Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht: Festschrift für Manfred Maiwald zum 75. Geburtstag [1 ed.] 9783428529209, 9783428129201

"Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht", die Festschrift, die Manfred Maiwald anlässlich seines 75. Geburts

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Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht: Festschrift für Manfred Maiwald zum 75. Geburtstag [1 ed.]
 9783428529209, 9783428129201

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Schriften zum Strafrecht Heft 210

Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht Festschrift für Manfred Maiwald zum 75. Geburtstag

Herausgegeben von

René Bloy, Martin Böse, Thomas Hillenkamp, Carsten Momsen und Peter Rackow

a Duncker & Humblot · Berlin

RENÉ BLOY, MARTIN BÖSE, THOMAS HILLENKAMP, CARSTEN MOMSEN und PETER RACKOW (Hrsg.)

Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht

Schriften zum Strafrecht Heft 210

Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht Festschrift für Manfred Maiwald zum 75. Geburtstag

Herausgegeben von

René Bloy, Martin Böse, Thomas Hillenkamp, Carsten Momsen und Peter Rackow

a Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-12920-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 11. März 2010 vollendet Manfred Maiwald sein 75. Lebensjahr. Aus diesem Anlass widmen ihm Freunde, Schüler und Kollegen diese Festschrift, mit der sie Anerkennung, Dank und nicht zuletzt auch ihre Verbundenheit mit ihm zum Ausdruck bringen. Sie ehren auf diese Weise einen Strafrechtswissenschaftler von hohem Rang, der sich bis zu seiner Emeritierung zugleich als Universitätslehrer überaus großer Beliebtheit erfreute. Manfred Maiwald wurde im Jahre 1935 in Bad Warmbrunn/Schlesien geboren. Nach der Reifeprüfung studierte er in Heidelberg, Hamburg und Tübingen Rechtswissenschaft und legte 1959 in Heidelberg die Erste Juristische Staatsprüfung ab. Im Anschluss an das Referendariat folgte 1963 die Zweite Juristische Staatsprüfung in Stuttgart. Ein Jahr später promovierte Manfred Maiwald mit einer von Wilhelm Gallas betreuten Dissertation über „Die natürliche Handlungseinheit“. Die Habilitation, mit der ihm die venia legendi für die Fächer Strafrecht und Strafprozessrecht verliehen wurde, erfolgte im Jahre 1969 aufgrund einer Arbeit mit dem Titel „Der Zueignungsbegriff im System der Eigentumsdelikte“. 1971 wurde er zum ordentlichen Professor am Fachbereich Rechtswissenschaft I der Universität Hamburg ernannt. Aufgrund eines an ihn ergangenen Rufes wechselte Manfred Maiwald im Jahre 1976 als ordentlicher Professor an die Georg-August-Universität Göttingen. Von 1978 bis 2000 war er zusätzlich im Nebenamt als Richter am Oberlandesgericht Celle tätig. Nach Ablehnung eines Rufes an die Universität Gießen im Jahre 1980 folgte er 1983 einem Ruf an die Universität Heidelberg, die er 1985 wieder verließ, um an die Universität Göttingen zurückzukehren, wo er 2003 emeritiert wurde. Das wissenschaftliche Werk von Manfred Maiwald lässt trotz seiner imposanten thematischen Breite und Fülle charakteristische Schwerpunkte erkennen: An erster Stelle ist hier die Strafrechtsdogmatik zu nennen, insbesondere die Dogmatik des Allgemeinen Teils, die Maiwald vom Handlungsbegriff bis zur Konkurrenzlehre nahezu flächendeckend mit scharfsinnigen und viel beachteten Beiträgen bereichert hat. Aber auch dem Besonderen Teil gilt seit seiner Habilitationsschrift über den Zueignungsbegriff seine spezielle wissenschaftliche Aufmerksamkeit, die in seiner Mitwirkung an der Fortführung des von Reinhart Maurach begründeten großen Lehrbuchs zum Besonderen Teil des Strafrechts (von 1988 an) ihren Kulminationspunkt gefunden hat. In vielen Arbeiten werden die behandelten Themen zudem auch in ihrer strafrechtsgeschichtlichen Dimension ausgeleuchtet, was Maiwalds spezifischem Verständ-

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Vorwort

nis von dogmatischer Durchdringung eines Themenfeldes seine besondere Prägung verleiht. Es traf daher exakt das Spezifikum seiner wissenschaftlichen Arbeitsweise, dass das anlässlich seines 70. Geburtstages veranstaltete Kolloquium unter dem Generalthema „Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart“ stand. Darüber hinaus hat sich Manfred Maiwald auf dem Felde des Strafprozessrechts bleibende Verdienste erworben. Sein waches Interesse für diese Materie ist gewiss durch seine richterliche Tätigkeit befördert worden, welche ihm auch zahlreiche Anstöße zu Aufsatzveröffentlichungen gegeben hat. Im Zentrum steht insoweit jedoch die umfangreiche Kommentierung der Vorschriften über die strafprozessuale Revision im Alternativkommentar zur Strafprozessordnung. Last not least ist das (spätestens) seit den 70er Jahren erwachende Interesse Maiwalds am italienischen Strafrecht hervorzuheben, das viele wissenschaftliche Früchte getragen hat. Mit dem intensiven Erwerb italienischer Sprachkenntnisse ist es Manfred Maiwald gelungen, immer tiefer in die strafrechtswissenschaftliche Diskussion in Italien einzudringen, wovon auch der des Italienischen nicht kundige Leser profitiert, da Maiwald eine stattliche Reihe von Rezensionen italienischer Monographien in deutscher Sprache veröffentlicht hat. Im Laufe der Zeit konnte es nicht ausbleiben, dass Maiwald die hinsichtlich des italienischen Strafrechts bestehende große Informationslücke in der deutschsprachigen Literatur entdeckte. Deshalb legte er erst jüngst einen Band vor, der eine einzigartige Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht bietet. Dies ist zugleich der beste Beleg dafür, dass Manfred Maiwald nach seiner Emeritierung nicht nur weiterhin wissenschaftlich-literarisch sehr aktiv geblieben ist, sondern sich auch verstärkt seiner (nicht nur wissenschaftlichen) Liebe zu Italien zugewandt hat. Die langjährige Hinwendung nach Italien hat ihre gleichsam offizielle Anerkennung von italienischer Seite dadurch gefunden, dass Manfred Maiwald nach seiner Emeritierung zum Mitglied des Ende des Jahres 2004 vom italienischen Wissenschaftsministerium eingesetzten Comitato di indirizzo per la Valutazione della Ricerca (CIVR) – Panel 12 (Scienze giuridiche) berufen worden ist, das die Forschung an den Juristischen Fakultäten der Universitäten Italiens evaluiert hat. Außerdem ist er Mitglied der Commissione finale di dottorato für das akademische Jahr 2008/09 gewesen, die für die mündliche Abschlussprüfung des Studiengangs „Diritti Umani: evoluzione, tutela e limiti“ durch die Universität Palermo eingesetzt worden war. Die im Laufe vieler Jahre gewachsenen persönlichen Beziehungen zu italienischen Kollegen spiegeln sich eindrucksvoll in einer Reihe von Beiträgen zu dieser Festschrift wider. Deren Zustandekommen ist nicht allein das Werk der Beiträgerinnen, Beiträger und der Herausgeber. So sind die Herausgeber neben

Vorwort

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den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der beteiligten Lehrstühle insbesondere Frau Elke Völker, Saarbrücken, für ihre unentbehrliche und unermüdliche Mitarbeit bei der gesamten redaktionellen Tätigkeit zu großem Dank verpflichtet. Manfred Maiwald wünschen die Herausgeber und die Autoren dieser Festschrift, dass seine Schaffenskraft und die Freude an seinen vielfältigen Beziehungen zu Italien noch lange erhalten bleiben mögen. März 2010

Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis Elio R. Belfiore Kurze Überlegungen zur verfassungsrechtlichen Rechtsprechung auf dem Gebiet des Strafrechts ............................................................................... 13 Werner Beulke Zur alten und neuen Entgrenzung des § 142 StGB ................................................ 21 René Bloy Die strafrechtliche Produkthaftung auf dem Prüfstand der Dogmatik ................... 35 Martin Böse Die Stellung des sog. Internationalen Strafrechts im Deliktsaufbau und ihre Konsequenzen für den Tatbestandsirrtum ................................................ 61 Björn Burkhardt Gedanken zu einem individual- und sozialpsychologisch fundierten Schuldbegriff .......................................................................................................... 79 Axel Dessecker Die fragliche Effektivität des strafrechtlichen Schutzes vor beharrlichen Nachstellungen ....................................................................................................... 103 Dieter Dölling Zur Strafbarkeit der Mitwirkung am Suizid ........................................................... 119 Gunnar Duttge „Erlaubtes Risiko“ in einer personalen Unrechtslehre ........................................... 133 Luigi Foffani Europäisierung versus Nationalisierung des Wirtschaftsstrafrechts: Die italienische Reform der Bilanzfälschung vor dem EuGH (Fall Berlusconi) ..................................................................................................... 153 Désirée Fondaroli Anmerkungen zur Gewinnabschöpfung („confisca“) im aktuellen italienischen Sanktionensystem .............................................................................. 171 Gabriele Fornasari Gesetzesvorbehalt und Quellen des Gemeinschaftsrechts. Denkanstöße............... 191 Georg Freund Das Spezifikum der vollendeten Vorsatztat ........................................................... 211 Wolfgang Frisch Defizite empirischen Wissens und ihre Bewältigung im Strafrecht....................... 239

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Inhaltsverzeichnis

Walter Gropp Se ut dominum gerere – Überlegungen zur Renaissance des Zueignungsbegriffs ................................................................................................................... 263 Volker Haas Beteiligung und Versuchsbeginn bei der Strafvereitelung ..................................... 277 Michael Hettinger Abschied von den „unselbstständigen“ Abwandlungen oder den besonders schweren Fällen oder von beidem? ........................................................................ 293 Thomas Hillenkamp Zur Kongruenz von objektivem und subjektivem Tatbestand der Untreue........... 323 Christian Jäger Die notwendige Bedingung als ereignisbezogener Kausalfaktor ........................... 345 Günther Jakobs Beleidigung............................................................................................................. 365 Jörg-Martin Jehle Deliktsbezogene Strafverfolgung und Diversion in Europa................................... 379 Urs Kindhäuser Zum sog. „unerlaubten“ Risiko .............................................................................. 397 Heinz Koriath Zum Strafgrund der Anstiftung. Eine Skizze ......................................................... 417 Kristian Kühl Von der gerechten Strafe zum legitimen Bereich des Strafbaren........................... 433 Wilfried Küper „Gewalt vor Recht“ statt „Recht vor Gewalt“ ........................................................ 451 Fritz Loos Zur Bedeutung des Unrechtsbegriffs im Strafrecht ................................................ 469 Giorgio Marinucci Reale und hypothetische Kausalität beim unechten Unterlassungsdelikt............... 485 Bernd-Dieter Meier Was nützt, was schadet, was ist ohne Effekt? – Die jugendstrafrechtlichen Sanktionen auf dem Prüfstand ..................................................................... 501 Vincenzo Militello Internationale Verbrechen und Grundsätze des Strafrechts.................................... 519 Wolfgang Mitsch Untaugliche Bereiterklärung zur Verbrechensbegehung und Bereiterklärung zur untauglichen Verbrechensbegehung....................................... 539 Carsten Momsen Neutrale Verhaltensweisen und Unterlassungen im Insiderstrafrecht.................... 561 Uwe Murmann Probleme des § 201a StGB ..................................................................................... 585

Inhaltsverzeichnis

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Akihiro Onagi Die Rezeption des westlichen Strafrechts in Japan und ihre Akzeptanz in der japanischen Gesellschaft .............................................................................. 605 Peter Rackow Strafrechtliche Terrorismusbekämpfung durch Pönalisierung von Vorbereitungshandlungen....................................................................................... 615 Henning Radtke Notwendigkeiten und Grenzen eigener Strafzumessung durch Revisionsgerichte.................................................................................................... 643 Peter Rieß Zur Entwicklung der Vorschriften über die Unmittelbarkeit in der Strafprozessordnung ............................................................................................... 661 Henning Rosenau Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht ....................................................... 683 Dieter Rössner Evidenzbasierte Kriminalprävention als Grundlage zweckrationaler Legitimation der Strafe ........................................................................................... 701 Claus Roxin Streitfragen bei der objektiven Zurechnung ........................................................... 715 Hinrich Rüping Die Freiheit der Advokatur im politischen Umbruch 1945 .................................... 735 Hero Schall Haushaltsführung und Kinderbetreuung auf dem Prüfstand des § 170 StGB?............................................................................................................ 753 Heinz Schöch Wiederaufnahme zuungunsten Freigesprochener bei neuen DNA-Analysen? ..................................................................................................... 769 Hans-Ludwig Schreiber Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Neuordnung des Rechts der Lebendorganspende ................................................................................................ 785 Friedrich-Christian Schroeder Feuerbachs Einfluss auf die deutsche Strafgesetzessprache................................... 793 Niroku Tateishi Der typische Tatbestandsbegriff in Japan............................................................... 799 Thomas Vormbaum Neues und Altes zu den Aussagedelikten............................................................... 817 Thomas Weigend Verständigung in der Strafprozessordnung – auf dem Weg zu einem neuen Verfahrensmodell? ....................................................................................... 829 Gerhard Werle und Boris Burghardt Die mittelbare Mittäterschaft – Fortentwicklung deutscher Strafrechtsdogmatik im Völkerstrafrecht?.............................................................. 849

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Inhaltsverzeichnis

Keiichi Yamanaka Kritisch-dogmatische Überlegungen zur hypothetischen Einwilligung ................. 865 Rainer Zaczyk Strafrecht, Rechtsphilosophie und der untaugliche Versuch.................................. 885 Verzeichnis der Schriften von Manfred Maiwald ....................................................... 899 Autorenverzeichnis ....................................................................................................... 908

Kurze Überlegungen zur verfassungsrechtlichen Rechtsprechung auf dem Gebiet des Strafrechts Von Elio R. Belfiore Das Instrumentarium, das die italienische Corte costituzionale in den letzten 50 Jahren herangezogen hat (oder hätte heranziehen können), um eine verfassungsrechtliche Überprüfung von Strafnormen durchzuführen, die mit dem System der in der italienischen Verfassung enthaltenen Prinzipien und Regelungen wahrscheinlich unvereinbar sind, stellt sich äußerst heterogen und wenig systematisiert dar. Aus der Ferne betrachtet und im höchsten Maße schematisierend, würde ich aus diesem Instrumentarium einen ersten Komplex hervorheben, der sich aus, wie ich es vorzugsweise nennen würde, „Garantieregelungen“ zusammensetzt, d. h. „Regelungen“, die die Verfassung ausdrücklich vorschreibt, um das Strafrecht zu begrenzen, und die nach der Logik (natürlich tendenziell und in dem Sinne, dass man diesen Regelungen eine gewisse „Dehnbarkeit“ nicht absprechen kann) des „ganz oder gar nicht“ anzuwenden sind – ich denke an den Gesetzesvorbehalt, den Bestimmtheitsgrundsatz, das Rückwirkungsverbot und das Analogieverbot; ebenso würde ich, wenn es auch einige Unterschiede aufweist, das Prinzip der persönlichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit unter dem Gesichtspunkt des Schuldprinzips hinzufügen.1 Diesem ersten Komplex würde ich sodann einen zweiten hinzufügen, der sich aus Grundsätzen zusammensetzt, die zu einem Ausgleich zu bringen sind mit anderen, entgegengesetzte Belange enthaltenden Prinzipien: Theorie des Rechtsguts, auch oder vielleicht hauptsächlich in einer verfassungsrechtlich orientierten Weise; Prinzipien der Strafwürdigkeit und Subsidiarität der Strafe und des strafrechtlichen Eingriffs; resozialisierende Funktion der Strafe. In dieser Systematisierung verdienen die grundlegenden Rechte der Art. 13 ff. der italienischen Verfassung eine eigene Untersuchung; diese werden für uns Strafrechtler immer dann besonders interessant, wenn sie mehr oder weni___________

Der Verfasser dankt ganz herzlich Herrn Ben Koslowski, Universität Heidelberg, für seine Hilfe bei der deutschen Fassung. 1 Hierzu Belfiore, Contributo alla teoria dell’errore in diritto penale, 1997, S. 22 ff., und dazu die Rezension von Maiwald, ZStW 113 (2001), 435, 437; Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozeßrecht, 2009, S. 29 ff.

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ger direkt den Unrechtsgehalt von mit Strafe bedrohten Verhaltensweisen verringern oder aufheben. Der letzte Komplex ist den – nicht ausschließlich strafrechtlichen – Prinzipien oder Kriterien der Rechtsprechung oder Metarechtsprechung gewidmet, welche die Corte costituzionale aufgestellt hat und auf ein wahrlich endloses Werk der staatsrechtlichen und rechtsphilosophischen Lehre zurückgeht. Ich spiele vor allem auf das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und der Angemessenheit, auf das sog. lebendige Recht an. Nach dem Muster dieser Systematisierung werde ich diesen Aufsatz strukturieren. Ich beginne mit einem kurzen Überblick über die verfassungsrechtliche Rechtsprechung, die sich in Bezug auf die sog. spezifisch strafrechtlichen „Garantieerklärungen“ herausgebildet hat. Sofort möchte ich klarstellen, dass die Bilanz diesbezüglich enttäuschend ist. Ich möchte nicht zu sehr in technische Aspekte vordringen, aber – vorbehaltlich weniger und nebensächlicher Ausnahmen, die nun ebenso zu berücksichtigen sind wie „Schulfälle“ und vergleichbare Abhandlungen unserer noch diffuseren Lehrbuchliteratur – der Vorbehalt des Gesetzes und das Bestimmtheitsgebot sind in Gegenwart der Corte costituzionale beinahe unaussprechliche Worte. Dies könnte zur Erklärung der – wenn es zulässig ist, eine solche Vermutung aufzustellen – Verschlossenheit der Rechtsmittelrichter herangezogen werden, Ausnahmen in der Verfassungsmäßigkeit hervorzuheben, die sich auf Argumentationen stützen lassen, die angelehnt sind an die Problematik der „Quellen“ des Strafrechts und an Anforderungen an die Strukturierung von inkriminierten Verhaltensweisen nach hinreichend bestimmten kriminologischen „Typen“. Die Situation ist nicht besser auf dem Gebiet, das für uns Strafrechtler ein wahres und wirkliches Tabu darstellen sollte: das Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen. Man denke etwa an die Probleme, die durch die in der D.LGS. 394/2000 vorgesehenen „authentischen Auslegung“ des im Gesetz Nr. 108/1996 enthaltenen Begriffs „interessi usurari“ entstehen. Auf die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit2 hat die Corte costituzionale, wenn auch nicht spezifisch in Bezug auf die Verletzung des Rückwirkungsverbots, die Unvereinbarkeit mit der Verfassung festgestellt. Ich könnte weitere Beispielsfälle aufzählen: Ich denke an fast alle unechten Unterlassungsdelikte, wie sie in der Gesetzgebung des Nebenstrafrechts ver___________ 2 Corte cost. Nr. 29/2000, abrufbar unter www.cortecostituzionale.it. Auf der gleichen Internetseite befinden sich die in den folgenden Fußnoten zitierten Urteile.

Kurze Überlegungen zur verfassungsrechtlichen Rechtsprechung

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breitet auftauchen (das Gebiet, das ich besser kenne, ist vor allem jenes des Waffenrechts und der organisierten Kriminalität, aber das sind nicht die einzigen). Diese stellen massivste Abweichungen von der verbotenen Rückwirkung von Strafgesetzen dar. Auch wenn man es schafft, einen Rechtsmittelrichter zu finden, der bereit ist, auf das Problem einzugehen (und davon hat es angesichts der Problematik des Gebiets wenige gegeben: allein das Wort „organisierte Kriminalität“ scheint dem Gesetzgeber zu erlauben, so will ich es sagen, einige Ausprägungen der verfassungsrechtlichen Garantien einzuschränken), bezweifle ich, dass diese Ausnahme Chancen hat, von Seiten der Corte costituzionale übernommen zu werden. Auf diese Weise möchte ich die Garantie-„Regelungen“ abschließen und mich einigen Beobachtungen zum Prinzip der Erforderlichkeit einer Verletzung zuwenden, das in den Begründungen der Corte vereinzelt zur Diskussion gebracht wurde, und zwar sowohl in Bezug auf eine strafbare Handlung nach der sog. realistischen Auffassung als auch in Bezug auf ein Rechtsgut nach der verfassungsrechtlich ausgerichteten Theorie. Auch hier beabsichtige ich nicht, mich an spezifisch technischen Gesichtspunkten aufzuhalten. Ich möchte aber dennoch sagen, dass eine Reihe von Entscheidungen der Corte Costituzionale dazu übergehen, den Inhalt der Verletzung wieder anhand der strafbaren Handlung zu bestimmen, man spricht von einer problematischen Entwicklung. Seit den 80er Jahren und noch während der gesamten 90er Jahre lässt sich eine ganze Reihe von Entscheidungen der Corte Costituzionale festhalten, die mehr oder weniger ausdrücklich auf das Verletzungsprinzip Bezug nimmt, um in erster Linie Ausnahmen zur Rechtswidrigkeit zurückzuweisen, wobei angeklagte Sachverhalte jedoch ausgenommen werden. Ich beziehe mich insoweit auf die Entscheidungen über den Besitz, den Gebrauch, die Übertragung und die Herstellung von Betäubungsmitteln3, die Entscheidungen über Waffen und explosive Substanzen4, die Entscheidung über die Verweigerung des obligatorischen Militärdienstes aus Gewissensgründen5, die Entscheidung über die unterlassene Anzeige von zugegangenen Rechnungen6. Eben dieses Prinzip einer erforderlichen Verletzung finden wir „vermengt“ mit anderen Prinzipien, vor allem mit jenem der resozialisierenden Funktion

___________ 3 Corte cost. 11.07.1991, Nr. 333, dies. 27.03.1992, Nr. 133, dies. 24.07.1995, Nr. 360. 4 Corte cost. 26.03.1986, Nr. 62. 5 Corte cost. 18.07.1989, Nr. 409. 6 Corte cost. 25.07.1989, Nr. 437.

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der Strafe, in der Entscheidung über das Delikt der Beleidigung7 wieder, die den Strafrahmen dieses Delikts behandelt hat, bevor der Gesetzgeber den Tatbestand schließlich abgeschafft hat8. In nur wenigen Entscheidungen hat der Senat explizit auf die Theorie des Rechtsguts abgestellt, um die Verfassungswidrigkeit der mit Strafe bedrohten Handlungen festzustellen. Es lohnt sich schließlich daran zu erinnern, dass das Delikt der Beschimpfung der Staatsreligion für verfassungswidrig erklärt worden ist9. Mit ähnlichen Begründungsschritten hatte der Senat aber bereits das Delikt der Bettelei, sei es auch nur in der sog. nicht anstößigen Form, für verfassungswidrig erklärt.10 Diese Tatsache hätte es vielleicht auch nicht verdient, an hiesiger Stelle erwähnt zu werden, wenn es nicht dazu gekommen wäre, dass die Straftat der Beschimpfung der Staatsreligion durch die soeben erwähnte Entscheidung der Corte Costituzionale für nichtig erklärt worden ist; demgegenüber ist das Delikt der Beschimpfung von „in der Staatsreligion verehrten Symbolen und Personen“ einige Jahre zuvor der Corte Costitutionale zur Entscheidung vorgelegt worden11, die „auf spitzfindige Art und Weise“ (a merletto) die Norm nicht nur „gerettet“, sondern auch ihre Bedeutung erweitert hatte, indem sie ihren Anwendungsbereich so weit ausgedehnt hatte, dass auch „Lästerungen und beleidigende Worte gegenüber jedweder Gottheit“ und folglich nicht nur gegenüber jener der Staatsreligion erfasst sind. Meines Erachtens ist dies auf eine fehlerhafte Deutung des Gleichheitsgebots zurückzuführen. Aber dennoch: Auch hier gäbe es vielleicht keine Probleme, wenn es nicht dazu gekommen wäre, dass der Berichterstatter beider Entscheidungen derselbe gewesen ist. Insoweit könnte der Umstand, dass die Bettelei in der Zwischenzeit vom Gesetzgeber für straffrei erklärt wurde12, den Berichterstatter veranlasst haben, zu einer anderen verfassungsrechtlichen Bewertung zu gelangen. Was auch immer der Wahrheit entspricht, veranschaulicht die Vorgeschichte jedenfalls gut die Schwierigkeiten eines Strafrechtlers, der sich mit der Rechtsprechung der Corte costituzionale auseinandersetzen soll, denn diese Rechtsprechung kann – insoweit möchte ich eine gewisse Unzulänglichkeit eingestehen – als ein undurchdringbares Geflecht erscheinen. Wie vorausgeschickt, kann ich in diesem kurzen Exkurs über die Argumentationstechniken, deren sich die Corte costituzionale bedient, um eine genaue ___________ 7

Corte cost. 25.07.1994, Nr. 341, Foro italiano 1994, I, S. 2585 ff., mit Anmerkung von Fiandaca. 8 Art. 18, Gesetz vom 25.06.1999, Nr. 205. 9 Corte cost. 20.11.2000, Nr. 508. 10 Corte cost. 28.12.1995, Nr. 519. 11 Corte cost. 18.10.1995, Nr. 440. 12 Art. 57 Abs. 1 Buchst. b), Decreto legislativo – D.LGS. 30.12.1999, Nr. 507.

Kurze Überlegungen zur verfassungsrechtlichen Rechtsprechung

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Rechtmäßigkeitskontrolle durchzuführen, nicht darauf verzichten, einige Gedanken zum Verhältnismäßigkeitsprinzip darzulegen, dem die Corte costituzionale eine herausgehobene Bedeutung beimisst und das mit besonderem Interesse von der Lehre verfolgt wird, die das Verhältnismäßigkeitsprinzip als ein „hauptsächlich richterrechtliches Kriterium“13 darstellt. Auch mit Blick auf unseren Sektor hat die Corte costituzionale Stellung bezogen, indem sie darauf erkannt hat, dass sich die Ausübung der Staatsgewalt auf dem Gebiet des Strafrechts „immer in den Grenzen eines nicht unverhältnismäßigen Rahmens bewegen“ muss, „und zwar nicht nur unter Beachtung des Ultima-Ratio-Gedankens“14. Was den Begriff der Verhältnismäßigkeit anbelangt, scheint dieser dennoch nicht von einem einheitlichen Modell charakterisiert zu sein, da ihm verschiedene Bedeutungen zugesprochen werden, von denen an dieser Stelle nur die wichtigsten in Erinnerung gerufen werden können15: Auf der einen Seite wird die Verhältnismäßigkeit als Wertungskriterium derjenigen Regelungen eingestuft, die eine Ungleichbehandlung gleichartigen Sachverhalte und umgekehrt eine Gleichbehandlung unterschiedlicher Sachverhalte vermeiden sollen (den Ursprung dieser Auslegung fände man in Art. 3 der italienischen Verfassung); auf der anderen Seite wird die Verhältnismäßigkeit als eigenständiges Bemessungskriterium des einer Norm innewohnenden Sinns und Zwecks angesehen. Im letzteren Fall kann eine Entscheidung über die Schlüssigkeit einer Bestimmung ebenso in Beziehung auf den normativen Komplex, in dem die Bestimmung eingeführt ist (Prüfung der inneren Widersprüchlichkeit), als auch in Beziehung auf die gesamte Rechtsordnung (Prüfung der äußeren Widersprüchlichkeit) durchgeführt werden. Nicht einmal die Natur der Verhältnismäßigkeit erscheint einheitlich. In der Diskussion steht die Auffassung, die die Verhältnismäßigkeit als eine zusätzliche Generalklausel neben den Verfassungsprinzipien ansieht16, derjenigen gegenüber, die die Verhältnismäßigkeit in „eine allgemeine ‚Technik‘“ einer Rechts- und Werteordnung einordnet17.

___________ 13

Zagrebelsky, La giustizia costituzionale, 2. Aufl. 1988, S. 147. Corte cost. Nr. 184/2002, 2. Abs. 15 Für eine ausführliche Aufarbeitung der Rechtsprechung auf diesem Gebiet vgl. Luther, voce Ragionevolezza (delle leggi), Digesto delle Discipline Pubblicistiche, XII, 1997, S. 349 f. 16 Mengoni, Spunti per una teoria delle clausole generali, Rivista critica del diritto 1986, S. 5 ff. 17 Ruggeri, Fatti e norme nei giudizi sulle leggi e le “metamorfosi” dei criteri ordinatori delle fonti, 1994, S. 153 f. 14

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Die Unbestimmtheit des Begriffs spiegelt sich in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in der (nicht auf ein logisches und einheitliches Muster rückführbaren) Vielzahl und Verschiedenheit der sprachlichen Ausdrücke – Verhältnismäßigkeit und/oder Rationalität (Corte cost. Nr. 211/1997); reine Rationalität (Corte cost. Nr. 2226/1997); Verhältnismäßigkeit und Gleichheit (Corte cost. Nr. 218/1995, Nr. 89/1996)18 – und in der Vielzahl und Verschiedenheit der Argumentationstechniken – Vorgehensweise des tertium comparationis; Parameter der „inneren Irrationalität“ (etwa Corte cost. Nr. 215/1983)19; Kriterium der „Gleichheit“ (Corte cost. Nr. 74/1992)20 wider. Vor einem solch „unklaren“ Hintergrund, aus dem eine gewisse Leichtfertigkeit in der Art und Weise hervorgeht, mit der die Corte costituzionale die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und/oder Rationalität behandelt, werden die Prinzipien doch quasi kausal auf das Gleichheitsgebot zurückgeführt (Corte cost. Nr. 218/1974)21, überrascht es nicht, dass angesichts der Vielfalt von Entscheidungen und Argumentationen ein Teil der Lehre die Unzulänglichkeit eines allgemeinen „Verhältnismäßigkeitsprinzips“22 darlegt und die „Unterschätzung“ des Bedürfnisses der Rechtsordnung nach Zusammenhang, Einheitlichkeit und Systematik hervorhebt. Aber nicht nur das. Die Corte costituzionale gelangt auf diese Weise zu einer Bewertung der Verhältnismäßigkeit einer Norm mittels einer Ausdehnung des Gegenstands der Prüfung: von der Überprüfung der Übereinstimmung der ___________ 18 Die Corte cost. Nr. 23/1990; Nr. 52/1995; Nr. 113/1999; Nr. 154/1999 scheint demgegenüber die Zweckmäßigkeit hervorzuheben, das Gleichheitsgebot und das Verhältnismäßigkeitsprinzip auseinanderzuhalten. 19 Siehe darüber hinaus auch Corte cost. Nr. 153/1979 (die den Begriff der „Absurdität“ verwendet); Nr. 40/1990 (Giurisprudenza costituzionale 1990, S. 148 und S. 152: „evidente Irrationalität“ bzw. „offensichtliche Irrationalität“; zum letzteren Fall vgl. Corte cost. Nr. 81/1992); Nr. 57/1995 (worin die „innere Unverhältnismäßigkeit der Regelung“ der angefochtenen Norm hervorgehoben wird). 20 In der Entscheidung wird auf den Begriff der „praktischen Rationalität als Ursprung der Gleichheit“ Bezug genommen. 21 Dazu, dass Gleichheit und Verhältnismäßigkeit keine entgegengesetzten und voneinander getrennte Werte, sondern zwei verschiedene Stadien sind, von denen das eine (das Gleichheitsgebot) unabdingbar und vorangehend und das andere (das Verhältnismäßigkeitsprinzip) möglich und jedenfalls nachfolgend bei einer gleichartigen Beurteilung ist (tertium comparationis, Homogenität der gegenübergestellten Situationen, vom Gesetzgeber verfolgter Zweck usw.), vgl. Paladin, Corte costituzionale e principio generale d’eguaglianza: aprile 1979 – dicembre 1983, in: Scritti su „La Giustizia costituzionale“ in onore di Vezio Crisafulli, I, 1985, S. 620. Nach Moscarini, Ratio legis e valutazioni di ragionevolezza, 1996, S. 99 ff., bleibt das Gleichheitsgebot, sei es auch unabhängig vom Verhältnismäßigkeitsprinzip, zusammen mit der ratio legis ein Beurteilungsmaßstab für die Verhältnismäßigkeit. 22 Paladin, voce Ragionevolezza (principio di), Enciclopedia del diritto – Aggiornamenti, 1997, S. 901 ff.

Kurze Überlegungen zur verfassungsrechtlichen Rechtsprechung

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Norm mit ihrem Zweck, hinweg über eine Überlegung zu möglichen Auswirkungen der untersuchten normativen Regelung bis hin zu einer Abwägung der betroffenen Rechte und zu einer Auseinandersetzung mit der „Handlung“, so dass man in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung dazu kommt, die „Handlung“ gegenüber dem Recht zu privilegieren und den Wortlaut den Anforderungen einer flexiblen Einschätzung unterzuordnen. Die Erforderlichkeit einer Privilegierung der Handlung (gegenüber dem Recht) entspringt aus der Rolle, welche die Corte costituzionale als Vermittlerin in von politischen Repräsentationsorganen ungelösten Interessenkonflikten angenommen hat, und erklärt die mögliche Ausweitung der Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, das von Seiten der Corte costituzionale als ideale Richtschnur für die Ausübung politischer Gewalt (in der Logik des konkreten Einzelfalls) angesehen wird. Eine solche Überprüfung, vor allem wenn sie bis auf eine Interessenabwägung ausgedehnt wird23, löst den oben erwähnten Konflikt zwischen auslegender Tätigkeit und autonomer Positionsbestimmung zugunsten der zweiten, weil das Ziel der Tätigkeit der Corte costituzionale nicht etwa auf die Ermittlung der Bedeutung der normativen Bestimmung, sondern auf die Lösung eines Interessenkonflikts gerichtet ist.24 Demnach führt die Corte costituzionale für die Überprüfung der Interessenabwägung, die vom Gesetzgeber mittels Bestimmungen sub iudice erzielt werden, eine besondere „Gewichtung“ der unterlegenen „Interessen“ ein und schreibt eine solche für die Gesetzesauslegung im Moment der Anwendung vor. In diesem Zusammenhang schlägt sich die „Stilklausel“25 (allgemeine, unbestimmte, lückenausfüllende Klausel) der Verhältnismäßigkeit bereichsübergreifend in allen Gebieten der Rechtsordnung, die einer Überprüfung der Corte costituzionale standgehalten haben, nieder, aber sie nimmt eine besondere Bedeutung im Strafrecht an, das einem eigenständigen, spezifischen Kern verfassungsrechtlicher Garantien unterfällt: Der Gebrauch (oder „Missbrauch“) des Prinzips könnte nämlich eine Art „gerichtliche Vertretung“ der Corte costituzionale ermöglichen, die zum Gesetzesvorbehalt nach Art. 25 der italienischen ___________ 23

Eingehend dazu Belfiore, Giudice delle leggi e diritto penale. Il divieto contributo delle Corti costituzionali italiana e tedesca, 2005, S. 319 ff.; s. die Rezension von Maiwald, ZStW 121 (2009), S. 501 ff. 24 Bin, Diritti e argomenti. Il bilanciamento degli interessi nella giurisprudenza costituzionale, 1992. 25 Insolera, Principio di uguaglianza e controllo di ragionevolezza sulle norme penali, in: Canestrari/Insolera/Mazzacuva/Patarini/Sgubbi/Stortoni/Tagliarini (a cura di), Introduzione al sistema penale I, 2. Aufl. 2000, S. 288 ff.

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Verfassung, einem Prinzip, das gegenwärtig „in erhöhter Weise dem Risiko“ ausgesetzt ist, als veraltet angesehen zu werden, im Widerspruch steht.26 Dies möge genügen, um darüber nachzudenken, die Funktionsweise der Corte costituzionale vielleicht zu überarbeiten (unmittelbarer Zugang für Bürger über ein direktes Verfahren, Erweiterung der lehrenden Befugnisse der Corte costituzionale). Wenn die Corte costituzionale also, obgleich sie nach den gültigen Bestimmungen keines ist, sich so verhält, als wäre sie ein „Superparlament“27, geht es darum zu klären, ob sie zum Einhalten der formellen Bestimmungen gezwungen werden soll; oder ob die Gelegenheit, die Regelungen der Befugnisse und Aufgaben der Corte costituzionale zu verändern, wertzuschätzen ist, um sie auch im Hinblick auf ihre Zusammensetzung einem in Gang gesetzten kulturellen und politischen „Wandel“ in unserem System anzupassen. Das Ziel ist nicht etwa, die Frontstellung von Parlament und Corte costituzionale zu schüren, sondern klärende Mechanismen einer „gegenseitigen Zusammenarbeit“ zwischen Kontrollierendem und Kontrolliertem zu finden, etwa durch verfassungsrechtliche Konventionen und jedenfalls durch die Setzung von Normen über rechtmäßiges Verhalten28: Die Anwendung eines kollaborativen Modells könnte nämlich die „sich ausdehnende Tendenz“, die Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen, eindämmen29, die trotz allem, das möchte ich hervorheben, nicht nur ein italienisches Phänomen ist.

___________ 26

Siehe auch Belfiore (Fn. 23), S. 105 f. Siehe dazu die Ausführungen von Mezzetti, in: Zilletti/Oliva (a cura di), Il controllo di costituzionalità delle norme di favore. Verso un sindacato di legittimità sulle scelte politico-criminali?, 2007, S. 33 ff.; für einige Denkansätze vgl. auch Bartole, Le sentenze normative e i loro effetti, in: Barbera/Giupponi, La prassi degli organi costituzionali, Annali di diritto costituzionale, 2008, Jahrgang I, Nr. 1, S. 541 ff. 28 Morrone, Il custode della ragionevolezza, 2001, S. 527, m.w.N. 29 Siehe hierüber Cheli, Il giudice delle leggi, 2. Aufl. 1999, S. 116 f. 27

Zur alten und neuen Entgrenzung des § 142 StGB Die nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts unzulässige Subsumtion des unvorsätzlichen Sich-Entfernens vom Unfallort und ihre Folgen Von Werner Beulke Nicht zuletzt wegen seiner praktischen Relevanz, aber auch aufgrund seiner zahlreichen dogmatischen Ungereimtheiten wird um die Auslegung des Straftatbestandes des unerlaubten Entfernens vom Unfallort in Rechtsprechung und Literatur lebhaft gerungen. Bereits im Jahr 1963 hatte das Bundesverfassungsgericht erstmals über die Verfassungsmäßigkeit des § 142 StGB zu entscheiden. Schon dieser grundlegende Beschluss hob die Bedeutung der Strafnorm hervor1: „Der moderne Massenverkehr auf den öffentlichen Wegen ist, wie die Unfallstatistik zeigt, mit schweren Gefahren für Leben, Gesundheit und Eigentum der Verkehrsteilnehmer verbunden. Aufgabe der Rechtsordnung ist es, die Entschädigung der Unfallopfer nach Möglichkeit sicherzustellen. Der Fortfall des strafrechtlich bewehrten Verbots der Unfallflucht würde die zivilrechtlichen Entschädigungsansprüche der Unfallopfer in zahlreichen Fällen entwerten oder sogar ihre Verfolgung unmöglich machen“.

Die Frage, welche einzelnen Fallgruppen die Straftatbestände in § 142 Abs. 1 und 2 StGB konkret erfassen, ist damit allerdings noch nicht beantwortet2. Aktuellen Anlass für die wieder entfachte Diskussion um die problemträchtige „Hydra“3 des § 142 StGB bietet ein weiteres Mal die Fallgruppe des unvorsätzlichen (Sich-)Entfernens vom Unfallort. Ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat sie endlich doch aus dem Kontext des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB herausgelöst. Dieser beinahe revolutionär anmutende Befreiungs___________

Für die Mithilfe an diesem Beitrag danke ich meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. Benedikt Edlbauer. 1 BVerfG NJW 63, 1195 (noch zu § 142 StGB a.F.); vgl. auch Schünemann, DAR 03, 207; Weigend, FS Tröndle, 1989, S. 753. 2 Zum Zusammenspiel beider Absätze Wessels/Hettinger, Strafrecht BT, 32. Aufl. 2008, Rn. 1001. 3 Dieses Bild stammt von Weigend, JR 93, 115, 117; vgl. auch ders. (Fn. 1), S. 753; siehe ferner Brüning, ZIS 07, 317.

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schlag hat die Praxis in große Turbulenzen versetzt, für deren Bewältigung wiederum das Bundesverfassungsgericht eigene Vorschläge unterbreitet hat, die im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen sollen. Ich hoffe, dass sie auf das Interesse unseres hoch verehrten Jubilars Manfred Maiwald stoßen, der selbst die Verkehrsstraftaten im Rahmen des bekannten Lehrbuchs zum Besonderen Teil bearbeitet hat4. Überdies gehörte Manfred Maiwald zu den Mitgliedern der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen, die vor 30 Jahren über meinen Habilitationsvortrag zur Strafbarkeit gemäß § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB bei vorsatzlosem Verlassen des Unfallortes zu befinden hatten. Wenn ich mich nunmehr, nach langer Zeit, über den vorliegenden Festschriftbeitrag erneut mit diesem Thema an ihn wenden kann, so ist das für mich ein besonders bewegender Moment.

I. Die Strafbarkeitsbegründung über § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB Die Strafbarkeit des unvorsätzlichen Entfernens vom Unfallort ist seinerzeit vor allem wegen einer Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1978 in den Mittelpunkt gerückt5. Der Bundesgerichtshof hatte die wenig gelungene Gesetzesformulierung6 „berechtigt oder entschuldigt“ in § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB so verstanden, dass sie auch ein Verlassen des Unfallorts ohne Vorsatz erfasste. Einschränkend ging er gleichwohl davon aus, dass diese Variante der Feststellungspflicht nur entstehen sollte, wenn der Unfallbeteiligte7 noch im Rahmen eines räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs Kenntnis vom Unfallgeschehen erlangt8. Methodisch entsprach dies einer Überführung der Zumutbarkeit aus der früheren Fassung des § 142 Abs. 2 StGB, die in erster Linie darauf abstellte, ob sich ein Unfallpartner den notwendigen Feststellungen durch „Flucht“ entzogen hatte9. Die Einschränkung wurde aus diesem un___________ 4

Vgl. Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT II, 9. Aufl. 2005, § 53 (Verkehrsstraftaten) und speziell zur Unfallflucht: BT I, 9. Aufl. 2003, § 49. Die Unfallflucht gilt nicht zu Unrecht als „Schlüsseltatbestand des Verkehrsstrafrechts“; vgl. Schünemann, DAR 2003, 207. 5 BGHSt 28, 129. 6 Vgl. bereits Beulke, NJW 79, 400 f.; Küper, GA 1994, 49, 51; Wessels/Hettinger (Fn. 2), Rn. 999; diesen Kritikpunkt zusammenfassend: Zopfs, Unfallflucht bei eindeutiger Haftungslage?, 1993, S. 1 ff. 7 Vgl. zum Begriff des Unfallbeteiligten Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 27. Aufl. 2006, § 142 Rn. 20 f.; Wessels/Hettinger (Fn. 2), Rn. 1000. 8 Vgl. BGHSt 28, 129, 133 u. 135 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung zur alten Gesetzesfassung (BGHSt 14, 89, 94 ff. u. 18, 114, 118 f.). An diesem Punkt differenzierend: Geppert (zuletzt DAR 2007, 380, 381 f.). 9 Zu den Unterschieden zwischen alter und neuer Fassung Anton, Bedingter Vorsatz beim Vergehen der Verkehrsunfallflucht, 1980, S. 235 ff.; zur Entstehungsgeschichte Zopfs (Fn. 6), S. 20 ff.

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geschriebenen Merkmal abgeleitet, das man in den Spezialtatbestand eines strafbewehrten Unterlassens hineinlas10. Die Instanzgerichte und ein Teil des Schrifttums haben sich dem angeschlossen, so dass Unfallbeteiligte, die sich unvorsätzlich vom Unfallort entfernt hatten, dann aber noch in räumlicher und zeitlicher Nähe zum Unfallgeschehen über den Vorgang informiert wurden und dennoch ihre Unfallbeteiligung nicht offen legten, bis vor kurzem gemäß § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB bestraft wurden. Schon in dem bereits erwähnten Habilitationsvortrag habe ich die damals brandneue Rechtsprechung kritisiert und viele andere Diskutanten haben sich später im gleichen Sinn geäußert, so dass in der Literatur schließlich die Auffassung überwog, dass die vom Bundesgerichtshof favorisierte Gesetzesinterpretation nicht mehr im Einklang mit dem von Art. 103 Abs. 2 GG verbürgten Verbot analoger Rechtsanwendung zulasten des Straftäters steht11. Man bezog sich hierbei vornehmlich auf die Grenzen der historischen und systematischen Auslegung; die Berücksichtigung des Normzwecks bestätigte gleichfalls diesen Befund12. Die gesetzliche Formulierung „berechtigt oder entschuldigt“ lautet eben nicht einfach nur „straflos“. Sie vermag deshalb – auch um einer erheblichen Verkürzung der Selbstbegünstigungsfreiheit des Unfallbeteiligten, der sich vorsatzlos von der Unfallstelle entfernt hat, entgegenzuwirken13 – die Fälle des unvorsätzlichen Entfernens nicht zu erfassen14. Der Normappell kann den Täter im Zeitpunkt des Verlassens des Unfallortes gar nicht erreichen, weil der Betreffende die Sachlage nicht kennt. Angesichts des geschilderten Diskussionsstands war zwar der späte Zeitpunkt, nicht aber der Inhalt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 2007 überraschend, die jene Rechtsprechung für verfassungswidrig erklärt hat15. Von der Eindeutigkeit ihres Votums gingen die Richter der 1. Kammer des 2. Senats dabei offenbar selbst aus, da sie der entsprechenden Verfassungsbeschwerde zu § 142 StGB als offensichtlich begründet stattgaben ___________ 10 Vgl. insbesondere BGHSt 28, 129, 135 und NK-StGB/Schild, 2. Aufl. 2005, § 142 Rn. 149. 11 Vgl. nur Beulke, NJW 79, 400, 404 f.; Lackner/Kühl, 26. Aufl. 2007, § 142 Rn. 25; SK-StGB/Rudolphi, 46. Lieferung, 6. Aufl. 1998, § 142 Rn. 40; Schönke/Schröder/ Sternberg-Lieben (Fn. 7), § 142 Rn. 55; MK-StGB/Zopfs, 1. Aufl. 2005, Band 2/2, § 142 Rn. 105; differenzierend LK-StGB/Geppert, 11. Aufl. 2005, § 142 Rn. 125 ff.; a. A. Jäger, Examens-Repetitorium BT, 2. Aufl. 2007, Rn. 499; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT I (Fn. 4), § 49 Rn. 54; NK-StGB/Schild (Fn. 10), § 142 Rn. 149; Volk, DAR 82, 81, 85; zum alten Streitstand Hillenkamp, BT, 17. Problem, 10. Aufl. 2004, S. 80. 12 Vgl. Beulke, NJW 79, 400, 401 ff., 404 f. 13 Vgl. zu diesem Problemaspekt Janiszewski, Verkehrsstrafrecht. 4. Aufl. 1994, Rn. 473 f. 14 Vgl. Beulke, NJW 79, 400, 401 u. 403; vertiefend zu dieser Diskussion LK-StGB/ Geppert (Fn. 11), § 142 Rn. 133 ff. 15 Vgl. BVerfG NJW 07, 1666. Zur Möglichkeit einer Wiederaufnahme bereits abgeschlossener Strafverfahren Ebner, SVR 07, 391, 392.

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und die Befassung des gesamten Senats demzufolge gar nicht mehr für erforderlich hielten (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Damit fand die über lange Zeit hinweg vertretene Gegenposition der Fachgerichte ein erstaunlich abruptes Ende16. Interessant erscheint an diesem ablehnenden Votum zunächst, welchen Prüfungsmaßstab das Verfassungsgericht aus dem Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG abgeleitet und wie es diesen Maßstab auf § 142 Abs. 2 StGB übertragen hat. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG, der sich über Art. 2 Abs. 1 GG in einer Verletzung der Grundrechte des Beschuldigten fortsetzt, setzt schlicht voraus, dass das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot nicht beachtet worden ist. Dieses Prinzip verpflichte, wie das Bundesverfassungsgericht erläutert, nicht nur den Gesetzgeber dazu, die Voraussetzungen einer Strafnorm so präzise zu umschreiben, dass sich Anwendungsbereich und Tragweite der gesetzlichen Vorgaben aus dem Wortlaut ergäben oder zumindest im Wege der Auslegung ermittelt werden könnten. Es halte auch die Strafgerichte dazu an, in der Rechtsanwendung nicht über diesen Gehalt der gesetzlichen Strafbarkeitsvorgaben hinauszugehen. Dabei bleibe es auch im Strafrecht prinzipiell erlaubt, der „Vielgestaltigkeit des Lebens“ durch die Verwendung von Begriffen Rechnung zu tragen, die in besonderem Maße der Ausdeutung durch den Richter bedürften. Dennoch müsse „jedenfalls im Regelfall“ für den Normadressaten aus dem Wortlaut erkennbar bleiben, wann und ob ein Verhalten strafbar sei. Der „mögliche Wortsinn“ markiere die „äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation“. Ergäben sich dann Strafbarkeitslücken, habe der Gesetzgeber zu entscheiden, ob die Lücke bestehen bleibe oder ob eine neue Regelung geschaffen werde17. Problematischer als diese weithin anerkannten Grundsätze bleibt die Frage, wo die Grenze des möglichen Wortsinns denn nun im jeweils zu untersuchenden Kontext verläuft. Im Allgemeinen erweist sich das Bundesverfassungsgericht in diesem Punkt als außerordentlich großzügig18. Hier scheint es seine zur Ablehnung führende Argumentation nach der Maxime „Doppelt genäht hält besser!“ aufgebaut zu haben. Denn die Kammer bezieht sich sowohl auf das alltagssprachliche als auch auf das fachspezifische Verständnis der Wendung „berechtigt oder entschuldigt“. Schon die Umgangssprache unterscheide nämlich zwischen unvorsätzlichen – im Sinne von nicht absichtlichen – und berechtigten oder entschuldigten Verhaltensweisen, die „das Recht auf ihrer Seite“ hätten bzw. mit ihren jeweiligen Folgen hinzunehmen seien. Aber auch vor dem Hintergrund der juristischen Fachterminologie, aus dem „Kontext des Gesetzes“, ergebe sich nichts anderes. Der gesetzlich festgelegte Sachverhalt, der die ___________ 16 Vgl. auch Jahn, JuS 07, 689, 691; kritisch deshalb Laschewski, NZV 07, 444, 446 ff. 17 Vgl. BVerfG NJW 07, 1666 ff. 18 Vgl. Geppert, DAR 07, 380.

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nachträglichen Feststellungspflichten des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB auslöst, schließe unmittelbar an die von § 142 Abs. 1 StGB umschriebene Lage an. Das unvorsätzliche Sich-Entfernt-Haben sei vom Sinngehalt der Norm nicht mehr erfasst, da es die „normative Wertung“, unter welchen Umständen das SichEntfernen zulässig sei, zugunsten einer empirischen Tatsache – der Kenntnis vom Unfallgeschehen – außer acht lasse. Im Übrigen sei ein „untechnisches Verständnis der Begriffe, wie es die Rechtsprechung angenommen hat“, ohnehin abzulehnen19. Man mag speziell aus strafrechtlicher Sicht mit guten Gründen bezweifeln, dass der Vorsatz als rein empirische Tatsache hinreichend beschrieben und auf die bloße Kenntnis objektiver Umstände zu reduzieren ist20. Überdies kann das Gericht seine Auffassung ersichtlich nicht ganz ohne einen Rückgriff auf die Systematik („den Kontext“) des Gesetzes begründen, obwohl Art. 103 Abs. 2 GG doch prinzipiell nur eine Überschreitung des Wortsinns verhindern soll21. Schließlich klärt sich in dieser zentralen Passage der Beschlussbegründung noch nicht auf, inwiefern der Wortlaut des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB dem Bestimmtheitsgebot zuwider über die Grenze der grammatischen Auslegung hinweg ausgedehnt worden ist. Ob nun für die verfassungsrechtlich gebotene Wortsinnauslegung ein fach- oder ein umgangssprachliches Verständnis ausschlaggebend ist, lässt die Begründung des Beschlusses natürlich letzten Endes offen22. Damit bleibt eher zweifelhaft, ob dieser wesentliche Teil der Begründung, der sich allein auf die grammatische Auslegungsmethode beziehen muss, wirklich für sich genommen die Entscheidung trägt23. Dementsprechend kann man sich bei der Lektüre des Beschlusses auch kaum des Eindrucks erwehren, dass das Ergebnis keineswegs schon nach der grammatischen Auslegung gefunden ist und später nur noch „durch historische, systematische und teleologische Auslegungsgesichtspunkte gestützt“ werden soll. Vielmehr scheint die Entscheidung für die Verfassungswidrigkeit der Gleichstellungslösung auch aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts erst mithilfe weiterer Norminterpretationsmethoden überzeugend fundiert werden zu können24. Streng genommen ver___________ 19

Vgl. BVerfG NJW 07, 1666, 1667 f. Vgl. Küper, NStZ 08, 597, 598 f.; kritisch deshalb auch Brüning, ZIS 07, 317, 320. 21 Freilich ginge es wohl zu weit, im Rahmen von Art. 103 Abs. 2 GG selbst systematische Gesichtspunkte nicht mit einzubeziehen – vgl. Dehne-Niemann, Jura 08, 135, 137. 22 So auch die Einschätzung in den Besprechungen von Brüning, ZIS 07, 317, 319; Küper, NStZ 08, 597, 599. 23 Dafür Dehne-Niemann, Jura 08, 135, 137. 24 Vgl. BVerfG NJW 07, 1666, 1667 f.; Küper (NStZ 08, 597, 600) erkennt darin die Tendenz, zusätzliche materielle Schranken aus dem Analogieverbot abzuleiten, was auf eine Deutung als prinzipielles Verbot jeder gesetzeswidrigen Auslegung hinauslaufe. 20

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lässt die Entscheidung mit diesen zusätzlichen Erwägungen zwar den von Verfassungs wegen vorgegebenen Prüfungsrahmen und läuft Gefahr, doch in die Nähe jener berüchtigten „Superrevisionsinstanz“ zu geraten und damit den Kompetenzbereich der Fachgerichtsbarkeit unzulässig zu beschränken25. Gleichwohl treffen die Ausführungen des Gerichts nun den strafrechtlichen Kern der Sache. So stellt die Kammer fest, dass der Gesetzgeber nicht einfach jegliches straflose Sich-Entfernt-Haben unter die Norm fassen wollte. Es widerspreche dem Ausnahmecharakter des § 142 Abs. 2 StGB, wenn die Vorschrift auch den Fall erfasse, dass sich jemand unvorsätzlich vom Unfallort entferne. Schließlich bedient sich das Bundesverfassungsgericht dann auch noch der teleologischen Auslegung: Der Schutzzweck der Norm bestehe gerade darin, die Ersatzansprüche der Unfallbeteiligten zu sichern. Das Verbot des SichEntfernens vom Unfallort gelte deshalb unabhängig davon, ob der Betroffene im Einzelfall Kenntnis von dessen tatsächlichen Voraussetzungen gehabt habe oder nicht. Die Schwierigkeit des Nachweises dieser Kenntnis – und darum gehe es in den einschlägigen Fällen – könne gleichwohl nicht durch den Hinweis auf die kriminalpolitische Bedeutsamkeit des Verbots umgangen werden. So stößt also auch eine am Normzweck orientierte Auslegung an ihre verfassungsrechtlichen Grenzen. Es bleibt die Erkenntnis, dass die Strafbarkeit des unvorsätzlichen Entfernens vom Unfallort in der Praxis nicht mehr über § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB begründet werden kann. Eine Subsumtion dieser Fälle wäre erst nach Änderung der Norm durch den Gesetzgeber wieder möglich.

II. Der Weg über § 142 Abs. 1 StGB Wer meint, damit sei bis zur erwarteten gesetzlichen Neuregelung Ruhe in die Diskussion um das unvorsätzliche Entfernen vom Unfallort eingekehrt, irrt jedoch. Denn überraschenderweise hat das Bundesverfassungsgericht in einem obiter dictum nun doch noch ein „Hintertürchen“ zur Strafbarkeitsbegründung aufgestoßen26. Die Verfassungshüter deuten offensichtlich bar jeder Berührungsängste gegenüber dem Hoheitsbereich der Fachgerichte die Möglichkeit an, auch de lege lata kriminalpolitischen Notwendigkeiten Rechnung zu tragen. Die Kammer erläutert nämlich, dass § 142 Abs. 1 StGB keinen abgeschlossenen Sachverhalt des Sich-Entfernt-Habens voraussetze und ein Vorsatz für das Sich-Entfernen „grundsätzlich bis zur Beendigung der Tat durch ein erfolgreiches Sich-Entfernt-Haben“ noch gefasst werden könne27. Es sei eine verfas___________ 25

Kritisch auch Brüning, ZIS 08, 317, 320. Vgl. Jahn, JuS 07, 689, 691; Mitsch, NZV 09, 105. 27 Vgl. BVerfG NJW 07, 1666, 1668. 26

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sungskonforme Auslegung des § 142 Abs. 1 denkbar, die Fälle erfasse, in denen der Täter nachträglich auf den Unfall hingewiesen werde und sich gleichwohl weiter von der Unfallstelle entferne. Einer solchen Interpretation, die von der früheren Rechtsprechung zu § 142 StGB a.F. vertreten worden sei, stehe nicht entgegen, dass sich der Unfallbeteiligte bereits strafbar mache, wenn er den Unfallort verlasse. Schließlich gebe es auch noch ein sich an die Tatvollendung anschließendes Deliktsstadium, das erst mit der eigentlichen Beendigung zum endgültigen Abschluss gelange. Zudem bedürfe der Begriff des Unfallorts, der sich über längere Distanzen erstrecken könne, ohnehin der Konkretisierung durch die Gerichte. Diese hätten nun zu beurteilen, ob auf diesem Wege die Strafbarkeit des Unfallbeteiligten zu begründen sei. Auf den ersten Blick erscheinen diese Vorschläge durchaus erwägenswert und nicht unelegant – auf diese Weise wird die Diskussion um das unvorsätzliche Sich-Entfernen wieder auf den Regeltatbestand des § 142 Abs. 1 StGB zurückgeführt. Verwundert reiben wir uns die Augen, warum es für die kriminalpolitisch gewünschte Renaissance der Strafbarkeit des unvorsätzlichen SichEntfernens erst solcher Fingerzeige der Verfassungsrichter bedurfte. Ist die Lösung des Problems wirklich so einfach, dass wir nachträglich staunend zur Kenntnis nehmen müssen, wie „blind“ wir bisher alle waren? Dem soll im Folgenden nachgegangen werden. Der Vorschlag betrifft zwei verschiedene Ebenen: Entweder man modifiziert den Begriff des Unfallorts, indem man ihn auf den Standort des Unfallbeteiligten bei Vorsatzbildung erstreckt (1.). Oder aber man verlängert das Delikt zeitlich um eine Beendigungsphase, die sich an den eigentlichen Vollendungszeitpunkt anschließt, und in der auch ein später gefasster Vorsatz noch beachtlich sein soll (2.). 1. Zunächst zu der Überlegung, man könne den Begriff des Unfallorts „großzügiger“ lokalisieren. Nach ganz herrschender Ansicht bezeichnet der Unfallort im Sinne des § 142 StGB einen Bereich, der im „unmittelbaren“ räumlichen Zusammenhang zur Unfallstelle steht28. Manche stellen auch darauf ab, ob der räumliche Bezug des Unfallbeteiligten zum Unfallgeschehen noch „erkennbar“ erscheint29. Jedenfalls ist also die Unfallstelle selbst und damit das Areal gemeint, in dem sich das schädigende Ereignis, das erst zu den schutzgegenständlichen zivilrechtlichen Ersatzansprüchen der Unfallbeteiligten führt, abgespielt hat30. Zudem zählt der direkt anschließende Umkreis zum gesetzlichen Unfallort, in dem regelmäßig die unfallbeteiligten Fahrzeuge durch das Schadensereignis liegen geblieben sind31. Der Radius lässt sich auch darüber hinaus ___________ 28

Vgl. nur Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 142 Rn. 20. Vgl. nur Lackner/Kühl (Fn. 11), § 142 Rn. 11; MK-StGB/Zopfs (Fn. 11), § 142 Rn. 47. 30 Vgl. Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 7), § 142 Rn. 42. 31 Vgl. Lackner/Kühl (Fn. 11), § 142 Rn. 11. 29

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auf jenen Nahbereich erweitern, der noch in unmittelbarem Bezug zur eigentlichen Unfallstelle steht32. Die Rechtsprechung erfasst diese Zone, deren endgültige Bestimmung dem jeweiligen Einzelfall vorbehalten bleiben muss, meist durch die Vermutungsformel33. Demnach kommt es darauf an, ob der im Entfernen begriffene Unfallbeteiligte an seinem konkreten Standort noch als Betroffener erkennbar ist, weshalb ihn dort feststellungsbereite Personen vermuten oder durch Befragen ermitteln könnten34. Zugegebenermaßen werden sich gerade bei der Eingrenzung dieses äußersten Sektors letzte Unwägbarkeiten kaum ganz vermeiden lassen35. Unzweifelhaft tritt der Erfolg des § 142 Abs. 1 StGB aber zumindest dann ein, wenn der Unfallbeteiligte auch diesen Randbereich des Unfallorts endgültig verlassen hat36. Wie könnte man das herkömmliche Verständnis des Unfallorts, das Literatur und Rechtsprechung über lange Zeit entwickelt haben, nun modifizieren? Das Bundesverfassungsgericht schlägt die Wiederbelebung einer bereits angesprochenen älteren Rechtsprechung vor, die auch dann eine Unfallflucht bejahte, wenn der Betreffende jenseits des Unfallorts über seine Unfallbeteiligung informiert wurde und daraufhin den zuvor fehlenden Vorsatz fasste, ohne dass er sich außerhalb eines räumlich-zeitlichen Zusammenhangs zum Unfallgeschehen bewegte37. Ein „räumlich-zeitlicher Zusammenhang“ zum Unfallgeschehen soll also den Unfallort sehr viel weiter spannen, als der von der herrschenden Lehre beschriebene Bereich des unmittelbaren räumlichen Zusammenhangs reicht, obwohl beide Begriffe sprachlich sehr eng beieinander liegen38. Das hier ebenso wie nach der Gleichstellungslösung bei § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB relevante Kriterium des „räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs“ entstand dabei aber vor dem Hintergrund einer anderen Gesetzesfassung: § 142 StGB a.F. operierte nicht mit dem Begriff des Unfallorts, sondern stellte darauf ab, ob eine Beeinträchtigung der Unfallfeststellungen „durch Flucht“ eingetreten

___________ 32 Vgl. zu dieser weiteren Auffassung Lackner/Kühl (Fn. 11), § 142 Rn. 11; ablehnend aber Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 7), § 142 Rn. 42. 33 Vgl. etwa OLG Stuttgart NStZ 1992, 384, 385; kritisch MK-StGB/Zopfs (Fn. 11), § 142 Rn. 48. 34 Hintergrund dieser modifizierten Formel ist, dass auf diese Weise auch nahe gelegene Räumlichkeiten in den Unfallort einbezogen werden können (vgl. MK-StGB/Zopfs (Fn. 11), § 142 Rn. 48). 35 Mitsch, NZV 09, 105, 108 spricht in diesem Zusammenhang von den „berühmten Umständen des Einzelfalls“. 36 Vgl. zur Praxis und zu Einzelfällen aus der Rechtsprechung Himmelreich/ Bücken/Krumm, Verkehrsunfallflucht. Verteidigerstrategien im Rahmen des § 142 StGB, 5. Aufl. 2009, Rn. 201 ff. 37 Vgl. BGHSt 14, 89, 92 f. u. 94 f. u. 18, 114, 118. 38 Zum sachlichen Unterschied Fischer (Fn. 28), § 142 Rn. 20.

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war39. Die einschlägigen Entscheidungen gingen selbstverständlich und sogar ausdrücklich davon aus, dass der Unfallort selbst, an den der jetzige § 142 Abs. 1 StGB unzweideutig anknüpft, in diesen Fällen bereits verlassen worden war40. Die heutige gesetzliche Fassung ist also weniger auf den genannten Fluchtvorgang, sondern speziell auf das Verlassen des Areals des Unfallgeschehens ausgerichtet. Wenn sich der Unfallbeteiligte nunmehr klar erkennbar vom Unfallort entfernt hat, ist das Delikt vollendet 41. Würde man in diese zwingende Logik das überkommene Merkmal des räumlich-zeitlichen Zusammenhangs implantieren, wirkte dies wie ein völlig ungeeigneter Atavismus, der seinerseits die Grenze des Wortsinns bei § 142 StGB – nunmehr bei Abs. 1 – verfassungswidrig durchbräche42. Diese Form der Ausdehnung des Unfallorts könnte also das Gros der Fälle des unvorsätzlichen Entfernens vom Unfallort nicht dem Anwendungsbereich der Strafnorm zuführen, ohne mit dem Analogieverbot zu kollidieren. Lediglich in speziell gelagerten Ausnahmekonstellationen wäre es denkbar, dass der Unfallbeteiligte sich zwar zunächst unvorsätzlich wegbewegt, dann aber, noch bevor er sich vollends vom Unfallort entfernt hat, den bis dahin fehlenden Vorsatz nachträglich bildet43. Selbst wenn man den Begriff des Unfallorts in diesem Sinn äußerst extensiv bestimmt, wird diese Möglichkeit zumindest aber dann ausscheiden müssen, wenn sich der Betroffene im Moment der Vorsatzbildung in erheblicher Distanz zur Unfallstelle aufhält – und das sind gerade die Fallkonstellationen, um die in der jahrzehntelangen Kontroverse gestritten wird. Es überrascht nicht im Geringsten, dass auch die ersten Umsetzungsversuche der Instanzgerichte zeigen, dass an der Straflosigkeit des unvorsätzlichen Entfernens vom Unfallort auf diesem Wege der Neudefinition des Unfallortes nichts Wesentliches verändert werden kann44. 2. Als letzter „Rettungsanker“ kommt demnach nur noch der zweite Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts in Betracht, der für die Vorsatzbestimmung an das „Beendigungskriterium“ anknüpft. Zwar ist mit dem Wegfahren das Sich-Entfernen vom Unfallort abgeschlossen und das Delikt des § 142 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StGB vollendet45; es ist jedoch zu erwägen, ob man den Vorsatz nicht auch in einer späteren Phase bilden kann, nämlich in der Zeitspanne zwischen Vollendung und Beendigung der Tat46. Ein solcher Abschnitt ___________ 39

Die „Flucht“ hat in der heutigen Fassung keine unrechtskonstitutive Bedeutung mehr – vgl. Volk, DAR 82, 81, 83. 40 Besonders deutlich in BGHSt 14, 89, 95; vgl. auch Küper, NStZ 08, 597, 602 f. 41 Vgl. Lackner/Kühl (Fn. 11), § 142 Rn. 11. 42 Siehe auch Beulke, Klausurenkurs III, 3. Aufl. 2009, Rn. 464. 43 Dazu Küper, NStZ 08, 597, 602. 44 Vgl. nur OLG Düsseldorf NZV 08, 107 f. m. abl. Bespr. Küper, NZV 08, 597, 601 ff. 45 Vgl. Maurach/Schroeder/Maiwald, BT I (Fn. 4), § 49 Rn. 28. 46 Vgl. zu Vollendung und Beendigung MK-StGB/Zopfs (Fn. 11), § 142 Rn. 51.

