug den Zwecken einer Kriegstrauung dienen, doch so oft, daß die Eheschließungen mit Dispens über jene ohne Dispens die Majorität behalten haben dürften. Eine generelle Vorschrift auch für eine Zeit beibehalten, in der von ihr geradezu mechanisch Dispens erteilt werden muß, ist gewiß sinnwidrig.

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Noch einer Art von Voraussetzungen, welche tatsächlich in der Praxis gemacht werden, ohne daß sie im Gesetze ausdrücklich vorgezeichnet wären, ist im folgenden zu gedenken. Man verlangt - und zwar bereits zur Dispenserteilung, nicht erst zum Eheschlusse, nicht ausnahmslos, aber doch in der Regel häufig Identitätsnachweis durch Tauf- oder Geburts- und Heimatschein, aber mehr noch - was noch auffälliger ist - zum Zwecke des Nachweises der örtlichen Zuständigkeit der angegangenen politischen Behörde polizeiliche Wohnungsbestätigung, ferner im Falle, daß etwa ein Trauungsschein produziert wird, einen ergänzenden Totenschein, im Falle der Mindeijährigkeit einen Nachweis der väterlichen beziehungsweise gerichtlichen Ehebewilligung und schließlich in dem häufigen Falle, daß die Braut einer Stellungspflichtigen Person oder diese selbst um die Dispens ansucht, den Nachweis der militärbehördlichen Ehebewilligung des Bräutigams. Man verlangt diese Dokumente und von ihnen wieder mit besonderer Vorliebe merkwürdigerweise das polizeiliche Wohnungszeugnis, während man von allen anderen viel eher absieht, zwar mit gutem Rechte - denn da die Bewilligung der Nachsicht im freien Ermessen der Behörde liegt, kann sie sie auch von Rechts wegen von beliebigen Bedingungen abhängig machen - aber doch wohl nicht immer mit gutem Grunde, da die Behörde von Rechts wegen die Dispens erteilen darf, auch wenn diese Dokumente nicht alle vorliegen. Juristisch zu beanständen wäre also die Verweigerung der Dispens, welche mit der Begründung erfolgt, daß die Beibringung aller dieser Dokumente obligatorisch sei. Die einfach scheinende Erwägung, daß zur Aufgebotsnachsicht alles dies erforderlich sei, was für den Trauungsakt selbst von Rechts wegen verlangt werden kann, trifft eben nicht zu. So wie das Aufgebot selbst noch nicht vorliegen kann, weil ja gerade von ihm Nachsicht erfolgen soll, so kann zwar mangels des Nachweises der gerichtlichen und der militärischen Ehebewilligung die Dispens versagt werden - denn sie kann aus jedem Grunde und auch grundlos versagt werden - sie kann aber auch erteilt werden, wobei allenfalls der Verwaltungsbeamte, um sich völlig zu salvieren, den Seelsorger im Dispensbescheide auf die noch fehlenden Voraussetzungen der Eheschließung, soweit er ihrer gewahr wird, aufmerksam machen mag. „Unter der Voraussetzung der Beibringung der militärbehördlichen Ehebewilligung" wird dann also die Dispens erteilt. 11 Zeit zur Beibrin-

11 Ein solcher Vermerk wird um so eher angebracht sein, als ja die Gefahr nicht ausgeschlossen ist, daß sich das Trauungsorgan allzu sehr auf die Vorprüfung durch die politische Behörde verläßt.

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gung dieser Konsense ist bis zum Trauungsakte. Gemäß § 78 ABGB ist es Sache des Seelsorgers - aber auch nur des Seelsorgers - derlei Anstände wahrzunehmen, des Seelsorgers, der den Trauungsakt vornimmt, und nicht eines sonstigen Organes, das nur Vorbereitungsakte setzt, über deren Reihenfolge nichts gesagt ist und die daher nicht voneinander abhängig gemacht werden können. Vertritt man den gegenteiligen Standpunkt, dann wäre in dem Falle, daß etwa außer der Aufgebotsdispens eine militärbehördliche und eine pflegschaftsbehördliche Erlaubnis einzuholen wäre, eine Ehe überhaupt unmöglich. Die Ehewerber wären verurteilt, fruchtlos zwischen Statthalterei und Gericht hin- und herzupendeln, wenn sich nicht eine der in Betracht kommenden Stellen entschlösse, mit dem in ihre Kompetenz fallenden Akte den Anfang zu machen. Ähnlich steht es mit der Feststellung der örtlichen Kompetenz. Die örtliche Kompetenz der um die Dispens ersuchten Behörde ist tatsächlich eine Voraussetzung für die Erfüllung des Dispensansuchens. Doch auch in der großen Masse der sonstigen Fälle, wo Aufenthalt oder Wohnung maßgebend sind, begnügt man sich mit der bloßen Parteibehauptung. So ist sicherlich auch für die Regel der Fälle von Dispensansuchen kein Anlaß, die Parteibehauptung anzuzweifeln und sich auf Beweise zu versteifen. Freilich wird die Dispens erst dadurch zu einem rechtmäßigen, daß die Kompetenz tatsächlich gegeben, das heißt daß die Wohnungsangabe richtig war, doch ist zu bedenken, daß einerseits auch eine stärker als durch bloße Parteibehauptung begründete Kompetenzfeststellung irrig sein kann, und daß andererseits die Folgen der Inkompetenz bei anderen Rechtshandlungen auch nicht andere sind. Das allerdings ist nicht zu bestreiten, daß mangelnde Kompetenz der von allen Aufgeboten dispensierenden Behörde den Formfehler des § 74 ABGB mit sich bringen kann und somit ein Umstand ist, der bei der Frage nach der Gültigkeit einer Ehe vom Gerichte jederzeit zu beachten ist. Die damit angedeuteten, möglicherweise einschneidenden Folgen eines Mißgriffes in der Kompetenzfeststellung lassen es ja begreiflich erscheinen, daß sich die Verwaltungsbehörde durch das Verlangen eines Wohnungsnachweises möglichst sicherzustellen sucht, doch wird man angesichts der wohl außer Zweifel gestellten Tatsache, daß ein solches Verlangen keineswegs einer gesetzlichen Bedingung entspricht, einer Praxis wohl das Wort reden dürfen, die sich unter Umständen dazu versteht, auch von der Beibringung eines

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Wohnungszeugnisses abzusehen und sich mit der unbedenklichen Wohnungsangabe zu begnügen. Es war bisher von Voraussetzungen der Eheschließung die Rede, welche nicht durch echte Dispensen, sondern durch einfache Bewilligungen erfüllt werden. Von diesen wurde behauptet, daß sie die Aufgebotsbehörde nicht zu berühren brauchen. Es gibt aber doch auch Voraussetzungen, deren Fehlen die Verwaltungsbehörde zu beachten hat; wir meinen die eigentlichen Ehehindernisse. Liegt ein solches vor, dann darf sie das Aufgebot überhaupt nicht nachsehen, ebensowenig wie sie in einem solchen Falle das sogenannte politische Eheaufgebot vornehmen dürfte. Grund hiefür ist die rechtliche Unmöglichkeit der Eheschließung bei solcher Sachlage, während in den bisher besprochenen Fällen doch die rechtliche Möglichkeit der Eheschließung gegeben ist. Man könnte ja vielleicht auch behaupten, es sei selbst bei Ehehindernissen die nachherige Dispensation gemäß § 83 ABGB möglich und daher vorherige Aufgebotsdispens statthaft. Die Dispens vom Aufgebote für eine, wenn sie derzeit abgeschlossen wurde, offenkundig ungültige Ehe ist aber offenbar wirkungslos, ist im juristischen Sinne einfach keine Dispens. Andrerseits wird man es aber wieder nicht als in den Pflichtenkreis der Aufgebotsbehörde fallend erachten können, sich vor der Dispenserteilung in eine umfängliche Untersuchung etwaiger Ehehindernisse einzulassen. Nur was sich ihr in dieser Hinsicht zufällig ergibt, hat sie zu beachten. Auf eine erschöpfende Untersuchung kann es um so weniger ankommen, als ja erst das Aufgebot Ehehindernisse zu Tage fördern oder die gemäß § 86 ABGB vorzunehmende (regelmäßig den Seelsorgern übertragene) Beeidigung der Verschweigung von Ehehindernissen vorbeugen soll. § 78 ABGB erklärt auch die Feststellung von Ehehindernissen, die vom Gesetze richtiger als von der Theorie von den zur Ehe führenden „Erlaubnissen" unterschieden wurden, als Sache des Seelsorgers. Die Verwaltungsbehörde kann sich, muß sich aber ex professo nicht damit befassen. Ihre Dispens wird wieder erteilt unter der stillschweigenden - mitunter auch ausdrücklich ausgesprochenen - Voraussetzung, daß der beabsichtigten Eheschließung keine Hindernisse entgegenstehen. Gewissermaßen eine Vorstufe für die Aufgebotsdispens - und zwar eine Vorstufe, die infolge der durch den Krieg geschaffenen Verhältnisse häufig

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betreten werden muß - ist die Dispens vom sechswöchigen Aufenthalte. 12 Bei den kurzen Urlauben der Eingerückten ist es die Regel, daß sie zur Eheschließung und selbstverständlich auch zum Aufgebote sowie zum Ansuchen um Nachsicht von diesem Erfordernisse noch nicht den sechswöchigen Aufenthalt aufzuweisen vermögen. Normalfall ist nun, daß man sich somit auch von der politischen Behörde des vorangegangenen Aufenthaltsortes die Aufgebotsdispens verschafft. Für einen Krieger, der von der Front heimkehrt, ist dies nun mangels eines entsprechenden vorgängigen Aufenthaltsortes meist unmöglich. Er kann sich nun aber auch die Dispens von der Voraussetzung des sechswöchigen Aufenthaltes verschaffen. Da die Legitimation hiezu aber bloß der generellen Dispensdelegation des § 83 ABGB zu entnehmen ist, fällt die Aufenthaltsdispens in die Kompetenz der Landesstelle, was offensichtlich häufig - man denke zumal an ländliche Verhältnisse! - eine nicht unbeträchtliche Erschwerung und Verzögerung einer Kriegstrauung bedeutet. Um nunmehr von der Aufgebotsdispens, die schon wegen der Häufigkeit ihres Auftretens und wegen der typischen Rolle, die ihr bei Kriegstrauungen zukommt, eine vorzugsweise Behandlung verdient, auf andere Fälle aus der Praxis der Kriegstrauungen überzugehen, wäre zunächst auf die Formvorschrift der Beibringung eines Volljährigkeitsdokumentes ein Blick zu werfen. Der Fall, den unter anderen auch der oft zitierte § 78 ABGB ins Auge faßt, daß nämlich Personen, ,,deren Volljährigkeit nicht offenbar zu Tage liegt, den Taufschein oder das schriftliche Zeugnis ihrer Volljährigkeit nicht vorweisen können", wird sich naturgemäß im Kriege häufiger als in normaler Zeit ereignen, sei es, daß die nötigen Dokumente in Verlust geraten oder daß sie nicht auf der Stelle verfügbar und auch nicht rasch genug herbeizuschaffen sind - man denke daran, wie viele Kriegstrauungen außerhalb des Friedenswohnsitzes geschlossen werden der zitierte Fall, der ebenfalls eine Dispens erforderlich macht, wird sich nur zu oft herausstellen. Diese Dispens (von der Beibringung der Geburtsdokumente) ist wieder Ermessenssache der durch den § 83 ABGB allgemein ermächtigten Landesstelle. Nur ,,im Falle einer bestätigten nahen Todesgefahr" hat gemäß dem schon

12 Dies um so mehr, als ja in der Praxis der Wohnungsnachweis dem Trauungsorgane erbracht werden muß - womit freilich die Grenzen der gesetzlichen Erfordernisse vielleicht wiederum überschritten werden.

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mehrfach zitierten Gesetze aus dem Jahre 1872, welches insoweit dem bürgerlichen Gesetzbuche derogiert, die politische Bezirksbehörde einzutreten. Hier wird man von der Erlaubnisfreiheit um so eher Gebrauch machen, als die Dispensverweigerung in der Regel nicht einer zeitlichen Verschiebung, sondern einer Unmöglichmachung der Eheschließung gleichkommen würde. Vom Standpunkte des Richters aus ist dieser Fall aus dem Grunde minder wichtig, weil es sich lediglich um ein Eheverbot handelt, dessen Nichtbeachtung die Gültigkeit der Ehe nicht in Frage stellt. Unmittelbar wird das Gericht - und zwar als Pflegschaftsbehörde - in den Fällen der § § 5 0 bis 52 ABGB berührt, wobei seine Funktion, richtig verstanden, nicht in der Dispens von einem Ehehindernisse (sei es auch in der deminutiven Form des Eheverbotes), sondern, wie sich das Gesetz selbst treffend ausdrückt (§ 78 ABGB), in der Erteilung einer Erlaubnis besteht. Hervorzuheben wäre, daß dieser Fall der einzige in unserer Rechtsordnung ist, wo sich das Gericht mit der Begründung einer Ehe zu befassen hat, während dem Gerichte im übrigen die undankbarere Aufgabe zufällt, zu lösen, was andere gebunden haben. Man darf wohl annehmen, daß die Rücksicht auf die durch den Krieg geschaffenen besonderen Verhältnisse auch in der bei den Gerichten geübten Praxis genugsam zum Ausdrucke kommt. Gelegenheit dazu bietet insbesondere die Auslegung des § 53 ABGB 1 3 in der Richtung, daß etwa Mangel an dem nötigen Einkommen mit Rücksicht auf den Unterhaltsbeitrag nicht zum Hinderungsgrunde gemacht wird. Würde man nicht diese entgegenkommende Auslegung walten lassen, so würden sicherlich viele der sogenannten Kriegstrauungen, soweit Minderjährige in Frage kommen, ausgeschlossen sein. Es ergibt sich nun die Frage, ob gewisse Voraussetzungen bestehen, unter denen ein solcher Gerichtsbeschluß rechtlich ausgeschlossen ist. Man wird wohl ebenso wie bei der Erteilung der Aufgebotsdispens die Evidenz eines Ehehindernisses als einen Fall ansehen müssen, wo die Ehebewilligung nicht erteilt werden darf. Daß man aber andrerseits nicht den Nachweis aller

13 Der mit Grund auch zur Beurteilung eines Begehrens gemäß §§50 und 51 herangezogen wird.

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Voraussetzungen des Eheschlusses begehren muß, gilt für diesen Fall ebenso wie für die Aufgebotsdispens; daher sei auf das schon oben Gesagte verwiesen. Andrerseits wird man es doch wieder als praktisch bedenklich ansehen müssen, wenn Gerichte, wie es mitunter vorkommt, ganz unbekümmert um die militärbehördliche Ehebewilligung ihrerseits die Ehebewilligung gemäß den §§50 bis 52 ABGB erteilen. Von Gesetzes wegen bedingt ist der Gerichtsbeschluß durch eine vorausgegangene Erklärung des gesetzlichen Vertreters des Minderjährigen - mag diese auch, abgesehen von § 4 EntmO negativ gehalten sein; unbedingt ausgeschlossen ist sie nur, wenn feststeht, daß gewisse Voraussetzungen, welche das Gericht nicht supplieren kann, nicht eintreten können; wenn also die Partei etwa die rechtskräftige Abweisung ihres militärbehördlichen Gesuches um Ehebewilligung in Händen haben sollte; sind gewisse Voraussetzungen noch zu erfüllen, dann kann, muß dies aber nicht zum Anlasse einer Abweisung gemacht werden, und bietet sich insbesondere der empfehlenswerte Weg, auf das Fehlen dieser Voraussetzungen (wenn man will, in der Form einer bedingungsweisen Bewilligung) hinzuweisen. So wird dem vorgebeugt, daß das Trauungsorgan auf Grund der ihm vorgewiesenen gerichtlichen Ehebewilligung in die Meinung komme, gewisse gesetzliche Voraussetzungen seien schon erfüllt, obwohl sie es noch nicht sind. Von hervorstechender Bedeutung für das Recht der Kriegstrauungen ist begreiflicherweise die militärbehördliche Ehebewilligung. Bekanntlich verweist das bürgerliche Gesetzbuch (§ 54) in dieser Richtung auf die „Militärgesetze". Das Wehrgesetz (Gesetz vom 5. Juli 1912, RGBl. Nr. 128) bestimmt in seinem § 40: „Die Verehelichung vor dem Eintritte in das Stellungspflichtige Alter und während der Dauer der Stellungspflicht ist grundsätzlich nicht gestattet." Das „Stellungspflichtige Alter" wird im dritten Absätze des § 16, Punkt 1 definiert: Es „beginnt mit 1. Jänner des Kalendeijahres, in dem der Wehrpflichtige das 21. Lebensjahr vollstreckt, und endet mit dem 31. Dezember jenes Jahres, in dem er das 23. Lebensjahr vollstreckt". Eine ausnahmsweise Ausdehnung des Stellungspflichtigen Alters sieht der siebente Absatz derselben Gesetzesstelle vor: „Jener Wehrpflichtige, der seiner Stellungspflicht im Stellungspflichtigen Alter nicht entsprochen hat 14 oder gegen den der

14 Das ist selbstverständlich nur der, welcher einer Vorladung zur Stellung nicht nachgekommen ist. Haben überhaupt keine Stellungen stattgefunden, so kann von einem „Nichtentsprechen" nicht die Rede sein.

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begründete Verdacht besteht, daß seine Assentierung durch Verübung eines in diesem Gesetze bezeichneten Vergehens vereitelt wurde, bleibt bis zum 31. Dezember jenes Jahres stellungspflichtig, in dem er sein 36. Lebensjahr vollstreckt." Der letzte Satz freilich ist cum grano salis zu nehmen. Er ist so redigiert, daß man mit Gewißheit behaupten kann, es sei nicht gleichzeitig an den kommenden § 40 gedacht worden; und des letzteren Textierung nimmt wieder nicht auf unseren § 16 oder doch nur auf dessen erstzitierte Stelle Rücksicht. Nur wer sich tatsächlich der Stellungspflicht entzogen hat, unterliegt bis zum Ende des Kalenderjahres, in dem er sein 36. Lebensjahr vollendet, der Stellungspflicht und damit zugleich auch dem Eheverbote des § 40 WehrG. Er verwirkt auch nicht bloß die Strafe wegen Stellungsflucht, sondern, wenn er heiratet, außerdem auch die - keineswegs durch Realkonkurrenz aufgezehrte - Strafe auf Grund des § 72 WehrG wegen „unerlaubter Verehelichung" 15, falls er sich vor Ablauf der Stellungspflicht verehelicht. Besteht lediglich der, sei es auch noch so „begründete" (wenn nur nicht in den Tatsachen „begründete") „ Verdacht", „daß seine Assentierung durch Verübung eines ... Vergehens vereitelt wurde", so wird man die Ehe eines derart unschuldig Verdächtigten nicht als dem Verbote des § 40 widersprechend erklären müssen. Außer den Stellungspflichtigen dürfen „ohne militärbehördliche Bewilligung sich nicht verehlichen": a) die aktiven Personen der gemeinsamen Wehrmacht und der Landwehr; b) die uneingereihten Rekruten; c) die dauernd beurlaubten Präsenzdienstpflichtigen des gemeinsamen Heeres, der Kriegsmarine und der Landwehr, mit Ausnahme jener, die sich in den letzten drei Monaten ihrer Präsenzdienstpflicht befinden; d) die mit der Vormerkung für Lokaldienste in den Ruhestand versetzten Offiziere; e) die in der Lokalversorgung eines Militär-Invalidenhauses untergebrachten Personen der gemeinsamen Wehrmacht und der Landwehr (§ 52 WehrG). Trotz dieses ziemlich umfassenden Eheverbotes sieht man auf den ersten Blick, daß ihm ein (besonders unter den jetzigen Verhältnissen) beträchtlicher Kreis von Militärpersonen nicht unterliegt: Vor allem die Landsturmpflichtigen, auch wenn sie militärische Dienste leisten, und selbstverständlich auch, wenn sie

15 Diese Strafe ist gemäß § 77 WehrG von den politischen Behörden zu verhängen daher keine in der Strafe zum Ausdrucke kommende Realkonkurrenz mit der Stellungsflucht - und verjähret gemäß § 76 WehrG schon binnen dreier Monate nach der Begehung.

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nicht in eigene Landsturmformationen eingeteilt, sondern in Truppenteile der gemeinsamen Wehrmacht oder der Landwehr eingereiht sind. Sie sind zwar „aktive Heerespersonen" 16, gehören aber bekanntlich weder der gemeinsamen Wehrmacht und der Landwehr, noch einer der sonstigen im vorigen angeführten Personengruppen an. 17 Für die noch nicht Stellungspflichtigen sowie für die Stellungspflichtigen Personen erteilt gemäß § 40 WehrG das Landesverteidigungsministerium die Ehebewilligung, für alle Übrigen, welche unter dem Gesichtspunkte ihrer militärischen Dienstpflicht einer besonderen Ehebewilligung bedürfen, im Sinne des § 52 WehrG die „Militärbehörde". Für jene Fälle sind die Statthaltereien und die Landesregierungen generell delegiert, in diesen wird das betreffende Truppenkommando als kompetente „Militärbehörde" behandelt.18 Als jene militärischen Stellen, welche die (nunmehr im § 52 WehrG abgegrenzte) „Ehebewilligung" 19 erteilen, führt das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch (§ 54) „Regimenter, Korps oder überhaupt ihre Vorgesetzten" an. Im einzelnen bestehen hierüber sehr eingehende Vorschriften, deren Aufzählung in diesem Rahmen viel zu weit führen würde und deren Anwendung übrigens auch kein Spezifikum der Kriegstrauungen ist. 20 Über die Form dieser Ehebewilligung bestimmt der § 54 ABGB nichts anderes, als daß es sich um eine „schriftliche Erlaubnis" handelt. - Mehr wäre über ihren juristischen Charakter zu sagen. Das bürgerliche Gesetzbuch räumt ihr nämlich die Eigenschaft ein, ein echtes Ehehindernis aufzu-

16

Vgl. Schmid, Das Heeresrecht der österreichisch-ungarischen Monarchie, Wien 1903,

S. 119. 17

Enthobene Personen sind nicht als aktiv anzusehen und fallen schwerlich auch unter einem anderen Titel in den Kreis jener, welche zur Verehelichung militärbehördlicher Genehmigung bedürfen - außer sie stünden im Stellungspflichtigen Alter. 18

Vgl. Schmid, a.a.O. S. 137 f., 378 f.

19 Die gesetzliche Terminologie unterscheidet zwischen der Ehebewilligung für aktive Militärpersonen und der Dispens vom Eheverbote für Stellungspflichtige und Vorstellungspflichtige. Doch kann ich materiell und juristisch zwischen beiden Rechtsfiguren keinen Unterschied erblicken. 20

Nachzulesen sind sie zum Beispiel bei Mayrhofer, Handbuch der politischen Verwaltung, Bd. V, S. 78, Anm. 2.

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heben, indem der § 54 ABGB „Die Militärgesetze" es „bestimmen" läßt, „mit welchen Militärpersonen ... kein gültiger Ehe vertrag eingegangen werden könne". Durch die auf Grund Ah. Entschließung vom 30. August 1861 erflossene Vorschrift über die Heiraten in der k.k. Landarmee vom 14. September 1861, Kriegsministerium Z. 3851/C.K., ist jedoch die Nullität ohne militärbehördliche Bewilligung geschlossener Ehen von Militärpersonen aufgehoben worden, indem in diesen Vorschriften lediglich erklärt wurde, daß Militärpersonen, welche sich ohne Bewilligung verehelichen, „den diesfalls im Militärstrafgesetze verhängten Strafen verfallen". Es sind also, wie sich Mayrhofer treffend ausdrückt, „von Militärpersonen ohne militärbehördliche Bewilligung eingegangene Ehen zweifellos gültig. Der § 54 ABGB ist zwar formell nicht aufgehoben, hat aber keinen materiellen Inhalt mehr". 21 Beide Ehebewilligungen - nach § 52 WehrG wie nach § 40 WehrG stehen selbstverständlich ganz im freien Ermessen der Militärbehörde. Keiner der diesen Gruppen angehörigen Militärpersonen hat auf die Bewilligung irgend einen Anspruch, für alle ist sie reine Gnade. Dieses bedingungslose Eheverbot der Heerespersonen ermöglicht es der Militärbehörde, die Erteilung der Ehebewilligung von welchen Bedingungen immer abhängig zu machen. Die bekannteste dieser Bedingungen ist die Heiratskaution, welche ohneweiters auf die eingerückten Reserve- und Landwehr- (nicht Landsturm-) Offiziere ausgedehnt werden könnte. Nur natürlich ist es, daß der Krieg die Bedingungen nicht nur nicht erschwert, sondern eher erleichtert hat. Was im vorigen über Dispense und Eheerlaubnisse bei Kriegstrauungen gesagt wurde, gilt prinzipiell nur für den bürgerlichen Teil, für die Braut. Für den Bräutigam, welcher Militärperson 22 ist, ist nicht nur (mit den in und

21

Ein Erlaß des Landes Verteidigungsministeriums vom 15. Juli 1916, Abt. 2/St., Nr. 10.212, bestimmt übrigens bis auf weiteres:,, Allen jenen, welche während des Krieges ihrer Präsenzdienstpflicht entsprechen oder etwa als Ersatzreservisten die erste militärische Ausbildung erhalten, wird hiemit generell von dem Zeitpunkte des Ablaufes ihrer gesetzlichen Präsenzdienstzeit, beziehungweise der achtwöchigen ersten militärischen Ausbildung an die militärbehördliche Bewilligung zur Verehelichung erteilt." 22

Genauer: die unter militärgeistlicher Jurisdiktion stehenden Personen; hieher gehören die im § 52, nicht aber die im § 40 WehrG angeführten Personenkategorien. Vgl. über den Begriff der militärgeistlichen Jurisdiktion Schmid, a.a.O. S. 384. Der Umfang der militärgeistlichen Jurisdiktion wird umschrieben durch die Zirkularverordnung des Kriegsministe-

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zu §§ 40 und 52 WehrG angeführten Ausnahmen) immer die militärbehördliche Ehebewilligung erforderlich, sondern gilt auch zur Erteilung der Dispensen und Erlaubnisse des bürgerlichen Rechtes Besonderes. Es sind nicht nur ,,die Militärpfarrer ermächtigt, die kirchliche Dispens zu erteilen". Auch „die politische Dispens vom zweiten und dritten Aufgebote wird jenen Heerespersonen, welche zu Regimentern oder sonstigen Truppenkörpern gehören, von den Regiments- oder anderweitigen Kommanden, sonstigen Personen von der Militärterritorialbehörde erteilt" (Verordnung des Hofkriegsrates vom 22. Dezember 1800, Z. 2089, und vom 5. Oktober 1808, Nr. 164; Dangelmaier, Militärprivatrecht, S. 61). Zur Erteilung der Dispens von allen drei Aufgeboten sind, wenn darum in dringenden Fällen gegen Ablegung des vorgeschriebenen Eides angesucht wird, die Militärterritorialbehörde und der apostolische Feldvikar, bei Todesgefahr aber jedes Militärstationskommando und jeder zur Trauung berufene Militärgeistliche befugt. „ I m übrigen ist zur Erteilung der politischen Dispens bei Ehehindernissen an Heerespersonen in Österreich nach einer bis in die josefinische Zeit zurückreichenden Rechtsentwicklung (Mayrhofer, a.a.O. Bd. V, S. 80 und 81, Anm. 1) die Militärbehörde, und zwar regelmäßig das Reichskriegsministerium, kompetent."23 Theorie und ältere Praxis Mayrhofer repräsentiert ja wohl die Vor-Kriegs-Praxis - nehmen auf unserem Gebiete einen Standpunkt ein, der von der Verwaltungspraxis im Kriege fast gänzlich verlassen ist. Im Hinblicke auf die außerordentliche Ausdehnung der Militärjurisdiktion im Kriege sind ja tatsächlich kaum irgend welche Fälle von Kriegstrauungen denkbar, wo - den obigen Rechtsstandpunkt als richtig vorausgesetzt - die Ehedispens irgend welcher Art für den Bräutigam von der zivilen Verwaltungsbehörde zu erteilen wäre. Tatsache

riums vom 5. Juli 1887, Präs.Nr. 3401, Vbl. für das Heer, 23. Stück, S. 137. Nach Punkt 6 führt, was uns besonders interessiert, diese Verordnung an:,,... endlich im Kriege oder im MobilitätsVerhältnisse; 7. die Personen der zur Armee im Felde gehörigen oder für den Dienst auf Etappenlinien bestimmten Landwehr-(Landsturm-)Abteilungen und die Landwehr(Landsturm-)Personen der Kriegsbesatzungen eines ausgerüsteten festen Platzes. 8. Die ... Wehrpflichtigen, welche zu einer Dienstleistung für Kriegszwecke herangezogen werden (also nicht die echten „Kriegsdienstleister"). 9. Alle Personen, welche sich im Gefolge der auf den Kriegsfuß gesetzten Armeekörper und Truppen befinden, und 10. die Kriegsgefangenen und die unter militärischer Obhut stehenden Geiseln." 23

Schmid, a.a.O. S. 379.

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ist aber, daß auf dem weitesten Gebiete24 die Kompetenz zur Erteilung jeglicher Dispensen (nicht so selbstverständlich der wehrgesetzlichen Eheerlaubnisse) von den politischen Behörden in Anspruch genommen wird. Wir beobachten auf diesem Gebiete dieselbe Tendenz, Kompetenzgrenzen auf entschwindende Kompetenzgebiete hinauszuverlegen, wie bei den zahllosen Durchlöcherungen der Anwendung des § 50 WehrG, der bei den verwaltungsbehördlich strafbaren Handlungen die Militärpersonen von der verwaltungsbehördlichen Judikatur eximiert, wogegen in der Praxis vielfach diese Kompetenz in Anspruch genommen wird. Man braucht übrigens in diesen Erscheinungen keineswegs ein Vordringen der Zivilbehörde zu erkennen, vielmehr könnte man von gewissen Widerständen im Rückschreiten sprechen, indem die Zivilbehörde eine bei der weitgehenden Militarisierung von Zivilpersonen ihr entgleitende Kompetenz teilweise festzuhalten sucht. Nun hat aber außer der hiemit nur angedeuteten interessanten theoretischen Seite unsere Erscheinung eine sehr ernste praktische Seite. Ist tatsächlich die Kompetenzverteilung, so wie sie bisher tradiert wurde, als zu Recht bestehend anzunehmen, dann wäre hiemit die Gültigkeit zahlloser Kriegsehen in Frage gestellt, soweit von sogenannten „Hindernissen", das heißt insbesondere auch von der Vorschrift des mindestens einmaligen Aufgebotes, durch Verwaltungsbehörden an Militärpersonen Dispens erteilt worden ist und wird. Die Justiz hätte eine schwere, böse Nachlese hinter der - im besten Willen, aber mit üblen Folgen vollbrachten - Verwaltungstätigkeit auf dem Gebiete des administrativen Eherechtes zu besorgen. Dieses Problem wurde unseres Wissens noch nicht aufgeworfen. Uns erscheint es übrigens nicht als so hoffnungslos, wie es sich aus den Prämissen der herrschenden Lehre ergibt, da wir diese Prämissen nicht durchaus annehmen zu müssen glauben. Dem vorkonstitutionellen Dispensrechte der Militärbehörden wurde ja doch - ebenso wie dem der weltlichen Behörden - durch das Konkordat, welches auf diesem Gebiete ausschließliche Kompetenz kirchlicher Behör-

24

Die Grenzen der gewahrten Prärogativen der militärischen Instanzen umschließen höchstens die Offiziere samt deren Gleichgestellte, allerdings mit zahlreichen Durchbrechungen, und - sicherlich mit noch mehr Ausnahmen - die Mitglieder der gemeinsamen Wehrmacht und Landwehr, sind also, wie man sieht, eng genug.

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den schuf, derogiert. Wurde es mit der Restauration des staatlichen Eherechtes ebenfalls wieder restauriert? Was wieder hergestellt wurde, war das Eherecht des bürgerlichen Gesetzbuches - dem aber die Exemtionen zugunsten von Militärbehörden nicht zu entnehmen sind. Durch diese Erwägungen, welche in unserem engen Rahmen nicht weiter verfolgt werden können, wird sich, wie mir scheint, die zivilbehördliche Dispenskompetenz erweisen lassen. Kein durchschlagendes Gegenargument vermag die Tatsache zu sein, daß spätere Enunziationen der obersten Militärbehörden deren Kompetenzen auf dem Gebiete des administrativen Eherechtes als vollauf fortbestehend annehmen. Die Dispensen im Sinne des § 83 ABGB und des Gesetzes vom 4. Juli 1872, RGBl. Nr. 111, werden also meines Erachtens wohl nicht bloß via facti, sondern via iuris mit voller Rechtswirkung auch den der Militärjurisdiktion unterstehenden Personen von zivilen Verwaltungsbehörden erteilt. Viel bedenklicher ist die eine Konsequenz aus unserer Konstruktion, daß durch sie die tatsächlich, wenn auch nur auf beschränktem Gebiete auftretenden Fälle der Dispensation von Seite militärischer Stellen problematisch werden. Endgültiges soll durch diese kurzen Feststellungen auf diesem problematischen Gebiete nicht ausgemacht, sondern bloß die - merkwürdig schweigsame - Diskussion angeregt sein. Was nun die Kompetenz für das Eheaufgebot und die Verehelichung selbst betrifft, sei hier nur kurz auf § 23 der Dienstvorschrift für die Militärgeistlichkeit (Verordnung des Hofkriegsrates vom 4. März 1836, Nr. 656, Hofkanzleidekret vom 3. März 1846, JGS. Nr. 954, ABGB, §§ 71, 75) verwiesen. 25

25

Vgl. Schmid, a.a.O. S. 378.