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zwischen Vollendung und Beendigung ist dem Gesetz an sich nicht unbekannt, wie § 252 StGB zeigt. Andererseits wird schon bei anderen, ähnlich gelagerten Delikten, wie § 242 StGB, bestritten, dass eine solche Beendigungsphase rechtlich wirklich relevant ist47. In der Sache geht es dabei in erster Linie um die Strafbarkeit einer sukzessiven Beihilfe oder gar Mittäterschaft48. Darüber hinaus soll diese Verlängerung über die Vollendung hinaus dazu dienen, die nachträgliche Erfüllung qualifizierender Merkmale noch zu erfassen49. Beides ist an sich schon höchst umstritten. Für die Fallgruppe des unvorsätzlichen Entfernens vom Unfallort ergibt sich jedoch aus dieser Differenzierung zwischen Vollendung und Beendigung des Delikts mit Sicherheit kein brauchbarer Problemlösungsansatz. Selbst wenn man auch hier zwischen Vollendung und Beendigung differenzieren kann50, muss zumindest jenseits der Beteiligungsproblematik der strafbarkeitsbegründende Vorsatz des Täters unter strikter Beachtung des Koinzidenzprinzips ermittelt werden (vgl. §§ 8, 16 StGB)51. Es kommt insoweit ausschließlich auf den Zeitpunkt der Begehung der Tat an. Ebenso wie ein vorher bestehender, aber rechtzeitig aufgegebener Vorsatz keine Strafe begründet, muss auch die nachträgliche Vorsatzbildung irrelevant bleiben (dolus subsequens non nocet). Mit diesem Grundsatz geraten die Bemühungen, ein unvorsätzliches Entfernen vom Unfallort unter Strafe zu stellen, seit jeher in Berührung52. Schon angesichts der Gleichstellungslösung, also im Rahmen des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB, hat man eine Nichtanwendung der §§ 15, 16 StGB gerügt. Gleichwohl war dem damals zumindest noch entgegenzuhalten, dass diese Vorschrift von vornherein erst an ein nachträgliches Verhalten anknüpft53. Im Hinblick auf die Strafbarkeitsbegründung über § 142 Abs. 1 StGB wird man der Einforderung des Gleichzeitigkeitserfordernisses zwischen Tatvollendung und Tatvorsatz die Berechtigung nicht absprechen können. Der Vorsatz erfüllt seine Funktion als Voraussetzung der Strafbarkeit nur, wenn er sich bereits auf die Verwirklichung des objektiven Tatbestands bezieht und sich dadurch zu ihr kongruent verhält54. Ein bloßer „Beendigungsvorsatz“ reicht nicht aus55. ___________ 47

Vgl. etwa MK-StGB/Schmitz, 1. Aufl. 2003, Band 3, § 242 Rn. 163. Vgl. BGHSt 6, 248; 19, 323, 325. 49 Umfassend LK-StGB/Hillenkamp, 12. Aufl. 2007, Vor § 22 Rn. 17 ff., insbes. zur Rechtsprechung Rn. 20 ff. 50 Dafür etwa Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl. 2007, § 142 Rn. 54 f. 51 Vgl. Wessels/Beulke, Rn. 206; zur Beteiligungsfrage Mitsch, NZV 09, 105, 110. 52 Vgl. dazu Dehne-Niemann, Jura 08, 135. 53 Vgl. bereits Beulke, NJW 79, 400, 403; a. A. Dehne-Niemann, Jura 08, 135, 139. 54 Diese Kongruenz kann, wie bereits gezeigt, auch nicht durch eine Ausdehnung der objektiven Tatbestandsmäßigkeit erreicht werden, von der das Bundesverfassungsgericht allerdings wohl auch in Bezug auf den nachträglich gebildeten Vorsatz ausgeht (vgl. Mitsch, NZV 09, 105, 106). 55 Ebenso Küper, NStZ 08, 597, 604; i. E. auch Brüning, ZIS 07, 317, 321. 48

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Darüber hinaus sollten sich die künftigen Anhänger dieser in Anlehnung an den zweiten Hinweis des Bundesverfassungsgerichts konzipierten Lösung wieder des Ursprung der Problematik erinnern: Die alte Strafbarkeitsbegründung lief dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG als unzulässige Analogie zuwider. Dieses Hindernis räumt der neue Vorschlag zur zeitlichen Ausdehnung des § 142 Abs. 1 StGB aber keineswegs aus. Zwischen welchen Punkten die Beendigungsphase abläuft, darf nach wie vor als ungeklärt gelten. Als Beendigung wird meist der Zeitpunkt angesehen, zu dem der Sich-Entfernende das Ziel seiner Fahrt erreicht56. Wie steht es aber mit der Strafbarkeit, wenn der Unfallbeteiligte den Unfallort bis zum Zeitpunkt der Vorsatzbildung längst verlassen und eine beträchtliche räumliche Distanz zwischen Unfallstelle und Ankunftsort mit dem Auto zurückgelegt hat?57 Man denke etwa an eine Autofahrt zwischen Passau, meinem Wohnort, und Göttingen, dem Wohnort unseres Jubilars. Ist bei einem von mir nicht bemerkten Unfallgeschehen in Passau die Tat erst in Göttingen beendet? Sind Zwischenstopps (Kaffeepause, Tanken, etc.) entscheidend? Wie wäre es gar bei einem Autoausflug nach Österreich, wenn zweifelhaft ist, ob sich die Vollendung bzw. Beendigung einer Unfallflucht vor oder nach Grenzübertritt einstellt. Ist hier deutsches Strafrecht anwendbar, weil es sich um eine Inlandstat im Sinne des § 3 Abs. 1 StGB handelt? Für diesen Fall erscheint besonders bedeutsam, dass die Tat des § 142 StGB jenseits der deutsch-österreichischen Grenze nur noch als „Verwaltungsübertretung“ behandelt wird58. Der Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts wirft offensichtlich mehr neue Fragen auf als er alte Probleme löst. Auch durch eine Neudefinition des Vorsatzes bzw. des relevanten zeitlichen und örtlichen Rahmens für die Vorsatzbildung darf die gesetzliche Systematik der beiden Absätze des § 142 StGB nicht umgangen werden59. Somit bliebt nur das nüchterne Fazit: Die Hinweise im obiter dictum gehen ins Leere. Eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Strafbarkeit lässt sich weder durch eine räumliche Ausdehnung des Unfallorts noch durch die Ergänzung des § 142 Abs. 1 StGB um eine vorsatzrelevante Nachtatphase realisieren60. Spätere Entscheidungen unterer Strafgerichte haben diesen ___________ 56 Vgl. LK-StGB/Geppert (Fn. 11), § 142 Rn. 191; MK-StGB/Zopfs (Fn. 11), § 142 Rn. 51. 57 Zweifelnd auch Brüning, ZIS 07, 317, 321; vgl. auch Beulke (Fn. 42), Rn. 466. 58 Vgl. § 99 IIa StVO (Österreich); dazu Himmelreich/Bücken/Krumm (Fn. 36), Rn. 431 ff.; Mitsch, NZV 09, 105, 107 f. 59 Vgl. Küper, NStZ 08, 597, 604 f. 60 Zum gleichen Ergebnis gelangen übereinstimmend Brüning, ZIS 07, 317, 323; Küper, NStZ 08, 597, 605; Rengier, BT I, 9. Aufl. 2008, § 46 Rn. 28; a. A. aber Laschewski, NZV 07, 444, 448.

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Befund bereits bestätigt61. Der Rückgriff auf Abs. 1 des § 142 StGB ist nicht der lang gesuchte Königsweg, um die Fälle des unvorsätzlichen Entfernens vom Unfallort endlich in den Griff zu bekommen. Es bleibt dabei: Ein Nachtatverhalten wird nur unter den speziellen Voraussetzungen des § 142 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StGB relevant. Der den Unfallort unvorsätzlich verlassende Unfallbeteiligte ist selbst dann straflos, wenn er zeit- und ortsnah vom Geschehen Kenntnis erlangt, seine Fahrt aber ohne Ermöglichung nachträglicher Feststellungen fortsetzt – mag man hierin eine dem Schutz der zivilrechtlichen Ausgleichsinteressen des Unfallpartners zuwiderlaufende Informationsvorenthaltung sehen oder nicht62. Erwägenswert erscheint allenfalls ein Rückgriff auf das Recht der Ordnungswidrigkeiten – was der Bundesgerichtshof bisher allerdings (noch vor dem Hintergrund der Gleichstellungslösung) abgelehnt hat63. Bis zu einer Neuregelung des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB wäre es angesichts der gefährdeten Ausgleichsinteressen der Unfallbeteiligten wohl auch angemessen, das fahrlässige Entfernen vom Unfallort mit Geldbuße zu ahnden64. Freilich wäre dieser Ansatz, der an die §§ 24 StVG i.V.m. §§ 49 Abs. 1 Nr. 29, 34 Abs. 1 Nr. 5a, b, 6b StVO anknüpft, schon wegen des sehr viel geringeren Sanktionsdrucks einer bloßen Ordnungswidrigkeit eher eine Behelfslösung65.

III. Auswirkungen auf andere Fallgruppen Abgesehen von der Thematik des unvorsätzlichen Entfernens vom Unfallort sind inzwischen noch weitere Fernwirkungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erkennbar geworden. Unter anderem ist die Frage, ob ein Entfernt-Werden wirklich mit einem Sich-Entfernen gleichgesetzt werden kann, im Hinblick auf die Maßstäbe, mit denen aus Art. 103 Abs. 2 GG eine bestimmte Wortsinngrenze entwickelt wurde, neu zu beantworten66. Wird beispielsweise ein Bewusstloser vom Unfallort abtransportiert, mangelt es ersichtlich an dem aktiven Verhalten, das der Wortlaut des § 142 StGB in beiden Absätzen voraussetzt. Ist schon das unvorsätzliche Sich-Entfernen des Unfallbeteiligten dem Anwendungsbereich des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB entzogen, muss dies im Üb___________ 61

Vgl. etwa OLG Düsseldorf NZV 08, 107. So i. E. auch Mitsch, NZV 09, 105, 109 f. 63 Vgl. BGHSt 31, 55; dazu Mitsch, NZV 08, 217, 220. 64 Vgl. bereits Mitsch, NZV 08, 217, 220. 65 Zur Unterscheidung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten nach qualitativen und/oder quantitativen Gesichtspunkten grundlegend: KK-OWiG/Rogall, Vorbemerkungen zum ersten Teil (Allgemeine Vorschriften §§ 1-34 OWiG), 3. Aufl. 2006, Rn. 2. 66 Vgl. Rengier (Fn. 60), BT I, § 46 Rn. 30; zu weiteren „Fällen defizitärer Vollendung“ Mitsch, NZV 09, 105, 106 ff. 62

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rigen erst recht für den gänzlich zu Willensbildung und Handlung Unfähigen gelten67. Eine ähnliche neue Positionsbestimmung drängt sich für die Konstellation des einverständlichen Sich-Entfernens der Unfallbeteiligten auf68. Gerade diese Fälle des Feststellungsverzichts hat man bisher ziemlich großzügig dem Anwendungsbereich des berechtigten Sich-Entfernt-Habens zugerechnet69. Schon vor dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts erschien dies äußerst bedenklich, da dem Unfallbeteiligten auf diese Weise eine inakzeptable, nachträgliche Pflicht zur Selbstbezichtigung aufoktroyiert wird70. Richtigerweise schließt die Zustimmung des Geschützten im Rahmen von § 142 Abs. 1 StGB als Einverständnis schon den Deliktstatbestand aus71. Im Gegensatz zur rechtfertigenden Einwilligung ist kein typischerweise in der Unrechtsbeschreibung niedergelegtes Fehlverhalten erkennbar, das bei Rechtfertigungsgründen nur ausnahmsweise durch eine bestimmte Legitimationsnorm kompensiert wird. Ein Sich-Entfernen mit Einverständnis des Unfallgegners kann entgegen der herrschenden Meinung nicht als „berechtigt“ angesehen werden. Nachträgliche Feststellungspflichten entstehen nicht, sofern der Berechtigte sein volles Einverständnis zum Verlassen des Unfallorts erteilt hat72. Dieses Ergebnis steht im Übrigen auch im Einklang mit dem Schutzzweck des § 142 StGB, an den schon zu Beginn dieses Beitrags erinnert wurde. Ein Rechtsgüterschutz mit den Mitteln des Strafrechts ist jedenfalls endgültig nicht mehr geboten, wenn die Unfallbeteiligten ihre gegenseitigen Ausgleichsinteressen gleichberechtigt miteinander verhandeln wollen und zu diesem Zweck einvernehmlich den Unfallort verlassen. Eine drohende Sanktion sollte die Kompromissfindung der Parteien dann nicht mehr unnötig erschweren73.

___________ 67

Vgl. LK-StGB/Geppert (Fn. 11), § 142 Rn. 125; NK-StGB/Schild (Fn. 10), § 142 Rn. 123. 68 Zur weiterhin problematischen Anwendbarkeit des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB bei einem Sich-Entfernen im Vollrausch i.S.v. § 323a StGB: Rengier, BT I (Fn. 60), § 46 Rn. 32. 69 Vgl. etwa OLG Köln NJW 81, 2367; zu Abstufungen LK-StGB/Geppert (Fn. 11), § 142 Rn. 80 f., der selbst unter Rn. 82 von „ansonsten enger verstandenen Rechtsbegriffen (‚berechtigt‘, ‚entschuldigt‘)“ spricht und dennoch eine erweiternde Auslegung für zulässig hält. 70 Vgl. Beulke, JuS 82, 815, 816 f. 71 Vgl. Bernsmann, NZV 89, 49, 52; NK-StGB/Schild (Fn. 10), § 142 Rn. 93; zu anderen Ansichten LK-StGB/Geppert (Fn. 11), § 142 Rn. 81. 72 Wie hier NK-StGB/Schild (Fn. 10), § 142 Rn. 118; vgl. zur herrschenden Gegenauffassung MK-StGB/Zopfs (Fn. 11), § 142 Rn. 99. 73 Zu weiteren Problemen des Feststellungsverzichts und Differenzierungen: Bernsmann, NZV 89, 49; LK-StGB/Geppert (Fn. 11), § 142 Rn. 76 ff.

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IV. Fazit Die Ablehnung der Gleichstellungslösung durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ist im Ergebnis also richtig und auch sachgerecht, wohingegen sich die Hinweise auf eine anderweitige verfassungskonforme Strafbarkeitsbegründung als nicht zielführend erweisen. Unabhängig davon wird die Entscheidung eine restriktivere Auslegung des § 142 StGB – insbesondere von Abs. 2 Nr. 2 StGB – durch die Fachgerichte erforderlich machen. Im Hinblick auf die fragmentarische Natur des strafrechtlichen Schutzes, dessen Gegenstand hier allein die zivilrechtlichen Ausgleichsansprüche sind, sollte sich die zukünftige Rechtsprechungsauffassung grundlegend neu orientieren74. Mit diesem Gedanken möchte ich meinen Beitrag beschließen und Manfred Maiwald für die Zukunft alles Gute wünschen. Ich drücke dem Jubilar die Daumen für uneingeschränkte Gesundheit und umfassende Lebensfreude. Möge er die fachliche Auseinandersetzung noch viele Jahre durch seine klugen Diskussionsbeiträge lenken und fördern!

___________ 74 Eine allgemeine Behandlung als Auffangtatbestand ist jedenfalls nicht mehr möglich (dagegen auch NK-StGB/Schild (Fn. 10), § 142 Rn. 118).

Die strafrechtliche Produkthaftung auf dem Prüfstand der Dogmatik Von René Bloy

I. Präzisierung der Aufgabenstellung Der Problemkomplex der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Schäden, die durch gefährliche Industrieprodukte herbeigeführt worden sind, weist viele Facetten auf: kriminologische, kriminalpolitische, nicht zuletzt auch prozessuale, vor allem aber dogmatische. Im Folgenden sollen letztere im Vordergrund stehen1. Mit der Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofes vom 6. Juli 1990, dem sog. Lederspray-Urteil2, ist die Produkthaftung zu einer festen Größe (auch) im strafrechtlichen3 Diskurs geworden, so dass es knapp zwanzig Jahre danach an der Zeit erscheint, Rückschau zu halten und eine Zwischenbilanz zu ziehen. Dabei wird der Ertrag der – gerade auch durch dieses Urteil intensivierten – Diskussion in zweierlei Richtung auszuloten sein: Ist die Dogmatik in ihrer gegenwärtigen Gestalt dazu in der Lage, die strafrechtliche Produkthaftung auf eine solide Basis zu stellen? Und umgekehrt: Verleiht die strafrechtliche Produkthaftung der Dogmatik neue Impulse? Die strafrechtliche Produkthaftung gehört zu denjenigen Gegenwartsthemen der Strafrechtswissenschaft, die als Prüfstein für die Leistungsfähigkeit der herkömmlichen Dogmatik zur Bewältigung neuer Aufgaben dienen können, mit denen sich das Strafrecht in der modernen „Risiko-“Gesellschaft konfrontiert sieht. Da es bislang an brauchbaren Alternativen zu den traditionellen Zurechnungsregeln, die auf die Begründung von Individualverantwortlichkeit für Individualunrecht gerichtet sind, fehlt, stellt sich noch vor der – allenfalls als fernes Ziel zu bezeichnenden – Erarbeitung eines auf breiter Linie akzeptanzfähigen ___________ 1

Kriminologische und funktionale Aspekte des Verbraucherschutzes durch strafrechtliche Produkthaftung behandelt z. B. Vogel, GA 1990, 241 ff.; zu prozessualen Problemen s. etwa Hilgendorf, FS Lenckner, 1998, S. 699 ff. 2 BGHSt 37, 106. 3 Zur Vorzugswürdigkeit des Begriffs „strafrechtliche Produkthaftung“ gegenüber gelegentlich verwendeten begrifflichen Alternativen (Produzentenhaftung, Produktkriminalität, Produktverantwortung) s. Colussi, Produzentenkriminalität und strafrechtliche Verantwortung, 2003, S. 12 ff.

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und praxistauglichen „Kollektivstrafrechts“4 die Frage nach dem etwaigen Entwicklungspotential, das Herausforderungen wie die Produktkriminalität bereits in der überkommenen Dogmatik freizusetzen vermögen. Bevor auf einige der damit verbundenen Einzelheiten eingegangen wird, soll jedoch zunächst der Rahmen für die Entfaltung einer strafrechtlichen Produkthaftung skizziert werden.

II. Das Strafrecht in der „Risiko-“Gesellschaft: Individuelle versus kollektive Zurechnung Das Strafrecht in der Krise der Industriegesellschaft5 ist selbst von Krisensymptomen gezeichnet. Dies ist nichts weniger als ein überraschender Befund, denn der Zustand einer Gesellschaft wird auch – und nicht zuletzt – durch ihr Strafrecht reflektiert. Der Befund ist zudem alles andere als neu. Seit den späten 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wird er jedoch zunehmend mit einer besonderen Akzentsetzung erhoben, durch welche die unterschiedlichsten Kritikpunkte auf den gemeinsamen Generalnenner einer bedenklichen Wende vom überkommenen „klassischen“ Strafrecht zu einem der „Risiko-“Gesellschaft entsprechenden modernen „Risikostrafrecht“ gebracht werden6. Selbstverständlich ist es kein Zeichen erst der Gegenwart, sondern eine seit je her geltende, geradezu triviale Feststellung, dass menschliches Verhalten risikobehaftet ist. Gemeint ist mit dem Topos „Risiko-“Gesellschaft bekanntlich die neue Qualität der von Menschen geschaffenen Risiken: Es geht um vorwiegend aus kollektiven Prozessen entspringende Groß-Risiken, wie sie erst durch Wissenschaft, Technik und Wirtschaft der neuesten Zeit auf den Plan gerufen worden sind7. ___________ 4

Zu verschiedenen Entwicklungsperspektiven, die in diese Richtung weisen, s. bereits die in ZStW 105 (1993) veröffentlichten Referate auf der Strafrechtslehrertagung in Basel von Stratenwerth (S. 679 ff.), Kuhlen (S. 697 ff.), Herzog (S. 727 ff.) u. Alwart (S. 752 ff.); vgl. außerdem Heine, in: Arnold/Burkhardt/Gropp/Koch (Hrsg.), Grenzüberschreitungen, 1995, S. 51 ff.; Seelmann, Kollektive Verantwortung im Strafrecht, 2002; Kohlhoff, Kartellstrafrecht und Kollektivstrafe, 2003, S. 189 ff.; Joerden, Staatswesen und rechtsstaatlicher Anspruch, 2008, S. 119 ff. 5 So der programmatische Titel der Rektoratsrede von Stratenwerth, gehalten am 26.11.1993 an der Universität Basel (Basler Universitätsreden, Heft 89, 1993). 6 Repräsentativ Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993; auch schon Hassemer, NStZ 1989, 557 f.; Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, 1991, S. 50 ff.; zusf. Darstellung bei Hilgendorf, Strafrechtliche Produzentenhaftung in der „Risikogesellschaft“, 1993, S. 40 ff.; ders., NStZ 1993, 13 ff.; s. außerdem Hassemer, Produktverantwortung im modernen Strafrecht, 2. Aufl. 1996, insbes. S. 3 ff. u. Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik „moderner“ Gefährdungsdelikte, 2000. 7 Auf die Kontroverse um die Charakterisierung der heutigen Gesellschaft als „Risiko-“Gesellschaft kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden; es finden sich dazu immerhin auch substantielle Beiträge strafrechtlicher Autoren, s. z. B. Prittwitz (Fn. 6),

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Gleichwohl bleibt das Problem, die „neuen“ von den „alten“ Risiken abzugrenzen, wenn Risikogesellschaft und Risikostrafrecht spezifische Gegenwartsphänomene bezeichnen sollen. Erblickt man etwa bereits in der Schaffung und Durchsetzung der Rechtsfigur des erlaubten Risikos die Geburtsstunde einer neuartigen Risikodogmatik8, so fragt sich doch, ob nicht eher Kontinuität als grundlegender Wandel das Kennzeichen der Entwicklung ist9. Auf der anderen Seite lässt sich nicht leugnen, dass dem Strafrecht vom Umweltschutz über die Bekämpfung der modernen Formen des Terrorismus bis zum Schutz der Verbraucher industrieller Massenprodukte Aufgabenfelder zugewachsen sind, die es so in der Vergangenheit noch nicht gegeben hat. Da nun die Bewältigung derartiger neuer Aufgaben nur mit den traditionellen Möglichkeiten des Strafrechts zu scheitern droht, ist der Ruf nach Bereitstellung wirksamerer Instrumente zur Eindämmung dieser Kriminalität laut geworden. Speziell für den Bereich der Strafrechtsdogmatik zeichnet sich dabei die Gefahr ab, auf diese Herausforderungen mit einer Zurechnungsexpansion zu antworten10, um sich ihnen gewachsen zu zeigen. Die Möglichkeiten individueller Zurechnung werden sich jedenfalls nicht unbegrenzt erweitern lassen, ohne die Grenze zu einer geradezu atavistischen Erfolgshaftung zu überschreiten. Dieses ist zwar ein wohlbekanntes Problem, aber eines, das sich in der Gegenwart durch die immensen Schadensdimensionen verschärft stellt11. Eine derartige drohende Zurechnungsexpansion in verantwortbaren Grenzen zu halten, ist eine mehrschichtige Aufgabe12: Es geht einmal um Fragen der Entwicklung von Formen einer Kollektiv- wie auch einer Individual-Zurechnung von Kollektiv- (oder gleichbedeutend: System-)Unrecht, wobei damit allenfalls ein erster Anfang gemacht worden ist. Erstere betrifft die Verantwortlichkeit des Kollektivs selbst, die der strafrechtlichen Tradition in Deutschland fremd ist, im Wirtschaftsstrafrecht aber intensiv diskutiert wird und bislang nur im Ordnungswidrigkeitenrecht ansatzweise in Gestalt des § 30 OWiG bereits realisiert ist13. Diese Vorschrift kann übrigens auch Fälle aus dem Bereich der strafrecht-

___________ S. 49 ff.; Herzog (Fn. 6), S. 52 ff.; Kuhlen, GA 1994, 347 ff., insbes. 351 ff.; Schünemann, GA 1995, 210 f. 8 So Prittwitz (Fn. 6), S. 267 ff.; dazu Kuhlen, GA 1994, 354. 9 So in der Tat das nüchterne Résumé von Kuhlen, GA 1994, 358. 10 Eingehend Silva Sánchez, Die Expansion des Strafrechts, 2003. 11 Prittwitz (Fn. 6), S. 107 ff., 360 ff., 378 ff.; Kuhlen, GA 1994, 361 f. 12 Einen interdisziplinären Überblick über die Probleme von Zurechnungsexpansion und kollektiver Zurechnung vermittelt der Band von W. Lübbe (Hrsg.), Kausalität und Zurechnung, 1994, insbes. S. 41 ff. (L. Schulz), S. 91 ff. (G. Teubner), S. 223 ff. (W. Lübbe), S. 289 ff. (H. Lübbe). 13 Hierzu grdl. Tiedemann, NJW 1988, 1169 ff.

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lichen Produkthaftung erfassen14, bietet aber sicher noch nicht die definitive Lösung auf dieser Ebene15. Auf der anderen Seite sind die traditionellen Regeln individueller Zurechnung zur Begründung von Verantwortlichkeit einzelner Personen für Kollektivunrecht weder geschaffen noch ohne weiteres geeignet. Die vorhandenen Ansätze für eine Kollektivunrechts-Zurechnung in dieser Hinsicht befinden sich ebenfalls noch in einem Frühstadium16. Der Grund dafür, dass man es nicht wenigstens insoweit bei den überkommenen Zurechnungsregeln belassen kann, liegt darin, dass kollektive Prozesse auf diese Weise nicht adäquat zu erfassen sind, weil sie mehr darstellen als die Summe der Einzelhandlungen, die zu ihnen beitragen. Eine strafrechtliche Verantwortlich___________ 14 Vgl. Göhler/König, OWiG, 14. Aufl. 2006, § 30 Rn. 20; Vogel, GA 1990, 263. Zur Möglichkeit (anderer) strafrechtlicher Maßnahmen gegen Verbände de lege lata zusf. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz und Unternehmensstrafe, 1994, S. 37 ff. 15 Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf die in den letzten beiden Jahrzehnten wieder aktuell gewordene Diskussion um eine strafrechtliche Unternehmenshaftung. Aus der Fülle der Literatur zu diesem Thema seien nur einige grdl. Monographien genannt: H.-J. Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, 1993; Otto, Die Strafbarkeit von Unternehmen und Verbänden, 1993; Hirsch, Die Frage der Straffähigkeit von Personenverbänden, 1993; Ehrhardt (Fn. 14); Heine, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, 1995; Eidam, Straftäter Unternehmen, 1997; v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, 1998; Kirch-Heim, Sanktionen gegen Unternehmen, 2007; zum österreichischen Verbandsverantwortlichkeitsgesetz s. Schmoller, FS Küper, 2007, S. 519 ff.; für die Schweiz s. Forster, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Unternehmens nach Art. 102 StGB, 2006; allgemeiner zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Kollektiven überhaupt Lampe, ZStW 106 (1994), 720, 722 ff., 728 ff., 735 ff. 16 Dazu z. B. Kuhlen, JZ 1994, 1144 f.; ders., in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch zum Steuer- und Wirtschaftsstrafrecht, 2. Erg. Lfg. 1999, § 4 Rn. 19, 21 ff., 30 ff.; Heine, in: Eser/Huber/Cornils (Hrsg.), Einzelverantwortung und Mitverantwortung im Strafrecht, 1998, S. 96 ff.; allg. weiterführend Lampe, ZStW 106 (1994), 716 ff., 721 f., 725 ff., 733 ff., 741 ff.; konkret zu nennen wäre hier vor allem die von Roxin begründete Lehre von der Organisationsherrschaft (zuerst in: Täterschaft und Tatherrschaft, 1963, S. 242 ff.; ders., GA 1963, 193 ff.; zuletzt ders., FS Schroeder, 2006, S. 387 ff.), die insbes. auf staatlich organisierte Kriminalität zugeschnitten ist; vgl. auch Bloy, GA 1996, 441; Ambos, GA 1998, 234; krit. Bosch, Organisationsverschulden in Unternehmen, 2002, S. 235 f. – In diesen Zusammenhang lässt sich außerdem § 14 StGB (soweit der unmittelbare Normadressat keine natürliche Person ist) einordnen, den man als Zurechnungsvorschrift auf Grund eines Verhältnisses der Repräsentation des Verbands durch (eine) natürliche Person(en) begreifen kann, denn hier wird der Einzelne für das durch sein Verhalten vom Verband verwirklichte Unrecht (d. h. Kollektivunrecht) verantwortlich gemacht: s. dazu Rogall, in: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, 2000, S. 165; grds. zust. MK-StGB/ Radtke, 2003, § 14 Rn. 32; krit. NK-StGB/Marxen, 2. Aufl. 2005, § 14 Rn. 17; entschieden abl. LK-StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 14 Rn. 11; zur Bedeutung der „Unternehmensrepräsentation“ für die Verantwortlichkeit einzelner Personen weiterhin Köhler, AT, 1997, S. 554 ff.; Schmucker, Die „Dogmatik“ einer strafrechtlichen Produktverantwortung, 2001, S. 197 ff., 202 f.; s. der Sache nach auch schon Tiedemann, NJW 1986, 1844; 1988, 1172; Lampe, ZStW 106 (1994), 733 f.

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keit des Kollektivs selbst bzw. einzelner Personen für Kollektivunrecht bedeutete freilich bestenfalls eine Ergänzung im Sinne einer zusätzlichen Spur im Strafrecht neben der „klassischen“ Individualverantwortlichkeit. Wie weit deren Ausbaufähigkeit reicht (und das ist eine dritte Problemschicht), ist zudem gegenwärtig durchaus noch offen. Immerhin ist auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass das Strafrecht hier an prinzipielle Grenzen seiner Leistungsfähigkeit stößt, so dass es eher darum ginge, eine solche Begrenzung zu akzeptieren. Auf eine kurze Formel gebracht, schwanken die kritischen Überlegungen zur zukünftigen Rolle des Strafrechts zwischen der Warnung, der organisierten Unverantwortlichkeit ihren Lauf zu lassen, und der Beschwörung der Gefahren einer Zurechnungshypertrophie. Während über die Forderung nach einem Kollektivstrafrecht in der einen oder anderen Form ein zuverlässiges Urteil einstweilen noch nicht möglich ist, steht jetzt schon fest, dass das Individualstrafrecht traditioneller Prägung jedenfalls nicht entbehrlich werden wird. Es kann sich für die Bekämpfung der „neuen Risiken“ zudem nicht einfach für unzuständig erklären, mögen seine Möglichkeiten auch beschränkt sein. Erforderlich ist jedoch eine kritische Überprüfung des ihm zur Verfügung stehenden Instrumentariums. Dies kann hier nicht umfassend sondern nur exemplarisch erfolgen. Dabei soll im Hinblick auf den Sektor der strafrechtlichen Produkthaftung der Frage nachgegangen werden, welche Perspektiven sich für die Regeln individueller Zurechnung ergeben.

III. Hauptprobleme individueller Zurechnung bei der strafrechtlichen Produkthaftung 1. Theoretische und praktische Relevanz der bestehenden Zurechnungsprobleme Es ist üblich, im Zusammenhang mit der Behandlung von Fragen der strafrechtlichen Produkthaftung darauf hinzuweisen, dass es dabei um eine „moderne“ Problematik gehe, die Wissenschaft und Justiz vor Aufgaben stelle, welche mindestens an die Grenzen der Leistungsfähigkeit des überkommenen Strafrechts führe, ja diese vielleicht bereits überschritten17. Allerdings hat sich die Rechtsprechung schon seit Jahrzehnten immer wieder mit Fällen zu befassen gehabt, die der Sache nach die strafrechtliche Produkthaftung betrafen, mag diese Etikettierung auch erst in jüngerer Zeit gebräuchlich geworden sein. Der ___________ 17 Die These, dass das Strafrecht mit der Aufgabe, Verbraucherschutz durch Produkthaftung zu gewährleisten, überfordert sei, verficht vor allem Hassemer (Fn. 6), insbes. S. 70 ff.; ein entsprechendes Plädoyer für den Rückzug des Umweltstrafrechts findet sich bei Rotsch, Individuelle Haftung in Großunternehmen, 1998.

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bei dieser Gelegenheit häufig – und zu Recht – genannte Contergan-Fall18 ist wohl der spektakulärste, aber keineswegs der einzige Vorgänger19 des Lederspray-Falles. Hingegen ist Produkthaftung als Gegenstand strafrechtswissenschaftlicher Reflexion in der Tat erst neueren Datums. Der ersten einschlägigen strafrechtlichen Monographie, nämlich der Arbeit von Kuhlen aus dem Jahre 1989, waren hauptsächlich die Veröffentlichungen von Schmidt-Salzer vorausgegangen20, die zwar eine vorzügliche Bestandsaufnahme lieferten, aber als praxisorientierte Werke nicht den Ehrgeiz entwickelten, eine dogmatische Vertiefung der Materie zu liefern. Was nun speziell den Zusammenhang der Produkthaftung mit den allgemeinen Lehren des Strafrechts betrifft, könnte man die Frage aufwerfen, ob die anstehenden Probleme nicht bloß daraus resultieren, dass es an entsprechenden Spezialtatbeständen im Besonderen Teil fehlt, so dass die allgemeinen Tötungsund Körperverletzungsdelikte die Lücke notdürftig ausfüllen müssen und infolgedessen die herkömmlichen Zurechnungsregeln über Gebühr strapaziert werden. Der Gedanke, dass die strafrechtliche Produkthaftung möglicherweise sachgerechter im Besonderen Teil des Strafrechts zu platzieren wäre, findet einen positivrechtlichen Ansatzpunkt (außer in einigen nebenstrafrechtlichen Spezialvorschriften) in § 314 I Nr. 2 StGB, der sich in der Tat (wieder) einer gewissen Aufmerksamkeit erfreut21. Zwar ließe sich für einen zentralen Produkthaftungstatbestand im Besonderen Teil eventuell sogar ein eigenes geschütztes Rechtsgut finden22, aber er würde die Anwendung der allgemeinen Tötungs- und Körperverletzungsdelikte in diesem Bereich mindestens nicht überflüssig werden lassen23. Damit bleibt die Aufgabe bestehen, das Leistungspotential der allgemeinen Zurechnungsregeln für die strafrechtliche Produkthaftung weiter aufzuklären. Hierzu hat sich inzwischen ein komplexer Diskussionsstand herausgebildet, der sich freilich auf drei nun näher zu betrachtende Haupt-Themenkreise konzentriert: 1. Die Konkretisierung von Sorgfaltsmaßstäben für Entwicklung, Fertigung und Vertrieb von Produkten; 2. Die Verant___________ 18

LG Aachen JZ 1971, 507 ff. Zusf. Darstellung älterer Fälle aus der Rechtsprechung bei Kuhlen, Fragen einer strafrechtlichen Produkthaftung, 1989, S. 3 ff.; sehr weit ausholend Hilgendorf (Fn. 6), S. 94 ff. 20 Z. B. Entscheidungssammlung Produkthaftung, Bd. IV, 1982 (der eine umfangreiche Einleitung vorangestellt ist); ders., NJW 1988, 1937 ff. 21 Wiederentdeckt hat die (Vorgänger-)Vorschrift(en §§ 319, 320 StGB a. F.) Horn, NJW 1986, 153 ff; s. auch Hilgendorf (Fn. 6), S. 164 ff.; zur Neufassung durch das 6. StrRG Holtermann, Neue Lösungsansätze zur strafrechtlichen Produkthaftung, 2007; Bosch (Fn. 16), S. 503 ff. 22 Zur „Verbrauchersicherheit“ als Rechtsgut Vogel, GA 1990, 243; vgl. auch Kuhlen (Fn. 19), S. 7 f.; BGH NStZ 1987, 515. 23 Für § 314 I Nr. 2 StGB zieht Bosch (Fn. 16), S. 503 ff allerdings eine geradezu verheerende Bilanz; freundlicher demgegenüber Holtermann (Fn. 21), S. 167 ff. 19

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wortlichkeit für das Unterlassen von Warn- und Rückrufaktionen bei bereits im Handel befindlichen, erst nachträglich als schadensträchtig erkannten Produkten; 3. Die Komplikationen bei der Erfolgszurechnung.

2. Sorgfaltsmaßstäbe für das Inverkehrbringen von industriellen Massenprodukten Der Umfang strafrechtlicher Verantwortlichkeit für das Inverkehrbringen von Produkten hängt zunächst maßgeblich davon ab, welche Sorgfaltsanforderungen die Rechtsordnung an den Produzenten stellt. Dies gilt einmal im Hinblick auf die Fahrlässigkeitsdelikte, die bei der strafrechtlichen Produkthaftung im Vordergrund stehen, genauso aber auch für etwaige Vorsatztaten. Die objektive Pflichtwidrigkeit des Verhaltens ist nämlich eine gemeinsame Strafbarkeitsvoraussetzung von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten24, weil ohne die Überschreitung des erlaubten Risikos überhaupt kein Handlungsunrecht vorliegen kann25. Mithin leistet die Konkretisierung der nach den Maßstäben des Rechts zu beachtenden Verhaltenspflichten einen Beitrag zur Konturierung jeder Form strafrechtlicher Produkthaftung. Zu dieser Konturierung tragen auch außerstrafrechtliche Rechtsvorschriften (wie z. B. §§ 4 f. GPSG; §§ 5, 17, 26, 30 LFGB) und allgemein anerkannte (meist technische) Regeln bei26. Es bleibt aber letztlich Aufgabe des Rechtsanwenders, die Bedeutung einer notwendigerweise abstrakten, einem völlig anderen Regelungszusammenhang entstammenden „Sondernorm“ für die strafrechtliche Bewertung eines konkreten Verhaltens situationsbezogen27 zu ermitteln. Was nun die beim Inverkehrbringen von Produkten anzulegenden Sorgfaltsmaßstäbe betrifft, so ist die ebenso einfache wie fundamentale Feststellung an die Spitze zu stellen, dass es hier nur um Risikominimierung, nicht um gänz___________ 24

Dies ist freilich nicht ganz unumstritten; näher dazu Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985, S. 257 f.; ebenso wie hier Kuhlen (Fn. 19), S. 29 f. u. Ransiek, Unternehmensstrafrecht, 1996, S. 25 (jeweils m.w.N.). 25 Siehe auch Maiwald, FS Jescheck I, 1985, S. 411 ff., 423 ff. 26 In welcher Beziehung solche „Sondernormen“ zum Sorgfaltsmaßstab stehen, ist allerdings eine diffizile Frage, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann; dazu ausf. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 90 ff.; Kuhlen (Fn. 19), S. 114 ff.; Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, S. 273 ff.; Mikus, Die Verhaltensnorm des fahrlässigen Erfolgsdelikts, 2002, S. 66 ff.; s. auch schon Bohnert, JR 1982, 6 ff.; speziell für den Bereich der Unfallverhütungsvorschriften zur Vermeidung von Arbeitsunfällen s. Schutzbach, Die strafrechtliche Verantwortung für Betriebsunfälle, 1983, S. 54 ff. und Herzberg, Die Verantwortung für Arbeitsschutz und Unfallverhütung im Betrieb, 1984, S. 158 ff. 27 Dazu auch Maiwald (Fn. 25), S. 416 f., 421.

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lichen Risikoausschluss geht, weil jede Warenproduktion zwangsläufig mit gewissen Risiken für den Verbraucher verbunden bleibt. Das bedeutet, dass aus dem Eintritt eines Schadens noch nicht auf die Pflichtwidrigkeit der ihn bewirkenden Handlung zurückgeschlossen werden darf. Das Gebot, Handlungsbeurteilungen aus der ex-ante-Perspektive vorzunehmen, ist zwar als theoretischer Satz ein Gemeinplatz, praktisch jedoch alles andere als selbstverständlich: Die Erfahrung zeigt, dass dort, wo ein Schaden entstanden ist, nach einem dafür Verantwortlichen gesucht und dieser meist auch gefunden wird28. Der Sache nach kommt das einer ex-post-Beurteilung des Sachverhalts bedenklich nahe, obwohl methodisch an einer ex-ante-Beurteilung festgehalten wird. Verstärkt wird diese Tendenz dadurch, dass die Sorgfaltsstandards so hoch heraufgeschraubt werden, dass ihnen oft nur noch theoretisch genügt werden kann, während der Adressat damit in der praktischen Umsetzung weitgehend überfordert ist. Nun ist das Phänomen der außerordentlichen Strenge bei der Konkretisierung der objektiven Sorgfaltspflichten in Bezug auf das Inverkehrbringen von Produkten zunächst eines der zivilrechtlichen Judikatur. Jedoch zeigt das Lederspray-Urteil, dass es auch strafrechtlich Fuß gefasst hat. Dort ging es zwar hauptsächlich um die strafrechtliche Verantwortlichkeit für den unterlassenen Rückruf eines bereits in den Handel gelangten Ledersprays, dessen Gesundheitsschädlichkeit sich erst nachträglich herausgestellt hatte. Die Frage der Sorgfaltspflichtverletzung stellt sich dabei jedoch insoweit genauso wie bei der Haftung für positives Tun29, als die Garantenstellung auf ein vorangegangenes pflichtwidriges Tun gestützt werden soll, wie es der Bundesgerichtshof in dieser Entscheidung getan hat. Hierzu heißt es nun, für die objektive Pflichtwidrigkeit genüge die rechtliche Missbilligung des Gefährdungserfolges. Auf die persönliche Vorwerfbarkeit des Verhaltens komme es insoweit nicht an30. Die zutreffende Feststellung, dass die objektive Pflichtwidrigkeit als Unrechtselement nicht durch eine Schuldkomponente mitbestimmt werden kann, lässt jedoch keineswegs den Schluss zu, dass sie einseitig erfolgsorientiert bestimmt werden darf. Es ist dabei nämlich zu beachten, dass sie einen Handlungsunwert beschreibt und folglich eine ex-ante-Beurteilung verlangt. Objektiv pflichtwid___________ 28 Zu diesem Phänomen näher Prittwitz (Fn. 6), S. 107 ff., 360 ff., 378 ff. m.N.; speziell im Hinblick auf die strafrechtliche Produkthaftung dazu Kuhlen (Fn. 19), S. 97; in einen größeren Zusammenhang der Verantwortlichkeitszuschreibung auch über das Strafrecht hinaus stellt Kuhlen, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral, 1991, S. 341 ff., insbes. S. 358 ff. diese gut bestätigte Beobachtung. 29 Besonders deutlich Meier, NJW 1992, 3196; demgegenüber will Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1993, S. 267 (Fn. 132) noch einmal zwischen verhaltensbezogener und erfolgsbezogener Pflichtenbegründung unterscheiden und wenigstens für die Garantenpflichten die erfolgsbezogene Perspektive gelten lassen. 30 BGHSt 37, 119.

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rig kann ein Handeln deshalb nur dann sein, wenn es einem besonnenen Menschen in der Situation des Täters überhaupt möglich gewesen wäre, die Gefährdung zu erkennen und zu vermeiden31. Mithin hat der Bundesgerichtshof im Lederspray-Urteil den Begriff der objektiven Pflichtwidrigkeit, wie er wenigstens im Strafrecht zu bestimmen ist, unzulässig überdehnt32. Dies deutet zugleich darauf hin, dass sich der zivilrechtliche Sorgfaltsmaßstab nicht zur strafrechtlichen Verhaltensbeurteilung eignet. Zwar hat der Bundesgerichtshof diese Frage ausdrücklich offen lassen wollen33, doch ist die Herkunft der erfolgsbezogenen Definition der objektiven Pflichtwidrigkeit aus dem Zivilrecht unübersehbar. Nicht ohne Grund wird immer wieder darauf hingewiesen, dass sich die zivilrechtliche Produkthaftung de facto einer Gefährdungshaftung annähere34. Da diese Tendenz nicht ins Strafrecht einfließen darf, das allein eine Unrechtshaftung kennt, kann es schon aus diesem Grunde keine pauschale Übernahme des zivilrechtlichen Sorgfaltsmaßstabes in die strafrechtliche Produkthaftung geben35. Deshalb ist es zu begrüßen, dass gegenteilige Neigungen in der Literatur36 in neuerer Zeit einer differenzierteren Sicht gewichen sind. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang insbesondere, dass sich die teleologischen Gesichtspunkte, unter denen die von der Rechtsordnung gefor___________ 31 Bei allen Meinungsverschiedenheiten im Übrigen besteht doch Einigkeit darüber, dass eine generell nicht erkennbare und damit auch nicht vermeidbare Gefährdung (im Strafrecht) nicht als (Fahrlässigkeits-)Unrecht bezeichnet werden darf; zur Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit als Voraussetzung der Pflichtwidrigkeit ausf. Kaminski, Der objektive Maßstab im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts, 1992, S. 38 ff.; s. auch Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben, StGB, 27. Aufl. 2006, § 15 Rn. 123 ff.; Wessels/Beulke, AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 667 ff.; Kuhlen (Fn. 19), S. 93; Bloy (Fn. 24), S. 124. 32 Die Ablehnung ist fast allgemein; s. statt vieler Hassemer (Fn. 6), S. 57 f.; Kuhlen, NStZ 1990, 568; Samson, StV 1991, 184; Puppe, JR 1992, 30; Meier, NJW 1992, 3196; auch schon Bloy, DRsp 1990, 1734; a. A. Vogel (Fn. 28), S. 267. 33 BGHSt 37, 115. 34 Ausf. Hilgendorf (Fn. 6), S. 83 ff. (m.w.N.), 161; Kuhlen (Fn. 19), S. 91 f. (und öfter); zum Ganzen aus der Sicht des Zivilrechts L. Voss, Die Verkehrspflichten, 2007, S. 84 ff., 103 ff. Es kommt hinzu, dass das Produkthaftungsgesetz eine verschuldensunabhängige Herstellerhaftung eingeführt hat. Ob es sich dabei um eine Gefährdungshaftung handelt, ist allerdings str. (näher Staudinger/Oechsler, 2003, Einl zum ProdHaftG Rn. 27 ff. m. umfangr. N.). 35 Für eine Differenzierung auch Kuhlen (Fn. 19), S. 82 ff., 148 ff., der in seiner kenntnisreichen Analyse gezeigt hat, welche Probleme im Einzelnen bestehen. Auf diese Details kann hier nicht eingegangen werden. Kuhlen beipflichtend schon Tiedemann, NJW 1990, 2052 u. Seier, NZV 1990, 145. 36 Hauptvertreter der Einheitlichkeitsthese ist Schmidt-Salzer, Produkthaftung I, 2. Aufl. 1988, Rn. 1.023 ff., 1.365 ff., 1.519 ff.; grds. ebenso Hilgendorf (Fn. 6), S. 146 ff. (zu ihm Kuhlen, GA 1994, 350, der wohl zu Recht konstatiert, dass die Positionen eher im Ausgangspunkt als im Ergebnis differieren, weil Hilgendorf die Einheitlichkeitsthese deutlich relativiert).

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derte Sorgfalt zu konkretisieren ist, im Strafrecht und im Zivilrecht erheblich voneinander unterscheiden können. Legitime Aspekte zivilrechtlicher Risikoverteilung37 wie z. B. die Versicherbarkeit des Haftungsrisikos durch den Hersteller oder dessen – im Verhältnis zum Verbraucher – in der Regel besseren wirtschaftlichen Möglichkeiten zur Schadenstragung sind zur Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit unbrauchbar38. Da hier die Funktionsverschiedenheit von Strafrecht und Zivilrecht auf die Begriffsbildung durchschlägt, gebietet auch der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung keine einheitliche Bestimmung des Sorgfaltsmaßstabes39.

3. Verantwortlichkeit für das Unterlassen von Warn- und Rückrufaktionen a) Vorbemerkung Da bei der Einführung eines Produktes auf dem Markt das erlaubte Risiko nur selten überschritten wird40, kann die strafrechtliche Verantwortlichkeit in den einschlägigen Fällen praktisch meist nur daran anknüpfen, dass der Verkauf eines nachträglich als schädigend in Verdacht geratenen Produkts nicht gestoppt worden ist und Warn- bzw. Rückrufaktionen unterblieben sind. Ein Schwerpunkt der Thematik liegt mithin im Bereich der Unterlassungsdelikte und dort wiederum bei der Garantenlehre.

b) Ingerenz-Garantenstellung und Verkehrssicherungspflicht Im Zuge der Behandlung der beim Inverkehrbringen von industriellen Massenprodukten einzuhaltenden Sorgfalt wurde bereits darauf hingewiesen, dass diese bei der Garantenstellung der Ingerenz hinsichtlich der Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens ebenfalls eine Rolle spiele. Damit ist für die Beurteilung der ___________ 37

Dazu Baumgärtel, JA 1984, 661. Dazu Kuhlen (Fn. 9), S. 91; Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung der Anderen, 1986, S. 117. 39 Angedeutet bereits in BGHSt 37, 115, wo von den schadensersatzorientierten Haftungsprinzipien des Zivilrechts die Rede ist, welche nicht unbesehen zur Bestimmung strafrechtlicher Verantwortlichkeit benutzt werden dürften; hierzu wiederum Hilgendorf (Fn. 6), S. 151 f.; entsprechende Umsichtigkeit ist bei der Heranziehung öffentlichrechtlicher Vorgaben geboten (s. BGHSt 37, 122; dazu krit. Vogel, FS W. Lorenz, 2001, S. 70, 76; vgl. weiterhin Kuhlen, FG BGH IV, 2000, S. 662 und das zivilrechtl. Urt. des BGH NJW 1998, 2436). 40 So jedoch z. B. im Monza-Steel-Fall: LG München II, abgedruckt bei SchmidtSalzer (Fn. 20), Nr. 28 (S. 296 ff., 330). 38

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Verantwortlichkeit für das Unterlassen von Warn- und Rückrufaktionen bei bereits im Handel befindlichen fehlerhaften Produkten unter dem Blickwinkel der Ingerenz wesentliche Vorarbeit schon geleistet. Es braucht nun nämlich nur noch die Schlussfolgerung gezogen zu werden, dass dann, wenn das Inverkehrbringen nicht wenigstens objektiv sorgfaltswidrig erfolgt ist, ein später unterlassener Rückruf auch nicht wegen vorangegangenen pflichtwidrigen Inverkehrbringens als Garantenunterlassen qualifiziert werden darf. Der Bundesgerichtshof, der dies im Lederspray-Urteil trotzdem getan hat41, hat damit der Sache nach das Erfordernis der Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens als Voraussetzung der Ingerenz aufgegeben42. Allerdings bedeutet das noch nicht, dass er auch im Ergebnis auf ein falsches Gleis geraten ist. Es fällt im Gegenteil auf, dass dies dem Bundesgerichtshof nur vereinzelt43 vorgeworfen worden ist. Die meisten Autoren kritisieren lediglich seine Argumentationsweise und bejahen mit anderer Begründung ebenfalls eine Garantenstellung. Dabei werden freilich unterschiedliche Wege eingeschlagen, so dass der Streitstand einigermaßen unübersichtlich wirkt, zumal sich die konkurrierenden Lösungsvorschläge sachlich stark überschneiden. Zunächst kann der Versuch unternommen werden, das Problem innerhalb der Ingerenz-Garantenstellung zu lösen. Das bietet sich an, wenn man bei ihr statt eines pflichtwidrigen ein gesteigert riskantes Vorverhalten voraussetzt44. Allerdings ist es hier gar nicht erforderlich, diese Frage generell zu entscheiden, zumal unsicher ist, ob es darauf überhaupt eine einheitliche Antwort gibt45. An dieser Stelle bedarf es lediglich der Klärung, unter welchen Voraussetzungen einen Produzenten eine strafbewehrte Rückrufpflicht trifft. Das Inverkehrbringen des Produkts als solches rechtfertigt die Belastung des Herstellers mit einer solchen Verpflichtung noch nicht, denn das damit stets verbundene Sonderrisi___________ 41

BGHSt 37, 115 ff. Darüber besteht weitestgehend Einigkeit, s. statt vieler nur Roxin, AT II, 2003, § 32 Rn. 199; Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 13 Rn. 13 (jeweils m.w.N.); anders wohl Vogel (Fn. 29), S. 267 Fn. 132. 43 Vor allem von Hassemer (Fn. 6), S. 54; früher auch Schünemann, z. B. in: Gimbernat/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte, 1995, S. 71; jetzt jedoch anders: Nachw. wie Fn. 65; Samson, StV 1991, 184; offen gelassen von Puppe, JR 1992, 30. 44 So Kühl, AT, 5. Aufl. 2005, § 18 Rn. 103; Bock, Produktkriminalität und Unterlassen, 1997, S. 133 ff.; Kuhlen, NStZ 1990, 568 f.; Meier, NJW 1992, 3196; diese Ansicht wird auch unabhängig von der Produkthaftungsproblematik vertreten: z. B. Jakobs, AT, 2. Aufl. 1991, 29/42; MK-StGB/Freund, § 13 Rn. 116 f.; Ranft, JZ 1987, 864; der Sache nach ist dies eine Modifikation der wesentlich auf Welp (Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968, S. 209 ff.) zurückgehenden Auffassung, wonach sogar schon eine adäquate Gefahrschaffung die IngerenzGarantenstellung begründet (dazu zusf. Maiwald, JuS 1981, 482 f. m.w.N.). 45 Oder nicht vielmehr eine sektoral differenzierende Betrachtungsweise angemessen wäre; dazu z. B. Beulke/Bachmann, JuS 1992, 740. 42

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ko wird bereits durch die zivilrechtliche Produktbeobachtungspflicht neutralisiert. Jedoch ist es naheliegend, im Strafrecht an diese Produktbeobachtungspflicht anzuknüpfen, die gerade auch im Anschluss an die Auslieferung eines nach dem aktuellen Stande von Wissenschaft und Technik einwandfrei hergestellten Produkts besteht46 und damit der Überwachung der kontinuierlichen Einhaltung des erlaubten Risikos auch nach dem Inverkehrbringen des Produkts dient: Wird nun im Laufe der Beobachtung eine Gefahr erkennbar, so ist damit das erlaubte Risiko überschritten und der Produzent ist zum Eingreifen verpflichtet, wobei je nach Sachlage unterschiedliche Maßnahmen47 angezeigt sein können. Bei der Einbeziehung derartiger außerstrafrechtlicher Verkehrssicherungspflichten in die Begründung einer Garantenstellung ist jedoch ebenso behutsam vorzugehen wie bei der Konkretisierung des Sorgfaltsmaßstabes durch Sondernormen48. Die Rolle, die ihnen dabei zugewiesen wird, kann durchaus unterschiedlich gesehen werden. Es besteht einmal die Möglichkeit, ihnen lediglich eine Hilfsfunktion zuzuweisen. Das liefe darauf hinaus, eine IngerenzGarantenstellung auf Grund rechtmäßigen Vorverhaltens (mindestens) unter der Voraussetzung anzuerkennen, dass eine (dazu geeignete) Verkehrssicherungspflicht besteht49. Doch ist die Garantenstellung hier der Sache nach allein in der Verkehrssicherungspflicht verankert, denn es geht in diesen Fällen um die Reichweite der Verantwortlichkeit für einen räumlich-gegenständlichen Organisationskreis. Dass nahezu jeder Gegenstand zuvor einmal durch eine Hand___________ 46

Grdl. BGHZ 80, 199 ff.; s. auch § 5 I Nr. 1 c, Nr. 2 GPSG, der noch weitergehend ein umfangreiches Produktrisikomanagement zur (öffentlich-rechtlichen) Pflicht des Herstellers gemacht hat (dazu Klindt, NJW 2004, 468 f.). – Zu den öffentlich-rechtlichen Pflichten nach dem alten Produktsicherheitsgesetz als (zivilrechtliche) Verkehrspflichten eingehend König, Produktsicherheitsgesetz und Produkthaftung, 2003, S. 105 ff. 47 Dazu näher Kuhlen, FS Eser, 2005, S. 361 ff. 48 Obwohl – eine weniger bekannte Ironie der dogmengeschichtlichen Entwicklung – das Zivilrecht die Verkehrssicherungspflichten ursprünglich sogar aus dem strafrechtlichen Bereich übernommen hat (näher Chr. v. Bar, Verkehrspflichten, 1980, S. 11 ff.). Alles andere liefe jedoch auf eine Wiederbelebung der historisch überholten sog. formellen Rechtspflichttheorie hinaus (dazu einprägsam Roxin, AT II, § 32 Rn. 10 ff.); zum Ganzen vertiefend Grünewald, Zivilrechtlich begründete Garantenpflichten im Strafrecht? 2001; Seelmann, in: K. Schmidt (Hrsg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung? 1994, S. 85 ff. – Das Verhältnis von Garantenpflicht und Sorgfaltspflicht charakterisiert schon sehr klar Gallas, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der am Bau Beteiligten, 1963, S. 32. 49 So z. B. Welp (Fn. 44), S. 241 ff.; ihm folgend Maiwald, JuS 1981, 482 f.; auch schon Gallas (Fn. 48), S. 33; vgl. desgl. Arzt, JA 1980, 714; Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992, S. 217 ff.; MK-StGB/ders., § 13 Rn. 118 steht trotz seines eigenständigen Ansatzes sachlich der Ingerenz-Lösung ebenfalls nahe; s. auch schon Nagler, GS 111 (1938), 26 f.; von einer herstellerspezifischen Ingerenz-Garantenstellung gehen aus: Wessels/Beulke, AT, Rn. 728; Otto, FS H. J. Hirsch, 1999, S. 307 ff.

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lung in diesen Organisationskreis eingegliedert worden ist, ist demgegenüber zweitrangig. Ist die Gefahr in einem Gegenstand materialisiert, so ist dessen Herstellung, Erwerb usw. lediglich eine Vorbedingung für die Entstehung der Gefahr, nicht die Gefahrenquelle selbst. Es bleibt daher sinnvoll, zwischen gefährlichen Handlungen und gefährlichen Sachen zu unterscheiden. Das spräche dafür, die Verkehrssicherungspflichten als selbstständige Garantenstellungen neben die Ingerenz zu stellen50. Daran zeigt sich zunächst einmal Folgendes: Obwohl der Bundesgerichtshof im Lederspray-Urteil ausdrücklich offen lassen wollte, ob die zivilrechtlichen Verkehrssicherungspflichten geeignet wären, als Garantenstellungen zu fungieren51, hat er zu dieser heiklen Frage der Sache nach positiv Stellung genommen. Seine Ingerenz-Konstruktion ist nämlich von dem Gedanken geprägt, dass auch bei rechtmäßig in den Verkehr gebrachten Produkten, die sich nachträglich als gefährlich herausstellen, eine strafbewehrte Erfolgsabwendungspflicht besteht, weil Risikominimierung erkenntnisabhängig ist und daher nach dem jeweils aktuellen Stand des Wissens erfolgen muss. Dies setzt aber eine strafrechtlich relevante Produktbeobachtungspflicht voraus, die ggf. eine entsprechende Warnund Rückrufpflicht nach sich zieht52.

c) Sachherrschafts-Garantenstellung und Verkehrssicherungspflicht Befürworter einer Garantenstellung auf der Grundlage einer (allgemeinen53 oder – wie hier befürwortet – im Einzelfall jeweils besonders zu begründenden) Transformation zivilrechtlicher Verkehrssicherungspflichten ins Strafrecht interpretieren die so konstituierte Erfolgsabwendungspflicht jedoch nicht nur als Ingerenz-Fall, sie wird auch in enge Verbindung mit der aus der Sachherrschaft ___________ 50

Klare Trennung z. B. bei Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. 1996, S. 626 f.; Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz, 1966, S. 68; Kugler, Ingerenz und Selbstverantwortung, Diss. Bochum 1972, S. 148 ff.; Hilgendorf (Fn. 6), S. 141; Höhfeld, Strafrechtliche Produktverantwortung und Zivilrecht, 1999, S. 147 ff. 51 BGHSt 37, 114 f.; dezidiert dafür allerdings die Vorinstanz LG Mainz, in: Schmidt-Salzer (Fn. 20), 3. Erg. Lfg. Dez. 1990, IV.3.22, S. 27 f.; wenigstens als Indiz soll die Verkehrssicherungspflicht dienen nach Roxin, AT II, § 32 Rn. 210; Jakobs, AT, 29/42; Weißer, Kausalitäts- und Täterschaftsprobleme bei der strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen, 1996, S. 62; Bock (Fn. 44), S. 128; Meier, NJW 1992, 3196; Beulke/Bachmann, JuS 1992, 740. 52 Siehe auch Bode, FS BGH, 2000, S. 524; vgl. weiterhin SK-StGB/Rudolphi, § 13 Rn. 40 c u. bereits Brammsen, GA 1993, 116 ff.; Kritik an der ansonsten in Rechtsprechung und Literatur (auch) im Strafrecht anerkannten Rückrufpflicht übt Schünemann (Fn. 43), S. 66 ff. 53 So noch OLG Karlsruhe NJW 1977, 1930 f.; Nachw. d. älteren Rspr. bei Grünewald (Fn. 48), S. 34 Fn. 148.

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erwachsenden Garantenstellung gebracht. Häufig wird sie sogar als Unterfall einer Garantenstellung kraft Sachherrschaft eingeordnet bzw. mit dieser gleichgesetzt54. In der Tat beruhen viele Verkehrssicherungspflichten darauf, dass mit der Herrschaft über eine Sache die Beherrschbarkeit der von ihr ausgehenden Gefahren jedenfalls in höherem Maße verbunden ist, als es seitens eines gefährdeten Dritten vorausgesetzt werden darf, wenn dieser ihnen nicht sogar hilflos ausgeliefert ist. Jedoch beschreibt dieser Gedanke die Gründe für die Anerkennung von Verkehrssicherungspflichten nicht vollständig. Gerade die hier maßgebliche Produktbeobachtungspflicht ist auf diese Weise nicht zu erklären. Sie setzt nämlich überhaupt erst ein, nachdem das Produkt den Herrschaftsbereich des Herstellers verlassen hat. Ihre Funktion besteht in einer nachwirkenden Sorge für die Sicherheit des Produkts auch noch dann, wenn es sich bereits im Herrschaftsbereich des Verbrauchers befindet. Das bedeutet aber, dass keine Sachherrschafts-Garantenstellung vorliegt55 und eine auf eine derartige Verkehrssicherungspflicht gestützte Garantenstellung einer anderweitigen (d.h. nun eigenständigen) Legitimationsgrundlage bedarf.

d) Hersteller-Garantenstellung und Verkehrssicherungspflicht Die Beherrschbarkeit der von einem Produkt ausgehenden Gefahren ist von der aktuellen Innehabung der Sachherrschaft unabhängig, weil sie auf dem technischen know-how usw. des Produzenten beruht. Sie besteht allerdings auch deshalb, weil sich das Produkt einmal im Herrschaftsbereich des Produzenten befunden hat. Man könnte geneigt sein, diese Hersteller-Garantenstellung deshalb als „Verlängerung“ der Sachherrschafts-Garantenstellung kraft fortbestehender Organisationszuständigkeit zu begreifen56. Für eine Verselbstständigung dieser gegenüber spricht jedoch, dass der Sachherrschaftsgedanke hier bestenfalls eine Nebenrolle spielt57 und die Verkehrssicherungspflicht in diesen Fällen in der zwischen dem Produzenten und dem Konsumenten bestehenden Beziehung wurzelt58. Denn anders wäre es nicht zu erklären, weshalb ___________ 54 Jescheck/Weigend, AT, S. 626 f.; vgl. auch Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 13 Rn. 34 ff. 55 Insoweit zutr. BGHSt 37, 120 f.; ebenso Schumann (Fn. 38), S. 118 f.; Schmucker (Fn. 16), S. 145 f. 56 So Kühl, AT, 5. Aufl. 2005, § 18 Rn. 110 m.w.N.; s. außerdem NK-StGB/Wohlers, § 13 Rn. 48; Bottke, Täterschaft und Gestaltungsherrschaft, 1992, S. 104 f.; Ransiek (Fn. 24), S. 34 f., 39; Weißer (Fn. 51), S. 57 ff.; Schwartz, Strafrechtliche Produkthaftung, 1999, S. 51 f.; vgl. auch Jakobs, AT, 29/38; Beulke/Bachmann, JuS 1992, 740; abl. z. B. Roxin, AT II, § 32 Rn. 209 u. Schmucker (Fn. 16), S. 146 f. 57 Nämlich als eine frühere; s. dazu die fragende Bemerkung von Tiedemann, NJW 1988, 1312. 58 Siehe auch Frisch (Fn. 26), S. 201 Fn. 174.

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der Verbraucher in seinem Verantwortungsbereich von eigener Sorgfaltspflicht entlastet wird. Letzteres resultiert aus der anerkannten Pflicht des Herstellers dafür zu sorgen, dass seine Produkte bei bestimmungsgemäßer Verwendung keine Schäden verursachen59. Hierauf darf sich der Konsument verlassen, ohne es selbst überprüft zu haben. Dies ist Ausdruck der Geltung des Vertrauensgrundsatzes bei Verwendung fremder Leistungen60. Der Vertrauensgrundsatz kann jedoch allein auf dem Felde bestimmter Formen sozialen Kontakts61 zur Anwendung gelangen und ist nicht etwa individualpsychologisch zu verstehen62. Gerade standardisierte Situationen der anonymen Bedarfsdeckung, wie sie für die moderne Gesellschaft charakteristisch sind, können nur dadurch bewältigt werden63, dass die jeweiligen Beteiligten bereits auf Grund ihres rollenspezifischen Verhaltens (als Produzent, Kraftfahrer usw.) bestimmten generalisierten Erwartungen ausgesetzt sind, an denen sie sich messen lassen müssen. Insofern sind hier gerade keine Herrschaftsgesichtspunkte im Spiel. Es handelt sich vielmehr um eine Garantenstellung kraft Übernahme einer sozialen Rolle64, wobei die Übernahme bereits in dem betreffenden Rollenverhalten selbst liegt, ohne Rücksicht darauf ob dieses einer bewussten „Übernahme-Entscheidung“ entsprungen ist. Auch die Zustandshaftung des Produzenten knüpft an einen solchen Vertrauenstatbestand an. Ohne dessen Anerkennung würde die industrielle Massenproduktion für den auf das Produkt häufig angewiesenen Verbraucher ein unkalkulierbares, u. U. ruinöses Risiko bedeuten65. ___________ 59

Hierzu Kuhlen (Fn. 19), S. 95 f., 137 f. Vertiefend Schumann (Fn. 38), S. 21 ff., 116; s. weiterhin Frisch (Fn. 26), S. 202 Fn. 176. 61 Klassisch: im Straßenverkehr; dazu monographisch Kirschbaum, Der Vertrauensschutz im deutschen Straßenverkehrsrecht, 1980; ausf. auch Schumann (Fn. 38), S. 7 ff.; vgl. weiterhin Seelmann (Fn. 48), S. 96 f. 62 Siehe auch Maiwald, ZStW 91 (1979), 975. Ob ein konkreter Konsument einem konkreten Produzenten real sein Vertrauen schenkt oder nicht, ist irrelevant, weil es allein darauf ankommt, dass objektiv ein Vertrauenstatbestand vorliegt. Insofern handelt es sich um eine nicht völlig gelungene Begriffsprägung, die sich einer psychologisierenden Metapher für einen Grundsatz bedient, der gerade nicht an psychische Befunde anknüpft und dessen Funktion darin besteht, in einer durch Verhaltensnormen regulierten Ordnung die dadurch definierten Verhaltenserwartungen zum Zwecke der Aufrechterhaltung dieser Ordnung kontrafaktisch zu stabilisieren. 63 D. h. die Funktionsfähigkeit der jeweiligen sozialen Systeme (Industrieproduktion, Straßenverkehr usw.) kann nur so aufrecht erhalten werden. 64 Zur Bedeutung „sozialer Rollen“ für die Begründung von Garantenstellungen näher Bärwinkel, Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1968, S. 104 ff. u. Otto/Brammsen, Jura 1985, 535 ff.; skeptisch jedoch v. Coelln, Das „rechtliche Einstehenmüssen“ beim unechten Unterlassungsdelikt, 2008, S. 107 ff., 198 ff. 65 Die Bemühungen um die Klärung der Garantenfrage leiden überwiegend darunter, dass eine Zuordnung zu einer der herkömmlichen Garantenstellungen angestrebt wird. Da es keinen numerus clausus der Garantenstellungen gibt, sondern einzelne, traditionell 60

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4. Komplikationen bei der Erfolgszurechnung a) Kausalität Ein weiteres Hauptproblem der strafrechtlichen Produkthaftung resultiert daraus, dass das fehlerhafte Verhalten zurechenbar einen tatbestandsmäßigen Erfolg – meist wird dies ein Gesundheitsschaden sein – herbeigeführt haben muss. Die dabei zu beurteilenden Geschehensverläufe sind naturwissenschaftlicher, technischer bzw. medizinischer Art und auf Grund ihrer Komplexität häufig nicht (voll) aufgeklärt, so dass bereits der Kausalzusammenhang zweifelhaft ist. Auch dafür bietet der Lederspray-Fall gutes Anschauungsmaterial: Nach den Feststellungen der Tatsacheninstanz hat die Ursache der Erkrankungen der Lederspray-Verwender in toxikologischen Wirkungsmechanismen einzelner Rohstoffe oder zumindest in deren Kombination mit anderen Rohstoffen gelegen66. Diese Aussage hat das Landgericht freilich getroffen, obwohl es nicht gelungen war, diejenige Substanz bzw. Kombination von Substanzen naturwissenschaftlich exakt zu identifizieren, die dem Lederspray seine spezifische Eignung zur Verursachung der aufgetretenen Schäden verlieh. Der Bundesgerichtshof hat darin keine fehlerhafte Behandlung des Kausalitätserfordernisses gesehen und sogar ausdrücklich hervorgehoben, dass es auf die Ermittlung des schädlichen Inhaltsstoffes, die Kenntnis seiner chemischen Zusammensetzung und die Beschreibbarkeit seiner toxischen Wirkungsweise im vorliegenden Falle nicht angekommen sei. Wesentlich sei allein, dass die Beschaffenheit des Produkts schadensursächlich war, nicht hingegen warum sie schadensursächlich werden konnte67. Diese Argumentation ist in der das Urteil kommentierenden Literatur unterschiedlich aufgenommen worden. Die Kritik hat sich daran entzündet, dass hier mangels genauer Kenntnis der Verursachungskette zwischen Schadensfaktor und Schaden mit einer Black-box-Konstruktion68 gearbeitet werde, die lücken___________ anerkannte Garantenstellungen eher als bloß typologische Ausprägungen, die erweiterungsfähig sind, zu gelten haben, steht einem „multifaktoriellen“ Ansatz jedoch nichts entgegen; dafür auch Kuhlen (Fn. 47), S. 363 f. u. weitgehend übereinstimmend schon Schumann (Fn. 38), S. 119; ähnlich auch Hilgendorf (Fn. 6), S. 140 f.; vgl. jetzt auch Schünemann, FG BGH IV, 2000, S. 640 f., allerdings beschränkt auf Markenware; ihm auch insoweit folgend Schmucker (Fn. 16), S. 150 f.; hingegen insoweit abl. Roxin, AT II, § 32 Rn. 210 ff. 66 Vgl. LG Mainz, in: Schmidt-Salzer (Fn. 20), 3. Erg. Lfg. Dez. 1990, IV.3.22, S. 17 ff. u. BGHSt 37, 111 f. 67 BGHSt 37, 111 f. unter Bezugnahme auf Kuhlen (Fn. 19), S. 69 f., 72; s. auch Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 17 m.w.N. zum Streitstand; vgl. außerdem BGHSt 41, 216. 68 So anschaulich Hassemer (Fn. 6), S. 33.

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haft und deshalb unzureichend sei69. Vor allem könne so nicht ausgeschlossen werden, dass für die Schäden ein anderer als der für ursächlich gehaltene Stoff verantwortlich sei70. Zwar hatte der Bundesgerichtshof der Tatsacheninstanz bestätigt, dass sie sich hinreichend mit der Frage auseinandergesetzt habe, ob anderweitige Ursachen für die Schäden in Frage kämen71, aber ein negatives Ausschlussverfahren kann naturgemäß nicht allerletzte Sicherheit verbürgen, so dass dieser Einwand genau genommen niemals zu entkräften ist72. Das könnte in der Tat dafür sprechen, dass Kausalität überhaupt nur auf der Basis der Kenntnis der naturgesetzlichen Zusammenhänge ermittelt werden kann. Doch führt dies nur auf den ersten Blick weiter, weil es darauf ankommt, welche Anforderungen an diese Kenntnis gestellt werden. Wegen der prinzipiellen Begrenztheit menschlichen Wissens ist nämlich letztlich jede kausale Erklärung in dem Sinne unvollständig73, dass sie zwangsläufig in einen infiniten Regress74 mündet. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass kausale Erklärungen stets unvollständig bleiben, könnte man fordern, dass wenigstens das allgemeine Kausalgesetz bekannt sein muss, auf dem die Einzelfallkausalität beruhen soll75. Ein solches Kausalgesetz, traditionell verstanden als Universalgesetz, kann jedoch nur mittels eines Induktionsschlusses auf der Grundlage der Beobachtung statisti___________ 69 Hassemer (Fn. 6), S. 38, 40; ebenso Samson, StV 1991, 183; Puppe, JR 1992, 31; krit. auch Brammsen, Jura 1991, 535 f. 70 Hassemer (Fn. 6), S. 42; Samson, StV 1991, 183; Puppe, JR 1992, 31. 71 BGHSt 37, 112 f; genau daran hatte es nach BGHSt 41, 217 im HolzschutzmittelProzess vor dem LG Frankfurt gefehlt. 72 Näher Hilgendorf (Fn. 6), S. 122 ff. u. L. Schulz (Fn. 12), S. 66 ff., die die Methode des Ausschlusses alternativer Ursachen realistischerweise trotzdem unter gewissen Bedingungen zulassen wollen; dazu auch Kühne, NJW 1997, 1952 f. 73 Ebenso explizit Kuhlen (Fn. 19), S. 72; Ransiek (Fn. 24), S. 12 f.; Erb, JuS 1994, 449, 452 f. 74 Wenn z. B. im Lederspray-Fall die Substanz(-kombination) entdeckt worden wäre, die man für die Herbeiführung der Schäden verantwortlich macht, könnte weiter gefragt werden, warum und wie diese die Schäden bewirkt, und ob denn wirklich auszuschließen sei, dass nicht auch andere Mechanismen wirkungsgleich seien. Daran ließe sich die Frage nach weiteren Detailzusammenhängen anschließen usw. Das Mindestmaß an Detailgenauigkeit, das eine kausale Erklärung aufweisen muss, um hinreichend zu sein (so dass der potentiell infinite Regress abgebrochen werden darf), kann demgemäß nur anhand des mit ihr verfolgten Erkenntnisziels bestimmt werden (s. auch Kuhlen [Fn. 19], S. 69 f). Für die reinen Erfolgsdelikte gilt nun, dass lediglich relevant ist, ob ein Kausalzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg besteht, nicht dagegen wie er im Einzelnen beschrieben werden kann. Dies darf nicht dadurch egalisiert werden, dass die Kenntnis des „Wie“ des Kausalzusammenhanges zur Voraussetzung des „Ob“ erhoben wird (so bereits im Contergan-Beschluss das LG Aachen JZ 1971, 511; vgl. dazu auch Denicke, Kausalitätsfeststellung im Strafprozeß, 1997, S. 72 f.), zumal die Kenntnis des „Wie“ notwendig defizitär bleibt. 75 So gerade mit Blick auf die strafrechtliche Produkthaftung Puppe, JZ 1994, 1149.

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scher Regelmäßigkeiten formuliert werden. Im Grunde sind der Erfahrung also bloß Indizien für die Geltung von Universalgesetzen zugänglich. Oder anders ausgedrückt: Ab wann aus der wiederholten zeitlichen Abfolge von Ereignissen auf die Existenz eines Universalgesetzes geschlossen werden darf, ist keine empirische Frage mehr sondern eine normative76. Insofern bieten Universalgesetze niemals mehr als die Umformulierung von statistisch gut bestätigten Hypothesen, verbunden mit einem (weitgehenden) Ausschluss von Erklärungsalternativen. Daran scheitert letztlich jeder Versuch, die Feststellung von Universalgesetzen von der Feststellung gut bestätigter statistischer Korrelationen (als sog. probabilistischer Gesetzmäßigkeiten) qualitativ zu unterscheiden77. Geteilter Meinung kann man lediglich darüber sein, ob die Kausalitätsfeststellung im Rahmen der Rechtsanwendung nur auf dem Boden eines Konsenses in der betreffenden Fachwissenschaft zulässig ist78 oder ob auch fachwissenschaftlich umstrittene Kausalgesetze unter bestimmten Voraussetzungen der Kausalitätsfeststellung zugrunde gelegt werden dürfen79. Das ist nun aber bereits eine prozessuale Frage, die an dieser Stelle offen bleiben muss80. ___________ 76 So in aller Deutlichkeit das (spanische) Tribunal Supremo NStZ 1994, 37; Kuhlen, JZ 1994, 1145; vgl. weiterhin Wohlers, JuS 1995, 1023 f. – Dahinter steckt das ungelöste und auf der Ebene der Faktizität wohl auch unlösbare Problem der Induktion, s. dazu Maiwald, Kausalität und Strafrecht, 1980, S. 72 f. 77 Ebenso Dencker, Kausalität und Gesamttat, 1996, S. 36 f. Deshalb hält Bosch (Fn. 16), S. 95 ff. von der Unterscheidung zwischen genereller und konkreter Kausalität nichts; desgl. Ransiek (Fn. 24), S. 13 Fn. 25; in diese Richtung gehen auch die Überlegungen von Kuhlen (Fn. 19), S. 73 f.; dem trägt der in Japan entwickelte epidemiologische Kausalbegriff dadurch Rechnung, dass er ohne die Erforschung der naturgesetzlichen Wirkungsmechanismen auskommt und nur nach einer signifikanten statistischen Korrelation bei Ausschluss von Alternativerklärungen fragt; näher Yamanaka, in: L. Schulz (Hrsg.), Ökologie und Recht, 1991, S. 115 f.; dazu L. Schulz (Fn. 12), S. 61 ff. Auch in Italien spielt das Verständnis von Kausalität als Wahrscheinlichkeitsaussage eine nicht unbedeutende Rolle, dazu Maiwald, GA 1977, 87 f.; ders., FS Küper, 2007, S. 337 ff.; ders., Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozeßrecht, 2009, S. 60; außerdem Catenacci, ZStW 120 (2008), 447 ff. – Das weite Feld statistischer und probabilistischer Kausalitätsmodelle, die sich im Strafrecht auch als Fortentwicklung der Risikoerhöhungslehre (nämlich von einer kausalitätsbasierten zu einer kausalitätsersetzenden) interpretieren lassen, kann an dieser Stelle nicht betreten werden; s. dazu nur die kompakten Informationen bei Roxin, AT I, § 11 Rn. 35 ff. u. Ziethen, Grundlagen probabilistischer Zurechnung im Strafrecht, 2004, insbes. S. 54 ff.; Rolinski, FS Miyazawa, 1995, S. 483 ff. 78 So z. B. Maiwald (Fn. 76), S. 106 ff.; Roxin, AT I, § 11 Rn. 16; Schönke/ Schröder/Lenckner/Eisele, StGB, Vor §§ 13 ff. Rn. 75; Schwartz (Fn. 56), S. 57 u. schon Armin Kaufmann, JZ 1971, 573 ff. zum Contergan-Fall. 79 So z. B. BGHSt 37, 112 f.; 41, 215 f.; vgl. auch schon den Contergan-Fall: LG Aachen JZ 1971, 510 ff.; Kuhlen (Fn. 19), S. 66 ff.; Colussi (Fn. 3), S. 145 ff.; Puppe, JZ 1994, 1150 f.; SK-StGB/Rudolphi, Vor § 1 Rn. 42 c. 80 Die Antwort dürfte letztlich davon abhängen, ob es Universalgesetze überhaupt gibt oder nur statistische Gesetzmäßigkeiten (Differenzierung bereits bei Maiwald, GA

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b) Erfolgszurechnung bei Kollegialentscheidungen Die Entscheidungen über Entwicklung, Herstellung und Vertrieb von industriellen Massenprodukten fallen in – meist großen – Wirtschaftsunternehmen und pflegen dort nicht von Einzelpersonen im Alleingang getroffen zu werden. In aller Regel werden sie in dafür zuständigen Gremien beraten und beschlossen. Gleiches gilt für etwaige Warn- bzw. Rückrufaktionen, wenn ein zunächst für ungefährlich gehaltenes und deshalb bereits im Handel befindliches Produkt nachträglich in den Verdacht geraten ist, Schäden hervorzurufen81. Das damit angeschnittene Thema der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Mitglieder von Entscheidungsgremien für ihr Abstimmungsverhalten ist zwar gerade im Anschluss an das Lederspray-Urteil vielfach behandelt worden, seine Bedeutung überschreitet den Bereich der Produkthaftung aber bei Weitem. In Anbetracht der Vielschichtigkeit des Problemkreises und der Grenzen, die einem Festschriftbeitrag gesetzt sind, soll im Folgenden nur noch in Umrissen verdeutlicht werden, nach welchen Grundsätzen die Verantwortlichkeit einzelner Gremiumsmitglieder zu beurteilen ist. Wichtig ist dabei, dass unterschieden wird, ob Gegenstand des Gremiumsbeschlusses eine Aktivität (z. B. die Aufnahme der Serienproduktion einer Ware für den Markt) oder ein Unterlassen (insbesondere des Rückrufs eines Produkts) ist.

aa) Beschlüsse, die eine Aktivität zum Gegenstand haben Soweit bei einer Abstimmung die erforderliche Mehrheit nicht nur erreicht, sondern um mindestens eine Stimme übertroffen ist, gilt für jeden, der mit der Mehrheit gestimmt hat, dass der Beschluss auch ohne seine Stimme gefasst worden wäre. Im Falle einer rechtswidrigen Entscheidung entsteht auf Grund dessen die Frage, ob es ihn entlastet, dass er diese Entscheidung nicht hätte ___________ 1977, 88). Die Entscheidungskompetenz für die Anerkennung des Induktionsschlusses liegt bei der betr. Fachwissenschaft, wenn der Grund für seine Erforderlichkeit bloß aus der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis resultiert, die es verbietet, Universalgesetze „direkt“ zu erkennen. Der Rechtsanwender darf dann seiner Entscheidung nur gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse zugrunde legen. Existieren Universalgesetze hingegen gar nicht sondern nur Wahrscheinlichkeiten, dann stellt sich die Annahme eines Universalgesetzes lediglich als eine bewährte lebenspraktische Vereinfachung der Wirklichkeit dar, die vornehmlich dazu dient, die Alltagsorientierung zu erleichtern. Die Legitimität eines solchen „Induktionsschlusses“ entzieht sich nun fachwissenschaftlicher Kompetenz, so dass umstrittene Kausalgesetze in diesem Verständnis der freien Beweiswürdigung unterliegen müssen. – Noch anders im Falle einer Zurechnung nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen unter Verzicht auf jeglichen Induktionsschluss: dazu instruktiv Puppe, AT, 2002, § 2 Rn. 22 ff. 81 Jedenfalls soweit dies als ressortübergreifendes Problem behandelt wird; so z. B. im Lederspray-Fall (vgl. BGHSt 37, 123 ff.).

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verhindern können. Darauf würde es freilich gar nicht ankommen, wenn ihm das Abstimmungsverhalten der anderen, den betreffenden Beschluss mittragenden Gremiumsmitglieder als eigenes zugerechnet werden könnte, so dass er für das Ergebnis als Mittäter verantwortlich wäre. Diesen Weg ist der Bundesgerichtshof im Lederspray-Urteil gegangen82 und hat dafür in der Literatur jedenfalls teilweise Zustimmung gefunden83. Dieser scheinbar eleganten Lösung steht allerdings entgegen, dass die Handlungszurechnung bei der Mittäterschaft sich auf die Tatbestandsverwirklichung bezieht und nicht die Gremiumsentscheidung selbst, sondern erst deren Umsetzung Ausführung der Tat (z. B. einer Körperverletzung) ist. Die Entscheidung kann für sich genommen noch nicht einmal als Tatbeitrag im Vorbereitungsstadium gelten84, denn sie bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die förmliche Fassung des gemeinschaftlichen Tatentschlusses. Nur wenn man es ausreichen ließe, dass dieser zugleich Vorbereitungshandlung sein kann85, wäre auf diese Weise eine mittäterschaftliche Tatbegehung überhaupt denkbar. Da jedoch daran festzuhalten ist, dass die Mitwirkung an der Realisierung des Tatentschlusses eine zu ihm hinzutretende Mittäterschaftsvoraussetzung ist86, kann Mittäter nur ein solches Gremiumsmitglied sein, das auch mit der Verwirklichung des Beschlusses maßgeblich befasst ist87, zumal der Beschluss solange nichts bewirkt, wie er nur im Sitzungs___________ 82 BGHSt 37, 128 ff. (allerdings hinsichtlich eines Unterlassungsbeschlusses, aber das ist eine gesondert zu behandelnde Frage; dazu sogleich unter bb)). 83 Ransiek (Fn. 24), S. 61; Kuhlen, NStZ 1990, 570; Beulke/Bachmann, JuS 1992, 743; Hilgendorf, NStZ 1994, 563. 84 Anders Jakobs, FS Miyazawa, 1995, S. 419, der freilich ausdrücklich offen lässt, welche Beteiligungsform vorliegt; vgl. dazu auch Neudecker, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Mitglieder von Kollegialorganen, 1995, S. 210 ff., 240 ff. – Die Tendenz zur Reduzierung der Anforderungen an die äußere Verhaltensseite der Tat beleuchtet sehr instruktiv Hassemer (Fn. 6), S. 64 ff. 85 Obwohl Mittäterschaft allein durch Verabredung in Deutschland traditionell nicht anerkannt ist, haben sich in neuerer Zeit bedenklicherweise deutliche Ansätze, die in diese Richtung weisen, gezeigt: vgl. dazu Neudecker (Fn. 84), S. 210 ff. m.w.N. u. Bloy, GA 1996, 432 ff. 86 Zwar können Tatentschluss und Tatbeitrag zeitlich zusammenfallen, aber der Beitrag darf nicht allein in der Entschlussfassung liegen, sondern nur umgekehrt: In der Beitragsleistung kann die Entschlussfassung (konkludent) zum Ausdruck gelangen, so dass auch auf diese Weise Mittäterschaft allein durch Beschlussfassung nicht begründet werden kann (s. hingegen SK-StGB/Hoyer, § 25 Rn. 122; Ransiek [Fn. 24], S. 62). 87 Das wird verhältnismäßig wenig thematisiert; s. aber Dencker (Fn. 77), S. 188 ff.; Knauer, Die Kollegialentscheidung im Strafrecht, 2001, S. 49 ff.; Schaal, Strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Gremienentscheidungen in Unternehmen, 2001, S. 193 ff.; Corell, Strafrechtliche Verantwortlichkeit durch Mitwirkung an Kollegialentscheidungen auf der Leitungsebene von Wirtschaftsunternehmen bei vorsätzlichen Begehungsdelikten, 2007, S. 7 f., 23 ff.; Rodríguez Montañés, FS Roxin, 2001, S. 319 ff. – Eine Ausnahme bilden naturgemäß diejenigen Entscheidungen, die selbst die Straftat darstellen wie z. B. das Urteil eines Kollegialgerichts, das eine Rechtsbeugung bedeutet.

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protokoll steht. Im Übrigen kommt auch bei Vorliegen von Vorsatz allenfalls Teilnahme, insbesondere (Mit-)Anstiftung in Betracht. Vor allem darf aber nicht übersehen werden, dass Vorsatz häufig ausscheidet, so dass höchstens eine Fahrlässigkeitstat vorliegen kann. Da Mittäterschaft im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für rechtswidriges Abstimmungsverhalten nur eine Nebenrolle spielt88, lässt sich das Problem der Erfolgszurechnung auf diese Weise nicht wesentlich entschärfen. In der Literatur wird es nun hauptsächlich als Kausalitätsproblem erörtert, obwohl die Kausalität kaum zu bestreiten ist: Da jede abgegebene Stimme in das Abstimmungsergebnis eingeht, hat zwangsläufig jeder rechtswidrig Stimmende zur rechtswidrigen Mehrheitsentscheidung beigetragen. Darüber besteht – bei gewissen Nuancen in der Begründung – letztlich auch weitgehend Einigkeit89. Würde man dies (soweit die Entscheidung mit wenigstens einer Stimme mehr als notwendig gefallen ist) nicht anerkennen, so würde das übrigens bedeuten, dass keiner der Abstimmenden für die Entscheidung kausal geworden wäre, weil die Stimme jedes Einzelnen vom Ergebnis abgezogen werden kann, ohne dass der betreffende Beschluss dadurch zu Fall käme, eine geradezu absurde Vorstellung90. In Wirklichkeit liegt das Problem auch auf einer ganz anderen Ebene. Die Überlegung, dass es für das Zustandekommen der rechtswidrigen Entscheidung auf die eigene Stimmabgabe gar nicht angekommen sei, bringt zum Ausdruck, dass die Rechtswidrigkeit des Beschlusses auch bei einem rechtmäßigen eigenen Abstimmungsverhalten nicht entfallen wäre. Das ist aber ein rein normatives Zurechnungsproblem. Hier gilt nun (etwas verkürzt formuliert) der Satz, dass das pflichtwidrige Verhalten Dritter kein Zurechnungshindernis begründet91. Hypothetische Kausalverläufe sind jedenfalls dann nicht zu Gunsten des Täters berücksichtigungsfähig, wenn es sich dabei um deliktisches menschliches Verhalten handelt, das noch revidierbar ist. Das wäre nämlich im Lichte ___________ 88 Auch mittäterschaftliche mittelbare Täterschaft ist an sehr spezielle Voraussetzungen geknüpft; vgl. nur Knauer (Fn. 87), S. 75 ff.; Corell (Fn. 87), S. 23 ff. 89 Siehe z. B. Lackner/Kühl, StGB, Vor § 13 Rn. 11 m.w.N.; Neudecker (Fn. 84), S. 215 ff., 225; Ransiek (Fn. 24), S. 68; Jakobs (Fn. 84), S. 421 ff., 435; Puppe, JR 1992, 32; Kuhlen, NStZ 1990, 570; ders., JZ 1994, 1146; Hilgendorf, NStZ 1994, 565; bes. aufwendig Röh, Die kausale Erklärung überbedingter Erfolge, 1995, S. 145 ff.; abl. jedoch Franke, JZ 1982, 582; Nettesheim, BayVBl 1989, 165; eingehend Dencker (Fn. 77), S. 47 ff, mit dessen Analyse sich Sofos, Mehrfachkausalität beim Tun und Unterlassen, 1999, S. 133 ff. krit. auseinandersetzt. 90 So zu Recht z. B. Schmidt-Salzer (Fn. 36), Rn. 1.278; OLG Stuttgart NStZ 1981, 28; s. auch Dencker (Fn. 77), S. 175. 91 Sehr klar in dem hier relevanten Zusammenhang Jakobs (Fn. 84), S. 422 ff.; Meier, NJW 1992, 3197; allg. dazu Roxin, AT I, § 11 Rn. 58 f.; SK-StGB/Rudolphi, Vor § 1 Rn. 60.

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des mit der Erfolgszurechnung verfolgten Zwecks des Rechtsgüterschutzes völlig unangemessen, weil dadurch das Rechtsgutsobjekt ohne triftigen Grund aufgegeben würde. Immerhin existieren hier Normadressaten, an die das Rechtsgutsverletzungsverbot gerichtet werden kann. Allerdings ist ein derartiges Verbot nur dann sinnvoll, wenn es alle Personen, die sich zu rechtswidrigem Handeln entschlossen haben, trifft. Diese müssen als durch die Rechtsordnung prinzipiell motivierbare Menschen gedacht werden, so dass der hypothetische Vergleichsfall zum Zwecke der Beurteilung der Zurechenbarkeit des Erfolges richtigerweise so zu bilden ist, dass die jeweils anderen Gremiumsmitglieder ebenfalls rechtmäßig gehandelt hätten92. Mithin ist die Erfolgszurechnung hier nicht ausgeschlossen93.

bb) Beschlüsse, die ein Unterlassen zum Gegenstand haben Etwas anders stellt sich demgegenüber die Situation dar, wenn es um die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Gremiumsmitgliedes geht, das mit der Mehrheit für das Unterbleiben einer Warn- oder Rückrufaktion gestimmt hat. Ein solcher gemeinschaftlicher Unterlassungsbeschluss ist von vornherein bedeutungslos, denn es handelt sich dabei lediglich um das Unterlassen eines Beschlusses, der die gebotene Aktivität zum Gegenstand hätte haben müssen, wodurch sich an der Lage des bedrohten Gutes nichts ändert. An dieser Stelle geht es also nicht etwa um die Verknüpfung des Abstimmungsverhaltens mit dem tatbestandlichen Erfolg zwecks Erfolgszurechnung94. Richtigerweise ist die Frage vielmehr dahingehend zu stellen, wie es um die Verantwortlichkeit für das Unterlassen der gebotenen Rettungsaktion95 steht. Jene ist jedoch von einem diesbezüglichen Gremiumsbeschluss unabhängig. Gleichgültig, ob ein Un___________ 92

Grdl. zu diesem Zurechnungsproblem Samson, Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht, 1972, S. 102 ff., 125 ff., 136 ff.; vgl. auch Bloy (Fn. 24), S. 277 ff.; ebenso Neudecker (Fn. 84), S. 225 ff., 234 f. (die sich auch näher damit befasst, inwieweit die verschieden eingesetzten Topoi „hypothetische Kausalverläufe“, „rechtmäßiges Alternativverhalten“ und „pflichtwidriges Verhalten Dritter“ hier einschlägig sind). 93 Die inzwischen viel behandelte Frage der Mittäterschaft beim Fahrlässigkeitsdelikt wird in diesem Zusammenhang in ihrer Relevanz völlig überschätzt, da sie erst dann Bedeutung gewänne, wenn es an der Kausalität fehlte; vgl. aber Weißer (Fn. 51), S. 138 ff., insbes. S. 143 ff.; Dencker (Fn. 77), S. 175 ff.; Knauer (Fn. 87), S. 181 ff.; Schaal (Fn. 87), S. 209 ff. 94 Deshalb sind die diesbezüglichen Ausführungen in BGHSt 37, 129 und in der Lit. – z. B. Neudecker (Fn. 84), S. 260 ff.; Weißer (Fn. 51), S. 105 ff. (s. aber auch dies. S. 81); Beulke/Bachmann, JuS 1992, 742 ff.; Hilgendorf, NStZ 1994, 563 f. (s. aber auch dens. S. 565 Fn. 69) – von vornherein fehl am Platze. 95 Worin die besteht, ist eine gesonderte Frage. Es geht vor allem darum, ob sich der Einzelne auf die Wahrnehmung seiner internen Mitwirkungsrechte beschränken darf (so BGHSt 37, 126; str.: dazu Schaal [Fn. 87], S. 101 m.N.).

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terlassungsbeschluss vorliegt oder nicht, kann der einzelne Garant stets nur dafür verantwortlich sein, dass er in Kenntnis des Rettungsgebotes untätig geblieben ist96. Hingegen kommt eine Zurechnung fremden Unterlassens nicht in Betracht, so dass Mittäterschaft schon aus diesem Grunde ausscheidet97. Damit kommt es für die Erfolgszurechnung darauf an, ob es eine den einzelnen Garanten entlastende Bedeutung hat, dass die von ihm zu fordernde Rettungsinitiative für sich genommen zur Erfolgsabwendung nicht ausgereicht hätte, weil dafür ein Mehrheitsbeschluss erforderlich gewesen wäre, der für ihn praktisch nicht erreichbar war. Dies hat der Bundesgerichtshof im LedersprayUrteil mit eher rechtspolitischen Argumenten verneint98. Für diese Lösung99 ist in der Literatur eine Reihe von dogmatischen Begründungen nachgeliefert worden100, welche ihrerseits daran leiden, dass sie auf der Ebene der QuasiKausalität ansetzen, statt sich der normativen Frage zuzuwenden, warum in dieser Konstellation trotz fehlender Erfolgsabwendungsmöglichkeit durch den Garanten als Einzelperson die Erfolgszurechnung nicht entfallen soll. Die Antwort darauf entspricht derjenigen, die für den Fall der Mitwirkung an einem Beschluss, der eine rechtsgutsverletzende Aktivität zum Gegenstand hat, entwickelt worden ist: Da das Rettungsgebot alle Garanten trifft, ist im Interesse eines wirksamen Rechtsgüterschutzes bei der Beurteilung des Verhaltens eines einzelnen Garanten rechtmäßiges Verhalten der Mitgaranten zu unterstellen. Unter dieser Voraussetzung wäre die Rettungsinitiative eines Einzelnen nicht vergeblich gewesen101, so dass im Falle ihres Unterbleibens die Erfolgszurechnung legitim ist. ___________ 96 Samson, StV 1991, 184 f.; der Sache nach (wenngleich ohne explizite Kritik am BGH) ebenso Meier, NJW 1992, 3197; vgl. auch Knauer (Fn. 87), S. 64, 201 f.; Schaal (Fn. 87), S. 100; Jakobs (Fn. 84), S. 432 f. 97 Sehr str., a. A. z. B. Ransiek (Fn. 24), S. 71; Weißer (Fn. 51), S. 90 ff., 128; Knauer (Fn. 87), S. 202 f.; Kuhlen, NStZ 1990, 570; unentschlossen S. Dreher, JuS 2004, 18 m.w.N.; auch soweit anerkannt wird, dass es keine Unterlassungszurechnung gibt, wird Unterlassungsmittäterschaft nicht immer klar abgelehnt (vgl. Schönke/Schröder/ Cramer/Heine, StGB, § 25 Rn. 79). 98 BGHSt 37, 130 ff. 99 Dagegen jedoch Samson, StV 1991, 185; Hassemer (Fn. 6), S. 68; zu Samson wiederum abl. Hilgendorf (Fn. 6), S. 126 ff. 100 Kuhlen, NStZ 1990, 570 (Ausnahme von der Äquivalenztheorie); Meier, NJW 1992, 3198 (Modifikation der Äquivalenztheorie im Sinne Tarnowskis); Puppe, JR 1992, 32 (Modifikation der Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung). 101 Das damit implizit vorausgesetzte Vorhandensein einer Rettungschance ist normativ zu verstehen („kontrafaktische Normkonformität“), so dass es nicht etwa durch faktische Gegebenheiten zunichte gemacht werden kann: überzeugend Jakobs (Fn. 84), S. 432; Sofos (Fn. 89), S. 253 ff.; i. Erg. auch Roxin, AT II, § 31 Rn. 67; abl. jedoch Dencker (Fn. 77), S. 171; Samson, StV 1991, 185; auch Schaal (Fn. 87), S. 116, 133, der dies zu Unrecht für eine Zurechnung fremden Unterlassens hält, während es doch nur

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IV. Fazit Die Warnungen vor dogmatischen Auflösungserscheinungen im Zuge der Etablierung einer strafrechtlichen Produkthaftung102 erscheinen nach alledem überzogen. Man kann natürlich als Grund für die geschilderten Schwierigkeiten mit der Erfolgszurechnung neuartige Besonderheiten der Kausalitätskonstellation ausmachen103 und in der Zulassung der Methode des Ausschlusses alternativer Ursachen im Rahmen der Kausalitätsfeststellung eine Flexibilisierung der Kategorie der Kausalität erblicken, die in der Risikogesellschaft unvermeidlich sei104, oder die Zulassung umstrittener Kausalgesetze als Grundlage der Kausalitätsfeststellung als Tribut an den zunehmend unübersichtlicher werdenden Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis betrachten105. Diese Beispiele ließen sich vermehren. Die Analyse wichtiger Problemkreise hat jedoch ergeben, dass das Entwicklungspotential der Strafrechtsdogmatik durchaus hinreichend ist, um den Verbraucher vor gefährlichen Industrieprodukten zu schützen. Einige Teilbereiche wie z. B. die Garantenlehre bedürfen dazu zwar der Weiterentwicklung, aber die davon ausgehenden Impulse kommen dem Strafrecht insgesamt zugute und sind daher begrüßenswert. Demgegenüber erscheinen Vorschläge, bestimmte Probleme moderner Gesellschaften, die – wie die Produkthaftung – eine „Flexibilisierung“ des Strafrechts nahe legen bzw. bereits bewirkt haben, künftig aus dem Strafrecht auszugliedern und in ein besonders „Interventionsrecht“ zu verweisen106, oder dafür strafrechtliche Neben- bzw. Subsysteme außerhalb des Kernstrafrechts zu etablieren107, höchst bedenklich108. Fragwürdig ist bereits die Vorstellung, es gebe zwei verschiedene säuberlich trennbare Sektoren: einen zu allen Zeiten gleichen schmalen Bereich, in dem das Strafrecht das Verhältnis zwischen Verbrechen und Strafe regelt, und einen dem historischen Wandel unterworfenen anderen, in dem zwar das Erfordernis staatlicher Lenkung mittels repressiver Sanktionen besteht, als Steuerungsinstrument das überkommene Strafrecht aber untauglich ist und eine erst noch zu schaffende Rechtsmaterie (bzw. Submaterie) Schutz gewährleistet. Letztere würde die Unübersichtlichkeit der Rechtsordnung weiter erhöhen, denn sie wäre zwischen (Kern-)Strafrecht, Ord___________ um die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes auf eine sehr spezielle Konstellation geht. 102 So insbes. Hassemer (Fn. 6), S. 25 ff. 103 So Hassemer (Fn. 6), S. 34; L. Schulz (Fn. 12), S. 46. 104 L. Schulz (Fn. 12), S. 73 f. 105 Puppe, JZ 1994, 1151. 106 Hassemer (Fn. 6), S. 22 ff., 77; damit sympathisierend Rotsch (Fn. 17), S. 215. 107 Heine (Fn. 15), S. 193 ff.; Silva Sánchez (Fn. 10), S. 82 ff. 108 Abl. auch Vogel (Fn. 39), S. 80; Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 596.

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nungswidrigkeitenrecht, Zivilrecht und Öffentlichem Recht anzusiedeln. Sie verfügte zudem über weniger anspruchsvolle Garantien und Verfahrensregulierungen als das (bisherige) Strafrecht und hätte sich als Ausgleich dafür mit leichteren Sanktionen gegenüber dem Einzelnen zu begnügen109. Ganz abgesehen von der offenen Frage, was eine derartige Umstrukturierung für die Rechtspflegeorgane (auch an Mehrbelastung?) bedeuten würde, ist zu bezweifeln, dass ein derartiges neues Recht auf absehbare Zeit so feste Konturen gewinnen könnte, dass es bei Vermeidung der Schwierigkeiten, die auf kernstrafrechtlichem Felde bestehen, gleichzeitig effizienter und rechtsstaatlich akzeptabel funktionieren könnte. Vorzugswürdig ist das Konzept des Verbraucherschutzes durch Strafrecht nicht zuletzt auch deshalb, weil es die zivilrechtliche Produkthaftung, die einen hohen Standard erreicht hat, ergänzt und dadurch den Risiken, denen der Konsument ausgesetzt ist, im Wege der klaren und bewährten Funktionsteilung zwischen Zivil- und Strafrecht110 wirkungsvoll zu begegnen vermag.

___________ 109 Hassemer (Fn. 6), S. 23 unter Bezugnahme auf ähnliche Überlegungen bei Naucke, Die Wechselwirkung zwischen Strafziel und Verbrechensbegriff, 1985, S. 35 ff., insbes. S. 38 ff.; Heine (Fn. 15), S. 194 f.; Silva Sánchez (Fn. 10), S. 82 ff. 110 Vervollständigt durch eine öffentlich-rechtliche Komponente (das Geräte- und Produktsicherheitsgesetz) zu einem allgemeinen Produktsicherheitsrecht.

Die Stellung des sog. Internationalen Strafrechts im Deliktsaufbau und ihre Konsequenzen für den Tatbestandsirrtum Von Martin Böse

I. Einleitung In einem Vortrag zu den mit dem 2. Strafrechtsreformgesetz eingeführten Irrtumsregelungen konstatierte Manfred Maiwald im Jahr 1980, dass der Inhalt des § 16 StGB in der Lehre allgemein anerkannt und von daher nicht weiter aufregend sei; interessant sei vielmehr, was die Bestimmung nicht regele.1 Diese auf den Erlaubnistatbestandsirrtum abzielenden Ausführungen lassen sich auch auf das sog. Internationale Strafrecht (§§ 3 ff. StGB) beziehen, denn auch dort stellt sich die Frage, ob ein Irrtum über die dort geregelten Voraussetzungen für die Anwendung des deutschen Strafrechts von der Regelung des § 16 StGB erfasst wird und nach Maßgabe dieser Bestimmung den Vorsatz ausschließt. Nach vorherrschender Ansicht2 lässt ein solcher Irrtum den Vorsatz unberührt. Allerdings hatte das Reichsgericht3 noch den gegenteiligen Standpunkt eingenommen und in jüngerer Zeit trifft die Konzeption der vorherrschenden Ansicht in zunehmendem Maße auf Widerspruch.4 Diesen Einwänden soll im Folgenden nachgegangen (II.) und sodann untersucht werden, welche ___________

Für wertvolle Anregungen bin ich meinem wissenschaftlichen Assistenten, Herrn Dr. Frank Meyer, LL.M. (Yale), zu Dank verpflichtet. 1 Maiwald, Zur deutschen Gesetzesregelung über den Irrtum, in: Jescheck (Hrsg.), Strafrechtsreform in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien, 1981, S. 105. 2 MK-StGB/Ambos, Bd. 1, 2003, Vor §§ 3-7 Rn. 3; ders., Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 2008, S. 4; Schönke/Schröder/Eser, StGB, 27. Aufl. 2007, Vorbem. §§ 3-7 Rn. 61; Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, Vor §§ 3-7 Rn. 30; Gribbohm, JR 1998, 177, 179; Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, Vor §§ 3-7 Rn. 10; Miller/Rackow, ZStW 117 (2005), 379, 414; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2009, S. 51; Schmitz, Das aktive Personalitätsprinzip im Internationalen Strafrecht, 2002, S. 311, 314 f.; Scholten, Das Erfordernis der Tatortstrafbarkeit in § 7 StGB, 1995, S. 98; LK-StGB/Werle/Jeßberger, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, Vor § 3 Rn. 452. 3 RGSt 1, 274, 276; 3, 316, 318; 11, 20, 23; 19, 147, 150; 25, 424, 426. 4 Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589 ff., 605; Pawlik, FS Schroeder, 2006, S. 357, 361, 373 (in Fn. 85); s. auch bereits Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, S. 112; Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 1983, S. 215; einschränkend Zieher, Das sog. Internationale Strafrecht nach der Reform, 1977, S. 50 ff., 54.

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Konsequenzen sich aus einer Anwendung des § 16 StGB auf das Internationale Strafrecht ergeben (III.).

II. Die Zuordnung der §§ 3 ff. StGB zum Unrechtstatbestand 1. Die §§ 3 ff. StGB als Verfahrensrecht (Internationale Strafgerichtsbarkeit bzw. Zuständigkeit) Die Annahme eines Tatbestandsirrtums scheidet von vornherein aus, sofern man die §§ 3 ff. StGB nicht dem materiellen Recht, sondern (ausschließlich) dem Strafverfahrensrecht zuordnet, indem man ihnen die Funktion zuweist, die Zuständigkeit der deutschen Strafgerichte für grenzüberschreitende Sachverhalte zu begründen bzw. zu begrenzen. Eine konsequente Umsetzung dieses prozessualen Verständnisses findet sich im spanischen Recht, das die Grenzen der nationalen Strafgewalt im Rahmen der Zuständigkeit der spanischen Strafgerichte regelt.5 Aber auch in Bezug auf das deutsche Recht wird die Auffassung vertreten, dass die §§ 3 ff. StGB ausschließlich die Ermächtigung der deutschen Gerichte zur Verhängung einer Strafe betreffen (die Sanktions- oder Sekundärnorm), während das in dem jeweiligen Tatbestand enthaltene Verbot (die Verhaltens- und Bewertungsnorm bzw. Primärnorm) universelle Geltung beansprucht.6 Dementsprechend begründet die fehlende Anwendbarkeit deutschen Strafrechts nach allgemeiner Ansicht ein Prozesshindernis7 und der BGH formuliert insoweit konsequent: „Ein [etwaiger] Irrtum über den Umfang der deutschen Gerichtsbarkeit wäre unbeachtlich.“8 Der Umstand, dass sich die einschlägigen Regelungen nicht im Verfahrensrecht (vgl. §§ 7 ff. StPO9, §§ 18 ff. GVG), sondern im StGB finden, deutet in___________ 5

Art. 23 des spanischen Gerichtsverfassungsgesetzes (Ley Orgánica 6/1985 des Poder Judicial); zum prozessualen Charakter dieser Vorschrift mit der Folge der Unanwendbarkeit des Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“: Audienca Nacional, Urteil vom 5.11.1998 – 173/98, deutsche Übersetzung abgedruckt bei: Ahlbrecht/Ambos, Der Fall Pinochet(s), 1999, S. 86, 89 f. 6 Grundlegend Schröder ZStW 61 (1942), 57, 88, 95 f.; F.C. Schroeder, GA 1968, 353, 354. 7 BGHSt 34, 1, 3; NJW 1995, 1844, 1845; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 2), StGB, Vorbem. §§ 3-7 Rn. 2; Fischer (Fn 2), Vor §§ 3-7 Rn. 1; SK-StGB/Hoyer, 116. Lieferung – November 2008, Vor § 3 Rn 3; LK-StGB/Werle/Jeßberger (Fn.2), Vor § 3 Rn. 10. 8 BGHSt 27, 30, 34. 9 Zwar wäre es denkbar, wie im internationalen Zivilprozessrecht den Regelungen über die örtliche Zuständigkeit unter den gleichen Voraussetzungen auch eine internationale Zuständigkeit des jeweiligen Gerichts zu entnehmen (vgl. Mankowski/Bock, JZ 2008, 555, 557). Eine solche Doppelfunktion der §§ 7 ff. StPO bedürfte jedoch in jedem Fall einer Korrektur durch die §§ 3 ff. StGB, da die Begründung eines Gerichtsstandes

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des darauf hin, dass die §§ 3 ff. StGB dem materiellen Recht zugehörig sind. Zwar sollte der Standort der Regelung in seiner Bedeutung nicht überschätzt werden, zeigen doch insbesondere die Vorschriften zum Strafantragsrecht (§§ 77 ff. StGB)10, dass sich im StGB auch verfahrensrechtliche Regelungen finden.11 Mit einem prozessualen Verständnis der §§ 3 ff. StGB wird deren Funktion, der extraterritorialen Ausübung nationaler Strafgewalt Grenzen zu setzen, jedoch nicht vollständig erfasst, denn mit der Begründung von Strafgewalt für Auslandstaten nimmt der deutsche Gesetzgeber nicht nur eine Zuständigkeit zur Verfolgung derartiger Taten („jurisdiction to adjudicate“), sondern mit der Ausdehnung des Anwendungsbereichs der strafbewehrten Verbote auch materiell-strafrechtliche Regelungsgewalt in Anspruch („jurisdiction to prescribe“) und legt damit zugleich die Grenzen des deutschen Strafrechts fest.12 Eine universelle Geltung der tatbestandlichen Verbotsnormen wäre demgegenüber als Inanspruchnahme extraterritorialer Regelungsgewalt („jurisdiction to prescribe“) mit dem völkerrechtlichen Interventionsverbot schlechthin unvereinbar, da die generelle Erstreckung der deutschen Verbotsnormen auf das Ausland nicht durch einen völkerrechtlich anerkannten Anknüpfungspunkt legitimiert werden kann.13 Wie sich in dem „Verzicht“ auf die Ahndung entsprechender Verstöße zeigt, besteht überdies an der Festlegung von Regeln für ein Verhalten von Ausländern im Ausland kein (deutsches) öffentliches Interesse, so dass sich eine Erstreckung der Verbotsnorm auf das Ausland gegenüber dem einzelnen Adressaten verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen lässt.14 Eine Auslegung der §§ 3 ff. StGB, welche diese Regelungen ausschließlich auf die strafrechtliche Sanktionsnorm bezieht, wäre daher mit höherrangigem Recht (vgl. ___________ sinnlos ist, wenn die Verhängung einer Strafe von vornherein ausscheidet, s. Mankowski/Bock, a.a.O. 559; i.E. ebenso OLG Celle, Beschl. v. 5.6.2007 – 1 Ws 191193/07 (juris) Rn. 18; s. auch bereits Meili, Lehrbuch des Internationalen Strafrechts und Strafprozessrecht, 1910, S. 404. 10 Siehe zur Einordnung als Verfahrensrecht mit der Konsequenz, dass das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) keine Anwendung findet: BGHSt 46, 310, 317 ff.; s. auch zur Verjährung (§§ 78 ff. StGB): BVerfGE 1, 418, 423; 25, 269, 286 f.; NJW 1995, 1145. 11 Zieher (Fn. 2), S. 35. 12 Ambos, Internationales Strafrecht (Fn. 2), S. 2 f.; Merkel, in: Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse, Band III. Makrodelinquenz, 1998, S. 237, 238 f.; Walther, FS Eser, 2005, S. 925, 929; LK-StGB/Werle/Jeßberger, (Fn. 2), Vor § 3 Rn. 3, 5; zu den Begriffen: American Law Institute, Restatement of the Law (Third), The foreign Relations of the United States, Vol. 1, 1987, § 401. 13 Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 603; Oehler (Fn. 4), S. 127; zum völkerrechtlichen Interventionsverbot als Grenze der nationalen Strafgewalt: NK-StGB/Böse, 3. Aufl. 2009, Vor § 3 Rn. 12 ff. m.w.N. 14 Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 603; s. auch Zieher (Fn. 2), S. 37 f., 39 f.; vgl. dagegen Pawlik, FS Schroeder, 2006, S. 357, 361 (zu einem – von ihm im Ergebnis allerdings zurückgewiesenen – am Rechtsgüterschutz orientierten Strafrecht).

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Art. 25 S. 2 GG) nicht vereinbar und ist daher mit Recht im Schrifttum überwiegend auf Ablehnung gestoßen.15 Die Regelungen legen vielmehr auch den Anwendungsbereich der materiell-strafrechtlichen Bewertungs- und Verhaltensnorm fest.16 Die Doppelfunktion des Internationalen Strafrechts lässt sich durch einen Blick auf das französische Recht verdeutlichen, das zwischen dem räumlichen Geltungsbereich des französischen Strafrechts (Art. 113-6 ff. Code Pénal) und den daran anknüpfenden Bestimmungen über die internationale Zuständigkeit der französischen Gerichte (Art. 689 Code de Procédure Pénal) unterscheidet.17 Im deutschen Recht sind diese materiell-rechtliche und prozessuale Funktion Gegenstand einer einheitlichen Regelung, d.h. die §§ 3 ff. StGB haben einerseits verfahrensrechtlichen Charakter, sind aber andererseits zugleich Bestandteil des materiellen Rechts18; ihre prozessuale Funktion steht daher einer Anwendung des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB grundsätzlich nicht entgegen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die in den §§ 3 bis 7 StGB enthaltenen Voraussetzungen ausnahmslos eine materiell-rechtliche Bedeutung haben; insoweit ist zwischen originärer und abgeleiteter Strafgewalt zu unterscheiden. Soweit der deutsche Staat in Ausübung seiner souveränen Rechte originäre Strafgewalt (insbesondere in Bezug auf Inlandstaten) begründet, so gebietet dies zugleich eine (uneingeschränkte) Zuständigkeit der deutschen Gerichte zur Verfolgung derartiger Taten, d.h. die prozessuale Zuständigkeit folgt aus der materiell-rechtlichen Strafbarkeit der Tat nach deutschem Recht. Umgekehrt liegt jedoch nicht bereits dann ein Prozesshindernis vor, wenn die Ausübung originärer Strafgewalt ausscheidet, da sich eine Zuständigkeit der deutschen Gerichte aus dem Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege ergeben kann (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB). Die Ausübung der von dem „vertretenen“ Staat abgeleiteten Strafgewalt zur Verfolgung von Auslandstaten wird allerdings davon abhängig gemacht, dass der primär zur Strafverfolgung berufene Staat daran gehindert ist, die Tat zu verfolgen und abzuurteilen: Die stellvertretende Strafrechtspflege setzt voraus, dass der Täter (besser: der Verdächtige) im Inland betroffen wird, aber nicht ausgeliefert wird, obwohl seine Auslieferung nach der Art der Tat zulässig wäre (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB). Die Anwesenheit des Beschuldigten im Inland ist eine Prozessvoraussetzung, deren Nichtvorlie___________ 15 Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 603; Oehler (Fn. 2), S. 127; Vogler, FS Grützner, 1970, S. 149, 155; Zieher (Fn. 2), S. 41. 16 Ambos, Internationales Strafrecht (Fn. 2), S. 4; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 2), StGB, Vorbem §§ 3- 7 Rn. 1; Zieher (Fn. 2), S. 43. 17 Vgl. Mankowski/Bock, JZ 2008, 555, 559; s. dazu näher Bouloc, Procédure Pénal, 20e édition, 2006, Rn 519 ff. 18 Zur Doppelfunktion der §§ 3 ff. StGB: Ambos, Internationales Strafrecht (Fn. 2), S. 2 f.; LK-StGB/Werle/Jeßberger (Fn. 2), Vor § 3 Rn. 4, 7 ff.

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gen zur Einstellung des Verfahrens nach § 206a StPO führt.19 Auch die Nichtauslieferung an den Staat, der originäre Strafgewalt beansprucht, betrifft nicht die Festlegung strafbaren Unrechts, sondern ist als Verfahrensvoraussetzung ausschließlich dem Prozessrecht zuzuordnen.20 Dementsprechend hat der Bundesgerichtshof in Bezug auf den nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 StGB a.F. erforderlichen Antrag des ausländischen Staates auf Verfolgung der Tat durch die deutsche Justiz ausdrücklich festgestellt, dass es sich um eine Verfahrensvoraussetzung und nicht um eine materiell-rechtliche Strafbarkeitsvoraussetzung handelt.21 Diese Einordnung als Verfahrensrecht entspricht auch dem rechtshilferechtlichen Charakter der stellvertretenden Strafrechtspflege.22 Im Ergebnis sind auch die in § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB genannten Voraussetzungen verfahrensrechtlicher Art. Dies gilt zunächst für die „Neubürgerklausel“ (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 StGB), wonach deutsches Strafrecht auf eine Auslandstat Anwendung findet, sofern der Täter nach der Tat die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat. Dass der Erwerb der Staatsangehörigkeit allein eine Prozessvoraussetzung darstellt, ergibt sich aus einer verfassungskonformen Auslegung, denn ein materiell-rechtliches Verständnis verstieße gegen das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG); ein verfahrensrechtliches Verständnis dieser Bestimmung als Sonderfall stellvertretender Strafrechtspflege vermeidet dies, indem die Bestrafung auf das zur Zeit der Tat am Tatort geltende ausländische Strafgesetz gestützt wird.23 Die entsprechende Auslegung des § 7 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 StGB führt zu einer in sich konsistenten Regelung in § 7 Abs. 2 StGB und trägt insbesondere dem Anliegen des Reformgesetzgebers Rechnung, den aktiven Personalitätsgrundsatz als Grundlage für eine Begründung der deutschen Strafgewalt zu verabschieden.24 Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass die in § 7 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 StGB genannten Voraussetzungen (Staatsangehörigkeit des Täters, Nichtauslieferung) nicht Bestandteil des gesetzlichen Unrechtstatbestands, sondern ausschließlich verfahrensrechtlicher Natur sind. Dies gilt entsprechend für die ungeschriebenen verfahrensrechtlichen Voraussetzungen der stellvertretenden ___________ 19 OLG Celle, Beschl. v. 5.6.2007 – 1 Ws 191-193/07 (juris) – Rn 16, 19; s. auch BGH NStZ-RR 2007, 48, 50. 20 BGH NJW 1995, 1844, 1845. 21 BGHSt 20, 22, 27. 22 Lagodny/Nill-Theobald, JR 2000, 205, 207; s. auch de lege ferenda Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, 1996, S. 220 ff.; vgl. auch die entsprechende Regelung in Art. 85 ff. des schweizerischen Bundesgesetzes über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRSG). 23 Siehe dazu näher NK-StGB/Böse (Fn. 13), Vor § 3 Rn 46 m.w.N. 24 Siehe dazu näher NK-StGB/Böse (Fn. 13), § 7 Rn. 12 m.w.N.

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Strafrechtspflege, z.B. die Verfolgbarkeit der Tat am Tatort25, und die prozessualen Anforderungen, die sich aus der Subsidiarität der Weltrechtspflege (§ 6 StGB) ergeben26.

2. Die Geltung des deutschen Strafrechts als (kollisionsrechtliche) Vorfrage Gegen eine Zugehörigkeit der §§ 3 ff. StGB zum materiellen Strafrecht ist der Einwand erhoben worden, dass das materielle Strafrecht nicht selbst die Bedingungen seiner Geltung regeln könne; die §§ 3 ff. StGB seien daher als „Meta-Normen“ von dem im materiellen Strafrecht normierten Zusammenhang zwischen Tatbestand und Rechtsfolge abzugrenzen.27 Die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts wird damit zu einer vom tatbestandlichen Unrecht gelösten Vorfrage, einer objektiven „Vorbedingung der Strafbarkeit“28. Diese Deutung der §§ 3 ff. StGB beruht jedoch auf einem Missverständnis des vom Gesetzgeber verwendeten Begriffs der „Geltung“ des deutschen Strafrechts.29 Im vorliegenden Zusammenhang geht es nicht darum, die normative Verbindlichkeit einer Norm aus der Beachtung der auf der höheren Ebene angesiedelten Normen zu begründen, denn es steht – zumindest grundsätzlich30 – außer Frage, dass die §§ 3 ff. StGB formell und materiell mit der Verfassung vereinbar sind. Der Umstand, dass die §§ 3 ff. StGB eine Anwendung der Strafvorschriften des Besonderen Teils auf Auslandstaten weitgehend ausschließen, begründet demgegenüber keine Normenhierarchie, sondern diese Bestimmungen legen – wie andere Vorschriften des Allgemeinen Teils (vgl. etwa § 14 StGB) – den Anwendungsbereich des Tatbestandes fest. Einer solchen Gleichsetzung mit anderen Bestimmungen des Allgemeinen Teils widerspricht allerdings die verbreitete Deutung der §§ 3 ff. StGB als (einseitige) Kollisionsregeln, die in Anlehnung an das Internationale Privatrecht entwickelt worden ist und dementsprechend zwischen dem Kollisionsrecht und dem auf dessen Grundlage ermittelten Sachrecht unterscheidet.31 Gegen diese ___________ 25

Siehe insoweit OLG Düsseldorf MDR 1992, 1161, 1162; NK-StGB/Böse (Fn. 13), § 7 Rn. 14 m.w.N. 26 Siehe zum Erfordernis eines legitimierenden Anknüpfungspunktes: NK-StGB/Böse (Fn. 13), § 6 Rn. 7 f. 27 SK-StGB/Hoyer (Fn. 7), § 3 Rn 3 f. 28 Satzger (Fn. 2), S. 51. 29 Siehe zum Folgenden Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 598 f. 30 Zur Verfassungsmäßigkeit der §§ 3 ff. StGB: NK-StGB/Böse (Fn. 13), Vor § 3 Rn. 40 ff., § 5 Rn. 7, 26 f., § 6 Rn. 4. 31 Grundlegend Makarov, FS Kern, 1968, S. 253, 257 ff., 269; zur Einordnung der §§ 3 ff. als einseitiges Kollisionsrecht: Fischer (Fn. 2), Vor §§ 3-7 Rn. 1; Kindhäuser, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2008, S. 46; Lackner/Kühl (Fn. 2), Vor §§ 3-7 Rn. 1; s. auch von

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Parallele zum Internationalen Privatrecht spricht nicht, dass die deutsche und die ausländische Strafvorschrift unterschiedlichen Normensystemen angehören und unterschiedliche Regelungsinhalte daher eine Normenkollision im normtheoretischen Sinne nicht zu begründen vermögen32, denn dies gilt auch für das Internationale Privatrecht, da eine Norm des ausländischen Zivilrechts innerhalb der deutschen Rechtsordnung nicht aus sich heraus, sondern nur auf der Grundlage eines innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehls Anwendung finden kann.33 Eine Parallele zum Internationalen Privatrecht besteht insofern, als auch das Internationale Strafrecht darauf abzielt, einen Konflikt mit ausländischen Strafrechtsordnungen durch die grundsätzliche Beschränkung auf Inlandstaten (vgl. § 3 StGB) oder im Einzelfall durch das Korrektiv der Tatortstrafbarkeit (vgl. § 7 Abs. 1 StGB) zu vermeiden.34 Im Unterschied zum Internationalen Privatrecht erhebt der deutsche Gesetzgeber mit den §§ 3 ff. StGB jedoch nicht den Anspruch, die Strafbarkeit erschöpfend und abschließend zu regeln, sondern lässt die Möglichkeit einer ergänzenden Anwendung ausländischer Strafvorschriften durch ausländische Gerichte grundsätzlich unberührt.35 Die Strafvorschriften mehrerer Staaten können durchaus miteinander konkurrieren, da der nationale Strafgesetzgeber die Grenzen der deutschen Strafgewalt unter Orientierung an den eigenen kriminalpolitischen Zielen festlegt, ohne damit einer weitergehenden (oder liberaleren) Strafgesetzgebung anderer Staaten vorgreifen zu wollen.36 Demgegenüber verfolgt das Internationale Privatrecht das Ziel, das auf das jeweilige Rechtsverhältnis anwendbare Recht einheitlich und abschließend zu bestimmen.37 Besonders deutlich wird dies bei der Anwendung konstitutiver Normen: Die Frage nach der Wirksamkeit einer Eheschließung ist auf der Grundlage einer bestimmten Rechtsordnung einheitlich zu bestimmen; ist die Ehe danach wirksam geschlossen worden, so wäre das gegenteilige Ergebnis, zu dem man auf der Grundlage einer anderen Rechtsordnung käme, damit ___________ Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht, Bd. I – Allgemeine Lehren, 2. Aufl. 2003, S. 238 ff. 32 So Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 597. 33 Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl. 2006, S. 212; vgl. auch zu den verfassungsrechtlichen Grenzen des Internationalen Privatrechts: von Bar/Mankowski (Fn. 31), S. 221 ff. und (zum ordre-public-Vorbehalt) S. 715 ff. 34 Vgl. zur entsprechenden Funktion des Internationalen Privatrechts (Vermeidung von Konflikten zwischen in- und ausländischen Rechtsnormen): von Bar/Mankowski (Fn. 31), S. 12. 35 Binding, Handbuch des Strafrechts, 1. Band, 1885, S. 376. 36 Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 596 f. 37 Vgl. von Bar/Mankowski (Fn. 31), S. 197 f. (zur Alternative einer Anwendung der jeweiligen lex fori).

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schlechthin unvereinbar.38 Dementsprechend besteht eine zentrale Funktion des Internationalen Privatrechts darin, eine konkurrierende Anwendung konstitutiver Rechtsnormen mehrerer Rechtsordnungen zu vermeiden, indem das für das jeweilige Rechtsverhältnis maßgebliche Recht festgelegt wird.39 Vor diesem Hintergrund erweist sich die im Internationalen Privatrecht vorgenommene Unterscheidung zwischen Kollisionsnorm (Bestimmung des anwendbaren Rechts) und Sachnorm (Regelung des jeweiligen Rechtsverhältnisses) als zweckmäßig. Demgegenüber besteht im Strafrecht kein Bedürfnis für eine solchermaßen abgestufte Prüfung: Da die Bundesrepublik Deutschland nicht befugt ist, die Grenzen der Strafgewalt eines anderen souveränen Staates festzulegen40, und eine (generelle und nicht mit dem Korrektiv der Strafbarkeit nach deutschem Recht verbundene) Verweisung auf das Strafrecht eines fremden Staates gegen den Parlamentsvorbehalt verstieße (Art. 103 Abs. 2 GG)41, treffen die §§ 3 ff. StGB keine Aussage über die (konkurrierende) Anwendung ausländischen Strafrechts, sondern regeln allein, ob der jeweilige deutsche Straftatbestand anwendbar ist oder nicht.42 Diese Frage ist der Prüfung, ob das Verhalten die (übrigen) Merkmale dieses Tatbestandes verwirklicht, nicht logisch vorgelagert.43 Soweit die §§ 3 ff. StGB an bestimmte Tatbestände (§§ 5, 6 StGB) oder Tatbestandsmerkmale (§ 9 Abs. 1 Var. 3: „der zum Tatbestand gehörende Erfolg“) anknüpfen, kann es vielmehr geboten sein, zunächst die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens und sodann die Voraussetzungen der §§ 3 ff. StGB zu prüfen.44 ___________ 38

Vgl. das Beispiel bei von Bar/Mankowski (Fn. 31), S. 12. von Bar/Mankowski (Fn. 31), S. 12. 40 Binding (Fn. 34), S. 376. 41 von Bar/Mankowski (Fn. 31), S. 237. 42 Siehe allgemein zum öffentlichen Recht: von Bar/Mankowski (Fn 31), S. 236; vgl. auch Satzger (Fn. 2), S. 38 („Entweder-Oder-Lösung“). 43 Vgl. auch zur Begründung von Strafgewalt (Kompetenz zur Verhängung von Strafe) und der Festlegung des anwendbaren Strafrechts: Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 600. 44 Siehe auch zum Vorrang der Frage nach dem Schutzbereich des jeweiligen Tatbestandes: Schönke/Schröder/Eser, StGB (Fn. 2), Vorbem. §§ 3-7 Rn. 13; Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 604 (in Fn. 77). Ein logischer Vorrang ergibt sich auch nicht aus der prozessualen Funktion der §§ 3 ff. StGB (vgl. SK-StGB/Hoyer [Fn. 7], Vor § 3 Rn. 3; Satzger [Fn 2], S. 40), denn die materiell-rechtliche Bewertung ist von der prozessualen Frage nach der Zuständigkeit deutscher Gerichte zu trennen (vgl. auch zur Feststellung doppelrelevanter Tatsachen: Fischer, in: Karlsruher Kommentar zu StPO, GVG, EGGVG und EMRK, 6. Aufl. 2008, § 244 Rn. 10). Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Prüfung der Zuständigkeit nach Maßgabe der §§ 3 ff. StGB einerseits auch rein verfahrensrechtliche Voraussetzungen umfasst (vgl. o. unter 1. zu § 7 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 StGB), andererseits aber auch eine inzidente Prüfung einzelner Tatbestandsmerkmale erfordern kann (vgl. zum Erfolgsort bei der Untreue: BGH NStZ-RR 2007, 48, 50). 39

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Die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts ist daher keine kollisionsrechtliche Vorfrage, die von den übrigen Tatbestandsmerkmalen zu trennen ist. Soweit diese dem materiellen Recht zuzuordnen sind, handelt es sich bei den §§ 3 ff. StGB vielmehr um „vor die Klammer gezogene Bestimmungen“ über die Reichweite der deutschen Straftatbestände.45 Dieses Ergebnis wird auch dadurch bestätigt, dass sich entsprechende Regelungen im Hinblick auf den Tatort (vgl. §§ 3, 4 StGB) oder den Täter (vgl. § 5 Nr. 8, 9, 11a, 14a, 15 StGB) auch in einzelnen Tatbeständen des Besonderen Teils finden (s. § 86a StGB bzw. § 100 StGB).46

3. Die unrechtskonstituierende Bedeutung der §§ 3 ff. StGB Spricht die Beschränkung einzelner Tatbestände auf Handlungen im Inland (§ 86a StGB) oder Deutsche als mögliche Täter (§ 100 StGB) für eine Zuordnung dieser Merkmale zum Unrechtstatbestand, so wird die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts nach Maßgabe der §§ 3 ff. StGB gleichwohl überwiegend als objektive Bedingung der Strafbarkeit angesehen.47 Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass die Voraussetzungen der §§ 3 ff. StGB „unrechtsneutral“ seien, da das Unrecht der Tat weder durch den Tatort noch durch die Staatsangehörigkeit des Täters oder Opfers bestimmt werde.48 „Der Diebstahl bleibt Diebstahl, der Mord bleibt Mord, auch wenn das Delikt im Ausland begangen ist.“49 Diesem Verständnis der §§ 3 ff. StGB ist jedoch mit Recht entgegen gehalten worden, dass sich das Unrecht einer Handlung erst daraus ergibt, dass man diese zu den Normen einer bestimmten Rechtsordnung in Beziehung setzt.50 Die Bewertung eines Verhaltens als strafwürdiges Unrecht kann angesichts der unterschiedlichen kulturellen und sozialen Faktoren, welche die Wertvorstellungen einer Gesellschaft prägen, in den staatlichen Rechtsordnungen erheblich variieren.51 Die Bestimmungen, aus denen sich die Anwendbarkeit eines deutschen Straftatbestandes auf eine Handlung ergibt, sind daher für die Bewertung eines Verhaltens als Unrecht konstitutiv.52 Wären die §§ 3 ff. StGB unrechts___________ 45

Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 599. Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 599. 47 Ambos, Internationales Strafrecht (Fn. 2), S. 4; Satzger (Fn. 2), S. 51; s. auch die weiteren Nachweise in Fn. 2. 48 Scholten (Fn. 2), S. 93 f. 49 Scholten (Fn. 2), S. 98. 50 Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 601. 51 Hilgendorf, JuS 2008, 761, 763. 52 Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 601; zustimmend Pawlik, FS Schroeder, 2006, S. 357, 373. 46

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neutral, so könnte sich die Bewertung des Verhaltens als Unrecht nur aus einem unmittelbaren Rückgriff auf den einschlägigen Tatbestand ergeben.53 Die damit vorausgesetzte universelle Geltung der deutschen Straftatbestände als Bewertungsnormen wurde jedoch oben als mit dem völkerrechtlichen Interventionsverbot unvereinbar zurückgewiesen.54 Die These von der Unrechtsneutralität knüpft der Sache nach an frühere Ansätze an, das Weltrechtsprinzip über den Begriff des natürlichen Verbrechens zu begründen, das als „malum in se“ aufgrund einer allgemeinen Rechtsüberzeugung strafbar sei.55 Diese Lehre ging von einem zwischen den „gebildeten“ Staaten bestehenden Konsens über die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens aus und wies dem jeweiligen Tatbestand auf dieser Grundlage eine universelle Geltung zu.56 Dabei wurde allerdings anerkannt, dass das Strafrecht der einzelnen Staaten auch Tatbestände umfasst, die nicht als natürliche Verbrechen qualifiziert werden können, und damit dem Umstand Rechnung getragen, dass die Bewertung eines Verhaltens als strafwürdiges Unrecht maßgeblich von den sozialen und kulturellen Einflüssen abhängt, welche die Wertvorstellungen der jeweiligen Gesellschaft prägen (s.o.).57 In einem demokratisch verfassten Gemeinwesen obliegt die Entscheidung, inwieweit diese – zum Teil miteinander konkurrierenden – Wertvorstellungen auch den Inhalt von Strafgesetzen bestimmen, innerhalb der von der Verfassung gezogenen Grenzen dem parlamentarischen Gesetzgeber (Art. 103 Abs. 2 GG).58 Dementsprechend lässt sich in weiten Bereichen des Strafrechts eine in der Staatengemeinschaft übereinstimmende Bewertung eines Verhaltens als strafwürdiges Unrecht nicht feststellen, so dass die These, dass das Unrecht der Tat bei jedem Verbrechen vom Tatort bzw. von der Staatsangehörigkeit des Täters oder Opfers unabhängig sei, ___________ 53

Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 601 f. Siehe insoweit die berechtigte Kritik an der Widersprüchlichkeit der herrschenden Ansicht bei Pawlik, FS Schroeder, 2006, S. 357, 361 f. (in Fn. 26). 55 Harburger, ZStW 20 (1900), 588, 609 f.; Schmid, Die Herrschaft der Gesetze nach ihren räumlichen und zeitlichen Grenzen im Gebiete des bürgerlichen und peinlichen Rechts, 1863, S. 164; vgl. auch Garofalo, La Criminologie, 4. Aufl. 1895, S. 1 ff., 9 f., 38 f., 51 f. (délit naturel). Ein von dem positiven Recht unabhängiger Verbrechensbegriff wurde auch in der Naturrechtslehre vertreten (s. etwa Pufendorf, De iure naturae et gentium, 1759, lib. VIII cap. III § 16; vgl. auch Tittmann, Handbuch des gemeinen deutschen peinlichen Rechts, Erster Theil, 1806, S. 63 f.), aber mit der Durchsetzung des Grundsatzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“ verdrängt, vgl. zur historischen Entwicklung: Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, 1993, S. 63 ff.; Schreiber, Gesetz und Richter, 1976, S. 38 ff., 121 ff. 56 Harburger, ZStW 20 (1900), 588, 609, 610 f.; Schmid (Fn. 55), S. 165. 57 Schmid (Fn. 55), S. 165, 166; vgl. auch Garofalo (Fn. 55), S. 51. 58 Maurach/Zipf, Strafrecht AT, Bd. 1, 8. Aufl. 1995, S. 168; eingehend zum Werturteil des Gesetzgebers als Ausgangspunkt für die Begründung strafbaren Unrechts: Amelung, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie – Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel?, 2003, S. 155 ff. 54

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auf diese Weise nicht begründet werden kann. Vielmehr zeigt gerade die gesetzliche Umsetzung des Weltrechtsprinzips (§§ 1 VStGB, 6 StGB), dass nur die dort genannten Taten unabhängig vom Tatort, von der Staatsangehörigkeit des Täters etc. strafwürdiges Unrecht (im Sinne eines Verstoßes gegen die überstaatliche Rechtsordnung59) darstellen.60 Dass selbst im Kernstrafrecht zum Teil erhebliche Unterschiede in der strafrechtlichen Bewertung bestehen, zeigt das oben angeführte Beispiel der vorsätzlichen Tötung, deren „Strafbarkeit als solche“61 eben nicht in jeder Hinsicht als universell anerkannt gelten kann. So ist etwa der untaugliche Tötungsversuch nach italienischem Recht straflos (vgl. Art. 56 Abs. 1 Codice Penale).62 Besonders deutlich wird die Relativität des Unrechts jedoch in Bereichen, die rechts- und kriminalpolitisch besonders umstritten sind und in den einzelnen Staaten eine unterschiedliche Regelung erfahren haben. Beispielhaft seien nur die von einem Arzt geleistete aktive Sterbehilfe63, der Schwangerschaftsabbruch64 und die Forschung mit embryonalen Stammzellen65 genannt. Dass eine Bewertung dieser Handlungen als Unrecht maßgeblich von dem anwendbaren Recht abhängt, liegt auf der Hand.

___________ 59 Soweit es sich um Taten handelt, über deren Bewertung als strafwürdiges Unrecht innerhalb der Staatengemeinschaft ein Konsens besteht und zu deren Verfolgung die einzelnen Staaten im gemeinsamen Interesse völkerrechtlich verpflichtet sind, ergibt sich die strafrechtliche Bewertungsnorm nicht aus der einzelnen staatlichen Rechtsordnung, sondern aus dem Völkerrecht und dem Konsens der Staatengemeinschaft, vgl. auch Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 601 f., 606; vgl. ferner NK-StGB/Böse (Fn. 13), Vor § 3 Rn. 43, § 6 Rn. 4. 60 Vgl. bereits Binding (Fn. 35), S. 378 f., 379 f. 61 Vgl. im Zusammenhang mit dem Grundsatz „nullum crimen sine lege“: Ambos, Internationales Strafrecht (Fn. 2), S. 5. 62 Vgl. insoweit Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, S. 128 m.w.N. 63 Siehe das Gesetz über Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei Selbsttötung (Wet houdende toetsing van levensbeeindiging op verzoek en hulp bij zelfdoding) vom 12. April 2001, mit deutscher Übersetzung abgedruckt bei Lorenz, Sterbehilfe – Ein Gesetzentwurf, 2008, S. 289 ff. 64 Siehe die einzelnen Landesberichte bei Eser/Koch (Hrsg.), Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich, Band 1, 1988, und Band 2, 1989; s. auch den Überblick über die Regelungsmodelle, ebenda, Band 3, 1999, S. 144 ff. 65 Siehe insoweit den rechtsvergleichenden Überblick bei Taupitz, Rechtliche Regelung der verbrauchenden Embryonenforschung im internationalen Vergleich, 2003, S. 7 ff.; s. auch die Stellungnahme des Sachverständigen Merkel (S. 13 f.) im Rahmen der Anhörung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung am 9.5.2007, abrufbar im Internet unter www.bundestag.de/ausschuesse/a18/anhoerungen/stammzellforschung/stellungnahmen/index.html; s. nunmehr auch die Neufassung der §§ 2, 13 Abs. 1 Nr. 2 StZG („Stammzellen, die sich im Inland befinden“).

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Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass die Voraussetzungen der §§ 3 ff. StGB, sofern sie nicht ausschließlich dem Verfahrensrecht zuzuordnen sind (vgl. oben zu § 7 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 StGB), Bestandteil des gesetzlichen Unrechtstatbestandes sind.

III. Die Konsequenzen für den Irrtum über die Voraussetzungen der §§ 3 ff. StGB Aus der Einordnung der §§ 3 ff. StGB als „vor die Klammer gezogene“ Merkmale des jeweiligen Tatbestandes ergibt sich als Konsequenz, dass Vorsatz des Täters sich auch auf die Verwirklichung dieser Merkmale erstrecken muss (§ 15). Der Irrtum über den Tatort (§§ 3, 9 StGB) oder über die Staatsangehörigkeit des Opfers (z.B. § 5 Nr. 6 StGB) begründet also einen Tatbestandsirrtum, sofern eine Strafbarkeit nach deutschem Recht auf der Grundlage des vorgestellten Sachverhalts ausgeschlossen ist.66

1. Der Irrtum über den Tatort So wäre beispielsweise die in den Niederlanden geleistete Beihilfe zu einer von einem Arzt in Deutschland ausgeführte Tötung auf Verlangen straflos, wenn der Gehilfe davon ausgeht, dass der Arzt in den Niederlanden (und in Übereinstimmung mit den dort geltenden gesetzlichen Regelungen) handelt.67 Der Irrtum über den Tatort (den Ort der Haupttat) schließt den Beihilfevorsatz aus. Im Ergebnis entspricht dies der Behandlung des Irrtums über den Tatort, soweit Tatbestände des Besonderen Teils eine entsprechende Einschränkung enthalten. So ist das Kammergericht68 ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass der subjektive Tatbestand des § 86a Abs. 1 Nr. 1 den Vorsatz des Täters voraussetzt, nationalsozialistische Kennzeichen im Inland zu verwenden. Da der Täter die Tathandlung (Zeigen des Hitlergrußes) als Zuschauer eines Fußballspiels in Polen vorgenommen hatte, begründete das Gericht den inländischen Handlungsort mit der Erwägung, dass das Fußballspiel im deutschen Fernsehen übertragen und das Kennzeichen damit für das Fernsehpublikum in ___________ 66

Siehe die Nachweise in Fn. 3 und 4. Siehe zur niederländischen Rechtslage die Nachweise in Fn. 63; einen Überblick über die Anwendung der niederländischen Regelung gibt Lindemann, ZStW 117 (2005), 208 ff.; s. auch die Jahresberichte der zur Überwachung eingesetzten Kontrollkommissionen – Regionale toetsingcommissies euthanasie, im Internet abrufbar unter www.euthanasiecommissie.nl/Toetsingcommissie/jaarverslag/. 68 KG NJW 1999, 3500. 67

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Deutschland wahrnehmbar wurde.69 Dementsprechend konnte eine Verurteilung nur auf der Grundlage erfolgen, dass der Täter auch im Hinblick auf die Übertragung seiner Handlungen durch das deutsche Fernsehen vorsätzlich handelte.70 Angesichts der Ähnlichkeit dieser Konstellation mit einem Irrtum über den Erfolgsort (vgl. § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB) können diese Ausführungen auch auf den letztgenannten Irrtum übertragen werden. Dafür spricht auch der Zusammenhang mit § 9 Abs. 1 Var. 4 StGB, mit welcher der Gesetzgeber das versuchte Erfolgsdelikt erfassen wollte71: Wäre auch die unvorsätzliche Herbeiführung eines Erfolgs im Inland von § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB erfasst, so blieben die Anforderungen an das vollendete Delikt in subjektiver Hinsicht hinter denen an den Versuch zurück.72 Der Irrtum über den Tatort schließt allerdings nur dann den Vorsatz aus, wenn die Anwendbarkeit des jeweiligen Tatbestandes auf den vom Täter vorgestellten Sachverhalt unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt begründet werden kann. Dies soll an einer Abwandlung des oben genannten Beispiels zur aktiven Sterbehilfe verdeutlicht werden: Der Gehilfe leistet in den Niederlanden Beihilfe zu einem in Deutschland begangenen Totschlag, geht dabei aber davon aus, dass die Haupttat ebenfalls in den Niederlanden begangen wird. Der objektive Tatbestand der §§ 212, 27 i.V.m. §§ 3, 9 Abs. 2 S. 1 Var. 1 StGB ist erfüllt. Nach der Vorstellung des Gehilfen werden sowohl die Beihilfehandlung als auch die Haupttat im Ausland begangen, so dass ein Vorsatz in Bezug auf eine Inlandstat zu verneinen ist.73 Legt man die Vorstellung des Täters zu Grunde, so findet das deutsche Strafrecht jedoch nach den Grundsätzen der stellvertretenden Strafrechtspflege Anwendung (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB), denn der Gehilfe nimmt vorsätzlich eine Handlung vor, die am Tatort mit Strafe bedroht ist (Art. 287, Art. 48 wetboek van strafrecht) und die – von der Begehung im Ausland abgesehen – die Unrechtsmerkmale der §§ 212, 27 StGB erfüllt. Er handelt also mit Vorsatz in Bezug auf den niederländischen Unrechtstatbestand, der über § 7 Abs. 2 in das deutsche Recht transformiert wird.74 Im Ergebnis begründet der ___________ 69 KG NJW 1999, 3500, 3502; s. insoweit die (berechtigte) Kritik von Heinrich, NStZ 2000, 533 f. 70 KG NJW 1999, 3500 f. 71 Siehe die Begründung zum E 1962, BR-Drucks. 200/62, S. 113 (i.V.m. BTDrucks. V/4095, S. 7); s. auch BGHSt 44, 52, 54. 72 Oehler (Fn. 4), S. 215. 73 Zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, dass eine Inlandstat bereits dann vorliegt, wenn entweder ein Handlungsort oder der Erfolgsort im Inland liegen (vgl. § 9 Abs. 1 StGB – „Ubiquitätstheorie“). Ein Tatbestandsirrtum liegt daher nicht vor, wenn der Täter zwar über den Erfolgsort irrt, ihm aber zugleich bewusst ist, dass der Handlungsort im Inland liegt. 74 Zur Transformation des ausländischen in den deutschen Straftatbestand: Jakobs (Fn. 4), S. 112; Scholten (Fn. 2), S. 72 f.