Der „Pranger" Nun ist der Vorhang von einer Schaubühne des öffentlichen Lebens gezogen, die bisher den Blicken der meisten entrückt war. Wer Wunder dahinter zu sehen vermeinte, mag nunmehr enttäuscht sein. Nach einem Provisorium: einer kleinen Liste der Großen, nunmehr als ordentlicher Anfang eine große Liste der Kleinen - alles natürlich nur verhältnismäßig genommen. Wer weiß, wie viele „Gebildete" überhaupt nicht ahnten, daß es außer bei Gericht und allenfalls bei der Polizei noch eine Strafgewalt gebe. Nicht weit ab von solcher Unkenntnis steht die Tatsache, daß man vielfach gerade in den Listen der politischen Behörden die „Preistreiber", die „großen", die „ganz großen" Preistreiber suchte und sucht. Wer sich also den „Pranger" anders vorgestellt hat, der hat seine Enttäuschung einer falschen Erwartung zuzuschreiben. Freilich sind die, auf die man's mit gutem Grunde abgesehen hat, besonders schwer zu fassen, wobei verschiedene Umstände mitspielen; freilich sind sie auch rarer - das will nicht sagen rar - im Vergleich mit der großen Schar der kleinen Gesetzesübertreter; aber wenn sie auch noch so zahlreich und leichtfaßlich wären, könnte sie die politische Behörde nicht fassen und in ihre Listen unterbringen - under anderem Titel wird ja wohl auch mancher „größere Preistreiber" in diesen Listen aufscheinen - da für Preistreiberei bekanntlich, was man aber vielfach ganz vergessen zu haben scheint, die Gerichte zuständig sind. Nun, auch in diesen Listen gibt es Übertretungsfälle, die mangelnden sozialen Sinn verraten, Hinwegsetzung über die Erfordernisse des Krieges erkennen lassen, aber durchaus nicht alle jene Gesetzesübertreter sind es, ich wage sogar zu behaupten: nicht einmal die Mehrheit ist es, die zu diesen zu zählen ist. Da drängt sich wirklich eine in jedem Sinn - gemischte Gesellschaft, Größen des wirtschaftlichen Le-

Juristische Blätter, 46. Jg. (1917), S. 78-79 (unter dem Pseudonym: -d-.-e-.).

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bens kommen z.B. neben Kräutlerinnen zu stehen, Würdige neben Unwürdigen, insbesondere auch solche, die den „Pranger" verdienen und solche, für die er denn doch ein allzu wirksames Radikalmittel ist, und nicht zuletzt neben denen, die den Pranger empfindlich fühlen, auch solche, die sich selbst um den Preis des Prangers bei ihrem deliktischen Verhalten recht wohl fühlen dürften. Man braucht nur die Seelenqualen zu beobachten, die manchem Bestraften die Aussicht auf unsere Nebenstrafe bereitet, und dagegen jene, die alles kalt läßt, ausgenommen das - Zahlen. Leider kann eben eine Schablone - und das ist auch der „Pranger" - der Mannigfaltigkeit der menschlichen Natur nicht Rechnung tragen. Insbesondere ist aber ein Moment des Mißverständnisses zu berücksichtigen: Die verwaltungsbehördlichen Straftatbestände abstrahieren bekanntlich völlig von der Schuldfrage. Während die Tat als solche zu bestrafen ist, kann der Grad des Verschuldens nur im Strafausmaß zum Ausdruck kommen. Eine durchaus vernünftige Regelung der Dinge, solange es keinen papierenen Pranger und - keinen Kommentar hiezu gibt. Und während also in Wirklichkeit das verschiedene Strafausmaß nur der bedeutenden Verschiedenheit in den Delikten gleichen Namens Rechnung trägt, schließt der unsachverständige, um nicht zu sagen unverständige Betrachter aus dem gleichen Titel auf den gleichen Tatbestand und von da weiter angesichts der großen Verschiedenheit des Strafausmaßes auf Willkür und Protektion. Ein paar Beispiele: Der eine Baumwollwarenhändler macht ein großes Geschäft mit gesperrter Ware und läßt sich's insbesondere angelegen sein, daß seine Angestellten nicht Mitwisser seien; der andere hat einen einfältigen Angestellten, der versehentlich ein paar gesperrte Stücke verkauft hat und alles daran setzt, daß es vor dem Chef ein Geheimnis bleibe; für die Laienmeinung ist dieser wohl ganz unschuldig. Und doch haben beide die gleiche Übertretung begangen, eine Übertretung freilich, bei der eine Differenzierung der Strafe im Verhältnis von 1:100 ganz am Platze wäre. - Ein ganz anderes Gebiet: Die Massenübertretung der Nichtersichtlichmachung der Preise kann - im Verlöschtwerden der Kreideschrift ihre Ursache haben, kann aber auch den Zweck verfolgen, die beharrliche Höchstpreisüberschreitung zu verschleiern: Die Verdachtstrafe in diesem Falle wird sich sehr merklich von der Ordnungsstrafe in jenem Falle unterscheiden. - Fleischwaren bleiben an einem „fleischlosen" Tage im Verkaufsräume aufliegen, weil einfach anderswo kein Platz ist - es steht etwa überhaupt kein anderer Aufbewahrungsraum zur Verfügung; in einem anderen Falle werden sie aber aufge-

Der „Pranger"

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legt - um verkauft zu werden. Im Haushalte werden Fleischspeisen zubereitet, weil ein Schwerkranker im Hause ist und man nicht auf den Gedanken verfällt, um Dispens anzusuchen - oder aus der lieben Gewohnheit des Fleischessens. In die Vorschriften über die Lebensmittelkarten fügt man sich nicht, hier - aus dem Unvermögen, sich in irgend etwas zu fügen, dort - aus Hunger. Auch gibt es Höchstpreise, die mit Rücksicht auf die höheren Gestehungskosten mit dem besten Willen nicht eingehalten werden können; Vorschriften für den Kleinverkauf von Baumwollwaren, die für den Großhändler, nicht aber für den kleinen Modewarenhändler passen. Die Beispiele verfolgen schon lange nicht mehr den Zweck, die Verschiedenheit des Strafausmaßes zu begründen, sondern die Gleichheit der Strafe, die der Pranger bedeutet, als unbegründet darzutun. Und zuletzt besinne man sich noch der Bevorzugung der neun Zehntel, welche ungeahndet dieselben Übertretungen begehen, derentwegen ein Zehntel auf den Pranger kommt. (Ich möchte sogar die Behauptung wagen, daß 99 Prozent von denen, die in die Lage kommen, unsere Lebensmittel Vorschriften gefahrlos zu übertreten, es tun.) Doch auch um der Zwecke eines Prangers willen wird man den Pranger etwas ändern müssen. Kürzer, trotzdem aber wirksamer wird man die Liste gestalten müssen. Das große Heer der kleinen Gesetzesübertreter wird langweilend wirken, auch dürften den Verzeichnissen ein ähnliches Schicksal winken, wie anderen, nur viel traurigeren Listen. Die Würze der auffälligeren Übertretungen und größeren Strafen, die dem ersten Sammelverzeichnisse aus einem naheliegenden, wenn auch nirgends durchschauten Grunde gefehlt hat - , enthielt es doch nur die seit Anfang des Jahres gefällten rechtskräftigen und darum die kleineren Strafen, denn gegen die ausgiebigeren waren noch die Rekurse anhängig - gerade diese Würze wird extrahiert werden müssen, schon damit sich nicht die wenigen hinter den Vielzuvielen, damit sich nicht die vermeidbaren Übergriffe hinter manchen unvermeidlichen Ordnungswidrigkeiten verstecken können. Gerade Kritiker von heute konnten sich vordem an der Publikationsankündigung nicht genug tun und fanden die Beschränkung auf die Approvisionierungsvorschriften zu bemängeln - wohl in Unkenntnis dessen, daß außerdem etwa Gewerbestrafen, Hausierstrafen, Strafen wegen Übertretungen der Versicherungsgesetze und viele andere - aber nicht ärgere in Betracht kommen würden. Heute sehen wohl schon auch diese Nörgler ein, daß selbst die Veröffentlichung aller Übertretungen auch nur der Approvi-

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sionierungsvorschriften des Guten, richtiger des Bösen zu viel wäre - zu viel für die Publizierten, zu viel für die publizierenden Zeitungen, die solche Listen alsbald in den letzten Winkel des Inseratenteiles verbannen würden, zu viel für die alsbald abgestumpften Leser, zu viel insbesondere für die Tragfähigkeit des Zweckes der Einrichtung, und so wäre der Vorschlag wohl am Platze, nur die größeren derartigen Strafen - bei Geld von 100,300 oder 500 K aufwärts - und kleinere Strafen nur über besondere Auswahl zu veröffentlichen, wobei die Auswahl freilich nicht die Zeitung, sondern die erkennende Behörde oder über deren Antrag die höhere Instanz zu treffen haben würde.

Verkaufsverweigerung und Verkaufsbeschränkung Die Verhältnisse der Lebensmittelversorgung haben, namentlich was die Verteilung der Lebensmittel betrifft - im folgenden kommt nämlich eine, wenn auch nur untergeordnete, so doch sehr aktuelle Verteilungsfrage in Betracht - eine Gestalt angenommen, daß alles - es war freilich nur weniges - was der Gesetzgeber im Frieden vorbauend für die Ausnahmsverhältnisse eines Krieges im Interesse einer klaglosen Lebensmittelversorgung vorbereitet hatte, schlechthin versagt. Man muß eingestehen: haben wir uns auch in vielen Dingen in dieser großen, größten Probe als völkisch-staatlich tüchtig erwiesen - auf diesem Gebiete war die Kriegsrüstung unstreitig schwach. Nun handelt es sich allerdings auf unserem Gebiete1 vorwiegend um eine rechtliche Rüstung: die ist aber, so heißt es, nachzuholen. Diese letzte Aufstellung gilt freilich nicht so unbedingt: das Recht ist Form für jeden beliebigen Inhalt; die Form kann immer bereit gestellt werden; der Inhalt freilich wird je nach der Neuerung, die er gegenüber dem Gegenwartszustande bedeutet, sich als mehr oder minder realisierbar erweisen. Für grundlegende Neuerungen, mögen sie auch in der so beweglichen Form des Rechtes auftreten, wird die Zeit nicht geeignet sein. Das Gesetzgebungswerk wird, mag der Gedanke, der ihm zugrunde liegt, auch noch so großzügig sein, unverkennbar das Gepräge des Krieges an sich tragen, sich gewissermaßen als Nostandsarbeit offenbaren. Das gilt insbesondere von allen Maßregeln, die einem anderen als dem herrschenden Wirtschaftssysteme angehören. Leichter fügt sich dem Bestehenden ein, was nur auf eine Reglementierung der bestehenden Wirtschaftsverhältnisse hinausläuft: dafür sind ja Vorbilder gegeben, dafür ist eine Richtlinie vorgezeichnet. Frei war unsere Wirtschaft - seien wir dessen übrigens froh! - ja schon lange

Juristische Blätter, 46. Jg. (1917), S. 148-149, 159-160, 170-171, 184-185. 1

Hier steht nämlich das volkswirtschaftliche Zirkulations- und nicht das Produktionsproblem in Frage. Wahrend die Erzeugung dem Zugriff des Rechtes fast ganz entrückt ist, ist für die Verteilung der Güter die Rechtsordnung wesentlich mitbestimmend.

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nicht mehr, ja ist sie bei uns im Grunde niemals gewesen. Freilich war der Staat den wirtschaftlichen Dingen fast ausschließlich als Obrigkeit, nicht als mittätiger Faktor begegnet. So kennt bekanntlich unser Strafgesetz als Widerspiel der Kontrahierungsfreiheit, die prinzipiell immer offen steht2, einen ausnahmsweisen Kontrahierungszwang. Wie ein Kuriosum aus scheinbar für immer entschwundenen, gegenwärtig schon unbegreiflichen Zeiten mutete unser § 482 StG an, der nur noch in Büchern ein verborgenes Dasein lebte - und im Leben sozusagen ausgestorben war. ,,Wenn Gewerbsleute, welche Waren, die zu den notwendigen Bedürfnissen des täglichen Unterhaltes gehören, zum allgemeinen Ankaufe feilbieten, ihren Vorrat verheimlichen oder davon was immer für einem Käufer zu verabfolgen sich weigern, sind dieselben einer Übertretung schuldig, und nach Beschaffenheit, als die Ware unentbehrlich ist, das erste Mal mit einer Geldstrafe von 10 bis 50 Gulden zu belegen; bei dem zweiten Falle ist die Strafe zu verdoppeln; der dritte Fall zieht den Verlust des Gewerbes nach." Und der heute aktuelle § 484 StG sieht 1 bis 6 Monate strengen Arrest vor, wenn sich die Tat ,,Zur Zeit einer öffentlichen Unruhe" ereignet. Dem Rechte des Verkäufers, an der Ware zu verdienen, wird also hier für einen Sonderfall ein Recht des Kauflustigen gegenübergestellt, Ware, die für ihn den Charakter des Bedarfsgegenstandes hat, zu erwerben. ,,Fürs teuere Geld zu erwerben" hätten wir beinahe gesagt und damit eigentlich etwas Richtiges getroffen. Denn das ist der Pferdefuß an unserer dem Käufer scheinbar so entgegenkommenden Maßregel, der sie, wenn sie nicht anderweitig ergänzt und unterstützt wird, geradezu illusorisch macht: dem Verkäufer ist zwar die Verkaufspflicht auferlegt, jedoch die Bedingungen festzusetzen, unter denen er seine Pflicht erfüllt, ist auffallenderweise ihm als dem Verpflichteten anheimgestellt; und andererseits hat zwar der Käufer einen Anspruch auf den Verkauf, er ist aber bei den Verkaufsbedingungen dem Belieben seines

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Als Ausnahmen von diesem Prinzipe auf dem Gebiete des Verwaltungsrechtes mögen allenfalls die Fälle des § 53 Gewerbeordnung angesehen werden. Hiedurch werden die Inhaber von Bäcker- und Fleischergewerben - dies die einzigen Lebensmittelgewerbe - und von noch ein paar anderen Gewerben verpflichtet, die beabsichtigte Betriebseinstellung die aber doch in ihrer Macht steht - vier Wochen vorher anzuzeigen: das ist, wie man sieht, eine sehr beschränkte „Betriebspflicht". Erwähnt sei nur noch der Kontrahierungszwang der Eisenbahnen.

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Kontrahenten überantwortet. Wie man sieht, für den ersten Blick wenigstens, eine leichte Pflicht und ein möglicherweise leeres Recht, dessen Konkretisierung im Belieben des Verpflichteten steht. Die logische Grenze, wo die Pflicht sich in bloße Berechtigung auflöst, liegt nicht mehr fern. Es ist die „Pflicht", die unter der Voraussetzung besteht, daß die Erfüllung dem „Verpflichteten" beliebt. Es ist der erste (und einzige) Fall einer Enteignung im österreichischen Recht, wo die Enteignungsbedingungen vom Enteigneten normiert werden.3 Diese Stellung des Enteigneten, des verpflichteten Kontrahenten gegenüber dem berechtigten - wie man sieht, paßt die Vertragskategorie nicht für diese besondere Gegebenheit - gibt ihm insbesondere die Möglichkeit, die Entschädigung für die Enteignung, das heißt die Preise - als den wichtigsten Bestandteil der Verkaufsbedingungen - zu diktieren. Nun scheint uns freilich schon auf dem Boden unseres Rechtsinstitutes ein Mittel gegeben zu sein, auf daß die Bäume nicht sozusagen in den Himmel wachsen. Die Stellung unannehmbarer, ja einfach - nach richterlichem Ermessen - bloß unangemessener Bedingungen kann ja immerhin, ohne daß man diesem Worte allzusehr Gewalt antut, als Verkaufsverweigerung geweitet werden. Das Wort hat offenbar einen doppelten Sinn: für eine strenge Betrachtung, gewissermaßen im Lichte der theoretischen Vernunft, ist der Verkauf nur dann „verweigert", wenn „unter keiner Bedingung" die Kaufofferte angenommen, wenn sie unter jeder Bedingung abgeschlagen wird. Angenommen ist sie auch schon mit der typischen Entgegnung: „ j a - , aber..." Die „praktische Vernunft" wird sich jedoch auch dieses „aber" besehen und ihm unter Umständen gegenüber dem einleitenden „ja" aufhebende Kraft zuschreiben. Wir haben Ähnliches bei der Auslegung des berühmten § 878 ABGB erlebt. Theoretisch „unmöglich zu leisten" ist, wie man zugeben wird, nur das, was „ i n rerum natura" weder ist noch treten kann. Aus dem offenbar sehr umfangreichen Kreise „möglicher" Leistungsgegenstände hat jedoch, wie bekannt, die Praxis einen nicht kleinen Sektor von Fällen ausgeschnitten, wo die Leistung zwar nicht logisch, aber ethisch „unmöglich", das heißt unangebracht ist. So wird man in unserem Falle ähnlicherweise auch zwischen einem logischen und ethischen Begriffe der „Verweigerung" unterscheiden dürfen.

3 Bezeichnend ist unter diesen Umständen die Rechtsform des Kaufes: obwohl gedanklich ein Enteignungsfall, so doch kein Enteignungserkenntnis.

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Die wichtigste vorhin angedeutete Ergänzung oder Unterstützung, die unserem Tatbestande von anderer Seite aus zuteil wird, ist der Tatbestand der Höchstpreisüberschreitung und der Preistreiberei. 4 Hiedurch sind Grenzen zulässiger Bedingungen für die Preiserstellung beim Kontrahierungszwange des § 482 StG gegeben, jenseits derer von einer Verkaufsverweigerung zu reden ist. Der Verkauf eines unentbehrlichen Lebensmittels darf eben schon dann als „verweigert" gelten, ja muß dann als verweigert angenommen werden, wenn ein Preis gefordert wird, der einen für den betreffenden Gegenstand geltenden Höchstpreis überschreitet oder den Tatbestand der Preistreiberei begründen würde. Unter Umständen würde sich ja auch der Verkäufer strafbar machen und somit eine rechtlich unmögliche, weil unerlaubte Bedingung gesetzt sein. Dem Käufer, dem der Verkauf nur um den Preis einer strafbaren Handlung auf seiner Seite oder auch auf Seite des Verkäufers bewilligt wird, dem ist der Verkauf im rechtlichen Sinne schlechthin „verweigert". Und auf ähnliche Weise kann man auch sonstigen ungebührlichen Bedingungen (abgesehen von übermäßiger Preiserstellung) vorbeugen. Viele sonstige drückende Bedingungen werden ja einfach auf einen verschleierten Preisaufschlag hinauslaufen und daher der Qualifikation als Höchstpreisüberschreitung oder Preistreiberei unterliegen. 5 Manchen typischen Schikanen wird man nur mit einer zweckentsprechenden Handhabung des Begriffes „Verweigerung" begegnen können. Verweigert ist z.B. ein Gegenstand, der naturgemäß Verpackung erfordert - auch in dieser Richtung sind die Grenzen verschwommen, insbesondere sind ökonomische und hygienische Gründe der Erforderlichkeit auseinanderzuhalten - wenn er nur unverpackt geboten wird. Wenn ungebührliche Anforderungen an die Zeit des Käufers gestellt werden: so wenn z.B. dem einen Kauflustigen geflissentlich andere

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Vide §§ 14 und 18 der kaiserlichen Verordnung vom 21. August 1916 Nr. 261 RGBl.

So z.B. die nicht seltene Tatsache, daß ein Gast, der nicht Getränke nimmt, nur unter der Bedingung der besonderen Zahlung eines „Getränkeenthebungsgeldes" bedient wird. Zu erwähnen wäre in diesem Zusammenhange auch die gern gestellte Bedingung (gleichzeitig mit dem verlangten Gegenstande), ,,auch etwas anderes zu nehmen". Auch diese bedingungsweise Verkaufsbereitschaft mag der Richter als Verkaufsverweigerung werten, außer es wäre ein solches Verkaufs- und Einkaufsjunktim auf Grund des § 8 der kaiserlichen Verordnung vom 21. August 1916 Nr. 261 RGBl, behördlich angeordnet.

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vorgezogen werden. (Das beliebte: „Sie müssen warten", kommt, wenn es unmotiviert erfolgt, trotz der in ihm enthaltenen zeitlich bedingten Verkaufsbereitschaft unter Umständen einer Verkaufsverweigerung gleich.) Verallgemeinert bietet diese Erwägung eine Handhabe gegen jegliches Benehmen des Verkäufers, das auf ein „Hinausekeln" des Kauflustigen, auf die Vertreibung seiner Kauflust hinausläuft. Eine Frage, bei der uns das Gesetz gänzlich im Stiche läßt, ist die, wie groß die Quantität und wie beschaffen die Qualität ist, auf die der Käufer Anspruch hat. Man wird zugeben, daß gerade auf diesem gesetzlich unbeackerten Gebiete der größte Streit vorkommt, daß im Hinblick darauf am öftesten die Frage aufgeworfen werden kann: Liegt eine Verkaufsverweigerung vor oder nicht? In diesem Rahmen ist die große Masse der strittigen Grenzfälle zu suchen. Vom „Vorrat" „weigert" - so die Gesetzesworte sich bereits der Händler dem Kunden zu verabfolgen, der nicht gerade die Quantität und Qualität gewährt, die der Käufer wünscht, obwohl er mit seinem Vorrat dem Sonderwunsche dienen könnte. Andererseits - dies ist das entgegengesetzte Extrem - könnte man auch wieder sagen: der Verkauf ist nicht verweigert, wenn der Händler irgendwie dem Kaufantrage entgegengekommen ist, mag er auch jeden Sonderwunsch des Kauflustigen unbefriedigt gelassen haben. Dabei ist zwischen Quantität und Qualität zu differenzieren. Jeder Qualitätsunterschied bedingt eine Änderung im Wesen der Ware; wenn nicht bestimmte Qualität (selbstverständlich woferne solche vorhanden ist) bewilligt wird, dann ist die Ware überhaupt verweigert; (übrigens können aber schwerlich alle Qualitätsabstufungen, zwischen denen nur die geringsten Abstände bestehen, berücksichtigt werden). Bei der Quantität freilich ist logisch das Urteil schwieriger, es liege beim teilweisen Unbefriedigtlassen von Wünschen eine Verkaufsverweigerung vor. Jedenfalls kann man, wie das Vorgebrachte zeigt, bei der Bestreitung des Tatbestandes der Verkaufsverweigerung auf Grund rein logischer Urteile wenig und sehr weit gehen. Hier, wo sich das Gesetz wohlweislich der fast immer schädlichen, weil verwirrenden Kasuistik enthalten hat, gilt es also, weise Kompromisse treffen, die das richterliche Ermessen vor eine, so es billig vorgehen und beide Teile hören will, nicht leichte Aufgabe stellen. Hier gilt es, den Kauflustigen vor einer schikanösen, auf Vereklung hinauslaufenden Ignorierung seiner Wünsche in bezug auf Qualität und Quantität in Schutz nehmen - diese Wünsche könnten, trotzdem daß er begehrte Ware verabfolgt erhält, doch in einem Maße unbefriedigt bleiben, daß ihm sozusagen

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in keiner Weise gedient wäre - aber auch der Verkäufer verdient vor schikanösen Sonderwünschen des Kauflustigen, die sich in den angedeuteten Richtungen gerne äußern, richterlichen Schutz. Die praktisch angenommene Verkaufsverweigerung wird hier also zwischen ihren gedanklichen Extremen die Mittellinie halten, deren Aufsuchung quaestio facti ist. Wie viel Auffassungen gibt es nun erst von der Unentbehrlichkeit, wenn sich der in seiner Mannigfaltigkeit fast nicht beachtete und hier nur in ein paar Richtungen zerlegte Begriff der,, Verweigerung" schon als theoretisch so unbegrenzt und praktisch so schwer begrenzbar erwiesen hat! Um alle diese Unstimmigkeiten ist nun aber unser Tatbestand des Dardanariates 6 vermehrt, indem der farblose Begriff der Unentbehrlichkeit als Begriffsmerkmal aufgenommen ist! Nur „unentbehrliche" Bedarfsgegenstände sind taugliches Objekt einer strafbaren Verkaufsverweigerung. Die objektive und die subjektive Bedeutung des Begriffes der Unentbehrlichkeit, der Bedeutungswandel ferner, der sich vollzieht, je nachdem man Existenz- oder Kulturbedürfnisse im Auge hat - was vom Standpunkte der Existenz aus entbehrlich ist, wird man meist, wenn man von einem bestimmten sozialen Niveau aus urteilt, für unentbehrlich erachten. - Die Tatsachen ferner, daß, was für den einen entbehrlich, dem anderen unentbehrlich, daß, was für mich heute vielleicht entbehrlich, mir morgen unentbehrlich ist, daß sich die Entbehrlichkeit und Unentbehrlichkeit damit wandelt, je nachdem ob ich über andere Güter verfüge oder nicht - alle diese verschiedenen, mit dieser Aufzählung keineswegs erschöpften Punkte seien nur erwähnt, nicht näher erläutert. Um auf ein anderes, der Auslegung auch nicht unbedürftiges Gebiet überzugehen, wäre festzustellen, daß unser Tatbestand - er ist, wie man sieht, sehr umfassend - auf den Produzenten und Großhändler nicht minder als auf den regelmäßigen Mittler zwischen Produktion und Konsum, den letzten Kleinhändler, anwendbar ist; allerdings nur im Verhältnis zum Konsum7; denn nur für diesen, das heißt für den eigenen Bedarf, nicht für Zwecke

6 Dieser Ausdruck bezeichnet zunächst wohl nur den einen Deliktsfall des § 482 StG, nämlich das Aufstapeln und Zurückhalten von Waren, hat sich aber dann wohl für den gesamten Tatbestand eingebürgert. 7 Eine vorgenommene Einschränkung der Deliktsmöglichkeit ist dem Gesetze nicht zu entnehmen: Es ist einfach unerfindlich, warum gerade nur der kleine Gemischtwaren verschleißer und allenfalls noch ein Gastwirt, nicht aber größere Unternehmungen, bei denen

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des Absatzes hat eine Ware den spezifischen Charakter eines notwendigen Bedürfnisses des täglichen Unterhaltes. Näher wird diese Qualität ja dahin umschrieben, daß es sich um ein notwendiges ,,Bedürfnis des täglichen Unterhaltes" handeln muß, womit der Konsum als ausschließliches Subjekt des in Rede stehenden Rechtsschutzes schon deutlicher umschrieben ist. Wäre der Rechtsschutz nicht auf den Konsum abgestellt, so ergäbe sich die eigentümliche Tatsache, daß selbst jener unnütze und preistreiberische Zwichenhändler, dem zum erstenmal der § 9 der kaiserlichen Verordnung vom 21. August 1916 Nr. 261 RGBl, allerdings noch sehr sanft begegnet, durch den § 482 StG befördert wäre.8 Der Erzeuger oder Händler, der direkt mit dem Verbraucher in Verkehr zu treten willens ist, wäre genötigt, auch den Zwischenhändler zu berücksichtigen und ihn unabsichtlich in seinem Treiben zu unterstützen, eine Person, die soviel Ware wie möglich zusammenzuraffen bestrebt ist. Die Ware muß also, wofern sie der Veräußerungspflicht unterworfen sein soll, zum unmittelbaren, (was noch nicht notwendig bedeutet eigenen) Verbrauche bestimmt sein. (Das Familienmitglied, das für den Familienbedarf sorgt, deckt den unmittelbaren, aber nicht ausschließlich eigenen Bedarf.) Da der Kontrahierungszwang für Gewerbsleute schlechthin ausgesprochen ist, kann sich der Verbraucher auch an den Erzeuger oder Engrossisten halten. Über die wahlweise Selbsteinschränkung des Verkäufers auf den Wiederverkäufer geht das Gesetz zur Tagesordnung über - solche selbstgezogene Schranken müssen von gesetzeswegen fallen. Freilich kann der Käufer nicht verlangen, daß der Erzeuger oder Händler, der nur mit Wiederverkäufern in Verkehr zu treten gewohnt war, ihm gegenüber seine Verkehrsmethoden ändere: mit der einen Ausnahme - in bezug auf die Quantität. Beliebig, wenn nur nicht schikanös, kleine Mengen müssen abgegeben werden.9

man einen größeren Bedarf zu decken gewohnt ist, einer Anklage gemäß § 482 StG ausgesetzt sein sollen. Der Einwand, daß es sich hiebei nicht um den „täglichen Unterhalt", (den das Gesetz voraussetzt), handle, wäre selbstverständlich sophistisch. Selbstverständlich ist der Konsument, um den Schutz des § 482 StG zu genießen, auch nicht bemüßigt, immer nur den Bedarf eines einzelnen Tages zu decken. 8 Er würde ja auch in seiner Käuferrolle gegenüber der Verkäufer Anspruch auf schrankenlose Überlassung von Ware zum Zwecke preistreiberischer Aufstapelung haben. 9

Das allgemein (,,zum allgemeinen Verkauf 4 ) scheint uns nichts gegen unsere letzte Aufstellung zu beweisen. Vgl. übrigens die Anm. 7.

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Erweitern wir somit die Subjekte der im § 482 StG normierten Rechtspflicht über den üblicherweise angenommenen Kreis, so ziehen wir diesem Kreise andererseits doch ganz bestimmte Schranken. Zwar meinen wir nicht, daß das Wort,,Gewerbsleute" prinzipiell in dem engen technischen Sinn der Gewerbeordnung verstanden werden müsse, andererseits fallen aber auch nicht alle jene Personen darunter, die der Art. IV des Kundmachungspatentes zur Gewerbeordnung als mögliche Gewerbetreibende 10 umschreibt: Im volkswirtschaftlichen Sinne - und der scheint uns der maßgebende zu sein - kann die Urproduktion niemals als Gewerbe aufgefaßt werden, während der Art. IV des Kundmachungspatentes sie offenbar im Auge hat, da der Art. V sie ausdrücklich auszunehmen für nötig findet. Auf Urproduzenten ist also der § 482 StG zweifelsohne unanwendbar; viel zweifelhafter ist aber die Grenze innerhalb der gewerblichen Tätigkeit zu ziehen.11 Die Worte: „zum allgemeinen Ankauf feilbieten" und hievon vor allem wieder das Wort „feilbieten", lassen fürs erste nämlich ausschließlich an den Handel denken. Doch auch dem Produktionsgewerbe ist der Warenverkauf eigentümlich. Eine etwas weitere Fassung wird auch das Produktionsgewerbe einbeziehen - mit einer Einschränkung allerdings: soweit die Rechtsform des Verkehres der Kaufvertrag ist. Die Fälle, wo es sich lediglich um einen Werkvertrag handelt, sind von vornherein auszuschalten, denn dort kann von einem „Ankauf 4 nicht die Rede sein. Die anderen Fälle, wo der Kaufvertrag mit einem Werkvertragselemente 12 gemischt ist, bieten sich als mehr oder minder fragliche Grenzfälle der Auslegung durch die Praxis dar.

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Rechtlich gelten bekanntlich zufolge den Einschränkungen des Art. V viel engere Personengruppen als Gewerbetreibende. 11

Festzuhalten wird vor allem sein, daß derjenige, der eine bestimmte Ware nicht führen darf, sich also mit dem Verkaufe der vorhandenen Ware eines unbefugten Gewerbebetriebes (§ 132 a Gewerbeordnung) schuldig macht, sich insoweit einer Übertretung des § 482 StG ebensowenig schuldig macht, wie jener, der die Ware überhaupt nicht am Lager hat. Zu weit geht es auch, wenn jemand, der ein Warenlager aufgestapelt hat, durch die Strafbestimmung des § 482 zum Abverkaufe veranlaßt werden soll. Bevor er die bezügliche Gewerbeanmeldung erstattet hat, dürfte er den Handel ja gar nicht eröffnen. Soll er also überdies zur Gewerbeanmeldung verpflichtet sein? Nur auf Grund eines besonderen Tatbestandes der preistreiberischen Warenaufstapelung kann man solchen Machenschaften begegnen. Mit unserem Tatbestande kommen, wäre eine Verlegenheitssubsumtion. 12 Dort bedeutet nämlich die Unterwerfung unter den § 482 StG außer dem Veräußerungs-, auch einen Arbeitszwang.

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Abgesehen von der Voraussetzung des „Feilbietens", die vielleicht nicht wörtlich zutrifft, ist hier nämlich trotz dieses fremden, dem Gebiete des Werkvertrages angehörenden Elementes der Gesetzestatbestand voll erfüllt; es handelt sich ja um einen Kaufvertrag. Auf diesem Wege ergibt sich ein gegebenenfalls mit der Betriebspflicht des (schon oben zitierten) § 53 Gewerbeordnung konkurrierender Kontrahierungszwang, der sich sachlich nicht bloß als Pflicht zu irgend einer Veräußerung, sondern auch zu einer Arbeitsleistung darstellt. Die theoretische Möglichkeit ist somit vorhanden und die Praxis bestätigt es, daß Gast- und Schankgewerbetreibende den Vorschriften des § 482 StG unterworfen werden. Insoweit handelt es sich aber, wie uns scheint, doch nur um interpretative Erweiterungen; Ausgangspunkt und Normalfall ist der Händler, dem übrigens der Erzeuger völlig gleichkommt, welcher fertige Ware verschleißt, also auf Lager gearbeitet hat. Doch nur die unternehmungsweise Tätigkeit wird vom § 482 StG betroffen. Der Konsumverein und ähnliche Einrichtungen fallen unseres Erachtens nicht in den Kreis der durch unsere Gesetzesstelle verpflichteten Personen; es kann hier nicht von einem „Gewerbsmann" die Rede sein, der seine Waren zum allgemeinen Verkaufe ausbietet. Fast noch weniger scharf umrissen als der Kreis der durch den § 482 StG verpflichteten Verkäufer 13 ist der Kreis der durch eben diese Gesetzesstelle geschützten Käufer. Verschiedene Qualitäten, die diesen zu charakterisieren geeignet sind, wurden im einzelnen schon vorweggenommen. Zu beachten ist, daß vom Gesetze die Grenzen dieses Personenkreises durch die Abstellung auf „was immer für einen Käufer" sehr weit gezogen sind. Die so beliebte Einschränkung auf den Kunden ist damit von vornherein ausgeschlossen.14 Auch die viel umstrittene Bevorzugung des Bestellers - ich erinnere an das bekannte oberstgerichtliche Judikat - scheint mir im Gesetze

13 Immer ist (bei dem klaren Wortlaut des § 482 StG) als „Verkäufer" der Gewerbsinhaber, allgemeiner ausgedrückt ein Unternehmer zu verstehen. Die bisweilen geübte Praxis, auch Personen in Angestelltenrolle den Bestimmungen unserer Gesetzesstelle zu unterwerfen, erscheint uns mithin nicht einwandfrei. 14

Die fast unüberwindlichen Beweisschwierigkeiten angesichts dieser Exkulpierungsmöglichkeit seien nur angedeutet.