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Irrtum über den Tatort also keinen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB). Der Irrtum kann allerdings für die Höhe der Strafe bedeutsam sein. Aus dem Grundgedanken der stellvertretenden Strafrechtspflege folgt der Grundsatz, dass die von deutschen Gerichten zu verhängende Strafe nicht über das nach dem Recht des „vertretenen“ Staates angedrohte Höchstmaß hinausgehen darf. Da die deutschen Gerichte keine originäre, sondern abgeleitete Strafgewalt ausüben, ist also gegebenenfalls das mildere Tatortrecht anzuwenden („poena mitior“).75 Wäre der Totschlag in dem oben genannten Beispiel tatsächlich in den Niederlanden begangen worden, so wäre deutsches Strafrecht nach Maßgabe des § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB anwendbar. Da das niederländische Recht für die Beihilfe eine Minderung der Höchststrafe um ein Drittel vorsieht (Art. 49 Abs. 1 wetboek van strafrecht), ergibt sich daher auf der Grundlage des niederländischen Rechts eine Höchststrafe von zehn Jahren (vgl. Art. 287 wetboek van strafrecht)76, während das deutsche Recht – ceteris paribus – eine Höchststrafe von 11 Jahren und 3 Monaten zuließe (§ 49 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Die über die Berücksichtigung des milderen Tatortrechts erfolgende Begrenzung des Strafrahmens hat auch Konsequenzen für den Irrtum über den Tatort, denn der Täter stellt sich Umstände vor, welche den Tatbestand eines milderen Gesetzes (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB i.V.m. Art. 287, Art. 48, 49 wetboek van strafrecht) verwirklichen (§ 16 Abs. 2 StGB).77 Der Irrtum über den Tatort führt daher in dem oben erwähnten Beispiel zu einer Berücksichtigung des milderen Rechts des vom Täter zu Grunde gelegten Tatortes.

2. Der Irrtum über die Staatsangehörigkeit des Opfers Nach den gleichen Grundsätzen ist auch der Irrtum über die Staatsangehörigkeit des Opfers zu behandeln: Soweit die Anwendung des deutschen Strafrechts auf Auslandstaten von der Voraussetzung abhängig gemacht wird, dass sich die Tat gegen einen Deutschen richtet (passives Personalitätsprinzip, vgl. ___________ 75 MK-StGB/Ambos (Fn. 2), § 7 Rn 26; Oehler (Fn. 4), S. 513 f; LK-StGB/Werle/ Jeßberger (Fn. 2), § 7 Rn 25; s. auch zu § 7 Abs. 2 Nr. 1: BGHSt 39, 317, 321; 42, 275, 279. 76 Vgl. allgemein Hazewinkel-Suringa/Remmelink, Inleiding tot de studie van het Nederlandse strafrecht, 15. Aufl. 1996, S. 450. Es sei davon ausgegangen, dass weder nach deutschem (§§ 211, 212 Abs. 2 StGB) noch nach niederländischen Recht (Art. 288 ff. wetboek van strafrecht) straferschwerende Umstände, insbesondere Mordmerkmale, vorliegen. 77 Vgl. auch zur analogen Anwendung des § 16 StGB auf Strafzumessungsregeln: Fischer (Fn. 2), § 16 Rn. 9a m.w.N.

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§ 5 Nr. 6 – 8 lit. a, Nr. 9; § 7 Abs. 1 StGB), kann der Irrtum über die deutsche Staatsangehörigkeit einen Tatbestandsirrtum begründen.78 Dass es sich bei der deutschen Staatsangehörigkeit des Opfers um ein unrechtskonstituierendes Tatbestandsmerkmal handelt, auf das sich der Vorsatz des Täters erstrecken muss, erscheint auf den ersten Blick wenig überzeugend, da das jeweils betroffene Individualrechtsgut grundsätzlich unabhängig von der Staatsangehörigkeit seines Inhabers strafrechtlich geschützt wird.79 Die Alternative bestünde darin, die Staatsangehörigkeit des Opfers als „unrechtsneutrale“ Prozessvoraussetzung einzuordnen (s.o. I.1.); aufgrund des systematischen Zusammenhangs zur stellvertretenden Strafrechtspflege erscheint dies bei § 7 Abs. 1 StGB besonders nahe liegend.80 Mit dem Willen des Gesetzgebers lässt sich diese Auslegung jedoch nicht vereinbaren, denn das deutsche Strafrecht sollte den Deutschen im Ausland auch und gerade in den Fällen Schutz gewähren, in denen nach dem Recht des Tatortstaates Strafausschließungsgründe eingreifen, die gegen grundlegende rechtsstaatliche und menschenrechtliche Mindeststandards verstoßen.81 Von stellvertretender Strafrechtspflege „für“ den Tatortstaat kann in einem solchen Fall keine Rede mehr sein. Dies gilt erst recht für § 5 StGB, der auf das Erfordernis der Tatortstrafbarkeit verzichtet und ausdrücklich festlegt, dass das deutsche Strafrecht „unabhängig vom Recht des Tatorts“ Anwendung findet. Mit der Ausdehnung der deutschen Strafgewalt auf Auslandstaten gegen Deutsche nimmt der Gesetzgeber also originäre materiell-strafrechtliche Regelungskompetenz („jurisdiction to prescribe“) in Anspruch, d.h. er formuliert zum Schutz der eigenen Staatsangehörigen eine selbstständige Verhaltens- und Bewertungsnorm. Aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung ist die (deutsche) Staatsangehörigkeit des Opfers daher für die Bewertung der Tat als Unrecht konstitutiv. Die Begrenzung der strafrechtlichen Primärnorm auf Taten gegen Deutsche beruht darauf, dass sich der deutsche Gesetzgeber bei Auslandstaten gegenüber Ausländern mit Rücksicht auf das völkerrechtliche Interventionsverbot einer Bewertung enthält. Man kann also die Stoßrichtung des oben wiedergegebenen Einwandes auch umkehren, indem man fragt, ob die Inanspruch___________ 78 Die folgenden Ausführungen gelten sinngemäß auch für den Irrtum über die Staatsangehörigkeit des Täters; ein solcher Irrtum dürfte jedoch (von Teilnahmekonstellationen abgesehen) praktisch kaum vorkommen und bleibt daher im Text außer Betracht. 79 Scholten (Fn. 2), S. 93 f.; vgl. auch bereits Harburger, ZStW 20 (1900), 588, 604 f. 80 In diesem Sinne SK-StGB/Hoyer (Fn. 7), § 7 Rn. 3; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, S. 124. 81 BT-Drucks. V/4095, S. 7 i.V.m. der Begründung des E 1962, BR-Drucks. 200/62, S. 113; ebenso die h.M., vgl. OLG Düsseldorf NJW 1983, 1277, 1278; MK-StGB/ Ambos (Fn. 2), § 7 Rn. 15; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 2), § 7 Rn. 9; LK-StGB/Werle/ Jeßberger (Fn. 2), § 7 Rn. 38 f.

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nahme strafrechtlicher Regelungsgewalt mit dem passiven Personalitätsprinzip völkerrechtlich (gegenüber dem Tatortstaat)82 und verfassungsrechtlich (gegenüber dem Täter)83 hinreichend begründet ist. Die mit den Anforderungen an den Vorsatz gezogenen Grenzen tragen dieser Kritik an der extraterritorialen Ausübung von Strafgewalt Rechnung. Besonders deutlich zeigt sich dies bei den rechtsstaatlichen Bedenken, die gegen eine Erstreckung der deutschen Strafgewalt auf Auslandstaten gegen Deutsche erhoben worden sind: So wurde gegen die Anknüpfung an das passive Personalitätsprinzip eingewandt, dass dem Täter die Staatsangehörigkeit des Opfers häufig unbekannt sei und ihn die Anwendung der deutschen Strafvorschrift daher letztlich zufällig treffe.84 Dieser Einwand wird gegenstandslos, sofern man nach der hier vertretenen Ansicht für die Strafbarkeit nach deutschem Strafrecht verlangt, dass dem Täter die deutsche Staatsangehörigkeit des Opfers bekannt ist (§§ 15, 16 StGB). So bleibt der Denunziant, der einen Deutschen im Ausland rechtsstaatswidriger Verfolgung aussetzt (vgl. §§ 5 Nr. 6 i.V.m. § 241a StGB)85, straflos, wenn ihm die deutsche Staatsangehörigkeit des Opfers bei Begehung der Tat (vgl. § 8 StGB) nicht bekannt war. Die Strafbarkeit nach deutschem Recht ist in diesem Fall für den Täter nicht erkennbar, so dass ihm allein auf der Grundlage der deutschen Rechtsordnung kein Vorwurf gemacht werden kann. Ein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum scheidet hingegen aus, sofern auf die vom Täter in seiner Vorstellung zu Grunde gelegte Tat deutsches Strafrecht nach dem Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege Anwendung findet (§ 7 Abs. 2 StGB). Bei schweren Menschenrechtsverletzungen ist der Irrtum über die Staatsangehörigkeit des Opfers bedeutungslos, wenn innerhalb der Staatengemeinschaft ein Konsens über die Strafbarkeit des jeweiligen Verhaltens besteht, der in einer völkerrechtlichen Bestrafungspflicht Ausdruck gefunden hat, und die deutsche Justiz die Tat auf dieser Grundlage im Interesse der gesamten Staatengemeinschaft verfolgt (vgl. § 6 Nr. 9 StGB und die UN-Folterkonvention86). Der Staatsangehörigkeit kann insoweit allein die prozessuale Funktion zukommen, die internationale Zuständigkeit der deutschen Justiz zu begründen.87

___________ 82 MK-StGB/Ambos (Fn. 2), Vor § 3 Rn 42, 44; Oehler (Fn. 4), S. 135 f, 421 f.; eingehend Henrich, Das passive Personalitätsprinzips im deutschen Strafrecht, 1994, S. 208 ff. 83 Oehler (Fn. 4), S. 135, 421; Pawlik, FS Schroeder, 2006, S. 357, 379 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT I, 5. Aufl. 2004, S. 56. 84 Schultz, GA 1966, 193, 202. 85 Vgl. den Beispielsfall bei Werle/Jeßberger, JuS 2001, 141 (Fall 7). 86 UN-Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10.12.1989 (BGBl 1990 II S. 247). 87 Siehe oben unter II.3. am Ende; vgl. insoweit NK-StGB/Böse (Fn. 13), § 6 Rn. 8.

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IV. Fazit Soweit die in den §§ 3 ff. StGB enthaltenen Voraussetzungen für die Anwendung des deutschen Strafrechts nicht eine ausschließlich prozessuale Funktion haben (vgl. § 7 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 StGB), sind sie Bestandteil des Unrechtstatbestands, so dass die Irrtumsregelung des § 16 StGB Anwendung findet. Ein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum liegt gleichwohl nur in den Konstellationen vor, in denen die Anwendung des deutschen Strafrechts auf der Grundlage des vom Täter vorgestellten Sachverhalts auch über § 7 Abs. 2 StGB nicht begründet werden kann. Soweit der Täter sich jedoch einen Sachverhalt vorstellt, auf den – insbesondere aufgrund der fehlenden Strafbarkeit der Tat am (vermeintlichen) Tatort – die deutschen Strafvorschriften nicht anwendbar sind, gebietet es der Schuldgrundsatz, diesen Irrtum des Täters zu berücksichtigen.88 Mit den subjektiven Anforderungen wird aber zugleich auch den völkerrechtlichen Grenzen der staatlichen Strafgewalt Rechnung getragen. § 16 StGB kommt auch insoweit eine Korrektivfunktion zu, indem er dazu beiträgt, eine Überdehnung der deutschen Strafgewalt über den Erfolgsort (§ 9 Abs. 1 Var. 3 StGB, z.B. bei im Internet begangenen Äußerungsdelikten) zu verhindern.89 Dass das Ergebnis der vorstehenden Ausführungen damit letztlich auch dem Respekt vor anderen Rechtsordnungen und vor den darin enthaltenen – mitunter vom deutschen Recht abweichenden – Wertungen geschuldet ist, wird, so hoffe ich, von Manfred Maiwald, dessen wissenschaftliches Werk zahlreiche rechtsvergleichende Bezüge, insbesondere zum italienischen Straf- und Strafverfahrensrecht aufweist, mit Wohlwollen aufgenommen werden.

___________ 88

Vgl. zum Verbotsirrtum: Schmitz (Fn. 2), S. 316; F.C. Schroeder, NJW 1969, 81, 84; Wang, Der universale Strafanspruch des nationalen Staates, 2005, S. 115 f. 89 Vgl auch für eine Einschränkung über subjektive Kriterien: Collardin, CR 1995, 618, 621; Jeßberger, JR 2001, 432, 435.

Gedanken zu einem individual- und sozialpsychologisch fundierten Schuldbegriff Von Björn Burkhardt In seinen „Gedanken zu einem sozialen Schuldbegriff“, die vor mehr als 20 Jahren in der Lackner-Festschrift erschienen sind, kritisiert Manfred Maiwald Auffassungen, „die das Phänomen der Schuld nicht mehr im Täter selbst [...] suchen, sondern in den ‚Bedürfnissen‘ der anderen, die die Strafe aussprechen“. Er kennzeichnet diese Auffassungen als „kopernikanische Wendung hin zur strafenden Gesellschaft als dem ‚eigentlichen‘ Bestimmungsprinzip der Schuld“ und er ordnet sie der Rubrik „sozialer Schuldbegriff“ zu, wobei zwei Varianten unterschieden werden – eine psychoanalytische (Haffke, Streng) und eine systemtheoretische (Jakobs).1 Mich interessiert im Folgenden nicht, ob die Kategorisierungen und die Kritik von Maiwald berechtigt sind und ob die Kritisierten (namentlich Haffke, Jakobs und Streng) auch heute noch da stehen, wo sie vor 30 Jahren gestanden haben. Mich interessiert vielmehr das Schuldkonzept, das Maiwald vertritt und das – jedenfalls in Umrissen – in seiner Kritik zum Ausdruck kommt (dazu I.). Ich stimme mit Maiwald darin überein, dass Schuld eine „Kategorie der persönlichen Vorwerfbarkeit“ ist. Was aber die Fundierung eines solchen Vorwurfs und die damit verbundene Frage der Beweisbarkeit der konkreten Schuld des konkreten Angeklagten betrifft, so bin ich anderer Auffassung: Nicht objektive (indeterministische, kontrakausale, libertarische, alternativistische), sondern subjektive (epistemische) Entscheidungsfreiheit bildet die Grundlage des strafrechtlichen Schuldvorwurfs (dazu II.). Mein Anliegen ist es, diesen Standpunkt, der in den letzten 25 Jahren (also nach Erscheinen des Beitrages von Maiwald) erheblich an Boden gewonnen hat, gegen einige (wohlfeile) Einwände zu verteidigen (dazu III.).

I. Das Schuldkonzept von Manfred Maiwald Maiwald konzentriert sich in seinen Überlegungen zu einem sozialen Schuldbegriff auf eine Kritik der Schuldkonzepte von Haffke, Jakobs und Streng. Sein eigenes Schuldverständnis wird nur als Hintergrund und nur in ___________ 1 Maiwald, FS Lackner, 1987, S. 149 ff., 155, 159. Seitenangaben im folgenden Text beziehen sich auf diesen Beitrag.

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Umrissen deutlich. Dabei bleiben, was bei einem Festschriftbeitrag von nur 18 Seiten gar nicht anders sein kann, eine ganze Reihe von Fragen offen. Das gilt vor allem für den Begriff der Willensfreiheit und die analogische Schuldfeststellung. Ich bin deshalb nicht sicher, ob ich Maiwald in allen Punkten richtig interpretiert und verstanden habe. Ich glaube aber, aus seinem Beitrag die folgenden sechs Kernthesen entnehmen zu können: (M 1) Schuld ist ein metaphysisches Phänomen, ein metaphysischer Gegenstand, „etwas [...], was empirisch nicht erfassbar ist“ (S. 164 f.). (M 2) Das Phänomen der Schuld ist im Täter selbst zu suchen, nicht in Bedürfnissen der anderen, die die Strafe aussprechen, nicht in der strafenden Gesellschaft. (M 3) Schuld ist eine „Kategorie der ‚persönlichen Vorwerfbarkeit‘, [...] eine geistige Sollensverfehlung des Täters selbst“ (S. 154). Sie ist die Grundlage für einen Vorwurf (S. 163). Sie ist persönliches Dafürkönnen (S. 164). (M 4) Schuld setzt Willensfreiheit (Andershandelnkönnen) voraus. Das Gericht hat darüber nachzudenken, „wie sich die empirisch ermittelten Determinanten des Täterhandelns im Hinblick auf die im konkreten Täter grundsätzlich vorausgesetzte Freiheit ausgewirkt haben“, wie viel „bei diesem Angeklagten freier Wille ist, und wie viel Naturkausalität beigemengt ist“ (S. 164 f.). (M 5) Freiheit des Willens ist möglich (S. 159 ff.).2 (M 6) Weil „man die konkrete Freiheit des konkreten Menschen nicht feststellen kann“, bleibt als praktisches Verfahren nur die Schuldfeststellung „im Wege einer Analogie“, nämlich „das Messen an einem postulierten anderen Menschen, der empirisch nicht existiert“ (S. 164 f.). Ob sich Maiwald auch heute noch, fast 25 Jahre nach Erscheinen seines Beitrages in der Lackner-Festschrift, zu den vorstehenden Thesen bekennt, weiß ich nicht. Man kann aber feststellen, dass er mit seinem Konzept nach wie vor nicht alleine steht. Die Thesen stimmen nicht nur vollständig mit dem Stand-

___________ 2

Maiwald begründet dies mit dem überkommenen Argument der (angeblichen) Selbstwiderlegung des Determinismus. Kritik an diesem Argument, das auch von Arthur Kaufmann, Schünemann und Welzel herangezogen wird, üben beispielsweise Hermann Schmitz, Der Rechtsraum (System der Philosophie III, Teil 3), Studienausgabe 2005, S. 488 ff.; Henrik Walter, Neurophilosophie der Willensfreiheit, 1997, S. 82 ff.; Lohmar, Moralische Verantwortlichkeit ohne Willensfreiheit, 2005, S. 176 f.; Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008, S. 36 ff. (jeweils mit weiteren Nachw.).

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punkt von Arthur Kaufmann überein3, sie entsprechen, was (M 2) bis (M 6) betrifft, auch der heute vorherrschenden Variante des sozialen Schuldbegriffs.4 Festzustellen ist freilich auch, dass sich in der Auseinandersetzung um den Schuldbegriff in den letzten 25 Jahren einiges bewegt hat: Erstens haben Jakobs und Streng ihre Standpunkte fortentwickelt und präzisiert. Zweitens ist nach der Jahrtausendwende eine „neurowissenschaftliche Willensfreiheitsdebatte“ in Gang gekommen. Drittens haben Auffassungen, die im Freiheitserleben den legitimen Anknüpfungspunkt für einen Schuldvorwurf sehen, an Boden gewonnen. Und schließlich viertens: Der soziale Schuldbegriff in der von Maiwald befürworteten und in (M 3) bis (M 6) zum Ausdruck kommenden Form, ist heftig kritisiert worden. Es gab und gibt also viele Gründe, die Thesen (M 1) bis (M 6) zu überdenken. Ich möchte die Kritik, die am sozialen Schuldbegriff in der von Maiwald akzeptierten Form geübt worden ist,5 hier nicht im Einzelnen wiederholen. Ich teile diese Kritik: Eine Theorie, die an der Willensfreiheit als Voraussetzung strafrechtlicher Schuld festhält und zugleich einräumt, dass es unmöglich sei, das Vorliegen dieser Freiheit im Strafprozess festzustellen, ist prima facie unplausibel. Die Krücke der analogischen Schuldfeststellung ändert daran nichts. Ein persönlicher Vorwurf lässt sich, was Maiwald am Ende seines Beitrages (S. 165) einräumt, auf diesem Weg kaum begründen.6 Von der These (M 3), ___________ 3

Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl., 1976, S. 65 f., 79, 178 ff., 223 ff., 281 f.; ders., Strafrecht zwischen Gestern und Morgen, 1983, S. 29 f., 69 ff.; ders., Über Gerechtigkeit, 1993, S. 47 ff. 4 Vgl. Jescheck/Weigend, Strafrecht Allg. Teil, 5. Aufl., 1996, S. 411, 427 f.; Otto, Grundkurs Strafrecht, Allg. Strafrechtslehre, 7. Aufl., 2004, § 12 Rn. 24; SK-StGB/ Rudolphi, 2008, Vor § 19 Rn. 1; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, StGB, 27. Aufl., 2006, Vor §§ 13 ff. Rn. 110. Maiwald wird in der Literatur diesen Vertretern des sozialen Schuldbegriffs zugerechnet (vgl. Schünemann, in: Hirsch/Weigend, Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, 1989, S. 148; Streng, ZStW 101 [1989], 274). Kennzeichnend für diesen sozialen Schuldbegriff ist (nach Maiwald), dass eine „durchschnittliche Sozialperson zum Maßstab der Motivationsfähigkeit des Täters genommen“ wird (sozial vergleichendes Schuldurteil). 5 Vgl. Geisler, Zur Vereinbarkeit objektiver Bedingungen der Strafbarkeit mit dem Schuldprinzip, 1998, S. 63-69; Lampe, Strafphilosophie, 1999, S. 226, 240; Haddenbrock, Soziale oder forensische Schuldfähigkeit, 1992, S. 176 f., 204 f.; Roxin, Strafrecht Allg. Teil, Bd. I, 4. Aufl., 2006, § 19 Rn. 22; Schünemann, FS Lampe, 2003, S. 237 ff.; LK-StGB/Schöch, 12. Aufl., 2007, § 20 Rn. 19 ff.; MK-StGB/Streng, 2003, § 20 Rn. 20, 57. Die kritisierten Vertreter des sozialen Schuldbegriffs haben auf die Kritik bisher nicht angemessen geantwortet. 6 Anders Mangakis, ZStW 75 (1963), 499 ff., 512 ff., der behauptet, dass trotz der Nichtbeweisbarkeit des individuellen Andershandelnkönnens ein „indeterministisch fundierter und also ein echt persönlicher Vorwurf“ möglich sei, indem man sich als Feststellungskriterium (Erkenntnismittel) des „generellen, erfahrungsmäßig gegebenen Könnens des Durchschnittsmenschen“ bediene. Mangakis räumt dann allerdings ein, dass damit „das Bestehen der Schuld im Einzelfall präsumiert“ werde (S. 520).

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dass Schuld eine Kategorie der persönlichen Vorwerfbarkeit ist, bleibt damit wenig übrig. Wie sich das mit dem Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts verträgt, wonach Strafe „ohne Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar“ wäre,7 ist unklar. Es ist auch zu bezweifeln, dass sich mit dem Instrument des sozialen Schuldbegriffs die Aufgabe des Schuldprinzips erfüllen lässt. Diese besteht darin, die staatlichen Strafen so zu begrenzen, dass sie der Täter persönlich als richtig und gerecht empfinden kann.8 Ein „Messen an einem postulierten anderen Menschen“ (M 6) trägt dazu nicht bei. Akzeptabel wäre eine Schuldfeststellung im Wege der Analogie allenfalls dann, wenn es „keine andere Lösung“ (so Mangakis) als eben diese geben oder wenn es sich dabei „um das bestmögliche Schuldurteil über diesen Täter“ handeln würde (so Maiwald). Aber das ist, wie ich im Folgenden dartun möchte, nicht der Fall.

II. Das allgemeinmenschliche Freiheitserleben als Grundlage des strafrechtlichen Schuldvorwurfs Will man an (M 3) festhalten, so gibt es nur zwei Möglichkeiten: –

entweder man macht deutlich, dass „an der Entscheidungsfreiheit eines durchschnittlichen Menschen in einer durchschnittlichen Situation nicht gezweifelt werden“9 kann,



oder man zeigt auf, dass ein persönlicher Vorwurf keine (indeterministische, kontrakausale etc.) Willensfreiheit voraussetzt.

Keine dieser beiden Möglichkeiten wird von Maiwald erwähnt. Ich halte die zuletzt genannte für vorzugswürdig. Grundlage für einen persönlichen Vorwurf ist nicht (indeterministische, kontrakausale etc.) Willensfreiheit, sondern die psychologische Tatsache des allgemeinmenschlichen Freiheitserlebens. Das bedeutet: Strafrechtliche (persönliche) Schuld setzt voraus, dass der Täter seine rechtswidrige Tat im Bewusstsein des Anderskönnens vollzogen hat. Anders und in Anlehnung an die vielzitierte Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs formuliert: Mit dem Unwerturteil der Schuld ___________ 7

BVerfG NJW 1998, 2585 f. So treffend Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl., 1999, S. 280 f. 9 Dies unternimmt Schünemann, in: ders. (Hrsg.), Grundlagen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 160 ff.; ders., GA 1986, 392 ff.; ders., FS Lampe, 2003, S. 547, 549; zustimmend Cerezo Mir, ZStW 108 (1996), 9, 20 f. Ähnlich wie Schünemann auch Griffel, ZStW 98 (1986), 42 (es gebe keinen begründeten Einwand dagegen, die Willensfreiheit, wenn diese grundsätzlich anerkannt werde, im Einzelfall als tatsächlich gegeben zu unterstellen, soweit nicht besondere Umstände vorlägen); zustimmend Dreher, Die Willensfreiheit, 1987, S. 40 f., 383 f. 8

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wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl es ihm aus seiner Sicht möglich war, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden. Der innere Grund des Schuldvorwurfs ist darin zu sehen, dass der Mensch darauf angelegt ist, im Bewusstsein der Freiheit zu handeln und sich als Urheber seiner Entscheidungen zu begreifen.10 Ich möchte versuchen, diese Auffassung, die man als „Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit“ bezeichnen kann und die inzwischen eine beachtliche Zahl an Anhängern gefunden hat11, im Folgenden kurz zu plausibilisieren. Zur Vermeidung von Missverständnissen sei vorab angemerkt: Die Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit beinhaltet nicht, dass das Bewusstsein des Anderskönnens eine hinreichende Bedingung für den strafrechtlichen Schuldvorwurf ist und andere (Fähigkeits-)Kriterien (z. B. intakte Steuerungsfähigkeit, Fähigkeit zu einer hinreichend differenziert strukturierten Willensbildung, reasons-responsiveness, a general capacity for rationality) überflüssig macht. Behauptet wird nur, dass es sich um eine notwendige Bedingung handelt und dass alle reinen Fähigkeitstheorien, die das Bewusstsein des Anderskönnens ausblenden, defizitär sind.

1. Der Primat des Freiheitserlebens Die Anknüpfung des Schuldvorwurfs an das Freiheitserleben ist nicht etwa nur eine Hilfsbegründung im Hinblick darauf, dass die Willensfreiheit weder beweisbar noch widerlegbar ist.12 Sie trägt vielmehr dem Primat der subjekti-

___________ 10 Ebenso Schöch (Fn. 5), § 20 Rn. 22 f.; Triffterer, Österreichisches Strafrecht Allg. Teil, 2. Aufl., 1994, S. 251 ff.; Czerner, ArchKrim 218 (2006), 129 ff., 142 ff. 11 Vgl. neben den in Fn. 10 genannten: Ebert, Strafrecht Allg. Teil, 3. Aufl., 2001, S. 95; Eser/Burkhardt, Juristischer Studienkurs, Strafrecht I, 4. Aufl., 1992, S. 171; Hirsch, ZStW 106 (1994), 746, 763 ff.; Haddenbrock (Fn. 5), S. 244 ff.; Schmidhäuser, FS Jescheck, Bd. I, 1985, S. 484 ff., 498. Zu nennen sind ferner MK-StGB/Streng, 2003, § 20 Rn. 61 (mit der Modifikation, dass das Freiheitsbewusstsein seine Bedeutung erst durch die Integration in das funktionale Schuldverständnis gewinne); ders., in: Jahrbuch für Recht und Ethik 13 (2005), 697 ff., 713; ders., FS Jakobs, 2007, S. 675, 680 ff.; Kargl, Handlung und Ordnung im Strafrecht, 1991, S. 178 ff., 204 (epistemische Entscheidungsfreiheit als Basis eines stark reduzierten Verantwortlichmachens); Merkel, in: Schünemann/Tinnefeld/Wittmann (Hrsg.), Gerechtigkeitswissenschaft. Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstages von L. Philipps, 2005, S. 411, 464. Teilweise werden auch Schünemann und Griffel dieser Auffassung zugerechnet (vgl. Lenckner/Eisele [Fn. 4]; MK-StGB/Streng, 2003, § 20 Rn. 56). Vieles spricht dafür, dass diese Zurechnung berechtigt ist. 12 So zutreffend Triffterer (Fn. 10).

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ven Freiheit Rechnung.13 Es ist ausreichend oft darauf hingewiesen worden: Subjektive Freiheit (das Erlebnis des Anderskönnens) ist ein Grundbestandteil des menschlichen Daseinserlebens. Sie ist mit jeder normalen Handlung verbunden. Was man Willensfreiheit nennt, ist „immer eine Freiheit, die unmittelbar nur subjektiv erfahren wird und nur dem gegenwärtig ins Künftige projektiv vorausschauenden Selbstbewusstsein zu eigen ist“.14 Gäbe es nicht ein Freiheitsbewusstsein als Erlebnistatsache und im Zusammenhang damit ein Gefühl der Verantwortlichkeit für alle Willensentscheidungen, so gäbe es kein Problem der Willensfreiheit.15 Es gibt subjektive Freiheit ohne objektive, nicht aber objektive ohne subjektive. Freiheit ist wesentlich an Bewusstsein gebunden. Das Freiheitserleben ist ein konstitutives Element der Entscheidungsfreiheit.16 Darauf wird noch zurückzukommen sein. Subjektive Freiheit gibt es auch in einer deterministischen Welt und sie ist auch in einer solchen Welt praktisch unüberwindlich. Das hat darin seinen Grund, dass das deliberierende (bzw. handelnde) Subjekt seine Entscheidungen und Handlungen prinzipiell nicht voraussagen kann und dass vollkommene Selbstkenntnis aus logischen Gründen unmöglich ist.17 Das bedeutet, Menschen können normalerweise nicht umhin, ihre Zukunft als (epistemisch) offen und ihre Motive als nicht zwingend zu erleben. Sie sind also darauf angelegt, im Bewusstsein des Anderskönnens zu handeln. Sie „sind empirisch zur Freiheit verurteilt; ob sie nun Illusion ist oder nicht“.18 Georg Simmel hat diese alte Einsicht (vielleicht weniger missverständlich) wie folgt formuliert: Gleichviel, ob

___________ 13 Hirsch, ZStW 106 (1994), 763 spricht von der Prärogative der fundamentalen Weltsicht des Menschen für die Rechtsordnung. 14 Haddenbrock, MSchrKrim 79 (1996), 51. 15 Vgl. Reininger, Wertphilosophie und Ethik, 3. Aufl., 1947, S. 144; Leder, Was heißt es, eine Person zu sein?, 1999, S. 208 f., 215. 16 Erb, in: Groeben (Hrsg.), Zur Programmatik einer sozialwissenschaftlichen Psychologie, Bd. 2, 2. Halbband, 2003, S. 288, 302 ff. (hinter dem Pseudonym Egon Erb verbirgt sich Norbert Groeben). 17 Dieser Befund bildet die Grundlage des epistemischen Indeterminismus. Der epistemische Indeterminismus wird in der Strafrechtsliteratur weithin ignoriert. Merkel, Kargl und Schünemann sind Ausnahmen. Bemerkenswert ist, dass Erik Wolf (ZStW 57 [1937], 193, 217 f.) schon vor mehr als 70 Jahren in einem Bericht über den berühmten Vortrag von Max Planck (Vom Wesen der Willensfreiheit) auf die Implikationen des epistemischen Indeterminismus für die Strafrechtsdogmatik hingewiesen hat. Nach Plancks Sicht der Dinge wäre, so Erik Wolf, der schuldhafte Wille „in seinem erlebten Wollen indeterminiert, woran die Vorwerfbarkeit anzuknüpfen hätte“. 18 Kupke, in: Heinze/Fuchs/Reischies (Hrsg.), Willensfreiheit – eine Illusion?, 2006, S. 63 ff., 69. Die Äußerung von Kupke deckt sich mit dem, was Max Ernst Mayer (Die schuldhafte Handlung und ihre Arten im Strafrecht, 1901, S. 100) schon hundert Jahre zuvor gesagt hat: „Die Menschheit ist zum Indeterminismus determiniert“.

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der Mensch frei ist oder nicht, er muss so handeln und sich beurteilen, als ob er [in einem kontrakausalen Sinne] frei wäre.19 Der Primat des Freiheitserlebens kommt auch darin zum Ausdruck, dass dieses Erleben auch bei solchen Autoren eine (jedenfalls mittelbar) tragende Rolle spielt, die den Grund für den Schuldvorwurf in der Willensfreiheit sehen oder die Freiheitsannahme als „normative Setzung“ begreifen, „deren gesellschaftlicher Wert vom erkenntnistheoretischen und naturwissenschaftlichen Problem der Willensfreiheit unabhängig ist“.20 Um nur einige Beispiele zu nennen: Woraus ist das Konzept des freien Subjekts hervorgegangen? Vermutlich „aus dem subjektiven Freiheitserleben jedes einzelnen, das eine unausweichliche Konsequenz aus der notwendigen Unkenntnis der eigenen zukünftigen Handlungen darstellt, die […] heute unter dem Stichwort des epistemischen Indeterminismus weithin anerkannt ist“.21 Warum bedarf Willensfreiheit keines Beweises? Weil „mit unserem Freiheitserlebnis die Vorstellung ihrer Existenz uns innewohnt und geradezu auferlegt ist“.22 Warum schreiben wir dem einzelnen Täter in dem Maße „Verantwortung“ zu, wie sich nicht intersubjektiv plausibel machen lässt, dass dieser konkrete Mensch in der konkreten Situation gerade nicht die Möglichkeit der Wahl hatte? „Weil der Mensch das subjektive Freiheitsempfinden haben kann, sich für oder gegen die Norm entscheiden zu können, und weil wir das in einem normativen System als notwendig voraussetzen, um überhaupt von Verantwortung sprechen zu können.“23 Warum fühlen wir uns zu der „normativen Setzung“ befugt, dass ein Mensch, dessen psychische Steuerungsfähigkeit in einer bestimmten Situation (noch) intakt ist, auch frei handeln kann? Weil „das unbefangene Selbstverständnis des normalen Menschen auf diesem Freiheitsbewusstsein beruht und weil eine sinnvolle Ordnung des menschlichen Soziallebens ohne die wechselseitige Zubilligung von Freiheit nicht möglich ist“.24 ___________ 19 Simmel, Kant, 6. Aufl., 1924, S. 226. Ganz entsprechend heißt es bei Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, 1996, S. 162: „The point is not that you must believe that you are free, but that you must choose as if you were free. It is important to see that this is quite consistent with believing yourself to be fully determined“. Vgl. ferner Kargl (Fn. 11), S. 187 ff.; Pothast, Die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise, 1980, S. 388 ff. 20 So Roxin (Fn. 5), § 19 Rn. 37. 21 So Schünemann (Fn. 4), S. 151 f.; ebenso Walde, Willensfreiheit und Hirnforschung, 2006, S. 170, 202. 22 So Dreher (Fn. 9), S. 383. Cerezo Mir (Fn. 9) meint, es sei kaum vorstellbar, dass eine Rechtsordnung auf einer deterministischen Auffassung vom Menschen beruhen könnte, weil das Recht das Freiheitsbewusstsein der Bürger und die Sicht, die diese von sich und der Welt haben, nicht einfach ignorieren könne. 23 So NK-StGB/Paeffgen, 2005, Vor §§ 32 ff. Rn. 236. 24 So Roxin (Fn. 5), § 19 Rn. 41; ders., FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 521 (die gesamte Rechtsordnung baue „auf dem Freiheitsbewußtsein des Menschen als einem unhintergehbaren sozialpsychologischen Faktum auf“).

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In allen diesen Antworten wird dem Freiheitserleben eine konstitutive Bedeutung beigemessen. Wenn das aber so ist, dann stellt sich die Frage, warum bei der Begründung des Schuldvorwurfs nicht ganz unmittelbar auf das allgemeinmenschliche Freiheitserleben abgestellt wird, das (anders als die unbeweisbare Willensfreiheit) ein beweisbares Faktum ist. Spricht dafür nicht auch, dass eine Reihe von problematischen Aussagen zur Willensfreiheit eher trivial erscheint, wenn man sie auf das Freiheitsbewusstsein bezieht? Nicht Willensfreiheit (so aber Dreher), sondern das Freiheitserleben (die epistemische Offenheit) ist ein Stück Lebenswirklichkeit. Nicht Willensfreiheit, sondern das Freiheitserleben (die epistemische Offenheit) ist in den sprachlichen Strukturen verankert. Nicht Willensfreiheit (so aber Frister und Stratenwerth/Kuhlen), sondern das Erlebnis des Anderskönnens (die epistemische Offenheit) ist eine Bedingung praktischen Denkens und Handelns.25 Nicht davon ist auszugehen, dass der durchschnittliche Täter in einer durchschnittlichen Situation so oder auch anders und damit auch rechtskonform handeln kann. Auszugehen ist vielmehr davon, dass er seine rechtswidrige Tat im Bewusstsein eines solchen Könnens vollzogen hat. Und schließlich: Nicht Willensfreiheit, sondern das Freiheitserleben bewährt sich bei der Explikation der Schuldunfähigkeit. Damit bin ich bereits bei der Frage der normativen Relevanz.

2. Zur normativen Relevanz des Freiheitserlebens Innere Freiheit wird nicht nur individuell erfahren, sie wird auch intersubjektiv unterstellt. Sie ist gleichzeitig ein persönliches und ein kollektives Phänomen, eine psychische und soziale Realität.26 Die Anknüpfung an das Freiheitserleben ermöglicht es deshalb, den Schuldbegriff individual- und sozialpsychologisch zu fundieren (dazu b), c)). Sie trägt im Übrigen dazu bei, die Strafe so zu begrenzen, dass sie der Täter persönlich als richtig und gerecht empfinden kann (dazu d)), und sie beseitigt die Beweisprobleme, die mit dem Kriterium objektiver (indeterministischer, kontrakausaler) Willensfreiheit verbunden sind (dazu e)). Zunächst jedoch eine grundsätzliche Bemerkung zur Bedeutung subjektiven Erlebens für das Handeln des Menschen (dazu a)).

___________ 25 Vgl. Hösle, in: Hösle/Koslowski/Schenk (Hrsg.), Jahrbuch für Philosophie 10 (1999), 28, 37; Dennett, Ellbogenfreiheit, 1986, S. 140 ff., 146; Haddenbrock, MSchrKrim 79 (1996), 54 f. Die auf Willensfreiheit bezogene Behauptung findet sich etwa bei Frister, Die Struktur des „voluntativen Schuldelements“, 1993, S. 18 und bei Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allg. Teil, 5. Aufl., 2004, S. 5. 26 So etwa Ancel, Die neue Sozialverteidigung, 1970, S. 272 f.; Haddenbrock (Fn. 25), 51; Schöch (Fn. 10), § 20 Rn. 22. Vgl. auch die in Fn. 24 zitierte Feststellung von Roxin.

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a) Menschen handeln aufgrund ihrer mentalen Repräsentationen und können ihr eigenes Verhalten nur auf dieser Grundlage begreifen und erklären.27 Eine Person, die überlegt, was sie tun soll, kann sich nur am Gehalt ihrer intentionalen Zustände (Wünsche, Überzeugungen, Erwartungen etc.) orientieren. Und nur solche Handlungsmöglichkeiten gehen in den Auswahlprozess ein (und sagen etwas über die Person aus), die mental repräsentiert sind. Deshalb muss man, wenn man das Verhalten eines Menschen verstehen will, klären, wie dieser die fragliche Situation erlebt hat.28 Das geltende Strafrecht trägt dem Rechnung. Bei der Schuldfrage ist die Innenperspektive des Täters der maßgebliche Beurteilungsgegenstand. Das gilt auch dann, wenn man mit Maiwald annimmt, dass das Gericht darüber nachzudenken hat, „wie sich die empirisch ermittelten Determinanten des Täterhandelns im Hinblick auf die im konkreten Täter grundsätzlich vorausgesetzte Freiheit ausgewirkt haben“ (M 4). Denn das Gericht kann sich der Beantwortung einer solchen Frage nur nähern, indem es die subjektive Perspektive des konkreten Täters in den Blick nimmt und zunächst einmal zu klären versucht, was dieser geglaubt und wie er sich und die Welt in der fraglichen Situation erfahren hat. Und so geschieht es ja auch in der forensischen Praxis. Anders wäre auch gar nicht zu klären, ob das Verhalten als individuelle Wahl verstanden werden kann.29 b) Auf die sozialpsychologische Bedeutung der Freiheitsidee für Schuldzuweisungen hat namentlich Streng in zahlreichen Beiträgen hingewiesen30: Basis für diese Zuweisungen sei „das normale allgegenwärtige Erleben eigener Freiheitsempfindungen und die entsprechende Interpretation fremden Verhaltens“. Dieses Erleben sei „gekennzeichnet durch die persönlichkeitsadäquate Berücksichtigung von allen in der Entscheidungssituation als situationsspezifisch relevant angesehenen Faktoren“. Abweichungen von dieser introspektiv als normal erlebten Wahrnehmungs- und Entscheidungsstruktur würden mit weniger Entscheidungsfreiheit gleichgesetzt. Nachdem die introspektive Wahrnehmung von Willensfreiheit und die Empfindung eigener psychischer Normalität aufs Engs___________ 27 Erhellend die Ausführungen von Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. 1: Situationslogik und Handeln, 1999, insbes. S. 59 ff., 63 ff., 160 ff. (zum ThomasTheorem); Forguson, Common Sense, 1989, S. 26 ff. 28 Dabei kommt auch auf der Seite dessen, der einen anderen Menschen verstehen will, das (eigene) subjektive Erleben ins Spiel: „Es ist allein die Subjektivität, das Erleben in der 1. Person, die es ermöglicht, die inneren Zustände anderer in eigenes Erleben zu übersetzen. Selbstbewusstsein ist vor allem das Mittel der menschlichen Erkenntnisorganisation, die Beziehung von Ich und Anderem zu vergegenwärtigen und sich in den Anderen hineinversetzen zu können“ (so Fuchs, Zeitschrift für medizinische Ethik 52 [2006], 12). 29 Darauf stellt (auch) Jakobs (in: Witter [Hrsg.], Der psychiatrische Sachverständige im Strafrecht, 1987, S. 271, 280 f.) ab. 30 Die folgenden Überlegungen von Streng finden sich in ZStW 101 (1989), 297 ff. sowie in den oben in Fn. 11 genannten Beiträgen.

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te zusammengehörten, werde dieser erlebte Zusammenhang auch als Beurteilungsschema für andere Menschen genutzt.31 Bei der Frage der Schuldfähigkeit gehe es nicht etwa um Willensfreiheit im empirischen Sinne, sondern um eine auf das Freiheitsbewusstsein des Normalbürgers bezogene Definition von Steuerungsfähigkeit. Es gehe also um die „Berücksichtigung eines im Kollektivbewusstsein etablierten Maßstabs“, der auch für Nicht-Fachleute eine tragfähige Verständigung über das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen von gravierender Anormalität der psychischen Steuerungsmechanismen des Täters gestatte, welche kaum oder keine Bedürfnisse nach Normbestätigung bei den Mitbürgern aufkommen lasse. Ich stimme der vorstehenden Auffassung zur sozialpsychologischen Bedeutung der Freiheitsidee für Schuldzuweisungen grundsätzlich zu, möchte aber widersprechen, wenn Streng behauptet, das Freiheitsbewusstsein gewinne seine Bedeutung erst durch die Integration in das funktionale Schuldverständnis.32 Das Freiheitserleben ist für sämtliche Schuldkonzeptionen von zentraler Bedeutung, und zwar auch und vor allem für die Legitimierung eines persönlichen Vorwurfs.33 Darum geht es im Folgenden. c) Das Freiheitserleben liefert einen individualpsychologischen Anknüpfungspunkt für einen individuellen Tadel. Dass es (in Verbindung mit weiteren Elementen) zur Legitimierung eines solchen Tadels auch taugt (und dass es dazu, wenn man überhaupt an einem persönlichen Vorwurf festhalten will, keine Alternative gibt), das legen die folgenden sich teilweise überschneidenden Gesichtspunkte nahe: – Mit dem Kriterium des Freiheitserlebens rückt die Frage in den Mittelpunkt, „welche Überzeugungen eine Person mit Bezug auf ihre eigene Rolle im ___________ 31 Bei Schöneborn, ZStW 99 (1980), 691, 697 heißt es: Das Einpendeln von Zuschreibungsregeln auf der Grundlage dessen, wie Ego sich selbst sieht, liege nahe. Reziproke Erwartungssicherheit verlange einen Konfliktlösungsstil, der die auf den Dritten projizierte Innensicht zum generalisierten Maßstab nehme. Die reziprok unterstellte Innensicht schütze den Einzelnen vor nicht kalkulierbarer Inanspruchnahme. Zustimmend Geisler (Fn. 5), S. 106 f. 32 Streng, NStZ 1995, 163. Streng erweckt auch den Eindruck, dass das allgemeine Freiheitsbewusstsein lediglich dazu beitragen kann, „das Abstellen von § 20 auf den im allgemeinen Empfinden etablierten Gesichtspunkt der Steuerungsfähigkeit zu verstehen“ (MK-StGB, 2003, § 20 Rn. 56). Auch dem wäre zu widersprechen. 33 Das Freiheitserleben als Grundlage des strafrechtlichen Schuldvorwurfs steht im Mittelpunkt meiner früheren Beiträge zu diesem Thema. Streng (FS Jakobs, 2007, S. 682) hat mir vorgehalten, dieser (mein) Ansatz erscheine problematisch, weil er die gesellschaftliche Aufgabe des Strafrechts nicht angemessen erfasse, das doch seine Existenz ganz zentral generalpräventiven Notwendigkeiten bzw. kollektiven Gerechtigkeitserwartungen verdanke. Dazu nur folgende Bemerkung: Mir ging und geht es in erster Linie um die Aufgabe des Schuldprinzips und diese ist mit der Aufgabe des Strafrechts nicht identisch.

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Hinblick auf künftige Entscheidungen und Handlungen hat“.34 Dass das eine für die individuelle Vorwerfbarkeit zentrale Frage ist, dürfte sich kaum bestreiten lassen. – Personen, die im Bewusstsein des Anderskönnens entscheiden und agieren, haben „eine der Voraussetzungen dazu, alternative Möglichkeiten in Gedanken abzuwägen und zu simulieren“.35 Anders ausgedrückt: Das Freiheitserleben ist ein integrierender Bestandteil des aktuellen Könnens und schafft erst den Spielraum für praktisches Denken.36 Es bringt den Menschen dazu, sein Verhalten zu reflektieren. – Wer eine Handlung im Bewusstsein des Anderskönnens vollzieht, billigt diese und offenbart damit eine bestimmte Einstellung. Er zeigt sich als eine Person, die unter den vorliegenden Bedingungen angesichts der aus ihrer Sicht zur Wahl stehenden Handlungsmöglichkeiten die ergreift, die ihr gemäß ist.37 Daraus folgt, dass das Freiheitserleben auch für eine funktionale oder eine Charakterschuldlehre eine tragende Rolle spielt: Wer eine rechtswidrige Tat im Bewusstsein des Anderskönnens begeht, lässt damit normalerweise das Manko an Rechtstreue erkennen, das Jakobs Schuld nennt,38 und zwar selbst dann, wenn er sich eine Handlungsmöglichkeit nur einbildet.39 – Nur Handlungen, die im Bewusstsein des Anderskönnens vollzogen werden, sind beeinflussbar durch soziale Konsequenzen. Hier zeigt sich ein Zusammenhang mit Auffassungen, die in der „Motivierbarkeit durch Normen“ oder in der „normativen Ansprechbarkeit“ das maßgebliche Schuldkriterium sehen.40 In der Literatur ist darauf hingewiesen worden, dass es sich dabei um ___________ 34

Walde (Fn. 21), S. 23, 177. Walde (Fn. 21), S. 198. 36 Vgl. Burkhardt, in: Baumgartner/Eser (Hrsg.), Schuld und Verantwortung, 1983, S. 57 ff. Weitere Wirkungen des Freiheitserlebens sind aufgelistet in meinem Beitrag in: Kick/Taupitz (Hrsg.), Willensfreiheit und Abhängigkeit, 2007, S. 45 ff., 57 f. 37 Vgl. etwa Pothast (Fn. 19), S. 390 ff.; Finnis, Fundamentals of Ethics, 1983, S. 136 ff.; Wandschneider, Prima Philosophia 15 (2002), 202 f. 38 Jakobs, Das Schuldprinzip, 1993, S. 34 f. Auf die Berührung seiner Auffassung mit der Charakterschuldlehre weist Jakobs (ZStW 117 [2005], 262 f.) selbst hin. 39 Man denke etwa an den Träger einer Garantenpflicht, der untätig bleibt, obwohl er irrig annimmt, eine Erfolgsabwendungsmöglichkeit zu haben. Ähnliche Konstellationen haben auch die Philosophie beschäftigt, vgl. Merkel (Fn. 2), S. 96 ff., 99; Walde (Fn. 21), S. 175 f. 40 In diesem Sinne Roxin (Fn. 5), § 19 Rn. 36 ff. Triffterer/Mitterauer, MedR 1994, 300 sprechen von der „Zugänglichkeit für Argumente“. In der Philosophie hat dieses Kriterium unter dem Stichwort „reasons-responsiveness“ eine gewisse Karriere gemacht (vgl. Fischer/Ravizza, Responsibility and Control, 1998, S. 62 ff.). Der Grundgedanke ist alt. Schon in § 31 der „Eleutheriologie“ von Ulrich, die im Jahre 1788 erschienen ist, findet sich der Satz: „Der Mensch ist frey, in so ferne sein Wollen durch moralische Mittel bestimmlich und verbesserlich ist“. Und ganz entsprechend heißt es bei Barnes, 35

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ein im Kern freiheitsbezogenes Kriterium handele, das mit entsprechenden Nachweisproblemen behaftet sei. Haddenbrock meint, es sei mit wissenschaftlichen Methoden nicht feststellbar, ob der Täter trotz der faktischen Unwirksamkeit der Rechtsnorm in seinem Motivationsprozess dennoch hätte potentiell angesprochen werden können.41 Und Arthur Kaufmann hat darauf hingewiesen, dass auch die „normale Motivierbarkeit“ nur durch ein analogisches Verfahren festgestellt werden könne.42 Diese Probleme verschwinden (dazu sogleich unter e)), wenn man den Zusammenhang von Freiheitserleben und normativer Ansprechbarkeit (Steuerungsfähigkeit) in Rechnung stellt: Wer eine Tat im Bewusstsein des Anderskönnens vollzieht, der ist (von pathologischen Fällen abgesehen) qua Freiheitserleben normativ ansprechbar. Oder wie es bei Schöch43 treffend heißt: „Es ist die subjektive Gewissheit der Steuerungsfähigkeit, die im Gesetz als normative Ansprechbarkeit vorausgesetzt wird. Das Freiheitsbewusstsein schafft den individuellen Spielraum für praktische Entscheidungsalternativen und eröffnet damit auch die Möglichkeit, normative Erwartungen an den Täter zu richten.“ – Das Freiheitserleben bewährt sich nicht nur bei der Explikation der Schuldunfähigkeit, es ist auch ein Kriterium bei der Feststellung der persönlichen Schuld des konkreten Täters. Bei allen Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründen ist das Freiheitserleben (neben anderen Kriterien) involviert. Es kann fehlen oder eingeschränkt oder gestört sein, und dies kann auf einem pathologischen Zustand des Menschen beruhen oder mit einer extremen Notlage zusammenhängen. Ein Paradebeispiel bilden bestimmte SchizophrenieFormen, bei denen es ein Leitsymptom ist, dass sich Patienten nicht mehr „frei“ fühlen, sondern sich als „gelenkt“ empfinden. Bemerkenswert ist im Übrigen auch, dass die „Wiederherstellung subjektiv erlebter Handlungsautonomie und Entscheidungsautonomie“ ein therapeutisches Ziel sein kann.44 d) Die Anknüpfung des Schuldvorwurfs an das Freiheitserleben des Täters harmoniert mit der Aufgabe des Schuldprinzips. Diese besteht darin, die staatlichen Strafen so zu begrenzen, dass sie der Täter persönlich als richtig und gerecht empfinden kann, dass also die Chance einer Anerkennung durch den Täter besteht.45 Eine solche Chance besteht nur, wenn das Strafrecht die Men___________ Understanding Agency, 2000, S. 64 ff., 70, 73: „It is that freely willed or chosen actions, as identified in everyday discourse, are paradigmatically those of human beings in a normal state of susceptibility to others.“ 41 Haddenbrock (Fn. 5), S. 313 f.; ferner Frister, MSchrKrim 77 (1994), 318. 42 Arthur Kaufmann, Über Gerechtigkeit, 1993, S. 52. 43 Schöch (Fn. 5), § 20 Rn. 22 (Hervorhebung von mir). Vgl. auch oben bei Fn. 35 f. 44 Maier/Helmchen/Sass, Nervenarzt 2005, 544. 45 Vgl. Fn. 8. Beachtlich auch Dennett, Freedom Evolves, 2003, S. 297 ff. (im Anschluss an White, The Unity of the Self, 1991, S. 208 ff., 238 ff., 247 ff.).

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schen so nimmt, wie sie sich selbst erleben,46 wenn es also die Selbstdefinitionen und die subjektive Weltsicht des Täters zu seinem Ausgangspunkt macht und wenn der Täter seine rechtswidrige Tat im Bewusstsein des Anderskönnens begangen hat. In der Literatur ist vielfach darauf hingewiesen worden, insbesondere auch von Psychiatern und Psychologen, dass gerade das Gefühl des „So-oder-anders-handeln-Könnens“ auch „das Bewusstsein der persönlichen Verantwortung für die von der jeweiligen Person (subjektiv) frei getroffene Entscheidung und für das darauf aufbauende Verhalten begründet“.47 Haddenbrock sieht im Freiheitsbewusstsein sogar eine Bedingung der Möglichkeit der Tatschuldverantwortung. Das Freiheitsbewusstsein bei der normalen Handlungswahl unter Alternativen bedinge, „dass nach einer gesinnungsgeleiteten Kriminalität ihr Täter für diese verantwortlich sich weiß und auch ist. Denn gefragt kann er beantworten, welche Gründe oder Affekte und welche Absichten er bei der Tatbegehung gehabt hat“.48 Und bei dem Harvard-Psychologen Wegner heißt es: The theory of apparent mental causation „suggests that the feeling of willing that does arise in an individual for any action will compel that individual to accept personal responsibility for that action [...]. The experience of conscious will provides a unique inner signal, a first-person experience of responsibility that makes the person ‚own‘ morally relevant actions“.49 e) Mein letzter Punkt in diesem Abschnitt hat zwar nicht unmittelbar mit der normativen Relevanz zu tun, er unterstreicht aber die Vorzugswürdigkeit der Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit: Die Frage, ob der Täter in der Vorstellung gehandelt hat, eine individuell vollziehbare Verhaltensalternative zu haben, lässt sich im Strafverfahren aufklären. Das Freiheitserleben ist, anders als die (kontrakausale, indeterministische) Willensfreiheit eine Tatsache. Beweisprobleme entstehen im Allgemeinen schon deshalb nicht, weil die Erfahrung, auch anders entscheiden und handeln zu können, in jeder normalen bewussten intentionalen Handlung steckt.50 Erklärungsbedürftig sind vielmehr allein Fälle, in denen das Freiheitserleben entweder fehlt bzw. eingeschränkt ist ___________ 46

So Hirsch, ZStW 106 (1994), 763. So Triffterer/Mitterauer, MedR 1994, 299; ferner Ancel (Fn. 26), 272 f. 48 Haddenbrock, GA 2003, 531; ders. (Fn. 5), S. 86 ff., 244 ff. 49 Wegner, in: Baer/Kaufmann/Baumeister, Are we free? Psychology and Free Will, 2008, S. 226 ff., 242; ders., The Illusion of Conscious Will, 2002, S. 341 ff. 50 Habermas, DZPhil 52 (2004), 872 spricht von der unbestreitbaren Evidenz eines in allen unseren Handlungen performativ mitlaufenden Freiheitsbewusstseins. Wenn man Handlung als „individuell vermeidbare Erfolgsverursachung“ definiert (so Jakobs, Strafrecht Allg. Teil, 2. Aufl., 1991, 6/20 ff.), dann wird subjektive Freiheit zum notwendigen Element des Handlungsbegriffs. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass das Freiheitserleben, das eine fundamentale Selbsterfahrung menschlichen Existierens ist und das Zentrum des sozialen Universums bildet, in der Theorie von Jakobs nicht eigens thematisiert wird. Vgl. insoweit auch Albuquerque, ZStW 110 (1998), 654 f. sowie oben bei Fn. 25. 47

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oder in denen es Hinweise darauf gibt, dass das vorhandene Freiheitserleben nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt (dazu III.). Das passt zu dem RegelAusnahmeverhältnis nicht nur in der gerichtlichen, sondern auch in der Alltagspraxis. Unserer Selbsterfahrung entsprechend gehen wir davon aus, dass eine intentionale Handlung, falls nicht besondere Gründe dagegen sprechen, im Bewusstsein des Anderskönnens vollzogen worden ist. Ich fasse zusammen: Andershandelnkönnen (verstanden als Voraussetzung strafrechtlicher Schuld) meint entgegen der Behauptung einiger Vertreter des sozialen Schuldbegriffs nicht, dass „ein durchschnittlicher Anderer in einer solchen äußeren und inneren Situation generell anders, das heißt normgemäß hätte handeln können, dass ihm nach unserer Erfahrung praktisch Handlungsspielräume zur Verfügung standen“51. Es bedeutet vielmehr, dass der Täter selbst seine rechtswidrige Tat im Bewusstsein des Anderskönnens vollzogen hat.

III. Einwände gegen die Maßgeblichkeit des Freiheitserlebens Gegen die Annahme, dass das Freiheitserleben die Grundlage des strafrechtlichen Schuldvorwurfs bildet, sind Einwände vorgebracht worden. Sie betreffen im Wesentlichen die Frage der Übereinstimmung des Freiheitserlebens mit der Wirklichkeit und sie beruhen überwiegend auf einer Verkennung des Inhalts und der Bedeutung des Freiheitserlebens sowie des Verhältnisses von subjektiver und objektiver Freiheit.

1. Die angebliche Inkompatibilität von Freiheitserleben und Determinismus Eine kurze, aber repräsentative Kritik an der Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit findet sich bei Griffel. Er schreibt: „Es ist richtig, dass die fundamentale Tatsache des unleugbar realen Freiheits- und Verantwortungserlebens die Grundlage jedes sinnvollen menschlichen Selbstverständnisses sein muss, jedoch nur, wenn nichts dagegen spricht, dass dieses Erleben der Wirklichkeit entspricht. Es bedarf daher kritischer Prüfung unseres inneren Erlebens. Der Problematik der Willensfreiheit kann nicht ausgewichen werden“.52 Die ___________ 51 So aber Schreiber, in: Starck (Hrsg.), Staat und Individuum im Kultur- und Rechtsvergleich, 2000, S. 86; Kienapfel/Höpfel, Grundriss des Strafrechts, Allg. Teil, 2005, S. 83. 52 Griffel, GA 1996, 458 (Hervorhebungen von mir). Die Kritik von Griffel richtet sich gegen Hirsch (Fn. 11). Mit der Forderung, dass das Freiheitserleben mit der Wirklichkeit übereinstimmen müsse, ist ein ernsthaftes Problem angesprochen, das Hirsch

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Kritik steckt in der Behauptung, man könne dem Problem der Willensfreiheit nicht dadurch ausweichen, dass man versuche, den Schuldvorwurf an das Freiheitserleben anzuknüpfen. Diese Behauptung beruht augenscheinlich auf der Annahme, dass das Freiheitserleben einen indeterministischen, kontrakausalen Inhalt hat und dementsprechend nur dann mit der Wirklichkeit übereinstimmen kann, wenn es (indeterministische, kontrakausale) Willensfreiheit gibt.53 Wäre diese auch unter Psychologen, Hirnforschern und Philosophen verbreitete Annahme richtig, so wäre damit ein Verdikt über die Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit gesprochen. Denn wenn es objektive (indeterministische, kontrakausale) Willensfreiheit gibt, dann kann der Schuldvorwurf auf „diese selbst“ gegründet werden. Dann besteht kein Anlass, auf subjektive Freiheit abzustellen. Gibt es sie hingegen nicht, dann wäre das Freiheitserleben ein Irrtum, ein bloßer Schein, eine Indeterminismustäuschung, eine Illusion der Selbstbeobachtung. Nun wird zwar angenommen, dass das Freiheitserleben eine nützliche Illusion sei, die es aufrecht zu erhalten gelte.54 In der Strafrechtsliteratur herrscht jedoch die Auffassung vor, der Schuldvorwurf könne nicht an ein illusionäres Freiheitserleben anknüpfen.55 Ich stimme dieser Auffassung im Grundsatz zu. Ich bin aber der Meinung, dass das Freiheitserleben – von Ausnahmefällen abgesehen – keine Illusion ist und dass Griffel Unrecht hat, wenn er behauptet, die deterministische These müsse das Freiheitserleben als Irrtum erklären.56 ___________ nicht gelöst hat. Dass unser inneres Erleben daher kritischer Prüfung bedarf, ist gewiss richtig. 53 Bei Griffel, ZStW 98 (1986), 39 heißt es, die deterministische These müsse das Freiheitserleben als Irrtum erklären. Einige Verfechter des neurobiologischen Determinismus, darunter namentlich Gerhard Roth, tun dies tatsächlich. 54 Dieser Standpunkt firmiert als „Illusionismus“. Sein Hauptvertreter ist Smilanski (Free Will and Illusion, 2000). Unter Illusionismus versteht man die These, dass der Glaube an die Realität der Willensfreiheit eine Illusion darstellt, aber eine solche, die positive soziale Wirkungen hat oder sogar praktisch erforderlich ist. Das erinnert natürlich an das Wort von der „Willensfreiheit als einer staatsnotwendigen Fiktion“. 55 Vgl. etwa Hillenkamp, in: ders. (Hrsg.), Neue Hirnforschung – Neues Strafrecht?, 2006, S. 102 f. Man hat mehr oder weniger ausdrücklich behauptet, dass ich den Schuldvorwurf auf eine Illusion gründen wolle. Das trifft nicht zu. Ich habe stets betont, dass es unangemessen ist, das Freiheitserleben als Illusion zu bezeichnen; vgl. meine Beiträge, FS Lenckner, 1998, S. 16 ff.; in: Maasen/Prinz/Roth (Hrsg.), Voluntary Action, 2003, 248 f. Vielleicht habe ich mich in diesen Beiträgen noch nicht klar genug ausgedrückt (Geisler, Ethik und Sozialwissenschaften 10 [1999], 283 Fn. 9 hat mich allerdings richtig verstanden). Spätestens seit meinem Beitrag, FS Eser, 2005, S. 77 ff. müssten Missverständnisse eigentlich ausgeschlossen sein. 56 Griffel hat sich in seiner Monographie (Der Mensch – Wesen ohne Verantwortung?, 1975, S. 192 ff., 205 ff.) zwar vergleichsweise eingehend mit dem Inhalt des Freiheitsbewusstseins befasst, dabei aber dem epistemischen Indeterminismus nicht Rechnung getragen.

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a) Das Erlebnis des Anderskönnens ist keine Indeterminismustäuschung, und zwar schlicht deshalb nicht, weil es keinen indeterministischen, kontrakausalen Gehalt hat. Das Freiheitserleben ist im Wesentlichen durch vier komplementäre Inhalte bestimmt: – erstens durch das Erleben von Handlungsfreiheit (ich kann A tun, wenn ich A tun will), – zweitens durch das Erleben der epistemischen Offenheit der Zukunft (ich kann, relativ zu dem, was ich jetzt weiß oder zu wissen glaube, so oder auch anders entscheiden; verschiedene Möglichkeiten sind mit meinem Situationsverständnis verträglich; ich bin an der Determination der Zukunft beteiligt), – drittens durch das Erleben psychologischer Unterdeterminiertheit (ich erlebe, dass ich unter dem Einfluss der Motive stehe, dass diese aber nicht vollständig zur Auslösung meines Wollens ausreichen) und – viertens durch das Gefühl der Autorschaft (was ich will, wird von mir und von niemand und nichts anderem bestimmt, ich bin der Ursprung meines Wollens und Handelns). Alle diese Erlebnisinhalte sind mit dem (neuro-)physiologischen Determinismus kompatibel. Sie können auch in einer deterministisch gedachten Welt mit der Wirklichkeit übereinstimmen, diese freilich auch verfehlen.57 Was hingegen den Gedanken betrifft, unter identischen äußeren und inneren Bedingungen ganz Unterschiedliches wollen zu können, also in einem unbedingten Sinne frei zu sein, so handelt es sich dabei um keinen erlebten Aspekt der Freiheit, sondern nur um einen falschen begrifflichen Kommentar.58 Allerdings hat auch dieser falsche Kommentar einen guten nicht-illusionären Grund. b) Es ist nicht zu bezweifeln, dass es Menschen gibt, die indeterministische Freiheitsintuitionen haben und die dementsprechend glauben, in einem unbedingten Sinne frei zu sein. Solche Freiheitsintuitionen erklären sich vermutlich aus der Tatsache, dass Menschen so entscheiden und sich beurteilen müssen, als ob sie in einem indeterministischen Sinne frei wären.59 Es ist wichtig zu sehen, dass diese Tatsache eine durch das Freiheitserleben hervorgerufene Wirklichkeit ist. Wenn Menschen ihre Zukunft in einem epistemischen Sinne als offen und ihre Motive als nicht zwingend erleben, dann bedeutet das zwar nicht, dass ___________ 57

Näher zum Ganzen mit zahlreichen Nachweisen Burkhardt, FS Eser, 2005, S. 84 ff. Reininger (Fn. 15), S. 144 f. hat mit Recht darauf hingewiesen, dass jede Auseinandersetzung mit dem Problem der Willensfreiheit vom „vorwissenschaftlichen Freiheitsbewußtsein“ ausgehen müsse. Zunächst sei also „zu fragen, was in ihm mit ‚Freiheit‘ eigentlich gemeint ist und sinnvoll gemeint sein kann“. 58 So treffend Bieri, Das Handwerk der Freiheit, 2000, S. 168 ff., 171 f., 184 ff., 244. 59 Vgl. bereits oben bei Fn. 19. Die daran anknüpfende Folgerung lautet offenbar „Du kannst, denn du musst“.

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sie im Sinne des ontologischen Indeterminismus frei sind. Es impliziert auch nicht, dass sie glauben (müssen), in einem solchen Sinne frei zu sein. Es hat aber zur Konsequenz, dass sie so entscheiden und sich beurteilen müssen, als ob sie in einem solchen Sinne frei wären. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob es für den Menschen einen Unterschied macht, ob er tatsächlich im Sinne des ontologischen Indeterminismus frei ist oder ob er nur so entscheiden und sich beurteilen muss, als ob er in einem solchen Sinne frei wäre. Wenn man diese Frage verneint,60 dann entsprechen selbst indeterministische Freiheitsintuitionen im Wesentlichen der Wirklichkeit. Wenn man sie bejaht, dann spiegeln sie jedenfalls die Tatsache wieder, dass der Mensch darauf angelegt ist, so zu entscheiden, als ob er im indeterministischen Sinne frei wäre. So oder so wäre es inadäquat, ein Freiheitserleben, das mit solchen Konsequenzen für den Menschen verbunden ist, als illusionär zu bezeichnen (und zwar unabhängig davon, ob dieses Erleben einen indeterministischen Gehalt hat oder nicht). Das Freiheitserleben hebt sich gerade dadurch von gewöhnlichen Illusionen ab, dass es auch dann handlungswirksam bleibt, wenn man von seiner Nichtübereinstimmung mit der Wirklichkeit überzeugt ist.61 Es wäre deshalb auch dann keine bloße Selbsttäuschung, wenn es einen indeterministischen Gehalt hätte und wenn der Determinismus wahr wäre. Auch Prinz und Singer sehen das so. Auf die Frage, ob der freie Wille eine Illusion sei, antwortet Singer: „Illusion“ sei nicht das richtige Wort, denn der freie Wille „wird von uns als Realität erlebt und wir handeln und urteilen so, als gäbe es ihn“. Die Erfahrung einen freien Willen zu haben, sei somit etwas Reales, extrem Folgenreiches.62 Und sachlich übereinstimmend heißt es bei Prinz: „Freiheitsintuitionen sind keine Selbsttäuschungen. Sie sind psychologisch wirksam [verhaltenswirksam] und erfüllen wichtige [psychologische und] soziale Funktionen“.63 Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Ich komme deshalb zu dem Ergebnis, dass der Versuch, das Freiheitserleben als Illusion der Selbstbeobachtung oder als Indeterminismustäuschung abzutun und damit als An-

___________ 60

Kargl (Fn. 11), S. 187 hat zutreffend darauf hingewiesen, dass es für unser faktisches Handeln und unser Bewusstsein von diesem Handeln sogar ganz gleichgültig sein kann, ob ein freier Wille existiert. Auch zahlreiche andere Autoren haben auf die Folgenlosigkeit des Determinismus für das praktische Denken hingewiesen. Instruktiv zum „Entscheidungsproblem“ Pawlowski, Einführung in die Juristische Methodenlehre, 2. Aufl., 2000, § 11. 61 Vgl. dazu Burkhardt, in: Kick/Taupitz (Fn. 36), S. 46 f. 62 Singer, Ein neues Menschenbild?, 2003, S. 24 f., 32, 58 f. 63 Prinz, Psychologische Rundschau 55 (2004), 198. Dass das Freiheitserleben keine Selbsttäuschung ist, wird auch von vielen anderen Autoren betont; vgl. etwa Haddenbrock (Fn. 5), S. 245; ders., MSchrKrim 79 (1996), 54 f.; Kargl (Fn. 11), S. 191 f. Ferner Dennett (Fn. 45), S. 224, 305.

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knüpfungspunkt für den Schuldvorwurf zu diskreditieren, aus verschiedenen Gründen fehlgeht.

2. Zur Übereinstimmung von Freiheitserleben und Wirklichkeit Bisher ist noch nicht geklärt, unter welchen Voraussetzungen das Freiheitserleben, das keinen indeterministischen Gehalt hat, der Wirklichkeit entspricht und ob und inwieweit auch ein nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmendes Freiheitserleben den Schuldvorwurf tragen kann (dazu c)). Die Klärung dieser Fragen ist wichtig, weil nicht ausgeschlossen ist, dass auch ein psychisch kranker Täter sein unrechtes Handeln als in Freiheit vollzogen empfindet. Solche Fälle mögen selten sein,64 sie werden aber seit jeher zum Anlass genommen, die Bedeutung des Freiheitserlebens für das Strafrecht herabzusetzen.65 Neuerdings meinen Reinhard Merkel, Grischa Merkel und Gerhard Roth, in BGHSt 40, 341 ein Fallbeispiel gefunden zu haben, anhand dessen sich zeigen lasse, dass subjektive Freiheit keine taugliche Grundlage für einen persönlichen Vorwurf sei (dazu a), b)). a) Reinhard Merkel hat gegen die Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit eingewandt: „Als Ursprung seiner eigenen Entscheidung und in diesem Sinne notwendig frei erlebt sich auch der (ungenötigte) Geisteskranke. Ist aber das subjektive Freiheitserleben eines Schuldunfähigen kein anderes als das eines Schuldfähigen, so taugt es nicht als Kriterium zur Unterscheidung beider. In der subjektiven Gewissheit eigenen freien Handelns erleben manchmal auch Epileptiker die gänzlich handlungslosen Dämmerzustände ihrer Anfälle. So verhielt es sich im Fall BGHSt 40, 341.“66 Dieser Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte litt seit vielen Jahren unter epileptischen Anfällen. Trotz dieser Erkrankung führte er regelmäßig ein KFZ. Zu einem Anfall während einer Fahrt war es dabei nie gekommen. Das änderte sich in dramatischer Weise am 19. Juli 1993. Während einer Fahrt in der Innenstadt von Ludwigsburg erlitt der Angeklagte – ohne erkennbare Vorzeichen – einen Anfall, der zu einer Verkrampfung seines rechten Beines führte und von einer Dämmerattacke begleitet war. Infolge der Verkrampfung des Beines wurde das Gaspedal des Fahrzeuges durchgedrückt. Dieses fuhr mit einer Geschwindigkeit von 48 km/h zunächst in eine Gruppe von Fußgängern, die gerade auf einem Fußgängerüberweg die Straße überquerten. Im weiteren Verlauf der Fahrt erfasste das Fahrzeug – nach etwa 250 Metern – noch vier weitere Fußgänger, ehe es

___________ 64 In der Literatur wird auf den eher theoretischen Fall der posthypnotischen Suggestion und auf den an Manie leidenden Kranken hingewiesen. 65 Dabei ging es in der älteren Literatur in erster Linie darum zu zeigen, dass das Freiheitserleben keinen Beweis für das Bestehen einer unbedingten Willensfreiheit und auch keinen entscheidenden Grund gegen den Determinismus liefert. 66 Merkel (Fn. 2), S. 120 f.

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vor einem Hindernis zum Stehen kam. Schreckliche Bilanz: Bei dem Unfall wurden insgesamt 13 Fußgänger – teilweise schwer – verletzt. Eines der Unfallopfer verstarb an den Verletzungen. Verletzt wurden ferner die Ehefrau und der Sohn des Angeklagten, die sich als Beifahrer in dem Fahrzeug befanden. Aus dem nicht veröffentlichten Urteil des LG ist zu entnehmen, dass sich der Angeklagte zur Unfallursache wie folgt eingelassen hat: Das Gaspedal sei nicht hochgekommen, obwohl er mehrfach daraufgetreten habe. Auch die Bremse, die er zu betätigen versucht habe, sei hart wie Beton gewesen. Der Versuch auszukuppeln, sei ebenfalls gescheitert, und er habe schließlich das Fahrzeug gegen einen Ampelmast gelenkt, um weiteren Schaden zu verhindern. Demgegenüber sagten zwei Zeugen (u. a. die Ehefrau des Angeklagten) übereinstimmend aus, der Angeklagte habe vollkommen regungslos mit durchgedrücktem Gaspedal dagesessen und starr nach vorn geblickt. Auch auf Zurufe habe er nicht reagiert. Das LG hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung in vierzehn tateinheitlichen Fällen und mit fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c I Nr. 1b, III 2 StGB) verurteilt. Dabei wurde die rechtswidrige Tathandlung darin gesehen, dass der Angeklagte sein Fahrzeug in Betrieb genommen hat, obwohl er infolge körperlicher oder geistiger Mängel nicht in der Lage war, sein Fahrzeug sicher zu führen. Dass es in der unmittelbaren Unfallsituation nach dem Beginn des Anfalls mangels willensmäßiger Steuerung oder Beherrschbarkeit an einem strafrechtlich erheblichen Verhalten des Angeklagten fehlt, hat das LG zutreffend gesehen.

Mir ist nicht klar geworden, was sich aus diesem Fall und aus dieser Entscheidung für die Frage der rechtlichen Relevanz des Freiheitserlebens ergeben soll. Ich kann vor allem nicht erkennen, dass der Angeklagte während seines Anfalls im Bewusstsein des Anderskönnens eine rechtswidrige Handlung vollzogen oder sich den Vollzug einer solchen auch nur eingebildet hat. Merkel scheint das anders zu sehen, denn er fährt fort: „Hätte das Tatgericht die Schilderung des epilepsiekranken Angeklagten von seiner vermeintlichen Aktivität während seines Anfalls am Steuer seines PKW für bare Münze genommen, so hätte es den Angeklagten wegen dieses Verhaltens aus § 222 und § 229 StGB verurteilen müssen. Aber das LG wusste besser als der Kranke, dass sein subjektives Freiheits- und Handlungserleben Täuschung war und dass er während seines Anfalls überhaupt nicht, geschweige denn frei gehandelt hatte. Niemand bezweifelt, dass dies die allein zutreffende Beurteilung ist. Es ist aber inkonsistent und daher nicht akzeptabel, Unfreiheit allein nach den objektiven Kriterien empirischer Wissenschaften, Freiheit dagegen nur mit dem subjektiven Erleben zu begründen.“

Ich halte diese Überlegungen für unplausibel. Sie gehen an der Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit vorbei und sind nicht geeignet, diese zu diskreditieren. Ich beschränke mich auf vier Punkte: – Dass das Tatgericht, wenn es die Schilderung des Angeklagten „von seiner vermeintlichen Aktivität während des Anfalls“ für bare Münze genommen hätte, den Angeklagten wegen dieses (vermeintlichen) Verhaltens aus § 222 und § 229 StGB hätte verurteilen müssen, ist nicht nachvollziehbar. Der Angeklagte

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hat, wenn man seiner Schilderung glauben darf, während seines Dämmerzustandes Folgendes erlebt: „Ich versuche mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln, die Verletzung oder Tötung anderer Verkehrsteilnehmer zu vermeiden, aber es gelingt mir nicht.“ Wenn man dies für bare Münze nimmt, wäre der Angeklagte freizusprechen gewesen – was wohl auch sein Ziel war. Es ist bemerkenswert, dass das geschilderte Erleben in einem für die rechtliche Beurteilung maßgeblichen Punkt mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Der Angeklagte hat die Schädigung der anderen Verkehrsteilnehmer nach Eintritt des epileptischen Anfalls als unvermeidbar erlebt. Welcher Vorwurf sollte ihn insoweit treffen? – Reinhard Merkel geht kurzerhand davon aus, dass die Schilderung des Angeklagten sein tatsächliches Erleben während des Dämmerzustandes korrekt wiedergibt. Aber insoweit sind erhebliche Zweifel angebracht, Zweifel auch dahingehend, dass der Angeklagte in diesem Zustand überhaupt etwas erlebt hat und sich daran anschließend erinnern konnte.67 Seine Schilderung könnte ein Versuch sein, den epileptischen Anfall als Ursache des Unfalls zu leugnen. Am wahrscheinlichsten aber ist, dass es sich bei der Schilderung um eine Konfabulation handelt. Damit wäre das Beispiel vollständig entwertet. Es würde nicht einmal zeigen, dass das Erleben die Wirklichkeit verfehlen kann. – Die Behauptung, es sei inkonsequent und daher nicht akzeptabel, Unfreiheit allein nach den objektiven Kriterien empirischer Wissenschaften, Freiheit dagegen nur mit dem subjektiven Erleben zu begründen, geht an der Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit vorbei. Diese beinhaltet weder das eine noch das andere. Unfreiheit wird gerade nicht allein nach objektiven Kriterien begründet, denn unfrei ist, wer sich nicht als frei erlebt. Und Freiheit wird auch nicht allein mit dem subjektiven Erleben begründet. Es ist nicht Inhalt der Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit, dass der Mensch schon dann frei ist, wenn er sich als frei erlebt. Und sie beinhaltet auch nicht, dass das Erlebnis des Anderskönnens einen persönlichen Vorwurf (in jedem Falle) auch dann rechtfertigen kann, wenn dieses Erleben nicht der Wirklichkeit entspricht.68 Damit ist bereits der vierte und letzte Punkt berührt:

___________ 67 Grischa Merkel/Roth (in: Grün/Friedmann/Roth [Hrsg.], Entmoralisierung des Rechts, 2008, S. 66) konstatieren, der BGH habe nicht im Mindesten bezweifelt, dass der Bericht des Angeklagten über sein subjektives Erleben der zahlreichen Handlungen, mit denen er das Unheil habe abwenden wollen, glaubhaft gewesen sei. Wenn damit suggeriert werden soll, dass der BGH keine diesbezüglichen Zweifel gehabt hat, so wäre dem zu widersprechen. Der BGH hatte keinen Anlass, sich insoweit zu äußern. 68 Ich habe bereits in meinem Beitrag in der FS Lenckner (Fn. 55), S. 22 f., darauf hingewiesen, dass das Freiheitserleben Erfüllungsbedingungen hat. Merkel geht darauf nicht ein.

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– Reinhard Merkel behauptet, das subjektive Freiheitserleben eines Schuldunfähigen sei kein anderes als das eines Schuldfähigen und deshalb tauge es nicht zur Unterscheidung beider. Der Stellenwert dieser Behauptung lässt sich am besten ermessen, wenn man sie auf das visuelle Erlebnis als Bestandteil des Sehens überträgt. Sie lautet dann: „Das visuelle Erlebnis eines Halluzinierenden ist kein anderes als das einer Person, die etwas zutreffend wahrnimmt. Also taugt das visuelle Erlebnis nicht als Kriterium zur Unterscheidung beider.“ Das mag so sein, ändert aber überhaupt nichts daran, dass das visuelle Erlebnis ein notwendiger Bestandteil der visuellen Wahrnehmung (im gewöhnlichen Sinne) ist. Und entsprechend verhält es sich mit dem Erlebnis des Anderskönnens. Es ist notwendig (nicht hinreichend) für persönliche Schuld. Was nun den Unterschied zwischen einer visuellen Wahrnehmung und einer bloßen (inhaltsgleichen) Halluzination betrifft, so besteht dieser darin, dass das visuelle Erlebnis bei der Ersteren mit der Wirklichkeit übereinstimmt, bei der Letzteren hingegen nicht. Ein visuelles Erlebnis stimmt (stark vereinfacht) dann mit der Wirklichkeit überein, wenn es durch den repräsentierten Gegenstand verursacht wird und dem repräsentierten Gegenstand entspricht. Beim Freiheitserleben ist die Beantwortung der Frage nach der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit nicht so einfach (dazu unten c)). Reinhard Merkel thematisiert diese Frage nicht und er sagt auch nichts dazu, ob ein mit der Wirklichkeit übereinstimmendes Freiheitserleben ein legitimer Anknüpfungspunkt für einen persönlichen Vorwurf sein kann. Seine Einwände erschöpfen sich in der zutreffenden, aber trivialen Feststellung, dass das Erlebnis des Anderskönnens nicht immer der Wirklichkeit entspricht. b) Grischa Merkel/Roth69 wenden gegen die Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit ein, „dass sich der Richter bei der Feststellung von Tatsachen [?] in erster Linie [?] an objektiven Begebenheiten [?] orientieren“ müsse, und sie meinen, dies lasse sich anhand von BGHSt 40, 341 veranschaulichen. Ich muss bekennen, dass ich große Schwierigkeiten habe, diesen Einwand zu verstehen. Was ist mit „Tatsachen“ gemeint? In welchem Sinne wird das mehrdeutige Wort „objektiv“ gebraucht? Objektive Begebenheit im Unterschied zu was? Und was heißt „in erster Linie“? Das Erlebnis des Anderskönnens ist eine Tatsache, ebenso wie die Täuschungsabsicht oder der Schmerz eine Tatsache ist. An welchen objektiven Begebenheiten soll sich der Richter orientieren, wenn es um die Feststellung solcher Tatsachen geht, die einen (wie Searle sagt) ontologisch-subjektiven Existenzmodus haben, die aber dennoch (epistemisch) objektive Tatsachen sind? Und wie kann man behaupten, dass sich der Richter bei der Schuldfeststellung in erster Linie an objektiven Begebenheiten orientieren muss? Namhafte Psychiater äußern sich anders: „Psychische Erkrankungen spielen sich vor allem in der ‚Innenperspektive‘ der Patienten ab. Sie leiden un___________ 69

Siehe Fn. 67.

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ter krankhaften Veränderungen im Selbsterleben, in Gefühlen, Emotionen, Hoffnungen, Erwartungen, Vorstellungen, in Selbsteinschätzung und Einschätzung anderer, also unter Abwandlungen von Subjektivität und Interpersonalität.“70 Das Selbsterleben des Angeklagten in BGHSt 40, 341 war, wenn seine Schilderung sein Erleben im Dämmerzustand subjektiv richtig wiedergibt, augenscheinlich krankhaft verändert. Dass das Selbsterleben eines Menschen massiv gestört sein kann, ist kein Einwand gegen die normative Relevanz eines nicht krankhaft veränderten Freiheitserlebens. Grischa Merkel/Roth meinen, anhand von BGHSt 40, 341 Folgendes veranschaulichen zu können: „Treten [...] objektive Umstände in Widerspruch zum Vorbringen [?] des Angeklagten über sein Erleben, dann muss Letzteres ganz offensichtlich zurückstehen.“ Auch dieser Satz ist mehrdeutig und geeignet, Missverständnisse zu produzieren. Vielleicht enthält er auch ein solches. Es kann doch im Zusammenhang mit der Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit überhaupt nicht darum gehen, ob objektive Umstände in Widerspruch zum (möglicherweise höchst subjektiven) Vorbringen des Angeklagten über sein Erleben treten.71 Von Bedeutung kann nur sein, ob das Erleben selbst, also eine (epistemisch) objektive Tatsache (mit einem ontologisch subjektiven Existenz-Modus) mit der übrigen Welt übereinstimmt. Wenn man aber die Merkel/Roth-Behauptung dahingehend deutet, dass das Erleben „offensichtlich zurückstehen“ muss, wenn es nicht mit dem Rest der Welt übereinstimmt, dann wird diese Behauptung (offensichtlich) falsch. c) Dass das Erlebnis des Anderskönnens einen persönlichen Vorwurf rechtfertigt, wenn es der Wirklichkeit entspricht, scheint mir nicht zweifelhaft zu sein. Was aber ist, wenn es nicht mit der übrigen Welt übereinstimmt? Und vor allem: Unter welchen Voraussetzungen stimmt das Freiheitserleben mit der Wirklichkeit überein? Ich habe den Eindruck, dass die verbreitete Neigung, diese Fragen in Analogie zur visuellen Wahrnehmung zu beantworten, die richtige Sicht der Dinge stark behindert hat und noch behindert. Ein visuelles Erlebnis (z. B. dass da ein Hund ist) stimmt dann und nur dann mit der Wirklichkeit überein, wenn da tatsächlich ein solches Objekt (im Beispiel: ein Hund) ist und wenn dieses das visuelle Erlebnis verursacht. Ganz entsprechend scheint die Angelegenheit beim Freiheitserleben gesehen zu werden.72 Aber diese Ana___________ 70

Maier/Helmchen/Sass, Nervenarzt 76 (2005), 543. Das Vorbringen kann sich als Konfabulation darstellen, und Konfabulationen müssen in der Tat zurücktreten. 72 Das kommt vor allem zum Ausdruck, wenn gefragt wird, ob das Freiheitserleben „ein subjektiver Widerschein einer Wirklichkeit in unserem Innern“ ist, oder wenn, wie etwa bei Hirsch, ZStW 106 (1994), 763, die Vorstellung der Willensfreiheit und „diese selbst“ gegenübergestellt werden. Das provoziert die Frage, was denn mit „diese selbst“ gemeint ist und ob es „diese selbst“ gibt. Auf die Vorstellung der Willensfreiheit abzustellen, wenn es diese selbst nicht gibt, ist sicher kein attraktiver Standpunkt. 71

Individual- und sozialpsychologisch fundierter Schuldbegriff

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logie führt in die Irre. Sie suggeriert, dass es eine vom Freiheitserleben unabhängige Wirklichkeit gibt oder geben muss, die man Entscheidungsfreiheit (Andershandelnkönnen) nennen kann und die sich sozusagen im Freiheitserleben widerspiegelt. Eine solche (objektive) Entscheidungsfreiheit gibt es aber nicht. Das Freiheitserleben ist ein konstitutives Element der Entscheidungsfreiheit und als solches kann es keine bloße Widerspiegelung einer davon unabhängigen objektiven Freiheit sein. Die Frage nach der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit kann also nicht in Analogie zum visuellen Erlebnis beantwortet werden. Ob das Freiheitserleben der Wirklichkeit entspricht, das hängt vielmehr davon ab, ob es einen dem Freiheitserleben entsprechenden Zustand erst hervorbringt, und das heißt vor allem, ob es verhaltenswirksam ist, ob es also den Spielraum für praktisches Denken eröffnet, ob es die betreffende Person normativ ansprechbar macht und den subjektiven Prozess der Abwägung von vorgestellten Möglichkeiten und dessen Ergebnis mitbestimmt. Dass dies weiter voraussetzt, dass die betreffende Person zur antizipativen, zielgerichteten, selbstkontrollierten und rationalen Verhaltensselektion fähig ist, wird von der Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit nicht in Frage gestellt. Wer sich nur einbildet, diese Fähigkeit zu besitzen oder – um in der Terminologie des § 20 StGB zu bleiben – sich entsprechend der Unrechtseinsicht entscheiden zu können, der verdient keinen Tadel, er benötigt vielmehr Hilfe.

Die fragliche Effektivität des strafrechtlichen Schutzes vor beharrlichen Nachstellungen Von Axel Dessecker Seit dem 40. Strafrechtsänderungsgesetz gilt im deutschen Strafrecht der Straftatbestand der Nachstellung (§ 238 StGB).1 Diese Vorschrift pönalisiert verschiedene Tathandlungen der beharrlichen Nachstellung zum Nachteil von Menschen, deren Lebensgestaltung dadurch schwerwiegend beeinträchtigt wird. Der Versuch der Gesetzgebung, einen deutschen Begriff zur Bezeichnung der Tat zu etablieren, war bisher wenig erfolgreich; nicht nur umgangssprachlich oder in der psychowissenschaftlichen Literatur, auch in der kriminalwissenschaftlichen Diskussion ist daneben weiterhin von „Stalking“ die Rede. Die deutsche Gesetzgebung ist einer kriminalpolitischen Entwicklung gefolgt, die in einigen Strafrechtsordnungen zu vergleichbaren Ergebnissen geführt hat. Es besteht eine immer breitere Übereinstimmung darüber, dass spezifische rechtliche Instrumente zu schaffen sind, die einen wirksamen Schutz vor Gewalt in der Familie und im privaten Raum gewährleisten können. Auch wenn Gewaltschutzgesetze hauptsächlich an das Familienrecht anknüpfen, kommen sie nicht ohne ergänzende Strafvorschriften aus. Ähnlich wie in vielen verwaltungsrechtlichen Gesetzen sollen Strafdrohungen dafür bürgen, dass Gebote und Verbote befolgt werden. Ein besonders deutlicher Normbefehl wird von Straftatbeständen erwartet, die in den Besonderen Teil des Strafgesetzbuches eingereiht werden. Dieses Argument hat bei der Einführung des § 238 StGB eine nicht unwichtige Rolle gespielt.2 Mit der deutschen Vorschrift des § 238 StGB grundsätzlich vergleichbare Tatbestände existieren außer in den USA und weiteren außereuropäischen Ländern beispielsweise in Österreich,3 Belgien,4 den Niederlanden5 und ___________ 1

Das Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen (40. StÄG) vom 22. März 2007 (BGBl. I 354) ist am 31. März 2007 in Kraft getreten. 2 NK-StGB/Fünfsinn, 2005, 82 (83); Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, Rn. 1; Meyer, ZStW 115 (2003), 249 (275 ff.); Neubacher/Seher, JZ 2007, 1029; Sommerfeld/Voß, SchlHA 2005, 326 (331). 3 § 107a StGB (beharrliche Verfolgung), in Kraft seit 2006. 4 Art. 442bis Code pénal (harcèlement), in Kraft seit 1998. 5 Art. 285b Wetboek van Strafrecht (belaging), in Kraft seit 2000.

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England und Wales.6 Erst jüngst wurde ein entsprechender Straftatbestand in Italien eingeführt.7 In anderen Ländern wie etwa Frankreich gibt es neuere Strafvorschriften, die einen spezifischen Ausschnitt der in Frage kommenden Tathandlungen erfassen.8 Ein Delikt, das sich wie die Nachstellung nicht durch einen in der Umgangssprache bereits vorhandenen treffenden Ausdruck eindeutig bezeichnen lässt, dem vielfältige Tathandlungen zugeordnet werden und das – trotz des Erfordernisses einer insgesamt „schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung“ – von vornherein darauf angelegt ist, auch Tathandlungen abzuwehren, die für sich genommen von geringem Gewicht sind und bestenfalls im unteren Bereich der Strafwürdigkeit liegen, wirft die Frage auf, ob es auf Dauer Bestandteil eines notwendig fragmentarischen, durch rechtsstaatliche Prinzipien geprägten Strafrechts sein kann.9 Für den neuen Straftatbestand stellt sich erneut eine Grundsatzfrage des Strafrechts, mit der sich Manfred Maiwald in einem bekannten Aufsatz auseinandergesetzt hat.10 Der Jubilar gehört auch zu den Strafrechtswissenschaftlern, die sich schon früh mit Fragen der eigenständigen Strafbedürftigkeit und Strafwürdigkeit beharrlicher Nachstellungen im deutschen Recht befasst haben. Ende der 1990er Jahre hat er eine rechtsvergleichend angelegte Dissertation betreut, die dieses Thema zum Gegenstand hatte. Die Thesen dieser Arbeit11 wurden in einem Göttinger Doktorandenseminar sehr kritisch diskutiert. Aus heutiger Sicht kann man feststellen, dass es sich um ein zukunftsträchtiges Thema gehandelt hat. Seither sind einige Jahre vergangen. Zur Zeit der Abfassung dieses Beitrags ist § 238 StGB bereits zwei Jahre in Kraft. Diese Zeit ist lang genug, dass zu der bisherigen kriminalpolitischen genug strafrechtliche Literatur und erste Gerichtsentscheidungen hinzugekommen sind, um eine Zwischenbilanz zu wagen. Dabei wird zunächst danach gefragt, inwieweit es der Gesetzgebung gelungen ist, die in der öffentlichen Diskussion seit einigen Jahren unter dem Sammel___________ 6

Protection from Harassment Act 1997. Art. 612-bis Codice penale (atti persecutori), in Kraft seit Februar 2009. 8 Der seit 2002 geltende Art. 222-33-2 Code pénal (harcèlement moral) ist im Kern auf die Unterbindung dauernder Belästigungen am Arbeitsplatz ausgerichtet. 9 Die Meinungen sind, soweit die Frage gestellt wird, geteilt. Verneinend Eiden, ZIS 2008, 123; NK-StGB/Frommel, 2005, 86; Kinzig, ZRP 2006, 255 (258); Neubacher/ Seher, JZ 2007, 1029 (1030); Rackow, GA 155 (2008), 552 (560 ff.); für den Auffangtatbestand des § 238 I Nr. 5 StGB auch Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, Rn. 6b, 17 ff.; Gazeas, JR 2007, 497 (505). Zur Gegenauffassung, die einen möglichst lückenlosen Opferschutz in den Vordergrund stellt, etwa NK-StGB/Fünfsinn, 2005, 82; Meyer, ZStW 115 (2003), 249 (283 ff.); Mitsch, NJW 2007, 1237 (1238); Smischek, Stalking, 2006, S. 281 ff.; Sommerfeld/Voß, SchlHA 2005, 326. 10 Maiwald, FS Maurach, 1972, S. 9; Bloy, FS Eser, 2005, S. 233 (247 ff.). 11 von Pechstaedt, Stalking, 1999. 7

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begriff „Stalking“ erörterten vielfältigen Verhaltensweisen durch einen besonderen Straftatbestand zu erfassen. Im Anschluss wird die Effektivität dieses Gesetzes insbesondere unter dem Gesichtspunkt eines wirksamen Opferschutzes betrachtet.

I. Stalking als Gegenstand des Strafrechts 1. Zur Charakterisierung der Tat Zur allgemeinen Charakterisierung von Stalking gibt es psychologische Konzepte, die im Wesentlichen vier Merkmale aufweisen. Es geht um wiederholte und andauernde Verhaltensweisen, also nicht um eine einzelne „natürliche“ Handlung oder einen örtlich und zeitlich eng eingrenzbaren Handlungsablauf. Zweitens sind diese Verhaltensweisen darauf angelegt, den Handlungsspielraum einer bestimmten anderen Person einzuschränken; sie sind geplant und zielgerichtet. Von den Betroffenen werden diese Verhaltensweisen dementsprechend mindestens als unerwünscht oder belästigend wahrgenommen; sie führen also zu einem Erfolg und auch zu einer emotionalen Bewertung. Und schließlich sind diese Verhaltensweisen geeignet, mindestens Reaktionen wie Angst, Sorge oder Panik auszulösen – typische psychische Folgen von Handlungen, die als schädlich, gefährlich oder bedrohlich empfunden werden.12 Damit sind überwiegend Handlungen und Handlungserfolge genannt, die für Delikte zum Schutz personaler Rechtsgüter wie Körperverletzung oder Nötigung nicht ungewöhnlich sind. In der wissenschaftlichen Diskussion besteht kein Zweifel, dass schwere Erscheinungsformen von Stalking schon mit klassischen Tatbeständen des Strafrechts zu erfassen sind.13 Alle diese Gesichtspunkte werden auch herangezogen, wenn strafrechtliche Definitionen der beharrlichen Nachstellung aufgestellt werden.14 Sie eignen sich aber unterschiedlich gut für das Strafrecht. Wiederholte und zeitlich voneinander getrennte, aber im Wesentlichen gleichförmige Handlungsanläufe werfen aus strafrechtlicher Sicht Schwierigkeiten auf, und zwar nicht erst seit der Abschaffung der Konstruktion einer fortgesetzten Handlung durch die ___________ 12

Zusammenfassend Hoffmann, Stalking, 2006, S. 1 f. Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 238 Rn. 3a; Kinzig, ZRP 2006, 255 (256); Meyer, ZStW 115 (2003), 249 (259 ff.); Rackow, GA 155 (2008), 552 (554 f.); Utsch, Strafrechtliche Probleme des Stalking, 2007, S. 25 ff. 14 In dieser Richtung schon die Begründung zum Regierungsentwurf (BT-Drs. 16/575 vom 8.2.2006, S. 7). Siehe weiter etwa Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 238 Rn. 3a; NK-StGB/Fünfsinn, 2005, 82 (83); Rackow, GA 155 (2008), 552 ff. 13

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höchstgerichtliche Rechtsprechung.15 Das hat – ausgehend von Formulierungsvorschlägen, die nicht Gesetz geworden sind – zu einer Debatte darüber geführt, ob der Tatbestand der Nachstellung ein neues Dauerdelikt enthält.16 Vorzugswürdig ist die Annahme einer tatbestandlichen Handlungseinheit durch iterative Tatbestandsverwirklichung.17 Auf der anderen Seite bereiten geplante und zielgerichtete Handlungen für den Vorsatzbegriff wenig Schwierigkeiten. Fraglich ist lediglich, ob durch das Erfordernis „beharrlich“ ein besonderes Gesinnungsmerkmal hinzukommt. Üblicherweise wird Beharrlichkeit als ein Merkmal verstanden, das objektive und subjektive Komponenten aufweist. Die besondere Qualität eines Verhaltens, die mit diesem Attribut ausgedrückt wird, soll nicht allein in wiederholten Handlungen zum Ausdruck kommen, sondern auch in einer besonderen Hartnäckigkeit und dem Willen, in Zukunft ebenso zu handeln.18 Das Merkmal „Beharrlichkeit“ wird im Kernstrafrecht hauptsächlich herangezogen, um das Verhalten Verurteilter zu kennzeichnen, die sich nicht an Bewährungsauflagen oder -weisungen halten; solche Verstöße sind von der Bewährungshilfe dem Gericht mitzuteilen (§ 56d III 3 StGB), und sie können einen Widerruf der Straf- oder Maßregelaussetzung begründen (§§ 56f I 1 Nr. 2 und 3, 67g I 1 Nr. 2 und 3, 70b I Nr. 2 und 3 StGB). Der einzige Tatbestand im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches außer § 238 StGB, der auf dieses Merkmal zurückgreift, ist der Tatbestand der Ausübung verbotener Prostitution (§ 184e StGB). Für ein rechtsstaatliches Tatstrafrecht erschiene es allerdings bedenklich, dem subjektiven Element der Beharrlichkeit selbstständige strafbegründende Bedeutung zuzuweisen.19 Ein einzelner Kontaktversuch oder eine vage Bedrohung, die noch nicht einmal den Tatbestand des § 241 StGB erfüllen muss, werden nicht dadurch zur strafbaren Nachstellung, dass der Täter oder die Täterin zum Ausdruck bringt, dieses Verhalten fortsetzen zu wollen. Das Merkmal „Beharrlichkeit“ ist allein objektiv zu bestimmen, und zwar in dem Sinn, dass eine oder zwei Nachstellungshandlungen nicht ausreichen. Wenn es mehr sind, kommt es nicht auf ihre Anzahl an, sondern darauf, wie schwer sie die Lebens___________ 15

Zusammenfassend zu den Folgen der Leitentscheidung BGHSt 40, 138; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, S. 294 f.; Zschockelt, in: Geisler (Hrsg.), Zur Rechtswirklichkeit nach Wegfall der „fortgesetzten Tat“, 1998, S. 35. 16 In dieser Richtung etwa der Vorschlag von Smischek, Stalking, 2006, S. 322 f.; weitere Nachweise bei Gazeas, JR 2007, 497, 503 (Fn. 112). 17 Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 238 Rn. 39; Gazeas, JR 2007, 497 (504). 18 So die Begründung zum Regierungsentwurf (BT-Drs. 16/575 vom 8.2.2006, S. 7); weiter Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, §184e Rn. 5, § 238 Rn. 19 f. 19 Bandemer, GA 136 (1989), 257 (265); MK-StGB/Hörnle, 2005, § 184d Rn. 5; Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 238 Rn. 3; Mitsch, NJW 2007, 1237 (1240); Neubacher/Seher, JZ 2007, 1029 (1032).

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gestaltung des potentiellen Opfers beeinträchtigen können.20 Nur insofern erscheint das Beurteilungsmodell der Gesamtwürdigung überzeugend. Der Begriff der „Nachstellung“, mit dem das Gesetz den neuen Straftatbestand bezeichnet, ist ersichtlich ein Versuch, einen deutschen Ausdruck für das aus der US-amerikanischen Jagdsprache entlehnte Wort „stalking“ zu finden. Wie die eingangs erwähnten Tatbestände anderer europäischer Rechtsordnungen zeigen, wird überall versucht, die Rechtssprache in entsprechender Weise weiter zu entwickeln. Der Begriff „Nachstellen“ ist für das deutsche Recht nicht einmal neu; er taucht bereits im Tatbestand der Jagdwilderei (§ 292 I Nr. 1 StGB) und im Naturschutzstrafrecht (§ 329 III Nr. 6 StGB) auf, darüber hinaus im Gesetz zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen (§ 1 II 1 Nr. 2 b GewSchG). Was das Gewaltschutzgesetz betrifft, steht der präventiv angelegte zivilrechtliche Schutz im Vordergrund; die Strafvorschrift des § 4 GewSchG setzt eine vollstreckbare Anordnung voraus. Der präventive Gewaltschutz war von vornherein darauf ausgerichtet, auch Stalking-Fälle zu erfassen; allerdings ist dies im ersten Zugriff der Gesetzgebung nur teilweise gelungen. Zur Verbesserung dieses Instrumentariums liegen verschiedene Reformvorschläge vor, die sich vor allem auf den Anwendungsbereich gerichtlicher Schutzanordnungen, die Vollstreckungsregelungen und die Vereinheitlichung der Zuständigkeit beziehen.21 Wesentlich weiter entfernt liegt der Regelungsbereich der strafrechtlichen Vorschriften zum Schutz von Jagdberechtigungen, Naturschutzgebieten und Nationalparks. Die systematischen Gemeinsamkeiten mit dem neuen Delikt der Nachstellung sind enger begrenzt, als gelegentlich angenommen wird. Die Gesetzgebung muss sich vorwerfen lassen, unangebrachte Vergleiche zwischen dem Schutz von Tieren und potentiell geschädigter Menschen22 hervorzurufen. Zwar soll der Begriff „Nachstellen“ in allen Fällen eine Tathandlung kennzeichnen. Doch geht es im Jagd- und Naturschutzstrafrecht um ein unechtes Unternehmensdelikt; vorausgesetzt wird mindestens ein aus Tätersicht zu beurteilendes unmittelbares Ansetzen zum Erlegen oder zur Zueignung eines lebenden Wildtiers.23 Eine Parallele zur Nachstellung nach § 238 StGB könnte man allenfalls dann ziehen, wenn dieser Tatbestand gerade die mindestens versuchte Tötung oder Freiheitsberaubung eines Menschen erfassen würde. Da § 238 ___________ 20

So mit Recht Gazeas, JR 2007, 497 (502); LG Lübeck SchlHA 2008, 213. Siehe etwa Freudenberg, NJ 2006, 535 (539); Löbmann/Herbers, Neue Wege gegen häusliche Gewalt, 2005, S. 224. 22 Besonders deutlich in der Intervention von Eiden, ZIS 2008, 123. 23 Schönke/Schröder/Eser/Heine, StGB, 27. Aufl. 2006, § 292 Rn. 5; Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 292 Rn. 11. 21

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StGB bereits das beharrliche Aufsuchen der räumlichen Nähe des Opfers mit Strafe bedroht, werden solche Konkurrenzverhältnisse vorkommen. Charakteristisch für den Tatbestand sind aber gerade solche Tatabläufe, die nicht zu schwereren Verletzungsdelikten führen.

2. Die Tatmodalität des § 238 I Nr. 5 StGB Das verbotene Verhalten wird durch das Etikett „beharrliche Nachstellung“ nicht hinreichend gekennzeichnet. Bereits der Grundtatbestand des § 238 I StGB ist recht umfangreich geraten. Er soll vielfältige Handlungsformen erfassen, deren Spektrum von massiven Bedrohungen mit schweren Schädigungen (§ 238 I Nr. 4 StGB) bis hin zu eher trivialen räumlichen Annäherungen an das Opfer (§ 238 I Nr. 1 StGB) reicht. Als besonders problematisch gilt aus der Sicht des Gesetzlichkeitsprinzips die ergänzende Generalklausel, die auf „vergleichbare Handlungen“ Bezug nimmt.24 Sie soll „neue Angriffsformen“ erfassen und „künftigen technischen Entwicklungen“ Rechnung tragen.25 Auch wenn immer wieder betont wird, dass der in Frage kommende Kreis von Tätern und Täterinnen besonders erfindungsreich vorgehe, hatte der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages offenbar Schwierigkeiten, die Tatmodalität zu konkretisieren. Schon unabhängig von diesem dogmatischen Auffangnetz fallen bereits beliebige direkte und indirekte Kontaktversuche unter den Tatbestand.26 Soweit es um mittelbare Kontakte geht, kommt es nicht auf die Art der eingesetzten Kommunikationsmittel an. Wie sich die Kommunikationstechnik künftig entwickeln wird, ist daher unerheblich. Das nährt Zweifel, ob für die Auffangmodalität überhaupt ein praktischer Anwendungsbereich vorhanden ist. Der Wortlaut des § 238 I Nr. 5 StGB, der das Vornehmen jeder beliebigen Handlung unter Strafe stellt, wenn sie nur mit den konkreter umschriebenen Tatmodalitäten in Nr. 1–4 vergleichbar ist, greift jedoch weit über seinen vorgeblichen Zweck hinaus. Viel näher als ungewisse Entwicklungen in der Zukunft, mit denen das Strafrecht aus strukturellen Gründen notwendig Schwierigkeiten hat, liegen Erscheinungsformen von Stalking, die längst bekannt sind. Wie Befragungsstudien zeigen, ist beispielsweise ein relevanter Anteil der

___________ 24 Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, Rn. 17b; Gazeas, JR 2007, 497 (501 f.); Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 238 Rn. 3; Mitsch, NJW 2007, 1237 (1239); Neubacher/Seher, JZ 2007, 1029 (1033); Rackow, GA 155 (2008), 552 (565 f.). 25 So Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 16/3641 vom 29.11.2006, S. 30. 26 Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, Rn. 14 und 17; Mitsch, NJW 2007, 1237 (1239); Neubacher/Seher, JZ 2007, 1029 (1033).

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Stalking-Opfer von Sachbeschädigungen betroffen.27 Ob etwa Sachbeschädigungen an Fahrzeugen auf diese Weise auch als Nachstellung bestraft werden können, lässt sich durchaus diskutieren.28 Abgesehen vom Taterfolg setzt der Tatbestand des § 238 I Nr. 5 StGB im Wesentlichen zweierlei voraus. Erstens müsste begründet werden, dass solche Sachbeschädigungen nicht einfach Verletzungen fremden Eigentums sind, sondern aus der Tätersicht dazu dienen sollen, mit dem Opfer indirekt in Kontakt zu treten und ihm eine bedrohliche Botschaft zu übermitteln.29 Eine solche Tatmotivation wird schwierig nachzuweisen sein. Zweitens kommt es auf die systematische Vergleichbarkeit der Tathandlung an. Eigentumsverletzungen werden aber durch § 238 I Nr. 4 StGB gerade nicht erfasst. Aus systematischen Gründen wäre es daher wenig angemessen, sie über den Umweg des Auffangtatbestands in Nr. 5 doch als Nachstellung zu bestrafen. Ob es überhaupt Fallgestaltungen gibt, die sich in überzeugender Weise unter die Tatmodalität des § 238 I Nr. 5 StGB subsumieren lassen, sei einmal dahingestellt. Veröffentlichte Rechtsprechung zu § 238 I Nr. 5 StGB liegt zur Zeit der Niederschrift dieses Beitrags nicht vor, während es an fantasievollen Lehrbeispielen nicht mangelt.30 Deren Realitätsgehalt muss sich allerdings noch erweisen. Solche Schwierigkeiten sind ein erster Hinweis, dass der Strafbestand des § 238 StGB mit dem Bestreben, einerseits nach Art einer „Rundumverteidigung“ des Rechtsguts alle denkbaren Formen beharrlicher Nachstellungen zu erfassen, die Strafbarkeit aber andererseits vom Eintreten eines qualifizierten Taterfolgs und grundsätzlich von einem Strafantrag abhängig zu machen, dem Normvertrauen in das Strafrecht keinen Gefallen erweist. Die Erwartung, Stalking sei durch den neuen Tatbestand flächendeckend kriminalisierbar, wird durch die Praxis der Strafverfolgungsbehörden und der Strafgerichte widerlegt werden müssen. ___________ 27

Nach der Mannheimer Untersuchung von Dreßing et al., Psychiatrische Praxis 32 (2005) S. 73 (75), waren es immerhin 17 %. Der bisher umfangreichsten US-amerikanischen Befragung zufolge berichteten 15 % der Stalking-Opfer über Beschädigungen von Gegenständen, 3,7 % über Angriffe oder Angriffsversuche gegen Haustiere; siehe hierzu Baum et al., Stalking victimization in the United States, 2009, S. 8. 28 Das Beispiel stammt aus der Begründung zu dem vom Deutschen Bundestag abgelehnten, weniger konkret formulierten Bundesratsentwurf eines Stalking-Bekämpfungsgesetzes (BT-Drs. 16/1030 vom 23.3.2006, S. 7). Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, Rn. 5, verlangen „andere Angriffsformen auf den individuellen Lebensbereich“. Meyer, ZStW 115 (2003), 249 (287) will – aufgrund eines eigenen rechtspolitischen Vorschlags – beliebige Eigentums- und Besitzverletzungen erfassen. 29 Ähnlich bereits die Vorschläge von Valerius, JuS 2007, 319 (322); Weinitschke, Ad legendum 2008, 75 (78). 30 Siehe z.B. Mitsch, NJW 2007, 1237 (1239); Neubacher/Seher, JZ 2007, 1029 (1033).

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3. Die schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung als Taterfolg Die Skepsis gegenüber der Annahme, der Tatbestand des § 238 StGB enthalte einen wirksamen Beitrag zum Schutz potentieller Opfer, rechtfertigt sich auch daraus, dass der tatbestandliche Erfolg in einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung liegen muss. Dieses Merkmal wurde bereits im Gesetzgebungsverfahren anhand von Beispielen erläutert. Danach soll die Benutzung eines Anrufbeantworters die Lebensgestaltung noch nicht schwerwiegend beeinträchtigen, während dies der Fall sein wird, wenn sich das Opfer gezwungen sieht, die Wohnung nur noch in Begleitung zu verlassen, umzuziehen oder den Arbeitsplatz zu wechseln.31 Wie sich die Folgen beharrlicher Nachstellungen für die Geschädigten darstellen, ist eine empirische Frage. Die Forschung zeigt, dass diese Folgen ebenso vielfältig sein können wie die möglichen Tathandlungen. Eine durch das Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit durchgeführte postalische Befragung einer Bevölkerungsstichprobe zeigte neben psychosozialen Folgen wie innerer Unruhe (56 % der Geschädigten), Schlafstörungen (41 %) oder Magenbeschwerden (35 %) solche Reaktionen wie die Änderung der Telefonnummer (32 %) oder das Ergreifen von Sicherheitsmaßnahmen wie das Auswechseln des Türschlosses (17 %); über einen Wohnungswechsel berichteten ebenfalls 17 % der Stalking-Opfer.32 Eine Darmstädter Internet-Befragung führte – vermutlich weitgehend methodenbedingt – zu höheren Werten bei den psychosozialen Beeinträchtigungen, während weniger Betroffene zu aufwendigeren Gegenmaßnahmen griffen.33 Die Ausgestaltung des § 238 StGB als Erfolgsdelikt und die gesetzliche Voraussetzung, dass die Lebensgestaltung des Opfers nicht nur irgendwie, sondern schwerwiegend beeinträchtigt sein muss, richten sich gegen den Einwand, dass bagatellhafte Beeinträchtigungen, die sich nicht als Körperverletzung oder Nötigung darstellen, auf einem Umweg doch unter Strafe gestellt werden sollen. Das ist aus strafrechtssystematischer Sicht nachvollziehbar. Allerdings begünstigt dieser Ansatz möglicherweise falsche Erwartungen an die Wirksamkeit des Strafrechts. Die strafbarkeitseinschränkende Bedeutung des Erfolgs___________ 31

Begründung des Regierungsentwurfs (BT-Drs. 16/575, S. 8). Dreßing et al., Psychiatrische Praxis 32 (2005) S. 73 (76). 33 Voß et al., Stalking in Deutschland, 2006, S. 56 ff.; kritisch zum Ansatz dieser Untersuchung Bundesregierung, 2. Periodischer Sicherheitsbericht, 2006, S. 128. In der internationalen Forschung liegen darüber hinaus Studien über behandelte Stalking-Opfer vor, die – aus anderen methodischen Gründen – ebenfalls höhere Anteile gravierenderer Folgen ermittelten. Siehe etwa Kamphuis/Emmelkamp, American Journal of Psychiatry 158 (2001) S. 795; Pathé/Mullen, British Journal of Psychiatry 170 (1997) S. 12. 32

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merkmals lässt sich bereits anhand erster Gerichtsentscheidungen zeigen. So hat das OLG Hamm zu Recht ein amtsgerichtliches Urteil aufgehoben, in dem lediglich festgestellt war, dass der Geschädigte „mit seinen Nerven am Ende“ gewesen sei und Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz beantragt hatte.34 Das AG Löbau hat einen Angeklagten freigesprochen, der seine ehemalige Lebenspartnerin mit Telefonanrufen, elektronischen Kurzmitteilungen und persönlich fortlaufend belästigt hatte; dies hatte zur Folge, dass die Geschädigte über einen Zeitraum von zwei Wochen an ihrer Arbeitsstelle nicht mehr ans Telefon ging und Anrufe nur durch Kolleginnen entgegen genommen wurden, dass sie rund eine Woche lang in einer Ferienwohnung wohnte, ein Wochenendgrundstück nicht mehr so intensiv nutzte wie vorher und dort nur in Begleitung anderer Personen übernachtete sowie an Tagen, „an denen es zu einer Massierung von Anrufen des Angeklagten kam“, nur schlecht einschlafen konnte.35 Auch dieser Entscheidung, die das Erfolgsmerkmal konsequent eng auslegt, ist zuzustimmen. Sie macht zugleich das Dilemma des Opferschutzes durch § 238 StGB deutlich: psychisch robuste Geschädigte, die beharrlichen Nachstellungen geschickt aus dem Weg gehen, haben geringere Chancen, eine Verurteilung des Täters oder der Täterin herbeizuführen.

II. Effektiver Opferschutz durch strafrechtliche Prävention? Die Einführung des § 238 StGB zielt nicht nur auf die Schließung potentieller Strafbarkeitslücken und die eindeutige Kennzeichnung von Stalking als strafwürdiges Unrecht. Wie die Gesetzgebungsgeschichte zeigt, sollte zugleich der präventive Opferschutz verbessert werden.36 Dabei setzt man einerseits wie bei anderen Delikten auch auf general- und individualpräventive Wirkungen eines strafrechtlichen Verbots, das im vorliegenden Fall aber als Privatklagedelikt ausgestaltet wurde. Eine besondere Rolle spielt andererseits die Option der Untersuchungshaft als „Deeskalationshaft“.

1. Prävention durch Untersuchungshaft Die Möglichkeit der Sicherungshaft (§ 112a I Nr. 1 StPO) soll vor allem Tötungs- und Körperverletzungsdelikte vermeiden, die aus einem sich immer mehr verschärfenden Stalking entstehen. Dass solche Fälle vorkommen, ist ___________ 34

OLG Hamm, Beschluss vom 20.11.2008 – 3 Ss 469/08 (Juris). AG Löbau StV 2008, 646. 36 Siehe die Begründungen der Bundesregierung (BT-Drs. 16/575) und des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (BT-Drs. 16/3641), aber auch die Stellungnahme des Bundesrates zum ursprünglichen Entwurf (BT-Drs. 16/575, S. 9). 35

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aufgrund der vorhandenen empirischen Daten unbestritten. Die Forschung zeigt aber auch, dass es sich um relativ seltene Ausnahmefälle handelt. So wurden die Befragten in der bereits erwähnten Darmstädter InternetBefragung gebeten, von ihrem unangenehmsten, schlimmsten Vorfall mit dem Stalker zu berichten. Etwa 15 % der Antworten fielen in die Kategorie „körperliche Gewalt“.37 Nach der Mannheimer Bevölkerungsbefragung wurden rund 30 % der Betroffenen körperlich attackiert. Bei weitem am häufigsten blieb es jedoch beim Anfassen oder Festhalten durch den Täter.38 Auch insoweit wird der internationale Forschungsstand durch die deutschen Untersuchungen weitgehend bestätigt.39 Zu berücksichtigen ist allerdings, dass Gewaltverständnisse uneinheitlich definiert werden und die psychowissenschaftlich angelegten Studien offen lassen, wie häufig beispielsweise die Voraussetzungen einer Körperverletzung im Sinne des § 223 StGB erfüllt waren. Erfahrungsberichte aus der Justizpraxis beruhen zwar auf strafrechtlichen Subsumtionen, beziehen sich aber nur auf stark ausgelesene Fallgruppen. So ist bekannt, dass der Bundesgerichtshof jährlich etwa 30 Revisionsverfahren wegen des Verdachts von Gewalttaten zu bearbeiten hat, denen massives Stalking vorausgegangen ist.40 Die Anzahl der Revisionsverfahren beim BGH erlaubt jedoch keine Rückschlüsse auf die Gesamtzahl entsprechender Verfahren, die durch die Strafrechtspflege bearbeitet werden. Das Gesetz sieht seit 2007 die Möglichkeit vor, in solchen extremen Fallkonstellationen Untersuchungshaft zu verhängen (§ 112a I Nr. 1 StPO). Gefährliche Täter, so der Anspruch der Gesetzgebung, sollen rechtzeitig in Haft genommen werden, um schwere Delikte gegen Leib oder Leben zu verhindern.41 Erforderlich ist zunächst wie in jedem Fall der Untersuchungshaft ein dringender Tatverdacht. Das setzt voraus, dass überhaupt ermittelt wird und die beschuldigte Person mit hoher Wahrscheinlichkeit Täter eines Nachstellungsdelikts ist. Der Verdacht des Grundtatbestands nach § 238 I StGB reicht jedoch ___________ 37

Voß et al., Stalking in Deutschland, 2006, S. 47 ff. Dreßing et al., Psychiatrische Praxis 32 (2005) S. 73 (75). 39 Siehe die Bevölkerungsbefragungen von Baum et al., Stalking victimization in the United States, 2009, S. 8; Budd et al., The extent and nature of stalking, 2000; Purcell et al., Australian and New Zealand Journal of Psychiatry 36 (2002) S. 114; Tjaden/Thoennes, Stalking in America, 1998; sowie die Meta-Analyse von Spitzberg/Cupach, Aggression and Violent Behavior 12 (2007) S. 64 (71). 40 Nack, Stellungnahme in der Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 18.10.2006 (verfügbar unter http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/ anhoerungen/Archiv/06_Stalking/04_StN/index.html). Dort werden einige Fälle aus der Praxis des 1. Strafsenats des BGH der Jahre 2005 und 2006 aufgelistet, ohne dass die Nachstellungen vor der Tat jedoch konkret beschrieben würden. 41 So die Begründung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (BT-Drs. 16/3641, S. 32 f.). 38

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schon deshalb nicht aus, weil der Haftgrund der Wiederholungsgefahr eine – nicht selten als systemwidrig kritisierte – Ausnahme des Haftrechts darstellt.42 Um die rechtsethische Vergleichbarkeit mit den Sexualdelikten des sexuellen Missbrauchs von Kindern, Schutzbefohlenen, Gefangenen oder Widerstandsunfähigen, der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung (§§ 174, 174a, 176–179 StGB) herzustellen, bedurfte es besonderer Erfolgsqualifikationen. Katalogdelikte des § 112a I Nr. 1 StPO sind daher allein die Qualifikationen der beharrlichen Nachstellung, bei denen die Tathandlung mindestens die konkrete Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung für das potentielle Opfer oder eine ihm nahe stehende Person bewirkt haben muss (§ 238 II und III StGB). Der Begriff der schweren Gesundheitsschädigung geht bekanntlich über die Qualifikation der schweren Körperverletzung hinaus; er soll schon durch eine langwierige ernsthafte Erkrankung oder eine erhebliche Einschränkung der Arbeitsfähigkeit erfüllt sein.43 Daran knüpft die Wiederholungsgefahr an: bestimmte Tatsachen müssen die Gefahr begründen, dass diese qualifizierte Form der Nachstellung fortgesetzt wird. Diese Gefahr wird, wenn die übrigen Haftvoraussetzungen vorliegen, aus dem Wesen des Delikts fast zwangsläufig folgen. Auch die Erforderlichkeit der Haft dürfte dann keine unübersteigbare Hürde darstellen. Dennoch gibt es gute Gründe für die Annahme, dass der Weg über die Sicherungshaft nur in seltenen Ausnahmefällen eine spürbare Verbesserung des Opferschutzes bei Stalking bewirken wird. Alle Qualifikationstatbestände setzen voraus, dass es bereits zu einem massiven Übergriff gekommen ist; bloße Drohungen reichen nicht aus. Für die schweren Eskalationsfälle kann es aber als typisch gelten, „dass erst die am Ende der Eskalationsspirale stehende Handlung des Stalkers das Opfer in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung bringt. Dann aber verübt der Stalker sogleich die schwer wiegende Verletzungshandlung.“44 Das weckt die Befürchtung, dass diese Form der Haft für den Opferschutz schlicht zu spät kommt. Sobald ein gravierendes Körperverletzungs- oder Tötungsdelikt begangen wurde, ist die Eskalation, die verhindert werden sollte, bereits eingetreten. ___________ 42

Siehe etwa Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, S. 246 f. Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 306b Rn. 4; Stein, in: Dencker et al. (Hrsg.), Einführung in das 6. Strafrechtsreformgesetz, 1998, S. 75 (102 f.). Nach der Rechtsprechung (BGH NJW 2002, 2043) wird durch dieses Merkmal auf die individuelle Schadensdisposition des Opfers Bezug genommen; die drohenden Verletzungsfolgen müssen nicht den Schweregrad des § 226 StGB erreichen. 44 Nack, Stellungnahme in der Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 18.10.2006. Beispiel: Der bewaffnete Täter dringt in die Wohnung des Opfers ein, bringt dieses damit in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung und setzt sogleich die Waffe ein. Ein Vorschlag von Nack, Drohungsfälle ausdrücklich in den Qualifikationstatbestand einzubeziehen, wurde im Gesetzgebungsverfahren nicht aufgegriffen. 43

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Ein einziger Anwendungsfall der „Deeskalationshaft“ ist bisher bekannt geworden.45 In der Strafverfolgungsstatistik über Personen mit Untersuchungshaft wurde nach vorläufigen Auswertungen 2007 noch keine einzige Person mit Untersuchungshaft wegen des Verdachts der Nachstellung registriert. Allerdings werden hier lediglich rechtskräftige Aburteilungen dargestellt, und zwar nur die jeweils schwerste tateinheitlich oder tatmehrheitlich mitgeteilte Straftat, so dass die Häufigkeit der Untersuchungshaft gerade bei leichteren Delikten wie dem Grundtatbestand der Nachstellung systematisch unterschätzt wird.46 Unter den wenigen veröffentlichten Gerichtsentscheidungen zu § 238 StGB findet sich allerdings ein Fall, der auf eine mögliche Umgehungsstrategie verweist. Das LG Lübeck hat zur Verhinderung weiterer Nachstellungshandlungen auf den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr (§ 112 II Nr. 3 StPO) zurückgegriffen und dies damit begründet, dass sich weitere Kontaktaufnahmen mit der geschädigten Person auf deren Aussageverhalten als Zeugin in der bevorstehenden Hauptverhandlung auswirken könnten.47 Auch wenn der mitgeteilte Sachverhalt auf den Verdacht der Planung weiterer Straftaten gegen die Zeugin hinweist, fällt auf, dass der Beschluss die Erforderlichkeit der Haft allein mit Verstößen gegen ein Kontaktverbot nach dem Gewaltschutzgesetz begründet. Weitere Möglichkeiten des Schutzes der Zeugin im Rahmen des Strafverfahrens werden nicht in Betracht gezogen.

2. Prävention durch Strafe Die Skepsis, ob das Ziel eines besseren Schutzes für Stalking-Opfer durch das Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen erreichbar ist, betrifft aber auch eine allgemeinere Ebene jenseits der Sicherungshaft. Aus der Sicht der potentiell Geschädigten geht es darum, ob Nachstellungen durch Strafverfahren und kriminalrechtliche Sanktionen überhaupt wirksam unterbunden werden können. Wie bei allen Delikten gegen die Person hängt die Strafverfolgung fast ausschließlich von Strafanzeigen ab. Bereits in den ersten neun Monaten nach Inkrafttreten des § 238 StGB registrierte die Polizei bundesweit rund 11.400 Fälle; diese Zahl liegt mehr als doppelt so hoch wie die Zahl der polizeilich registrierten Freiheitsberaubungen und entspricht etwa einem Fünftel der registrierten Nötigungen für das gesamte Jahr 2007.48 Wenn man bedenkt, dass nach der ___________ 45

OLG Karlsruhe StRR 2008, 243. Zu diesen Begrenzungen Brings, BewHi 2005, 67 (78); Heinz, in: Dessecker/Egg (Hrsg.), Kriminalstatistiken im Lichte internationaler Erfahrungen, 2009, S. 17 (47 f.). 47 LG Lübeck SchlHA 2008, 213. 48 BKA, Polizeiliche Kriminalstatistik 2007, Tabelle 01. 46

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Einführung eines neuen Straftatbestands in der Polizeipraxis mit gewissen Anlaufschwierigkeiten zu rechnen ist, scheint diese Zahl überraschend hoch. Wie sie zustande kommt, wird sich erst durch weitere Untersuchungen klären lassen. Möglicherweise neigt die Polizeipraxis bisher teilweise dazu, auch Anzeigen eher bagatellhafter Vorgänge dieser Art im Zweifel nach § 238 StGB zu verfolgen.49 Dafür sprechen auch Erfahrungen mit neuen Tatbeständen des Wirtschaftsstrafrechts, deren Auslegung in der Anfangsphase ebenfalls zu einem hohen Anteil unrichtiger Zuordnungen geführt hat.50 Immerhin gilt Stalking in der kriminologischen Literatur als eines der Phänomene, die in den letzten Jahren erfolgreich in der Öffentlichkeit als soziale Probleme definiert worden sind.51 Die allgemeine Aufmerksamkeit, die durch die Berichterstattung über prominente Geschädigte, aber auch über die neue gesetzliche Regelung hergestellt wurde, könnte dazu führen, dass die Anzahl von Strafanzeigen noch zunimmt. Der empirischen Forschung zufolge neigten potentielle Opfer von Stalking bisher nämlich nicht gerade zur Einschaltung der Polizei. Nach beiden deutschen Befragungen waren es gerade einmal 20 % der Betroffenen; manche wandten sich eher an Beratungsstellen oder Therapeuten. Zwar liegt es auf der Hand, dass sich diese Zurückhaltung in schwerer wiegenden Fällen relativieren wird. Aber selbst bei körperlichen oder sexuellen Angriffen wurde – je nach Untersuchung – nur jeder 2. bis 5. Fall angezeigt.52 Auffällig ist darüber hinaus, dass 2/3 der Personen, die Anzeige erstattet hatten, über Schwierigkeiten berichteten, der Polizei den Ernst der Situation zu vermitteln.53 Offenbar kam es in einigen dieser Fälle nicht zu einem Ermittlungsverfahren. Das erinnert an einen – eigentlich überwunden geglaubten – polizeilichen Umgang mit Gewalt im sozialen Nahraum, bei dem die Polizei sich für „private Konflikte“ nicht für zuständig hält. Neuere Studien berichten demgegenüber von positiven Veränderungen. Das gilt nicht zuletzt für die Zeit seit Inkrafttreten des Gewaltschutzge___________ 49

Fünfsinn, FS Kreuzer, 2. Aufl. 2009, S. 170 (180 f.). Ein Beispiel ist der Tatbestand des Kreditbetrugs (§ 265b StGB). Mitte der 1980er Jahre stellte Kießner, Kreditbetrug, 1985, S. 95, fest, dass nur wenige polizeilich registrierte Verdachtsfälle die Voraussetzungen dieses Delikts erfüllten. Heute unterscheidet die polizeiliche Kriminalstatistik zwischen „Kreditbetrug § 265b StGB“ und „Kreditbetrug § 263 StGB“. 51 Albrecht, FPR 2006, 204. 52 Dreßing et al., Psychiatrische Praxis 32 (2005) S. 73 (76); Voß et al., Stalking in Deutschland, 2006, S. 85. 53 Auch wenn der konkrete Zeitpunkt der Viktimisierung in einer Teilgruppe der Untersuchung von Voß et al. (Stalking in Deutschland, 2006, S. 39, 85 ff.) im Durchschnitt mehr als 3 Jahre zurücklag, fallen die Vorfälle in eine Zeit, in der die öffentliche Diskussion über Gewalt im privaten Raum auch die Strafverfolgungsbehörden erreicht hatte. 50

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setzes und flankierender Maßnahmen.54 Aber diese Untersuchungen betreffen nur wenige Stalking-Fälle. Wenn die Staatsanwaltschaft sich mit Strafanzeigen wegen beharrlicher Nachstellung beschäftigt, stehen ihr verschiedene Verfahrensalternativen zur Verfügung. Der Grundtatbestand ist nach § 238 I StGB mit nicht mehr als 3 Jahren Freiheitsstrafe bedroht. Das spricht für einen eher geringen Unrechtsgehalt, der mit Strafvorschriften wie der Verletzung von Unterhalts- und Erziehungspflichten (§§ 170–171 StGB) oder der fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB) vergleichbar ist. Aus staatsanwaltschaftlicher Sicht wird es nahe liegen, diese Verfahren schnell und ohne großen Aufwand zu erledigen. Schnelligkeit ist nicht nur im Hinblick auf den Beschleunigungsgrundsatz erwünscht, sondern auch aus der Sicht des Opferschutzes. Deshalb ist vorgeschlagen worden, das beschleunigte Verfahren nutzbar zu machen.55 Allerdings setzt ein solcher Antrag nach § 417 StPO einen einfachen Sachverhalt oder eine klare Beweislage voraus. Daran dürfte es häufig fehlen, weil das Bedürfnis nach einer Hauptverhandlung eher in Fällen mit mehreren Taten entstehen wird, womit auch die Übersichtlichkeit für sämtliche Verfahrensbeteiligte schwindet.56 Zwar ist eine Nebenklage (§ 395 I Nr. 4 StPO) auch im beschleunigten Verfahren möglich, und zwar nach überwiegender Auffassung bereits mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Entscheidung in dieser besonderen Verfahrensart.57 Doch werden die mit der Nebenklage verbundenen Verfahrensrechte durch das beschleunigte Verfahren eher konterkariert. Erfahrungen mit Strafverfahren wegen häuslicher Gewalt zeigen, dass Verfahrenseinstellungen durch die Staatsanwaltschaft in der Praxis recht nahe liegen.58 Erste Berichte aus der Praxis der Staatsanwaltschaften lassen erkennen, dass die Einstellungsquote in Verfahren nach § 238 StGB ähnlich hoch ist. ___________ 54 Siehe Löbmann/Herbers, Neue Wege gegen häusliche Gewalt, 2005, S. 152 ff.; Müller/Schröttle, Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, 2004, S. 197; Rupp, in: dies. (Hrsg.), Rechtstatsächliche Untersuchung zum Gewaltschutzgesetz, 2005, S. 121 (151 ff.); Steffen, in: Kury/Obergfell-Fuchs (Hrsg.), Gewalt in der Familie, 2005, S. 17. 55 Janovsky, Stellungnahme in der Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 18.10.2006, S. 5 (verfügbar unter http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/anhoerungen/Archiv/06_Stalking/04_StN/index.html). 56 In der Literatur wird angenommen, dass bereits die Beteiligung eines Verteidigers dem beschleunigten Verfahren grundsätzlich entgegensteht; siehe Loos/Radtke, NStZ 1995, 569 (572); 1996, 7 (10 f.). 57 LR-StPO/Gössel, 25. Aufl. 2000, Vor § 417 Rn. 26; Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl. 2009, § 417 Rn. 7. 58 Limmer/Mengel, in: Rupp (Hrsg.), Rechtstatsächliche Untersuchung zum Gewaltschutzgesetz, 2005, S. 221 (247 ff.); Mönig, Häusliche Gewalt und die strafjustizielle Erledigungspraxis, 2007, S. 88 ff.; Rupp, in: dies. (Hrsg.), Rechtstatsächliche Untersuchung zum Gewaltschutzgesetz, 2005, S. 121 (211).

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Hinzu kommt der Eindruck, dass bei einigen Strafanzeigen große Schwierigkeiten bestehen, die angebliche Tathandlung hinreichend zu konkretisieren oder auch nur der beschuldigten Person nachvollziehbar zuzuordnen.59 Bei Verfahrenseinstellungen nach Opportunitätsvorschriften ist sogar zu befürchten, dass die Beschuldigten damit eher zu einer Fortsetzung der Tat veranlasst werden und möglicherweise eine Eskalation provoziert wird, die durch das Strafverfahren gerade verhindert werden soll.60 Obwohl die Einführung des § 238 StGB signalisieren soll, dass die Rechtsordnung beharrliche Nachstellungen ernst nimmt, wurde der Grundtatbestand als Privatklagedelikt ausgestaltet (§ 238 IV StGB, § 374 I Nr. 5 StPO). Das hat für die Betroffenen den eher zweifelhaften Vorzug, die Verfolgung notfalls auch selbst in die Hand nehmen zu können. In der Praxis hat die Einordnung als Privatklagedelikt aber seit langem hauptsächlich einen „Einstellungseffekt“, weil Privatklagen kaum erhoben werden; mit dem Verweis auf den Privatklageweg (§ 376 StPO) erweitern sich lediglich die Einstellungsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft.61 Eine Anklage wird insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die beschuldigte Person strafrechtlich vorbelastet ist, noch weitere Strafverfahren anhängig sind oder zivilrechtliche Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz erfolglos waren. Selbst dann kann die Nachstellung für die Strafjustiz zur unwesentlichen Nebenstraftat werden, die neben einer ohnehin zu erwartenden Strafe nicht beträchtlich ins Gewicht fällt (§§ 154 und 154a StPO). Eine Verurteilung ist nach all dem voraussetzungsreich. Es bleibt zu erwarten, dass es trotz einer beträchtlichen Anzahl polizeilich registrierter Verdachtsfälle nur zu wenigen Verurteilungen wegen beharrlicher Nachstellung kommen wird, bei denen es sich fast immer um Geld- oder Bewährungsstrafen handeln dürfte. Dafür sprechen auch die Erfahrungen mit der Strafvorschrift des § 4 GewSchG.62 Nach den vorläufigen Ergebnissen der Strafverfolgungsstatistik wurden bis Ende 2007 bundesweit lediglich 110 Personen abgeurteilt und 88 verurteilt, davon 77 zu einer Geldstrafe.63 Geldstrafen sind jedoch wenig geeignet zur Siche___________ 59

Fünfsinn, FS Kreuzer, 2. Aufl. 2009, S. 170 (180). Freudenberg, NJ 2006, 535 (539). 61 Buettner, ZRP 2008, 124 (125); LR-StPO/Hilger, 25. Aufl. 1998, Vor § 374 Rn. 4; Mönig, Häusliche Gewalt und die strafjustizielle Erledigungspraxis, 2007, S. 89, 106 ff. Nach der Statistik der Staatsanwaltschaften wurden zuletzt (Statistisches Bundesamt, Staatsanwaltschaften 2007, S. 26) jährlich rund 213.000 Verfahren auf den Weg der Privatklage verwiesen; eine deliktsspezifische Auswertung ist bisher jedoch nicht möglich. 62 Limmer/Mengel, in: Rupp (Hrsg.), Rechtstatsächliche Untersuchung zum Gewaltschutzgesetz, 2005, S. 221 (249); Pollähne, in: Barton (Hrsg.), Beziehungsgewalt und Strafverfahren, 2004, S. 133; Rupp, in: dies. (Hrsg.), Rechtstatsächliche Untersuchung zum Gewaltschutzgesetz, 2005, S. 121 (211 ff.). 63 Statistisches Bundesamt, Strafverfolgung 2007, S. 34 f., 98. 60

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rung vor weiteren Nachstellungen oder einer Eskalation des Konflikts.64 Auffällig ist, dass eine entsprechende Verfahrens- und Sanktionspraxis auch aus Ländern berichtet wird, in denen strafrechtliche Stalking-Tatbestände schon vor längerer Zeit eingeführt wurden.65

III. Schluss Auch wenn Polizei und Strafverfolgungsbehörden Verfahren wegen des Verdachts beharrlicher Nachstellungen so ernst nehmen wie Anzeigen wegen möglicher Gewalthandlungen im privaten Raum, zeichnet sich ab, dass der neue Straftatbestand des § 238 StGB nur geringe praktische Bedeutung im Strafverfahren gewinnen wird. Verurteilungen wegen einer solchen Tat werden selten vorkommen. Soweit es überhaupt zu einer formellen Sanktionierung kommt, wird sich die Strafzumessungspraxis auf Geldstrafen konzentrieren. Das Gewaltschutzgesetz und flankierende polizeirechtliche Regelungen werden in vielen Fällen effektivere Interventionsmöglichkeiten bieten. Es gibt Hinweise, dass informelle Interventionen der Polizei durch Verwarnungen oder „Gefährderansprachen“ in einem großen Anteil der Fälle zu einer Beendigung der Nachstellungshandlungen führen.66 Wie das Recht der Gefahrenabwehr zeigt, braucht es dazu weder eine besondere Eingriffsgrundlage noch einen zusätzlichen Straftatbestand. Viel spricht dafür, dass der strafrechtliche Schutz vor beharrlichen Nachstellungen eine Erscheinungsform modernen Strafrechts ist, das andere Präventionsmechanismen vor allem durch symbolische Wirkungen ergänzt. Eine Gesetzgebung, die dieses Ziel in den Vordergrund stellt, kann sich darauf berufen, eine „Strafbarkeitslücke“ teilweise geschlossen zu haben. Sie läuft jedoch Gefahr, Erwartungen an das Strafrecht zu wecken, die es aus strukturellen Gründen nicht einlösen kann. Die Gesetzgebung hat sich mit der Ausgestaltung des Nachstellungstatbestands an die fragmentarischen Formen des Strafrechts gehalten – trotz der unklaren Variante des § 238 I Nr. 5 StGB. Doch sie könnte sich mit dem Bestreben, eine möglichst wirksame Lösung für ein neu erkanntes soziales Problem zu schaffen, in diesen Formen verfangen haben. Das festzustellen, muss indes einer Evaluation des § 238 StGB überlassen bleiben, die erst in einigen Jahren möglich sein wird. ___________ 64

So bereits Albrecht, FPR 2006, 204 (206). Harris, An evaluation of the use and effectiveness of the Protection from Harassment Act 1997, 2000, S. 29 ff.; Ogilvie, Stalking, 2000, S. 106 ff. 66 Dreßing et al., Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie 9 (2008) S. 20 (26); Tjaden/Thoennes, Stalking in America, 1998, S. 11 ff. 65

Zur Strafbarkeit der Mitwirkung am Suizid Von Dieter Dölling

I. Einleitung Der verehrte Jubilar hat sich in seinem umfangreichen Werk auch eingehend mit Fragen der Täterschaft und Teilnahme befasst.1 Deshalb soll Gegenstand des vorliegenden Beitrags mit der Strafbarkeit der Mitwirkung am Suizid eine Fragestellung sein, bei der die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme eine Rolle spielt und über deren Beantwortung bisher trotz einer umfangreichen Diskussion keine völlige Einigkeit erzielt werden konnte.