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nicht begründet zu sein.15 Der Besteller kommt nur insoferne auf seine Rechnung, als eine bereits verkaufte (wenn auch noch im Verkaufslokale befindliche) Ware nicht mehr Gegenstand des Weiterverkaufes von Seite des Gewerbetreibenden und mithin auch nicht taugliches Objekt einer strafbaren Verkaufsverweigerung ist; man wird dem Verkäufer auch das Recht zubilligen müssen, für den eigenen Bedarf und den seines Personales angemessene Ware zurückzubehalten. Jedwede weitere Kasuistik zur Person des Käufers erscheint uns unnötig. Es gibt eben keine Unterschiede; von allen denkbaren Fällen wird man sagen müssen, es besteht Verkaufspflicht; mag der Verkäufer noch so sehr versucht sein, Unterscheidungen zwischen den Käufern zu machen, - er muß dies bleiben lassen. Den Käufer, der nicht Zahlung, nicht Barzahlung bietet, kann er selbstverständlich zurückweisen; denn der ist ja streng genommen erfolgt ja der Kauf normalerweise Zug um Zug, nach der Schablone ,,hie Geld - hie Ware" - nicht Käufer. Nur eins wäre vielleicht noch zu diesem Punkte zu bemerken, daß es wohl gestattet sein wird, den Haushalt, die durch den Haushaltungsvorstand repräsentierte Wirtschaft als eine Einheit zu betrachten. Der Haushalt, dem bekanntlich zuerst, und zwar bereits zur Zeit des Friedens, in der Steuergesetzgebung die Rolle ähnlich der einer juristischen Person zugekommen war, ist in der Kriegsgesetzgebung als Destinatar der verschiedensten Maßregeln immer deutlicher hervorgetreten. Er ist eine Einheit, mit der die Rechtsordnung in immer höherem Maße rechnet. So dürfen wir bei der Auslegung unseres Begriffes des „Käufers" vielleicht auch den „Haushalt" als Einheit einsetzen. Dies hat, wie wir gleich sehen werden, eine zunächst dem Verkäufer entlastende, des weitern aber auch der Masse der Käufer förderliche Konsequenz. Billigt man nämlich dem Verkäufer zu, daß er dem Umfange des Kaufbegehrens Schranken auferlegt - auch dies kommt dem Käufer als Typus zu gute, denn wenn der erste sozusagen alles nimmt, bleibt für den anderen nichts - und macht man den in dieser Richtung liegenden weiteren Schritt, daß man dem Verkäufer

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Der Vorausempfang der Mehl- oder Brotkarte kann schon deswegen nicht - es läge denn ein perfekter Verkauf der bestimmten Ware vor - von der Verkaufsverweigerung exkulpieren, weil Lebensmittelkarten in der Regel nur Zug um Zug mit der dem Kartenzwange unterliegenden Ware gegeben und genommen werden dürfen, was von manchen gerichtlichen Judikaten übersehen wird. So stellt z.B. die Annahme von Brot- und Mehlkarten ohne gleichzeitige Ausfolgung der Ware eine Übertretung des § 7 letzter Absatz der n.ö. Statthalterei Verordnung vom 8. Mai 1915 Nr. 44 LGB1. Z.W. 1231/1 dar.

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zubilligt, den Käufer, der seine übermäßige Befriedigung statt durch einmaligen großen durch oftmaligen kleineren Einkauf zu erreichen strebt, bei seinem in kurzen Zeitabständen, also etwa mehrmals im Tage wiederholten Kaufbegehren zurückzuweisen, so ist es nur konsequent, auch die Umgehung dieser Überdtckung auf dem naheliegenden Wege, daß die mehreren Mitglieder eines Haushaltes bei demselben Händler den gleichen Gegenstand begehren, nicht durch Anwendung des Verweigerungs-Paragraphen zu unterstützen. Man mag also dem Verkäufer das Recht zubilligen, wenn er ein Familienmitglied mit einem bestimmten Artikel an einem bestimmten Tage bereits angemessen bedient hat, ein anderes dem Verkäufer bekanntes Familienmitglied, das etwa an demselben Tage um den gleichen Artikel kommt, zurückzuweisen. Die juristische Erklärung für die Straflosigkeit dieser Verkaufsverweigerung haben wir darin, daß wir das Ganze des Haushaltes als „Käufer" betrachten, von dem unter den angeführten Umständen, (wenn nämlich dem einen Haushaltsmitglied der Verkauf versagt wird, wofern nur einem anderen Mitglied desselben Haushalts Ware abgetreten wurde), von dem also unter den angefühlten Umständen das Urteil nicht mehr zutreffen würde, daß ihm der Verkauf schlechthin „verweigert" worden sei. Freilich sträubt sich gegen dieses Auslegungsergebnis wie überhaupt gegen die Tolerierung irgend einer Verkaufsverweigerung unter dem Gesichtspunkte einer Überdeckung des Käufers die Erkenntnis, daß wir damit den Verkäufer zum Richter des Bedarfes und der angemessenen Bedarfsbefriedigung des Käufers machen, eine Tatsache, die dadurch nur abgeschwächt, nicht aufgehoben wird, daß seine - im Augenblicke der Bedarfsäußerung fast souverän ergehende - Entscheidung (stark post festum) der Überprüfung durch das ordentliche Gericht unterliegt. Wenn man aber, wie es dem Wesen des freien Handels entspricht, der ja überhaupt prinzipiell und auch derzeit noch für die Mehrheit der Güter besteht, normalerweise dem Verkäufer das Recht einräumt, jedem auch noch so dringenden Kaufbegehren ein willkürliches „Nein" entgegenzusetzen, dann kann und darf man sich an der angedeuteten Abschwächung des teilweise eingeführten, trotzdem aber doch in unserem Wirtschaftssysteme nur ausnahmsweisen und daher schon nach alten Interpretationsgrundsätzen strikt auszulegenden Kontrahierungszwanges nicht stoßen. Abschließend wäre vielleicht noch zu erwähnen, daß vom Standpunkt des Gesetzes aus das Motiv der Verweigerung, mag es im besonderen in der Bevorzugung anderer Käufer oder in der Zurücksetzung eines bestimmten Käufers zu suchen sein - man denke an den Fall der durch konkludente Handlungen aus dem Gasthauslokal ausgeschlossenen Dame - völlig gleichgültig bleibt.

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In eigentümlicher und in ihrer Art weitgehender Weise wird der durch den § 482 StG eingeleitete Käuferschutz durch eine Maßregel ergänzt, welche „ i m Oktober 1916" - die betreffende Verordnung entbehrt des Tagesdatums - für das Gemeindegebiet von Wien ergangen ist. „Zufolge der mit Erlaß des k.k. Ministeriums des Innern vom 20. September 1916 Z. 49565, beziehungsweise mit Erlaß der k.k. nö. Statthalterei vom 24. September 1916 Z. 4008/4 erteilten Ermächtigung" erging bekanntlich, und zwar auf Grund der kaiserlichen Verordnung vom 21. August 1916 Nr. 261 RGBl., § 8 Punkt 1 und Absatz 3 1 6 , eine Kundmachung des Wiener Magistrates als politischer Behörde erster Instanz ,,betreffend den Verkauf von Lebensmitteln und sonstigen unentbehrlichen Bedarfsgegenständen", welche im besonderen verordnete: „die Beschränkung des Verkaufes von Lebensmitteln und sonstigen unentbehrlichen Bedarfsgegenständen auf bestimmte Tage und Verkaufsstunden ist verboten". 17

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Ein mit dem § 482 StG auf gewissen Gebieten völlig konkurrierender Tatbestand ist der des § 7 der Ministerialverordnung vom 20. Dezember 1915 Nr. 379 RGBl, „betreffend die Erzeugung und der Vertrieb von Brot und Gebäck": „Die Bäcker, Händler und sonstigen Brotverkäufer sind verpflichtet, den Käufern Brot auch geschnitten in Stücken in jeder verlangten Menge zu verabfolgen." Die Übertretung dieser Bestimmung ist auf Grund des § 10 derselben Verordnung von den Verwaltungsbehörden mit Geld bis zu 5000 K oder mit Arrest bis zu 6 Monaten zu bestrafen. Es liegt in solchen Fällen in der Regel eine Idealkonkurrenz mit dem Delikte des § 482 StG vor und Kompetenzstreitigkeiten zwischen Gericht und Verwaltungsbehörde liegen sehr nahe. Nichts hindert aber, daß jede der beiden Behörden auf Grund der von ihr zu handhabenden Bestimmung vorgeht. Die Praxis gibt in diesen Fällen (wohl nach dem Grundsatz der lex specialis) der administrativen Kompetenz den Vorzug. Analoge Bestimmungen wie für Brot sind bisher mit der Geltung in Wien für Mehl, Zucker und Kaffee ergangen. Bei der Verweigerung anderer Artikel bleibt aber nach wie vor ausschließlich das Gericht kompetent und der Verwaltungsbehörde erübrigt nichts als die häufig (auch von advokatorischer Seite) an sie gelangenden Anzeigen wegen Verkaufsverweigerung der zuständigen Staatsanwaltschaft abzutreten. 17 Der § 8 dieser kaiserlichen Verordnung ermächtigt den Minister des Innern, „ i m Einvernehmen mit den beteiligten Ministern zur Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit bestimmten unentbehrlichen Bedarfsgegenständen: 1. Erzeugern solcher Gegenstände sowie Handel- und Gewerbetreibenden unter Bedachtnahme auf deren Leistungsfähigkeit und wirtschaftliche Lage Aufträge hinsichtlich des Betriebes, des Absatzes, des Erwerbes, der Preise und der Buchführung" zu erteilen. Unsere Verordnung beinhaltet einen derartigen Auftrag hinsichtlich des Absatzes. Daß der Antrag von der politischen Behörde erster Instanz ergeht, erklärt sich damit, daß im Sinne des dritten Absatzes dieses Paragraphen der Minister des Innern die Statthalterei und diese wieder weiterhin den Magistrat Wien ermächtigt hat.

Verkaufsverweigerung und Verkaufsbeschränkung

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Die Berührungspunkte mit dem Tatbestande des Dardanariates, die uns denn auch veranlassen, die beiden Gesetzesstellen in einer Betrachtung zu vereinen und einander zu konfrontieren, sind auf den ersten Blick unverkennbar. Freilich sind auch weitgehende Diskrepanzen des Tatbestandes wahrnehmbar, die ja allein eine solche doppelte Regelung rechtfertigen können. Das Anwendungsfeld unserer jungen Verwaltungsverordnung ist enger und doch auch wieder weiter als das des alten Strafgesetzparagraphen. Sie zielt nur auf eine bestimmte Methode der Verkaufsverweigerung ab, die neuerdings stark eingerissen war und der als Massenerscheinung zu begegnen der strafgesetzliche Tatbestand sich als nicht recht geeignet erwiesen hatte. Die Verkaufsverweigerung eines Händlers wird zunächst individualisieren, d.h. sich gegen diesen oder jenen Käufer, namentlich gegen den Nichtkunden kehren. Wird dem Verkäufer diese individualisierende Methode unmöglich gemacht, dann beginnt er, wie die Erfahrung gelehrt hat, nicht selten zu generalisieren, d.h. er hält gegenüber jedem beliebigen Käufer, also auch gegenüber dem Stammkunden, (da er diesen nicht favorisieren darf), mit der Ware zurück. Und er tut dies, indem er durch Anschlag oder sonstige Erklärung oder faktisch, nämlich durch Geschäftssperre, den Verkauf von bestimmten Artikeln (wofern er den anderweiten Verkauf fortsetzt) oder von sämtlichen von ihm geführten Gegenständen (indem er den Laden geschlossen hält), auf bestimmte Tageszeiten oder Wochentage beschränkt. Diese Verkaufsbeschränkung (vom Standpunkte des Verkäufers aus) ist aber Verkaufsverweigerung für den Kauflustigen. Es ist eine objektive Verkaufsbeschränkung, eine an einen namenlosen Käuferkreis gerichtete, im Gegensatz zu der subjektiven Gestalt der Verkaufsbeschränkung, die wir vorhin vornehmlich im Auge hatten. In diesem Vorgehen liegt gedanklich nicht eine Aufhebung, sondern eine Häufung des Dardanariates. Freilich wird man sich zu einer Anwendung des § 482 StG schwer entschließen, wenn die Weigerung des Verkaufes nicht ausdrücklich, d.h. normalerweise mündlich, sondern durch die konkludenten Handlungen der Ladensperre, schriftlicher Ankündigungen und dergleichen erfolgt. Für diese speziellen Fälle ist dann unser neuer verwaltungsbehördlich zu verfolgender Straftatbestand der Verkaufsbeschränkung gegeben. Aber selbst bei der engsten Auslegung des Tatbestandes des § 482 StG steht er zu dem neuen Tatbestande nicht im Verhältnisse eines ausschließenden, sondern eines ihn schneidenden Kreises. Die gemeinsame Schnittfläche wird von jenen Fällen gebildet, wo sich die generelle Verkaufsbeschränkung auch als individuelle Verkaufsverweigerung äußert, oder umgekehrt, wo die ausnahmslose individuelle Verkaufs-

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III.A. Verwaltungsrecht

Verweigerung auf eine generelle Verkaufsbeschränkung schließen läßt. Ein Händler, der etwa durch Anschlag ankündigt, daß gewisse Lebensmittel erst von einer bestimmten Stunde an oder nur an einem bestimmten Tage erhältlich seien, obwohl er sie gegenwärtig vorrätig hält, und der überdies jeden Kauflustigen abweist, welcher ungeachtet dieses Anschlages den betreffenden Artikel begehrt; und anderseits ein Händler, der nur durch Abweisung eines jeden Kauflustigen, welcher einen bestimmten Artikel wünscht, zu erkennen gibt, daß er den Absatz dieses Artikels auf bestimmte Tage oder Stunden zu beschränken vorhat, vergeht sich zweifelsohne gegen beide in Rede stehenden Straftatbstände. Unsere Meinung, die wir allerdings in diesem Rahmen nicht näher begründen können, da wir uns hier nicht über das Problem der Real- und insbesondere Idealkonkurrenz von gerichtlich und verwaltungsbehördlich strafbaren Handlungen18 verbreiten können, unsere Meinung geht dahin, daß der Betreffende gerichtlich und verwaltungsbehördlich zu strafen sei, wobei ja freilich, (vorausgesetzt daß von dem parallel verlaufenden Strafverfahren beiderseits Kenntnis besteht), die eine Strafinstanz im Strafausmaß auf die von der anderen Strafinstanz verhängte Strafe billigerweise Rücksicht nehmen kann - nicht muß. Hat sich doch der Schuldige, wenngleich durch eine Handlung, so doch gegen zwei diese Handlung verpönende rechtliche Verbote, die noch dazu von zwei verschiedenen Behörden wahrzunehmen sind, vergangen: aus dieser doppelten Normwidrigkeit scheint sich mir durch einfachen Schluß die doppelte Strafbarkeit zu ergeben. Kurz soll nun noch der Kreissektor unseres politischen Straftatbestandes betrachtet werden, der außerhalb des Anwendungsgebietes des § 482 StG zu liegen kommt. Daß es einen solchen gibt, wird keiner längeren Begründung bedürfen. Selbst bei der extensivsten Interpretation des Dardanariates gibt es ein mit ihm nicht gemeinsames Anwendungsfeld für die neue Magistratskundmachung. Die Fälle, wo sich die Verkaufsverweigerung durch den Ladenschluß kundtut - es ist dies sicherlich nur eine sehr undeutliche Äußerungsform des Dardanariates, eher die bloße Äußerung der Absicht einer Verkaufsverweigerung, deren Verwirklichung in der im Strafgesetz umschriebenen Form durch diese Handlung gerade vorgebaut wird,

18 Dasselbe Problem ist ja bekanntlich auch bei der Verfolgung der gerichtlich strafbaren Preistreiberei und der verwaltungsbehördlich strafbaren Höchstpreisüberschreitung gegeben.

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oder, fast möchte man sagen: ein Versuch des Dardanariates mit untauglichen Mitteln, gerade auf diese Fälle des willkürlichen Ladenschlusses, meine ich, auf die das Strafgesetz nur bei gekünstelter Konstruktion anwendbar wäre, hat es die Magistratskundmachung wohl in erster Linie abgesehen. Freilich gibt es Schranken für dieses Verbot der Verkaufsbeschränkung, welche jedoch von der Verordnung, wie uns dünkt, mit weiser Selbstbeschränkung und insbesondere mit Vermeidung einer jeglichen verwirrenden Kasuistik nicht ausdrücklich gezogen werden. Der Verordnungstext selbst würde ja freilich - rein logisch - zunächst sogar die weitgehende Auslegung offen lassen, daß sich der Lebensmittelhandel und der Handel mit unentbehrlichen Bedarfsgegenständen (soweit eben derartige Handelsgewerbe heute bestehen oder künftig eröffnet werden) von nun an ohne zeitliche Unterbrechung abzuwickeln habe. Angesichts der laut gewordenen Vorschläge, die Verkaufsstunden im Kleinverschleiße auf die ersten Morgen- oder eigentlich auf die späteren Nachtstunden zu verlegen, mag ein solches Auslegungsergebnis vielleicht nicht einmal so sinnwidrig sein, als es auf den ersten Blick erscheint. Dem Sinne der Verordnung entspräche es jedenfalls nicht. Da man das geltende Recht als ein einheitliches Ganzes auffassen und zum Zwecke einer solchen geschlossenen Rechtsauffassung alle sachlich zusammengehörigen Normen aufeinander beziehen und feststellen muß, ob sie nicht einander ausschließen oder doch wenigstens modifizieren, müssen wir in unserem Falle die Bestimmungen über die gesetzliche Ladenschlußzeit19 heranziehen und können aus ihnen, die ja durch die in Rede stehende Verordnung weder geändert werden konnten noch sollten, das eine entnehmen, daß sich das neue Verbot der Verkaufsbeschränkung jedenfalls nur auf die durch das Ladenschlußgesetz und dessen Ausführungsverordnungen dem Lebensmittelhandel freigegebenen Geschäftsstunden erstreckt. Aber es würde sogar zu weit gehen, den Lebensmittelhandel in den von den Ladenschlußbestimmungen zugelassenen Schranken nunmehr - auf Grund der neuen Verordnung - für obligatorisch anzusehen. Auch weitergehende Beschränkungen innerhalb der gewerberechtlich geduldeten Verkaufszeit sind immerhin noch als erlaubt anzusehen. Nur eine Beschränkung, die eine Abweichung von der üblichen Geschäftszeit bedeutet - mag man nun als üblich die Übung des einzelnen Händlers oder des ganzen Handelszweiges ansehen - soll durch das neu

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Vgl. § 96e Gewerbeordnung und die hiezu ergangenen Ausführungsverordnungen.

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eingeführte Verbot hintangehalten werden. Es soll nicht eine gegebene Tatsache geändert, sondern nur einer etwa in Aussicht stehenden Tatsache vorgebeugt werden. Auf die Verkaufszeitbeschränkung als in Szene gesetzte Ausnahmsmaßregel und nicht auf eine eingelebte Erscheinung zielt es ab. Dabei mag man ja unserer Verordnung insoweit einige rückwirkende Kraft zuschreiben, als sie die Handhabe bieten mag, im Geschäftsleben aufgetretene gegen den Kunden gerichtete Maßregeln jüngeren Datums wieder rückgängig zu machen. Im Rahmen unserer neuen Einrichtung bleibt es immerhin auch möglich, dem Geschäftsmann eine angemessene Mittagspause und allenfalls auch die Zeit zur Vorbereitung neu eingetroffener Ware für den Verkauf zuzubilligen, ohne daß diese Verkaufsbeschränkung als eine Verbotsübertretung 20 qualifiziert werden müßte. - So viel über die Art der Handelsbeschränkungen, die von der Verordnung unter Strafsanktion gestellt sind! Haben wir hiebei schon ein Hinausschreiten über die Schranken des strafgesetzlich verpönten Dardanariates gesehen, (das ja, wie schon angedeutet, seinerseits auch wieder über die Schranken der Verordnung hinausgeht) 21 , so sind des weiteren noch ein paar Punkte zu erwähnen, um die der strafbare Tatbestand gegenüber dem Dardanariat erweitert ist. Spricht der § 482 StG von den Bedürfnissen des täglichen Unterhaltes, wozu wohl nur Lebensmittel, das heißt Genießbares zu zählen ist, so erstreckt die Verordnung ihre Wirksamkeit auf Lebensmittel „und sonstige unentbehrliche Bedarfsgegenstände". Auch insofern geht sie weiter als das Strafgesetz, als sie die „Lebensmittel" schlechthin anführt und nur bei den sonstigen Bedarfsgegenständen eine Unterscheidung nach Entbehrlichkeit macht, während das Strafgesetz schon bei den Lebensmitteln, deren Verweigerung allein es unter Strafsanktion stellt, zwischen entbehrlichen und unentbehrlichen unterscheidet und die Unentbehrlichkeit einengend dahin charakterisiert, daß die „Waren", welche nicht verweigert werden dürfen, „zu den notwendigen Bedürfnissen des täglichen Unterhaltes gehören" müssen. Ein Punkt, durch den sich die neue Einrichtung von der bisher bestandenen und

20

Mit der schon oben zitierten Betriebspflicht des § 53 Gewerbeordnung hat sie selbstverständlich gar nichts zu tun und tritt somit mit ihr auch nicht in Konflikt. 21 Insbesondere mit dem Verbote der Vorratsverheimlichung, die auch als solche, wenn sie nicht mit der Verkaufsverweigerung einhergeht, für strafbar erklärt ist.

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weiter verbleibenden abhebt, verdient noch besondere Hervorhebung. Das Subjekt der Rechtspflicht ist durch die Verordnung nicht ausdrücklich bezeichnet; es ergibt sich nur aus dem Objekte, in dem man ,,die Beschränkung des Verkaufes" unter Strafsanktion gestellt hat. Bezieht sich der § 482 StG ausdrücklich nur auf den „Gewerbetreibenden", worunter logischerweise nur der Gewerbeinhaber, allgemeiner der Geschäftsinhaber, bei juristischen Personen der „verantwortliche Geschäftsführer (Stellvertreter)", niemals ein Angestellter zu verstehen ist, so richtet sich die neue Verordnung an alle Personen, von denen tatsächlich eine Verkaufsbeschränkung ausgehen kann, das sind außer den Gewerbeinhabern auch Angestellte, namentlich Filialleiter, aber auch untergeordnete Angestellte, welche eigenmächtig mit den verbotenen Verkaufsbeschränkungen vorgehen. Auch die Beschränkung des strafbaren Tatbestandes auf unternehmungsweise Betriebe findet nicht statt. Die Strafsanktion des besprochenen verwaltungsbehördlichen Verbotes besteht gemäß § 10 der (ermächtigenden) kaiserlichen Verordnung vom 21. August 1916 Nr. 261 RGBl, in Geldstrafen bis zu 5000 K (also weit mehr als nach dem Strafgesetz) oder in Arreststrafen bis zu 6 Monaten. Daneben besteht hier wie dort (wenn auch im besonderen etwas abweichend geregelt) die Möglichkeit der Aberkennung eines Gewerberechtes. Niemanden werden solche Maßregeln, wie die im vorigen erläuterten, trotz der Erkenntnis ihrer Notwendigkeit voll befriedigen. In einem Notstande entstanden und zur Anwendung gelangt, ist solche Wirtschaftspolitik naturgemäß eine Halbheit, worin nicht einmal ein Vorwurf liegen kann. Den Konsumenten kann ein Schutz vor Verkaufsverweigerung dann nicht voll befriedigen, wenn die Verkaufsbeschränkung im Warenmangel begründet ist, der sich übrigens für den zwischen Produktion und Konsum vermittelnden letzten (meist kleinen) Händler nächst dem Nur-Verbraucher am meisten fühlbar macht. Im großen wirtschaftlichen Prozeß ist ja die Methode des Güterabsatzes nur von verhältnismäßig sehr untergeordneter Bedeutung. Und man darf sich somit keine zu großen Auswirkungen auf das Ganze des Wirtschaftsprozesses versprechen, wenn nur gewisse Auswüchse im Stadium des Güterabsatzes beseitigt werden. Es ist weiter zu bedenken, daß mit dem geltenden Strafrecht und Verwaltungsrecht nur in einem gewissen Umfange der Beschränkung des Absatzes begegnet wird, daß die weitestgehende Beschränkung dem wirtschaftenden Individuum nach wie vor

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freisteht, nämlich die völlige Absetzung eines bestimmten, vielbegehrten und wenig einträglichen Artikels vom Warenbestände oder die völlige Betriebseinstellung. Man mußte den Betroffenen offen lassen, sich der Regelung des Verkaufes durch die Einstellung des Betriebes zu entziehen; ein Gebot im besonderen, die begehrten Waren in einer der Nachfrage genügenden Weise vorrätig zu halten, verbot sich insolange, als man dem Geschäftsmann nicht die Verfügung über die hiezu nötigen Warenbestände garantieren kann. Die Vorschriften beziehen sich also immer nur auf vorhandene Warenbestände und beinhalten in keinem Fall die Pflicht zu deren Anschaffung. Und doch sind die besprochenen Maßregeln selbst als das Wenige, was eine - noch dazu unmittelbar beim Konsumenten einsetzende - Verteilungsregelung im Gegensatz zu einer Erzeugungsregelung besorgen kann, sehr zu begrüßen. Wenn auch der erwerbende Stand, für den ja diese Maßregeln eine Last bedeuten, nicht weniger als der Verbraucher, dessen Rolle ja hiedurch erleichtert werden soll, unbefriedigt bleibt, so kann uns das nicht wundernehmen. Ist es ja doch ein fremdes Reis, das mit den Kriegsmaßregeln unserem Wirtschaftsleben aufgepfropft wird. Mit dieser Indienststellung der bestehenden privatwirtschaftlichen Einrichtungen für den öffentlichen Verwaltungszweck der Volksernährung hat sich die Kluft geoffenbart, die zwischen freiem Handel und einem öffentlichen Amt besteht.

Die Grundlagen des Regreßanspruches der Krankenkassen nach österreichischem Recht Sicherlich eine der zweckmäßigsten Einrichtungen unseres Krankenversicherungswesens ist die Abwälzung des Versicherungsrisikos auf Unternehmer, die sich in gewisser Richtung gegen die sie verpflichtenden Bestimmungen des Versicherungsrechtes vergangen haben.1 § 32 Krankenversicherungsgesetz besagt bekanntlich: „Arbeitgeber, welche ihrer Anmeldepflicht nicht genügen, sind, unbeschadet der im § 67 bezeichneten Straffälligkeit, verpflichtet, der Kasse den gesamten Aufwand zu erstatten, welchen dieselbe auf Grund gesetzlicher oder statutarischer Vorschrift zur Unterstützung einer gar nicht oder erst nach der Erkrankung angemeldeten Person gemacht hat." Und gleicherweise bestimmt der § 121 Abs. 11 Gewerbeordnung für genossenschaftliche Krankenkassen: „Genossenschaftsmitglieder, welche ihrer Anmeldepflicht nicht genügen, sind unbeschadet ihrer Straffälligkeit verpflichtet, nicht nur die ganzen Versicherungsbeiträge nachträglich zu leisten, sondern auch den gesamten Aufwand zu erstatten, welchen die Kasse auf Grund gesetzlicher oder statutarischer Vorschrift zur Unterstützung der gar nicht oder erst nach der Erkrankung angemeldeten Personen gemacht hat." Die in der letzteren Gesetzesbestimmung bereits vorweggenommene und besonders statuierte Pflicht zur

Österreichische Zeitschrift für öffentliche und private Versicherung, 7. Jg. (1917), S. 381-395. 1 Zu der großen praktischen Bedeutung solcher Regreßansprüche, welche einem jeder bestätigen wird, der mit der Verwaltungspraxis Berührungspunkte hat, steht die stiefmütterliche Behandlung in seltenem Gegensatz, welche unserem Probleme von Seite der Theorie bisher zuteil wurde. So sei nur erwähnt, daß auch Menzels grundlegende „Arbeiterversicherung nach österreichischem Rechte", Leipzig 1893, von der knappen Skizzierung auf S. 449/50 abgesehen, dem Institute keine Beachtung schenkt. Freilich konnte man nicht annehmen, daß die wenigen Zeilen des Gesetzestextes, welche vor der Anwendung fast noch ein Rätsel umschlossen, die häufigste den Verwaltungsbehörden unterkommende Rechtsfrage des Krankenversicherungsrechtes enthalten würden.