II. Der Stand von Rechtsprechung und Literatur Als weitgehend geklärt kann angesehen werden, dass Anstiftung und Beihilfe zur Selbsttötung straflos sind, weil die Selbsttötung keinen Straftatbestand erfüllt und es somit an der nach den §§ 26 und 27 StGB erforderlichen Haupttat fehlt.2 Die Ansicht Schmidhäusers3, der Selbstmörder erfülle den Totschlagstatbestand und sei lediglich entschuldigt, hat sich mit Recht nicht durchgesetzt, denn Zweck der §§ 211 ff. StGB ist der Schutz vor Fremdtötungen.4 Dies wird daran deutlich, dass das StGB in § 216 die Tötung auf Verlangen unter Strafe stellt, die in vielen Partikularstrafgesetzbüchern des 19. Jahrhunderts ebenfalls

___________ 1

Vgl. Maiwald, Historische und dogmatische Aspekte der Einheitstäterlösung, FS Bockelmann, 1979, S. 344 ff.; ders.,Täterschaft, Anstiftung und Beihilfe – Zur Entstehung der Teilnahmeformen in Deutschland, FS F.-C. Schroeder, 2005, S. 283 ff.; siehe auch Maiwalds Rezensionen von Veröffentlichungen zur Teilnahmelehre in ZStW 88 (1976), 712 ff. und ZStW 93 (1981), 864 ff. 2 RGSt 70, 313, 315; BGHSt 2, 150, 152; 6, 147, 154; 24, 342, 343; 32, 262, 263 f.; 367, 371 f.; 46, 279, 284; Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, Vor § 211 Rn. 10; Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, Vor § 211 Rn. 9 f.; Wessels/Hettinger, Strafrecht Bes. Teil 1, 32. Aufl. 2008, Rn. 43. 3 FS Welzel, 1974, S. 819, 821 f. 4 Die Ansicht Schmidhäusers ablehnend Schönke/Schröder/Eser, StGB, 27. Aufl. 2006, Vor § 211 Rn. 33; Krey/Heinrich, Strafrecht Bes. Teil 1, 14. Aufl. 2008, Rn. 98.

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enthaltene Strafbarkeit der Beteiligung am Suizid aber nicht übernommen hat.5 Eine Fremdtötung liegt vor, wenn der Täter die letzte irreversible Ursache für den Tod des Opfers setzt – also z. B. den tödlichen Schuss abgibt; eine Selbsttötung ist gegeben, wenn das Opfer den letzten irreversiblen Akt selbst vollzieht – sich also selbst die Pistole an die Schläfe setzt und abdrückt.6 Der Auffassung von Schilling, nach der in der Mitverursachung einer Selbsttötung neben der strafrechtlich unerheblichen Suizidteilnahme stets eine täterschaftliche Fremdtötung liegt,7 kann nicht gefolgt werden, weil die bloße Mitverursachung zur Begründung von Täterschaft nicht ausreicht und diese Auffassung die gesetzgeberische Entscheidung, die Suizidbeteiligung straflos zu lassen, unterläuft.8 Hat der Suizident selbst Hand an sich gelegt, können wegen der Straflosigkeit von Anstiftung und Beihilfe zur Selbsttötung Mitwirkungshandlungen einer anderen Person an diesem Geschehen nur dann zur Strafbarkeit dieser Person führen, wenn ihr die Tötungshandlung des Suizidenten kraft mittelbarer Täterschaft zuzurechnen ist und sie deshalb Täter einer Fremdtötung ist.9 Die Frage, wann dies der Fall ist, wird unterschiedlich beantwortet. Nach der Rechtsprechung10 ist für die mittelbare Täterschaft des Mitwirkenden eine solche „Willensunterwerfung“ des Suizidenten erforderlich, dass dieser „nur noch als Werkzeug“ des Mitwirkenden, „als ‚Tatmittler‘ bei einer gegen ihn selbst gerichteten Tötungshandlung“ erscheint.11 Dies ist nach dem BGH der Fall, wenn der Suizident einen der psychischen Zustände aufweist, die § 20 StGB nennt, oder sich in einer Notstandslage im Sinne von § 35 StGB befindet.12 Wird das Opfer durch Täuschung zur Vornahme der Tötungshandlung bewogen, kommt es nach der Rechtsprechung auf Art und Tragweite des Irr___________ 5 Dölling, GA 1984, 71, 76. Entgegen Bringewat, ZStW 87 (1975), 632, 646 ff. kann eine Strafbarkeit der Beteiligung an der Selbsttötung nach §§ 212, 26, 27 StGB nicht gewohnheitsrechtlich begründet werden. 6 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, S. 569 f.; Dölling a.a.O. 7 Schilling, JZ 1979, 159, 163 f., 166 f. Zu der dieser Auffassung zugrunde liegenden Beteiligungslehre vgl. Schilling, Der Verbrechensversuch des Mittäters und des mittelbaren Täters, 1975. 8 Vgl. Hirsch, JR 1979, 429, 431; R. Schmitt, JZ 1979, 462, 464 f.; kritisch zu Schillings Beteiligungslehre Maiwald, ZStW 88 (1976), 712, 744 ff.; Küper, Versuchsbeginn und Mittäterschaft, 1978, S. 52 ff. 9 Zur Frage, ob die Herbeiführung einer Selbstschädigung des Opfers ebenso wie der Einsatz einer dritten Person zur Tatbegehung in die Kategorie der mittelbaren Täterschaft fällt oder ob ein Fall der unmittelbaren Täterschaft vorliegt, vgl. M.-K. Meyer, Ausschluss der Autonomie durch Irrtum, 1984, S. 8 ff.; Küper, JZ 1986, 219, 220. 10 Darstellung der Rechtsprechung bei Scheffler, Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (1999), S. 341 ff. 11 BGHSt 2, 150, 151 f. 12 BGHSt 32, 38, 41 f.

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tums im Einzelfall an.13 Mittelbare Täterschaft liegt nach dem BGH vor, wenn der Mitwirkende dem Opfer verschleiert, dass es eine Ursache für den eigenen Tod setzt.14 Die Frage, ob die Täuschung, gemeinsam mit dem Opfer aus dem Leben scheiden zu wollen, zur Begründung mittelbarer Täterschaft ausreicht, hat der BGH offen gelassen und in dem zu entscheidenden Fall mittelbare Täterschaft bejaht, weil die Mitwirkende zugleich die Herrschaft über den von ihr geplanten Geschehensablauf fest in der Hand gehabt habe.15 In einer Reihe von Fällen hat der BGH in einem eher weiten Umfang Freiverantwortlichkeit des Opfers angenommen.16 So hat er Freiverantwortlichkeit bei einer Suizidentin bejaht, von der bekannt war, dass sie „oft – vor allem nach dem Genuß von Alkohol – plötzlich bedrückt und schwermütig wurde und bereits mehrere Selbstmordversuche unternommen hatte“.17 Der Suizid erfolgte nach dem Besuch einer Gaststätte. Der Blutalkoholgehalt der Suizidentin betrug zur Tatzeit 1,45 ‰.18 Freiverantwortlichkeit hat der BGH auch bei einem durch eine Heroininjektion verstorbenen Mann angenommen, der „als Konsument harter Drogen bekannt“ war19 und zum Todeszeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von 1,03 ‰ hatte20. Auch bei einem freiverantwortlichen Selbsttötungsentschluss bestraft die Rechtsprechung einen Garanten, der den handlungsunfähig gewordenen Suizidenten nicht rettet, grundsätzlich wegen eines täterschaftlich begangenen Tötungsdelikts durch Unterlassen, da nach dem Eintritt der Handlungsunfähigkeit des Suizidenten die Tatherrschaft allein bei dem Garanten liege.21 Ausnahmsweise hat der BGH Straffreiheit eines Arztes angenommen, der aufgrund einer vertretbaren ärztlichen Gewissensentscheidung von Rettungsbemühungen Abstand genommen hatte.22 Außerdem sieht die Rechtsprechung die durch einen ___________ 13

BGH, a.a.O. BGH, a.a.O., 42. 15 BGH GA 1986, 508. 16 Vgl. Bernsmann, in: Bernsmann/Ulsenheimer (Hrsg.), Bochumer Beiträge zu aktuellen Strafrechtsthemen. Vorträge anlässlich des Symposions zum 70. Geburtstag von Gerd Geilen, 2003, S. 9, 12. 17 BGHSt 24, 342, 343. 18 A.a.O. 19 BGHSt 32, 262. 20 BGHSt 32, 262, 263. Die Fälle betrafen den Vorwurf der fahrlässigen Tötung durch Mitverursachung eines Suizids bzw. einer Selbstgefährdung. Aus der Straflosigkeit der vorsätzlichen Teilnahme an der Selbsttötung folgert der BGH, dass auch die fahrlässige Mitverursachung eines Suizids nicht strafbar ist (vgl. BGHSt 24, 342). 21 BGHSt 2, 150; 32, 367, 373 f.; BGH NJW 1960, 1821; BayObLG NJW 1973, 565, 566. 22 BGHSt 32, 367, 380 f. Vgl. auch OLG München NJW 1987, 2940, 2943 f. 14

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Selbsttötungsversuch herbeigeführte Gefahrenlage als Unglücksfall an, der grundsätzlich eine Hilfeleistungspflicht nach § 323c StGB auslöst.23 Im Schrifttum besteht Einigkeit darüber, dass eine Fremdtötung in mittelbarer Täterschaft vorliegt, wenn der Täter das Opfer über die tödliche Wirkung der von diesem vorgenommenen Handlung täuscht oder einen entsprechenden Irrtum des Opfers ausnutzt.24 Konsens herrscht auch darüber, dass bei bewusster Selbsttötung die Frage, ob der daran Mitwirkende mittelbarer Täter einer Fremdtötung ist, von der Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungsentschlusses abhängt. Hat der Suizident nicht freiverantwortlich gehandelt, liegt eine Fremdtötung in mittelbarer Täterschaft vor, ist eine freiverantwortliche Willensentscheidung des Suizidenten gegeben, stellt die Mitwirkung eine straflose Beteiligung an einer Selbsttötung dar.25 Umstritten ist, nach welchem Maßstab die Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungsentschlusses zu beurteilen ist. Die Auffassungen hierzu werden im Allgemeinen in zwei „Lager“ eingeteilt: Nach der „Exkulpationslösung“ ist die Freiverantwortlichkeit in entsprechender Anwendung der die strafrechtliche Verantwortlichkeit für tatbestandsmäßige Fremdschädigungen regelnden §§ 19, 20, 35 StGB und 3 JGG zu beurteilen.26 Die „Einwilligungslösung“ nimmt demgegenüber Freiverantwortlichkeit an, wenn der Selbsttötungsentschluss die Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung erfüllt.27 ___________ 23

BGHSt 6, 147 gegen BGHSt 2, 150; BGHSt 13, 162, 168 f.; 32, 367, 375 f. LK-StGB/Schünemann, 12. Aufl. Bd. 1, 2007, § 25 Rn. 106; Wessels/Hettinger (Fn. 2), Rn. 51. 25 Eser (Fn. 4), Vor § 211 Rn. 36. 26 Antoine, Aktive Sterbehilfe in der Grundrechtsordnung, 2004, S. 246; Arzt, in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht Bes. Teil, 2. Aufl. 2009, § 3 Rn. 26 ff.; Beckert, Strafrechtliche Probleme um Suizidbeteiligung und Sterbehilfe unter besonderer Berücksichtigung historischer und ethischer Aspekte, 1996, S. 146, 159 f.; Bottke, Suizid und Strafrecht, 1982, S. 250 ff.; Charalambakis, GA 1986, 485, 489 ff.; Dannecker/Stoffers, StV 1993, 642, 644; von Dellingshausen, Sterbehilfe und Grenzen der Lebenserhaltungspflicht des Arztes, 1981, S. 268 f.; Dölling (Fn. 5), S. 76, 78 f.; Gallas, JZ 1960, 649, 686, 692; Günzel, Das Recht auf Selbsttötung, seine Schranken und die strafrechtlichen Konsequenzen, 2000, S. 178 ff.; Hirsch (Fn. 8); Jäger, Examens-Repetitorium Strafrecht Allg. Teil, 2. Aufl. 2006, Rn. 247; Jakobs, Strafrecht Allg. Teil, 2. Aufl. 1991, Abschn. 21 Rn. 98; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allg. Teil, 5. Aufl. 1996, S. 666; Klinger, Die Strafbarkeit der Beteiligung an einer durch Täuschung herbeigeführten Selbsttötung, jur. Diss. Bielefeld 1992, S. 94; Küpper, Strafrecht Bes. Teil 1, 3. Aufl. 2007, Teil I § 3 Rn. 12 ff.; Roxin, Strafrecht All. Teil Bd. II, 2003, § 25 Rn. 54 ff., 70 ff., 144 ff.; Schneider, in: MK, Bd. 3, 2003, Vor § 211 Rn. 54 ff.; Schünemann (Fn. 24), § 25 Rn. 72 ff., 106 ff., 119 ff.; im Ansatzpunkt auch Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten, 1993, S. 36 ff. 27 Amelung, in: Schünemann/Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des europäischen Strafrechts. Coimbra-Symposium für Claus Roxin, 1995, S. 247, 254, 257; Brandts/ Schlehofer, JZ 1987, 442, 443 f.; Eisele, Strafrecht – Bes. Teil I, 2008, Rn. 176; Freund, Strafrecht Allg. Teil, 2. Aufl. 2009, § 5 Rn. 75, § 10 Rn. 97; Frisch, Tatbestandsmäßiges 24

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Weitgehende Einigkeit besteht in der Literatur darüber, dass dann, wenn ein freiverantwortlicher Selbsttötungsentschluss vorliegt und nicht geändert worden ist, ein Garant, der den handlungsunfähig gewordenen Suizidenten nicht rettet, nicht wegen eines Tötungsdelikts durch Unterlassen strafbar ist.28 Umstritten ist, ob der Suizid einen Unglücksfall i. S. des § 323c StGB darstellt. Dies wird teils generell,29 teils nur für den Fall bejaht, dass der Selbsttötungsentschluss nicht freiverantwortlich war30.

III. Die aktive Beteiligung am Suizid Wird der Blick zunächst auf die Mitwirkung an einem Suizid durch Tun und die Beurteilung der Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungsentschlusses gerichtet, kann festgestellt werden, dass sich die Exkulpationslösung und die Einwilligungslösung darin überlappen, dass in den Fällen der §§ 19, 20, 35 StGB, 3 JGG der Selbsttötungsentschluss als unfrei angesehen wird.31 Der ___________ Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 166; Eser (Fn. 4), Vor § 211 Rn. 36; Geilen, JZ 1974,145, 151; Gropp, Strafrecht Allg. Teil, 3. Aufl. 2005, § 10 Rn. 74 mit Fn. 87; Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 39 f.; Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, 2004, S. 228 ff.; LK-StGB/Jähnke, 11. Aufl. Bd. 5, 2005, Vor § 211 Rn. 26; Kindhäuser, Strafrecht Bes. Teil I, 3. Aufl. 2007, § 4 Rn. 15; Krey/Heinrich (Fn. 4), Rn. 89; Laber, Der Schutz des Lebens im Strafrecht, 1997, S. 254 f.; Lackner/Kühl (Fn. 2), Vor § 211 Rn. 13a; M.-K. Meyer (Fn. 9), S. 221 ff.; NK-StGB/Neumann, 2. Aufl. 2005, Vor § 211 Rn. 61; Niestroj, Die rechtliche Bewertung der Selbsttötung und die Strafbarkeit der Suizidbeteiligung, jur. Diss. Göttingen 1983, S. 199 ff.; Otto, Grundkurs Strafrecht Allg. Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004, § 21 Rn. 103; Rengier, Strafrecht Bes. Teil II, 10. Aufl. 2009, § 8 Rn. 4; HK-GS/ Rössner/Wenkel, 2008, Vor § 211 Rn. 11; NK-StGB/Schild, 2. Aufl. 2005, § 25 Rn. 48; LK-StGB/Walter, 12. Aufl. Bd. 1, 2007, Vor § 13 Rn. 113; Wessels/Beulke, Strafrecht Allg. Teil, 38. Aufl. 2008, Rn. 189, 539; Wessels/Hettinger (Fn. 2), Rn. 48; ähnlich Schroeder, in: Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht Bes. Teil Teilbd. 1, 9. Aufl. 2003, § 1 Rn. 20. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 473 ff., geht von der Einwilligungslösung aus, fasst aber den Verantwortungsbereich des Opfers bei der Beteiligung an einer Selbstschädigung weiter als bei der Einwilligung. Gössel, in: Gössel/Dölling, Strafrecht Bes. Teil 1, 2. Aufl. 2004, § 2 Rn. 86, zieht die Kriterien der Exkulpationslösung und der Einwilligungslösung als Indizien für die finale Tatherrschaft heran. 28 Eser (Fn. 4), § 211 Rn. 43; Wessels/Hettinger (Fn. 2), Rn. 57. 29 Dölling, NJW 1986, 1011, 1016; Otto, Grundkurs Strafrecht. Die einzelnen Delikte, 7. Aufl. 2005, § 6 Rn. 61, § 7 Rn. 5; HK-GS/Verrel (Fn. 27), § 323c Rn. 6; Wessels/Hettinger (Fn. 2), Rn. 60. 30 Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 4), § 323c Rn. 7; Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten, 2006, S. 142; SK-Rudolphi/ Stein, § 323c Rn. 8; Schroeder, in: Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht Bes. Teil Teilbd. 2, 9. Aufl. 2005, § 55 Rn. 15; NK-StGB/Wohlers (Fn. 27), § 323c Rn. 5. 31 Wessels/Beulke (Fn. 27), Rn. 189.

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praktisch relevante Unterschied besteht darin, dass die Einwilligungslösung über diesen Bereich hinaus in weiteren Fällen die Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungsentschlusses verneint und damit zur Strafbarkeit des Mitwirkenden wegen Fremdtötung in mittelbarer Täterschaft gelangt. Es stellt sich daher die Frage, ob dieser Ausdehnung der Strafbarkeit zu folgen ist. Die Heranziehung der Einwilligungsgrundsätze für die Beurteilung der Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungsentschlusses wirft eine Reihe von Problemen auf. Bei der Abgrenzung zwischen strafloser Teilnahme am Suizid und Fremdtötung in mittelbarer Täterschaft geht es um die Frage, ob dem Mitwirkenden die Handlung des Suizidenten zuzurechnen ist. Bei der Einwilligung stellt sich eine solche Frage nicht. Vielmehr steht fest, dass eine Handlung des Täters vorliegt, und ist anhand der Voraussetzungen der Einwilligung zu entscheiden, ob diese Handlung gerechtfertigt ist.32 Die Übertragbarkeit der Einwilligungsgrundsätze auf die Mitwirkung am Suizid ist fraglich, weil bei der in der Einwilligungssituation bestehenden Fremdgefährdung die objektive Herrschaft des Täters über den Erfolg aus Gründen des Opferschutzes strenge Voraussetzungen für die Einwilligung rechtfertigt, während bei der Mitwirkung an der Selbsttötung der Suizident im objektiven Geschehen eine dominierende Rolle spielt.33 Die Vertreter der Einwilligungslösung begründen die Übertragung der im Vergleich zur Exkulpationslösung strengeren Einwilligungsregeln auf die Selbsttötung damit, dass bei der Selbsttötung die bei der Fremdschädigung wirksame Appellwirkung des rechtlichen Verbots und damit ein hemmendes Gegenmotiv entfalle.34 Der Wegfall dieses Gegenmotivs wird jedoch durch den Selbsterhaltungstrieb des Menschen ausgeglichen.35 Die Anwendung unterschiedlicher Maßstäbe bei Selbst- und Fremdtötung führt die Einwilligungslösung in erhebliche Schwierigkeiten, wenn Selbst- und Fremdtötung in einer Handlung zusammenfallen.36 Dies ist z. B. der Fall, wenn der Hintermann den schuldfähigen Vordermann, der sich in einer von der Einwilligungslösung als unfrei angesehenen psychischen Situation befindet, dazu überredet, sich und andere Menschen durch ein Selbstmordattentat in die Luft ___________ 32 Zur umstrittenen Einordnung der Einwilligung als Rechtfertigungsgrund vgl. Lackner/Kühl (Fn. 2), Vor § 32 Rn. 10 m.w.N. 33 Dölling (Fn. 5), S. 78 f.; vgl. auch Schünemann (Fn. 24), § 25 Rn. 73: „Es ist ein Unterschied, ob man selbst Hand an sich legt oder sich einem anderen ausliefert“. Zu den Unterschieden zwischen Fremdschädigung und %eteiligung an einer Selbstschädigung siehe auch Murmann (Fn. 27), S. 479, 487, 491 f., und Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 95. Für Gleichbehandlung von Fremdschädigung und Beteiligung an einer Selbstschädigung M. Heinrich, Rechtsgutszugriff und Entscheidungsträgerschaft, 2002, S. 73 ff., 327 ff. 34 Geilen (Fn. 27), S. 151; Herzberg (Fn. 27), S. 36; Neumann (Fn. 27). 35 Roxin, FS Dreher, 1977, S. 331, 346; Jäger (Fn. 26); Dölling (Fn. 5), S. 79. 36 Vgl. Bottke, Täterschaft und Gestaltungsherrschaft, 1992, S. 76 f.

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zu sprengen. Soll hier der Hintermann hinsichtlich des Todes des Vordermannes mittelbarer Täter und bezüglich des Todes der anderen Menschen Anstifter sein,37 obwohl es um seinen Einfluss auf ein und dieselbe Handlung des Vordermannes geht? Oder soll einheitlich Anstiftung angenommen werden, weil der Zündung des Sprengsatzes ein rechtliches Verbot entgegenstand, mit der Folge, dass der Hintermann hinsichtlich der Mitwirkung an der Selbsttötung straffrei wäre, wenn er den Suizidenten dazu bewegt, nicht nur sich selbst, sondern durch dieselbe Handlung auch noch andere Menschen zu töten? Es fällt schwer, für diese Fallkonstellation auf der Grundlage der Einwilligungslehre eine befriedigende Lösung zu finden. Probleme ergeben sich für die Einwilligungslösung auch, wenn der Suizident die Selbsttötung für rechtswidrig hält.38 Dann steht der Selbsttötung aus der Sicht des Suizidenten die Appellwirkung eines rechtlichen Verbots entgegen. Dies könnte dazu führen, dass in diesem Fall auch bei Zugrundelegung der Einwilligungslösung die Kriterien der Exkulpationslösung anzuwenden wären. Veranlasst nun jemand zwei schuldfähige, aber in einem von der Einwilligungslösung grundsätzlich als nicht freiverantwortlich angesehenen Zustand befindliche Personen, von denen die eine die Selbsttötung für rechtswidrig hält und die andere nicht dieser Ansicht ist, zu einem Doppelselbstmord, würde dies zu dem problematischen Ergebnis führen, dass der Hintermann hinsichtlich des Todes der einen Person straflos bliebe und wegen des Todes der anderen Person wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts zu bestrafen wäre. Weiterhin bestehen hinsichtlich der Maßstäbe, anhand derer die Einwilligungslösung die Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungsentschlusses beurteilt, erhebliche Unklarheiten. Teilweise wird von den Vertretern der Einwilligungslösung auf die Grundsätze der Einwilligung abgestellt,39 teilweise werden die Maßstäbe der Einwilligungslehre i.V. mit der Dogmatik der Ernstlichkeit des Verlangens i.S. von § 216 StGB für maßgeblich erklärt40. Wenn auf die Grundsätze der Einwilligung abgestellt wird, ist damit nicht selbstverständlich verbunden, dass auch § 216 StGB heranzuziehen ist, denn diese Vorschrift regelt keinen Fall der rechtfertigenden Einwilligung, sondern gewährt eine Strafmilderung.41 Die Voraussetzungen für eine wirksame Einwilligung und ein ernstli___________ 37

Dafür Amelung (Fn. 27), S. 253. Der BGH hat die Ansicht vertreten, dass die Rechtsordnung die Selbsttötung – von äußersten Ausnahmefällen abgesehen – als rechtswidrig werte (BGHSt 46, 279, 285). 39 Otto (Fn. 27); Rössner/Wenkel (Fn. 27). 40 Herzberg (Fn. 27); Krey/Heinrich (Fn. 27). Auf diese Unklarheit weist auch Schneider (Fn. 26), Vor § 211 Rn. 40, hin. 41 Die Frage, ob § 216 StGB ein selbstständiger Tatbestand oder eine unselbstständige Privilegierung des Totschlags ist, kann vorliegend dahinstehen (vgl. dazu Eser, Fn. 4, Vor § 211 Rn. 7). 38

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ches Verlangen i.S. von § 216 StGB müssen nicht übereinstimmen. So kann zweifelhaft sein, ob bei einem „Handeln in einer Augenblicksstimmung“, das als Beispiel für mangelnde Ernstlichkeit i.S. von § 216 StGB genannt wird,42 eine wirksame Einwilligung stets ausgeschlossen ist. Hinzu kommt, dass die Voraussetzungen für eine wirksame Einwilligung teilweise umstritten sind43 und die Konkretisierung des Merkmals der Ernstlichkeit in § 216 StGB Schwierigkeiten bereiten kann44. Unklarheiten bestehen auch im Hinblick auf die von den Vertretern der Einwilligungslösung als Voraussetzung für die Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungsentschlusses angeführte „natürliche Einsichtsfähigkeit“ und „geistige Reife“ des Lebensmüden.45 Wenn mit dieser Voraussetzung erreicht werden soll, dass über die auch von der Exkulpationslösung erfassten Fälle der §§ 19 und 20 StGB und des § 3 JGG hinaus die Freiverantwortlichkeit verneint werden kann, stellt sich die Frage, wie dann bei erwachsenen geistig gesunden Menschen zwischen vorhandener und fehlender Verantwortlichkeit abzugrenzen ist. Es müsste angegeben werden, welcher Grad an Reflexionsfähigkeit bei einem Menschen zu verlangen ist, um die „natürliche Einsichtsfähigkeit“ in die Bedeutung der Beendigung des eigenen Lebens zu bejahen.46 Außerdem wird teilweise nicht auf die „Einsichtsfähigkeit“ abgestellt, sondern darauf, ob „der Suizident Bedeutung und Tragweite seines Entschlusses überblicken kann und überblickt … und sich der Tragweite seiner Entscheidung bewusst“ ist.47 Danach reicht die Einsichtsfähigkeit für die Bejahung von Freiverantwortlichkeit nicht aus, sondern ist es erforderlich, dass der Suizident von dieser Fähigkeit auch Gebrauch macht und zur Einsicht in die Bedeutung der Selbsttötung gelangt. Unklar ist weiterhin, unter welchen Voraussetzungen eine depressive Verstimmung des Suizidenten zur Verneinung seiner Verantwortlichkeit führen soll. Teilweise wird die Verantwortlichkeit bei einer „Vertiefung vorübergehender Depression“ verneint,48 teilweise wird fehlende Verantwortlichkeit angenommen, wenn der Suizident „aus ‚heulendem Elend‘ in depressiver Ver___________ 42

Fischer (Fn. 2), § 216 Rn. 9. Vgl. zu der umstrittenen Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Täuschung die Wirksamkeit der Einwilligung ausschließt, Lackner/Kühl (Fn. 2), § 228 Rn. 8. 44 So wird z.B. die Ernstlichkeit i.S. des § 216 StGB bei „wesentlichen“ Motivirrtümern (Eser, Fn. 4, § 216 Rn. 8) oder „wesentlichen“ Willensmängeln (Rössner/Wenkel, Fn. 27, § 216 Rn. 7) verneint. 45 Wessels/Hettinger (Fn. 2), Rn. 49. 46 Vgl. auch Beckert (Fn. 26), S. 146, die darauf hinweist, dass nach der Einwilligungslehre unklar ist, „welches Ausmaß an Einsichtsfähigkeit zu fordern ist“. 47 Otto (Fn. 27). 48 Herzberg (Fn. 27), S. 40. 43

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stimmung“ handelt49 und teilweise wird ausgeführt, „eine durch Depression ausgelöste Entscheidung zum Suizid“ sei „nicht notwendig unfrei“50. Unsicherheiten ergeben sich auch, wenn „seelische Zermürbung“ des Suizidenten oder der „Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses“ als ausreichend angesehen werden, um eine freiverantwortliche Selbsttötung zu verneinen.51 Hiermit werden komplizierte Interaktionen zwischen zwei Menschen angesprochen, bei denen es sehr schwer ist festzustellen, wann die Beeinflussung der einen Person durch die andere einen Grad erreicht, der es gerechtfertigt erscheinen lässt, die beeinflusste Person als unfrei anzusehen. Nicht hinreichend geklärt ist auch, inwieweit Motivirrtümer des Suizidenten zum Ausschluss seiner Verantwortlichkeit führen.52 Während nach einer Auffassung „jeder Motivirrtum beachtlich und jeder durch ihn veranlasste Suizid unfrei ist“,53 genügt nach anderer Ansicht die Herbeiführung eines Motivirrtums für sich allein nicht, um den Selbsttötungsentschluss als unfrei anzusehen54. Wird auf das Fehlen „wesentlicher Willensmängel“ abgestellt,55 stellt sich die Frage, wie die Wesentlichkeit zu bestimmen ist. Keine Einigkeit besteht unter den Vertretern der Einwilligungslösung auch darüber, unter welchen Voraussetzungen eine Nötigung unterhalb der Schwelle des § 35 StGB zur Verneinung der Freiverantwortlichkeit des Suizidenten führt. Teilweise wird hierfür jede Nötigung i.S. des § 240 StGB als ausreichend angesehen,56 teilweise wird eine solche Einengung der Entscheidungsfreiheit verlangt, „dass die Selbstschädigung als letzter Ausweg erscheint“. Dies setze mindestens voraus, „dass das vom Drohenden in Aussicht gestellte Übel ebenso schwer wiegt wie der durch die erzwungene Handlung angerichtete Schaden“.57 Angesichts dieser Unsicherheiten verwundert es nicht, dass unter den Vertretern der Einwilligungslösung über die praktische Tragweite dieser Lösung keine Einigkeit besteht. So wird die Ansicht, wirklich „eigenverantwortlich legen allenfalls 5 % der Suizidenten Hand an sich“,58 von einem anderen Vertreter der Einwilligungslösung als „Missverständnis“ bezeichnet59. ___________ 49

Krey, Deutsches Strafrecht Allg. Teil Bd. 2, 3. Aufl. 2008, Rn. 142. Neumann (Fn. 27), Vor § 211 Rn. 62. 51 Wessels/Hettinger (Fn. 2), Rn. 51. 52 Vgl. Schneider (Fn. 26), Vor § 211 Rn. 62. 53 Mitsch, JuS 1995, 888, 892; ebenso möglicherweise Otto (Fn. 27), nach dem der „Suizident seinen Entschluss frei von Willensmängeln gefasst haben“ muss. 54 Lackner/Kühl (Fn. 2), Vor § 211 Rn. 136b. 55 Wessels/Hettinger (Fn. 2), Rn. 49. 56 Neumann (Fn. 27), Vor § 211 Rn. 64. 57 Kühl, Strafrecht Allg. Teil, 6. Aufl. 2008, § 20 Rn. 51. 58 Jähnke (Fn. 27), Vor § 211 Rn. 27. 59 Herzberg, JA 1985, 336, 342. 50

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Wenn die Einwilligungslösung trotz dieser Schwierigkeiten „mit Vehemenz, ja zuweilen fast schon mit messianischem Eifer“ vertreten wird,60 könnte das auf einem hinter der strafrechtsdogmatischen Position stehenden Strafbedürfnis beruhen. In bestimmten Fällen der Mitwirkung am Suizid wird eine Bestrafung für notwendig gehalten. Da anders als bei der Fremdtötung bei der Selbsttötung eine Strafbarkeit wegen Anstiftung oder Beihilfe nicht möglich ist, wird die Mitwirkung als mittelbare Täterschaft eingestuft und damit eine Bestrafung wegen Totschlags oder Mordes erreicht. Das Strafbedürfnis dürfte zum einen darauf beruhen, dass bestimmte Mitwirkungshandlungen am Suizid als höchst verwerflich und strafwürdig angesehen werden. So heißt es: „Das Rechtsgefühl verlangt … Strafe wegen Mordes“.61 Zum anderen dürfte das Strafbedürfnis auf dem Bestreben beruhen, einen strafrechtlichen Beitrag zu einer wirksamen Suizidprävention zu leisten. So wird der Exkulpationslösung vorgeworfen, dass „der von ihr für richtig befundene, dem unbefangenen Beobachter eher skandalös erscheinende, nahezu vollständige Aufbau des strafrechtlichen Suizidentenschutzes sachlich und moralisch nicht vertretbar ist“62 und wird von einer „mit Eifer betriebenen Demontage geradezu selbstverständlicher Solidaritätspflichten“ gesprochen63. Das Bemühen um wirksame Suizidprävention ist zu unterstützen. Zwar ist nicht jeder Suizid unfrei,64 häufig handelt es sich aber bei Selbsttötungen nicht um wohlüberlegte „Bilanzsuizide“, sondern um Verzweiflungstaten, die in einer dem Lebensmüden als ausweglos erscheinenden Situation begangen werden. Gelingt es, die Selbsttötung zu verhindern, bestehen vielfach gute Chancen, den Suizidenten endgültig für das Leben zurückzugewinnen.65 Es fragt sich jedoch, ob das Bemühen um Suizidprävention es rechtfertigt, die mittelbare Täterschaft in einer Weise auszudehnen, die in einer erheblichen Zahl von Fällen zu einer höchst unsicheren Abgrenzung zwischen Straflosigkeit und Strafbarkeit wegen Totschlages oder Mordes führt. Unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit erscheint die Exkulpationslösung vorzugswürdig, die zwar auch der Konkretisierung bedarf und deren Anhänger auch nicht in allen Punkten übereinstimmen,66 die aber mit ihrer Anknüpfung an die allgemein für die ___________ 60

Schneider (Fn. 26), Vor § 211 Rn. 41. Herzberg, JuS 1974, 374, 379. 62 Herzberg (Fn. 27), S. 39. 63 Geilen (Fn. 27), S. 145. 64 Zu weitgehend daher Bringewat (Fn. 5), S. 634, nach dem jeder Selbsttötungswille krankhaften Charakter hat. Zur Freiverantwortlichkeit des Suizidentschlusses vgl. die Beiträge in Pohlmeier/Schöch/Venzlaff (Hrsg.), Suizid zwischen Medizin und Recht, 1996. 65 Dölling, NJW 1986, 1011, 1014. 66 Vgl. etwa zur Behandlung von Motivirrtümern des Suizidenten Roxin (Fn. 26), § 25 Rn. 70 ff. einerseits und Schünemann (Fn. 24), § 25 Rn. 107 ff. andererseits. 61

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mittelbare Täterschaft herausgearbeiteten Regeln eine klarere Strukturierung als die Einwilligungslösung aufweist.67 In Nötigungskonstellationen kommt außerdem eine Strafbarkeit nach § 240 StGB in Betracht.68 Um dem Bedürfnis nach wirksamer Suizidprävention Rechnung zu tragen, könnte überlegt werden, das geltende Strafrecht um einen Tatbestand zu ergänzen, in dem die Beteiligung an der Selbsttötung unter bestimmten Voraussetzungen unter Strafe gestellt wird. Einige ausländische Rechtsordnungen enthalten derartige Straftatbestände. So wird nach § 78 des österreichischen StGB bestraft, wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet. Nach Art. 115 des schweizerischen StGB wird derjenige, der einen anderen aus selbstsüchtigen Beweggründen zum Selbstmord verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, bestraft, wenn der Selbstmord ausgeführt oder versucht wird. Der Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung und der Alternativ-Entwurf Leben schlagen einen Straftatbestand vor, mit dem die Unterstützung einer Selbsttötung aus Gewinnsucht unter Strafe gestellt wird.69 Um geschäftsmäßig handelnden Sterbehilfeorganisationen entgegenzutreten, soll nach einem Gesetzesantrag einer Reihe von Bundesländern bestraft werden, wer „in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit vermittelt oder verschafft“.70 Ein Tatbestand, in dem die Mitwirkung am Suizid unter Strafe gestellt wird, würde nicht im Widerspruch dazu stehen, dass die Selbsttötung keinen Straftatbestand erfüllt. Er würde vielmehr dem Umstand Rechnung tragen, dass es sich bei vielen Suiziden um Verzweiflungstaten handelt, so dass die Mitwirkung am Suizid die Gefahr mit sich bringt, zum Tod von Menschen beizutragen, die durch Hilfe wieder für das Leben gewonnen werden können. Ein solcher Tatbestand würde dem Unrechtsgehalt von Mitwirkungen am Suizid, die unterhalb der anerkannten Fälle der Fremdtötung in mittelbarer Täterschaft liegen, besser entsprechen als eine sehr weite Aus-

___________ 67 Merkel, in: Hegselmann/Merkel (Hrsg.), Zur Debatte über Euthanasie, 1991, S. 71, 82 ff., stellt auf der Grundlage eines „weichen Paternalismus“ für die Strafbarkeit der Suizidbeteiligung auf die Plausibilität des Selbsttötungsentschlusses ab. Gegen diese Ansicht spricht insbesondere das Fehlen eines klaren Maßstabs für die Plausibilitätsbeurteilung, vgl. Roxin, in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht. Eine Würdigung zum 70. Geburtstag von Paul-Günter Pötz, 1993, S. 177, 181 ff.; Beckert (Fn. 26), S. 159. 68 Siehe Roxin (Fn. 26), § 25 Rn. 54. Zur fahrlässigen Suizidbeteiligung siehe Schneider (Fn. 26), Vor § 211 Rn. 86 f. 69 Schöch/Verrel u. a., Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung (AE-StB), GA 2005, S. 553, 585; Heine u. a., Alternativ-Entwurf Leben (AE-Leben), GA 2008, S. 193, 202. 70 Gesetzesantrag der Länder Saarland, Thüringen und Hessen vom 27. 3. 2006, BRDrs. 230/06; dazu Lüttig, ZRP 2008, 57 ff.; Goll, ZRP 2008, 119; Saliger, ZRP 2008, 199; Hoppe/Hübner, ZRP 2008, 225 f.; von Lewinski, ZRP 2008, 226 f.

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dehnung der mittelbaren Täterschaft.71 Die Ausgestaltung eines solchen Tatbestandes und der Strafdrohung kann in vorliegendem Rahmen nicht erörtert werden.

IV. Die Nichtverhinderung eines Suizids Im Hinblick auf die Nichtverhinderung einer Selbsttötung kommt eine Strafbarkeit eines Garanten wegen eines Tötungsdelikts durch Unterlassen nur bei nicht freiverantwortlichen Suiziden in Betracht. Wurde der Selbsttötungsentschluss freiverantwortlich gebildet und nicht geändert, ist der Garant entgegen der Rechtsprechung auch dann nicht wegen eines Tötungsdelikts durch Unterlassen strafbar, wenn der Suizident handlungsunfähig geworden ist und der Garant die mögliche Rettung unterlässt.72 Stellt es kein Tötungsdelikt dar, einen anderen zu einem freiverantwortlichen Suizid zu veranlassen oder eine solche Selbsttötung aktiv zu fördern, kann – wie vielfach dargelegt worden ist73 – das Unterlassen der Rettung nicht als Tötungsdelikt strafbar sein.74 Die Strafbarkeit wegen eines Tötungsdelikts durch Unterlassen würde der Entscheidung des Gesetzgebers widersprechen, die Beteiligung am freiverantwortlichen Suizid aus dem Strafbarkeitsbereich der Tötungsdelikte herauszunehmen.75 Dagegen ist es sachgerecht, den Suizidversuch unabhängig davon, ob er auf einer freiverantwortlichen Entscheidung beruht, als Unglücksfall i.S. von § 323c StGB anzusehen, so dass unterbliebene Rettungsbemühungen zu einer Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung führen können.76 Ein Unglücksfall ist ein plötzliches Ereignis, das erhebliche Gefahren für Personen oder für Sachen von bedeutendem Wert hervorruft.77 Ein solches Ereignis liegt bei einem Selbsttötungsversuch vor. Bei den vielfach vorliegenden Suizidversuchen aus Verzweiflung ist solidarische Hilfe geboten. Da in der kritischen Situation ___________ 71 Für einen selbstständigen Tatbestand der Suizidbeteiligung Hirsch (Fn. 8); Roxin (Fn. 26), § 25 Rn. 73; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allg. Teil I, 5. Aufl. 2004, § 12 Rn. 72. Vgl. auch Bernsmann (Fn. 16), S. 16. Ablehnend Schneider (Fn. 26), Vor § 211 Rn. 63. 72 Dölling (Fn. 65), S. 1612. Zu denkbaren Ausnahmen Lackner/Kühl (Fn. 2), Vor § 211 Rn. 14. 73 Eser (Fn. 4), Vor § 211 Rn. 43; Roxin (Rn. 35), S. 348 f. 74 Nach Herzberg (Fn. 27), S. 88 f. soll allerdings der Beschützergarant, der sich aktiv an der Selbsttötung beteiligt, wegen der in dem aktiven Tun enthaltenen Nichtvermeidung des Todeserfolgs als Unterlassungstäter strafbar sein; dagegen Maiwald, ZStW 93 (1981), S. 864, 896 f.; Wessels/Hettinger (Fn. 2), Rn. 47. 75 Wessels/Hettinger (Fn. 2), Rn. 57. 76 Vgl. die Nachweise in Fn. 23 und 29. 77 BGHSt 6, 147, 152; Lackner/Kühl (Fn. 2), § 323c Rn. 2.

Zur Strafbarkeit der Mitwirkung am Suizid

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der zu dem Suizidversuch führende Willensbildungsprozess häufig unklar sein wird und wirksame Hilfeleistung keine längeren Nachforschungen hierüber zulässt, ist der Suizidversuch generell als Unglücksfall anzusehen. Liegt klar auf der Hand, dass es sich um einen Abwägungssuizid handelt, entfällt die Zumutbarkeit der Hilfeleistung.78

V. Zusammenfassung Insgesamt ergibt sich damit für das geltende Recht, dass die Beteiligung an einem freiverantwortlichen Suizid nicht als Tötungsdelikt strafbar ist. Ist der Selbsttötungsentschluss nicht freiverantwortlich, kann die Mitwirkung an dem Suizid zur Strafbarkeit wegen eines Tötungsdelikts in mittelbarer Täterschaft führen und ein nicht eingreifender Garant wegen Tötung durch Unterlassen strafbar sein. Unterhalb der Ebene der Tötungsdelikte kommt eine Strafbarkeit nach den §§ 240 und 323c StGB in Betracht. Überlegt werden könnte die Schaffung eines eigenständigen Tatbestandes, in dem die Beteiligung an der Selbsttötung unter bestimmten Voraussetzungen unter Strafe gestellt wird. Angezeigt erscheint ein maßvoller Einsatz des Strafrechts zur Suizidprävention. Vielleicht können diese Überlegungen eine wohlwollende Beurteilung durch den verehrten Jubilar finden.

___________ 78 Dölling (Fn. 65), S. 1012 ff.; Wessels/Hettinger (Fn. 2), Rn. 60 f. Für eine Begrenzung der Hilfspflicht über das Merkmal der Erforderlichkeit Verrel (Fn. 29).

„Erlaubtes Risiko“ in einer personalen Unrechtslehre Von Gunnar Duttge

I. Neue Zweifelsfragen Die moderne Lehre von der „objektiven Zurechnung“ ist bekanntlich vor Jahrzehnten mit dem Ziel angetreten, in ausdrücklichem Widerspruch zur finalen Handlungslehre und den zugrunde gelegten „ontologischen Strukturen“ die Normativität jedweder Antwort herauszustellen auf die Frage, „ob man einen Erfolg einem Menschen als sein Werk zurechnen kann“1. Unter zustimmendem Verweis auf erste dahingehende Bemerkungen schon bei Honig2 formulierte deshalb Roxin in seinen „Gedanken zur Problematik der Zurechnung im Strafrecht“, die Schünemann3 später als die „Geburtsstunde der Theorie der objektiven Zurechnung“ bezeichnet hat: „Die eigentliche juristische Grundfrage liegt nicht in der Ermittlung irgendwelcher Gegebenheiten, sondern in der Festsetzung der Maßstäbe, nach denen wir bestimmte Erfolge einer Person zurechnen wollen“. Im Beispiel des seit langem durch die Strafrechtsgeschichte geisternden Erbonkel-Falles4 ergibt sich die Annahme mangelnder „Zurechenbarkeit“ des tödlichen Blitzschlages für den das Opfer in böser Absicht auf die (mit hohen Bäumen bepflanzte) Anhöhe Lockenden folglich „nicht daraus, dass es diesem unmöglich wäre, von einem so merkwürdigen Verhalten Abstand zu nehmen; die Rechtsordnung könnte auch ein solches Experiment mit den Naturgewalten sicherlich verbieten. Wenn sie es nicht tut, so liegt der Grund allein darin, dass dieses Verhalten kein messbares Risiko einer Rechtsgüterverletzung … schafft“5. Das gilt selbst dann, wenn der Böswillige sich das Hinausschicken des Opfers irrealerweise als ein wirkungsvolles Tötungsmittel vorgestellt hätte; auch dann liege keine (finale) Tötungshandlung vor, „weil die Rechtsordnung ___________ 1

Roxin, FS Honig, 1970, S. 133. In: FG Frank 1930, Bd. I, S. 174 ff. 3 GA 1999, 207, 212; siehe auch H. Schneider, Kann die Einübung in Normanerkennung die Strafrechtsdogmatik leiten? Eine Kritik des strafrechtlichen Funktionalismus, 2004, S. 271: „Paradigmenwechsel“ der Strafrechtslehre. 4 Dazu eindrucksvoll Schroeder in seinem Göttinger Vortrag v. 23.11.2006 unter dem Titel: „Der Blitz als Mordinstrument. Ein Streifzug durch 140 Jahre Strafrechtswissenschaft“. 5 Roxin, FS Honig, 1970, S. 133, 135. 2

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eine so geringfügige Risikosetzung für die Zurechnung des Erfolges nicht ausreichen lässt“. Entscheidend soll also nicht sein, ob der Täter die „nur geringe Chance als für eine finalitätsbegründende Kausalsteuerung ausreichend erachtet, sondern ob der Gesetzgeber das tut“6. Fehle es jedoch an der „objektiven“ Zurechenbarkeit (und nicht erst am Tatvorsatz) immer dann, „wenn die Handlung kein rechtlich relevantes Risiko einer Rechtsgüterverletzung geschaffen hat“7, so sind normative Festlegungen auch dort zu beachten, wo „ein Verhalten zwar durchaus ein statistisch relevantes Risiko für geschützte Rechtsgüter mit sich bringt, (…) aber aus übergeordneten gesellschaftlichen Interessen (…) in gewissen Grenzen erlaubt wird“8. Und auch hier gelte dann: Wer sich innerhalb des Rahmens des „erlaubten Risikos“ hält, hat selbst dann keine finale Tötungshandlung begangen, wenn die eingetretene Verwirklichung des Risikos von ihm „erstrebt“ wurde.9 An einem von Herzberg gebildeten Beispiel verdeutlicht: „Wer im [Box-]Ring seinen Gegner mit sportlich sauberen Kopfschlägen schwer misshandelt, wahrt bei aller Brutalität die Grenzen des rechtlich Tolerierten…; das dennoch bestehende Tötungsrisiko ist ein erlaubtes (…). Ernsthafte Vergegenwärtigung der Möglichkeit oder gar die Beabsichtigung der Todesfolge könnte nichts daran ändern, dass die Schläge sportlich korrekt waren und damit im Rahmen auch rechtlich erlaubter Risikosetzung blieben; was bei solchem Handeln der Täter denkt oder sich wünscht, kann für das Strafrecht keine Rolle spielen“10. Diese gewiss nicht zuletzt auch von einem tiefen Glauben an das rechtsstaatliche Objektivitätsgebot und damit an die Unverzichtbarkeit eines abstraktgenerellen Maßstabes für die Erfolgszurechnung getragene Haltung hat in der jüngeren Vergangenheit freilich spürbar Kritik und eine entscheidende Irritation erfahren: So ist bereits Schünemann, mit Blick auch auf den anhaltenden Streit um einen „objektiven oder subjektiven (individuellen) Sorgfaltsmaßstab“ beim Fahrlässigkeitsdelikt, von seiner früher vertretenen „rein objektiven Bestimmung“11 deutlich abgerückt mit der Begründung, dass das erlaubte Risiko auch von den individuellen Fähigkeiten und von einem evtl. Sonderwissen des Täters abhänge: Denn die Verhaltensnorm, deren Verletzung das tatbestandsmäßige Verhalten ausmacht, „soll ja nicht irgendeinen hypothetischen Fall regeln, sondern das Verhalten des individuellen Täters in einer ganz konkreten historischen Situation“; schließlich könne „kein Mensch von etwas anderem als ___________ 6

Roxin, FS Honig, 1970, S. 148. Roxin, FS Honig, 1970, S. 136. 8 Treffende Umschreibung bei Roxin, FS Benakis, 2008, S. 497, 507 f. 9 So ausdrücklich Roxin, FS Honig, 1970, S. 133, 149; ders., ZStW 75 (1963), 541, 563. 10 Herzberg, JR 1986, 7. 11 In diesem Sinne noch Schünemann, FS Schaffstein, 1975, S. 159, 161 ff. 7

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von seinem eigenen Wissen und seinen eigenen Erkenntniskräften Gebrauch machen“12. In seinem die Grundlagendiskussion sorgfältig aufnehmenden Beitrag zur Frage, ob und ggf. „wie man subjektive Umstände in einer Zurechnung, die sich objektiv nennt, berücksichtigen kann“, kommt Greco13 zu dem am hergebrachten Verständnis gemessen ziemlich überraschenden Ergebnis, dass es ein „eigenständiges Problem des Sonderwissens“ gar nicht gebe, weil es – soweit es sich dafür als notwendig erweise – bei der Bestimmung der Grenzen des Erlaubten bzw. Verbotenen ohnehin stets zu berücksichtigen sei.14 Zuletzt hat Murmann neben Sonderwissen und Sonderfähigkeiten gleichermaßen auch das evtl. Vorhandensein deliktischer Absichten bei der „Begründung der Pflichtwidrigkeit eines Verhaltens“ für relevant erklärt, weil das Erlaubtsein von „Risikoschaffungen“ nicht allein von der Größe des eingegangenen Risikos abhänge, sondern das „Ergebnis eines weitaus umfassenderen Abwägungsprozesses“ sei, „in den nicht nur die Gefahren für potentielle Opfer, sondern auch die berechtigten Interessen des Handelnden eingehen“: „Nicht für jeden verfolgten Zweck muss ein potentielles Opfer die Gefährdung seiner Rechtsgüter hinnehmen“15. Für den vieldiskutierten Fall des (zwecks Erlangung von Versicherungsleistungen) provozierten Auffahrunfalls, in welchem der BGH trotz der Annahme eines „äußerlich verkehrsgerechten Verhaltens“ auf das Vorliegen strafbaren Unrechts (i.S.d. § 315b I StGB) erkannt hat,16 folgt daraus nach Murmann die Irrelevanz der Verkehrsregeln, weil die „Einhaltung dieser Regeln (…) zwar die Benutzung eines Pkw als Fortbewegungsmittel als erlaubtes Risiko qualifizieren [könne], nicht aber die Benutzung eines Pkw zum Herbeiführen von Unfällen“17. An dieser Stelle wirft der gegenwärtige Diskussionsstand eine Reihe von Fragen auf: Wie kann es überzeugen, für die Berücksichtigungsfähigkeit einer „Schädigungsabsicht“ auf die konkrete Zwecksetzung abzustellen (und damit unausweichlich fragwürdige Abgrenzungen hervorzurufen)18, wenn es für die ___________ 12

Schünemann, GA 1999, 207, 216 f. Zum Zeitpunkt der Abfassung seines Beitrages Doktorand Roxins. 14 Greco, ZStW 117 (2005), 519 f., 550 f. und 553 f. (insbes. Ziff. 2, 3 und 9); unklar ist allerdings der Sinn des in Ziff. 8 enthaltenen Zusatzes, wonach die „dem strafrechtlichen Verbot entgegenstehenden Interessen … [erst?] in einem zweiten Schritt der Bewertung des Risikos als erlaubt oder unerlaubt zu berücksichtigen“ seien. 15 Murmann, FS Herzberg, 2008, S. 123, 127 und 134 f. 16 BGH NJW 1999, 3132, 3133 – die Ausführungen sind allerdings nicht restlos klar, weil der Senat zugleich auf die Verkehrswidrigkeit gem. § 1 II StVO hinweist und die Annahme eines „verkehrsgerechten Verhaltens“ durchweg mit dem Zusatz „äußerlich“ versieht. 17 Murmann, FS Herzberg, 2008, S. 123, 136. 18 Nach Murmann soll es Teil des „erlaubten Risikos“ sein, „wenn jemand anlässlich einer Nutz- oder auch Vergnügungsfahrt (= erlaubter Zweck) absichtlich einen Verkehrsunfall bei Einhaltung der StVO provoziert“ (FS Herzberg, 2008, S. 139): Warum 13

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Reichweite des „erlaubten Risikos“ nach bisheriger Auffassung doch gerade nicht auf den Einzelfall, sondern – im Unterschied zur Anwendung von Rechtfertigungsgründen – vielmehr auf das generelle Erlaubtsein19 ankommt? Wie soll sich des Weiteren bei (grundsätzlich) anerkannter Relevanz solcher Absichten noch der Einwand entkräften lassen, es handle sich um illegitimes „Gesinnungsstrafrecht“20, da doch ein „an sich“ (generell) erlaubtes Verhalten erst durch die Berücksichtigung dieser besonderen täterindividuellen Disposition zu Unrecht werde? Man sollte diesen Einwand nicht zu leicht nehmen etwa mit Hinweis darauf, dass „die subjektive Beziehung des Täters [zu seiner Tat] von der heute herrschenden Verbrechenslehre als Merkmal des Unrechtstatbestandes anerkannt [sei]“21: Denn es geht nicht um die (bei Fehlen) strafbefreiende22, sondern um die strafbegründende Wirkung deliktischer Absichten als je alleiniger Träger des Handlungsunrechts ohne insoweit (also jenseits des Erfolgsunrechts) hinzutretende objektive Elemente der Unrechtsbewertung (d.h. nicht im unbewerteten Verhalten sich erschöpfend). Sofern also nicht der dogmengeschichtliche Rückweg zu einer kausalmonistischen Unrechtstheorie (d.h. im Sinne des „klassischen Verbrechensbegriffs“)23 angetreten werden soll,24 bleiben nur vier denkbare Auswege aus dem Dilemma: (1) entweder das Problem gänzlich zu leugnen mit der Begründung, dass in den einschlägigen Fällen (wie beim provozierten Auffahrunfall mit Blick auf § 1 StVO)25 stets ein auch „objektiv verkehrswidriges Verhalten“ vorliege; (2) in Entsprechung zur Einbeziehung von Sonderwissen und Sonderfähigkeiten letztlich mit demselben Resultat zu versuchen, bereits den unrechtsbegründenden „Begriff der unerlaubten Ge-

___________ liegt nicht auch darin – bei absichtlicher Provokation des Unfalls (!) – ein „Missbrauch der eingeräumten Freiheit“ (ebd.)? Und bezogen auf den Ausgangsfall: Handelt nicht jeder, der im fließenden Verkehr Unfälle provozieren will, denknotwendig qua Inanspruchnahme der eingeräumten Fortbewegungsfreiheit? 19 So nachdrücklich Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 66. 20 Insbesondere von Rath erhoben, vgl. in: Gesinnungsstrafrecht. Zur Kritik der Dekonstruktion des Kriminalunrechtsbegriffs in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, 2002. 21 Kudlich, StV 2000, 23, 24. 22 Missverständlich daher Kudlich, StV 2000, 23, 24: „subjektive Beziehung als Grenze der Strafbarkeit“. 23 Zur dogmengeschichtlichen Entwicklung im Überblick: Duttge, in: Jehle/ Lipp/Yamanaka (Hrsg.), Rezeption und Reform im japanischen und deutschen Recht (Göttinger Juristische Schriften, Bd. 2), 2008, S. 195 ff. m.w.N. 24 Eine solche Rückkehr hält Roxin explizit für „ausgeschlossen“, vgl. FS Benakis, 2008, S. 497, 515. 25 So zu BGH NJW 1999, 3132 z.B. Frisch, GA 2003, 719, 730 Fn. 54; LK-StGB/ T. Walter, 12. Aufl. 2007, Vor § 13 Rn. 94; Seier, NZV 1992, 158 f.

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fahr“ im objektiven Tatbestand zu modifizieren26 (allerdings mit der Folge einer tendenziellen Auflösung der Trennung zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand zugunsten einer „subjektiv-objektiven Sinneinheit“)27; (3) bei Anerkennung des Problems die Relevanz subjektiver Momente für die „objektive Zurechnung“ (innerhalb der Grenzen eines objektiv rollenkonformen Verhaltens) mit Jakobs zurückzuweisen28 oder (4) – wie zuletzt auch Kindhäuser29 – die Suche nach einem „objektiv unerlaubten Risiko“ von vornherein für „völlig überflüssig“ zu halten und sogleich und ausschließlich nach der individuellen Pflichtwidrigkeit zu fragen. In letzterem Falle würde sich die Rechtsfigur des „erlaubten Risikos“ allerdings darin erschöpfen, jene anderen (bekannten) Kategorien mit einem einheitlichen begrifflichen Band zu versehen, die das Handlungsunrecht aus eigenen Gründen entfallen lassen (wie insbesondere die straflose Kehrseite von Vorsatz oder Fahrlässigkeit). Ganz in diesem Sinne hat der verehrte Jubilar das „erlaubte Risiko“ bereits vor 25 Jahren als bloßen „Formalbegriff“ ohne eigenständigen Anwendungsbereich (d.h. ohne ein eigenes „materiales Prinzip“ in sich zu tragen) ausgewiesen;30 ihm zu Ehren seien die nachfolgenden Überlegungen in dankbarer Verbundenheit gewidmet.

II. Suche nach dem Legitimationsgrund Es dürfte nach der vorausgeschickten schlaglichtartigen Beleuchtung einzelner Facetten lohnend sein, sich vor jeder weiteren Vertiefung in die Einzelheiten noch einmal das mit dem Begriff des „erlaubten Risikos“ in Bezug genommene Leitmotiv zu vergegenwärtigen. Es begegnet schon in der strafrechtswissenschaftlichen Debatte des 19. Jahrhunderts,31 in besonderer Klarheit, freilich auch mit allem Potential des Missverstehens bei Karl Binding, der die Sache im

___________ 26 In diesem Sinne in Bezug auf die Berücksichtigung von Sonderwissen Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 57. 27 Zu dieser Konsequenz näher Kudlich, FS Benakis, 2008, S. 265, 277 ff.; zuvor auch schon Freund, JuS 2000, 754, 756: „verfehlte Trennung des fallrelevanten Stoffes in einen objektiven und subjektiven Tatbestand“. 28 Näher Jakobs, GS Armin Kaufmann, 1989, S. 271, 283 ff.; ders., Strafrecht. Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 7/49 f.; ebenso Lesch, Der Verbrechensbegriff, 1999, S. 258 ff.; ders., JR 2001, 383, 387. 29 GA 2007, 447 ff., insbes. 465. 30 Maiwald, FS Jescheck, 1985, S. 405 ff., 424 f.; ähnlich Otto, GK Strafrecht. Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004, § 8 Rn. 160 f.; Rössner, FS Hirsch, 1999, S. 313, 315. 31 Zuerst wohl bei v. Bar, Die Lehre vom Causalzusammenhang im Rechte, besonders im Strafrechte, 1871, S. 13 f.

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vierten Band seiner „Normen“ wie folgt umschrieb:32 „Bei Tausenden und Abertausenden menschlicher Handlungen, fast könnte man sagen bei allen nicht rein innerlichen, laufen Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten, vielleicht Gewissheiten unbeabsichtigter Rechtsgefährdungen oder Rechtsverletzungen deshalb nebenher, weil die Handlung kaum ohne sie ausgeführt werden kann. (…) Das Risiko liegt bildlich gesprochen außerhalb des Absichtskreises der Handlung (…)33. Wird nun durch das gelaufene Risiko eine der Art nach untersagte rechtswidrige Gefährdung oder Verletzung herbeigeführt (…), so hat hier zweifellos eine Verletzung von Rechtsgütern stattgefunden, und keiner solchen steht die Rechtsordnung gleichgültig gegenüber. (…) Sieht die Rechtsordnung die Herbeiführung des Schadens durch den Handelnden als für ihn unvermeidbar an (…), hat er schuldlos34 ihm persönlich Unverbotenes getan: die Rechtsordnung nimmt die erduldete Verletzung hin. (…) Alles Risiko rechtfertigt sich nur durch seine Erforderlichkeit zur Handlung: das Unnötige ist bei allen Handlungen stets von Rechts wegen zu meiden“35. Das hier zum Vorschein kommende Kriterium der „Unvermeidbarkeit“ ist allerdings für sich noch keineswegs hinreichend erklärungsmächtig, weil mögliche Schadensfolgen des eigenen Verhaltens in abstracto immer wissbar und damit durch gänzliches Abstandnehmen sehr wohl vermeidbar sind. Was also die ermöglichte Entlastung von der Verantwortung für einen Ausschnitt von bewirkten Rechtsgutsverletzungen im Ausgang gleichwohl rechtfertigen könnte, bleibt noch immer aufzuklären. Bei Binding wird als letztlich tragendes Rechtsprinzip bekanntlich die „Proportionalität des Risikos mit dem Rechtswert der unentbehrlichen Handlung“ angeführt, ein Gedanke, der bis heute in der Formulierung fortlebt, dass mit dem erlaubten Risiko das „Resultat einer Abwägung der sozialen Nützlichkeit gegen die Gefahr, die ein bestimmtes Verhalten mit sich bringt“36, gemeint sei. Wollte man diese „Abwägung“ allerdings auf das je konkrete Geschehen und damit auf die jeweils zu bewertende konkre___________ 32 Zum Folgenden: Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. IV, 1919, § 286 (= S. 432 ff.). 33 Binding spricht an dieser Stelle auch von einer „Begleiterscheinung“. 34 Dass Binding sich hier weigert, von einem „rechtmäßigen Handeln“ zu sprechen, ist allein durch den klassischen Verbrechensbegriff mit seiner strikten Scheidung von Objektivem und Subjektivem bedingt: „Das Urteil über die objektive Natur der Handlung stellt sie völlig unabhängig von den Wünschen, die der Handelnde bei der Handlung gehabt hat (…)“. 35 An anderer Stelle heißt es, bezogen auf die insbesondere Amtsträgern, Berufs- und Gewerbetreibenden zugeschriebene besondere Vermeidefähigkeit (im Rahmen des jeweiligen Tätigkeitsbereiches): „Diese erlangte Fähigkeit soll nach der Rechtsauffassung dauernd gewissenhaft zur Verwendung kommen“ (S. 445). 36 Castaldo, GA 1993, 495, 499; siehe auch Frister, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2008, 9. Kap. Rn. 4, 10. Kap. Rn. 7; SK-StGB/Samson, Stand: 6. Aufl., Anh. zu § 16 Rn. 19.

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te Verletzungshandlung beziehen, wie das die mitunter anzutreffende – missverständliche – Rede von einer „notstandsähnlichen Interessenabwägung“37 nahelegt, so dürfte es in Lebensbereichen, in denen das Rechtsgut „Leben“ auf dem Spiele steht wie etwa beim Straßen-, Eisenbahn- oder Flugverkehr, aufgrund der im konkret-direkten Verhältnis klaren Wertungspriorität gegenüber der Fortbewegungsfreiheit des jeweiligen Fahrzeugführers niemals zur Hinnahme sanktionslosen („erlaubten“) Verletzungshandelns kommen. Zugleich verbände sich mit einem solchermaßen utilitaristischen Verständnis (Prinzip der überwiegenden „Nützlichkeit“) unweigerlich eine Fremdbewertung der jeweiligen Inanspruchnahme von individueller Handlungsfreiheit,38 was selbige weitreichend untergraben würde: Die Vergnügungsfahrt (Art. 2 I GG) wäre dann wohl (nämlich aus Sicht der Gesellschaft) anders zu bewerten als die Fahrt in die Universitätsbibliothek zwecks Formulierens einer wissenschaftlich (potentiell?) bedeutenden Erkenntnis (Art. 5 III GG).39 Vor allem aber verkennt die gezogene Analogie zum Notstand von Grund auf jene eigentliche Pointe, die sich mit der Kategorie des „erlaubten Risikos“ verbindet: Wer sich innerhalb dieses Rahmens bewegt, ist „von der Pflicht zur Abwägung der widerstreitenden Interessen und damit überhaupt von der Pflicht zur Reflexion auf Folgen, die andere betreffen, befreit“.40 Das Argument der Freiheit als tragendes Prinzip der Anerkennung „erlaubter Risiken“ ist allerdings nur so lange überzeugend, wie sich die Perspektive auf den jeweils einzelnen Träger der Handlungsfreiheit beschränkt und damit die soziale Dimension des Problems außer Betracht bleibt. Bei der unbestreitbaren Gefahrenträchtigkeit nahezu jedes menschlichen Verhaltens käme ein pauschales Verbot jedweder vorhersehbaren Gefährdung im gesellschaftlichen Kontakt letztlich in der Tat einem allgemeinen Handlungsverbot nahe.41 Die Erhöhung der „Zahl von Handlungen, aus der jeder selbst wählen kann, ohne sich falsch ___________ 37 Jakobs (Fn. 28), 7/35; SK-StGB/Samson, ebd.; wohl auch Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1930, S. 288 ff.; jüngst in derselben Formulierung Hoyer in seinem Vortrag am 22.05.2009 anlässlich der Hamburger Strafrechtslehrertagung zum Thema „Erlaubtes Risiko und technologische Entwicklung“. 38 Siehe dazu noch einmal Binding (Fn. 32), S. 442: „Nie kann sich ein solches [das Eingehen eines Risikos] rechtfertigen bei Vornahme (…) ganz unnützer … Handlungen“ (mit Fn. 33: „Eine der schädlichsten absolut unnützen Handlungen … ist die scherzhafte Bedrohung mit der für ungeladen gehaltenen Schusswaffe. Sie sollte ohne Rücksicht auf den Erfolg mit schwerer Strafe bedroht werden…“). 39 Gegen solche freiheitsfeindliche Tendenzen zutr. Schürer-Mohr, Erlaubte Risiken. Grundfragen des „erlaubten Risikos“ im Bereich der Fahrlässigkeitsdogmatik, 1998, S. 83 f. 40 Näher W. Lübbe, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), 951, 953. 41 SK-StGB/Samson (Fn. 36); zust. Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 140 Fn. 71; ähnlich Jakobs, 7/35; Schlehofer, NJW 1989, 2017, 2021.

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zu verhalten“42, gilt aber stets nur für das einzelne Handlungssubjekt, nicht für das hiervon ggf. betroffene Opfer. Die Erweiterung von Freiheitsräumen zugunsten des einen hat zumeist auch Freiheitseinbußen für andere zur Folge, und welche Freiheit dann den Vorrang genießen soll, lässt sich nicht dem „Wert der Freiheit“ als solchem, aber auch nicht dem gerne in Anspruch genommenen kantischen Rechtsprinzip43 entnehmen. Mit einem treffenden Beispiel von Weyma Lübbe: „Die Freiheit der Raucher, zu rauchen, ist mit der Freiheit der Nichtraucher, zu rauchen, nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinbar – nicht aber mit der Freiheit der Nichtraucher, nicht mitzurauchen“ 44, d.h. von den Auswirkungen des Zigarettenkonsums der anderen verschont zu bleiben. Wenn aber die Frage, welche Freiheit hier welcher vorgezogen werden soll, keine ist, die unter Verweis auf „Liberalität“ oder (formale) „Gleichheit“ beantwortet werden kann: Was legitimiert dann die Freistellung von der Zurechnung kausal bewirkter und bei höherem Aufwand an Gefahrenvorsorge (weitere Kenntnisverschaffung, Sicherungsmaßnahmen durch Absperrung, Personal u.ä.) keineswegs schlechthin unvermeidbarer Schadensfolgen, obgleich die Interessen jener, deren Rechtsgüter hierdurch beeinträchtigt werden, „jeweils besser geschützt gewesen wären, wenn statt der Kategorisierung eines Verhaltens als erlaubtes Risiko eine Interessenabwägung nach Analogie des Notstandsparagraphen vorgeschrieben wäre“45? Der übliche Rückbezug auf eine „übergreifende Interessenabwägung“ zwischen Handlungsfreiheit und Rechtsgüterschutz46 beschreibt zu Recht die Notwendigkeit einer Abstraktion von den konkreten Kollisionslagen und den konkreten Opfern des Freiheitsgebrauchs (weil einem im Straßenverkehr Getöteten kein höherwertiger Belang entgegengehalten werden könnte); suggeriert wird damit aber zugleich die Möglichkeit einer rationalen Bewertung47 der gegenläufigen Belange auf dieser Abstraktionsebene, die in einer pluralistisch-offenen, im Ausgangspunkt von der „naturgegebenen“ Subjekthaftigkeit des Individuums und nicht mehr von einem substantiell schon vorgegebenen „Gemein___________ 42

Jakobs, 7/35: „Erledigung durch Zurechnung zum Opfer“. Zuletzt Murmann, FS Herzberg 2008, S. 123, 125: „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“. 44 Überzeugend W. Lübbe (Fn. 40), S. 953 f. 45 W. Lübbe (Fn. 40), S. 957. 46 Näher Frisch, Tatbestandmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 72 ff., 76 f. passim; M. Heinrich, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Gesamtes Strafrecht. Handkommentar, 2008, Vor § 13 Rn. 103; MK-StGB/Hardtung, Bd. III, § 222 Rn. 15; Roxin (Fn. 19), § 11 Rn. 66: „Globalabwägung“; Schönke/Schröder/Lenckner/ Eisele, StGB. 27. Aufl. 2006, Vor §§ 13 ff. Rn. 9. 47 In diesem Sinne Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht. Allgemeiner Teil I, 5. Aufl. 2004, § 8 Rn. 27: „generelle Bewertung von Risiken“. 43

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wohl“ getragenen Rechtsgemeinschaft48 schlechterdings nicht gelingen kann.49 Jakobs hat deshalb den Ursprung für jene – jeweils bereichsspezifische – „gesellschaftliche Akzeptation von (abstrakt) gefährlichen Interaktionen“50 in einer „historischen Legitimation“ gesehen, also im Sinne einer „Akzeptation des Überkommenen“ als „sozialadäquat“;51 in letzter Konsequenz wird damit aber auf eine sachbegründete Legitimation gerade verzichtet und mit der in Anspruch genommenen „tradierten Üblichkeit“ lediglich auf die Faktizität und einen „aktuellen Mangel an Legitimationszweifeln“ verwiesen.52 Gesucht wird aber nicht ein in diesem Sinne (von der Hoffnung auf eigenes Verschontbleiben getragener) faktischer, sondern vielmehr ein „normativer Konsens“53, dem sich gleichermaßen Grund und Grenze für die tolerierte Risikoschaffung selbst bei tatsächlich eintretender Schadenszufügung entnehmen lassen. Da sich ein solcher „normativer Konsens“ in einer parlamentarischen Demokratie regelmäßig in konkreten Vorschriften des Gesetzgebers (oder in der rechtlichen Anerkennung außerrechtlicher Festlegungen) für jeweils umgrenzte soziale Kontexte manifestiert,54 hat sich seit langem die Auffassung durchgesetzt, dass diese „konkreten Sondernormen“ das jeweils „erlaubte Risiko“ konkretisieren. Das ist auch ohne weiteres einsichtig, weil schon das Vorhandensein solcherart „normativer Sicherungsvorkehrungen“ auf das grundsätzliche Bestehen eines „rechtlich relevanten Risikos“ schließen lässt.55 Die ständige Rechtsprechung kennzeichnet diese „Sondernormen“ deshalb als das (in Rechtsform gegossene) „Ergebnis einer auf Erfahrung und Überlegung beruhenden umfassenden Voraussicht möglicher Gefahren“, in dem sich diejenigen Verhaltensweisen untersagt finden, die regelmäßig besondere Gefahren mit sich bringen.56 Hieraus lassen sich nun unschwer weitere Aufschlüsse über den Sinn solcher „Gefährdungserlaubnisse“ wie auch über deren (begrenzte) Geltungskraft ge___________ 48 Treffend Böckenförde, Vom Wandel des Menschenbildes im Recht, 2001, S. 9 ff., 14 ff., 17: „Das Woraufhin der Freiheit bleibt vom Recht unbeantwortet, (…) an die Stelle ethisch-materialen Rechts (…) tritt das formale, Freiheit und Autonomie ummantelnde Recht, das auch zur Beliebigkeit freisetzt“. 49 Ähnlich bereits Jakobs, 7/36: kein „hinreichend konkretes und zugleich verbindliches Gesellschaftsmodell“. 50 Kindhäuser, GA 1994, 197, 218. 51 Jakobs, 7/36. 52 Treffend W. Lübbe (Fn. 40), S. 961. 53 Köhler, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1997, S. 186; ausführlich Schürer-Mohr (Fn. 39), S. 100 ff. 54 Statt vieler Frister (Fn. 36), 10. Kap. Rn. 8; Murmann, FS Herzberg, 2008, S. 123, 130. 55 Treffend Roxin (Fn. 19), § 11 Rn. 67 a.E. 56 Z.B. BGHSt 4, 182, 185; BGH NJW 1958, 1980, 1981; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2000, 141, 142; weitere Nachweise in Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, S. 273 ff.