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Nachzahlung der vom Eintritt in das versicherungspflichtige Verhältnis an bis zur Erkrankung aufgelaufenen Beiträge ergibt sich für die dem Krankenversicherungsgesetz unterliegenden Krankenkassen aus dem nächsten Paragraphen (§ 33) des Gesetzes. Sind nämlich hienach die Arbeitgeber „verpflichtet, die vollen Beiträge, welche nach gesetzlicher oder statutarischer Vorschrift für die von ihnen beschäftigten versicherungspflichtigen Personen an die Kasse zu entrichten sind, zu den durch das Statut festgesetzten Zahlungsterminen einzuzahlen", so erstreckt sich, wenn man erwägt, daß die Kassenmitgliedschaft nicht erst durch die Anmeldung, sondern bereits durch den bloßen Eintritt in die versicherungspflichtige Beschäftigung erworben wird, die Beitragspflicht des Unternehmers auf die ganze Beschäftigungsdauer, also auch auf den vor der Anmeldung liegenden Zeitraum. Die Nachzahlungspflicht bei verspäteter Anmeldung ist nur eine Spezialerscheinung der im § 33 allgemein aufgestellten Zahlungspflicht. Die Gewerbeordnung hat noch ein übriges getan und im zitierten Absatz 11 des § 121 Gewerbeordnung diese Nachzahlungspflicht ausdrücklich normiert. Da, wie gezeigt, bei verspäteter oder unterlassener Anmeldung die Krankenkasse keineswegs um ihre in dieser Zeit aufgelaufenen Beiträge kommt, vielmehr für deren wenn auch verspätete (und hiedurch gefährdete) Hereinbringung gesetzlich vorgesorgt ist, trägt die in Form des Regreßanspruchs vorgenommene Überwälzung des Versicherungsrisikos eigentlich mehr den Charakter einer Strafe oder Buße, welche zur sonstigen, wegen Übertretung des Gebotes der Anmeldung zu verhängenden echten politischen Geldstrafe (bei gewerbegenossenschaftlicher Krankenversicherung denkbarerweise auch Arreststrafe) noch ergänzend hinzutritt. Menzel (Die Arbeiterversicherung nach österreichischem Recht, S. 450) charakterisiert das Rechtsinstitut treffend als „eine Privatstrafe in der äußeren Gestalt eines Schadenersatzes". Nur der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle beiläufig bemerkt, daß diese Zahlungspflicht bei unterlassener Anmeldung auch ihr Gegenstück bei unterlassener Abmeldung hat. Auch die Unterlassung der Abmeldung - ein Delikt also, das die (ordnungsmäßig oder verspätet) erfolgte Anmeldung voraussetzt, - zieht nicht bloß die echte politische Strafe wegen der dadurch begründeten Übertretung (des § 31 Kranken Versicherungsgesetz, § 121 Abs. 10 Gewerbeordnung), sondern auch die unechte Strafe einer Verpflichtung zur Fortsetzung der Beitragsleistung trotz Aufhörens der die Versi-

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cherungspflicht begründenden Beschäftigung nach sich. „Die Beiträge sind so lange fortzuzahlen, bis die vorschriftsmäßige Abmeldung (§31) erfolgt ist" (§ 32 Kranken Versicherungsgesetz). Wir möchten demnach behaupten, daß bei verspäteter Abmeldung des Angestellten auch keine Rückersatzpflicht hinsichtlich der Beiträge für die Zeit besteht, welche der Angestellte nicht mehr bei dem betreffenden Unternehmer verbracht hat. Die Fortzahlungspflicht bei unterlassener bzw. verspäteter Abmeldung setzt nicht, wie die Nachzahlungspflicht bei unterlassener bzw. verspäteter Anmeldung, den tatsächlichen Bestand - genauer Fortbestand - eines versicherungspflichtigen Verhältnisses voraus. Obwohl die versicherungspflichtige Person aus der Versicherung ausgeschieden und damit jedes Versicherungsrisiko für die Krankenkasse entfallen ist, sind die zwischen dem Zeitpunkt des Austrittes des Angestellten und der (verspäteten) Abmeldung sozusagen „für den Angestellten gezahlten Beiträge" nicht indebite, sondern cum iure geleistet, beruhen nämlich zwar nicht auf der ordentlichen Beitragspflicht (§§ 25,33, 34 Kranken Versicherungsgesetz, § 121 Abs. 3 Gewerbeordnung), sondern auf dem Rechtsgrunde besonderer außerordentlicher Anordnung des § 33 Kranken Versicherungsgesetz und § 121 Abs. 11 Gewerbeordnung. Wenn auch der letzte Absatz des § 33 Krankenversicherungsgesetz: „... die Beiträge sind... von der Kasse an den Arbeitgeber für den betreffenden Zeitteil zurückzuerstatten, wenn die abgemeldete Person innerhalb der Zahlungsperiode aus der Beschäftigung bei dem bisherigen Arbeitgeber ausscheidet" auf den ersten Blick und für sich allein betrachtet gegen die zuletzt ausgeführte Konstruktion zu sprechen scheint, und die Auslegung zuließe, daß ein Rückforderungsanspruch hinsichtlich der nach Austritt des Versicherungspflichtigen gezahlten Beiträge bestehe, so ist andrerseits im Zusammenhalt mit dem vorhergegangenen Passus: „die Beiträge sind so lange fortzuzahlen, bis die vorschriftsmäßige Abmeldung erfolgt ist" die andere Auslegung geboten, daß sich die Rückzahlungspflicht der Kasse nur auf die Fälle ordnungsmäßiger Abmeldung beziehe, verspätete oder unterlassene Abmeldung aber mit dem Verfall sämtlicher vom Dienstgeber für den ausgetretenen Angestellten bezahlten Beiträge bestraft sei. Nur soviel soll zu diesen Ausführungen noch hinzugefügt werden, daß eine gleichartige Beitragsfoxdtmng von Seite genossenschaftlicher Krankenkassen unberechtigt wäre. Das Normale ist die Zahlung des Beitrages auf Dauer der Mitgliedschaft; dies ergibt sich nicht nur aus dem Wesen eines Beitrages, dies beruht auch auf dem Gesetzeswortlaut (§ 34 Krankenversi-

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cherungsgesetz: Beiträge, welche für die ... versicherungspflichtigen Mitglieder entfallen"). Eine andere Einrichtung bedarf besonderer gesetzlicher Anordnung. Während nun aber der § 33 Krankenversicherungsgesetz tatsächlich eine Fortzahlungspflicht der Beiträge (die unter solchen Umständen eigentlich ihr Wesen verändert haben und daher vom Gesetze nur in einem uneigentlichen Sinne so benannt werden), trotz Beendigung des Versicherungsverhältnisses kennt, ist eine derartige Rechtsfolge dem § 121 Gewerbeordnung fremd und es kommen daher bei genossenchaftlichen Krankenkassen anders als etwa bei Bezirkskrankenkassen als Folgen der unterlassenen Abmeldung nur die Straffälligkeit und eventuell eine - nicht im Verwaltungswege geltend zu machende - Schadensersatzpflicht 2 in Betracht. Durch den § 58 Kranken Versicherungsgesetz ist übrigens eine analoge Anwendung der Bestimmungen des II. Hauptstückes dieses Gesetzes, worunter sich auch die soeben besprochene Fortzahlungspflicht des § 33 befindet, auf Genossenschaftskrankenkassen ausdrücklich ausgeschlossen, wodurch die im vorigen Satz aufgestellte Rechtsanschauung bestätigt wird. Um nun auf den Regreßanspruch zurückzukommen, so ist dieser bei allen Krankenkassen durch das Zusammentreffen folgender Voraussetzungen bedingt: Bestand einer Versicherungspflicht, d.h. bei dem besonderen Zwangscharakter unserer Krankenversicherung, bloßer Antritt eines Versicherungsverhältnisses; Erkrankung des Versicherungspflichtigen (welcher gleichzeitig ipso iure Versicherter ist) und auf Seite des Dienstgebers Begehung der Übertretung des § 31 (§ 67) Krankenversicherungsgesetz oder § 121 Abs. 10 Gewerbeordnung durch Anmelde- bzw. Abmeldeverzug; schließlich als Folge der Erkrankung ein Aufwand der Kasse. a) Um diesen zunächst abzutun! Die Erkrankung muß einen gesetzlichen oder statutenmäßigen Aufwand zur Folge gehabt haben. Gerade dieser jedenfalls in Geld umzurechnende - Aufwand ist Gegenstand des Regresses; der Aufwand muß zur Unterstützung der versicherten Person gemacht worden sein. Von der Krankenkasse bestrittene Leichenkosten (Beerdigungskostenbeiträge) sind trotz ihrer Normierung im Statute im Regreßwe-

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Die darin begründet wäre, daß die Krankenkasse an eine Person, die sie wegen der Unterlassung der Abmeldung von Seite des Dienstgebers noch für versicherungspflichtig halten mußte, Versicherungsleistungen gezahlt hat.

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ge nicht hereinzubringen, sondern sind von den Krankenkassen stets selbst zu tragen. Es erscheint kaum nötig, besonders hervorzuheben, daß die Bestreitung der Leichenkosten keinen Kassenaufwand zu Gunsten der versicherten Person, genauer - dies ist der gesetzliche Ausdruck - „zur Unterstützung" des Versicherten darstellt. Vom Standpunkt jener Theorie, die den Verstorbenen in der hereditas iacens juristisch fortleben läßt, könnte dieser Aufwand, der sicherlich die hereditas iacens bereichert, unter den Aufwand, welcher Regreßanspruch gewährt, subsumiert werden, wenn eben das Wort „Unterstützung" nicht stünde. Der Verstorbene ist sicherlich untauglicher Destinatär einer Unterstützung, die Kosten seiner Beerdigung sind mithin nicht als ein im Regreßwege hereinzubringender Unterstützungsaufwand anzusehen.3 b) Um einen Dienstgeber zum Ersätze heranzuziehen, genügt es selbstverständlich nicht, daß der Erkankte jemals in dessen Diensten stand und jener sich einer Unterlassung der Anmeldung schuldig machte: Bei einer solchen wirtschaftlich ganz unmöglichen Ordnung der Dinge könnten die Krankenkassen einen guten Teil der Krankenkosten abwälzen; denn bei einem großen Teil der Versicherten wird sich nämlich wenigstens einmal während ihrer beruflichen Betätigung der Fall ereignet haben, daß einem Arbeitgeber ein Versehen der Anmeldung unterlaufen ist. Damit wäre für die Krankenkassen eine Art permanenter Rückversicherung entstanden, damit hätten sie bei einem großen Teil ihrer Mitglieder eine Person zur Verfügung, an welcher sie sich für jeden Krankheitsfall des betreffenden Versicherten schadlos halten könnten und wäre die betreffende Person Zeit ihres Lebens und auf die Dauer der Mitgliedschaft ihres seinerzeitigen

3 Die in den „Amtlichen Nachrichten des Ministeriums des Innern", 6. Jg. (1894) unter Nr. 40, S. 521 unter dem Schlagworte: „Auch Beerdigungskosten gehören zu dem Aufwände, für den der säumige Arbeitgeber aufzukommen hat" publizierte Entscheidung des k.k. Ministeriums des Innern steht auf dem entgegengesetzten Standpunkte: der Magistrat in R hatte im Sinne des Begehrens einer Kasse auf Ersatz der Beerdigungskosten erkannt, „weil der im § 32 Kranken Versicherungsgesetz vorgesehene Ersatz den gesamten der Kasse erwachsenen Aufwand und mithin auch die Beerdigungskosten" umfasse, während die Statthalterei der gegenteiligen Anschauung war. Wenn das Ministerium des Innern über Rekurs der Kasse den erstinstanzlichen Ausspruch und dessen Gründe wiederherstellte, so übersah es, daß die fragliche Gesetzesstelle der Kasse nicht den gesamten Aufwand (wie die erstinstanzliche Entscheidung behauptet), sondern bloß den „Unterstützungsaufwand" zuspricht; der letztere Begriff erweist sich aber bei näherem Zusehen als enger. - Menzel (a.a.O.) möchte die Beerdigungskosten zuerkennen.

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Angestellten bei der betreffenden Krankenkasse in Gefahr, zum Ersätze der Krankenkosten herangezogen zu werden. Es genügt aber unserer Ansicht nach zur Zulässigkeit des Regreßbegehrens auch nicht, daß das die Versicherungspflicht begründende Arbeits- oder Dienstverhältnis, dessen Anmeldung vom Dienstgeber unterlassen wurde, zuletzt (als letztes) bestanden, vor der Erkrankung aber aufgehört hat. Anders ausgedrückt: Während der Arbeitslosigkeit - selbstverständlich eine Fortsetzung der Versicherung gemäß § 13 Abs. 2 Kranken Versicherungsgesetz, § 121 Abs. 8 Gewerbeordnung, von der ja jede Leistung der Kasse überhaupt abhängt, vorausgesetzt - hat für die Krankenkosten ihrer Mitglieder stets die Krankenkasse aufzukommen, ohne daß eine Regreßmöglichkeit gegeben wäre. Die Krankheit muß, um den mit der Anmeldung säumigen Unternehmer ersatzpflichtig zu machen, im Laufe des Dienstverhältnisses oder, an dieses sich unmittelbar anschließend, sozusagen als dessen Abschluß eintreten. Ist das Dienstverhältnis ordnungsmäßig beendet und etwa gar die pflichtgemäße Abmeldung vollzogen, dann besteht für die Kasse de lege lata keine Möglichkeit, sich am Dienstgeber, der die Anmeldung unterlassen hat, schadlos zu halten. Die im § 32 angedrohte Folge der Ersatzpflicht ist (anders als die dadurch unberührte und an die Verjährungsfrist gebundene Straffolge) behoben. Jede andere Terminierung der Ersatzpflicht ist sicherlich willkürlicher als diese; eine zeitlich unbeschränkte Ersatzpflicht ist, wie gezeigt, ein Nonsens. Dem § 32 Krankenversicherungsgesetz und dem § 121 Abs. 11 Gewerbeordnung ist eine zeitliche Terminierung nicht zu entnehmen. Den § 13 Abs. 2, dem die zeitlichen Grenzen der Unterstützungspflicht der Krankenkassen zu entnehmen sind, kann man, da er etwas grundsätzlich anderes zum Gegenstande hat, nicht zur Bestimmung eines Termins der Ersatzpflicht heranziehen. Nach der zuletzt zitierten Gesetzesstelle bleiben die aus einer versicherungspflichtigen Stellung ausgetretenen Personen solange Mitglieder der Krankenkasse, als sie die Beiträge fortbezahlen. Soll ebensolange der letzte Dienstgeber, wofern er die Anmeldung unterlassen hatte, für den Krankheitsfall haften? Werden, was im Falle der Arbeitslosigkeit sehr häufig zutreffen wird, die Beitragsleistungen eingestellt, so bleibt doch der Anspruch auf die Kassenleistungen durch vier Wochen gewahrt; im Falle der Erwerbslosigkeit nach § 13 Abs. 3 durch sechs Wochen. Hier hätten wir einen Endtermin für den Regreßanspruch der Krankenkassen, welcher in der

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Praxis sicherlich, wenn auch mit Unrecht, eine ziemliche Rolle spielt. Womit läßt sich begründen, daß die Ersatzpflicht vom Zufall der Fortzahlung oder Einstellung der Beitragszahlung abhängt? Und nimmt man nicht eine zeitlich schwankende Ersatzpflicht an, sondern verallgemeinert den vierwöchigen Termin - wo liegt die rechtliche ratio für diese Verallgemeinerung? Es gilt hier einem verwirrenden Irrtum vorzubeugen: Der § 13 Krankenversicherungsgesetz handelt von der zeitlichen Begrenzung der Kassenleistungen; es wäre nun ein Trugschluß, wenn man meinen wollte, ebensoweit müsse die Ersatzpflicht reichen. Es fragt sich im Falle des § 32 Krankenversicherungsgesetz und des § 121 Abs. 11 Gewerbeordnung eigentlich gar nicht, bis wann der Dienstgeber haftet - wie es sich im § 13 Krankenversicherungsgesetz fragt, bis wann die Kasse Krankenunterstützungen zu leisten hat - , es fragt sich, für welche Krankheit der Dienstgeber im Regreßwege aufzukommen hat, für welche Person er die Krankheitskosten zu zahlen hat. - Und da ist wohl, wenn das Gesetz nichts anderes sagt, als daß für „gar nicht oder erst nach der Erkrankung angemeldete Personen Ersatz zu leisten sei", die nächstliegende Antwort jene, die Ersatzpflicht erstrecke sich auf Personen, die im Erkrankungsfall beim Anmeldepflichtigen im Dienst standen. Es fehlt jegliche Beziehung zwischen Erkrankung und Arbeitsverhältnis, wenn ein Zeitraum der Arbeitslosigkeit dazwischen liegt. Ein anderes etwaiges Bedenken, das sich an die Voraussetzung der Erkrankung knüpfen könnte, wird mit wenigen Worten aufgeklärt sein. Der Regreßanspruch der Krankenkassen ist an die Bedingung geknüpft, daß der Versicherungspflichtige entweder gar nicht oder erst nach der Erkrankung angemeldet worden ist. „Erst nach der Erkrankung" - diese Worte sind cum grano salis zu nehmen. Nicht jeder Fall einer der Erkrankung nachfolgenden Anmeldung bedeutet Ersatzpflicht, weil nicht in allen diesen Fällen die Anmeldung verspätet ist. Wenn die Erkrankung bereits während der ersten drei Beschäftigungstage, also vor Ablauf der zur Anmeldung freigegebenen dreitägigen Frist erfolgt, so ist, wenn nur die Anmeldung noch rechtzeitig erfolgt, ein Regreßanspruch ausgeschlossen, da man von einem solchen Dienstgeber nicht sagen kann, daß er seiner „Anmeldepflicht nicht genügt" habe. c) Weitere Voraussetzung des Regreßanspruches ist nämlich - damit kommen wir auf den zweiten Hauptpunkt zu sprechen - ein Verzug in der

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Anmeldung.4 Der Verzug muß sich in der Person des Dienstgebers ereignet haben. Die Bestimmung dieser Person ist nicht so heikel wie etwa die jener Person, welche Subjekt der an derselben Gesetzesstelle statuierten Strafbarkeit ist. Langt überhaupt keine Anmeldung ein, dann liegt haftpflichtbegründender Verzug des Dienstgebers jedenfalls vor. Nachzuprüfen, ob etwa der Dienstgeber selbst - bei juristischen Personen ein bestimmtes Organ - die Anmeldung erstattet hat, geht nicht an. Die unmittelbar Anmeldepflichtigen können sich zur Erfüllung dieser Pflicht ohneweiters eines Vertreters oder Boten bedienen. Diese Rolle kann insbesondere auch der anzumeldende Versicherungspflichtige selbst spielen. Sollte allerdings einmal unwahrscheinlicherweise ohneweiters feststehen, daß sich der Anmeldepflichtige um die Anmeldung nicht gekümmert hat und die Anmeldung vom Versicherungspflichtigen aus freien Stücken besorgt wurde, so wäre dem bei solcher Sachlage gestellten Regreßbegehren Folge zu geben; ein solcher Dienstgeber hat offenbar in keiner Weise seiner Anmeldepflicht genügt; die tatsächlich erfolgte Anmeldung muß wenigstens irgendwie auf seinen Auftrag zurückzuführen sein. Den Auftrag darf man bei der einzelnen Anmeldung unbewiesen annehmen; sollte aber ein Gegenbeweis vorliegen, dann darf man den Dienstgeber von der Ersatzpflicht nicht loszählen. Um so weniger

4

Für die denkbaren Fälle des Regreßanspruches ergibt sich nach unseren Ausführungen folgender Plan: 1. Anmeldung vor Ende des dritten Tages - Erkrankung nach Ende: Kein Regreß. 2. Anmeldung vor Ende des dritten Tages - Erkrankung vor Ende, aber nach der Anmeldung. Kein Regreß. 3. Anmeldung vor Ende des dritten Tages - Erkrankung vor Ende, aber auch vor Anmeldung: Kein Regreß (Mangel eines Verzuges). 4. Anmeldung nach Ende des dritten Tages - Erkrankung vor Ende des dritten Tages: Regreß. 5. Anmeldung nach Ende des dritten Tages - Erkrankung nach Ende und vor der Anmeldung: Regreß. 6. Anmeldung nach Ende des dritten Tages - Erkrankung nach Ende und nach der Anmeldung: Kein Regreß. (Die Anmeldung war zwar verspätet, aber nicht durch die Erkrankung veranlaßt, die Rechtsfolgen beschränken sich also außer der Nachzahlungspflicht auf die Bestrafung.) Wie das Schema zeigt, ist es nicht von voller Symmetrie beherrscht. Den drei möglichen Verhältnissen zwischen Anmeldung und Erkrankung, die durch rechtzeitige und damit den Regreßanspruch ausschließende Anmeldung charakterisiert sind, stehen nur zwei Fälle verspäteter Anmeldung gegenüber, die von der Ersatzpflicht begleitet sind. Wenn also einerseits zwar jeder Fall einer rechtzeitigen Anmeldung eine Ersatzpflicht ausschließt, so löst andererseits nicht jeder Fall verspäteter Anmeldung einen Ersatzanspruch aus, sondern nur die Fälle der Anmeldung nach der Erkrankung.

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genügt es zur Bestreitung des Regreßanspruches, daß ein Auftrag des Dienstgebers vorlag, dem aber tatsächlich nicht entsprochen wurde. Auch dieser Dienstgeber hat der Anmeldepflicht nicht genügt. Er darf sich zwar eines Vertreters oder Boten bedienen; was aber dieser unterläßt, geht auf des Auftraggebers Risiko. Nach diesem Prinzip trägt der Dienstgeber auch die Gefahr des Postenlaufs. Angemeldet ist eine versicherungspflichtige Person doch nur, sobald das Versicherungsinstitut im Besitz dieser Anzeige ist. Der Dienstgeber mag sich allenfalls am Boten oder Vertreter, namentlich also an dem mit der Besorgung des Verkehrs mit der Krankenkasse betrauten Angestellten regressieren, die Krankenkasse kann und darf sich aber - daran zweifelt wohl niemand - mit ihrem Regreßanspruch an den Dienstgeber selbst halten, und dieser kann weder die strafrechtliche Verantwortlichkeit 5, noch insbesondere die Ersatzpflicht mit der Begründung von sich abwälzen, er habe eine bestimmte Person mit diesen Agenden betraut. Aus dem ganzen Zusammenhang geht schon hervor, daß die Ersatzpflicht, ebenso wie übrigens auch die strafrechtliche Verantwortlichkeit, von jedwedem psychischen Tatbestande völlig unabhängig ist. Eine Theorie, die mit der Voraussetzung eines psychischen Verschuldens operierte, würde im Gesetze keinerlei Anhaltspunkte haben. Auf Grund des Gesetzes genügt die bloße Tatsache der Nichtanmeldung; ja weniger sogar, die bloße Tatsache, daß die Anzeige bei der Krankenkasse nicht eingelangt ist. Ist die Anzeige unterwegs in Verlust geraten, so ist fürwahr jedes psychische Verschulden ausgeschlossen, nicht so aber, wie bereits gezeigt, die Ersatzpflicht. 6 Menzel 5

Diese geht sonst ihre besonderen Wege; die gemäß § 121 Gewerbeordnung oder § 32 Krankenversicherungsgesetz strafbare und die ersatzpflichtige Person ist also nicht in allen Fällen identisch: Ersatzpflichtig ist die juristische Person, strafbar ihr verfassungsmäßiger Vertreter; bei Gewerben ist auch, wo der Inhaber eine physische Person ist, der etwa bestellte Geschäftsführer für die Übertretung verantwortlich, und die Zahlungspflicht bezüglich der Regreßkosten trifft trotzdem immer den Gewerbsinhaber. - Wenn hier und im folgenden von strafrechtlicher Verantwortlichkeit die Rede ist, so handelt es sich selbstverständlich immer nur um Verwaltungsstrafrecht. Dieses besteht bekanntlich darin, daß die Unterlassung der Anmeldung mit Geldstrafen bis zu 20 K, bei Genossenschaftskrankenkassen (rein zufällig mangels einer besonderen Strafsanktion) nach dem allgemeinen Strafsatze des § 131 Gewerbeordnung mit Geldstrafen bis zu 1000 K bedroht ist, an deren Stelle unter Umständen sogar Arreststrafe bis zu drei Monaten treten kann (§135 Gewerbeordnung). 6

Auch die Frage, ob ein Verschulden des säumigen Anmeldepflichtigen Vorbedingung der Ersatzpflicht sei, ist bekanntlich in der Judikatur bestritten. Das Gesetz schweigt über diese Frage - und scheint sie mir dadurch eindeutig beantwortet zu haben. Nach dem klaren

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(a.a.O., S. 450) nimmt ein Verschulden des Arbeitgebers als Voraussetzung seiner Ersatzpflicht an. Dies über die Person des Anmeldepflichtigen, welche mit der Person des Ersatzpflichtigen (nicht so in allen Fällen mit der des strafrechtlich Verantwortlichen) zusammenfällt! Der Verzug, welcher sich in dieser Person ereignet haben muß, besteht in der Versäumnis der im § 31 Kranken Versicherungsgesetz und § 121 Abs. 10 Gewerbeordnung aufgestellten Frist. d) Die letzte oder eigentlich erste Voraussetzung für den Regreßanspruch, die uns nunmehr abschließend am eingehendsten beschäftigen soll, bildet der Bestand eines versicherungspflichtigen Verhältnisses. Das Problematischste an der Bestimmung des Kreises der Versicherungspflichtigen, wie ihn das österreichische Recht gezogen hat, ist sicher,

Wortlaut des Gesetzes hat nämlich auch sicherlich der „seiner Anmeldepflicht nicht genügt", welcher - nehmen wir den extremsten Fall - , durch eine vis maior außerstande gesetzt war, die Anmeldung vorzunehmen. Der gesetzliche Tatbestand, der in Frage kommt, ist schlechthin die „unterlassene Anmeldung"; dieser Tatbestand trifft zu, auch wenn von den üblichen Merkmalen des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit nichts vorhanden ist. Man kann ja eben (nach dem Vorbilde Kelsens, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübigen 1911) diesen, für eine psychologische Betrachtung völlig irrelevanten Tatbestand, wie überhaupt jeden Fall der gesetzlichen Zurechnung einer Unrechtsfolge als „verschuldet" bezeichnen; nur muß man sich eben vor Augen halten, daß darunter nicht immer und so insbesondere auch nicht in unserem Falle dieses höhere, oder besser andere Maß von Verschulden, das ethische Verschulden gemeint ist, welches einen psychischen Tatbestand voraussetzt, den man insbesondere unter den Worten Vorsatz und Fahrlässigkeit versteht. Vorsatz oder Fahrlässigkeit nehmen z.B. als Vorbedingung des Regreßanspruches die Ministerialentscheidungen an, welche in den „Amtlichen Nachrichten des Ministeriums des Innern" unter Nr. 57 im Jg. 1894 (S. 601) und unter Nr. 16 im Jg. 1898 (S. 85) publiziert sind, während eine Reihe von Verwaltungsgerichtshofentscheidungen auf dem gegenteiligen Standpunkt steht; so sagt das Erkenntnis vom 5. März 1897, Z. 1307 („Amtliche Nachrichten" Nr. 24 ex 1897) „Schädigungsabsicht oder ein sonstiges Verschulden gehören nicht zu den Voraussetzungen dieser Gesetzesbestimmung". Die Entscheidung vom 3. Juni 1898, Z. 2956 („Amtliche Nachrichten" Nr. 3 ex 1989) sagt desgleichen: „Ebensowenig ist es von Einfluß, ob auf Seite des Beschwerdeführers böse Absicht vorgelegen hat", und das Erkenntnis vom 23. Dezember 1899, Z. 20.293 („Amtliche Nachrichten" Nr. 17 ex 1899) legt den § 32 Krankenversicherungsgesetz dahin aus, daß er „keineswegs wie der § 67 eine von dem subjektiven Verschulden des Arbeitgebers abhängige Strafe normiere."

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ob der Bestand eines tatsächlichen Dienst- oder Arbeitsverhältnisses, der Bestand eines darauf gerichteten rechtlichen Vertragsverhältnisses oder das Zusammentreffen des Faktischen mit dem Normativen Kriterium der Versicherungspflicht ist. Das Gesetz schweigt darüber und überläßt, indem es die Worte Angestellter, Dienstgeber usw. einfach ausspricht, ohne eine Legaldefinition zu bieten, deren Begriffsbestimmung der Wissenschaft. Diese wissenschaftliche Funktion kann und soll selbstverständlich in diesem Rahmen nicht erfüllt werden. Auch der Frage soll hier nicht nähergetreten werden, ob ausnahmslos der Wissenschaft die Begriffsbestimmung übertragen ist, oder ob sich nicht gerade für das in diesem Rahmen gegebene Hauptproblem aus der Rechtsordnung eine Lösung ergäbe, die die Jurisprudenz mit Gesetzesauslegung zu ermitteln vermöchte. Mit jedem Regreßbegehren wird nun zum mindesten auch dieses eine Hauptproblem aktuell, ob das konkrete Arbeitsverhältnis als faktisches oder rechtliches oder in dieser doppelten Qualität (welche dieser drei Möglichkeiten zutrifft, ist quaestio facti) eine Versicherungspflicht begründet. Jede Entscheidung über ein Regreßbegehren muß für ihr Bereich, für diesen einen konkreten Fall zum mindesten diese allgemeine Frage zu lösen versuchen und schlecht und recht lösen. In jeder Spezialfrage, etwa ob diese oder jene Begrufsgruppe versicherungspflichtig sei, ist sie mit enthalten: Wodurch, durch die faktische Berufstätigkeit oder durch das Vertragsband oder etwa nur durch das Zusammentreffen der beiden Momente ist ein Angehöriger dieser Berufsgruppe als Arbeiter oder Betriebsbeamter qualifiziert? Und wo auch über die prinzipielle Zugehörigkeit der bestimmten Berufsgruppe ein Zweifel nicht besteht, ist eben immer doch die Frage offen, durch welche Momente ein versicherungspflichtiger Angehöriger eben dieser Berufsgruppe qualifiziert wird. - Mit der Problemstellung sei in dieser Richtung genug gesagt! Nun sei nur noch der einen Frage nachgegangen, ob irgend welche Umstände diese Voraussetzung des Bestandes eines versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses zu ersetzen vermögen, ob Ersatz der Krankenkosten auch auf einer andern Rechtsgrundlage als auf Grund des Bestandes eines Versicherungsverhältnisses angesprochen werden kann. Diese Frage wird zu bejahen sein, jedoch mit dem Zusatz, daß es sich in diesem Falle nicht mehr um ein nach § 32 Kranken Versicherungsgesetz oder § 121 Abs. 11 Gewerbeordnung zu stellendes Regreßbegehren handeln kann. Der Bestand eines Arbeitsverhältnisses (sei es, daß man als solches eine tatsächliche Arbeitsleistung oder eine

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Vertragspflicht zu einem Leistensollen versteht) ist unumgängliche Voraussetzung eines Regreßanspruches. 1 Welche andere Momente, denen man etwa suppletorische Eigenschaft zuschreiben könnte, kämen da allenfalls für einen Ersatzanspruch in Betracht? Es handelt sich insbesondere um die - sicher nicht allzu seltene - Tatsache, daß durch ein Handeln oder Unterlassen des Dienstgebers bei der Krankenkasse der Irrtum entstanden ist, es bestehe ein Arbeitsverhältnis, und daß die Krankenkasse in diesem Irrtum die Krankenunterstützung geleistet hat. Die Krankenkasse begehrt nun, nachdem sie über diesen Irrtum aufgeklärt ist, Ersatz der Krankenkosten und beantragt, wenn der Dienstgeber den Ersatz verweigert, bei der Aufsichtsbehörde, das ist bei der politischen Behörde erster Instanz, Fällung eines Zahlungs-(Ersatz-)Erkenntnisses gemäß § 32 Krankenversicherungsgesetz oder § 121 Abs. 11 Gewerbeordnung. Dieser Antrag, bzw. das durch ihn zum Ausdruck gebrachte Zahlungsbegehren wird abzuweisen sein. Ein praktischer Fall: Der Beamte (Buchhalter) einer Handelsfirma kündigt rechtzeitig und tritt mit Ende eines Monats aus dem Dienste seiner Firma aus, da er am nächsten 15. zum Militär einrücken soll. Während er die nächsten Tage bei seinen Angehörigen fern vom bisherigen Dienstort verbringt, wird der Einrückungstermin um einen Monat verschoben, und er kehrt an seinen Dienstort zurück, um für diese Zeit bis zum erstreckten Einrückungstermin seinen Dienst neuerlich anzutreten. Die Firma zahlt zwar den Gehalt bis zur Einrückung weiter, verzichtet jedoch für die kurze Zeit bis zur Einrückung auf irgend welche Dienste. Der gewesene Angestellte erscheint zwar noch öfter im Geschäftshause, jedoch nur um seine ehemaligen Kollegen zu besuchen, und kommt zum letzten Mal einige Tage vor seiner Einrückung, um sich zu verabschieden. Bei dieser Gelegenheit verlangt er ein Zeugnis, das in der Personalabteilung schablonenmäßig ausgestellt und vom Tage der Ausstellung datiert wird. Es wurde also die unwahre Tatsache bescheinigt, daß N.N. „bis heute ... Dienste geleistet" habe. Tags darauf - also noch vor der

7 Dies zu betonen, ist, wie selbstverständlich es manchem auch vielleicht erscheinen mag, deswegen wohl nicht unbegründet, weil sich hie und da das Bedürfnis und das Bestreben geltend macht (namentlich bei schwerer Erweisbarkeit des Arbeitsverhältnisses) das Regreßbegehren auf eine etwas geänderte rechtliche Grundlage zu stellen.

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Einrückung - erkrankt er und die Krankenkasse liquidiert auf Grund des falschen Zeugnisses, das ihr produziert wird, das Krankengeld. Vorsichtshalber hat sie sich bei der Firma sogar noch telephonisch erkundigt und von einer Angestellten - die objektiv richtige, subjektiv jedoch falsch verstandene Auskunft erhalten, N.N. sei noch da, erst vor einigen Tagen habe sie ihn gesehen. Und wenn zu all dem noch der Umstand tritt, daß der Gehalt, dieses wichtige Indiz eines Dienstverhältnisses, während der kritischen Zeit noch gelaufen ist - genügt dies nicht, den Regreßanspruch der Kasse unerschütterlich zu sichern? Ein Zeugnis der Firma, wonach das Dienstverhältnis im kritischen Zeitpunkt aufrecht bestand, eine Auskunft, wenn auch nicht von der Firma selbst, so doch aus ihrem Geschäftshause, von Seite einer Person, die es wissen konnte, eine Auskunft also, die den Inhalt des Zeugnisses bestätigte, und obendrein noch die Tatsache der Gehaltszahlung welche Sicherheiten verlangt man noch, wenn die Kasse bei solcher Sachlage nicht sicher gehen soll, welche Vorsichten mutet man der Kasse noch zu, daß sie sich vor Schaden bewahre? Unsere Kasse zahlt demnach das Krankengeld und begehrt darauf Ersatz ihres Aufwandes, indem sie sich auf den naheliegenden Standpunkt stellt, die ursprüngliche (den Tatsachen entsprechende) Abmeldung sei fälschlich erfolgt oder durch einen Wiedereintritt des Angestellten überholt und die pflichtgemäße neuerliche Abmeldung sei ordnungswidrig unterlassen worden (während in Wirklichkeit mangels eines neuerlichen oder fortgesetzen Dienstverhältnisses zu einer Abmeldung wie Anmeldung gar kein Anlaß vorgelegen hatte). Unseren Tatbestand (daß ein Dienstverhältnis nicht bestanden hat) vorausgesetzt, ist das Regreßbegehren unbegründet. Es stützt sich eben gar nicht mehr auf die gesetzliche Voraussetzung (des Bestandes eines Dienstverhältnisses), sondern auf gewisse Vorkommnisse, die diesen Bestand ersetzen sollen, Vorkommnisse, unter denen ein irgendwie schuldhaftes Verhalten oder Unterlassen des Dienstgebers eine besondere Rolle spielt. Selbstverständlich kann dieses Verschulden nicht in der Unterlassung der Anmeldung liegen: diese ist ja voraussetzungsgemäß ordnungsmäßig erfolgt oder war mangels eines Dienstverhältnisses überhaupt gar nicht nötig. Das Verschulden der Firma kann also nur darin bestehen, daß durch ihr Handeln bei der Krankenkasse der Schein entstanden ist, daß ein Fall von Versicherungspflicht gegeben sei. Die Firma hat z.B. an den Angestellten den Gehalt fortbezahlt. Niemand wird allerdings auch nur de lege lata behaupten, daß ein solcher Akt der Liberalität, falls er von der Krankenkasse mißdeutet wird, den Dienstgeber obendrein zur Ersatzleistung zwingen. Anders kann das Urteil wohl schon

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ausfallen, wenn die Firma der Krankenkasse eine Auskunft erteilt hat dahingehend, daß das Dienstverhältnis aufrecht bestehe (obwohl es bereits beendet und seither nicht mehr neu begründet ist) und nunmehr die Kasse in der unrichtigen Annahme der Versicherungspflicht ihre statutenmäßigen Leistungen erbringt; wobei allerdings die Frage, ob die Erklärung durch eine die Firma tatsächlich repräsentierende Person erfolgt ist, einer gründlichen Prüfung bedarf. Oder gar, wenn die Firma eine solche Auskunft unter Berufung auf ein fälschlich ausgestelltes Zeugnis erteilt (was praktisch wohl nur dann der Fall sein kann, wenn sich der Dienstgeber keines Versehens bei der An- oder Abmeldung bewußt ist). Aber auch die bloße Ausstellung eines falschen (in diesem Falle den Austrittstag unrichtig datierenden Zeugnisses) als eine im Sinne des § 81 Abs. 3 Gewerbeordnung strafbare Handlung vermag vielleicht die Firma haftbar zu machen, wenn die Krankenkasse auf Grund dieses etwa vom erkrankten Mitglied beigebrachten Zeugnisses eine Versicherungspflicht (und damit ihre eigene Versicherungspflicht) als bestehend angenommen hat. Doch hat die Krankenkasse, wenn sie ihre Ersatzforderung mit solchen Argumenten (statt des Argumentes des Bestandes eines versicherungspflichtigen Verhältnisses) stützt, diese Forderung auf eine geänderte Basis gestellt; es handelt sich in allen diesen vorangeführten Fällen nicht mehr um eine Regreßforderung auf Grund des Krankenversicherungsgesetzes oder der Gewerbeordnung eine Forderung, der die elementarste Rechtsgrundlage, nämlich ein Versicherungsverhältnis, eine Versicherungspflicht mangelt - , sondern um Schadenersatzforderungen, deren Rechtsgrundlagen darin zu erblicken sind, daß die Firma in einem vom Dienstgeber verschuldeten Irrtum statutengemäße Beiträge geleistet hat, zu deren Zahlung sie rechtlich nicht verpflichtet gewesen wäre. Gerade dieses letzte Moment wird man nämlich nicht übersehen dürfen. Wäre sowieso die Kasse statutengemäß zur Beitragsleistung verpflichtet gewesen (etwa infolge freiwillig fortgesetzter Mitgliedschaft oder, da die im § 13 Krankenversicherungsgesetz statuierte vier-, bzw. sechswöchige Frist der Zwangsmitgliedschaft nach Endigung des letzten die Versicherungspflicht begründenden Dienstverhältnisses noch nicht abgelaufen war), so kann im zivilrechtlichen Sinn von einem ersatzpflichtig machenden „Schaden" nicht gesprochen werden und bedürfte die (trotz Schadenslosigkeit erwünschte) Ersatzpflicht ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung (wofür das beste Beispiel gerade unser - in diesem Falle eben nicht zutreffender - § 32 Krankenversicherungsgesetz bietet).

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Kleidet sich ein bei solcher Sachlage gestelltes Kassenbegehren in die Form einer Regreßforderung gemäß § 32 Krankenversicherungsgesetz oder § 121 R 11 Gewerbeordnung, so ist es einfach abzuweisen, da die Rechtsgrundlage für ein solches besonderes Begehren nicht vorliegt; Begründung ist hier der zugegebene oder sonstwie erwiesene Mangel eines Dienstverhältnisses, dem keine sonstigen Erscheinungen irgend welcher Art gleichzuhalten seien. Geht aber das Kassenbegehren einfach auf Ersatz des Unterstützungsaufwandes, so ist es wegen sachlicher Unzuständigkeit der Verwaltungsbehörde, das ist genauer wegen Unzulässigkeit des Verwaltungsweges, abzuweisen. Denn weder der § 32 Krankenversicherungsgesetz noch etwa der § 41 - handelt es sich doch nicht etwa um einen Streit über Versicherungsbeiträge! - , also keine der beiden Gesetzesstellen, die die politischen Bezirksbehörden zur Rechtsprechung über Kassenansprüche berufen, kommen in unseren Fällen in Frage. In allen diesen Fällen erweist sich das Kassenbegehren als unbegründet, weil nicht in der hiefür allein möglichen Form der gerichtlichen Schadenersatzklage erhoben. Dasselbe gilt, wie schon an früherer Stelle angedeutet wurde und nunmehr abschließend etwas näher ins Auge gefaßt werden soll, für den Verzug in der Abmeldung. Hat ein Dienstgeber einen ordnungsgemäß angemeldeten Angestellten abzumelden vergessen oder war er, was ohneweiters vorkommen kann, darüber im Zweifel, ob ein versicherungspflichtiges Verhältnis noch bestehe oder nicht, und hat er nur deshalb die Abmeldung unterlassen, obwohl vorausgesetztermaßen das versicherungspflichtige Verhältnis beendet war, und hat nun die Krankenkasse dem angemeldeten, aber bisher noch nicht abgemeldeten Arbeiter Krankengeld bezahlt, so haben wir hierin ein Schulbeispiel für einen Ersatzanspruch, der auf der Übertretung der verwaltungsrechtlichen Vorschrift zur Abmeldung beruht. Wir möchten für diesen Fall nicht einmal verlangen, daß sich die Krankenkasse vor Flüssigmachung des Krankengeldes durch eine Anfrage beim Dienstgeber vergewissere, ob das Dienstverhältnis aufrecht bestehe. Diese Endigung aus eigener Initiative bekanntzugeben ist Sache des Dienstgebers, für die Unterlassung ist er der Kasse haftbar. 8 Trifft den Dienstgeber eine unter Strafsanktion stehende

8 Solange er allerdings noch nicht in Abmelde Verzug ist, das heißt z.B. in dem Falle, daß der Angestellte am zweiten Tage nach dem Austritt erkrankt, am dritten jedoch ordnungsgemäß abgemeldet wird, ist ein Ersatzanspruch der Kasse nicht nur mangels eines Schadens, sondern auch mangels eines Verschuldens des Dienstgebers ausgeschlossen.

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Abmeldepflicht, so trägt er auch zivilrechtlich für den aus der Übertretung dieser Pflicht entsprungenen Schaden die Verantwortung und kann, wenn auch die Kasse die erwähnte Anfrage beim Dienstgeber unterläßt, von einem (sie des Schadenersatzanspruches beraubenden) Verschulden auf ihrer Seite oder von einem geteilten Verschulden (wodurch ihr Schadenersatzanspruch geschmälert würde), vernünftigerweise keine Rede sein. Voraussetzung für solche Ansprüche wegen Verzuges in der Abmeldung ist auch hier wieder, daß ein Schade entstanden ist, das heißt, daß, wenn der Dienstgeber pünktlich seiner Abmeldepflicht nachgekommen wäre, die Pflicht der Krankenkasse zur Unterstützung nicht bestanden hätte. Innerhalb der vier Wochen des § 13 Abs. 2 oder der sechs Wochen des § 13 Abs. 3 Krankenversicherungsgesetz ist also der Dienstgeber vor dem Ersatzbegehren geschützt. Erst wenn er über diese Fristen hinaus mit seiner Abmeldung im Verzuge ist - eine Verjährung dieses Deliktes ist ausgeschlossen - , tritt zur Strafbarkeit die Schadenersatzpflicht. Aber es handelt sich eben um eine im ordentlichen Rechtsweg geltend zu machende Schadenersatzpflicht. Ein Erkenntnis der Verwaltungsbehörde über die Frage, ob der Dienstgeber zur Ab- oder Anmeldung verpflichtet war, insbesonders also auch ein Straferkenntnis wegen Übertretung der Anmelde- oder Abmeldepflicht, kann für die gerichtliche Entscheidung präjudiziell sein9, meritorisch hat aber in unserer Sache die Verwaltungsbehörde auf keinen Fall zu entscheiden. Bei der unterlassenen Abmeldung eines beendeten Dienstverhältnissess fehlen nicht minder als bei der unterlassenen Anmeldung eines nicht bestehenden (aber von der Krankenkasse als bestehend angenommenen) Dienstverhältnisses die rechtlichen Grundlagen für ein gemäß § 32 Krankenversicherungsgesetz oder § 121 Abs. 11 zu erhebendes und von der politischen Behörde zu beurteilendes Regreßbegehren. 10

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Der Zivilprozeß wird in solchen Fällen zur Feststellung der Frage der Versicherungspflicht im Administrativ verfahren zu vertagen sein. 10

Die Form des Regreßerkenntnisses der Verwaltungsbehörde wird der eines zivilrechtlichen Leistungserkenntnisses analog sein, also etwa lauten: „N.N. ist schuldig, der Krankenkasse X.Y. den Betrag von ... als Ersatz für ... zu bezahlenIn unserer auf die Grundlagen unseres Rechtsinstitutes abgestellten Untersuchung würden weitere Betrachtungen über die Geltendmachung und den behördlichen Zuspruch des Ersatzes zu weit führen.

Gewerberecht und Kriegsdienst Eine Erscheinung, die im Frieden sicherlich nur ausnahmsweise sich ereignete, tritt jetzt massenweise auf: daß nämlich gewerbeberechtigte Personen in militärischen Diensten stehen.1 Daß Personen, welche bereits die Großjährigkeitsgrenze überschritten und bereits ein Gewerbe angemeldet hatten, noch vor der Ableistung ihrer Präsenzdienstpflicht standen, kam sicherlich nur selten vor, daß aber Personen, welche zur normalen Zeit ihren Präsenzdienst leisteten, bereits gewerbeberechtigt gewesen wären, war, von den Fällen früherer Entlassung aus der väterlichen Gewalt oder Großjährigkeitserklärung abgesehen, bei der üblichen Interpretation des § 2 der Gewerbeordnung durch die Gewerbebehörden, (wonach ein Mindeij ähriger schlechthin gewerberechtsunfähig sei), ausnahmslos ausgeschlossen. Als Selbständiger tritt man in das Erwerbsleben eben im allgemeinen erst nach der Ableistung des Präsenzdienstes ein. Hingegen hat die allgemeine Mobilisierung selbstverständlich eine Unzahl von Gewerbeberechtigten betroffen und haben die folgenden Einberufungen immer mehr Gewerbetreibende dem Erwerbsleben entzogen. Anderseits tritt, zumal bei den vielfach außerordentlich verbesserten Erwerbsverhältnissen, der in vielen Zweigen gesteigerten Konjunktur, immer öfter der Fall ein, daß sich eine noch nicht gewerbeberechtigte oder erst in einer gewissen Beziehung berechtigte Militärperson zur Anmeldung eines neuen Gewerbes veranlaßt sieht. Die ungeheure Häufung der Fälle des Zusammentreffens von Militärdienstpflicht und Gewerberecht läßt also die Frage nach dem gegenseitigen Verhältnisse dieser beiden rechtlichen Erscheinungen aktuell erscheinen, im besonderen aber das Problem auftauchen, ob und wie dieses Recht und diese Pflicht einander modifizieren oder gar ausschließen.

Zentralblatt für die juristische Praxis, Bd. 35 (1917), S. 569-587. 1

R. von Pachmann befaßte sich unter dem Titel „Einfluß der Kriegsdienstleistung auf den gewerblichen B e r u f in der Zeitschrift für Verwaltung (Jg. 1916 Nr. 18/19) mehr mit der privatrechtlichen Seite dieses Verhältnisses. Die praktisch wichtigsten verwaltungsrechtlichen Fragen auf unserem Gebiete blieben bisher unerörtert.

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Für die Betrachtung ergeben sich da zwei unterschiedliche Sachlagen: Die eine, daß ein Gewerbeberechtigter in die Militärdienstpflicht eintritt, die andere, daß eine aktive Militärperson ein Gewerberecht zu erwerben wünscht. Für den ersten Blick kann es überhaupt fraglich sein, was an der Tatsache, daß ein Gewerbeberechtigter einzurücken hat, zum juristischen Problem zu werden vermöchte. Man wird eben einberufen und hat daraufhin (daran wird überhaupt in keinem Fall gezweifelt 2) einzurücken. Daß das Recht als solches nicht berührt wird, steht außer allem Zweifel. Das Eigentumsrecht, das Erbrecht, jedwedes Obligationenrecht, Ehe- und Kindschaftsverhältnisse werden ja ebensowenig modifiziert. Aber dem steht gegenüber, daß schon in strafrechtlicher Beziehung Änderungen eintreten: nicht nur im Forum der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, sondern insbesondere auch im Gegenstande der rechtlichen Pflichten; so unterliegt man statt dem Zivil- dem Militärstrafgesetze. Nicht nur auf Grund des Dienstreglements, das ja insoweit zu manchen verfassungsrechtlichen Bedenken Anlaß geben könnte, sondern insbesondere auch auf Grund verfassungsrechtlicher Gesetze gehen politische Rechte mit dem Augenblick des Übertrittes in das aktive Dienstverhältnis verloren; es sei nur an den § 7 der Reichtsratswahlordnung erinnert, wonach aktiv dienende Militärpersonen vom aktiven und passiven Wahlrecht zum Reichsrate ausgenommen sind. Also könnten das Erlöschen oder mindestens Änderungen solcher subjektiver Rechte, wie es das Gewerberecht ist, (das überdies nach herrschender Lehre unter dem Titel eines öffentlichen Rechts den politischen Rechten näher steht als dem Eigentümer oder sonstigen privaten Recht) - immerhin im Bereiche der Denkmöglichkeit gelegen sein. Ein gegenseitiger gedanklicher Ausschluß von militärischer Dienstpflicht und Gewerberecht ist nicht anzunehmen.3 Aus sozialethischen Erwä-

2

Daß diese Konsequenz nicht ganz unbedingt außer Diskussion steht, bezeugt der Ministerialerlaß vom 7. August 1960 Z. 24.692, indem er die ,,nicht einberufene Reservemannschaft" zum Betriebe von Gewerben zuzulassen gestattet, ,,ohne daß dieselbe dadurch von der Einberufung zum Dienste befreit würde". 3

Die Worte Hellers, Kommentar zur österreichischen Gewerbeordnung I S. 55, „ M i t dem aktiven Militärdienst ist schlechtweg jede Gewerbeausübung unvereinbar", gehen, wenn sie einer positivrechtlichen Gegebenheit Ausdruck verleihen sollen, unstreitig zu weit. Die folgende Bemerkung „Personen des Militärstandes dürfen, solange sie im aktiven

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gungen eine Inkompatibilität zwischen obligatorischem militärischen und freiem gewerblichen Beruf abzuleiten, würde im positiven Rechte keine Stütze finden. Es fehlt auch an einer positivrechtlichen Bestimmung, welche für den Fall der Militärdienstleistung - ähnlich etwa dem Ausschlüsse der Auswanderungsfreiheit - die gewerbliche Freiheit aufheben würde. Aber ebensowenig wie von einer Aufhebung kann von einem Ruhen der gewerblichen Freiheit, insbesondere des Gewerberechts die Rede sein. Ist die Ausübung des Gewerberechts von Seite eines Wehrpflichtigen faktisch auch ausgeschlossen, so ist sie rechtlich doch unbehindert. Es liegt höchstens ein Nichtkönnen und nicht ein Nichtdürfen vor. Beim Gewerberechte ist noch zu berücksichtigen, daß es keineswegs persönlich ausgeübt werden muß; oder vielmehr, daß es von Rechts wegen als persönlich ausgeübt gelten kann, auch wenn der Berechtigte keinerlei gewerbliche Tätigkeit verrichtet. Man wird sogar soweit gehen dürfen, eine - zum mindesten zeitweilige - Gewerberechtsausübung anzunehmen, von der der Gewerbsinhaber überhaupt nichts weiß, ohne daß dadurch seine Qualität als Gewerbsinhaber berührt wäre, ohne daß sie als auf den negotiorum gestor übergegangen, oder richtiger als in dessen Person neu entstanden angenommen werden müßte. Voraussetzung ist nur, daß das Gewerberecht in seiner Person entstanden, d.h. von ihm oder in seinem Vollmachtsnamen angemeldet worden war und daß der Betrieb in seinem Namen und auf seine Rechnung erfolgt. Der Fall, daß etwa das Gewerbe eines Kriegsgefangenen, ohne daß er es weiß, von seinen Angehörigen fortbetrieben wird, wird sich sicherlich nicht selten ereignen. In diesem wie in manchem anderen Belange stehen sich aber Kriegsgefangene und Militärpersonen gleich; militärrechtlich ist ja auch jener eine aktive Militärperson. 4

Dienste stehen, zu keinerlei Gewerbebetrieb zugelassen werden" bedeuten eine zutreffende Einschränkung und besagen offenbar viel weniger als das vorstehende Zitat. Alle Konsequenzen aus der ersten Aufstellung dürfte sicherlich auch Heller nicht zu ziehen geneigt sein. Auch die Bemerkung Schmids (Österreichisches Staatswörterbuch II. Bd. S. 755 ff. ,,Die bürgerlichen Rechtsverhältnisse der Militärpersonen"): ,,Nach der österreichischen Gewerbeordnung können Heerespersonen vom Gewerbebetriebe ausgeschlosen werden" ist nicht ganz zutreffend. Den richtigen Sachverhalt gibt Schmid in seinem „Heeresrecht der österreichisch-ungarischen Monarchie" wieder, daß nämlich „Militärpersonen durch besondere Vorschriften ausgeschlossen werden können". - Auf die Zitate wird an späterer Stelle noch zurückzukommen sein. 4

Vgl. Schmid, Heeresrecht der österreichisch-ungarischen Monarchie, Wien 1903 S. 119.

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Doch selbst wenn nur eine persönliche oder - um jedes Mißverständnis auszuschließen - selbsttätige Ausübung des Gewerberechts denkbar wäre, würde es in seinem Bestände durch die gleichzeitige (ich sage absichtlich nicht: entgegenstehende) Militärdienstpflicht nicht berührt sein. Zusammenfassend kann somit auf Grund des bisher Ausgeführten festgestellt werden: Nach der Gestaltung der Wehrpflicht in Österreich bleibt bei deren Erfüllung das Gewerberecht gleich allen anderen Rechten unberührt aufrecht; das ergibt sich daraus, daß die Rechtsordnung ein ausdrückliches oder mittelbares Verbot unterläßt und sich rechtliche Inkompatibilitäten niemals von selbst verstehen. Dieser Fortbestand des Rechts gibt aber niemals einen Anspruch, sondern nur die Möglichkeit auf Ausübung, welche prinzipiell allerdings, damit nicht bloß ein nudum ius, also eigentlich ein juristisches Nichts übrig bleibe, gewahrt sein muß. Der Inhalt der Wehrpflicht bringt es mit sich, daß die selbsttätige Gewerberechtsausübung nicht bloß faktisch unmöglich gemacht, sondern auch rechtlich - im Verbotswege - ausgeschlossen werden kann. Der besonderen Gestaltung des Gewerberechts ist es aber wieder zu verdanken, daß, wenn auch die selbsttätige Ausübung faktisch und rechtlich ausgeschlossen ist, das subjektive Gewerberecht auch während des Kriegsdienstes erhalten bleibt. ,,Inwieferne ... Militärpersonen ... von der Ausübung von Gewerben ausgeschlossen sind, bestimmen die bezüglichen Vorschriften" (§ 4 Gewerbeordnung). Damit hat die Gewerbeordnung von vornherein eine bis zur völligen Gewerberechtsunfähigkeit gehende Einschränkung der gewerblichen Freiheit der Militärpersonen vorgesehen. Von diesem weitgehenden Blankette haben jedoch die Militärgesetze, die als spätere Gesetze dieses Blanketts gar nicht bedurft hätten5, nicht im entferntesten Gebrauch gemacht. Die zitierte Gesetzesstelle denkt dabei zugleich auch an ein Verbot der Betriebseröffnung, also an die gesetzliche Möglichkeit, die Gewerbeawmeldung einer Militärperson zurückzuweisen. Wie sich später zeigen wird, ist auch in dieser Richtung die Wehrgesetzgebung keineswegs dem weitgehenden Blankette der Gewerbeordnung gefolgt.

5 Ganz wertlos ist ein derartiges Blankett übrigens niemals, da es immer fraglich werden kann, inwieweit eine spätere Pflicht ein früheres Recht, ein späteres Recht eine frühere Pflicht, wenn sie nicht das nämliche Verhalten, nur gewissermaßen mit bloßem Wechsel des Vorzeichens, zum Gegenstande haben, einander aufheben.

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Nach der wirklichen Rechtslage bleibt also das Gewerberecht mit der Einrückung unberührt aufrecht. Die Tatsache, daß man einberufen wird, ist in Bezug auf das Gewerberecht derart wirkungslos und geht die Gewerbebehörde ebensowenig an, wie wenn sich der Gewerbetreibende auf eine Reise oder auf Erholung begibt. Keine Spur von einer Anzeigepflicht außer in den Fällen der Betriebspflicht, wofern die Einrückung die Betriebseinstellung im Gefolge haben würde. Beim Bäcker-, Fleischer- und ein paar anderen Gewerben besteht gemäß § 53 Gewerbeordnung die Pflicht, die beabsichtigte Betriebseinstellung vier Wochen früher der Gewerbebehörde anzuzeigen. Auf den Fall der Einrückung, die ja in der Regel nicht vorauszusehen ist, angewendet, bedeutet das, daß der Gewerbetreibende dieser Kategorien verpflichtet ist, für eine Fortführung des Betriebs - sei es auch ohne seine Mitwirkung - durch vier Wochen von seiner Einrückung ab Sorge zu tragen: bei den Verhältnissen der allgemeinen Mobilisierung zwar wohl häufig eine schlankweg unerfüllbare, nichtsdestoweniger aber zu Recht bestehende Pflicht, von deren Erzwingung durch die Gewerbebehörden freilich mit gutem Grunde in der jetzigen Kriegszeit abgesehen wurde. 6 Bei allen anderen Gewerben und bei den genannten dann, wenn eine Betriebseinstellung nicht beabsichtigt war, erheischte jedoch die Einrückung keinerlei gewerberechtlich relevante Maßnahme, mochte nun die Betriebseinstellung erfolgen, die ja bekanntlich in der Regel bis auf die vorgenannten Ausnahmsfälle keiner gewerbebehördlichen Anzeigepflicht unterliegt, oder mochte unbekümmert um die Einrückung der Betrieb seinen Fortgang nehmen, wogegen im Gewerberechte gar kein und im Militärrecht, wie noch zu zeigen sein wird, nur ein bedingungsweises Hindernis gelegen ist. Dabei ist es gleichgültig, ob den weiteren Betrieb der Gewerbsinhaber persönlich oder eine andere Person besorgte oder auch nur leitete. Ob und wie weit der Gewerbsinhaber seine Arbeitskraft auf das Unternehmen wendet, ist ja bekanntlich für seine Inhaberqualität ohne Belang. Charakteristisch für ihn ist nur, daß er seinen Namen für das Gewerbe hergibt und daß das Unternehmen (wenn auch nicht ausschließlich) auf seine

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Anderseits hat man bekanntlich, um anderen in dieser Zeit vorgefallenen und mit dem Krieg begründeten Betriebseinstellungen, die eine Resistenz bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln verrieten, von der Handhabe des § 53 Gebrauch gemacht.

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Rechnung geht.7 Keinem Gewerbsinhaber ist es verwehrt, gewerbliche Hilfskräfte zu halten, durch die er alle gewerblichen Funktionen bis hinauf zur Betriebsleitung versehen läßt. Alle diese Personen sind von der Qualität als Gewerbsinhaber - von dem sie sich in Bezug auf ihre Tätigkeit im Betriebe gar nicht zu unterscheiden brauchen, dadurch ausgeschlossen, daß es in dem Unternehmen bereits einen Gewerbsinhaber gibt, in dessen Diensten sie eben stehen. Es ist in einem Unternehmen nur ein Gewerbsinhaber denkbar, hingegen ist die Zahl des gewerblichen Hilfspersonals ausgenommen den Geschäftsführer, bei dem die Praxis in mißverständlicher Auslegung des unbestimmten Artikels im § 3 Gewerbeordnung (ein Geschäftsführer) als Zahlwort ebenfalls das Erfordernis der Einzahl annimmt 8 - ziffermäßig unbeschränkt. Selbst die vorerwähnte Betriebspflicht ist keine Pflicht zu einem persönlichen Handeln; zu persönlichen Leistungen kann der Gewerbsinhaber nur kraft Privatrechts verpflichtet sein. Solche Verträge, die den Fortbetrieb sicherstellen, kann also der Gewerbsinhaber nach Belieben schließen und insbesondere kann er auch einen Geschäftsführer bestellen, ohne daß die Gewerbebehörde dadurch rechtlich interessiert wäre. Trotz seiner Einrückung gilt eben noch immer er gewissermaßen als sein eigener Geschäftsführer - die anderen, privatrechtlich berufene und tatsächlich tätige Person beginnt die Verwaltungsbehörde von Rechts wegen erst in dem Augenblicke zu interessieren, wo sie gemäß § 55 Gewerbeordnung als Geschäftsführer namhaft gemacht oder um ihre Genehmigung eingekommen wurde. Dieser Grundsatz leidet nur bei Gast- und Schankgewerben eine Ausnahme, wo das tatsächliche Geschäftsführerverhältnis, das nicht gleichzeitig ein rechtlich sanktioniertes ist, für unzulässig erklärt wurde. „Der Betrieb solcher Gewerbe durch einen Stellvertreter oder Pächter ohne vorher erlangte Genehmigung durch die Gewerbebehörde wird sowohl an dem Gewerbeinhaber als an den Stellvertreter oder Pächter ... geahndet" § 19 Abs. 4 Gewerbeordnung.

7 Es fällt dieser Sachverhalt annähernd mit dem sogenannten Unternehmer-/?/s/fco zusammen. 8 Sachlich hat diese Auslegung das für sich, daß diese Person eben an Stelle des notwendig einen Gewerbsinhabers die Leitung des Unternehmens inne hat.

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Der jetzt im Kriege häufigste Fall, daß einfach die Frau das Gewerbe des eingerückten Gatten ohne alle weiteren Umstände, insbesondere ohne eine gewerbebehördliche Anzeige fortbetreibt, ist also - wofern der bisherige Inhaber nur auch weiterhin wirtschaftlich Herr des Gewerbes bleibt - gewerberechtlich völlig korrekt, und die weit verbreitete Meinung, daß man, indem man diese Verhältnisse duldet, aus purer Gnade, aus freiwilliger „Berücksichtigung der Besonderheit der Lage" weiß Gott was für eine Ungesetzlichkeit toleriere, durchaus unangebracht. Das etwaige Verlangen, daß die Frau (ungefähr in Analogie zum Fortbetrieb durch die Witwe im Sinne des § 56 der Gewerbeordnung) einen „geeigneten Geschäftsführer" namhaft mache - ein Verlangen, das hie und da bei solchen Gewerben, welche an einen Befähigungsnachweis geknüpft sind, gestellt werden dürfte - würde nur eine gesetzlich korrekte Sachlage ins Gegenteil verkehren. Abgesehen davon, daß der Frau oft die Vollmacht mangeln dürfte, einen Geschäftsführer namhaft zu machen, ist sie hiezu in allen diesen Fällen der mangelnden derartigen Vollmacht schon aus dem Grunde außerstande, weil dadurch in die (durch die Einrückung unberührte) „Selbstgeschäftsführung", wie man vielleicht diese eigenartige Geschäftsführungsbefugnis 9 des Mannes als des Gewerbsinhabers nennen kann, eingegriffen werden würde. Dieser hat sich durch die Einrückung ebensowenig wie seines Gewerberechts, seiner Geschäftsführungsbefugnis begeben, sondern hat sie, da kein rechtsverwirkender Akt vorging, zur Gänze beibehalten. Die Geschäftsführung im Sinne der Gewerbeordnung ist ein rechtlicher Begriff, welcher mit dem der „tatsächlichen Geschäftsführung" nicht in ein und derselben Person zusammentreffen muß. Die Geschäftsführungsbefugnis des Gewerbsinhabers schließt die Verfügungsmacht über die tatsächliche Geschäftsführung in sich. Eine Besonderheit der Gewerbeordnung ist nur das Weitere, daß sie dem Gewerbsinhaber sogar über das a priori ihm zukommende Recht der eigenen Geschäftsführung ein Verfügungsrecht gewährt. Nicht bloß die tatsächliche Geschäftsführung, sondern insbesondere auch das Geschäftsführungsrecht mit allen Eigentümlichkeiten dieses spezifisch gewerberechtlichen Instituts kann er auf andere Personen übertragen.

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Es ist das ein Charakteristikum des Gewerberechts, das mit dem sogenannten Selbstbedienungsrecht des Gewerbetreibenden (§37 Gewerbeordnung) einige Ähnlichkeiten aufweist.

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Hat der einrückende Gewerbsinhaber seine Frau oder die sonstige Person, die für ihn ,,die Geschäfte führt", nicht ausdrücklich zum Geschäftsführer bestellt (wozu bei konzessionierten Gewerben überdies noch die gewerbebehördliche Genehmigung erforderlich ist), so liegt auch keine Möglichkeit vor, diesen (gewerblichen) „de facto"-Geschäftsführer nach der Gewerbeordnung zu behandeln, insbesondere ihn der Strafbestimmung des § 137 Gewerbeordnung zu unterwerfen. Es bleibt vielmehr nach wie vor der Gewerbsinhaber verantwortlich, da er ja den Akt unterlassen hat, durch den allein er - unter den weiteren Voraussetzungen des soeben zitierten § 137 — die Verantwortlichkeit von sich schieben kann, das ist die Geschäftsführerbestellung in der vom § 56 vorgezeichneten Form. Die vielleicht bedauerliche Tatsache, daß der Gewerbsinhaber, von dem wir ja vorausetzen, daß er eingerückt ist, de facto und de iure dieser Verantwortung entzogen sein kann, daß also niemand da ist, welcher die Pflichten des Gewerbsinhabers prästieren würde, kann an unserer letztangeführten Konsequenz nichts ändern. Bekanntlich - oder möglicherweise ist es in weiteren Kreisen unbekannt, denn zum mindesten die Gewerbebehörden setzen sich über diese Bestimmung absichtlich hinweg - bekanntlich sind nämlich die Militärpersonen für die Verwaltungsbehörden, welche sie wegen polizeilicher Delikte zu strafen hätten, nicht bloß wegen der - noch dazu besonders qualifizierten Entfernung unerreichbar, sondern auch, selbst wenn sie sich am Sitze der Verwaltungsbehörde befinden und wenn sie auch faktisch und nicht bloß juristisch die Täter sind, der Strafkompetenz der Verwaltungsbehörde aus dem juristischen Grunde des § 50 des Wehrgesetzes entzogen. „Die aktiven Militärpersonen unterliegen den militärischen Strafgesetzen und Disziplinarvorschriften. ... Wegen der nicht den Gerichten zur Aburteilung zugewiesenen strafbaren Handlungen mit Ausnahme der Gefällsübertretungen, werden diese Personen durch die militärischen Behörden im Disziplinarwege bestraft." Somit devolviert auch die Strafkompetenz bei Übertretungen der Gewerbeordnung, falls sie von aktiven Militärpersonen (i. w. S.) begangen werden, auf militärische Instanzen. Daß dieser Sachverhalt die größten sachlichen Bedenken gegen sich hat, daß es praktisch nahezu undurchführbar ist, daß sich militärische Stellen mit den zahlreichen polizeilichen Übertretungen, die, wie etwa jene der Gewerbeordnung, dem militärischen Ideenkreise fernliegen und mit spezifischen Disziplinarvorschriften nichts zu tun haben, befassen, daß also diese Delikte bei Beachtung des § 50 Wehrgesetz vielfach ungeahndet bleiben müssen, kann auch an dieser Kon-

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sequenz - an der Inkompetenz der Verwaltungsbehörden bei Polizeistrafsachen von Militärpersonen - wieder nichts ändern. Auch die unbestreitbare Tatsache, daß man die durch den Krieg geschaffenen Verhältnisse - Militarisierung eines großen Teils der Bevölkerung, der aber doch nebenbei, sei es auch durch Stellvertreter, für welche Verantwortlichkeit besteht, dem bürgerlichen Berufe nachgeht - , daß man ferner, wenn diese Verhältnisse vorauszusehen gewesen wären, sicherlich hinsichtlich dieser Personen die normale Strafkompetenz aufrechterhalten haben würde, erlaubt uns nur das Urteil, daß hier eine sogenannte Lücke im Gesetz vorliege, jedoch nicht die weitergehende Behauptung, daß diese Lücke de lege lata im Sinne einer Strafkompetenz der politischen Behörden auszufüllen sei, wo doch die Regelung de lege lata evidentermaßen im entgegengesetzten Sinne getroffen ist und daher unsere Erwägung nur de lege ferenda sprechen kann. Wenn trotzdem die Praxis namentlich gegen solche Militärpersonen, die zur Kriegsdienstleistung eingerückt sind, daneben aber ihren bürgerlichen Beruf ausüben, wegen spezifischer Berufsdelikte die Strafen verhängen, die im allgemeinen auf diese Delikte gesetzt, von denen sie aber von Gesetzes wegen eximiert sind, so ist das eine sehr wohl zu rechtfertigende, aber juristisch nicht zu erklärende Praxis, zu der man via facti, aber nicht via iuris gekommen ist. Die Praktikabilität läßt tatsächlich schwerlich ein anderes Auskunftsmittel. Man denke an eine der häufigsten gewerbepolizeilichen Übertretungen, an die Überschreitung der Ladenschlußzeit. Der zum Militärdienst eingerückte Kaufmann, der in den Abendstunden Gelegenheit hat, seinen Geschäften nachzugehen, hält z.B. - solche Fälle kommen vor konsequent seinen Laden über die Zeit offen, während seine im Zivilverhältnis stehenden Konkurrenten gezwungen sind, pünktlich zu schließen; zur Gewerbebehörde geladen, verweist er auf seine militärische Eigenschaft, die ihm offenbar im Sinne des Gesetzes vor seinen Konkurrenten einen Vorsprung gibt. Die Zwangsmaßregeln des § 152 stünden der Gewerbebehörde selbstverständlich auch gegen ihn als Militärperson zu Gebote. Wenn diese Gesetzesstelle ausspricht: ,,Bei Vollziehung der Straferkenntnisse und sonstiger Anordnungen ist die Behörde berechtigt, die zur Sicherung des Erfolgs nötigen Maßregeln zu ergreifen, als: Beschlagnahme von Waren und Werkzeugen, Außerbetriebsetzung von Maschinen, Schließung von Betriebsstätten", so sind diese Maßregeln, sei es nun als sichernde Maßnahmen oder Exekutionsmittel, keinesfalls aber als Strafen zu verstehen, welche ja gemäß § 50 Wehrgesetz auf Militärpersonen unanwendbar wären. Die Gewerbebehörde könnte auf Grund dieser weitgehenden gesetz-