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winnen: Sie geben, auf den hier interessierenden entscheidenden Aspekt fokussiert, gleichsam „Handlungsschemata“57 vor, die dem Einzelnen die nötige Orientierungssicherheit im sozialen Leben bieten in dem Sinne, dass im Falle ihrer Befolgung regelhaft ein kollisionsfreies Miteinander erwartet werden darf. Man könnte mit Luhmann auch sagen, dass das nötige Vertrauen durch das Rechtssystem stabilisiert wird, solange die Risikoneigung nicht überhand nimmt.58 Die entlastende, Komplexität reduzierende Wirkung resultiert daraus, dass die jeweiligen „Verkehrsregeln“ (i.w.S.) grundsätzlich abschließend jene Gefahren kennzeichnen, auf die man stets zu achten hat, so dass dem Einzelnen bei Einhaltung der hierin geforderten Sicherheitsstandards, solange sich das Geschehen also auf das unvermeidliche „Grundrisiko“59 beschränkt, keine zusätzlichen Anstrengungen zur Gefahrenvorsorge mehr abverlangt werden; die Unfähigkeit zur Vermeidung einer Tatbestandsverwirklichung im entscheidungsrelevanten Zeitpunkt bleibt dann trotz an sich bestehenden Schädigungsverbots rechtlich irrelevant: Wer etwa ein Kfz im Straßenverkehr führen will, hat nicht vor jedem Fahrtantritt erst eine Vorabbesichtigung der geplanten Fahrtstrecke zwecks Entdeckung evtl. Gefahrenstellen durchzuführen, sehr wohl aber die erforderliche Fahrerlaubnis zu besitzen und damit die formalisierte Verbürgung der zum Führen eines Kfz nötigen Qualifikation. Wer als Kellner tätig ist, muss (vorbehaltlich konkreter Anhaltspunkte hierfür) nicht vor dem Austragen der zubereiteten Speise mit einem böswilligen Giftanschlag des Kochs rechnen; wer eine Baustelle ordnungsgemäß abgesichert hat, braucht nicht zusätzlich die Gefahrenstelle rund um die Uhr auch noch persönlich zu überwachen. Geschieht gleichwohl das Unerwartete, hat der Betreffende für seine Unfähigkeit zur Schadensvermeidung nicht einzustehen, „weil er [insoweit] unfähig sein durfte“ – in den treffenden Worten Kindhäusers60: „Die Erlaubnis beim erlaubten Risiko … nimmt der Unfähigkeit zur Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung ihren zurechnungsbegründenden Charakter (…); braucht der Täter Verhaltensweisen, die seine Fähigkeit zur Abwendung von Tatbestandsverwirklichungen einschränken, nicht zu vermeiden, so haftet er auch nicht für solche Folgen, die aus dieser (abstrakten) Gefährlichkeit resultieren“. Denn deren Herbeiführung war nur durch dasjenige Risiko bedingt, das – im Sinne Bindings61 – „notwendig“ eingegangen werden musste. In diesem Lichte versteht sich beinahe von selbst, dass und warum diese „Freistellung“ von der Verantwortung für den herbeigeführten schädigenden ___________ 57

W. Lübbe (Fn 40), S. 957. Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 3. Aufl. 1989, insbes. S. 35 ff., 99. 59 Jakobs, 7/45. 60 GA 1994, 197, 216 f. 61 Siehe oben bei Fn. 35. 58

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Erfolg nur so weit reichen kann, wie die an sich zu vermeidende Folge auch tatsächlich durch ein mit dem betreffenden Verhalten unvermeidlich verknüpftes Risiko bedingt war. Fehlt es nämlich an dieser „Untrennbarkeit“, weil der Täter trotz Inanspruchnahme seiner Handlungsfreiheit (z.B. durch präventives Ergreifen zusätzlicher Sicherungsmaßnahmen) die eigene Vermeidefähigkeit zu erhalten vermochte, so kann ein gleichwohl eingetretener schädigender Erfolg nur auf einen mangelnden Vermeidewillen oder eine besondere Unaufmerksamkeit zurückzuführen sein, nicht aber auf jene Vermeideunfähigkeit, die das Recht innerhalb des gesetzten Sicherheitsrahmens um des sozialen Lebens willen toleriert.62 Das Anliegen des Rechtsgüterschutzes verbietet also jedwedes bequemes „Ausruhen“ auf Gefährdungserlaubnissen, wenn der eingetretene Erfolg trotz Inanspruchnahme der Handlungsfreiheit für den konkreten Täter dennoch vermeidbar war. Nicht selten findet dieser Zusammenhang bereits darin seinen Niederschlag, dass der Normgeber selbst einen entsprechenden Vorbehalt erklärt: So erfordert die Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr auch jenseits der hierfür im Einzelnen vorgesehenen Verkehrsregeln nach § 1 StVO „ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht“ und muss sich jeder Verkehrsteilnehmer so verhalten, dass – soweit irgend möglich – „kein anderer geschädigt (…)“ wird. Auch die Beachtung sämtlicher Vorgaben des Lebensmittelrechts etwa zur Anbringung von Warnhinweisen oder zur Nichtverwendung bestimmter Stoffe dispensiert nicht von der allgemeinen Pflicht, Lebensmittel nur in solcher Weise herzustellen und zu behandeln, dass ihr Verzehr ohne gesundheitliche Schädigung möglich ist (vgl. § 8 LMBG). Bauliche Anlagen müssen ungeachtet der gebotenen Wahrung aller hierzu formulierten technischen Baubestimmungen gem. § 1 I Nds. BauO stets so beschaffen sein, dass sie „die öffentliche Sicherheit nicht gefährden“ und insbesondere „Leben, Gesundheit und die natürlichen Lebensgrundlagen nicht bedrohen“. Den Fortbestand dieser „allgemeinen Vermeidepflicht“ unter Verweis auf die Einhaltung der in „konkreten Sondernormen“ enthaltenen Sicherheitsregeln in Frage zu stellen, würde deren Zwecksetzung ganz ins Gegenteil verkehren: Denn wenn durch sie schon im Vorfeld einer Rechtsgutsgefährdung typische (abstrakte) Gefahren zwecks Erhaltung potentiell betroffener Lebensgüter abgewendet werden sollen,63 so muss den Täter eine in dieselbe Richtung weisende Vermeidepflicht erst recht treffen, wenn er die drohende Rechtsgutsverletzung sogar konkret erkennen und vermeiden kann. An einem Beispiel veranschaulicht: Gewiss wird man auch im heutigen Straßenverkehr noch regelmäßig darauf vertrauen dürfen, dass die Vorfahrtsregeln an Kreuzungen eingehalten werden ___________ 62 Treffend Kindhäuser, GA 2007, 447, 462: „erlaubtes Risiko“ als eine „an riskanten Lebensbereichen orientierte Ausprägung des Grundsatzes ultra posse nemo obligatur“. 63 Siehe oben bei Fn. 56.

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(§ 8 StVO)64; wer aber bemerkt, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer seine Haltepflicht aller Voraussicht nach (etwa aufgrund der erkennbar hohen Geschwindigkeit) missachten wird, darf nicht „aus pädagogischen Gründen“ im Bewusstsein seiner Vorfahrtsberechtigung die Augen vor der Gefahr verschließen und eine Kollision riskieren.65 Im Unterschied zu einem Rechtfertigungsgrund gewährt das „erlaubte Risiko“ somit kein Eingriffsrecht durch Aufhebung der Pflicht zur Nichtschädigung (weil z.B. das Interesse am Erhalt des zu rettenden Gutes höher bewertet wird, vgl. § 34 StGB) oder – wie Maiwald es sinnfällig ausgedrückt hat – keinen „Freibrief“66, sondern beseitigt wegen der aktuell-situativen Vermeideunfähigkeit des Pflichtigen allein die „Pflichtwidrigkeit“ des Verhaltens und damit das Handlungsunrecht der begangenen Tat.67 Die eingangs erörterten Konstellationen des „Sonderwissens“ bzw. „Sonderkönnens“ werden daher von der inzwischen h.M. zu Recht zur Richtschnur für das abverlangte Ausmaß an Vermeideverhalten genommen, weil das Recht die Nichtschädigung im Rahmen des Möglichen regelmäßig68 gebietet und die hierzu ohne weiteres (ohne überobligationsmäßige Anstrengungen) Befähigten mit dem Einsatz des ihnen zur Verfügung stehenden Vermeidepotentials nicht übermäßig belastet oder benachteiligt werden. Im bekannten Giftpilzfall69 lässt sich also nicht einsehen, warum es dem als Aushilfskellner beschäftigten Biologiestudenten freigestellt sein sollte, seinem Gast einen exotischen Salat mit einer vergifteten Frucht zu servieren, obgleich ihm die tödliche Gefahr, an deren Verwirklichung er sich beteiligt, infolge seiner Spezialkenntnisse klar vor Augen steht. Ihn nicht für „zuständig“ zu betrachten, die drohende Gefahrrealisierung durch Abstandnahme vom eigenen Mitwirkungsbeitrag zu vermeiden, weil das Bereitstellen und Zubereiten genießbarer Speisen im Organisationskreis anderer Personen liege und zudem die spezielle Vermeidefähigkeit jenseits der sozialen Rolle erworben worden sei,70 ist lediglich Resultat einer Ver___________ 64

Dies war bekanntlich der Anwendungsfall, der den Vereinigten Großen Senat in seiner wegweisenden Entscheidung aus dem Jahre 1954 dazu veranlasst hat, vom Misstrauens- zum Vertrauensgrundsatz überzuwechseln, vgl. BGHSt 7, 118, 121 ff.: sofern nicht „die sichtbare Verkehrslage zu einer vorsichtigeren Fahrweise Anlass gibt“. 65 Zu einem ähnlichen Beispiel, das der heutigen Verkehrspraxis allerdings wohl nicht mehr ganz gerecht werden dürfte (kein Überholen auf der rechten Fahrspur einer Autobahn): Stratenwerth, FS Jescheck 1985, S. 285, 302. 66 Maiwald, FS Jescheck 1985, S. 405, 423. 67 Wie hier bereits Kindhäuser, GA 1994, 197, 217: „Das erlaubte Risiko beseitigt nicht das Verbot der Tatbestandsverwirklichung, sondern lässt nur die Zuständigkeit für die spezifische Handlungsunfähigkeit, die Kehrseite eines erlaubten Verhaltens ist, entfallen“. 68 Vorbehaltlich der in „Erlaubnissätzen“ (Rechtfertigungsgründen) typisierten Ausnahmelagen. 69 Vgl. Jakobs, GS Armin-Kaufmann, 1989, S. 271, 273 passim. 70 So Jakobs (Fn. 69), S. 284.

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mischung von Begehungs- und garantenpflichtwidriger Unterlassungstat:71 So wenig, wie allein vorhandenes Gefahrvermeidungswissen oder -können ohne Garantenstellung bereits zum universellen Tätigwerden verpflichtet (und deshalb ein auf Selbstschutz vor Haftung ausgerichtetes Streben nicht zum Wegsehen oder schnellen Vergessen nötigt), so wenig dispensiert rollenkonformes Verhalten von der Beachtung des Tötungsverbots.72 Dies belegt insbesondere auch ein Blick auf die von Jakobs in Bezug genommenen Konstellationen des arbeitsteiligen Zusammenwirkens: Selbst eine weisungsabhängige Person darf im Rahmen der „vertikalen Arbeitsteilung“ nicht blind auf dasjenige vertrauen, was ihr an Aufgaben zugeteilt und an Instruktionen mitgegeben wurde; sind in der konkreten Situation deutliche Anhaltspunkte erkennbar, dass die Ausführung der überantworteten Aufgabe erhöhte Gefahren mit sich bringen wird (z.B. infolge fachlicher Unvertretbarkeit der gewählten Behandlungsmethode oder aufgrund erkennbaren Fehlens der erforderlichen eigenen Qualifikation)73, so besteht die Pflicht zu gefahrvermeidendem Innehalten und zur Rückfrage (Remonstration). Für die Pflichtenstellung eines Subunternehmers und seiner Mitarbeiter hat dies der BGH erst unlängst bestätigt und dabei deutlich herausgestellt, dass selbst eine Aufteilung der Verantwortlichkeiten im Subunternehmervertrag nicht davon befreit, „im Rahmen des Zumutbaren … vermeidbare Risiken für Dritte auszuschalten“, vor allem dann, wenn „erkennbar Sicherungsmaßnahmen erforderlich sind, die vor Beginn der eigentlich gefahrenträchtigen Handlung durchgeführt werden müssen“.74 Und selbst im Verhältnis des gleichrangigen Miteinanders („horizontale Arbeitsteilung“) reicht der mit einer klaren Festlegung von Zuständigkeiten, einer bewährten und aufeinander abgestimmten Organisation gesetzte Vertrauenstatbestand in das ordnungsgemäße Wirken der jeweils anderen und damit die erlaubte Selbstbeschränkung auf die eigene soziale Rolle stets nur so weit, wie sich nicht ernstliche Zweifel am reibungslosen und gefahrfreien Zusammenwirken aufdrängen.75 Wo das ___________ 71 Vgl. Jakobs, ebd.: „… dass auch der Begehungstäter nicht schon immer dann haftet, wenn er vermeidbar verursacht, sondern nur, wenn er auch Garant dafür ist, nicht vermeidbar zu verursachen“. 72 Überzeugend Murmann, FS Herzberg, 2008, S. 123, 132 f. (m. Fn. 42: Theaterrevolver-Fall). 73 Aus dem Bereich der Medizin z.B. OLG Düsseldorf NJOZ 2007, 2195 (veraltete Behandlungsmethode); OLG Hamm MedR 2006, 236 (für die Betreiberin eines Geburtshauses leicht erkennbare „Unsinnigkeit“ der ärztlichen Anordnungen); vertiefend Franzki, in: Berg/Ulsenheimer (Hrsg.), Patientensicherheit, Arzthaftung, Praxis- und Krankenhausorganisation, 2006, S. 125 ff. 74 Vgl. BGH NStZ 2009, 146 ff. m. ausf. Bspr. Duttge, HRRS 2009, 145 ff. 75 Z.B. BGH VersR 1989, 186; MedR 1998, 102; OLG Zweibrücken VersR 1988, 165; vertiefend m.w.N. Duttge, in: GMS (German Medical Science) Krankenhaushygiene Interdisziplinär 2007, Vol. 2 (2): Die infizierte Problemwunde (auch online abrufbar: http://www.egms.de/en/journals/dgkh/2007-2/dgkh000063.shtml).

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Wirken gefahrenträchtiger Kausalverläufe oder gar schon konkrete Gefahrenlagen augenfällig werden, gibt es kein berechtigtes Vertrauen mehr! Was folgt daraus für die besonders heikle Frage nach der Relevanz von „Schädigungsabsichten“, etwa bei Abwandlung des Giftpilzfalles dahin, dass der Kellner ohne Kenntnis der Sachlage das Essen in der inständigen Hoffnung serviert, der verhasste Gast möge elendig daran zugrunde gehen? Das im Regelfall so gut wie ausgeschlossene „Grundrisiko“ einer durch andere (versehentlich oder absichtlich) ins Werk gesetzten Vergiftung bleibt ohne „Sonderwissen“ auch hier so lange vernachlässigenswert, wie nicht die ernstliche Möglichkeit erkennbar wird, dass dem Wunsch auch eine Realitätsnähe zukommen könnte, etwa aufgrund bekannter Leichtfertigkeiten des Kochs in Bezug auf die nötige Hygiene oder deswegen, weil diesem ein Giftanschlag in der konkreten Situation tatsächlich ohne weiteres zuzutrauen ist. Ohne derartige Anhaltspunkte bleibt jedoch jene „Schädigungsabsicht“ so lange irreales und daher rechtlich irrelevantes Hoffen, wie sich dieses nicht in ein gefahrerhöhendes Handeln niederschlägt.76 Die rechtliche Beurteilung ändert sich daher schlagartig, wenn der Täter bei Abrissarbeiten den Schutt berechnend gerade in jenem Moment in die Ablaufröhre wirft, dass am unteren Ende ein Passant verletzend getroffen wird.77 Hier hat sich die einer Schädigungsabsicht stets immanente Gefahr der realen Einflussnahme auf das Tatgeschehen merklich ausgewirkt, so dass strafrechtlich relevantes Unrecht selbst dann vorliegt, wenn die Baustelle ordnungsgemäß abgesichert und mit einem verbotswidrigen Betreten der Baustelle durch den Passanten an sich nicht zu rechnen war.78 Denn die „Erlaubnis“ zum Eröffnen und Unterhalten einer Gefahrenquelle dispensiert nicht von der Geltung der allgemeinen Vermeidepflicht, die zu erfüllen der Täter hier keineswegs gehindert war; im Verletzungserfolg hat sich daher nicht das mit der konkreten Tätigkeit als Bauarbeiter „unvermeidlich“ verknüpfte (und insoweit erlaubte) Risiko, sondern der darüber hinausreichende Wille niedergeschlagen, das vorhandene Vermeidepotential bewusst nicht einzusetzen und die Schädigung zielgerichtet herbeizuführen. In gleicher Weise kommt es somit auch für Konstellationen wie jene im Fall der provozierten Auffahrunfälle79 entscheidend darauf an, ob der antisoziale Wille sich auf seine ursprüngliche Innerlichkeit hat einhegen lassen oder die Schwelle zur tätigen Äußerlichkeit im Sozialverhältnis überschritten, sich also bei der (erstrebten)80 Herbeiführung des schädigenden

___________ 76

So auch Freund, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2009, § 2 Rn. 15. Beispiel entnommen bei Kudlich, FS Benakis, 2008, S. 265, 273. 78 Zutreffend Kudlich, ebd. 79 Siehe oben bei Fn. 25. 80 Bei Versuchstaten also im Sinne des § 22 StGB. 77

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Erfolges gefahrerhöhend bemerkbar gemacht hat.81 Denn die mit Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer (vgl. § 1 StVO) fortbestehende Vermeidepflicht gestattet nicht, dass verkehrsfeindliche Motive Einfluss auf die jeweiligen straßenverkehrsbezogenen Handlungen und Entscheidungen gewinnen.82 Nichts anderes gilt schließlich auch für den Wettkampfsport: Solange das Verhalten seinen spiel- und wettkampfbezogenen Charakter („Kampf um den Ball“) nicht verliert, hält es sich innerhalb des Bereichs erlaubt-riskanter sportlicher Betätigung;83 dass bei echten Kampfsportarten wie z.B. beim Boxen84 oder neuerdings beim sog. „Freefight“85 allerdings die Grenzen merklich zerfließen, liegt in deren Natur begründet.

III. Zur Individualisierung des „erlaubten Risikos“ Noch immer klärungsbedürftig ist allerdings die Frage, wie sich die vorstehend skizzierte Einbeziehung subjektiver Dispositionen in das „objektiv“ begangene Unrecht verbrechenssystematisch realisieren lässt, ohne den Vorwurf des „Abgleitens in Gesinnungsstrafrecht“ nach sich zu ziehen.86 Was dabei unter „Gesinnungsstrafrecht“ näher zu verstehen ist, bleibt jedoch jenseits des allgemeinen Bekenntnisses zum Antonym des „Tatstrafrechts“ als „rechtsstaatliches Bollwerk gegen Übergriffe des Staates“87 meist im Dunkeln, wenn etwa danach unterschieden werden soll, ob der „böse Wille als solcher“ oder „der sich verwirklichende Wille“ bestraft wird.88 Denn auf die reine „Gedankensünde“ kann sich der gemeinte problematische Bereich kaum beschränken, wenn Gegenstand einer strafenden Sanktion immer nur ein tatbestandsmäßiges Ver___________ 81 Trotz abweichender Hintergrundtheorie auch angedeutet bei Murmann, FS Herzberg, 2008, S. 123, 135: Verhaltensverbot komme nicht „wegen böser Absichten“, sondern der Gefährlichkeit wegen in Betracht. 82 Ähnlich wie hier auch der BGH im „Schill“-Fall, vgl. BGHSt 47, 105, 113 ff. (m. zust. Anm. Kühl/Heger, JZ 2002, 201, 202): „Zögerliche Bearbeitung einer Rechtssache innerhalb eines objektiv vertretbaren Zeitraums ist Rechtsbeugung, wenn der Richter mit seiner Verfahrensweise aus sachfremden Erwägungen gezielt zum Vorteil oder Nachteil einer Partei handelt“ (Ls). 83 Näher dazu Rössner, FS Hirsch, 1999, S. 313, 324 m.w.N. 84 Zum Boxerfall siehe o. bei Fn. 10. 85 Siehe dazu den Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung v. 1.2.2009, S. 52 („Die Leute wollen Blut sehen“). 86 Diese Frage bleibt bei Murmann unbeantwortet, der sich vielmehr auf die allgemeine Aussage beschränkt, dass der Vorwurf des Gesinnungsstrafrechts bei der von ihm zugrunde gelegten „erweiterten Perspektive“ seine Überzeugungskraft „einbüße“, siehe in: FS Herzberg, 2008, S. 123, 135. 87 Hirsch, FS Lüderssen, 2002, S. 253, 254 m.w.N. 88 Vgl. Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 187.

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halten (vgl. § 11 I Nr. 5 StGB) ist.89 Für die gesuchte Grenzlinie zwischen Gesinnungs- und Tatstrafrecht folgt daraus zwangsläufig, dass selbige „nicht zwischen Gedanken und Handlungen, sondern einzig innerhalb des Handlungsbereichs“ verlaufen muss.90 In seiner konzisen Analyse der vielfältigen Bezugnahmen des Strafrechts auf „Gesinnungen“ beschreibt Kühl vor dem Hintergrund der kantischen Unterscheidung von Moralität und Legalität deshalb auch die Möglichkeit eines „indirekten“ Zugriffs der Rechtsordnung, der eines moralischen Rigorismus verdächtig ist: Dieser geschieht „häufig in der Weise, dass schon vor rechtswidrigen Handlungen oder bei an sich noch nicht rechtswidrigen Handlungen zugegriffen wird, weil eine bestimmte Gesinnung des vor der Handlung Stehenden bzw. des Handelnden vermutet wird“91. Solange also das in Frage stehende Verhalten dem Recht entspricht, muss – so auch Schreiber92 – die innere Einstellung gleichgültig bleiben. Üblicherweise wird von hier aus streng zwischen „Objektivem“ und „Subjektivem“ unterschieden und dementsprechend nach einer „objektiven Pflichtwidrigkeit“ des Verhaltens Ausschau gehalten, ohne die ein Einbeziehen von „Gesinnungen“ nicht hinnehmbar sei: In seiner Aufzählung denkbarer Konstellationen illegitimer Gesinnungsbestrafung führt etwa Rath insbesondere solche an, in denen der „äußere, interaktionell wirksame Verhaltensvollzug … eindeutig, insbesondere weil er rechtlich erlaubt ist, keine kriminalunrechtsrelevante … Gefahr schafft“93; andere Worte, aber in der Sache ganz dasselbe findet man schon bei Frisch, wonach „prinzipiell tolerierte Betätigung ihre Erlaubtheit nicht dadurch verlieren [könne], dass der je Agierende (…) böse Hintergedanken hat“: Denn missbilligen lasse sich hier „angesichts der prinzipiellen Erlaubtheit der Risikoschaffung ja nichts weiter als das »Haben der bösen Gesinnung«“94. Zu Recht hat jedoch der Maiwald-Schüler Rackow in seiner überaus lesenswerten Habilitationsschrift („Neutrale Handlungen als Problem des Strafrechts“, 2007) den Finger in die Wunde gelegt mit seinem wichtigen Hinweis, dass vorrangig doch die Bestimmung der „Pflicht“ (und deren Missachtung, mithin also die Konstruktion der unrechtsbegründenden „Pflichtwidrigkeit“) ist, d.h. nur relational zu dieser (nach Rackow: „situations- und kontextabhängig“) ___________ 89 Überzeugend Maurach/Zipf, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Teilbd. 1, 8. Aufl. 1992, § 35 Rn. 5. 90 Insoweit zutreffend Kargl, ZStW 103 (1991), 136, 169. 91 Kühl, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral. Beiträge zu einer Standortbestimmung, 1991, S. 139, 147 (jetzt auch abgedr. in: Kühl, Freiheitliche Rechtsphilosophie, 2008, S. 182, 191). 92 In: FS Dünnebier, 1982, S. 633, 639, freilich dezidiert auf das „äußere Verhalten“ abstellend, dazu näher im Text. 93 Rath (Fn. 20), S. 45. 94 Frisch (Fn. 41), S. 141 m. Fn. 80.

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der Vorwurf des „Gesinnungsstrafrechts“ plausibilisiert werden kann.95 Und der entscheidende Fehler all jener, die diesen Vorwurf gegen jedwede Berücksichtigung von „Schädigungsabsichten“ in Stellung zu bringen versuchen, liegt ersichtlich darin, einen „an sich“ bestehenden „objektiven“ Pflichtenstatus zu postulieren, der durch subjektive Dispositionen allenfalls ergänzt und erweitert, nicht aber (strafbegründend) durchbrochen werden könne.96 Ein „an sich“ bestehendes „erlaubtes Risiko“ ist aber in Wahrheit keines, wenn es stets unter dem Vorbehalt einer besseren Vermeidefähigkeit des jeweils Pflichtigen (z.B. aufgrund von „Sonderwissen“ oder „Sonderfähigkeiten“) steht; die „Pflichtwidrigkeit“ eines konkreten Täterverhaltens ist dementsprechend immer eine auf die jeweilige Täterperson in ihrer jeweiligen Tatsituation bezogene, in ihrer Substanz also notwendig eine individuelle: Denn die Berücksichtigung eines allgemeinen – „objektiven“ – Erfahrungswissens bei der Pflichtbestimmung wäre „nutzlos, wenn nur Subjekte, die lediglich über ihre eigenen, je individuellen Erfahrungen verfügen, der Norm genügen sollen“97. Die vorherrschende, von den modernen Lehren der objektiven Zurechnung geprägte Strafrechtssystematik dürfte somit allen wohlmeinenden Beteuerungen zum Trotz wohl noch immer von dem schon einige Male beklagten Virus der „Verwirrung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven“98 befallen sein. Das wird besonders an den Bemühungen deutlich, „Sonderwissen“ und „Sonderfähigkeiten“ trotz ihres notwendig täterindividuellen Bezuges in die Struktur des „objektiven Tatbestands“ einzubetten: Nach Roxin soll für das zentrale Moment der „Gefahrschaffung“ grundsätzlich eine „objektivnachträgliche Prognose“ gelten, d.h. es soll darauf ankommen, „ob ein einsichtiger Beobachter vor der Tat (ex ante) das entsprechende Verhalten für riskant bzw. gefahrerhöhend gehalten hätte“; zugleich müsse dieser „objektive Beobachter“ aber auch mit dem „etwaigen Sonderwissen des Täters“ ausgestattet werden.99 Das mag sich auf dem Boden einer „teleologisch-kriminalpolitischen Strafrechtskonzeption“ plausibel begründen lassen;100 nur bleibt die offene Frage, was dann noch das „Objektive“ am „objektiven Tatbestand“ sein soll und ___________ 95

Rackow, Neutrale Handlungen als Problem des Strafrechts, 2007, S. 114 ff., 120. Ähnlich, allerdings auf die rechtsphilosophische Metaebene projiziert, die Beobachtung Murmanns: „… Fehlakzentuierung …: Es geht … nicht um die Einschränkung einer an sich bestehenden Freiheit …“. 97 Jakobs, Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, S. 89; siehe auch Kindhäuser, GA 2007, 447, 467: „Suche nach einem objektiven Risiko … ist … überflüssig“. 98 Hierzu eindrucksvoll Burkhardt, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozess im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 99, 105 ff. m.w.N.; siehe auch Kindhäuser, GA 2007, 447. 99 Roxin (Fn. 19), § 11 Rn. 57. 100 Dazu eingehend Greco, ZStW 117 (2005), 519 ff. 96

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im Unterschied dazu das „Subjektive“ am „subjektiven Tatbestand“.101 Nicht überzeugend ist jedenfalls die hierauf erteilte Antwort Roxins, dass der objektive Tatbestand nicht deshalb seine Bezeichnung trage, „weil subjektive Umstände … unerheblich sind“, sondern weil „das Zurechnungsergebnis, das Vorliegen einer Tötungs- oder Verletzungshandlung usw., etwas Objektives ist“102; denn mit dieser Begriffsbestimmung könnte man auch den Vorsatz in den objektiven Tatbestand einbeziehen, wie Burkhardt zu Recht moniert hat: „Auch hier ist das Zurechnungsergebnis etwas Objektives, weil in Frage steht, ob ein [vorsätzlich begangenes] vollendetes Delikt vorliegt“103. Wesentlich einleuchtender ist da die Annahme, dass die Unterscheidung von objektivem und subjektivem Tatbestand durch eine Divergenz im Hinblick auf die der rechtlichen Beurteilung zugrunde liegenden Basisfakten bedingt ist: Die objektive Tatbestandsverwirklichung entscheidet sich nach Maßgabe aller dem Richter ex post zur Verfügung stehenden Fakten und nomologischen Zusammenhänge; der subjektive Tatbestand hat hingegen die individuelle „Vermeidepflichtverletzung“104 zum Gegenstand, d.h. auf der Grundlage des täterindividuellen Wissens und Könnens die Frage, ob jene objektive Tatbestandsverwirklichung diesem konkreten Täter auch tatsächlich als „sein Werk“, d.h. als von ihm „vorsätzlich“ oder „fahrlässig“ begangen zugerechnet werden kann.105 Die Berücksichtigung einer evtl. vorhandenen Schädigungsabsicht macht an dieser Stelle keinerlei Schwierigkeiten mehr, während eine systematisch stimmige Lösung, die dem Einwand des „Gesinnungsstrafrechts“ entgeht, aus der Perspektive der „objektiven Zurechnungslehre“ trotz mancherlei Reparaturarbeiten noch aussteht.106 Auf dieser Basis ergeben sich natürlich weitreichende Veränderungen in der verbrechenssystematischen Struktur (z.B. zum systematischen Standort des „Pflichtwidrigkeitszusammenhangs“) und stellt sich die seit Jahren intensiv diskutierte Frage zum Verhältnis von Vorsatz- und Fahrlässigkeitstat auf ganz neue Weise. Im vorliegenden Rahmen muss sich der Blick jedoch – der Themenstellung entsprechend – zum Abschluss darauf richten und beschränken, was vom „erlaubten Risiko“ als Kern der Lehre von der objektiven Zurechnung“ bleibt: Soweit mit dieser Kategorie der Anspruch erhoben wird, bereits innerhalb des objektiven Tatbestandes zu einem begründeten (d.h. abschließen___________ 101 Siehe dazu auch Kindhäuser, GA 2007, 447, 461: keine „konsistente Theoriebildung“. 102 Roxin, Chengchi Law Review 50 (1994), 219, 233. 103 Burkhardt (Fn. 98), S. 105. 104 Otto, GS Schlüchter, 2002, S. 77, 89 f. 105 In teilweise abweichender Terminologie, aber in der Sache wie hier bereits Kindhäuser, GA 2007, 447, 467. 106 Siehe etwa Roxin (Fn. 19), § 11 Rn. 68 (ohne jede Begründung).

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den) Urteil über die (fehlende) „Pflichtwidrigkeit“ des konkreten Täterverhaltens zu gelangen, wird ihr eine Funktion zugemessen, die sie schlechterdings nicht erfüllen kann. Schon der bloße Gedanke an die Alternativlosigkeit einer wahrhaft „personfunktionalen“ Zurechnung107, sofern der Sanktionierte die Bestrafung als „verdiente Übelszufügung“ und nicht als schicksalhaften Zufall erfahren soll,108 legt die Annahme nahe, dass die verantwortliche Zuschreibung des kausal bewirkten Erfolges gegenüber der konkreten Täterperson vollständig nur bei Einbeziehung auch der individuellen Gegebenheiten (Kenntnisse, Fähigkeiten, Absichten) sachgerecht erfolgen, mithin nur auf diese Weise die konkrete Person auch tatsächlich in Bezug genommen und erfasst werden kann. Die „Zwischenstufe“ einer Erfolgszurechnung, die sich an einen generalisierten Normadressaten richtet, ist hingegen ebenso verwirrend wie überflüssig und letztlich unverkennbar ein noch erhalten gebliebenes Relikt aus der Zeit der alten, „klassischen“ Verbrechenslehre, die das heute dominierende zweckrationale Strafrechtskonzept noch keineswegs vollständig hinter sich gelassen hat.109 Das bedeutet allerdings nicht, dass etwa sämtliche Elemente einer letztlich immer täterindividuellen Erfolgszurechnung aus dem objektiven Tatbestand ausgelagert und in den subjektiven Tatbestand überführt werden müssten. Schon der Kausalzusammenhang zeigt, dass am konkreten Tatverhalten anknüpfend sehr wohl objektive Elemente verbleiben, die auch nach vorstehender Systematik weiterhin im objektiven Tatbestand zu behandeln sind. Hierzu könnte aber darüber hinaus auch das Erfordernis einer „objektiven Bezweckbarkeit“ 110 zählen, das bekanntlich einst den Ausgangspunkt für die „objektive Zurechnung“ bildete.111 Sollte sich hiermit, wie der verehrte Jubilar eingehend dargelegt und begründet hat,112 tatsächlich die objektive „Urheberschaft“ des schädlichen Erfolges als Resultat menschlichen Gestaltens in Abgrenzung zum bloßen Zufall113 als Gegenstand rechtlicher Bewertung klar genug präzisieren und vom ___________ 107 In diesem Sinne das Bekenntnis Roxins, vgl. in: FS Benakis, 2008, S. 497, 515: „personfunktionales System“ im erklärten Gegensatz zu einer Jakobs zugeschriebenen „systemfunktionalen Verbrechenslehre“. 108 Zur straftheoretischen Debatte siehe zuletzt die Beiträge in Schumann (Hrsg.), Das strafende Gesetz im Sozialstaat (Akademie der Wissenschaften zu Göttingen), 2009 (im Erscheinen). 109 Dazu näher Duttge (Fn. 23). 110 Vgl. Honig, FG Frank, Bd. I, 1930, S. 174, 183 f.: „Da gerade das zweckhafte Eingreifen in die Naturvorgänge das Wesen menschlichen Verhaltens ausmacht, ist objektive Zweckhaftigkeit das Kriterium für die Zurechenbarkeit des Erfolges und damit auch für seine Abgrenzung vom zufällig Ereignis“. 111 Zur Entwicklungsgeschichte: Schroeder, FS Androulakis, 2003, S. 651 ff. 112 Maiwald, FS Miyazawa, 1995, S. 465 ff. 113 Die Filterfunktion beschränkt sich dann also auf die „Ausgrenzung nicht beherrschbarer Verläufe“, vgl. Frisch, FS Roxin, 2001, S. 213, 215.

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Bewertungsakt selbst trennen lassen,114 so blieben der Kategorie einer „objektiven Zurechnung“ als Kern des objektiven Tatbestandes noch genügend Anwendungsfelder und Problembereiche: Zugleich wäre damit der vielbeklagten „Gefahr entgangen, den Begriff der objektiven Zurechnung als amorphes Sammelbecken für ganz verschiedenartige Wertungsgesichtspunkte zu verwenden und so seinen Erkenntniswert preiszugeben“115.

___________ 114 Ganz in dieselbe Richtung weist die Kritik von Frisch, FS Roxin, 2001, S. 213, 236: „Die Inhalte des Rechts sind von den Regeln der Zurechnung verschieden“; siehe aber auch ders., GA 2003, 719, 735 ff. (Kritik an naturalistischen Eingrenzungs- und Abgrenzungsversuchen zum „Zufall“). 115 Maiwald (Fn. 112), S. 481.

Europäisierung versus Nationalisierung des Wirtschaftsstrafrechts: Die italienische Reform der Bilanzfälschung vor dem EuGH (Fall Berlusconi) Von Luigi Foffani 1. Auf dem langen und schwierigen Weg zum Aufbau eines europäischen Strafrechts stellt das Urteil des EUGH vom 3. Mai 20051 – verursacht von der Reform der strafrechtlichen Regelung der Bilanzfälschung in Italien im Jahre 20022 – eine der bedeutendsten Etappen der letzten Jahre dar. ___________ 1 EuGH, 3.5.2005, Rs. C-387/02, C-391/02 u. C-403/02, JZ 2005, 997 m. Anm. Satzger; dazu s. auch Alonso García, Revista española de Derecho Europeo 2006, Nr. 17, 79 ff.; Bortfeld, NJW 2005, Heft 13, III; Dirrig, Revue trimestrielle de droit européen 2005, 933 ff.; Dubos, La Semaine juridique 2006, II, 10020; Gebbie, Journal of European Criminal Law 2007, Bd. 1, Issue 3, 31 ff.; Gelter/Siems, Harvard International Law Journal 2005, 487 ff.; Gross, EuZW 2005, 371 ff.; Hermann, EuZW 2005, 436 ff.; Luther, EGrZ 2005, 350 ff.; Magnier, Revue des sociétés 2006, 140 ff.; Soulard, Gazette du Palais 2005, I Jur., 6 ff.; Van der Wilt, European Constitutional Law Review 2006, 2, 303 ff.; Wegener/Lock, Europarecht 2005, 802 ff. In Italien hat dieses Urteil eine besonders große Resonanz (sowohl im strafrechtlichen, als auch im verfassungs- und europarechtlichen Schrifttum) gehabt: vgl. Armone, Foro it. 2005, IV, 285 ff.; Biondi/Mastroianni, Common Market Law Review 2006, 553 ff.; Crespi, Rivista delle società 2005, 710 ff.; D’Amico, Quaderni costituzionali 2005, 177 ff. und 675 ff.; Davigo, Lo spazio di libertà, sicurezza e giustizia dell’Unione Europea 2007, 181 ff.; Di Martino, Foro italiano 2005, IV, 285 ff.; Insolera/Manes, Cassazione penale, 2005, 2764 ff.; Izzo, Il Fisco 2005, 4746 f.; Lanzi, Rivista italiana di diritto pubblico comunitario 2006, 889 ff.; Munari, Il diritto dell’Unione Europea 2006, 211 ff.; Nebbia, Giurisprudenza italiana 2006, 293 ff.; Nicolella, Gazette du Palais 2006, Nr. 102-103, I Jur., 27; Riondato, Diritto penale e processo 2005, 782 ff.; Onida, Il Sole24Ore 4.5.2005; Salcuni, Rivista trimestrale di diritto penale dell’economia 2005, 93 ff. Diesem Urteil ist auch ein ganzer Tagungsband gewidmet: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Hrsg.), Ai confini del “favor rei”. Il falso in bilancio davanti alle Corti costituzionale e di giustizia, Turin 2005. 2 Es geht um die Neufassung der Art. 2621 und 2622 des italienischen Bürgerlichen Gesetzbuches (Codice civile), die die straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Regelung der Bilanzfälschung enthalten. Die Reform wurde im Rahmen einer Gesamtreform des Gesellschafsrechts erlassen: der strafrechtliche Teil dieser Reform wurde durch die gesetzesvertretende Verordnung Nr. 61 vom 11. April 2002 zur Regelung der Straftaten und Ordnungswidrigkeiten betreffend Handelsgesellschaften nach Art. 11 des Gesetzes Nr. 366 vom 3. Oktober 2001 erlassen. Über das neue italienische Handelsgesellschaftsstrafrecht vgl. insb. Alessandri (Hrsg.), Il nuovo diritto penale delle società, Mailand 2002; Ambrosetti/Mezzetti/Ronco, Diritto penale dell’impresa, 95 ff.; Antolisei, Manuale di diritto penale. Leggi complementari, Bd. I, Mailand 2007; Conti, Disposizioni penali

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Es sind zwei Hauptfragen, die dieses Urteil der Aufmerksamkeit der (italienischen und europäischen) Strafrechtswissenschaftler vorstellt: Die erste allgemeine Frage betrifft die Rückwirkung des milderen Gesetzes und die Folgen seiner eventuellen Verfassungs- bzw. Gemeinschaftsrechtswidrigkeit, während die zweite Frage – in erster Linie bezogen auf die italienische Rechtsordnung – das Problem der Vereinbarkeit der neuen italienischen strafrechtlichen Regelung der Bilanzfälschung mit den Anforderungen und Schutzbedürfnissen betrifft, die das EG-Recht im Rahmen des Gesellschaftsrecht anerkennt. In Bezug auf die erste Frage – die einen Schwerpunkt des Verhältnisses zwischen Bürger, Richter und Strafgesetz berührt – behauptet das Urteil des EuGH, dass „der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes […] zu den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten [gehört]“. Deswegen folgert es daraus, „dass dieser Grundsatz als Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts anzusehen ist, die der nationale Richter zu beachten hat, wenn er das nationale Recht, das zur Durchführung des Gemeinschaftsrechts erlassen wurde, und im vorliegenden Fall insbesondere die Richtlinien zum Gesellschaftsrecht anwendet“3. Der Gemeinschaftsrichter kommt eigentlich nicht dahin, die weitere und entscheidende Frage zu lösen – die er sich daran beschränkt, nur incidenter tantum zur Sprache zu bringen – „ob der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes gilt, wenn dieses gegen andere gemeinschaftsrechtliche regeln verstößt“4. Eine eventuell positive Antwort des EUGH auf diese letzte Frage hätte tiefe Folgen mit sich gebracht. Diese heikle Frage wird aber durch folgende Argument umgegangen: Sollten die neuen italienischen Strafvorschriften über die Bilanzfälschung „wegen einiger in ihnen enthaltener Bestimmungen nicht dem gemeinschaftsrechtlichen Erfordernis der Geeignetheit der Sanktionen entsprechen“, dann wären nach gefestigter Rechtsprechung5 die vorliegenden italienische Gerichte gebunden, diese Neuregelung der Bilanzfäl___________ in materia di società e di consorzi, 4. Aufl., Bologna-Rom 2004; Foffani, in: Palazzo/Paliero (Hrsg.), Commentario breve alle leggi penali complementari, 2. Aufl. 2007, 2443 ff.; Giarda/Seminara (Hrsg.), I nuovi reati societari: diritto e processo, Padua 2002; Giunta (Hrsg.), I nuovi illeciti penali ed amministrativi riguardanti le società commerciali, Turin 2002; ders., Lineamenti di diritto penale dell’economia, I, 2. Aufl., Turin 2004; Lanzi/Cadoppi (Hrsg.), I reati societari, 2. Aufl., Padua 2006; Lunghini, in: Dolcini/Marinucci (Hrsg.), Codice penale commentato, 2. Aufl., Mailand 2006, 5111 ff.; Masullo/Bianconi, in: Padovani (Hrsg.), Leggi penali complementari, Mailand 2007, 2359 ff.; Musco, I nuovi reati societari, 3. Aufl., Mailand 2007; Rossi (Hrsg.), Reati societari, Turin 2005; Zannotti, Il nuovo diritto penale dell’economia, Mailand 2008, 93 ff. 3 EuGH JZ 2005, 997, 998, Rn. 68 und 69 (Hervorhebung vom Verf.). 4 EuGH JZ 2005, 997, 998, Rn. 70. 5 „Leading case“ war der Fall Simmenthal: EuGH, 9.3.1978, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rn. 21 u. 24.

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schung unangewendet zu lassen6; aber – da es um eine Pflicht geht, die ihre Quelle in einer EG-Richtlinie (oder besser gesagt: in einem Komplex von EGRichtlinien) findet – darf die Nichtanwendung nicht in Frage kommen, weil „eine Richtlinie für sich allein und unabhängig von zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaats nicht die Wirkung haben kann, die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Vorschriften dieser Richtlinie verstoßen, festzulegen oder zu verschärfen“7. Gegen diese letzte Stellungnahme des EG-Richters – der sich ausdrücklich auf die Kolpinghuis Rechtsprechung8 beruft – kann man aber einwenden, dass die hypothetischen negativen Folgen für die einzelnen Betroffenen – im Fall einer Nichtanwendung der neuen Art. 2621 und 2622 Codice civile (Cc), wenn diese Strafvorschriften als gemeinschaftsrechtswidrig erklärt worden wären – keine Folge der unmittelbaren Anwendung einer Richtlinie in einem Strafverfahren gewesen wären, sondern die Folge eines Wiederauflebens des Art. 2621 Nr. 1 Cc a.F. (d.h. der ursprünglichen und schärferen strafrechtlichen Regelung der Bilanzfälschung), „der in Kraft war, als die Taten begangen wurden, die den Strafverfolgungsmaßnahmen in den Ausgangsverfahren zugrunde liegen“9. Außerdem hätte der EuGH hervorheben können und sollen, dass die mitgliedstaatliche nationale Rechtsordnung die Möglichkeit geboten (und vielleicht vorgeschrieben) hätte, einen alternativen Weg statt der Nichtanwendung der hypothetischen gemeinschaftswidrigen Strafvorschriften zu durchlaufen, d.h. den Weg zu dem nationalen Verfassungsrichter, vor dem die oben genannten Hindernisse des Verbots der strafbegründenden bzw. -schärfenden (unmittelbaren) Wirkung einer EG-Richtlinie10 keine Rolle gespielt hätten. Abgesehen davon, sieht die rechtliche Grundlage der im EuGH-Urteil enthaltenen Anerkennung des Prinzips der Lex mitior aber nicht ganz überzeugend aus. Der „Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes“ scheint eigentlich nicht so einfach erkennbar als Bestandteil der „gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten“11 (so z.B. weder in Italien ___________ 6

EuGH JZ 2005, 997, 998, Rn. 72. EuGH JZ 2005, 997, 998, Rn. 74 u. 77 und Tenor. 8 EuGH, 8.10.1987, Rs. 80/86 (Kolpinghuis Nijmegen), Slg. 1987, 3969, Rn. 13; neulich EuGH 7.1.2004, Rs. C-60/02, X, Slg. 2004, I-651, Rn. 61 und die dort zitierte Rechtsprechung. Weitere Hinweise bei Satzger (Fn. 1), 999, Fn. 10; Bernardi, in: Bin/Brunelli/Pugiotto/Veronesi (Fn. 1), 32-33, Fn. 2. 9 EuGH JZ 2005, 997, 998, Rn. 76. 10 Vgl. Fn. 7. 11 EuGH JZ 2005, 997, 998, Rn. 68. Ähnliche kritische Bemerkung auch bei Satzger (Fn. 1), 1000, der betont, dass „der Lex-mitior-Grundsatz […] in den meisten nationalen Rechtsordnungen nicht einmal verfassungsrechtlich garantiert wird“. 7

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noch in Deutschland, wo das Rückwirkungsgebot des milderen Gesetzes keinen Verfassungsrang – zumindest innerhalb des Gesetzlichkeitsprinzips – besitzt12). Die radikale Stellungnahme des EuGH scheint vielmehr als eine vorzeitige Anwendung des entsprechenden Grundsatzes des Art. 109 Abs. 1 letzter Satz13 der Charta der Grundrechte der Union (Vertrag von Nizza), die aber – bis zur sich abzeichnenden Ratifizierung des Vertrags von Lissabon – noch keine volle rechtliche Kraft besitzt. Keine der traditionellen Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips in seinen verschiedenen Aspekten (Schutz gegen mögliche Missbräuche der Exekutive, der Legislative und der Justiz) kann dem Lex-mitior-Grundsatz zugrunde gelegt werden, der – falls dieser Grundsatz grenzenlos und ohne passende Gegengewichte angenommen werden sollte – zu möglichen Missbräuchen der gesetzgebenden Gewalt führen könnte.14 Der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes kann eigentlich eine rationale Rechtfertigung nur in dem Erfordernis einer Gleichbehandlung von Tätern erfahren, die dieselbe Tat unter der Geltung von verschiedenen Strafgesetzen begangen haben, wenn diese Strafgesetze unterschiedliche kriminalpolitische Orientierungen in Bezug auf die Quantität der Strafwürdigkeit und/oder auf die normativen Selektionskriterien bestimmter Verhaltensweisen enthalten.15 Auch wenn Gerechtigkeitsanforderungen verlangen, dass die Folgen der kriminalpolitischen Schwankungen des Gesetzgebers nicht zu Lasten des einzelnen Normadressaten gehen dürfen, wenn es darum geht, unter früheren Gesetzen begangene Taten zu beurteilen, sollte dies aber eine Grenze in der Verfassungs- und Europarechtsmäßigkeit der vom Gesetzgeber getroffenen kriminalpolitischen Entscheidungen finden. Es scheint deswegen vernünftig und begründet, den oben genannten Grundsatz der Grundrechtscharta („Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so ist diese zu verhängen“) in dem Sinne auszulegen, dass dieser Grundsatz auf ein verfassungs- und europarechtsmäßiges Gesetz (implizit aber notwendigerweise) Bezug nimmt.16 ___________ 12

Vgl. für alle Schönke/Schröder/Eser, StGB, § 2 Rn. 16. „Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so ist diese zu verhängen“. 14 Das ist auch in Italien in den letzten Jahren – durch die Praxis der sog. ad personam-Gesetze – mehrmals Realität geworden: vgl. dazu, in kritischer Ansicht, Dolcini Rivista italiana di diritto e procedura penale 2004, 50 ff. 15 Auf das Gleichheitsprinzip als Fundament des Lex-mitior-Grundsatzes berufen sich z.B. Fiandaca/Musco, Diritto penale. Parte generale, 5. Aufl., 2007, 86 u. 92; Padovani, Diritto penale, 7. Aufl., 2004, 39; Dolcini/Marinucci-Pecorella, Codice penale commentato, 2. Aufl., 2006, Art. 2 Rn. 51; Pecorella, L’efficacia nel tempo della legge penale favorevole, 2008, 11. 16 In diesem Sinne s. schon die Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 14.10.2004. Wie Satzger (Fn. 1), S. 999 Fn. 14, betont, ist es bereits bemerkens13

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Einer solchen restriktiven Auslegung17 entspricht auch die italienische Rechtsordnung. Wenn es auch – im Fall einer gerichtlich festgestellten Verfassungswidrigkeit eines milderen Strafgesetzes, das einer strengeren Norm gefolgt ist – unterschiedliche Meinungen in der Lehre in Bezug auf die Norm gibt, die gegenüber den während der Geltung des verfassungswidrigen Gesetzes begangenen Taten angewendet werden soll (entweder Anwendbarkeit des verfassungswidrigen Gesetzes18, oder Unanwendbarkeit beider Gesetze, d.h. sowohl des verfassungswidrigen, als auch des früheren schärferen Gesetzes, das aufgrund der Nichtigkeit des milderen Gesetzes wieder ins Leben gerufen worden ist19), besteht hingegen kein Zweifel über die strafrechtliche Behandlung der Taten, die vor der Zeit der Geltung der verfassungswidrigen milderen Gesetzes begangen worden sind, und die nach dem Gesetz der Zeit der Tatbegehung weiter strafbar bleiben sollen, da es in diesem Fall die Voraussetzungen einer echten Gesetzesänderung gemäß Art. 2 Abs. 4 it. StGB nicht bestehen.20 2. In Bezug auf diesen ersten Problemkreis hat vielleicht das Urteil des EuGH die Erwartungen enttäuscht; sicher hat es eine gewisse Überraschung verursacht, wenn man nur an die – schon einige Monate vor dem Urteil bekannt gewordenen – Schlussanträge der Generalanwältin Kokott denkt, die eine ganz anders orientierte Entscheidung des Gemeinschaftsrichters vorgeschlagen hatte, sogar in die Richtung der Nichtanwendung der neu gefassten Art. 2621 und 2622 it. BGB. „Insbesondere – so ausdrücklich die Generalanwältin – kann es auch keinerlei Toleranz geben, wenn, wie in den Artikeln 2621 n.F. und 2622 n.F. des Codice Civile vorausgesetzt, vorsätzlich sowie mit Täuschungs- bzw. Bereicherungsabsicht falsche Informationen in einen Jahresabschluss eingestellt und dann offen gelegt werden, mögen auch die Auswirkungen der Fälschung in rein quantitativer Hinsicht gering sein. Denn der Grundsatz des wahrheitsgemäßen Abbildes der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage einer Gesellschaft dient […] dem Schutz der Interessen Dritter und des Vertrauens, das der Geschäftsverkehr der Richtigkeit von Jahresabschlüssen entgegenbringt. Ließe man es zu, dass in Jahresabschlüssen vorsätzlich und mit Täuschungs- bzw. Bereicherungsabsicht falsche Angaben gemacht werden, so ___________ wert, „dass der EuGH nicht den Anträgen der Generalanwältin entsprach, schließt er sich diesen doch in über 85% der Fälle an“. 17 Für diese Auslegung vgl. auch, innerhalb der italienischen Anmerkungen zum EuGH-Urteil, Di Martino (Fn. 1), 105 f. 18 So z.B. Fiandaca/Musco (Fn. 15), 101. In diese Richtung orientiert sich auch die Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs (Corte costituzionale): s. z.B. Corte cost., 3.6.1983, Nr. 148, Foro italiano 1983, I, 1800. 19 In diese andere Richtung Romano, Commentario sistematico del codice penale, Bd. I, 3. Aufl., 2004, 78. 20 So ausdrücklich Romano (Fn. 19), 79. In demselben Sinne vgl. auch Corte cost. 51/1985, für den Fall eines Gesetzesdekrets, das nicht in ein Gesetz umgewandelt wird.

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würde dieses Vertrauen nachhaltig enttäuscht und damit gegen die Zielsetzung der gesellschaftsrechtlichen Richtlinien verstoßen“21. Daraus folgt es nach der Generalanwältin: „Soweit die nationale Bestimmungen mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar sind, muss es also bei der Verpflichtung der vorlegenden Gerichte bleiben, den Vorgaben der gesellschaftsrechtlichen Richtlinien dadurch zur Durchsetzung zu verhelfen, dass sie diese nationalen Bestimmungen, und seien es mildere Strafgesetze, unangewendet lassen. Auf den Punkt gebracht könnte man sagen, dass ein nachträglich erlassenes gemeinschaftsrechtswidriges Strafgesetz gar kein anwendbares milderes Strafgesetz darstellt“22. Vielleicht war es gerade wegen der Radikalität dieser letzten Folge – die die Schlussanträge der Generalanwältin ausdrücklich befürworteten23 –, dass der EuGH letztendlich einer offensichtlich von politischer Vorsicht inspirierten Linie gefolgt ist. Ganz anders soll die Einschätzung des Urteils in Bezug auf die zweite oben genannte Frage, die im Rahmen der Verhältnisse zwischen Gemeinschaftsrecht und (Wirtschafts)strafrecht neuen und wichtigen Stoff bringt. Es geht um die erstmalige ausdrückliche Anerkennung des gemeinschaftsrechtlichen Erfordernisses der „geeigneten Sanktionen“ nicht nur für den Fall der unterbliebenen Offenlegung der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung von Handelsgesellschaften24, sondern auch für den viel schwerwiegenderen „Fall ihrer Fälschung sowie der unrichtigen Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft gegenüber den Gesellschaften oder der Öffentlichkeit oder anderer unrichtiger Informationen über die Wirtschafts-, Vermögens- oder Finanzsituation, die entweder das Unternehmen selbst oder die Unternehmensgruppe, zu der es gehört, betreffen und zu deren Mitteilung das Unternehmen verpflichtet ist“25. Die wichtigsten Punkte der Argumentation lassen sich in den Rn. 53-65 der Urteilsbegründung finden: insbesondere wo der EuGH anerkennt, dass „Sanktionen bei Straftaten der Bilanzfälschung wie die in den Artikeln 2621 n.F. und 2622 n.F. des Codice civile vorgesehenen bezwecken, schwerwiegende Zuwiderhandlungen gegen das grundlegende Prinzip zu ahnden, dessen Beachtung das Hauptziel der Vierten [und Siebenten] Richtlinie [über das Gesellschaftsrecht] ist […], wonach der Jahresabschluss [und der konsolidierte Abschluss] ___________ 21

Schlussanträge Generalanwältin Kokott, Rn. 99. Schlussanträge, Rn. 165. 23 Bemerkenswert war die Besorgnis, die die Schlussanträge der Generalanwältin in einem Teil der italienischen Lehre hervorgerufen hatte: vgl. z.B., in kritischer Ansicht, Caraccioli, Diritto e pratica delle società 2004, Heft 23, 6 ff.; Crespi, Rivista delle società 2004, 1548-1549; Izzo, Il Fisco 2004, 16653 ff. 24 So ausdrücklich Art. 6 der Ersten Richtlinie über das Gesellschaftsrecht (68/151/EWG). 25 EuGH, 3.5.2005, Rn. 39. 22

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der Gesellschaften […] ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft vermitteln [müssen]“26. „Was das System der Sanktionen anbelangt, das Artikel 6 der Ersten Richtlinie vorsieht, so weist schon der Wortlaut dieser Bestimmung darauf hin, dass dieses System so zu verstehen ist, dass es sich nicht nur auf den Fall des Fehlens jeglicher Offenlegung des Jahresabschlusses bezieht, sondern auch auf den der Offenlegung eines Jahresabschlusses, der nicht den in der Vierten Richtlinie aufgestellten inhaltlichen Regeln entspricht“27. „Hierbei ist […] besonders die überragende Rolle zu berücksichtigen, die die Offenlegung des Jahresabschlusses der Kapitalgesellschaften und umso mehr noch die der nach den harmonisierten inhaltlichen Regeln erstellten Jahresabschlüsse für den Schutz der Interessen Dritter spielt, was ein sowohl in den Begründungserwägungen als auch in der Ersten und der Vierten Richtlinie klar hervorgehobenes Ziel ist“28. „Daraus folgt, dass das Erfordernis der Geeignetheit der Sanktionen wie der in den Artikeln 2621 n.F. und 2622 n.F. des Codice civile wegen Straftaten der Bilanzfälschung vorgesehenen durch Artikel 6 der Ersten Richtlinie aufgestellt wird“29, und dass – nach der gefestigten Rechtsprechung des EuGH30 – „die Mitgliedsstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktion verbleibt, namentlich darauf achten [müssen], dass Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie nach Art und Schwere gleiche Verstöße gegen nationales Recht, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein muss“31. Eine solche extensive Auslegung des gemeinschaftsrechtlichen Erfordernisses der Geeignetheit der Sanktionen gegenüber der Bilanzfälschung war gar nicht so einfach vorherzusehen, trotz des objektiv schwerwiegenderen Charakters der inhaltlich wahrheitswidrigen Bilanzen oder anderen gesellschaftsrecht___________ 26

EuGH, 3.5.2005, Rn. 54-55. EuGH, 3.5.2005, Rn. 56. 28 EuGH, 3.5.2005, Rn. 62 (zuzüglich der Kursiven). 29 EuGH, 3.5.2005, Rn. 63. 30 Seit dem berühmten Fall „Griechischer Mais“: EuGH, Rs. 68/88 (Kommission/Griechenland), Slg. 1989, 2965, Rn. 23-24. 31 EuGH, 3.5.2005, Rn. 65 (zuzüglich der Kursiven). Für eine restriktive Auslegung dieses Grundsatzes vgl. aber Satzger (Fn. 1), 1000-1001: „der Aussagegehalt von Art. 10 EG und den einschlägigen Richtlinien, der allein unmittelbare Wirkung beanspruchen kann, umfasst nur ein Verbot des Absehens von jeglicher Sanktion. […] Festzuhalten bleibt somit, dass die Art. 2621 f. Cc n.F. nicht dem allein unmittelbar anwendbaren Minimalgehalt der Richtlinien und der Loyalitätspflicht gemäß Art. 10 EG entgegenstehen, so dass die italienische Neuregelung vom Anwendungsvorrang nicht erfasst ist. Das von EuGH und Generalanwältin breit erörterte Problem der strafbarkeitsbegründenden Wirkung der Richtlinien bzw. der Anwendbarkeit des Lex-mitior-Grundsatzes konnte sich so gar nicht stellen“. 27

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lichen Mitteilungen gegenüber den Fällen der bloßen unterbliebenen Offenlegung der Bilanzen bzw. Mitteilungen.32 Zu diesem grundlegenden Ergebnis kann der EuGH nur durch eine ausdrückliche volle Anerkennung der Transparenz und Vollständigkeit der gesellschaftsrechtlichen Information als gemeinschaftsrechtlich relevantes Rechtsgut ankommen: ein Rechtsgut, für dessen Förderung ein angemessener und geeigneter (und tendenziell europaweit harmonisierter) Schutz angefordert wird. Das ist ein sehr bedeutender Schritt in die Richtung der Europäisierung des Wirtschaftsstrafrechts, der die gemeinschaftsrechtliche sowie die nationale verfassungsrechtliche Legitimität der neuen italienischen Regelung der Bilanzfälschung sehr ernsthaft in Frage stellt. 3. Um diese Fragestellung zu verstehen, muss man hier die Fundamente der von einer großen Mehrheit der italienischen Strafrechtslehre in den letzten Jahren geübten grundlegenden Kritik33 gegenüber der Neugestaltung des strafrechtlichen Schutzes der gesellschaftsrechtlichen Information in den Art. 2621 n.F. und 2622 n.F. Cc34 in wenigen Worten in Erinnerung bringen. ___________ 32 Über die Anforderung an „geeignete Sanktionen“ für den Fall der unterbliebenen Offenlegung der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung einer Handelsgesellschaft vgl. schon EuGH, 4.12.1997, Rs. C-97/96 (Daihatsu Deutschland) und EuGH, 29.9.1998, Rs. C-191/95 (Kommission/Bundesrepublik Deutschland). 33 Zur Kritik vgl. insbesondere Alessandri, Corriere giuridico 2001, 1545 ff.; ders., Questione giustizia 2002, 1 ff.; ders., Mercato, concorrenza, regole 2002, 146 ff.; ders., Società 2002, 797 ff.; Crespi, Rivista delle società 2001, 1345 ff.; Donini, Cassazione penale 2002, 1240 ff.; Foffani, Diritto penale e processo 2001, 1193 ff.; ders., Cassazione penale 2001, 3246 ff.; ders., in: Ass. D. Preite (Hrsg.), Verso un nuovo diritto societario, Bologna 2002, 329 ff.; ders., in: Giarda/Seminara (Fn. 2), 232 ff.; ders., in: Palazzo/Paliero (Fn. 2); ders., Revista penal 15 (2005), 57 ff.; ders./Vella, Mercato, concorrenza, regole 2002, 125 ff.; Manna, Foro italiano 2002, V, 111 ff.; Marinucci, Guida al Diritto 2001, Nr. 45, 10 f.; ders., Diritto penale e processo 2002, 137 ff.; Paliero, Guida al diritto 2002, 37 ff.; Pedrazzi, Rivista delle società 2001, 1369 ff.; Pulitanò, Guida al diritto 2001, 9 f.; Seminara, Diritto penale e processo 2002, 676 ff. Für die Reform vgl. im Gegenteil Caraccioli, Guida al Diritto 2001, Heft 36, 10 f.; ders., Legislazione penale 2002, 531 ff.; Lanzi, Guida al Diritto 2002, 9 f.; ders., Società 2002, 269 ff.; Nordio, Guida al Diritto 2001, 12 f. 34 Art. 2621 n.F. Cc (Wahrheitswidrige Mitteilungen über die Gesellschaft): „(1) Soweit nicht in Artikel 2622 etwas anderes bestimmt ist, werden Verwalter, Generaldirektoren, mit der Abfassung der gesellschaftlichen Rechnungsunterlagen betraute leitende Angestellte, Aufsichtsratsmitglieder und Liquidatoren, die in der Absicht, die Gesellschafter oder die Öffentlichkeit zu täuschen, und mit dem Ziel, für sich oder für andere einen unberechtigten Gewinn zu erzielen, in den Jahresabschlüssen, in den Berichten oder in sonstigen gesetzlich vorgesehenen, an die Gesellschafter oder an die Öffentlichkeit gerichteten Mitteilungen der Gesellschaft nicht der Wahrheit entsprechende Tatsachen verbreiteten, auch wenn diese Gegenstand von Wertungen sind, oder aber Informationen, deren Übermittlung gesetzlich vorgeschrieben ist, über die Wirtschafts-, Vermögens- oder Finanzlage der Gesellschaft oder der Unternehmensgruppe, der diese angehört, in einer Weise unterlassen, die geeignet ist, bei den Adressaten falsche Vorstellungen über diese Lage hervorzurufen, mit Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren bestraft.

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___________ (2) Die Strafbarkeit erstreckt sich auch auf den Fall, dass die Informationen Vermögensgegenstände betreffen, die die Gesellschaft für die Rechnung Dritter in Besitz hat oder verwaltet. (3) Die Strafbarkeit ist ausgeschlossen, wenn die wahrheitswidrigen Angaben oder die Unterlassungen die Darstellung der Wirtschafts-, Vermögens- oder Finanzlage der Gesellschaft oder der Unternehmensgruppe, der diese angehört, nicht erheblich verfälschen. Die Strafbarkeit ist auf jeden Fall ausgeschlossen, wenn die wahrheitswidrigen Angaben oder die Unterlassungen zu einer Änderung des wirtschaftlichen Ergebnisses des Geschäftsjahres vor Steuern um nicht mehr als 5% oder zu einer Änderung des Nettovermögens um nicht mehr als 1% führen. (4) In jedem Fall ist die Tat nicht strafbar, wenn sie die Folge von Schätzungen ist, die, einzeln betrachtet, um nicht mehr als 10% von der richtigen Bewertung abweichen (5) In den Fällen der Absätzen 3 und 4 wird über die im Absatz 1 genannten Personen die Verwaltungssanktion von zehn bis zu hundert Anteilen und das Verbot, ein leitendes Amt innerhalb juristischen Personen oder Unternehmen, oder das Amt des Verwalters, des Aufsichtsratsmitglieds, des Liquidators, des Generaldirektors und eines mit der Abfassung der gesellschaftlichen Rechnungsunterlagen betrauten leitenden Angestellten sowie jedes andere Amt mit Vertretungsbefugnis der juristischen Person oder des Unternehmens von sechs Monaten bis zu drei Jahren auszuüben, verhängt“. Art. 2622 n.F. Cc (Wahrheitswidrige Mitteilungen über die Gesellschaft zum Nachteil der Gesellschaft, der Gesellschafter oder der Gläubiger): „(1) Verwalter, Generaldirektoren, mit der Abfassung der gesellschaftlichen Rechnungsunterlagen betraute leitende Angestellte, Aufsichtsratsmitglieder und Liquidatoren, die in der Absicht, die Gesellschafter oder die Öffentlichkeit zu täuschen, und mit dem Ziel, für sich oder für andere einen unberechtigten Gewinn zu erzielen, in den Jahresabschlüssen, in den Berichten oder in sonstigen gesetzlich vorgesehenen, an die Gesellschafter oder an die Öffentlichkeit gerichteten Mitteilungen der Gesellschaft nicht der Wahrheit entsprechende Tatsachen verbreiteten, auch wenn diese Gegenstand von Wertungen sind, oder aber Informationen, deren Übermittlung gesetzlich vorgeschrieben ist, über die Wirtschafts-, Vermögens- oder Finanzlage der Gesellschaft oder der Unternehmensgruppe, der diese angehört, in einer Weise unterlassen, die geeignet ist, bei den Adressaten falsche Vorstellungen über diese Lage hervorzurufen, und dadurch einen Vermögensschaden für die Gesellschaft, die Gesellschafter oder die Gläubiger verursachen, werden auf Strafantrag des Verletzten mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu drei Jahren bestraft. (2) Ebenfalls auf Strafantrag wird das Verfahren eingeleitet, wenn die Tat einen anderen, sogar schwereren Straftatbestand zum Nachteil des Vermögens anderer Personen als der Gesellschafter und der Gläubiger erfüllt, es sei denn, sie ist zum Nachteil des Staates, anderer öffentlicher Einrichtungen oder der Europäischen Gemeinschaften begangen worden. (3) Handelt es sich um Gesellschaften, für die die Bestimmungen des Teils IV Titel III Abschnitt II der Gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 58 vom 24. Februar 1998 gelten, ist die Strafe für die in Absatz 1 geregelten Taten ein Jahr bis vier Jahre, und das Verbrechen wird von Amts wegen verfolgt. (4) Die Strafe ist Freiheitsstrafe von zwei bis zu sechs Jahren, wenn der im Absatz 3 geregelten Tat einen schweren Nachteil für die Anleger verursacht. (5) Der Nachteil wird als schwerer eingeschätzt, wenn er eine Zahl von Anlegern über 0,1 pro mille der Bevölkerung nach der letzten ISTAT Volkszählung betrifft, oder in einer Zerstörung oder Wertverminderung von Wertpapieren über 0,1 pro mille des Bruttoinlandsprodukts besteht.