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liehen Ermächtigung nicht nur selbst täglich zur vorgeschriebenen Stunde den Ladenschluß in des Wortes wörtlichstem Sinne vornehmen, sondern auch wegen konsequenter Mißachtung eines im bestimmten Fall speziell ergangenen Auftrags zum Ladenschluß mit der dauernden Geschäftssperre vorgehen. Während sich jenes Mittel mit Rücksicht auf die Behörde selbst verbietet, die ja nicht Organe zum täglichen pünktlichen Ladenschluß beistellen kann, stellt sich dieses wieder für den Gewerbsinhaber als viel empfindlicher dar als die Strafe nach § 96 e Gewerbeordnung, nach der man zweckmäßigerweise greifen wird. Einige Vertrautheit mit den praktischen Verhältnissen schließt von vornherein den Gedanken aus, militärischen Stellen diese Anzeigen allesamt abzutreten, was sich als nötige Konsequenz aus der Anordnung des § 50 Wehrgesetz ergeben würde, ohne daß freilich dessen Kodifikatoren eine solche Konsequenz im Auge gehabt hätten. - Auch die Übertretung der eigentlichen Arbeiterschutzbestimmungen wird rationellerweise nur von der Gewerbebehörde überwacht und geahndet werden können. Was sich insbesondere für diese zivilbehördliche Strafpraxis anführen läßt, ist der Umstand, daß die Bestraften insofern, als sie ihrem Gewerbebetriebe nachgingen, doch aus dem Zusammenhange mit dem militärischen Verbände mehr oder weniger gelöst sind. Wenn sie die Vorteile der gleichzeitigen Berufserfüllung haben, so sollen sie auch die daran geknüpften Pflichten erfüllen. Nicht mehr so leicht würde sich diese Strafpraxis verfechten lassen, wenn Militärpersonen das Gewerbe nicht selbsttätig, sondern durch faktische Stellvertreter ausüben. Hiezu zunächst einige Vorbemerkungen: Der Umstand, daß ein eigenes Handeln und Unterlassen nicht feststellbar, ja geradezu ausgeschlossen ist, enthebt nicht von der Straffälligkeit. Bekanntlich ist den gewerbepolizeilichen, wie überhaupt den verwaltungsrechtlichen Straftatbeständen ein sogenannter subjektiver Tatbestand in der Regel fremd. Ein allgemeines Schuldprinzip fehlt gänzlich. Subjektiv-psychische Momente sind überhaupt nur dann zu berücksichtigen, wenn sie vom Gesetze ausdrücklich in den betreffenden Tatbestand aufgenommen sind, wie z.B. von der Gewerbeordnung die Voraussetzung der,,Wissentlichkeit" für die Strafbarkeit des Eingriffs in ein fremdes Gewerberecht (§§ 46, 47 Gewerbeordnung). Dieser Übertretung kann sich also ein Gewerbetreibender niemals durch einen faktischen Vertreter schuldig machen. Der Übertretung der Arbeiterschutzbestimmungen, der Überschreitung gewerbebehördlich festgesetzter Maximaltarife (§51 Gewerbeordnung), der unrichtigen

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äußeren Bezeichnung (§ 49 Gewerbeordnung), der Nichtersichtlichmachung der Preise (§51 Gewerbeordnung), der Übertretung der besonderen Vorschriften delegierter Verordnungen bei sogenannten Polizeigewerben (§ 54 Gewerbeordnung) usw., macht sich jeder Gewerbetreibende schuldig, der sie nicht einfach erfüllt oder für ihre ausnahmslose Erfüllung gesorgt hat, mag nun irgend ein dolus oder eine culpa im Spiele sein oder nicht, mag er von ihrer Erfüllung wissen oder nicht - mag er auch (etwa dadurch, daß er auf einer Auslandsreise begriffen ist) physisch ganz außerstande sein, für ihre ausnahmslose Erfüllung Sorge zu tragen. Und straffällig bleibt auch immer der Gewerbetreibende selbst, niemals devolviert die Strafe auf die für diesen oder jenen Pflichtenkreis vom Gewerbsinhaber bestellte Hilfsperson, etwa auf den Angestellten, der die Anmeldung und Abmeldung des einund austretenden Hilfspersonals zu besorgen hat, mag auch die betreffende Person dem Gewerbsinhaber für die Erfüllung dieser Vertragspflicht privatrechtlich haftbar sein. So schließt also auch nicht der Umstand, daß sich der Gewerbsinhaber an der Front befindet, die Straffälligkeit aus, sondern einzig und allein die oft zitierte gesetzliche Bestimmung des § 50 Wehrgesetz, die hinwiederum Geltung hat, gleichgültig, in welcher militärischen Verwendung der Gewerbsinhaber steht, ja selbst wenn er, sei es nun erlaubterweise oder sogar disziplinwidrig selbsttätig seinem Gewerbe nachgeht, und die die Rechtswirkung mit sich bringt, daß er sogar in dem letztgenannten Falle trotz Vorliegens des objektiven Tatbestands einer Übertretung der Gewerbeordnung vor der Gewerbebehörde exkulpiert ist. Wenn diese aber in den letzteren Fällen immerhin mit einiger Begründung die Strafgewalt ausüben wird, so fällt, außer daß die nötige gesetzliche Handhabe fehlt, auch die hiefür sprechende opportunistische Erwägung im ersteren Falle weg, ganz abgesehen davon, daß eine solche Strafamtshandlung aus der Distanz, - der Beschuldigte steht etwa an der Front - in den meisten Fällen auch praktisch undurchführbar sein würde. Bei dieser Sachlage dürfte sich aber für die Gewerbebehörde um so mehr das Bedürfnis geltend machen, es mit einer verantwortlichen Person zu tun zu haben, an die sie sich insbesondere bei Übertretungen der Gewerbeordnung halten kann. Wenn jedoch eine solche Person vom Gewerbeinhaber nicht prästiert wurde, so gibt es für die Gewerbebehörde von Gesetzes wegen kein Auskunftsmittel - selbst kreieren kann sie sich eine solche Person unter keinen Umständen, außer wiederum auf der juristisch indiskutablen via facti - , als daß sie eben straft, obwohl ihr die Strafbefugnis

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mangelt. Mit der subjektiven Waffe, welche die Strafen des § 131 ff. darstellen, ist einem solchen Betriebe gesetzlich nicht beizukommen, es bleibt nur die objektive des bereits zitierten § 152 Gewerbeordnung, die schon angeführten Zwangsmittel, die, wenn sie die Strafen auch nicht entbehrlich machen, doch vielfach an ihre Stelle treten könnten und unter den heutigen Verhältnissen, die ansonsten, wie gezeigt, nur ungesetzliche Auskunftsmittel bieten, eine weitergehende Beachtung verdienen würden. Wie sich nun einerseits die Gewerbebehörden nicht selten eine Verantwortlichkeit der Gewerbsinhaber erzwungen haben, wenn diese auch der militärischen Jurisdiktion und Disziplin unterstehen, so kann man noch viel häufiger den anderen Vorgang, wodurch für den gesetzlich nicht zu packenden Betrieb praktisch eine persönliche Verantwortlichkeit hergestellt wird, beobachten, daß nämlich die nächst oder neben dem Gewerbsinhaber oder an dessen Stelle im Betriebe dominierende Person so behandelt wird, als ob sie Gewerbsinhaber oder - das ist die häufigste Fiktion, - als ob sie Geschäftsführer wäre. 10 Hier - bei der Frage der Straffälligkeit eines Vertreters - sind ebenso wie bei der der Straffälligkeit des Gewerbsinhabers zwei Fälle auseinanderzuhalten. Steht der zum Militärdienst eingerückte Gewerbsinhaber auch weiter selbst dem Betriebe vor, und nimmt die als Stellvertreter in Betracht kommende oder von der Gewerbebehörde in Betracht gezogene Person auch wirtschaftlich und sozial die zweite Stelle ein, was gleichzeitig den Ausschluß von der Leitung der Unternehmung, also auch von der faktischen und nicht bloß von der rechtlichen (i.e. gewerberechtlichen, denn der Rechtsordnung, aber eben nur dem Privatrecht ist ja seine Funktion immer unterworfen) Geschäftsführung in sich schließt, dann bedeutet das (wie wir annehmen, häufigere) Auskunftsmittel, an Stelle des der zivilen Strafkompetenz entzogenen Gewerbsinhabers die soeben charakterisierte Person für die im Betriebe vorkommenden Übertretungen der Gewerbeordnung verantwortlich zu machen, die Häufung der Gesetzwidrigkeit. Liegt gebenüber dem Gewerbsinhaber lediglich Inkompetenz vor, so mangelt bei diesem so herbeigeschafften Prügelknaben überhaupt jeder strafbare Tatbestand. Be-

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Daß sie das nicht ist, wird nach allem bisher Ausgeführten nicht noch unter Beweis gestellt werden müssen.

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zeichnend genug ist ja auch, daß man seine eigentümliche passive Geschäftsführerrolle auf die Strafsphäre beschränkt, daß man ihn aber von den Handlungen und Erklärungen, von der ganzen aktiven Funktion, welche die Gewerbeordnung dem Geschäftsführer zugedacht hat, mit Grund für ausgeschlossen erachten möchte. Das schließt aber doch wohl auch das Spielen der passiven Rolle aus und verweist zwingend, wenn schon einer strafrechtlich verantwortlich gemacht werden muß, auf die Person des Gewerbsm/zabers, sei dieser auch Militärperson. Anders aber liegen die Verhältnisse in den Fällen, wo jede Möglichkeit, sich an den Gewerbsinhaber zu halten, ausgeschlossen ist. Es fällt dies mit jenen Fällen zusammen, wo das Gewerbe, da es ja vorausgesetztermaßen fortbetrieben wird - sonst läge ja außer beim Tatbestand des schon zitierten § 53 11 überhaupt keine Möglichkeit zu Übertretungen der Gewerbeordnung vor, da derlei Übertretungen regelmäßig durch einen Betrieb und nur ausnahmsweise durch Nichtbetrieb begangen werden - von einem faktischen Geschäftsführer fortbetrieben wird. Ist er auf die im § 55 bezeichnete Weise zum Geschäftsführer im Sinne der Gewerbeordnung geworden, so ist damit die Verantwortlichkeit für Übertretungen gemäß § 137 Gewerbeordnung („Strafe gegen Stellvertreter") gegeben. Die einfache Erwägung, daß der nicht angezeigte oder nicht genehmigte Geschäftsführer kein Stellvertreter gemäß der Gewerbeordnung ist, führt zum dem Schlüsse, daß die Bestimmung des § 137 auf ihn nicht zutrifft. Selbst die Lehre, die eine Pflicht, den faktischen Geschäftsführer anzuzeigen, annimmt, kann konsequenterweise nur den Gewerbsinhaber wegen Übertretung dieser supponierten Anzeigepflicht strafrechtlich haftbar machen, nicht aber den Geschäftsführer, der mangels Erfüllung dieser Voraussetzung, zumal aber (bei konzessionierten Gewerben) mangels Erlangung der gewerbebehördlichen Genehmigung noch gar nicht die Qualität als Geschäftsführer hat, wegen Übertretungen der Gewerbeordnung, die sich insolange höchstens in der Person des Ge-

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Die Einstellung des Betriebes kann wohl immer nur dem Gewerbsinhaber selbst zugerechnet werden, wenn sie zeitlich mit der Einrückung zusammenfällt und somit jede Spur eines faktischen Geschäftsführers, der zur Verantwortung gezogen werden könnte, mangelt. Etwas anderes ist es allerdings schon wieder, wenn die Betriebseinstellung zwar auch vorzeitig, aber doch nicht gleichzeitig mit der Einrückung erfolgt. Hier tritt notwendig eine vom Inhaber verschiedene Person auf, an die sich die Gewerbebehörde nötigenfalls halten kann.

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Werbeinhabers ereignen können, mit den Strafen belegen, die die Gewerbeordnung prinzipiell für den Gewerbsinhaber und subsidiär für den ordentlich bestellten Geschäftsführer vorsieht. Es wäre eine durchaus verfehlte Ansicht, wenn man ernstlich annehmen wollte, daß die Vorschriften der Gewerbeordnung zum mindesten irgend eine Person in jedem denkbaren Falle verpflichten müßten, und zwar, wenn nicht die eine, dann eben irgend eine andere; und selbstverständlich ist es nichts weniger als gleichgültig, wen man in einem solchen Falle heranzieht. Als allgemeiner Grundsatz wird vielleicht festzuhalten sein, daß eine andere Person als der Gewerbsinhaber, also insbesondere das gewerbliche Hilfspersonale nur in den Fällen verantwortlich gemacht werden kann, wo es von der Gewerbeordnung ausdrücklich genannt ist (z.B. § 85 - ,,wenn ein Hilfsarbeiter vorzeitig austritt"), daß es aber anderer Delikte überhaupt nicht fähig ist, sondern daß sich alle übrigen Vorschriften lediglich an den Gewerbeinhaber bzw. zufolge der Generalklausel des § 137 Gewerbeordnung an den ordnungsmäßig bestellten Geschäftsführer richten. Unter solchen Umständen ist es also jedenfalls mit dem Gesetze unvereinbar, die Frau, die während der Kriegsdienstleistung ihres Mannes das Gewerbe fortbetreibt, den Fabriksdirektor, der nunmehr gänzlich den Unternehmer vertritt, den die gleiche Rolle einnehmenden Prokuristen oder schließlich den ersten oder einzigen Gehilfen an Stelle des Gewerbeinhabers zu strafen, mag man auch auf dem hier nicht geteilten Standpunkt stehen, daß sich letzterer durch Unterlassung der Anmeldung dieser Personen oder des Ansuchens um Genehmigung dieser Personen als Geschäftsführer einer allerdings wegen des Strafausschließungsgrunds § 500 Wehrgesetz, von der Gewerbebehörde nicht zu verfolgenden - Übertretung schuldig gemacht habe. Nur wird zu erwägen sein, ob die Praxis, welche vor der Erscheinung objektiver Verletzungen des Gesetzes steht, denen aber subjektiv beizukommen das Gesetz keine Handhabe bietet, nicht zu rechtfertigen 12 ist, wenn sie das mangelhafte Gesetz suppliert und straft, und zwar - im Gegensatz zu den vorbesprochenen Fällen, wo sie sich an den tatsächlich trotz der Wehrpflichterfüllung nach wie vor seinen Geschäften nachgehenden Gewerbsinhaber hält - , in diesen Fällen, da der Gewerbsinhaber hier faktisch (nicht rechtlich) seinem Gewerbe entrückt ist, den tatsächlichen

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Juristisch zu erklären ist sie keineswegs.

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Geschäftsführer heranzieht. Man muß zugeben, daß damit nur einem offenen, durch ein Versehen des Gesetzes offen gelassenen Bedürfnis abgeholfen wird. Doch nur die Strafen des Gewerbeinhabers möchten wir gelten lassen als ein ganz verfehltes Auskunftsmittel ist es anzusehen, wenn man bei diesem tatsächlichen Geschäftsführer einen unbefugten Gewerbebetrieb supponiert und mit der Drohung des gegenüber dem unbefugten Gewerbebetriebe angemessenen Zwangsmittels der Betriebseinstellung die Einhaltung der (für einen unbefugten Gewerbebetrieb doch teilweise überhaupt nicht geltenden) Anordnungen der Gewerbeordnung zu erzwingen sucht. Von einem unbefugten Gewerbebetrieb kann so lange nicht die Rede sein, als der - naturgemäß durch andere Personen als den zum Militärdienst eingerückten Gewerbeinhaber besorgte - Betrieb durch dessen Gewerbeschein gedeckt ist; und das ist er so lange, als der Betrieb mit der Genehmigung oder mit dem voraussichtlichen Einverständnis des Gewerbsinhabers geführt wird. Ist dieser Tatbestand gegeben, dann kann von einem unbefugten Gewerbebetriebe ebensowenig die Rede sein, wie man der Tätigkeit des in einem Gewerbebetriebe beschäftigten Hilfspersonales, das doch ebenfalls gewerblich, nur eben nicht, worauf das Hauptgewicht zu legen ist, in einer Unernehmerfunktion tätig ist, die Qualität eines unbefugten Betriebs beilegen könnte. Die gewerblichen Hilfsdienste sind nicht einmal im Rahmen eines unbefugten Betriebs, geschweige denn, wenn sie für einen befugten Betrieb geleistet werden, strafbar; und wenn sie strafbar wären, würden sie es nicht unter dem Titel eines unbefugten Betriebs sein. Nicht jede gewerbliche Tätigkeit ist Gewerbebetrieb im technischen Sinn, sondern bloß die Unternehmelfunktion; nur sie ist anmelde- bzw. konzessionspflichtig, jede andere gewerbliche Verrichtung ist von gewerberechtlichen Förmlichkeiten frei. Die Frau des Wehrpflichtigen oder der bevollmächtigte Angestellte, der auftragsgemäß oder aus eigenem Antriebe, als Mandatar oder als negotiorum gestor das Gewerbe des Wehrpflichtigen zu dessen Gunsten fortführt, betreibt nicht selbst ein Gewerbe, sondern dient nur einem fremden Gewerbe, und betreibt, zumal, wenn dieses fremde Gewerbe befugt ist, am allerwenigsten ein unbefugtes Gewerbe. Nicht umsonst wurde eingangs so entschieden betont, daß das Gewerberecht des Wehrpflichtigen unverändert aufrecht bleibt, und daß es daher, wenn die selbsttätige Gewerberechtsausübung auch ausgeschlossen ist, doch dem Betrieb durch fremde Hände

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zugänglich ist. Der Fortbetrieb durch Familienangehörige oder Angestellte ist durch das Gewerberecht des Wehrpflichtigen gedeckt, (wobei es sich aber keineswegs um die Deckung eines unbefugten Gewerbebetriebs im Sinne des § 133 c Gewerbeordnung handelt). Es bleibt also bei dem einzigen Ausweg, diesen faktischen Geschäftsführer als gewerberechtlichen und somit weiter wie den Gewerbsinhaber zu behandeln, wobei wir uns aber immer vor Augen halten müssen, daß einerseits der Gewerbeinhaber keineswegs verpflichtet ist, für den durch seine Einberufung aufsichtslos gewordenen Betrieb einen Geschäftsführer zu bestellen, oder selbst, wenn er einen bestellt hat, ihn anzuzeigen bzw. um seine Genehmigung einzukommen13, und daß anderseits die gewerberechtliche Verantwortlichkeit eines solchen bloß faktischen Geschäftsführers von Gesetzes wegen selbst dann nicht anzunehmen ist, wenn er, wie es nicht selten der Fall ist, „die Verantwortung auf sich zu nehmen" erklärt. 14 Der selbsttätigen Ausübung des Gewerberechts durch den Wehrpflichtigen stehen vom Standpunkte der Gewerbeordnung aus keine Hindernisse im Wege. Keineswegs dürfte der Umstand als Hindernis angesehen werden, daß er der Strafkompetenz der Gewerbebehörde nicht unterworfen und daher die selbsttätige Ausübung, die begreiflicherweise die Möglichkeiten, mit den Vorschriften der Gewerbeordnung in Konflikt zu geraten, vermehrt, der gewerbebehördlichen Kontrolle entzogen ist. Für den Exterritorialen gilt ja dasselbe, und doch ist Exterritorialität weder ein Hindernis, einen Gewerbeschein zu erlangen noch das Gewerberecht auszuüben. Selbstverständlich beinhaltet jedoch die militärische Dienstpflicht ein so weit gehendes Dispositionsrecht des militärischen Kommandos über die Zeit des Wehrpflichtigen nicht nur, sondern insbesondere über seine freie Zeit, über die Art und Weise, wie er diese benützt, daß es von dem Belieben der Militärbehörde abhängt, ob und wie weit ihm selbsttätige Gewerberechtsausübung ermöglicht ist. Anderseits kann ihm aber die Ausübung durch einen faktischen oder gewerberechtlichen Stellvertreter nicht ver-

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Den Fall des Gast- und Schankgewerbes ausgenommen.

14 Das kann nur der Verpflichtete selbst; bei ihm kommt diese Erklärung einem Geständnis gleich.

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wehrt werden. Auf Grund der geltenden Rechtslage besteht kein derartiges Verhältnis zwischen Gewerb brecht und Wehrpflicht, daß sie in einer Person unvereinbar wären. 15 Nur in der Ausübung, genauer nur in einer bestimmten Art der Ausübung jenes Rechts ergeben sich aus dieser Pflicht gewisse, im vorigen vorgeführte Hindernisse. Wie steht es nun mit der Begründung eines Gewerberechts während der Aktivitätsdauer? 16 Wie sehr man auch geneigt sein mag, sein Urteil in der Richtung einer Gleichbehandlung zu dieser beiden verwandten Erscheinungen - Eintritt der Militärdienstleistung bei Bestand eines Gewerberechts, Gewerbeantritt während der Militärdienstleistung - abzugeben, ja wiewohl prinzipielle Gleichstellung in dem Sinne, daß das eine Faktum durch das andere nicht berührt wird, im Zweifel anzunehmen ist, würde das dieserart nahegelegte Urteil doch nicht am Platze sein. Hier tritt nämlich die Sonderbestimmung des Erlasses des Ministeriums des Innern vom 7. August 1860, Z. 24.6902 ein, der, wenn auch nach der ursprünglichen Gewerbeordnung ergangen und daher nicht bereits durch sie rezipiert, doch zur Zeit seiner Erlassung, d.h. in der Ära des absoluten Staats in der Lage war, eine der Exemtionen, auf die der § 4 Gewerbeordnung Bezug nimmt („bezügliche Vorschriften") zu bewirken. 17 ,,An noch dienen-

15 Der schon an anderer Stelle zitierte Satz Hellers: „ M i t dem aktiven Militärdienst ist schlechtweg jede Gewerbeausübung unvereinbar", hat im positiven Rechte keinen Anhaltspunkt. 16 Zu dieser Frage gibt es einige Literatur, während zum bisher vorgeführten Gegenstand jegliche Literatur mangelt. Dies ist auch sehr begreiflich, da die Massenerscheinung des Eintritts von Gewerbeberechtigten in Militärdienstverhältnisse erst im Gefolge des Kriegs eingetreten ist und vorher jeglicher praktische Anlaß mangelte, diesen Fragen näherzutreten, während die Bewerbung einer Militärperson um ein Gewerberecht auch im Frieden häufig genug vorkommen mochte und daher Anlaß zu literarischer Berücksichtigung geboten hatte. - Begreiflicherweise entfiel der Hauptteil unserer Ausführungen auf den im Kriege praktisch gewordenen und theoretisch unbeackerten Fragenkomplex, während wir uns im folgenden, wo wir auf Voruntersuchungen fußen können und keine durch den Krieg geschaffenen Besonderheiten in Frage stehen, ganz kurz zu fassen erlauben dürfen. 17 In der konstitutionellen Ära hätte selbstverständlich die Form des „Erlasses" nicht genügt, um eine solche Rechtswirkung hervorzubringen. Dadurch nämlich, daß die Gewerbeordnung auf die „bezüglichen" Vorschriften verweist, hat sie auf die etwa hiefür bestehen-

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de, gleichviel, ob auf bestimmte oder unbestimmte Zeit beurlaubte Militärmannschaftsindividuen dürfen selbst mit Zustimmung der Militärbehörde weder Gewerbekonzessionen verliehen, noch dürfen dieselben zum Gewerbebetriebe gegen Anmeldung zugelassen werden. Dagegen unterliegt es keinem Anstände, daß die zum aktiven Dienste nicht einberufene Reservemannschaft zum Betriebe freier oder konzessionierter Gewerbe zugelassen werde, ohne daß dieselbe dadurch von der Einberufung zum Dienste befreit würde." Mag man also diesen Erlaß als zurechtbestehend annehmen oder nicht - die herrschende Lehre möchte ihn gewiß für gültig ansehen und die behördliche Praxis würde es am allerwenigsten wagen, seine Gültigkeit in Zweifel zu ziehen - so ist doch Tatsache, daß sich die Praxis derzeit über diese Exemtion vielfach hinwegsetzt. Gewerbeanmeldungen von aktiven Militärpersonen werden ohneweiters entgegengenommen und dergleichen Konzessionen erteilt. Dabei verzichtet man vernünftigerweise auch auf jede militärbehördliche Dispens oder Zustimmungserklärung im einzelnen Falle, die ja bei Bestand des ausnahmslosen generellen Verbots gar nicht in der Lage wäre, die Entstehung des Gewerberechts in der Person des Anmeldenden oder Konzessionswerbers zu ermöglichen, wie ja anderseits auch ein spezielles Verbot des militärischen Kommandos, das nicht auf eine generelle Exemtion von gesetzlicher Kraft gestützt ist, nicht in der Lage wäre, die normale Wirkung der Gewerbeanmeldung oder Konzessionserteilung, nämlich die Entstehung des subjektiven Gewerberechts zu Gunsten der betreffenden Militärperson hintanzuhalten. Nur muß man sich vor Augen halten, daß diese dem Erlaß widersprechende Erteilung von Gewerbescheinen oder Gewerbekonzessionen an Militärpersonen auch nicht geeignet ist, die vielleicht selbst von der Gewerbebehörde beabsichtigte Rechtswirkung der Entstehung subjektiver Gewerberechte hervorzubringen, da das Rechtskraftprinzip zwar nicht für den ganzen Bereich der Gewerbeordnung, wohl aber für die verschiedenen Entstehungsarten eines Gewerberechts ausgeschlossen ist. Dies ergibt sich aus den

den Formvorschriften keineswegs verzichtet oder die Form in das Belieben der Regierung gestellt. Seit Erlassung der Konstitution wäre also für derartige Exemtionen vom subjektiven Gewerberecht, da es sich um eine Freiheitsbeschränkung handelt, die Gesetzesform unentbehrlich. Das Problem: Erlaß oder Gesetz? finden wir übrigens bei keinem Autor aufgeworfen, der zitierte Erlaß wird allenthalben, wie selbstverständlich als geltend hingenommen.

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positiven Bestimmungen der §§ 57 Abs. 1 und 146 Abs. 4 Gewerbeordnung. ,,Wenn bei einem Gewerbetreibenden der ursprüngliche und noch fortdauernde Mangel eines der gesetzlichen Erfordernisse des selbständigen Gewerbebetriebs nachträglich zum Vorschein kommt, kann der Fortbetrieb des Gewerbes von der zur Entgegennahme der Gewerbeanmeldung, bzw. von der zur Verleihung der Konzession zuständigen Behörde untersagt und der Gewerbeschein, bzw. die Konzession zurückgenommen werden." „Kommt der Mangel eines gesetzlichen Erfordernisses zur Kenntnis der Oberbehörde, so hat sie von Amts wegen einzuschreiten." 18 Die Militärpersonen, welche während des Kriegs ein Gewerberecht „erwirkt" haben, - ein Akt, der eben, wie aus dem Voranstehenden hervorgeht ohne Rechtswirkung geblieben ist 19 , - hätten jederzeit die Außerkraftsetzung des Gewerbescheins oder Konzessionsdekrets und damit zugleich auch die Betriebseinstellung zu besorgen. Von selbst wird ja mit ihrem Rücktritt ins Zivilverhältnis der ehedem ungültige Akt nicht nachträglich wirksam, wenn auch der seinerzeitige Hindernisgrund für sein Wirksamwerden weggefallen ist. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Entstehung eines Gewerberechts müssen ausnahmslos im Augenblicke der Gewerbeanmel-

18 Vgl. zu diesem Gegenstande die treffenden Ausführungen bei Heller a.a.O., S. 772 ff. Was dort im allgemeinen über die Behandlung ungültiger Gewerbescheine und -konzessionen gesagt ist, gilt selbstverständlich auch für die Behandlung der dort nicht ausdrücklich erwähnten gewerblichen Dokumente von Militärpersonen, die im Aktivitätsverhältnis das Gewerberecht erwerben wollten. Diese Dokumente können also ohneweiters ,,außer Kraft gesetzt werden", (wie die Praxis diese Gesetzesstelle in anderen Nichtigkeitsfällen handhabt), oder richtiger ,,für ungültig erklärt werden" (da sie von Anfang an ohne rechtliche Kraft waren, die behördliche Deklaration also ex tunc wirkt). 19 Höchstens mag man annehmen, daß sie von der Übertretung des unbefugten Gewerbebetriebs exkulpiert sind, obwohl sie ein ihnen nicht zustehendes Gewerberecht ausüben. Des näheren besehen, erweist sich ja das genannte Delikt lediglich als die Unterlassung der Gewerbeanmeldung oder Konzessionserwirkung. Voraussetzungsgemäß hat sich aber die Militärperson dieser Unterlassung gar nicht schuldig gemacht, vielmehr in korrekter Weise die Gewerbeanmeldung erstattet oder sich um die Konzession beworben, was aber in gesetzwidriger Weise zur Ausstellung des Gewerbescheins oder Konzessionsdekrets von Seite der Gewerbebehörde geführt. Vgl. über die Frage, ob bei rechtsirrtümlicher Erteilung des Gewerbescheins oder Konzessionsdekrets der Tatbestand des unbefugten Gewerbebetriebs gegeben ist, den Artikel IV ,,Der unbefugte Gewerbebetrieb" aus meiner Artikelserie: „Studien aus dem österreichischen Gewerberecht", Österreichische Zeitschrift für Verwaltung ex 1916.

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III.A. Verwaltungsrecht

dung oder Konzessionserteilung (also der Akte, mit denen auf Grund gesetzlicher Ermächtigung ein subjektives Gewerberecht entsteht), erfüllt sein; die Annahme, daß diese Formalakte und die Erfüllung der Bedingungen für ihr Wirksamwerden in der betreffenden Person zeitlich auseinandertreten könnten, daß also die Anmeldung oder Konzessionserteilung auch beim Fehlen einer bestimmten Voraussetzung nicht absolut unwirksam, sondern von einer relativen Rechtskraft, nämlich durch den Eintritt der mangelnden Voraussetzung suspensiv bedingt zu sein vermöchte, wäre im Gesetze nicht begründet. Als praktische Konsequenz aus diesen theoretischen Ausführungen ergibt sich, daß die aktiven Militärpersonen, welche derzeit mit Gewerbescheinen und Konzessionsdekreten beteilt werden, um sich festgegründete Gewerberechte zu erwerben, genötigt sein werden, nach ihrem Rücktritt in das Zivilverhältnis die Gewerbeanmeldung neuerlich vorzunehmen, die Konzessionserteilung neuerlich zu erwirken, wobei von Seite der Gewerbebehörden die während der Kriegszeit ausgestellten ungültigen Gewerbedokumente einzuziehen sein werden. 20 Nur so kann ein durch die Umstände des Kriegs gerechtfertigtes ungesetzliches Provisorium in ein gesetzliches Definitivum übergeführt werden. Eine vereinzelte Stimme in der Theorie könnte den Glauben erwecken, daß es sich beim Ausschluß der Heerespersonen vom Antritte eines Gewerbes um eine Entschließung freien behördlichen Ermessens handle, so daß aktiven Militärpersonen Gewerbescheine und Konzessionsdekrete ebenso gut erteilt wie verweigert werden könnten und die einmal erteilten Gewerbedokumente unbedingt rechtswirksam erteilt sein müßten. Dies läßt sich wenigstens aus einem Satze von Kulisch in seinem Artikel: ,,Die bürgerlichen Rechtsverhältnisse der Militärpersonen" 21 lesen: „Nach der österrei-

20 Es wird wohl auch zu berücksichtigen sein, daß die seinerzeitige positive Erledigung zu Investitionen Anlaß gegeben hat und dergleichen mehr; die mit Mitwirkung der Behörde geschaffenen tatsächlichen Verhältnisse werden es wohl auch ausschließen, daß die Behörde bei der Beurteilung eines Konzessionsgesuchs für einen bereits (wenn auch unwirksam) konzessionierten Betrieb ihr freies Ermessen in negativer Richtung betätigt. 21 Österreichisches Staats Wörterbuch II, S. 755. - Übrigens gibt auch schon die anschließende, inhaltlich ebenfalls unhaltbare Aufstellung die Form der Rechtsfigur richtig wieder. ,,Auch nichtaktiven Offizieren ist ein solcher Betrieb nur insofern gestattet, als dadurch nicht das militärische Dekorum leidet." (?!)

Gewerberecht und Kriegsdienst

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chischen Gewerbeordnung bzw. der Gewerbenovelle vom Jahre 1883 (§ 4) können [müßten also nicht!] Heerespersonen vom Gewerbeantritt ausgeschlossen werden." Daß dieser Ausschluß nicht fakultativ, sondern obligatorisch ist, ergibt sich aber selbst aus einer anderen Formulierung desselben Schriftstellers, wenn er statt von einem „Ausgeschlossen werden können" von einem „Nichtverliehen werden dürfen" und „Nichtzugelassen werden dürfen" spricht. 22 Daß die Gattinnen von Militärpersonen selbst nicht auch Militärpersonen sind und daher ihr auf den § 4 der Gewerbeordnung gestützter Ausschluß vom Gewerberechte ungesetzlich ist, hat auch bereits - und zwar als einziger - Kulisch (a.a.O., S. 308) betont. Wir glauben übrigens nicht, daß der nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich vorkonstitutionelle Staatsministerialerlaß vom 22. April 1864, Z. 4656 noch irgendwo gehandhabt wird: „Die Erteilung eines Gewerbescheins oder einer Konzession an nach der I. Art verheiratete Gattinnen der aktiven Militärunterparteien, Armeedienern und Soldaten vom Feldwebel abwärts ist von der Zustimmung desjenigen Militärkommandos abhängig, welchem die Bewerberin untersteht." Haben die zivilen Verwaltungsbehörden während des Kriegs bereits die polizeiliche Judikatur sogar über Militärpersonen in Anspruch genommen, so dürften sie ihre Freiheit, über die Gewerberechtsfähigkeit der Frauen von Militärpersonen zu judizieren, und dabei sie ihnen zuzuerkennen, praktisch kaum in Frage stellen, zumal in diesem Falle, wo ihnen das Gesetz, das, wie gezeigt, auf unserem Gebiete dem Praktikabilitätsstandpunkt so vielfach hinderlich in den Weg tritt, ausnahmsweise Recht gibt.

22

System des österreichischen Gewerberechts, 2. Aufl., S. 308.

Ein Gesetzentwurf über die Gewerbeinspektion Während ihres nunmehr 35jährigen Bestandes hat die österreichische Gewerbeinspektion im Dienst des sozialpolitischen Gedankens des Arbeiterschutzes eine so segensreiche Tätigkeit entfaltet, daß über ihre Notwendigkeit und Ersprießlichkeit nur eine Meinung herrscht: Es wurde der Gewerbeinspektion nicht nur das seltene Glück der allgemeinen Anerkennung aller Kreise zuteil, die zu diesem Institut in Berührung stehen, sondern insbesondere auch das beiderseitige Vertrauen von Unternehmerschaft und Arbeiterschaft, also jener zweier Gruppen, zwischen denen der Gewerbeinspektor als neutraler Mittler gestellt ist. Wie groß auch das Verdienst jener Männer war und ist, die den schönen Beruf des Gewerbeinspektors ausüben, so war der Erfolg unserer Einrichtung doch dadurch bedingt, daß das grundlegende Gesetz über die Gewerbeinspektion aus dem Jahre 1883 in seiner Anlage voll gelungen war. Doch durch die folgende erfreulich intensive sozialpolitische Gesetzgebung, die unter anderem zahlreiche Schutzvorschriften im Interesse des Lebens, der Gesundheit und der Sittlichkeit der Arbeitnehmer brachte, verschoben sich die Voraussetzungen, unter denen die Gewerbeinspektion geschaffen worden war. Beruhte ehedem der Arbeiterschutz, um den sich der Gewerbeinspektor zu bemühen hatte, mehr oder weniger auf der Freiwilligkeit des Arbeitgebers, so nunmehr in immer steigendem Maße auf einem gesetzlichen Anspruch des Arbeitnehmers. Trotz dieser geänderten Rechtslage waren aber Rechtsstellung und Machtmittel jenes Organs, das die Durchführung des Arbeiterschutzes zu überwachen hatte, unverändert geblieben. Der gegenwärtige Minister für soziale Fürsorge, Geheimer Rat Dr. Mataja, hat bereits im Jahre 1889 in einer schon damals sein lebhaftes Interesse für das Institut der Gewerbeinspektion bekundenden Abhandlung ,,Die österreichische Gewerbeinspektion", Jahrbuch für Nationalökonomie und

Die Zeit vom 6. September 1918, S. 4.

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III.A. Verwaltungsrecht

Statistik, 18. Band (1889), Seite 257, beklagt, daß die Gewerbeinspektion trotz eifriger Kontrolltätigkeit im Interesse des Arbeiterschutzes nicht voll wirksam werde. Diese Klage, die nicht zuletzt in den Reihen der Gewerbeinspektoren selbst laut wurde, hat sich in der Folge mit der Entwicklung des gesetzlichen Arbeiterschutzes verstärkt. Zugleich wurde der sachliche Bereich der Inspektionstätigkeit in immer steigendem Maße als zu eng empfunden. Die Gründung des Ministeriums für soziale Fürsorge war der Anlaß, daß sich das Abgeordnetenhaus diese Reformgedanken zu eigen machte und der Regierung konkrete Wünsche nach einer Erweiterung und Intensivierung der Gewerbeinspektion vermittelte. Das Ministerium für soziale Fürsorge hat es denn auch als eine seiner ersten Aufgaben betrachtet, die Reform der Gewerbeinspektion in die Wege zu leiten, und hat einen darauf bezüglichen Gesetzentwurf ausgearbeitet, der nunmehr vorliegt. Eine Enttäuschung über den Titel des Entwurfes, der noch immer nur eine „Gewerfeinspektion" verspricht, wäre verfrüht. Zwar bringt der Entwurf noch keine volle Arbeitsinspektion, die er selbst als das erstrebenswerte Ideal hinstellt, indem der Eingangssatz „Schutz der Arbeitnehmer" (Arbeiter und Angestellten) schlechthin als Beruf der „Gewerbeinspektion" bezeichnet wird; aber trotzdem ist der Wirkungskreis der Gewerbeinspektion weit über das jetzige enge Gebiet der „gewerblichen Betriebe" erweitert, und es ist alles einbezogen, was sich vom technischen und wirtschaftlichen Standpunkt als „gewerbeähnlich" erweist; pratkisch fällt nur ins Gewicht, daß die Land- und Forstwirtschaft und die hauswirtschaftliche Betätigung von der Gewerbeinspektion noch nicht erfaßt sind. Die übrigen Ausnahmen sind meist schon deswegen bedeutungslos, weil auf diesen Gebieten für den Arbeiterschutz in anderer Weise vorgesorgt ist. Es ist nur selbstverständlich, daß Staat, Länder und Gemeinden bei der Übernahme sozialpolitischer Pflichten vorbildlich vorangehen, so werden denn die wirtschaftlichen Betriebe dieser Körperschaften - man denke zum Beispiel an die staatlichen Tabakfabriken, an die kommunalen Gas-, Elektrizitätswerke usw. - bedingungslos der Gewerbeinspektion unterstellt. Bei der bestehenden Verstaatlichungs- und Verstadtlichungstendenz ist es von nicht geringer Bedeutung, wenn gegebenenfalls der betreffende Betrieb automatisch der Gewerbeinspektion zuwächst. Neu ist weiter auch die Einbeziehung der sogenannten landwirtschaftlichen Nebengewerbe', die praktische Bedeutung dieser Neuerung ist darin begründet, daß der große

Ein Gesetzentwurf über die Gewerbeinspektion

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und mittlere Grundbesitz seine Bodenprodukte immer mehr selbst industriell verwertet. Als ein anerkennenswerter Fall der Kompetenzerweiterung des Gewerbeinspektors, wofür sich noch zahlreiche andere Beispiele anführen ließen, sei endlich noch hervorgehoben, daß in Zukunft auch die Angestellten von Kreditanstalten, Banken, Versatz-, Versicherungs-, Versorgungs-, Rentenanstalten und Sparkassen, dann aber auch von Theatern usw. nötigenfalls auf den Schutz und die Vermittlung des Gewerbeinspektors rechnen können. Außer auf die Erweiterung des Wirkungskreises der Gewerbeinspektion zielt die Reform auf eine Verstärkung der Wirkungsmöglichkeiten ab. Wenn der Entwurf dieser unter dem Ruf nach ,,mehr Exekutive!" auftretenden Forderung keineswegs zaghaft entgegenkommt, so ist er doch andererseits und, wie es scheint, mit Erfolg - bestrebt, von der Gewerbeinspektion den Verdacht einer Art Polizeianstalt fernzuhalten. Der Hauptberuf der Gewerbeinspektoren bleibt nach wie vor die Betriebskontrolle, die nur mit einigen weiteren Befugnissen ausgestattet wird. Nennenswert ist die Ermächtigung, verdächtigen Arbeitsstoffen Proben zu entnehmen, wofür unter gewissen Voraussetzungen Entschädigung gewährt wird. Einschneidende Neuerungen sind für die Fälle vorgesehen, wo der Gewerbeinspektor bei der Betriebskontrolle einen Anstand findet. Hält er eine Vorkehrung zum Schutz des Lebens, der Gesundheit oder der Sittlichkeit von Arbeitnehmern für erforderlich, so hat er bei der zuständigen Verwaltungsbehörde die Erlassung der entsprechenden Verfügung zu beantragen; gibt die Behörde dem Antrag nicht statt, so kann der Gewerbeinspektor gleich einer Partei Berufung einlegen. Diese Bestimmungen, wonach an die Stelle der heute üblichen bloßen Ermahnungen, wenn nötig, vollstreckbare Aufträge treten sollen, dürften am ehesten geeignet sein, dem in den Jahresberichten der Gewerbeinspektoren ständig bedauerten Umstand abzuhelfen, daß sich in manchen Betrieben dieselben Mängel von Besichtigung zu Besichtigung und von Jahr zu Jahr fortschleppen. Darüber hinaus wird aber nach reichsdeutschem Muster dem Gewerbeinspektor das Recht eingeräumt, Verfügungen der bezeichneten Art bei Gefahr im Verzug selbst zu treffen. Es soll also dem Gewerbeinspektor zum Beispiel gestattet sein, eine unversicherte Maschine augenblicklich außer Betrieb zu setzen, während bekanntlich in einem solchen Falle heute die Verfügung der zuständigen politischen Behörde eingeholt werden muß. Manches Betriebsunglück wird

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durch ein derartiges Einschreiten des Gewerbeinspektors in Hinkunft vermieden werden können. Sieht sich endlich der Gewerbeinspektor auf Grund seiner Wahrnehmungen bei der Inspektion zu einer Strafanzeige veranlaßt, so kann er in der Anzeige ein bestimmtes Strafausmaß beantragen, bei dessen Nichteinhaltung ihm ebenfalls ein Berufungsrecht zusteht. Das fachmännische Urteil des Gewerbeinspektors wird dem vorbeugen, daß Übertretungen von Schutzvorschrifen eine unangemessen niedrige, unter Umständen aber auch eine zu hohe Ahndung finden. In den Kreisen der Industrie dürfte es als dankenswerter Interessenschutz und als willkommener Fortschritt gegenüber dem gegenwärtigen Rechtszustand begrüßt werden, daß es das Gesetz der Behörde zur Pflicht macht, in diesem Verfahren, wie übrigens auch im Falle der vorerwähnten Verfügungen, Sachverständige einzuvernehmen, wofern dies die Partei beantragt. Es ist dies einer der nicht vereinzelten Punkte, wo sich der Entwurf bestrebt zeigt, trotz unbeirrbarer Verfolgung des legislativen Hauptzweckes, Sicherung des Arbeiterschutzes, dem Interesse der Partei, das ist praktisch der Arbeitgeber, jeden möglichen Schutz angedeihen zu lassen. Mit der Einführung eines Antrages hinsichtlich des Strafausmaßes macht der Entwurf, der in diesen seinen Partien besonders modern und anziehend anmutet, den interessanten Versuch, eine englische Einrichtung, die staatsanwaltschaftliche Stellung des Gewerbeinspektors in einer der österreichischen Verwaltungsorganisation angepaßten Gestalt, in das österreichische Verwaltungsrecht zu verpflanzen. Der staatsanwaltschaftliche Charakter des Gewerbeinspektors kommt außerdem noch in dem mehrfach erwähnten Berufungsrecht zum Ausdruck. Es bedeutet jedenfalls eine hohe Einschätzung des Rechtsgutes des Arbeiterschutzes von Seiten des Staates, wenn hierfür in der Gestalt der Gewerbeinspektion eine eigene, die allgemeine Verwaltungsbehörde ergänzende Organisation geschaffen wird, wie sie in ähnlicher Weise nur zur Vertretung des staatlichen Interesses am Funktionieren der Strafrechtspflege besteht. Verwandt mit dieser anwaltschaftlichen Stellung ist die Rolle eines Sachverständigen, die dem Gewerbeinspektor in allen Angelegenheiten des Arbeiterschutzes zugedacht wird. Im Sinne des Entwurfes soll nämlich die politische Behörde vor allen Entscheidungen und Verfügungen, die für den Schutz der Arbeitnehmer von Bedeutung sind, grundsätzlich den Gewer-

Ein Gesetzentwurf über die Gewerbeinspektion

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beinspektor zu hören haben. Praktisch am bedeutungsvollsten wird die gutächtliche Äußerung gelegentlich von Betriebsanlagegenehmigungen sein. Es wird damit im hohen Maße dem Arbeiterschutz, daneben aber auch wieder dem Unternehmer gedient sein, denn es ist für ihn zweifellos vorteilhafter, wenn ihm die im Interesse des Arbeiterschutzes erforderlichen Vorkehrungen bereits gelegentlich der Konsentierung des Betriebes bezeichnet werden, als wenn er der Gefahr ausgesetzt ist, daß nachträglich im konsentierten Betriebe diese oder jene Vorkehrung vorgeschrieben wird. Unter den sonstigen Bestimmungen des Entwurfes wäre noch zu erwähnen, daß die vermittelnde Tätigkeit, die die Gewerbeinspektoren auch schon bisher ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage in manchen Fällen von Ausständen und Aussperrungen mit schönem Erfolge ausgeübt haben, nunmehr gesetzlich sanktioniert wird. Die gewährten organisatorischen Bestimmungen des geltenden Gesetzes sollen in Kraft bleiben. Ausdrücklich wird neben der grundsätzlichen territorialen Gliederung der Aufsichtsbezirke die Schaffung von Sonderinspektoraten für einzelne Arbeitszweige vorgesehen, wofür heute schon Vorbilder bestehen. Es ist nur selbstverständlich, daß die Gewerbeinspektion in letzter Instanz dem Ministerium für soziale Fürsorge als der Zentralstelle aller sozialpolitischen Einrichtungen unterstellt wird. Die Gewerbeinspektion ist eine eminent produktive Staatsaufgabe, die sich reichlich bezahlt macht. Die Gewerbeinspektion verbessern, bedeutet, menschliche Arbeitskraft erhalten. Wer immer sozialpolitisch, aber auch wer nur wirtschaftspolitisch interessiert ist, muß wünschen, daß der vorliegende Gesetzentwurf bald in die Lage komme, nach aller Menschenverschwendung dieser Zeiten seine Aufgabe im Dienste der Menschenersparung zu erfüllen.

Der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft in Beziehung zur Auswanderung § 1. Gesetzliche Regelung und Begriff des Staatsbürgerrechts Das Institut der Staatsbürgerschaft des konstitutionellen Österreich richtet sich nach Bestimmungen, die für den absoluten Staat geschaffen worden waren. Der neue Staat hat sich zwar selbstverständlich eine neue Staatsbürgerschaft beigelegt, hat jedoch deren materiellen Bestimmungen mit geringen Modifikationen von einem fremden, vom absoluten Staate rezipiert. Formell war diese Staatsbürgerschaft von der heutigen durchaus verschieden; der Staatsbürger aus jener Zeit ist im Verhältnis zu uns geradeso ein Fremdländer, wie sein Staat im Verhältnis zu unserem ein fremder Staat1; insbesondere galt die Staatsbürgerschaft, welche sich inhaltlich mit der unseren zu gutem Teile deckt, auch für ein anderes Territorium als für „die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder". 2 Mit den verschiedenen Staatsformen haben unsere zur Zeit des Übergangs vom absoluten zum konstitutionellen Staate lebenden Altvordern auch mehrere Staatsbürgerschaften an sich selbst erlebt. Die Bedingungen des Erwerbs und Verlusts der Staatsbürgerschaft - dies wird hier unter den materiellen Bestimmungen verstanden3 - sind sich zum großen Teile gleich geblieben. Zentralblatt für die juristische Praxis, Bd. 36 (1918), S. 625-635, 689-727. 1 Vgl. die auf das Verhältnis des heutigen Österreich zu den Vergangenheitserscheinungen unseres Staatswesens bezüglichen Ausführungen in meiner Abhandlung: „Die Rechtseinheit des österreichischen Staats", Archiv des öffentlichen Rechts, 1917, 1./2. Heft. 2

3

Art. 1 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger.

Unter dem materiellen Gehalt des Instituts der Staatsbürgerschaft wären ja auch die Besonderheiten zu verstehen, die die „Staatsbürgerschaft" von der „Persönlichkeit" abheben. So könnte man unter Umständen als Gegenstand des „materiellen" Staatsbürgerrechts in einem besonderen Sinn die Gesamtheit jener Merkmale verstehen, die den Staatsbürger, d.i. im Wesen den politisch berechtigten gegenüber dem gewöhnlichen Rechtssubjekt qualifizieren.

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Auf die (seinerzeit wie zum großen Teil auch noch heute) geltenden Bestimmungen über Staatsbürgerschaft hat schon das BGB Bezug genommen: „Der Verlust der Staatsbürgerschaft durch Auswanderung oder durch Verehelichung einer Staatsbürgerin an einen Ausländer wird durch die Auswanderungsgesetze bestimmt." (§ 32 BGB) Die damit bezogenen Auswanderungsgesetze sind das Patent vom 24. März 1832 (JGS 2557, Hofkanzleidekret vom 2. April 1832, PGS Bd. 60 Nr. 34). Soweit es nicht durch neuere legislative Akte modifiziert ist, darf dieses Patent noch als gültig behandelt werden; zu dieser Einsicht kommt man, mag man nun das Patent als ununterbrochen geltendes Gesetz ansehen oder mag man sich (wie der Verfasser dieses Aufsatzes) seine Gültigkeit damit erklären, daß es - als Recht eines fremden Staates, des vormärzlichen Österreich - vom Staate der Gegenwart rezipiert worden sei. Dieses Patent wurde nun, und zwar, wie ich ohneweiters zugebe, „sehr wesentlich"4 durch die geltenden Staatsgrundgesetze „alteriert", aber doch, wie ich gleich hinzufügen möchte, wesentlich nur hinsichtlich der Frage des Auswanderungsrechts, nicht aber, wie erst allgemein angenommen wird, zugleich auch in demselben Ausmaße hinsichtlich des Staatsbürgerrechts. Auswanderungs- und Staatsbürgerrecht hatten von der alten Gesetzgebung gemeinsame Wege vorgezeichnet erhalten, indem nicht nur das bürgerliche Gesetzbuch hinsichtlich der Frage des Staatsbürgerrechts auf die Aus Wanderungsgesetze verwies - was ja immerhin noch eine besondere, von den Auswanderungsvorschriften unabhängige Regelung des Staatsbürgerrechts offen gelassen hätte - , sondern indem Auswanderung und Staatsbürgerrechtsverlust in eigentümlicher Weise inhaltlich miteinander verknüpft wurden. Diese Verknüpfung hat sich nunmehr gelockert, indem das Staatsgrundgesetz - ungeachtet der von ihm gar nicht in Betracht gezogenen und darum, wie ich behaupte, unberührt gebliebenen Frage des Staatsbürgerschaftsverlusts - das Auwanderungsrecht grundlegend reformiert hat, womit dieses nunmehr seine besonderen Wege gegangen ist. Bei dieser neuen Rechtslage treffen zwar auch noch die Worte Mayrhofers 5 zu, es seien „nach österreichischem Recht die Begriffe ,Verlust der Staatsbürgerschaft'

4

Mayrhofer, Handbuch für den politischen Verwaltungsdienst, I. Bd., S. 932.

5

Ibidem.

Der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft

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und Auswanderung' so enge miteinander verknüpft, daß die Fälle, in welchen das österreichische Staatsbürgerrecht verloren geht, nur an der Hand der über die Auswanderung bestehenden Vorschriften konstruiert werden können"; nur darf uns der Umstand, daß die geltende Regelung des Staatsbürgerrechts nach wie vor dem unter dem Schlagwort der „Auswanderungsvorschriften" auftretenden legislativen Material zu entnehmen ist, nicht dazu verleiten, das Auswanderungsrecht mit dem Staatsbürgerrecht dieser Äußerlichkeit gemäß auch innerlich für verknüpft anzusehen, im besondern Auswanderung und Staatsbürgerrechtsverlust als von einander abhängig, durch einander bedingt anzunehmen. Noch wäre im voraus festzustellen, daß uns der Inhalt des Instituts der Staatsbürgerschaft nicht weiter interessieren soll. Die Untersuchungen werden mit der in Schwebe gelassenen Voraussetzung operieren, daß dem Begriffe der Staatsbürgerschaft ein bestimmter rechtlich relevanter Inhalt innewohnt, mangels dessen wir uns allerdings mit einem juristischen Nichts abmühen würden. Das darf man eben nicht vergessen, daß unser Wort vom „Staatsbürgerrecht" wie das des ,,Heimatrechts" oder wie auch sonst viele andere Worte des geschriebenen Rechts juristisch völlig nichtssagend wäre und ein besonderes juristisches Institut gar nicht zu bezeichnen vermöchte, wenn ihm nicht besondere, die sogenannten „Staatsbürger" von anderen Personengruppen abhebende rechtliche Vorschriften zugrunde lägen. Das Wort Staatsbürgerschaft ist, wenn es überhaupt ein juristischer Begriff sein soll, bloß Abbreviatur für einen besonderen rechtlichen Inhalt. 6 Liegen ihm nicht besondere Rechtssätze zugrunde, so hat, mag sich der Ausdruck auch im Gesetze finden, der Jurist von ihm einfach nicht Notiz zu nehmen, so würde es sich in so vielen Fällen der üblichen Gesetzessprache einfach um unverbindlichen Gesetzesinhalt handeln. Verlust des Staatsbürgerrechts bedeutet demnach nichts als die Einbuße an den besonderen Rechten (z.B. politisches Wahlrecht, Heimatrechtsfähigkeit und damit zusammenhängend Möglichkeit der Armenversorgung und

6 Treffend sagt Carl R. v. Jaeger, ,,Einige Reichsfragen im Lichte der geschriebenen Verfassung", Sonderabdruck aus der Zeitschrift für Verwaltung, Wien 1911, S. 34: ,,Die Staatsbürgerschaft drückt aus die Stellung, welche dem Bürger im Verhältnisse zur staatlichen Gewalt als Subjekt von bestimmten durch die Gesetze geregelten Rechten und Pflichten zukommt."

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dergleichen mehr), zugleich aber auch Loszählung von den besonderen Pflichten (z.B. Wahlpflicht, Pflicht zur Annahme von Funktionen in Selbstverwaltungskörpern), welche auf der Recht- und Pflichtseite zusammen die sogenannte Staatsbürgerschaft ausmachen. § 2. Die Rechtslage nach dem Auswanderungspatent Verlust der Staatsbürgerschaft ging nach der Auswanderungsgesetzgebung, abgesehen von den Fällen der Verehelichung einer österreichischen Staatsbürgerin mit einem Ausländer und der Legitimation eines österreichischen Kindes durch einen ausländischen Parens, mit der Auswanderung einher. Wie gestaltete sich nun das nähere Verhältnis zwischen Auswanderung und Staatsbürgerschaftsverlust? 7 Der § 1 des zitierten Patents unterscheidet zwischen einer befugten und unbefugten Auswanderung. Beide haben den Staatsbürgerschaftsverlust zur Folge. Was die Auswanderung als ,,befugt" erscheinen läßt, besagt der nächste Paragraph (2): „Wer auswandern will, muß um die Bewilligung der Entlassung aus der österreichischen Staatsbürgerschaft ansuchen." Die Auswanderung ist also in eigentümlicher Weise bedingt, und zwar, auffällig genug nicht durch die Bewilligung ihrer selbst, sondern durch die vorgängige „Entlassung aus der österreichischen Staatsbürgerschaft". Um diese Entlassung muß zwar einerseits angesucht werden, ... jedoch ,,die Landesstelle wird das Gesuch im Falle der Erfüllung aller... Erfordernisse (die uns hier im einzelnen nicht mehr interessieren) gewähren". (Damit ist jedenfalls eine Pflicht bestimmter Behörden gegenüber dem durch den Monarchen repräsentierten Staate konstituiert, unter gewissen Voraussetzungen Staatsbürger zu entlassen. Ob gleichzeitig damit auch ein staatsbürgerliches Recht auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft geschaffen ist, möge dahingestellt bleiben.8

7

I. Hauptstück des Patents, § 1: ,,Als ein Auswanderer ist derjenige anzusehen, der aus den österreichischen Staaten in einen auswärtigen Staat sich begibt, mit dem Vorsatze, nicht mehr zurückzukehren." 8

Es hängt dies ganz von der (juristisch nicht zu gewinnenden) Lösung der Frage ab, ob im absoluten Staat eine Verpflichtung des Monarchen überhaupt - die allerdings nur im Wege der Selbstbindung erfolgt sein könnte, anzunehmen sei - daß nun der Monarch ein einmal

Der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft

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War die „Entlassung" gewährt, so war damit die Rechtsfolge des Verlusts der österreichischen Staatsbürgerschaft eingetreten; und zwar schon vor der Auswanderung, welche ja eben dadurch, daß der Auswandernde nicht mehr österreichischer Staatsbürger ist, den Charakter des „Unbefugten" eingebüßt hat. Dies sollte man wenigstens nach dem bisher Gesagten, besonders dem bisher Zitierten annehmen. Doch steht dieser Annahme doch wohl der § 9 des Patents entgegen: ,,Die mit Bewilligung Ausgewanderten verlieren die Eigenschaft von österreichischen Untertanen und werden in allen bürgerlichen und politischen Beziehungen als Fremde behandelt." Plötzlich so könnte man angesichts dieser Gesetzesbestimmung anzunehmen versucht sein - steht also das Gesetz etwa auf dem Standpunkt, es sei zur Auswanderung eine besondere Auswanderungsbewilligung erforderlich? Etwa gar außer der vorangegangenen Entlassung aus der Staatsbürgerschaft? Dem steht aber wieder entgegen, daß, wie bereits angeführt, der § 2 als (einziges) Erfordernis der (befugten) Auswanderung klar genug „die Entlassung aus der österreichischen Staatsbürgerschaft" ausgesprochen hat. Man darf mithin annehmen, daß unter der „Bewilligung" des § 9 keine andere als die des § 2 zu verstehen sei; also keine besondere Bewilligung der Auswanderung, sondern einfach eine „Bewilligung" der (erbetenen) Entlassung aus der Staatsbürgerschaft. Die auffälligere und schwerer zu bereinigende Unstimmigkeit, welche sich durch den § 9 herausstellt, ist die folgende: Entlassung aus der Staatsbürgerschaft kann im Zweifel nichts anderes bedeuten, als daß mit dem Augenblick ihrer Bewilligung der Gesuchsteller aufgehört hat, österreichischer Staatsbürger zu sein. Und nunmehr heißt es plötzlich, daß „die

erlassenes Gesetz nicht mehr zurückzunehmen vermöchte, würde den Sinn des absoluten Monarchismus allerdings in sein Gegenteil verkehren. Das Prototyp des Absolutismus ist ja die Verbindlichkeit des jeweiligen subjektiven Willens des Monarchen. Wenn aber ein absoluter Monarch mit so eigentümlichen Objektivationen seines subjektiven Willens, wie Patenten usw. (also Vorläufern moderner Gesetze) operiert, dann kann man, ohne vom Prinzipe des Absolutismus abzukommen, allerdings nicht ohne daß man sich einigermaßen von dessen ,,Ideale" entfernt und es sozusagen „verwässert", vielleicht annehmen, der Monarch sei, solange ein solches Patent und dergleichen formell aufrecht besteht, d.h. nicht durch einen contrarius actus aufgehoben ist, daran gebunden; eine Konstruktion, bei der es jedoch dem Monarchen unbenommen bleibt, den Akt als solchen aufzuheben und entweder durch einen anderen zu ersetzen oder die betreffende Entscheidung seinem augenblicklichen Belieben vorzubehalten.

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Ausgewanderten" „die Eigenschaft von österreichischen Staatsbürgern verlieren". Das setzt nun allerdings voraus, daß die sogenannte Entlassung aus der Staatsbürgerschaft (die insofern also ihren Namen zu Unrecht trägt) an sich allein noch nicht den Verlust der Staatsbürgerschaft bewirkt, daß, um diese Rechtswirkung hervorzubringen, noch die faktische Auswanderung hinzutreten muß. Soll also der § 9 einen Sinn gewinnen, so muß man den § 2 in folgender Richtung als modifiziert annehmen: Erst durch die vollzogene Auswanderung ist der sogenannte ,,Entlassene" seiner Staatsbürgerschaft verlustig gegangen. Diese Rechtslage drückt Mayrhofer - nicht sehr glücklich - folgendermaßen aus: „Die Auswanderung wurde perfekt und hatte den Verlust des österreichischen Staatsbürgerrechts zur Folge, wenn der Auswanderungswerber von der erhaltenen Bewilligung Gebrauch gemacht und seinen Wohnsitz in das Ausland verlegt hatte."9 Was perfekt wird, ist selbstverständlich nicht die Auswanderung, denn diese ist ja an sich nicht ein rechtliches Institut, sondern nur die Voraussetzung einer Rechtswirkung - gemeint ist vielmehr der Verlust der Staatsbürgerschaft, der aber auf dem Wege der Gedankenbrücken, wie sie durch die Ausdrücke „Ausscheiden aus dem Staatsverband" 10, „Ausbürgerung" bezeichnet werden, nur zu leicht und zu oft mit der Auswanderung gleichgesetzt wird. Nach dem Auswanderungspatente ist also der Verlust der Staatsbürgerschaft durch einen „Entlassung" genannten Akt der Behörde bedingt, welcher in der Erklärung besteht, daß der Gesuchsteller (unter der Voraussetzung der von ihm vollzogenen Auswanderung) aus der Staatsbürgerschaft entlassen werde. Die Wirkung des Verwaltungsakts ist suspensiv durch jenes bestimmte Hinzutun des Staatsbürgers bedingt, welches in der unter dem Vorsatze, nicht mehr wiederzukehren, erfolgten Grenzüberschreitung besteht. In dem Augenblicke, als der „Entlassene" mit der Entlassungsurkunde ausgerüstet, das Staatsgebiet mit der Absicht des Wohnsitzwechsels verläßt, hört er auf, des Staates Angehöriger zu sein.

9

A.a.O., S. 933.

10 Der Staats verband, ein sprachliches Mittelding zwischen Staatsbürgerschaft und Staatsgebiet, ist kein rechtlicher Begriff und sollte darum schon von einem Juristen vermieden werden; um so mehr, als er, wie man sieht, dazu führt, zwei Ausdrücke, an die er beide anklingt, denen aber verschiedene Rechtsbegriffe zugrunde liegen, zu konfundieren.

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Aber auch ein anderer mit der Auswanderung zusammenhängender Verlustgrund des Staatsbürgerrechts ist dem Auswanderungsgesetze bekannt: „Der ohne Bewilligung Ausgewanderte und sonach der unbefugten Auswanderung schuldig Erkannte wird des Rechts der Staatsbürgerschaft verlustig und allen gesetzlichen Folgen, welche hieraus fließen, unterworfen." (§ 10) Selbstverständlich ist hier unter der „Bewilligung gleichfalls nicht die der Auswanderung - eine solche Bewilligung ist auch dem alten Rechtszustande fremd 11 - , sondern die der (angesuchten) Entlassung aus der Staatsbürgerschaft zu verstehen. Wie in jenem Falle die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft im Verein mit der (hiedurch befugten) Auwanderung, so ist in diesem Falle die (ungefugte) Auswanderung, zu der ein Schulderkenntnis wegen unbefugter Auswanderung hinzugetreten ist, die rechtliche Voraussetzung des Staatsbürgerrechtsverlusts. Dieser ist, wie in jenem Fall als Gnade, in diesem als Strafe gedacht. Die Mitwirkung der Behörde ist in beiden Fällen unvermeidlich, dabei kommt aber dem Auswanderer nur in jenem Falle eine aktive, in diesem eine rein passive Rolle zu. Es wird ihm sozusagen post festum der Prozeß gemacht, wobei ihm strafweise auch das genommen wird, auf das verzichten zu wollen er deutlich genug durch die Auswanderung bekundet hat. Trotz aller Verschiedenheiten in den Voraussetzungen ist aber die Rechtsfolge in beiden Fällen dieselbe: Verlust des Staatsbürgerrechts. Legen wir nunmehr an diesen Rechtszustand, wie er uns aus der Ära des Absolutismus überkommen ist, die Sonde des Verfassungsstaats an! Wir gehen, wie bereits angedeutet, von der Voraussetzung aus, daß der im vorigen geschilderte Zustand auch heute noch unverändert zurecht bestünde, wofern nicht die Verfassung oder ein auf Grund der Verfassung ergangenes Gesetz etwas daran geändert hat. Bezüglich der Staatsbürgerschaft ist nun in der Verfassung ausdrücklich ihr Bestand, das ist zugleich Fortbestand, ausgesprochen, über Erwerb und Verlust der Staatsbürgerschaft und dergleichen mehr schweigen jedoch alle

11

Allerdings war die Auswanderung nur zulässig, wenn die Bewilligung der angesuchten Entlassung aus der österreichischen Staatsbürgerschaft vorher erfolgt war.

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Gesetze der Verfassungsära. Also gilt im Zweifel, was bisher in Geltung stand. Nun könnten sich aber durch eine etwaige Neuregelung des Auswanderungsrechts Modifikationen des mit ihm ganz eigentümlich verquickten Staatsbürgerrechts ergeben haben. Und eine solche umwälzende Reform nimmt man auch auf Grund des Artikels IV des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867 (R 142) als gegeben an: ,,Die Freiheit der Auswanderung ist von Staats wegen nur durch die Wehrpflicht beschränkt." Diese Bestimmung habe, so meint man, zugleich eine grundlegende Reform des Auswanderungs- und Staatsbürgerrechts bewirkt. Der zuletzt zitierte Satz bedeutet zunächst - von dem später zu betrachtenden Falle der Auswanderung Militärpflichtiger abgesehen - , daß die Auswanderung unbeschränkt und voraussetzungslos, daß sie insbesondere von keiner irgendwie gearteten Bewilligung abhängig ist; und zwar nicht nur nicht, was ja bereits dem vorkonstitutionellen Rechtszustande entspricht, von einer Bewilligung der Auswanderung als solcher, sondern insbesondere auch nicht von der Bewilligung der zu diesem Zwecke anzusprechenden Entlassung aus der Staatsbürgerschaft. Auch ein ,,Nichtentlassener" darf heutzutage von Rechts wegen auswandern. Er macht sich nicht eines Deliktes der unbefugten Auswanderung schuldig. Es fragt sich nunmehr, was für eine Bewandtnis es mit dem Staatsbürgerrecht des Ausgewanderten habe. Da muß nun gleich bemerkt werden, daß die Auswanderungsfreiheit mit der Dispositionsfreiheit des Staatsbürgers über sein Staatsbürgerrecht keineswegs identisch ist. Eine Anschauung, welche mit der Tatsache der Auswanderung die Entlassungswirkung als gegeben ansieht, und somit in der staatsgrundgesetzlichen Freigabe der Auswanderung den rechtlichen Verzicht auf die behördliche Entlassung aus der Staatsbürgerschaft annimmt, da sie dem Begriffe der Auswanderung den des Verlusts der Staatsbürgerschaft subintellegiert, findet zum mindesten im österreichischen Rechte keine Stütze. An sich schon mag die Gleichsetzung von Auswanderung und Staatsbürgerschaftsverlust nicht glatt gerechtfertigt sein, da es hierüber keine feststehenden Begriffe gibt, sondern darüber lediglich die rechtliche Praxis entscheidet. Was die Entlassung sei, was sie ihrem Wesen nach beinhalte, ob sie notwendig mit dem Staatsbürgerschaftsverlust zusammenfalle, läßt sich nicht allgemein und ohne Rücksicht auf irgend eine rechtliche Regelung, sondern bloß im Hinblicke auf mehrere

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oder auf eine einzelne bestimmte Rechtsordnung ausmachen. Wenn auch vielleicht nicht die Auswanderung, so ist ja doch jedenfalls die Staatsbürgerschaft ein ausschließlich rechtlicher Terminus. Daß aber zum mindesten für das Bereich des österreichischen Rechts der als selbstverständlich angenommene nahe Zusammenhang zwischen Auswanderung und Staatsbürgerschaftsverlust nicht besteht, leuchtet aus der bereits zitierten Legaldefinition der Auswanderung ein. Auswanderung im Sinne des österreichischen Rechts ist eben das bloße Verlassen des Staatsgebiets mit der Absicht, nicht mehr wiederzukehren; von einem gleichzeitigen Staatsbürgerschaftsverlust ist nicht die Rede; diese ist vielmehr ausdrücklich von weiteren (behördlichen) Akten abhängig gemacht. Wenn man nun angesichts dieses gesetzlich feststehenden besonderen Rechtsbegriffs der Auswanderung, welcher von der Dezember-Verfassung (da sie eine abweichende Legaldefinition vermissen läßt) einfach aufgenommen und als feststehend vorausgesetzt wurde, dem Staatsgrundgesetze einen abweichenden neuen (sei es auch dem „herrschenden") Begriff der Auswanderung subintellegiert, so bedeutet das eine Verfälschung des Gesetzes. Die ohne alle Förmlichkeit vor sich gehende Auswanderung ist heute ohneweiters statthaft, bewirkt aber nicht den (vielleicht erwünschten) Verlust des Staatsbürgerrechts. Nicht nur als Unrechtsfolge (im Sinne einer Strafe für wnbefugte Auswanderung), auch als Rechtsfolgt (im Sinne einer Berechtigung - Loszählung von den Pflichten der Staatsbürgerschaft) ist der Staatsbürgerrechtsverlust im Gefolge der bloßen Tatsache der Auswanderung ausgeschlossen. Es gibt nach geltendem Recht keinen anderen Weg des Verlusts des Staatsbürgerrechts als den der angesuchten Entlassung. Es gibt auch keinen Fall, wo diese Entlassung ohneweiters ausgesprochen werden kann: Der flüchtige Verbrecher, namentlich auch der Staatsverbrecher bleibt Angehöriger des Staats, gegen den er sich vergangen hat. Diesem ist kein Mittel gegeben, sich jenes unwillkommenen unwürdigen Staatsbürgers, der obendrein bereits die Staatsgrenzen überschritten hat, zu entledigen.12 Dem österreichischen Recht sind eben nur jene Verlustgründe eigen, die in der Auswanderungsgesetzgebung ausgesprochen sind: und diese kennt gegen12

In Anbetracht der großen Zahl politischer Flüchtlinge ist diese Tatsache offenbar praktisch nicht bedeutungslos.

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wärtig, wie gezeigt, lediglich die über Ansuchen ergangene Bewilligung der Entlassung, spricht aber mit keinem Wort von einem spontanen Akt der Behörden, an den ein gleicher Rechtserfolg geknüpft wäre. Aber auch ein ipso jure-Verlust zu Gunsten des daran Interessierten ist ausgeschlossen. Daß die Partei um die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft eigens anzusuchen hat, war vorkonstitutioneller Rechtszustand, ist aber auch als geltender anzunehmen, da das Ansuchen um Entlassung aus der Staatsbürgerschaft dann dem neuen Prinzipe der Auswanderungsfreiheit nicht widerspricht, wofern die Auswanderung ohne vorherige Entlassung aus der Staatsbürgerschaft freisteht. Es bedeutet augenscheinlich keine mit der Verfassung unvereinbare Beschränkung der Freizügigkeit, daß mit der Auswanderung nicht ohneweiters der eventuelle Vorteil des Verlusts der Staatsbürgerschaft verbunden ist; nur daraufkommt es an, daß Rechtsnachteile als Folgen der Auswanderung abgewendet sind. Durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger wurden bloß Schranken der Auswanderung, nicht Voraussetzungen des Verlusts der Staatsbürgerschaft beseitigt. Diese wurden nicht mit jenen zusammen beseitigt, was weggefallen ist, das ist die Verknüpfung zwischen dem nach wie vor an rechtliche Vorausetzungen, insbesondere an eine behördliche Funktion gebundenen Staatsbürgerrechtsverluste und der nunmehr ungebundenen Auswanderung. Der Auswanderer trägt also sozusagen das Gepäck der Staatsbürgerschaft mit sich, wofern er sich nicht seiner auf dem nach wie vor gleicherweise vorgeschriebenen Wege entledigt hat. Dieses Gepäck kann ihm ja allerdings im Auslande aus den verschiedensten Anlässen unangenehm werden - in rechtlicher Hinsicht etwa insbesondere dadurch, daß der Auslandsstaat die Verleihung seines Staatsbürgerrechts an den Einwanderer von dessen Expatriierung in seinem Heimatstaate abhängig gemacht hat, aber als Behinderung der Auswanderung im Sinne des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger kann diese Tatsache doch nicht gewertet werden. Nach dem klaren Wortlaut des Art. IV sollte nur die „Freiheit der Auswanderung", aber damit doch nicht auch die (dem häufig gleichgestellte) unbehinderte Möglichkeit des Erwerbs einer ausländischen Staatsbürgerschaft gewährleistet werden. Um die Voraussetzungen des Staatsbürgerrechtsverlusts aufzuheben, hätte etwa ausgesprochen werden müssen, daß alle rechtlichen Hemmnisse des Erwerbs einer fremden Staatsbürgerschaft

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wegzufallen hätten. Diese sind aber nicht zugleich Hemmnisse der Auswanderung, um die allein es sich handelt, deren rechtliche Schranken allein beseitigt wurden. Es ist also, falls man mit der Auswanderung auch den Verlust des Staatsbürgerrechts bezweckt, nach wie vor um die Entlassung aus dem Staatsverbande bei der politischen (Landes-)Behörde anzusuchen, welche allerdings beim Vorliegen der bestimmten Voraussetzungen13 dem Ansuchen Folge zu geben hat, welche aber mit dieser Erledigung doch erst einen konstitutiven (und zwar nicht einmal auf der Stelle rechtserzeugenden) und nicht einen deklaratorischen Akt setzt. Die Voraussetzungen dieses Verwaltungsakts sind die denkbar einfachsten: Außer der Tatsache, daß es sich um keine wehrpflichtige Person handelt, bloß Erfüllung der Formalitäten, die der § 3 des Auswanderungspatents anführt 14; aus diesen Formerfordernissen ergibt sich des weiteren noch die Voraussetzung, daß der Gesuchsteller die Absicht habe auszuwandern; und damit wohl auch - das versteht sich bei jeder innerpsychischen Tatsache, an die sich Rechtsfolgen knüpfen sollen, von selbst - , daß er diese Absicht irgendwie kundgegeben habe. Als nächstliegender Weg dieser Willenskundgebung stellt sich jener dar, daß sie sich als Motivation des Entlassungsgesuchs gibt. Mangels der irgendwie aufscheinenden Auswanderungsabsicht würde ein Anlaß zur Abweisung des Ansuchens vorliegen. 15 Freilich ist anderseits auch der Nachweis dieser Absicht nicht erforderlich, sondern genügt die Behauptung; insbesondere darf die Bewilligung der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft nicht von jenem striktesten Nachweise der Auswanderungsabsicht abhängig gemacht

13 Gegen die abweisliche Erledigung steht also die Verwaltungsgerichtsbeschwerde offen, welche insbesondere nicht unter dem Gesichtspunkte des § 3 e des Gesetzes vom 22. Oktober 1875 (RGBl. R 36 ex 1876) - Angelegenheit des freien Ermessens - abgewiesen werden dürfte. 14

a) Den „Beweis, daß die bittstellende Person selbständig ist und in freier Ausübung ihrer Rechte sich befindet, außerdem ist das Gesuch durch den gesetzlichen Vertreter anzubringen; b) wenn sie eine Familie hat, die sie mit sich nehmen will, die Angabe der Familienmitglieder beiderlei Geschlechts und ihres Alters, welche mit ihr auswandern sollen." 15

Es ginge also nicht an, sich für den Fall einer vielleicht später einmal zu verwirklichenden Absicht der Auswanderung sich im voraus schon, gewissermaßen,,auf Lager", die Entlassung zu erwirken.

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werden, der in der vollzogenen Auswanderung zu erblicken ist. Diese ist also keine Voraussetzung der Bewilligung der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft. Wohl aber noch immer eine Voraussetzung des Verlusts der Staatsbürgerschaft, welcher eben nicht bereits im Zeitpunkt der fälschlich so benannten „Entlassung" eintritt. Dieser Verlust ist durch die tatsächliche Auswanderung, welcher aber die vorbezeichnete „Entlassung" vorausgegangen sein muß, suspensiv bedingt.16 Und dies ist auch der Grund, warum das Gesetz rationeller Weise von einem vorgängigen (für die Bewilligung der Entlassung zur Bedingung gemachten) Nachweise der Auswanderungsabsicht Abstand genommen hat: tritt ja doch die Rechtsfolge des Verwaltungsakts erst in dem Augenblicke ein, wo sich die behauptete Auswanderungsabsicht realisiert hat. Zusammenfassend können wir sagen: Die Auswanderung steht dem eigenberechtigten und nicht durch die Wehrpflicht beschränkten Staatsbürger bedingungslos offen. Der Verlust der Staatsbürgerschaft ist jedoch von der - gleichgültig in welcher Reihenfolge vor sich gehenden - Erfüllung der beiden Bedingungen abhängig, als da sind: Die (bei Erfüllung einiger formeller Voraussetzungen dem Bewerber gebührende) Entlassung (aus dem österreichischen Staatsbürgerrechtsverhältnis) und die tatsächlich erfolgte Auswanderung. § 3. Die herrschende Theorie und Praxis der „Ausbürgerung" Theorie und Praxis nehmen jedoch einen - ihrerseits übrigens auch nicht übereinstimmenden - von dem vorbezeichneten weit abstehenden Standpunkt ein. Bloß R. von Jaeger und Bidermann haben - von der Theorie und Praxis jedoch fast völlig ungehört - bereits vor Dezennien einen Standpunkt eingenommen, der mit dem hier vertretenen auf einer Linie steht. Carl Ritter von Jaeger hat bereits 1868 in der Zeitschrift für Verwaltung 17 die Frage aufgeworfen, wie weit das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger auf das von ihm vorgefundene Staatsbürgerrecht

16 Auch die umgekehrte Reihenfolge der Akte ist mangels anderweitiger ausdrücklicher Anordnung als möglich anzusehen; nur das (keineswegs notwendigerweise gleichzeitige) Zusammentreffen der beiden Akte ist notwendig; die Rechtsfolge tritt einfach ein, sobald beide Voraussetzungen - Entlassung und Auswanderung oder umgekehrt - erfüllt sind. 17

Nr. 25.

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eingewirkt habe, und sich gegen die schon damals, wie die ganze Zeit seither verbreitete Überschätzung dieser Wirkung gewendet. Nach ihm und auf ihm fußend hat den Gedanken Bidermann aufgenommen und 1884 im Zentralblatt für die Juristische Praxis 18 vornehmlich in negativer Richtung Treffendes ausgeführt. Zu einem demnach sich ergebenden positiven Staatsbürgerrechtssysteme finden sich in dieser Schrift nur gewisse, als solche freilich höchst wertvolle Grundlagen, die nach Fertigstellung meiner eigenen Konstruktion aufgefunden zu haben, mir eine gewichtige Bestätigung meiner eigenen Auffassung des Verlusts des Staatsbürgerrechts sein konnte.19 18

S. 65 ff.

19 Nachdem Bidermann den Gedanken, daß Entlassung aus der Staatsbürgerschaft und Auswanderung keineswegs identische Begriffe »eien, mit viel Geist und großer Überzeugungskraft herausgearbeitet hat, zieht er doch nicht die letzten Konsequenzen aus dieser Prämisse, sondern läßt es mehrfach bei Vermittlungsvorschlägen bewenden, die von seinem eigenen theoretischen Standpunkte aus nicht durchaus einwandfrei zu nennen sind. Man vergleiche den entschiedenen Satz: „Indessen weicht der Begriff der Auswanderung, welcher diesem (dem Auswanderungs-)Gesetz zugrunde liegt, doch von der gewöhnlichen Vorstellung, die man damit verbindet, wesentlich ab; es werden da unter Auswanderern auch Staatsbürger verstanden, welche zwar mit dem Vorsatz, nicht wieder zurückzukehren, jedoch nicht mit der Absicht, die österreichische Staatsbürgerschaft aufzugeben, ihren Wohnsitz ins Ausland verlegen" (a.a.O., S. 65), mit der folgenden kompromissarischen Aufstellung (S. 71): „Zugestanden, daß die Auswanderungsfreiheit in Österreich... außer dem Rechte des Österreichers, seinen bleibenden Wohnsitz im Ausland zu nehmen, auch das Recht, von seinem Vaterlande auf immer sich loszusagen, in sich begreift, so folgt doch daraus noch keineswegs mit logischer Notwendigkeit, daß der (in des Wortes gewöhnlichem Sinn) auswandernde Österreicher weder um eine förmliche Entlassung sich zu bewerben noch auch nur sich ausdrücklich abzumelden gehalten sein soll." Die Bewerbung um die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft wird hier mit treffendem Blick als Voraussetzung für die Aufgabe der Staatsbürgerschaft erkannt und hingestellt, aber gerade diese Aufstellung ist mit dem vorangestellten Zugeständnis an die herrschende Lehre, daß die Auswanderung die selbsttätige Aufgabe der Staatsbürgerschaft beinhalte, unvereinbar, da eine solche Eigenschaft der Auswanderung das Entlassungsbegehren entbehrlich machen müßte; das zitierte Zugeständnis bedeutet aber seinerseits wieder die Aufgabe des eingangs so treffend formulierten richtigen Standpunkts vom Wesen der Auswanderung nach österreichischem Recht. Ein weiteres Zugeständnis an die herrschende Theorie und Praxis, das mit Bidermanns eigenen zutreffenden Voraussetzungen in Widerspruch gerät, ist es, daß er um den Preis einer „Abmeldung" des Auswanderers auf die konstitutive „Entlassung aus der Staatsbürgerschaft" zu verzichten geneigt ist. Im Sinne des Gesetzes könnte der eine Akt den anderen keineswegs ersetzen. Ein Praktikabilitätsgedanke, dem keine Praktikabilität zugrunde liegt, gibt ihm folgenden Ausweg ein: „Erachtet man ... die Gesuchsform und die Erlaubniserteilung ... für überflüssig, so wäre das Minimum dessen, was ... verlangt werden sollte, die einfache Abmeldung, worüber auf speziellen Wunsch des Auswanderers eine Bestätigung hinauszugeben wäre." (Das ist nun tatsächlich, wie wir sehen werden, der Vorgang der heutigen Praxis, auf deren Sanktion also schließlich die anfänglich so reformatorische Lehre Bidermanns hinausläuft.) Der Zweck dieses Kompromisses ist unerfindlich. Wir können nicht zugeben,

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Die übrige weitaus herrschende Theorie und mit ihr die Praxis - in diesem Falle scheinbar die Theorie von der Praxis geleitet - sind, ausgehend (oder, wie ich sagen möchte: irregeleitet) von einer Überschätzung der Neuerungen des Staatsgrundgesetzes, ganz andere Wege gegangen. Hier steht wieder Prasak. 2®, dessen Aufstellungen die vorstehenden Ausführungen halbwegs am nächsten stehen - nicht ohne allerdings in vielen wichtigen Punkten von ihnen abzuweichen - in geistvoll vertretener Opposition zur herrschenden Lehre und Übung, die wohl am ausführlichsten durch Mayrhofer 21 und Ulbrich 22 vertreten sind. Als Verlustgründe des Staatsbürgerrechts, welche mit der Auswanderung in Zusammenhang stehen, werden aufgeführt 23:

daß die Rückkehr zum Entlassungszertifikate (welches den Zusatz tragen könnte, daß es erst mit erfolgter Auswanderung wirksam wird) im Verhältnis zur heutigen Auswanderungsbestätigung ein Rückschritt wäre. Gerade die moderne Gesetzgebung zeigt wieder eine gewisse Tendenz zum Formalakt, der hier besonders angebracht wäre, da doch eine so wichtige rechtliche Tatsache wie der Verlust der Staatsbürgerschaft hinreichend deutlich gekennzeichnet sein sollte; bei der herrschenden Sachlage besteht vielfach keine Gewißheit, ob man es mit einem Österreicher zu tun habe oder nicht. - Eine Geschäfts Vermehrung für die Staatsbürgerrechtsbehörde würde die angedeutete, im Text noch näher zu behandelnde Änderung der Praxis keineswegs bedeuten. Es kann sich von diesem Standpunkte aus gleich bleiben, ob die Behörde Ausbürgerungsurkunden oder echte Entlassungsdekrete ausstellt. Man kann also mit ruhigem Gewissen Rückkehr zu der dem Gesetz gemäßen Praxis fordern, selbst während des Kriegs, der die durch seine Unsicherheit bedingte Schwäche unseres Auswanderungsrechts empfindlicher als früher zutage treten läßt. Leider finden wir in der vortrefflichen Abhandlung Bidermanns außer diesen Schwächen einige ganz offenbar unrichtige Stellen: So insbesondere, wenn er in seiner abschließenden Zusammenfassung unter 8) anführt: „Doch kann (allem Anschein nach) ein Österreicher, ohne seinen Wohnsitz außerhalb Österreichs einnehmen zu müssen, eine fremde Staatsbürgerschaft erwerben und so der österreichischen sich mit voller Beruhigung begeben." Dies kann er, meinen wir, um so weniger, als nicht einmal der Erwerb einer fremden Staatsbürgerschaft nach erfolgter Auswanderung den Verlust der österreichischen bedingt. - Für diese wie für alle sonstigen Aufstellungen, die wir den Lehren Bidermanns (um deren Kenntnisnahme es sich hier in erster Linie gehandelt hat), entgegenstellen, kann selbstverständlich erst an späterer Stelle die Begründung erfolgen. 20

1. Auflage des österreichischen Staatswörterbuches, Bd. II, S. 1069.

21

Handbuch, I. Bd., S. 932-947.

22

Österreichisches Staatswörterbuch, 2. Aufl. IV. Bd., S. 312 ff. Seine Lehre wird durch die Polemik gegen Prasak besonders wichtig. 23

Mayrhofer, a.a.O., S. 942.

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A. Unter vorheriger Anmeldung der Auswanderung und behördlicher Bescheinigung des Austritts aus dem österreichischen Staatsverbande vollzogene Niederlassung im Auslande; B. freiwilliger Eintritt in fremden Staatsdienst ohne hiezu erhaltene besondere Bewilligung; C. selbständiger oder vom ehelichen Vater abgeleiteter Erwerb einer fremden Staatsbürgerschaft; also eine Mehrzahl von Gründen und, im Gegensatz zu der vorhin versuchten Reduktion der Verlustgründe auf den einen (der Entlassung aus dem Staatsbürgerrecht kombiniert mit der Auswanderung), eine außerordentliche Komplikation der Rechtslage, deren Begründetheit (die dadurch allein selbstverständlich noch nicht gelitten haben würde) im folgenden näher untersucht werden soll. Schon die Vorstellung, die den gedanklichen Weg zur Aufstellung obiger Verlustgründe angebahnt hat, muß als schief bezeichnet werden. Auf den richtigen Ausgangssatz: ,,Eine unbefugte Auswanderung im Sinne des Patents vom 24. März 1832 besteht ... nicht mehr, und es kann somit folgerichtig auch von einer befugten Auswanderung keine Rede mehr sein", läßt Mayrhofer nämlich unmittelbar die schon nicht mehr richtigen Worte folgen: „Allein Korrelate dieser beiden Arten der Expatriierung sind einerseits in der Auswanderung, welche unter Anmeldung bei der Behörde und unter Bescheinigung von Seite dieser letzteren über den erfolgten Austritt aus dem österreichischen Staatsverband vor sich geht, und anderseits in der Auswanderung ohne vorherige Anmeldung noch zur Zeit vorhanden. Es liegt im Gesetze kein Grund zur Annahme vor, daß die erstgedachte dieser beiden Auswanderungsarten, nämlich die vorher angemeldete und unter Bescheinigung des erfolgten Austritts aus dem Staatsverbande vollzogene Auswanderung, nicht von den gleichen Folgen begleitet sein sollte, wie solche die befugte Auswanderung nach § 9 des Patents vom 24. März 1832 nach sich zog." Gegen diese Annahme nimmt das Gesetz, wie gerne zugegeben sei, allerdings nicht Stellung, aber es ist wohl anerkanntermaßen auch nicht Art und Sache eines Gesetzes, gegen alle Lösungen einer Rechtsfrage, welche an sich denkbar wären, ausdrücklich Stellung zu nehmen. Es schließt solche Annahmen einfach auf dem Wege aus, daß es über sie schweigt. Für diese in Rede stehende Annahme hat sich aber - das wird wohl unbestritten bleiben - , das Gesetz ebensowenig wie gegen sie ausgesprochen: und damit

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ist genug gesagt. Es ist eine in nichts begründete Behauptung, daß die Auswanderung verbunden mit der Anmeldung bei der Behörde und deren Bescheinigung rechtlich der ehemaligen Auswanderung in Verbindung mit der angesuchten Entlassung gleichzustellen sei. Es kann diese Gleichstellung insbesondere nicht aus dem vermeintlichen Korrolarverhältnis erschlossen werden, vielmehr wäre dessen Gegebensein erst auf Grund der anderweitig anerkannten rechtlichen Gleichstellung zu behaupten; von einem Korrelate wäre nicht a priori, sondern nur a posteriori zu sprechen 24; für die vermeintliche Gleichstellung fehlt aber jeder Erkenntnisgrund. Das, was im Sinne der herrschenden Lehre die ehemaligen Voraussetzungen der befugten Auswanderung und des Staatsbürgerrechtsverlusts ersetzen soll, ist für die Auswanderung zu viel verlangt, für den Verlust der Staatsbürgerschaft hingegen zu wenig. Zur Auswanderung, wofern sie tatsächlich im Sinne des Staatsgrundgesetzes „frei" genannt zu werden verdient, braucht man auch keinerlei Anmeldung und Bescheinigung; wenn aber auch diese Behauptung unwidersprochen bleiben dürfte, so wird die nächste um so lebhafterem Widerspruche begegnen: daß selbst der, welcher ,,die Auswanderung bei der Behörde anmeldet, sich den Austritt aus dem österreichischen Staatsverbande bescheinigen läßt und sonach sein Domizil tatsächlich ins Ausland verlegt" 25 - von dem behauptet wird, er verliere die österreichische Staatsbürgerschaft - , daß selbst dieser sie durch diese Akte allein ebensowenig verliere wie ehedem. Unverkennbar bedeutet nämlich eine Anmeldung an Stelle des vom Auswanderungspatent geforderten Ansuchens, ferner die Bescheinigung des Austritts aus dem Staatsverbande an Stelle der vom Auswanderungspatente vorgesehenen Entlassung, also der Ersatz eines konstitutiven durch einen deklarativen Verwaltungsakt eine Erleichterung, zum mindesten aber eine Änderung der Bedingungen des Staatsbürgerrechtsverlusts, zu deren Annahme aber keine Handhabe vorliegt, weil das das Auswanderungspatent abändernde Staatsgrundgesetz ausdrücklich nur von der Auswanderung handelt, mithin nur älteren Bestimmungen über die Auswanderung, aber doch nicht gleichzeitig den, sei es auch in demselben

24 Daß den Endigungsgründen gemäß dem vorkonstitutionellen Rechtszustande analoge der konstitutionellen Ära gegenüberstehen müßten, wird man doch nicht ernstlich behaupten wollen. 2

M a y r h o f e r , a.a.O., S. 9 .

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Gesetze (Auswanderungspatent) erlassenen Bestimmungen über den Staatsbürgerrechtsverlust zu derogieren in der Lage ist. 26 Richtig formuliert - ob auch die richtige Vorstellung zugrunde lag, mag füglich bezweifelt werden - ist folgende Sentenz aus einer Entscheidung des Ministeriums des Innern (vom 19. März 1868, Z. 1088, LGB1. für Tirol Nr. 29): ,,Es kann keinem Anstände unterliegen, daß darum nachsuchenden Staatsbürgern, wenngleich ihre Auswanderungsfreiheit von Staats wegen nicht beschränkt ist, die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft von der hiezu kompetenten Landesstelle erteilt werde, weil in einer derartigen Bewilligung eine Beschränkung der ihnen gewährleisteten Freiheit der Auswanderung nicht gefunden werden kann, es für dieselben aber sehr wertvoll, ja notwendig sein mag, die erfolgte Entlassung aus dem österreichischen Staatsverbande zu erweisen." Ob bei dieser Formulierung die Entlassung als konstitutiver und nicht wie gewöhnlich, damit aber dem Wortsinne widersprechend, angenommen wird - als deklarativer Akt gedacht war, ist nicht ersichtlich, jedenfalls erlaubt der Text, den in Rede stehenden Verwaltungsakt im richtigen konstitutiven - Sinne aufzufassen. Daß aber der herrschenden Praxis in der Regel nicht die richtige Bedeutung des Akts vorschwebt, erhellt am deutlichsten aus einem Erlasse des Ministeriums des Innern vom 3. Juni 1868, Z. 7201 (LGB1. für Tirol Nr. 38): „... Nachdem das Gesetz jedem nicht wehrpflichtigen Staatsbürger die Freiheit einräumt, aus dem Rechtsverhältnisse der Staatsbürgerschaft auszuscheiden, so ist der Satz des § 2 des Auswanderungspatents27 in seiner Allgemeinheit nicht mehr zu Recht bestehend. Nicht wehrpflichtige Perso-

26 Nur dann - um schon wiederholt Angedeutetes neuerlich und womöglich noch schärfer zu formulieren - wären die Bestimmungen über die Staatsbürgerschaft durch die Änderung der Bestimmungen über die Auswanderung mitbetroffen, wenn gesetzlich ein solcher Konnex hergestellt wäre, daß erstere den Wandlungen der letzteren zu folgen hätten; nun ist aber nicht derartiges, sondern bloß das im Gesetze (BGB) ausgesprochen, daß die Staatsbürgerschaft in den Aus Wanderungsgesetzen geregelt sei; das schließt aber eine verschiedene Regelung der zufällig in einem gemeinsamen Gesetze behandelten juristischen Tatsachen der Staatsbürgerschaft und der Auswanderung nicht aus. 27

Siehe oben § 2!

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nen männlichen Gechlechts und Frauenspersonen, welche auswandern wollen, können zwar durch andere als staatsrechtliche Gründe hierin rechtlich behindert sein; aber um die Bewilligung der Entlassung aus der österreichischen Staatsbürgerschaft anzusuchen, sind sie nicht mehr verpflichtet." Die bisherige Textierung des Zitats läßt sich noch im richtigen Sinne deuten; das trifft ja zu, daß nicht mehr, wie gemäß § 2 des Auswanderungspatents, zur Auswanderung die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft erforderlich ist; das bedeutet weiter, daß tatsächlich nicht mehr die Pflicht zum Ansuchen um die Bewilligung der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft besteht, falls man die Auswanderungsabsicht zu verwirklichen vorhat. Aber wer bedarf nicht mehr dieses Ansuchens und dieser Bewilligung? Doch nur der Auswanderer, und nicht etwa der Staatsbürger, der die Entlassung aus der österreichischen Staatsbürgerschaft anstrebt. Aber diesen springenden Unterschied konfundiert der zitierte Erlaß, wie aus seinem weiteren Texte erhellt: „Wenn aber ein österreichischer Staatsbürger, dessen Auswanderungsfreiheit durch die Wehrpflicht nicht beschränkt ist, um den Auswanderungskonsens sich bewirbt, so ist ihm in der Erwägung, daß in mehreren Staaten die Aufnahme in den Staatsverband von der Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit abhängt, dieser Konsens nicht zu verweigern, sondern in der Form zu erteilen, daß gesagt wird, der betreffende Auswanderer sei aus dem österreichischen Staatsverbande ausgeschieden." Diese Worte ersteigen den Gipfelpunkt des Mißverständnisses der gegenwärtigen (wie übrigens - bezeichnenderweise - auch der vormaligen) Rechtslage! Einen Auswanderungskonsens, um zunächst dabei zu verweilen, hat es früher nicht gegeben und gibt es um so weniger heute. Früher nicht - denn der Auswanderer bedurfte nicht einer Bewilligung zur Auswanderung, sondern einer Bewilligung der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft - zwei verschiedene Dinge, die man nicht konfundieren darf. 28

28 Vielleicht wird man einwenden, der Gesetzgeber habe unter diesen Dingen ein und dasselbe verstanden. Die - vielleicht ins Auge gefaßte - Begriffsidentität kommt aber jedenfalls nicht zum Ausdruck, wenn es heißt: „Wer auswandern will, muß die Bewilligung um die Entlassung (soll heißen: um die Bewilligung der Entlassung) aus der österreichischen Staatsbürgerschaft ansuchen." Entlassung aus der Staatsbürgerschaft und Auswanderung sind an sich nicht nur verschiedene Worte, sondern auch verschiedene Begriffe und bedeuten demgemäß auch in rechtlichem Sinne Verschiedenes, wenn es der Gesetzgeber unterlassen hat, die ihm vorschwebende Identität rechtssatzmäßig zum Ausdruck zu bringen. Aus dem

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Ferner kann die Erwägung, daß im Ausland zur Aufnahme in den betreffenden Staatsverband oft die Entlassung aus dem bisherigen verlangt wird, niemals bestimmend sein, jemandem, der sich „um den Auswanderungskonsens bewirbt", diesen zu erteilen. Das Begehren um den „Auswanderungskonsens" wäre vielmehr nach wie vor grundsätzlich abzuweisen gewesen - vor der Konstitution schon darum, weil die Auswanderung durch die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft 29 bedingt war, seit den Dezembergesetzen, weil die Auswanderung nicht wehrpflichtiger Personen schrankenlos freisteht und daher für eine Bewilligung oder Zustimmung der Behörde zur Auswanderung keine rechtliche Möglichkeit mehr vorhanden ist. 30 Die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft ist das, was auf Verlangen erteilt zu werden hat. Dieses, aber auch nur dieses kann für den Auswanderer von Wert sein; der Auswanderungskonsens wäre ein ungültiges Stück Papier, das ihm die ohnehin schon bestehende Auswanderungsfreiheit verbriefen, ihn aber doch nicht der Staatsbürgerschaft, der er sich entledigen will, verlustig machen könnte. Der Akt der Entlassung ist aber nicht eine aus Gutwilligkeit zu erteilende Gnade, sondern ist beim Vorliegen der bekannten Voraussetzungen ein gutes Recht des Auswanderers. Es handelt sich nicht um ein Superfluum, zu dem sich die Behörde im Sinne des zitierten Erlasses aus Entgegenkommen entschließt, es handelt sich um eine sehr reelle Sache, auf die der Auswanderer unter gewissen Bedingungen rechtlichen Anspruch hat: Ohne Entlassung für den Auswanderer kein Verlust der Staatsbürgerschaft. Für diesen von einer solchen Rechtswirkung begleiteten Akt ist nun

Rechtssatze, wie er nun einmal formuliert ist, kann man nur entnehmen, daß eine Bewilligung der Entlassung aus der österreichischen Staatsbürgerschaft, nicht aber, daß ein Auswanderungskonsens erfolgt; weiter ist aber daraus zu entnehmen, daß eine dermaßen „entlassene" Person ohneweiters auswandern darf; die Rechtswirkung der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft war die Auswanderungs/r