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Diese Strafvorschriften, die die ursprüngliche Fassung des italienischen Bürgerlichen Gesetzbuchs (Codice civile) von 194235 radikal verdreht haben, sehen eine strafrechtliche Regelung der Bilanzfälschung vor, die nach ganz anderen Kriterien als in der Vergangenheit strukturiert ist und sich nun als ein abgestuftes Sanktionssystem präsentiert: der Grundtatbestand besteht heute in einem bloßen Vergehen (Art. 2621 Cc), der mit einer Freiheitsstrafe bis zwei Jahre bestraft ist36. Ein mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monate bis drei Jahren bestraftes und nur auf Strafantrag des Verletzten verfolgbares Verbrechen (Art. 2622 Abs. 1 Cc) kommt erst in Frage, wenn durch die Bilanzfälschung bzw. eine andere „wahrheitswidrige Mitteilung über die Gesellschaft“ ein Vermögensschaden für die Gesellschaft, ihre (aktuellen) Gesellschafter oder ihre Gläubiger ___________ (6) Die Strafbarkeit der in den Absätzen 1 und 3 geregelten Taten erstreckt sich auch auf den Fall, dass die Informationen Vermögensgegenstände betreffen, die die Gesellschaft für die Rechnung Dritter in Besitz hat oder verwaltet. (7) Die Strafbarkeit der in den Absätzen 1 und 3 geregelten Taten ist ausgeschlossen, wenn die wahrheitswidrigen Angaben oder die Unterlassungen die Darstellung der Wirtschafts-, Vermögens- oder Finanzlage der Gesellschaft oder der Unternehmensgruppe, der diese angehört, nicht erheblich verfälschen. Die Strafbarkeit ist auf jeden Fall ausgeschlossen, wenn die wahrheitswidrigen Angaben oder die Unterlassungen zu eine Änderung des wirtschaftlichen Ergebnisses des Geschäftsjahres vor Steuern um nicht mehr als 5% oder zu einer Änderung des Nettovermögens um nicht mehr als 1% führen. (8) In jedem Fall ist die Tat nicht strafbar, wenn sie die Folge von Schätzungen ist, die, einzeln betrachtet, um nicht mehr als 10% von der richtigen Bewertung abweichen (9) In den Fällen der Absätzen 7 und 8 wird über die im Absatz 1 genannten Personen die Verwaltungssanktion von zehn bis zu hundert Anteilen und das Verbot, ein leitendes Amt innerhalb juristischen Personen oder Unternehmen, oder das Amt des Verwalters, des Aufsichtsratsmitglieds, des Liquidators, des Generaldirektors und des mit der Abfassung der gesellschaftlichen Rechnungsunterlagen betrauten leitenden Angestellten sowie jedes andere Amt mit Vertretungsbefugnis der juristischen Person oder des Unternehmens von sechs Monaten bis zu drei Jahren auszuüben, verhängt“. 35 Art. 2621 des Codice civile von 1942 mit der Überschrift „Wahrheitswidrige Mitteilungen und gesetzeswidrige Verteilung von Gewinnen und Dividendenvorschüsse“ sah in seiner vor dem Inkrafttreten der Gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 61/2002 geltenden Fassung vor: „Falls die Tat nicht eine schwerere strafbare Handlung darstellt, werden mit Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren und mit Geldstrafe von 1.032 bis 10.329 Euro bestraft: 1. die Gründer, Gründungsgesellschafter, Verwalter, Generaldirektoren, Aufsichtsratsmitglieder und Liquidatoren, die in den Berichten, Jahresabschlüssen oder sonstigen Mitteilungen der Gesellschaft in betrügerischer Absicht wahrheitswidrige Tatsachen über die Verfassung oder über die Vermögenslage der Gesellschaft verbreiten oder hierauf bezogene Tatsachen ganz oder teilweise verschleiern; […]“. 36 Die Höchstgrenze der Freiheitsstrafe sollte nach der Reform vom 2002 nur achtzehn Monate sein. Später ist diese Höchstgrenze durch das Gesetz vom 28. Dezember 2005, Nr. 262, betreffend „Vorschriften zum Schutz des Sparens und zur Regelung der Finanzmärkte“ bis zu zwei Jahren erhöht worden.

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verursacht wird (Erfolgsdelikt). Eine weitere Straferhöhung (Freiheitsstrafe von einem bis vier Jahren) wird für den Fall vorgesehen, in dem die Bilanzfälschung bzw. wahrheitswidrige Mitteilung in einer an einer italienischen oder europäischen reglementierten Markt notierten Gesellschaft begangen wird (Art. 2622 Abs. 3 Cc). Die Spitze dieser progressiven Strafandrohung (Freiheitsstrafe von zwei bis sechs Jahren) wird nun für den Fall erreicht, in dem die Bilanzfälschung bzw. wahrheitswidrige Mitteilung einer börsennotierten Gesellschaft einen „schweren Nachteil für die Anleger“ verursacht (Art. 2622 Abs. 4 Cc). Dieser „schweren Nachteil für die Anleger“ wird als ein Vermögensnachteil definiert, der eine Anlegermasse „über 0,1 pro mille der Bevölkerung nach der letzten Volkszählung“ betrifft, oder der in einer „Zerstörung oder Wertverminderung von Wertpapieren über 0,1 pro mille des Bruttoinlandsprodukts“ besteht (Art. 2622 Abs. 5 Cc). Um diese außerordentlich komplexe strafrechtliche Regelung zu beurteilen, muss man zuerst betonen, dass der erste Tatbestand (Art. 2621 n.F. Cc) einen praktisch absolut unwirklichen Strafrechtsschutz vorsieht, tamquam non esset: wegen der Herabstufung der Straftat (von einem Verbrechen zu einem Vergehen), wegen der Bagatellisierung des Strafmaßes und der daraus folgenden wesentlichen Verkürzung der Verjährungsfrist37, gegenüber Anforderungen an die richterlichen Feststellungen, die – in Bezug auf alle vom Gesetzgeber neu eingeführte Tatbestandsmerkmale – sehr viel komplexer als in der Vergangenheit geworden ist. Aus diesen Gründen scheint nun die Aussicht, ein Strafverfahren wegen des neuen Art. 2621 Cc bis zu einem endgültigen Urteil zu führen, so gut wie unmöglich.38 Als strafrechtlicher Schutz gegen die falschen Gesellschaftsmitteilungen bleibt deswegen nur der Verbrechenstatbestand des Art. 2622 n.F. Cc; bei die___________ 37 Für das Vergehen des Art. 2621 n.F. Cc beträgt die Verjährungsfrist – nach der Reform der Verjährungsregelung durch das Gesetz vom 5. Dezember 2005, Nr. 251 (sog. Gesetz „ex-Cirielli“) – nunmehr vier Jahre (Art. 157 Abs. 1 Cp); im Falle der Unterbrechung dieser Frist tritt Verjährung insgesamt spätestens nach fünf Jahren (Art. 161 Abs. 2 Cp). Für das frühere Verbrechen des Art. 2621 a.F. Cc betrug die Verjährungsfrist zehn Jahre und, wenn erschwerende Umstände bestanden, fünfzehn Jahre. Es ist auch zu betonen, dass die Verjährung nach Art. 158 Abs. 1 Cp schon mit der Begehung der Straftat und nicht mit deren Entdeckung beginnt. 38 Wie die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen betont, nach Angaben aller vorlegenden Gerichte können insbesondere im Falle eines Vergehens im Sinne von Artikel 2621 n.F. des Codice civile die – häufig aufwändigen und langwierigen – Ermittlungen und das gerichtliche Verfahren, welches sich regelmäßig über drei Instanzen erstreckt, im Normalfall nicht vor Eintritt der Verjährung abgeschlossen werden. Vor diesem Hintergrund bestehen erhebliche Zweifel, ob eine Vorschrift wie Artikel 2621 n.F. des Codice civile als wirksame und abschreckende Sanktion im Sinne von Artikel 6, erster Spiegelstrich, der Ersten Richtlinie angesehen werden kann (Schlussanträge, Rn. 111). Diese Voraussicht ist bis jetzt von der Realität bestätigt worden, da der Art. 2621 n.F. Cc aus der gerichtlichen Praxis verschwunden ist.

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sem handelt es sich aber um eine Strafvorschrift, die ausschließlich die Vermögensinteressen der Gesellschaft, der Gesellschafter und der Gesellschaftsgläubiger schützt, wie es von der gesetzlichen Beschreibung des Tatbestandserfolgs sowie der Antragsbefugnis deutlich gemacht wird. Der Art. 2622 n.F. Cc – sowie der Art. 2621 n.F. Cc – sehen außerdem eine Reihe von Toleranzgrenzen (Schwellenwerte)39 vor, die eine absolute Ausnahme in der Rechtsvergleichung darstellen40 und eine offenkundig kriminogene Wirkung ausüben, in dem Sinne, ___________ 39

Die Strafbarkeit der falschen Gesellschaftsmitteilungen ist „ausgeschlossen, wenn die wahrheitswidrigen Angaben oder die Unterlassungen die Darstellung der Wirtschafts-, Vermögens- oder Finanzlage der Gesellschaft oder der Unternehmensgruppe, der diese angehört, nicht erheblich verfälschen. Die Strafbarkeit ist auf jeden Fall ausgeschlossen, wenn die wahrheitswidrigen Angaben oder die Unterlassungen zu eine Änderung des wirtschaftlichen Ergebnisses des Geschäftsjahres vor Steuern um nicht mehr als 5% oder zu einer Änderung des Nettovermögens um nicht mehr als 1% führen. In jedem Fall ist die Tat nicht strafbar, wenn sie die Folge von Schätzungen ist, die, einzeln betrachtet, um nicht mehr als 10% von der richtigen Bewertung abweichen“ (Art. 2621 Abs. 3 und 4 und 2622 Abs. 7 und 8 Cc). Es wird in der italienischen Strafrechtslehre und Rechtsprechung diskutiert, ob diese Toleranz- bzw. Erheblichkeitsschwellen ein bloßer Strafausschließungsgrund oder sogar ein echter Tatbestandsmerkmal (mit der Folge, dass die Übersteigung der Toleranzgrenzen als Gegenstand des Vorsatzes gesehen werden muss) darstellen: in dem Sinne, dass es sich um ein Tatbestandsmerkmal handelt, vgl. Bricchetti/Pistorelli, Guida al Diritto 2002, Heft 16, 53; Cupelli, Cassazione penale 2002, 3404; Di Martino, Legislazione penale 2003, 446; Lanzi/Pricolo (Fn. 2), in: Lanzi/Cadoppi, 43; Lunghini, Rivista trimestrale di diritto penale dell’economia 2001, 1016; ders. (Fn. 2), in: Dolcini/Marinucci, 5119; Masullo (Fn. 2), in: Padovani, 1242; Musco (Fn. 2), 88; Padovani, Cassazione penale 2002, 1598 f.; Zannotti (Fn. 2), 144; in dem selben Sinne s. auch das „obiter dictum“ von Corte costituzionale 2004/161, Cassazione penale 2004, 3938. Für die Mindermeinung, nach der es sich um einen Strafausschließungsgrund handelt, vgl. Seminara, Diritto penale e processo 2002, 680; Pulitanò (Fn. 2), in: Alessandri, 161 f.; Giunta, Studium iuris 2002, 705; ders. (Fn. 2), in: Giunta (Hrsg.), 24; ders. (Fn. 2), Lineamenti, 215 f.; Corte d’Appello Mailand 17.6.2003, Diritto e pratica delle società 2004, Heft 7, 77, m. Anm. Cerqua. Eine vermittelnde Position wird von Donini, Cassazione penale 2002, 1247 f., und Foffani (Fn. 2), in: Giarda/Seminara, 292 f., vertreten. 40 Der italienische Gesetzgeber hat versucht, sich auf die Praxis der US-amerikanischen SEC zu berufen (Ministerialbericht zum D.lgs. 61/2002, 30; in gleichem Sinne vgl. auch Colombo, Rivista delle società 1996, 719; Musco, Diritto penale societario, Mailand 1999, 145). Diese Bezugnahme ist jedoch falsch (so vor allem Marinucci, Diritto penale e processo 2002, 138 f.); auch die Generalanwältin Kokott hat richtigerweise „angemerkt, dass auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, etwa in der Verwaltungspraxis der Security and Exchange Commission (SEC), von der Ungeeignetheit quantitativer Toleranzgrenzen ausgegangen wird, jedenfalls sofern damit eine unwiderlegliche Vermutung ohne die Möglichkeit der umfassenden Bewertung aller Umstände der Einzelfalls begründet werden soll“ (Schlussanträge, Rn. 101). Nach Auffassung der Verwaltung der SEC gilt: „Exclusive reliance on certain quantitative benchmarks to assess materiality in preparing financial statements and performing audits of those financial statements is inappropriate; misstatements are not immaterial simply because they fall beneath a numerical threshold“. Als eines von mehreren Kriterien für die Beurteilung, ob eine quantitativ geringfügige Abweichung dennoch qualitativ bedeutsam ist, wird dort übrigens auch aufgeführt: „whether the misstatements involves concealment of

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dass den Geschäftsführern bzw. Vorstandsmitgliedern freie Hand für die Bilanzfälschung unterhalb der Toleranzgrenzen gelassen werden41, mit der Möglichkeit diesen Rechtsverstoß jedes Geschäftsjahr systematisch zu wiederholen, ohne irgendwelche Gefahr zu laufen, einer kriminellen Strafe unterworfen zu werden42. Die qualitative Dimension der gesellschaftlichen Information – die auch der EuGH ausdrücklich anerkennt43 – wird damit von dem italienischen Gesetzgeber völlig vernachlässigt: es gibt nämlich Angaben über die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft, die quantitativ geringfügig bzw. nicht schätzbar sind, die aber für die Anlageentscheidungen der Gesellschafter und der Dritten von wesentlicher Bedeutung sein können. Was die italienische Reform der Bilanzfälschung verursacht hat, ist im Grunde ein radikaler Paradigmenwechsel im Rechtsgutsbereich: das geschützte Rechtsgut ist nicht mehr der Grundsatz der wahrheitsgetreuen Information über Handelsgesellschaften, wie in der ursprünglichen strafrechtlichen Regelung des Codice civile vom 1942, sondern die Vermögensinteressen der Gesellschaft, der Gesellschafter und der Gesellschaftsgläubiger. Das reicht aber nicht, um den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts zu entsprechen. „Zu schützen sind nicht etwa nur die Vermögensinteressen Dritter, sondern auch und gerade das immaterielle Interesse Dritter an einer wahrheitsgetreuen Information über die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft und damit das Vertrauen des Geschäftsverkehrs in die Richtigkeit von Jahresabschlüssen. Ist dieser Schutz nicht gewährleistet, so fehlt es von vornherein an der Wirksamkeit der Sanktionen“44. Der Schutz dieses gemeinschaftsrechtlich relevanten Rechtsguts ist aus dem italienischen Gesellschaftsstrafrecht verschwunden, da er nunmehr eine bloße unmittelbare, eventuelle und sporadische Folge des Schutzes der Vermö___________ an unlawful transaction“. Auch die Vorsätzlichkeit einer falschen Angabe kann für ihre Bewertung eine Rolle spielen: „In certain circumstances, intentional immaterial misstatements are unlawful“ (Schlussanträge, Fn. 70, mit Hinweis auf SEC Staff Accounting Bulletin Nr. 99 vom 12. August 1999). 41 Man hat – in Bezug auf einige italienische Großkonzerne – errechnet, wie hoch (nach dem Jahresabschluss 2000) die Toleranzgrenze der 5% Änderung des wirtschaftlichen Ergebnisses des Geschäftsjahres vor Steuern sein könnte: ENI 408 Millionen Euro, Pirelli 241 Millionen, Enel 191 Millionen, Unicredit 164 Millionen, Intesa BCI 141 Millionen, Generali 125 Millionen, Sanpaolo-IMI 105 Millionen, De Agostini 89 Millionen, IFI 79 Millionen, Benetton 78 Millionen, Monte Paschi 60 Millionen, Fininvest 41 Millionen, Italmobiliare 21 Millionen, Luxottica 18 Millionen, usw. (Crespi Rivista delle società 2002, 456, mit Hinweis auf in der Zeitschrift L’Espresso vom 14. Februar 2002 veröffentlichte Daten). 42 Nach der Reform von 2002 war jede falsche, aber unterhalb der Toleranzgrenzen begangene Gesellschaftsmitteilung absolut straflos; nach der späteren Novelle von 2005 (Fn. 35) stellt nun dieser Verstoß eine Ordnungswidrigkeit dar (Art. 2621 Abs. 5 und 2622 Abs. 9 Cc). 43 EuGH, 3.5.2005, Rn. 62. 44 Schlussanträge Generalanwältin Kokott, Rn. 123.

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gensinteressen der Gesellschaft, der Gesellschafter und der Gesellschaftsgläubiger geworden ist. In Bezug darauf wurde seitens der Befürworter der Reform der Einwand erhoben, dass der Grundsatz der wahrheitsgetreuen gesellschaftlichen Information immer noch einen strafrechtlichen (obgleich in seiner Bedeutung geminderten) Schutz innerhalb des neu gefassten Art. 2621 Cc gefunden hätte.45 Nach dieser Meinung würde insbesondere der Art. 2621 n.F. Cc in Anwendung kommen, auch wenn ein Vermögensschaden gegenüber der Gesellschaft, den Gesellschaftern bzw. den Gesellschaftsgläubigern eingetreten sei, aber kein Strafantrag von den Verletzten gestellt bzw. der Strafantrag zurückgezogen werde.46 Eine solche Kompromisslösung – die darauf abzielen würde, die Schutzlücken des Verbrechenstatbestandes des Art. 2622 n.F. Cc auszugleichen (oder zu verstecken) – ist aber offensichtlich unannehmbar: Der Art. 2621 n.F. Cc ist nicht anders als ein Spiegelbild des Art. 2622 n.F. Cc, mit der einzigen Unterschied des fehlenden Schadenserfolges; deswegen kann der Vergehenstatbestand des Art. 2621 n.F. Cc nur dem vorverlegten Schutz desselben Rechtsguts des Verbrechenstatbestands des Art. 2622 n.F. Cc dienen, d.h. der Vermögensinteressen der Gesellschaft, der Gesellschafter bzw. der Gesellschaftsgläubiger. Keine andere Bedeutung kann der Subsidiaritätsklausel am Anfang des Art. 2621 n.F. Cc („Soweit nicht in Artikel 2622 etwas anderes bestimmt ist“) zugeschrieben werden, d.h. – so wie man auch von der unzweideutigen Formel des Delegationsgesetzes ableiten kann47 – kann der Art. 2621 n.F. Cc nur zur Anwendung kommen, soweit kein Schaden gegenüber der Gesellschaft, der Gesellschafter oder der Gesellschaftsgläubiger verursacht wird.48 Das heißt auch, dass die Strafvorschrift des Art. 2621 n.F. Cc als (unmittelbares und wirkliches) Instrument zum Schutz des Grundsatzes der wahrheitsgetreuen Information über Handelsgesellschaften absolut unwahrscheinlich ist. Es handelt sich deswegen um einen unangemessenen, unwirksamen, unverhältnismäßigen und unabschreckenden Schutz dieses gemeinschaftsrechtlich relevanten Rechtsguts49, und außerdem um einen Schutz, der weit entfernt von der vom EuGH gezeigten Perspektive der europäischen Harmonisierung ist. ___________ 45 Vgl. z.B. in diese Richtung die Stellungnahme der italienischen Regierung und die schriftliche Erklärungen der Angeklagten Berlusconi und Dell’Utri im Verfahren vor dem EuGH. 46 Vgl. Giunta (Fn. 2), in: Giunta (Hrsg.), 3 ff.; ders., Legislazione penale 2002, 341; ders. (Fn. 2), Lineamenti, 189 f.; Lanzi/Pricolo (Fn. 39), 28 ff.; Padovani (Fn. 39), 1605; Pulitanò (Fn. 39), 170 f.; Seminara (Fn. 33), 681. 47 Art. 11 des Gesetzes vom 3. Oktober 2001, Nr. 366. 48 In diesem Sinne Donini (Fn. 33), 1254 ff.; Foffani (Fn. 39), 308 ff.; Alessandri (Fn. 2), in: Alessandri, 198 f. 49 Über die Erfordernis der Angemessenheit (d.h. Wirksamkeit, Verhältnismäßigkeit und Abschreckung) von Sanktionen für falsche Gesellschaftsmitteilung gemäß Art. 6,

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Ferner hat sich der italienische Gesetzgeber während des parlamentarischen Verlaufs der Reform auf der Suche nach einer Legitimation in der Rechtsvergleichung mehrmals auf das Vorbild der spanischen Regelung der Bilanzfälschung50 berufen, aber die italienische Neuregelung von 2002 ist von diesem Vorbild sehr weit entfernt. Während in Italien der Verbrechenstatbestand des Art. 2622 n.F. Cc einen Schadenerfolg für Gesellschaft, Gesellschafter und Gesellschaftsgläubiger vorsieht, sieht in Spanien der Art. 290 CP 1995 einen bloßen Gefährdungserfolg gegenüber irgendwelchen Vermögensinteressen (innerhalb oder außerhalb der Handelsgesellschaft) vor. Wenngleich in Spanien ein Strafantragerfordernis für die Bilanzfälschung (sowie für jede Handelsgesellschaftsstraftat51) vorgesehen ist, handelt es sich dabei doch um eine Strafverfolgungsvoraussetzung, die nicht gegeben sein muss, wenn eine Mehrzahl von Personen oder die Allgemeinheit geschädigt wird. Es gibt deswegen keinen echten Anschluss zwischen dem spanischen und dem italienischen Regelungsmuster. Keine substantielle Änderung hat schließlich die neuere Reform vom 200552 hervorgebracht.53 Nach einem langen und gewundenen parlamentarischen Weg – im Lauf dessen auch die Perspektive einer grundlegenden Reform der Bilanzfälschung in Aussicht gestellt wurde54 – hat sich der Gesetzgeber am Ende auf ein bloßes „Make-up“ für die Reform von 2002 beschränkt. Die Novelle von 2005 hat die Grundstruktur der Straftatbestände über die falschen Gesellschaftsmitteilungen (insbesondere in Bezug auf die mehrmals heftig kritisierten Toleranzgrenze) unberührt gelassen und hat sich darauf beschränkt, eine neue Ordnungswidrigkeit für die falschen Gesellschaftsmitteilungen unterhalb der Toleranzgrenzen (unabhängig davon, ob auch ein Vermögensschaden verursacht wird oder nicht) 55 und einen neuen erschwerenden Umstand für den Fall ___________ erster Spiegelstrich, der Ersten Richtlinie über das Gesellschaftsrecht, in Verbindung mit Art. 10 EGV, vgl. EuGH, 3.5.2005, Rn. 53-65 und die Schlussanträge Generalanwältin Kokott, Rn. 82-92. 50 Über die spanische Regelung in diesem Bereich vgl. für alle Martínez-Buján Pérez, Derecho penal económico y de la empresa. Parte especial, 2. Aufl., Valencia 2005, 375 ff. 51 Art. 296 sp. CP. 52 Gesetz vom 28. Dezember 2005, Nr. 262, betreffend „Vorschriften zum Schutz des Sparens und zur Regelung der Finanzmärkte“. 53 Anderer Meinung scheint der italienische Verfassungsgerichtshof (Corte costituzionale) zu sein, vgl. Corte cost., Ver. 70/2006, Rivista italiana di diritto e procedura penale 2006, 298 ff., m krit. Anm. Pecorella; ähnlich Miedico, Giurisprudenza commerciale 2006, II, 573-574. 54 Vgl. insbesondere den Vorentwurf vom 12. Oktober 2005. Darüber Paliero, Il Sole 24 Ore 13.10.2005, 25; Bricchetti, Diritto e pratica delle società 2005, Heft 21, 6 ff. 55 Art. 2621 Abs. 5 und 2622 Abs. 9 Cc. Vgl. oben, Fn. 42.

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eines „schweren Nachteils für die Anleger“56 einzuführen. Insbesondere die zweite normative Änderung hat – wegen des überzogenen Ausmaßes des dort vorgesehenen Schadenserfolges – den typischen Charakter einer symbolischen (und in der Praxis fast unanwendbaren) Strafvorschrift.57 Diese letzte Reform vom 2005 hat die früheren kritischen Bemerkungen sogar aktueller und heftiger gemacht, da die Novelle nach einer Reihe von großen Finanzskandalen (vor allem dem Fall Parmalat58) mit zahllosen damit verbundenen Bilanzfälschungen in Kraft getreten ist: Diese Skandale haben riesige Schäden bei Tausenden von Kleinanlegern verursacht59 und der öffentlichen Meinung die moralische und kriminalpolitische Unerträglichkeit der von der Reform von 2002 gesicherten privilegierten Behandlung der Bilanzfälschung – als ob es um ein „Kavaliersdelikt“ gehen würde – exemplarisch aufgezeigt. 4. Zum Schluss: die schwierige und komplexe Geschichte der italienischen Reform der Bilanzfälschung vor dem EuGH stellt sich als eine bedeutende Etappe in der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Europarecht und Strafrecht dar. Das EuGH-Urteil vom 3. Mai 2005 – oder besser gesagt: der normative Gegenstand dieses Urteils – stellt ein besonders bedeutendes Beispiel des historischen Phänomens der Expansion der „gemeinschaftsrelevanten Rechtsgüter“ dar. Zum Teil geht es um neue Rechtsgüter, zum Teil aber geht es um schon bestehende Rechtsgüter, die einen gemeinschaftsrechtlichen Rang progressiv verdienen: „Das immaterielle Interesse Dritter an einer wahrheitsgetreuen Information über die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft, und damit das Vertrauen des Geschäftsverkehrs in die Richtigkeit von Jahresabschlüssen“60, sowie „die Integrität der Finanzmärkte der Gemeinschaft

___________ 56

Art. 2622 Abs. 4 und 5 Cc. Über die strafrechtliche Regelung des Gesetzes zum Schutz des Sparens und zur Regelung der Finanzmärkte vgl. insb. Seminara Diritto penale e processo 2006, 549 ff. 58 Über den Fall Parmalat vgl. Capolino/Massaro/Panerai, Parmalat. La grande truffa, Mailand 2004; Cingolo, Lo schema Tanzi, Rom 2004; Dalcò/Galdabini, Parmalat. Il teatro dell’assurdo, Parma-Mailand 2004; Di Stasio, Il caso Parmalat, Rom 2004; Franzini, Il crac Parmalat, Rom 2004; Vella (Hrsg.), Parmalat: tre anni dopo, in: www.lavoce.info, 19.10.2006 (mit Beiträge von Onado, Vella, Foffani, Mucciarelli, Stanghellini, Barucci/ Messori). 59 Dem Fall Parmalat sind 75.000 Strafanzeigen gefolgt, die die Eröffnung einer Reihe von Strafverfahren in Mailand und Parma provoziert haben. Über 40.000 Kleinanleger (vor allem Inhaber von Schuldverschreibungen) haben Nebenklage erhoben, aber die Zahl der Geschädigten soll viel größer sein: 100.000 oder nach einigen Abschätzungen sogar 150.000, wenn man auch die Aktionäre des gesamten Konzerns Parmalat in Betracht zieht. 60 So die Definition des Rechtsguts der Inkriminierung der Bilanzfälschung in den Schlussanträgen der Generalanwältin Kokott, Rn. 123. 57

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und das Vertrauen der Anleger in diese Märkte“61 sind gute Beispiele dieser zweiten Kategorie von Rechtsgütern, die auf nationalem Boden geboren sind und die mit der Zeit supranationale gemeinschaftsrelevante Rechtsgüter geworden sind, in der Zukunftsperspektive der Herstellung eines europäischen einheitlichen Finanzmarktes, der in seiner endgültigen Fassung zu einer vollständigen Integration der gemeinschaftlichen Kapitalmärkte und zur Harmonisierung der Kontrolle – bis zur Schaffung einer einheitlichen Aufsichtsbehörde – führen sollte.62 In Bezug auf solche gemeinschaftsrelevante Rechtsgüter stellt sich notwendigerweise das Erfordernis eines harmonisierten Schutzes auf europäischer Ebene. In eine ähnliche Richtung hat sich auch die Rechtsprechung des EuGH nur wenige Monate nach dem Urteil über die Bilanzfälschung mit der historischen Entscheidung über den Umweltschutz durch Strafrecht gewendet. Nach diesem Urteil fällt zwar „das Strafrecht ebenso wie das Strafprozessrecht grundsätzlich nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft, doch kann dies den Gemeinschaftsgesetzgeber nicht daran hindern, Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu ergreifen, die seiner Meinung nach erforderlich sind, um die volle Wirksamkeit der von ihm zum Schutz der Umwelt erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten, wenn die Anwendung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen durch die zuständigen nationalen Behörden eine zur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen der Umwelt unerlässliche Maßnahme darstellt“63. Der Weg scheint deswegen im Grunde frei zu sein, um weitere Initiativen durch das eigene Instrumentarium des Gemeinschaftsgesetzgebers (Richtlinien) zu ergreifen: Nicht nur im Bereich des Umweltschutzes64, sondern auch in anderen Bereichen, wo die Harmonisierung des mitgliedstaatlichen Strafrechts zur Sicherstellung der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts und zum Schutz von im EGV anerkannten Grundinteressen erforderlich ist (z.B. zum Schutz der Vertrauenswürdigkeit der Gesellschaftsmitteilungen bzw. Jahresabschlüsse und der Integrität der Finanzmärkte, sowie des freien und lauteren Wettbewerbs, der Verbraucherinteressen, der Gesundheit und Sicherheit der Arbeit, usw.).65 ___________ 61 Das ist das Schutzobjekt der „Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch)“. 62 Vgl. in dieser Perspektive den Bericht Lamfalussy, dem auf dem Stockholmer Gipfeltreffen des Europäischen Ministerrats von März 2001 zugestimmt worden war. 63 EuGH, 13.9.2005, Rs. C-176/03 (Kommission/Rat), Slg. 2005, 7879, Leitsatz und Rn. 47-48. 64 Vgl. die „Richtlinie 2008/99/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt“. 65 Vgl. in diese Richtung vor allem das Projekt der sog. „Europa-Delikte“: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union. Rechtsdogmatik,

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Schließlich soll mit dem im Ratifizierungsverfahren gescheiterten Europäischen Verfassungsvertrag und mit dem aus dessen Asche auferstandenen Vertrag von Lissabon vom Dezember 2007 (EU-Reformvertrag) zum ersten Mal eine ausdrückliche normative Legitimationsbasis für künftige Harmonisierungsmaßnahmen geschaffen werden, die auch das Strafrecht der Mitgliedstaaten betreffen können. Art. 2 Nr. 67 des EU-Reformvertrages ermächtigt zu strafrechtlichen Richtlinien, die Mindestvorschriften für „die Festlegung von Straftaten und Strafen“ vorsehen, wenn sich „die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten als unerlässlich für die wirksame Durchführung der Politik der Union auf einem Gebiet, auf dem Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind“, erweist66. Es kann keinen Zweifel geben, dass das Gesellschaftsrecht zu diesen außerstrafrechtlich harmonisierten Politikbereichen gehört und dass Straftaten wie die Bilanzfälschung bzw. falsche Gesellschaftsmitteilungen in der Zukunft Gegenstand solcher Mindestvorschriften für „die Festlegung von Straftaten und Strafen“ – höchstwahrscheinlich in einer ganz anderen als der vom italienischen Gesetzgeber genommenen Richtung – werden könnten.

___________ Rechtsvergleich, Rechtspolitik. Freiburg-Symposium, Köln/Berlin/Bonn/München 2002. 66 Über diese „strafrechtliche Annexkompetenz für die außerstrafrechtlich harmonisierten Bereiche der Gemeinschaftspolitiken“, vgl. ausführlich Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht. Besonderer Teil mit wichtigen Gesetzes- und Verordnungstexten, 2. Aufl., München 2008, Rn. 42.

Anmerkungen zur Gewinnabschöpfung („confisca“) im aktuellen italienischen Sanktionensystem* Von Désirée Fondaroli

I. Vorwort Eine erste Annäherung an das Thema der „confisca“1 im italienischen Sanktionensystem ruft wegen der Vielzahl der Fälle2, die neben Art. 240 codice penale (c.p.) in Betracht kommen3, ein beunruhigendes Gefühl der Orientierungslosigkeit hervor. Man muss eine klare Trennlinie zwischen der „confisca“ (gemäß Art. 240 c.p.) als Sicherungsmaßnahme das Vermögen betreffend4 und den besonderen Fällen der „confisca“ ziehen, die sich durch gemeinsame Besonderheiten ihrer Regelung auszeichnen: Pflicht zur „confisca“ mit besonderem Bezug zum Gewinn aus der Straftat (nicht nur gemeinsam mit der Verurteilung, sondern) auch ___________ * Die Verfasserin dankt ganz herzlich Herrn Ben Koslowski, Universität Heidelberg, für seine Hilfe bei der deutschen Fassung. 1 Im italienischen Rechtssystem bezeichnet derselbe Begriff „confisca“ die endgültige abschöpfende Maßnahme, während das deutsche StGB zwischen Verfall (§§ 73 ff. StGB) und Einziehung (§§ 74 ff. StGB) unterscheidet. 2 Unter den zahlreichen Fällen sind die besonderen Varianten der „confisca“ zu berücksichtigen, die von folgenden Vorschriften vorgesehen sind: Art. 116 Abs. 1 Gesetz vom 25.9.1940, Nr. 1424, jetzt Art. 301, D.p.r. 23.1.1973, Nr. 43 (testo unico dogana); Art. 31 Abs. 2 Gesetz vom 13.9.1982, Nr. 646 (im Fall der unterlassenen Anzeige von Vermögensverschiebungen) und Art. 416-bis Abs. 7 c.p.; Art. 644 letzter Abs. c.p.; Art. 322-ter c.p., auch in Verbindung mit Art. 640-quater und den in Art. 1 Abs. 143 Gesetz vom 24.12.2007, Nr. 244 genannten Steuerdelikten; Art. 600-septies c.p.; Art. 270-bis letzter Abs. c.p.; Art. 2641 c.c.; Art. 171-sexies Abs. 2 Gesetz vom 22.4.1941, Nr. 633 auf dem Gebiet des Urheberrechts; Art. 178 Abs. 4 D.LGS. vom 22.1.2004, Nr. 42 auf dem Gebiet des Schutzes von Kunstgegenständen; Art. 187 und 187-ter D.LGS. Nr. 58/1998 (Market Abuse); Art. 648-quater c.p., eingeführt durch Art. 63 Abs. 4 Gesetz vom 21.11.2007, Nr. 231. 3 Dazu Fiandaca/Musco, Diritto penale. Parte generale, 5. Aufl. 2007, S. 831 ff.; Fornari, Art. 240, in: Crespi/Forti/Zuccalà, Commentario breve al codice penale, 5. Aufl. 2008, S. 622. 4 Zum System der Zweispurigkeit (Strafen und Maßregeln der Sicherung – sistema del doppio binario) vgl. Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozeßrecht, 2009, S. 33 ff.

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im Fall der Verhängung der Strafe auf Antrag der Parteien5; Ausdehnung der Erfassung auf Gegenstände mit gleichem Vermögenswert6. Die Entfremdung der besonderen Erscheinungsformen vom Modell (das in Bezug auf die confisca eine zum Teil von den persönlichen Sicherungsmaßnahmen abweichende Regelung trifft)7 der „confisca“ gemäß Art. 240 c.p. lässt derartige Erscheinungsformen besonders merkwürdig in Bezug auf das System erscheinen und rechtfertigt eine spontane Auseinandersetzung damit, und zwar nicht nur mit den auf angeklagte natürliche Personen anwendbaren Vorschriften, sondern auch mit Normen, die im Sinne des Decreto Legislativo (D.LGS.) Nr. 231/20018 auf verfolgte Verbände („enti“9) angewendet werden. Insbesondere die Verflüchtigung der Zusammengehörigkeit zwischen Straftat und dem von der „confisca“ betroffenen Gegenstand stellt einen Unterschied gegenüber den Regeln des allgemeinen Teils der italienischen Strafprozessordnung von 1930 (Codice Rocco) dar, die, wie wir sehen werden, die einzelnen Profile der jeweiligen „confisca“ durchdringen. Unter diesem Gesichtspunkt ist das italienische Rechtssystem – genau wie das anderer Mitgliedstaaten der EG, wie etwa das deutsche10 – maßgeblich durch europarechtliche Normen geprägt, insbesondere durch den Rahmenbeschluss Nr. 2003/577/JI des Rats über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union, durch den Rahmenbeschluss Nr. 2005/212/JI über die ___________ 5 Infolge der Reform des Art. 445 c.p.p. durch das Gesetz Nr. 134/2003 legt das „applicazione della pena su richiesta“ oder „patteggiamento“ (Prozessabsprache, vgl. dazu Maiwald [Fn. 4], S. 226 ff.) die Durchführung der „confisca“ in den von Art. 240 c.p. bestimmten Fällen (einschließlich der Fälle der fakultativen „confisca“) fest; dies gilt nach der herrschenden Meinung auch in den Fällen, in denen auf Art. 240 c.p. verwiesen wird und von der verweisenden Norm nichts Abweichendes bestimmt wird. Im Übrigen gleichen zahlreiche spezielle Normen auf diesem Gebiet ausdrücklich das „patteggiamento“ dem auf Verurteilung lautenden Urteil an, womit das Problem des Verweises auf Art. 240 c.p. gelöst wird. 6 Hierzu sei verwiesen auf Fondaroli, Le ipotesi speciali di confisca nel sistema penale. Ablazione patrimoniale, criminalità economica, responsabilità delle persone fisiche e giuridiche, 2007. 7 Siehe Art. 236 c.p. 8 D.LGS. 8 giugno 2001, Nr. 231: „Disciplina della responsabilità amministrativa delle persone giuridiche, delle società e delle associazioni anche prive di personalità giuridica, a norma dell’art. 11 della legge 29 settembre n. 300”, abrufbar unter: www.parlamento.it; dazu Maiwald (Fn. 4), S. 47 ff. 9 Der italienische Begriff „ente“ ist weiter als der Ausdruck juristische Person („persona giuridica“) und erfasst neben juristischen Personen insbesondere auch Personengesellschaften (Art. 1, D.LGS. Nr. 231). 10 Hassemer, Vermögen im Strafrecht: Zu neuen Tendenzen der Kriminalpolitik, Wertpapier-Mitteilungen-Sonderbeilage 1995/3, 1 ff.

Anmerkungen zur Gewinnabschöpfung

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Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten und durch den Rahmenbeschluss Nr. 2006/783/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Einziehungsentscheidungen.11

II. Die Wurzeln der besonderen Erscheinungsformen der „confisca“ (Gewinnabschöpfung): Die sog. Anti-Mafia-Gesetzgebung Die Typologie abschöpfender Maßnahmen hat ihre Wurzeln in der sog. Anti-Mafia-Gesetzgebung. Hier haben die Komplexität und die Gefährlichkeit eines Phänomens, das in das Innerste des Rechts- und Wirtschaftssystems eindringt, den Gesetzgeber dazu bewogen, mit der „confisca“ des Werts von Gütern, die wahrscheinlich eine rechtswidrige Herkunft12 haben, eine besondere Strategie gegen diese Kriminalität zu entwickeln. Von der Maßnahme zur vermögensrechtlichen Prävention (Art. 2-bis ff. Gesetz Nr. 575/1965), hinweg über die „confisca“ gemäß Art. 12-sexies Gesetz Nr. 356/1992 (vielsagend bezeichnet als „besondere Fälle der confisca“)13 bis hin zum Art. 416-bis Abs. 7 c.p. ist man zu einem System mit vielen gemeinsamen Zügen (trotz der unterschiedlichen Voraussetzungen für das jeweilige Einschreiten) gelangt, das der Gesetzgeber geschaffen hat, um die Möglichkeiten der Vermögenseinziehung auszuweiten. Dabei wurde zugunsten der Wiedereinführung der Figur der „allgemeinen ‚confisca‘“ im weiten Sinne (deren endgültige Verdrängung durch die „besondere ‚confisca‘“ erhofft wurde, die als ___________ 11

Aufgrund der ersten beiden Beschlüsse enthalten Art. 30 und 31 des Gesetzes vom 25.2.2008, Nr. 34 (betreffend Bestimmungen über die Erfüllung von Pflichten, die aus der Mitgliedschaft Italiens in der EG herrühren – legge comunitaria 2007) die Beauftragung der Regierung zur Umsetzung der vorgegebenen Grundsätze und Regelungen innerhalb von 12 Monaten ab Verkündung des Gesetzes (veröffentlicht in Gazzetta Ufficiale (G.U.) Nr. 56 vom 06.3.2008 – Suppl. ord. Nr. 54). Zu den zahlreichen Maßnahmen auf diesem Gebiet wurde die D.LGS. vom 22.6.2007 Nr. 109 hinzugefügt, die in Umsetzung der Richtlinie 2005/60/EG und der UNO-Konvention über die Bekämpfung und Eindämmung des Terrorismus die Institution des Comités zur Sicherung der Finanzen vorsieht und das Einfrieren von Gütern regelt. Für nähere Informationen über die zentralen Probleme der „confisca“ in rechtsvergleichender Hinsicht siehe Maugeri, Relazione introduttiva. I modelli di sanzione patrimoniale nel diritto comparato, in: Maugeri (a cura di), Le sanzioni patrimoniali come moderno strumento di lotta contro il crimine: reciproco riconoscimento e prospettive di armonizzazione, 2008, S. 1 ff. 12 Dazu: Fondaroli, Gewinnabschöpfung und Strafrecht, in: Loos/Jehle (Hrsg.), Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart. Manfred Maiwald zu ehren, 2007, S. 91-95. 13 Vgl. Acquaroli, L’estensione dell’art. 12-sexies ai reati contro la Pubblica Amministrazione, Diritto penale e processo 2008, S. 251 ff.

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Objekt einzelne, mit der strafbaren Handlung verbundene Gegenstände hat) darauf verzichtet, die „confisca“ an Gegenstände zu binden, die zur Straftat gehören (wie die Ausweitung der „confisca“ „des Werts“ bestätigt). Infolge der durch Art. 10 und 10-bis Gesetz vom 24.07.2008 Nr. 125 eingeführten Reform erweisen sich die Voraussetzungen für eine Durchführung der „confisca“ zur Prävention und jener gemäß Art. 12 Abs. 2 Gesetz Nr. 356/1992 (gültig für Delikte, welche die Voraussetzungen des Art. 416-bis c.p. erfüllen oder mit denen eine Unterstützung der dort genannten Vereinigungen bezweckt wird, sowie gültig für Schmuggeldelikte gemäß Art. 295 Abs. 2 Decreto del Presidente della Repubblica – D.P.R. – Nr. 43/1973) zusätzlich als angeglichen, auch infolge ihrer Einführung für beide Fälle der „confisca“ des Werts (sei es auch nur in Begleitung mit weiteren Voraussetzungen). Aber abgesehen von diesem grundlegenden Gesichtspunkt sind die Institute zur Vermögensabschöpfung auch auf andere Bereiche zurückzuführen, die nur „zufällig“ mit der organisierten Kriminalität verbunden sind: und zwar in dem Sinne, dass das nicht bestreitbare Geflecht von organisierter Kriminalität und Wirtschaftskriminalität, auch auf europäischen und internationalen Druck hin, treibende Kraft für eine Ausweitung der ausnahmsweise eingreifenden „confisca“ auf andere Gebiete war, wobei (faktisch) riskiert wurde, mittels eines Dominoeffektes ein diffuses Verbot für unternehmerische Tätigkeiten (also auch für Tätigkeiten, die nicht an die organisierte Kriminalität „angelehnt“ sind) herbeizuführen. Das Phänomen ist offenkundig in den aktuellen Reformen des Gesellschaftsstrafrechts und in der Gesetzgebung über die „verwaltungsrechtliche“ Verantwortung14 von „enti“ für eine strafbare Handlung zu verzeichnen.

III. Die Erforderlichkeit der „confisca“ des Gewinns aus der Straftat Wie bekannt, ist eine Vermögensabschöpfung gemäß Art. 240 c.p. in Bezug auf den Ertrag und den Gewinn aus der Straftat sowie in Bezug auf Sachen, die zur Begehung der Straftat dienten oder dafür bestimmt waren, zulässig, während die Vermögensabschöpfung zwingend vorgeschrieben ist in Bezug auf den Erlös aus dem Delikt und auf Sachen, die eine „objektive“ oder „immanente“ Gefahr begründen, sowie in Bezug auf Sachen, deren Herstellung, Gebrauch, ___________ 14

„Obwohl der Gesetzgeber (D.LGS. Nr. 231/2001) diese Verantwortlichkeit ‚verwaltungsrechtlich‘ qualifiziert hat, ist ein großer Teil der Lehre der Auffassung, dass es sich um eine echte strafrechtliche Verantwortung handele“: Nisco, Finanzmarktstrafrecht in Italien – Entwicklungen und kritische Anmerkungen, ZStW 120 (2008), 895, 914 ff.

Anmerkungen zur Gewinnabschöpfung

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Beisichführen, Besitz oder Veräußerung die Straftat darstellt, und zwar auch dann, wenn es zu keinem Urteil gekommen ist; letzteres gilt aber nur, wenn die genannten Handlungen nicht durch eine Genehmigung der Verwaltungsbehörde zugelassen werden können (und der Gegenstand nicht einem Dritten gehört). Auf diesem Gebiet bleibt nichts anderes übrig, als von einer Analyse der Bedeutung der einzelnen „Formen“ des Gegenstands der „confisca“ abzusehen, unter denen jene des „Erlöses“ aus der strafbaren Handlung für Jahrzehnte Stand gehalten hat, geht es dabei doch um den Hauptfall der obligatorischen Vermögenseinziehung, der von Art. 240 c.p. vorgesehen ist: Deshalb hat auch dieser Fall die Voraussetzungen bestimmt, bevor die besonderen Varianten der Vermögensabschöpfung massiv ausgedehnt wurden und somit die alte Fassung des Art. 445 Abs. 1 codice di procedura penale (c.p.p.) über einen Versuch einer extensiven Auslegung – um nicht zu sagen einer analogen Anwendung – der Bestimmung des Erlöses erweitert wurde, womit darauf abgezielt wurde, die obligatorische „confisca“ auch im Fall der Prozessabsprache zuzulassen (bis zur Reform von 2003 war dies nur begrenzt auf die Fälle des Art. 240 Abs. 2 c.p. zulässig). Der gemeinsame Senat der Corte di Cassazione hat versucht, Ordnung in das System der Einkünfte zu bringen, indem er darauf erkannt hat, dass sich der „Gewinn“ durch den Nutzen oder durch den mit der Strafbegehung erlangten wirtschaftlichen Vorteil auszeichnet, während der „Erlös“ nur auf die Motive ausgerichtet ist, die den Täter dazu gebracht haben, die Tat zu begehen, und eine aufgrund dieses Motivs gegebene oder angestrebte Belohnung darstellt, und indem er darauf erkannt hat, dass „Ertrag“ das Ergebnis der Tat meint, d.h. die direkt aus der Straftat stammenden Vorteile.15 Die Änderung des Art. 445 c.p.p. durch die Erweiterung des Anwendungsbereiches auf jeden Fall der „confisca“ nach Art. 240 c.p. hat auch infolge des Urteils über Bandenzusammenschlüsse die „glückliche Zeit“ mit dem Begriff des Gewinns aus der Straftat beendet, und zwar etwa zu dem Zeitpunkt, als die Einführung der obligatorischen Abschöpfung des Gewinns für weitere Straftaten begonnen hat, die Aufmerksamkeit des Rechtsanwenders auf die Feststellung des Inhalts des Gewinns zu lenken.16 Mit Rücksicht darauf scheint in der neueren Rechtsprechung die Tendenz zu entstehen, zwei Begriffe des Gewinns nach der Art der in Frage kommenden „Verantwortlichkeit“ zu unterscheiden. Der Gemeinsame Strafsenat hat einer___________ 15 Cass. Gemeinsamer Strafsenat, 03.7.1996, Chabni, Cassazione penale, 1997, 974 f.; siehe auch Fornari (Fn. 3), S. 625 f. 16 Die Regelung fast aller besonderen Fälle der „confisca“ stellt ausdrücklich ein „patteggiamento“ (Prozessabsprache, siehe Fn. 5) einem auf Verurteilung lautenden Urteil gleich.

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seits in Bezug auf die „confisca“ nach Art. 322-ter c.p. (die auf natürliche Personen angewendet wird) den Begriff des Gewinns in einem weiten Sinn gedeutet, sodass auch Umwandlungen erfasst sind, die rechtswidrig erlangtes Geld etwa aufgrund einer Investition annimmt, wenn die Umwandlungen kausal auf die Straftat sowie auf den unmittelbar erlangten Gewinn (das Geld) zurückgeführt werden können und wenn die Umwandlungen dem Täter, der eben jene gewollt hat, zurechenbar sind17; andererseits hat der gemeinsame Senat im Hinblick auf den Gewinn bei der „confisca“ nach Art. 19 und 53 D.LGS. Nr. 231/2001 (anwendbar auf „enti“) den Begriff als „wirtschaftlichen Vorteil mit direkter und unmittelbarer kausaler Herkunft aus der Straftat“ umschrieben, „der dadurch bestimmt wird, dass im Einzelfall der vom Geschädigten im Rahmen der synallagmatischen Beziehung mit dem ‚ente‘ möglicherweise gezogene Gewinn berücksichtigt wird“18. In der genannten Begründung dieser letzten Entscheidung wird präzisiert, dass für eine Bestimmung des Gegenstands der „confisca“ nicht auf wertende Parameter unternehmerischer Art (wie den „Brutto-“ und „Nettogewinn“) zurückgegriffen werden darf19, sondern im Rahmen von Beziehungen synallagmatischer Art und folglich im Kontext rechtmäßiger Leistungen ebenso wie im Rahmen eines rechtswidrigen, die Straftat darstellenden Geschäfts von der Vermögenseinziehung die erhaltene Gegenleistung abgezogen werden muss, soweit sie nicht einen rechtswidrigen Gewinn darstellt.20 Aber nicht nur das. Auch innerhalb der Lehre über die Verantwortlichkeit der „enti“ müsste nach der Rechtsprechung zwischen Gewinn „im engeren Sinne“, relevant für den Zweck der „confisca“, und dem Gewinn nach Art. 13 und 16 D.LGS. Nr. 231/2001 (welche die Anwendung der Verbotsmaßnahmen begründet) unterschieden werden. Letzterer wird am strengsten sanktioniert und entspricht einem „Konzept eines dynamischen, tiefergehenden Gewinns, der im Einzelfall wirtschaftliche Vorteile erfassen kann, die nicht unmittelbar, jeden-

___________ 17

Cass. Gemeinsamer Strafsenat, 25.10.2007 – 6.3.2008, Nr. 10280, abrufbar unter www.cortedicassazione.it. 18 Cass. Gemeinsamer Strafsenat, 27.3.-2.7.2008, Nr. 26654, abrufbar unter: www.cortedicassazione.it. Die Frage nach der Möglichkeit, die „confisca“ (und vor allem die vorsorgliche Beschlagnahme) auf den „Nettowert“ der Straftat zu beschränken, ist dem Gemeinsamen Senat zur Entscheidung übertragen worden, Cass. 2. Strafsenat, 23.1.2008, Nr. 4018 (abrufbar unter www.penale.it). 19 Auch im deutschen Strafrecht ist man zur Unanwendbarkeit des Nettoprinzips gelangt: dazu Fondaroli (Fn. 6), S. 58 ff. 20 Ausführlich dazu Fondaroli, Splendori e miserie della confisca obbligatoria del profitto, in: Fondaroli (a cura di), Principi costituzionali in materia penale e fonti sovranazionali, 2008, S. 117 ff.

Anmerkungen zur Gewinnabschöpfung

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falls aber im Zusammenhang mit der Verwirklichung des Unrechts erlangt worden sind“.21

IV. Die Abschöpfung des Wertersatzes als moderne Art der (allgemeinen) Abschöpfung des Vermögens Mit dem Institut der Abschöpfung des Wertersatzes (das auch im deutschen Strafrecht sowohl in Bezug auf den Verfall – § 73a StGB – als auch in Bezug auf die Einziehung – § 74c StGB – vorgesehen ist) werden nicht mehr oder nicht nur einzelne Gegenstände, die in Beziehung zu der begangenen Straftat stehen22, sondern Teile oder die Gesamtheit des Vermögens des Einzelnen zum bevorzugten Objekt der Gewinnabschöpfung. Folglich kann die „confisca“ in diesen Fällen erneut mit dem alten Beinamen „allgemeine ‚confisca‘“ belegt werden, soweit sie eine Abschöpfung des Vermögens und nicht eine Entziehung von näher bestimmten Gegenständen mit Verbindung zur Straftat darstellt; oder sie kann (mit nur begrifflichem Unterschied) auf die moderne Figur der Vermögensstrafe zurückgeführt werden. Wahrlich ist die Tatsache, dass sowohl Art. 12-quinquies Abs. 2 Gesetz Nr. 356/1992 als auch § 43a StGB jeweils durch Entscheidungen der Corte Costituzionale23 und des Bundesverfassungsgerichts24 aufgehoben worden sind, nicht besonders bedeutungsvoll, weil die Einführung des Art. 12-sexies Gesetz Nr. 356/1992 und die Regelung der „Abschöpfung des entsprechenden Geldbetrags“ aus der Tat (auch auf Sanktionsebene) hervorragend die Funktion erfüllen, die den für verfassungswidrig erklärten Normen zugewiesen waren. Die Corte di Cassazione hat ausdrücklich festgestellt, dass man mit der Abschöpfung des Wertersatzes von der „Ergreifung der Sache, der der Gesetzgeber die Gefährlichkeit beimisst“, übergeht auf die „Ergreifung eines ‚Teils‘ des Vermögens des Täters, wobei keine Beziehung zur Gefährlichkeit des Vermögens bestehen muss, sondern die Ergreifung ausschließlich zu sanktionsrechtli-

___________ 21 Cass. 6. Strafsenat, 23.6.2006, Nr. 32627, Guida al diritto, 2006, 42, 65; ebenso Cass. Gemeinsamer Strafsenat, 27.3.-2.7.2008, Nr. 26654, abrufbar unter www.cortedicassazione.it (Abschnitt 6). 22 In diesem Sinne verliert die Diskussion um den Begriff der Herkunft an Bedeutung: Vgl. dazu Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht, Besonderer Teil 2, 9. Aufl. 2005, S. 506 ff. 23 Corte Cost., 17.2.1994, Nr. 48, abrufbar unter www.cortecostituzionale.it. 24 BVerfG, 20.3.2002, abrufbar unter www.bundesverfassungsgericht.de.

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chen Zwecken im Hinblick auf den Gewinn oder Erlös aus der Straftat“ erfolgen darf.25 Aber es gibt noch mehr. Gerade die Wandlung der belastenden Natur der Abschöpfung des Vermögenswerts26 schließt die Möglichkeit aus, ihre besonderen Fallgruppen den verfassungsrechtlichen Garantien an das Strafrecht zu entziehen.27 Nicht nur das. Wie man der Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats entnehmen kann, erscheint der Rückgriff auf die „confisca“ des Werts umso weniger erforderlich, je weiter man den Begriff des Gewinns der Straftat ausdehnt.28 Ob danach die eine Alternative verfassungsrechtlich unbedenklicher ist als die andere, muss gründlich überprüft werden.

V. Die in der D.LGS. Nr. 231/2001 im Hinblick auf die „verwaltungsrechtliche“ Verantwortlichkeit von „enti“ enthaltenen Figuren der Vermögensabschöpfung In der Regelung über die verwaltungsrechtliche Verantwortlichkeit von „enti“ wird die „confisca“ zu den Hauptsanktionen (oder aber zu den Sanktionen eigener Art)29 gezählt, die als „verwaltungsrechtliche“ und „von der Straftat

___________ 25

Cass. 2. Strafsenat, 8.5.2008 (dep. 28.5.2008), Nr. 21566, P.A.T., abrufbar unter www.utetgiuridica.it. 26 Sie wird als „eine Form der öffentlichen Abschöpfung zur Kompensation rechtswidriger Abschöpfungen bezeichnet“ (Cass. 5. Strafsenat, 16.1.2004, Napolitano, Foro italiano, 2004, II, 690), deren Sinn darin besteht, „dem Täter jedweden wirtschaftlichen Vorteil zu nehmen, dies in der Überzeugung, dass eine solche sanktionierende Reaktion eine hinreichend abschreckende Wirkung entfaltet“ (Cass. 6. Strafsenat, 29.3.2006, Nr. 24633, Guida al Diritto, 2006, Nr. 32, S. 92 (Abschnitt 1). 27 Vgl. unten VIII. 28 Vgl. Cass. Gemeinsamer Strafsenat, 25.10.2007-3.3.2008, Nr. 10280, abrufbar unter www.cortedicassazione.it. Auf diese Tatsache ist es zurückzuführen, dass die umstrittene Frage an Bedeutung verliert, ob durch Auslegung der Anwendungsbereich der (Beschlagnahme und) „confisca“ des Gewinnes gemäß Art. 322-ter c.p. auf eine „confisca“ des Gewinns ausgeweitet werden kann, die im Urteil des Gemeinsamen Senats vom 25.10.2005, Nr. 41936, Muci (Rivista penale 2006, S. 42) aufgeworfen wurde. 29 So die Auffassung von Pulitanò, Diritto penale, 2. Aufl. 2007, S. 719, der eine solche Einstufung mit der Begründung annimmt, dass die „confisca“ (die auf den Erlös und den Gewinn angewendet wird) nicht „an dem Kriterium der Verhältnismäßigkeit gemessen wird, das für andere Sanktionen aber gilt“, und keine „Wertobergrenzen kennt“. Auch Cass. 2. Strafsenat, 27.9.2006, Nr. 31989 hebt für die „confisca“ nach Art. 19 D.LGS. Nr. 231/2001 die Wirkung einer „Hauptsanktion“ hervor.

Anmerkungen zur Gewinnabschöpfung

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abhängige“ Sanktionen bezeichnet werden (Art. 9 Buchst. c D.LGS. Nr. 231/2001)30. Art. 19 D.LGS. Nr. 231/2001 spezifiziert das System der Anwendung dieser Sanktion, die immer angeordnet werden muss, und zwar in der Verurteilung und in Beziehung auf den Erlös und den Gewinn aus der Straftat. Dies gilt jedoch nicht für den Teil des Vermögens, der dem Geschädigten zurückgezahlt werden kann, und auch dann nicht, wenn Rechte Dritter betroffen sind. Sobald die Durchführung der Abschöpfung des Gewinns oder Erlöses aus der Straftat unmöglich ist, kann die Abschöpfung als Gegenstand auch Geldbeträge, Sachen oder andere nützliche Güter mit gleichem Wert haben. Diese Möglichkeit gestattet eine Ausweitung der Wertabschöpfung, die aufgrund der „Tat des ‚ente‘“ bei jeder von der D.LGS. Nr. 231/2001 erfassten Straftat (und bei Straftaten, deren Regelung auf eine solche Vorgehensweise verweist) durchgeführt wird. Daraus folgt wiederum eine Erweiterung des Kreises der Fälle, in denen die die als unüblich bezeichnete Abschöpfung bereits vorgesehen ist: Auch Gegenstände, die aus Taten von natürlichen Personen herrühren, können eingezogen werden. Während unter dem Gesichtspunkt des „Gegenstands“ der Maßnahme keine Angaben über die sog. Tatwerkzeuge und über den „Gewinn aus der Tat“ gemacht werden, erfordern einige spezielle Bestimmungen einen Bezug zum Erlös und zum Gewinn. Vor allem dieser Bezug hat Bedeutung bei der Zumessung der Strafe, wie sie die „confisca“ darstellt. Wenn man davon ausgeht, dass Art. 19 eine eigenständige Figur der Abschöpfung darstellt, woraus jedenfalls eine Subsidiarität gegenüber der „confisca“ folgt, die sich gegen natürliche Personen als Täter richtet31, ist als Gewinn dasjenige zu nennen, „was das ‚ente‘ der Straftat entnommen hat“, und zwar auf Basis der in Art. 6 Abs. 5 enthaltenen Bestimmung (auf die sogleich eingegangen wird). Art. 19 verweist (nur) im Fall der Verurteilung des „ente“ auf die obligatorische Durchführung der „confisca“32, ohne die auf Antrag verhängte Strafe der Verurteilung gleichzustellen (Art. 444 ff. c.p.p.), wie es demgegenüber bei an___________ 30 In Wahrheit listet Art. 9 D.LGS. Nr. 231/2001 die Arten der „verwaltungsrechtlichen Sanktionen“ ohne vorherige Abstufung und ohne Unterteilung in „Haupt-“ und „Nebensanktionen“ auf: De Vero, Il sistema sanzionatorio di responsabilità ex crimine degli enti colletivi, Responsabilità amministrativa delle società e degli enti, 2006, 2, S. 174. 31 So auch ausdrücklich Cass. 2. Strafsenat, 27.9.2006, Nr. 31989, abrufbar unter www.reatisocietari.it; einen anderen Standpunkt scheint Bricchetti (La confisca nel procedimento di accertamento della responsabilità amministrativa dell’ente dipendente da reato, in: Responsabilità Amministrativa delle società e degli enti, 2006, S. 7 ff.) einzunehmen. 32 Manzione, I procedimenti speciali e il giudizio, in: Lattanzi (a cura di), Reati e responsabilità degli enti, 2005, S. 588 ff.

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deren besonderen Fallgruppen geschieht, und ohne auf Art. 240 c.p. zurückzugreifen. Auf gleiche Weise wie bei Art. 53 D.LGS. Nr. 231/2001 ist die vorläufige Beschlagnahme von Gegenständen zulässig, die gemäß Art. 19 D.LGS. Nr. 231/2001 eingezogen werden können, wie man im folgenden Absatz sehen wird. Nach der Regelung des Art. 6 Abs. 5 D.LGS. Nr. 231/2001 ist die Abschöpfung des Gewinns – auch in der Form des Wertersatzes –, den das „ente“ aus der vom Haupttäter begangenen Tat erlangt hat, in jedem Fall vorgeschrieben33, auch wenn das Fehlen von „Fahrlässigkeit“ oder, in hermeneutischer Hinsicht, von „Schuld“ bewiesen worden ist: eine Maßnahme, die den Gewinn aus einer Tat erfasst, die von Seiten einer „außerhalb (des „ente“) stehenden“ Person begangen worden ist, selbst wenn dem „ente“ gegenüber prozessrechtlich festgestellt wurde, dass kein Zusammenhang zwischen (un)angemessener betrieblicher Organisation und der vom Vertreter oder Verwalter der Körperschaft („soggetto apicale“) begangenen Tat besteht. In der Lehre wird eine präventive Ausrichtung dieser Figur angenommen, die an den Begriff der realen Gefährlichkeit angelehnt wird, die ihrerseits aus der unrechtmäßigen Herkunft der Sache abgeleitet wird.34 Im Übrigen wird hervorgehoben, dass die Abschöpfung des Vermögenswerts dazu führt, Gegenstände zu erfassen, die einer Person gehören, die nach der D.LGS. Nr. 231/2001 als unzurechnungsfähig eingestuft wird und damit eine klar von den allgemeinen Bestimmungen abweichende Regelung trifft, indem nicht nur der Gewinn (oder der Erlös) eingezogen wird, sondern auch „neutrale“ Güter, die zum Gegenstand der Ergreifung werden, wenn sie als (zum Gewinn oder Erlös) äquivalenter Vermögenswert angesehen werden. Eine vereinzelte Strömung von Deutungsansätzen misst Art. 6 Abs. 5 D.LGS. Nr. 231/2001 – genau wie ein in der Gesetzgebung weit verbreitetes Modell – eine Funktion mit ausschließlich „wieder herstellendem Charakter“ zu: Die Vermögensabschöpfung, die nicht einmal im Fall des Erlöschens der Straftat oder gar im Fall des Freispruchs seltener werde, erwiese sich so als darauf orientiert, „den Vermögensstand, mit dem das „ente“ eine ungerechtfer___________ 33 Folglich mit Ausnahme des Falls, in dem die Straftat von einer „weisungsgebundenen Person“ begangen worden ist und daher nicht Art. 6, sondern Art. 7 D.LGS. Nr. 231/2001 Anwendung findet (Lottini, Il sistema sanzionatorio, in: Garuti (a cura di), Responsabilità degli enti per illeciti amministrativi dipendenti da reato, 2002, S. 167 f.): In diesem Fall schließt der fehlende Nachweis des Verschuldens des „ente“ sowohl die Verantwortlichkeit als auch die „confisca“ aus: Bricchetti (Fn. 31), S. 10. 34 Di Giovine, Lineamenti sostanziali del nuovo illecito punitivo, in: Lattanzi (a cura di), Reati e responsabilità degli enti, 2005, S. 96 f.; a.A. Fondaroli (Fn. 6), S. 326 ff.

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tigte Bereicherung erlangt hat, wieder abzuschöpfen (auszugleichen), selbst wenn dies schuldlos geschah“35. Die Argumentation knüpft an das Prinzip an, wonach das „ente“ sich nicht in einer vermögensrechtlich besseren Stellung befinden darf als in der, in der es sich vor Begehung der Tat befand: Die Tatsache, dass keine Verantwortlichkeit des „ente“ erkennbar ist, mindert „in keiner Weise die Unangemessenheit, dass sich das ‚ente‘ die wirtschaftlichen Vorteile zunutze macht, die es jedenfalls aus der Tätigkeit des sog. treubrüchigen Geschäftsführers erlangt hat“.36 Da es sich um ein „Instrument zum Ausgleich des gestörten Gleichgewichts“ handelt und nicht um eine Maßnahme mit Strafcharakter, kann die genannte „confisca“ – nach dieser Ansicht in der Literatur – unabhängig von der Verantwortlichkeit des „ente“ angewendet werden.37 Es ist u. a. daran zu erinnern, dass das Modell des Wiederherstellens jedenfalls eine nach den Bestimmungen der Gesetze zurechenbare „unerlaubte Handlung“ „von dem Ausgleichspflichtigen selbst“ oder „von einer anderen Person“ voraussetzt. Man würde also sagen, dass die „confisca“ in diesem besonderen Fall eine sanktionsrechtliche Konsequenz im Hinblick auf die objektive Verantwortlichkeit des „ente“ für die Tat des Vertreters oder Verwalters (der Körperschaft) herbeiführt und dass folglich trotz aller Anstrengungen eine Art strict vicarious liability wiederbelebt wird38: eine Ansicht, die schwerlich mit der ausschließlich präventiven Ausrichtung vereinbar ist, in die sich das Institut nach der herkömmlichen Auffassung einordnen würde. Wenn die Zweckmäßigkeit der Schuld als Sanktionsvoraussetzung bezüglich der erzieherischen Spezialprävention und besonders bezüglich der negativen Generalprävention gefestigt erscheint, vorbehaltlich des abweichenden Falls, in dem das Risiko der Zuerkennung von Verantwortlichkeit wegen unkontrollierbarer Folgen des eigenen Verhaltens dazu führen könnte, davon abzusehen, bestimmte Handlungen vorzunehmen oder die Sorgfaltsmaßstäbe zu erhöhen, ist es notwendig, in ___________ 35 So Leccese, Responsabilità delle persone giuridiche e delitti con finalità di terrorismo o eversione dell’ordine democratico (art. 25 quater D.LGS. Nr. 231/2001), Rivista trimestrale di diritto penale dell’economia, 2003, 1199; Cerqua, Il trattamento sanzionatorio, in: Monesi (a cura di), I modelli organizzativi ex d.lgs 231/2001, 2005, S. 236. Dieser Standpunkt wird geteilt von Cass. 2. Strafsenat, 27.9.2006, Nr. 31989, abrufbar unter www.reatisocietari.it, wonach das Institut „keinen Strafcharakter“ hat und „ausschließlich auf die Wiederherstellung der ursprünglichen, ausgeglichenen Vermögenssituation gerichtet ist“; die Entscheidung stützt sich u.a. auf die fehlende Ausdehnung auf den behandelten Fall der Beschlagnahme gemäß Art. 53 D.LGS. Nr. 231/2001. 36 „Relazione“ zu D. LGS: Nr. 231/2001 (Abs. 3, 4), jetzt auch im Anhang zu Fiorella/Lancellotti, La responsabilità dell’impresa per i fatti di reato, 2004, S. 136. 37 Vgl. Lottini (Fn. 33), S. 167 f., der auf Maugeri, Le moderne sanzioni patrimoniali tra funzionalità e garantismo, 2001, S. 156, verweist. 38 Bricchetti (Fn. 31), S. 10.

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den genannten Ausnahmefällen zu einem Urteil zu gelangen, das die Anforderungen des vorbeugenden Schutzes und die Wahrung der Grundrechte ausgleicht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Grundrechte mit der Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit verbunden sind, welche die Verantwortlichkeit für Taten außerhalb der eigenen Kontrollmöglichkeit ausschließt.39 Die in der D.LGS. Nr. 231/2001 vorgesehene „confisca“ scheint sich also nach dem Prinzip zu richten, nach dem der Gewinn, der in gewisser Hinsicht mit der vorausgesetzten Straftat (die von einer vom „ente“ verschiedenen, natürlichen Person begangen wurde) verbunden ist, jedenfalls vom Staat eingezogen werden muss,40 vorausgesetzt, dass der Gegendruck, wie er von einer auf den Gewinn ausgerichteten Sanktion ausgeübt wird, eine hinreichend abschreckende Wirkung entfaltet.41 In den Kalkulationen des „ente“ sind „tugendhafte Verhaltensweisen“ darauf gerichtet, mögliche Einschränkungen des Gewinns zu reduzieren42, wenn für diese Einschränkungen niedrigere „Kosten“ aufgewendet müssen als für jedenfalls verhängte Sanktionen.43 Demnach stellt sich die Frage, welchen Gegenreiz die „confisca“ (ebenso wie die Abschöpfung des Wertersatzes) setzen kann, wenn sie auch im Fall der Erfüllung der von der D.LGS. Nr. 231/2001 auferlegten Pflichten zwingend durchgeführt werden muss: Es besteht nämlich kein Interesse des „ente“, Kapital und Arbeitskraft in die Vorbereitung, Kontrolle und Überprüfung der betrieblichen Organisationsmodelle zu investieren, die (vielleicht) geeignet sind, ___________ 39

Fiandaca/Musco (Fn. 3), S. 317 f. Eine Auffassung der Lehre, die von namhaften Autoren vertreten wird, fasst den Kern dieses Prinzips mit der Hoffnung zusammen, dass im Fall der feststehenden begangenen Tat „zumindest die Gewinne aus der rechtswidrigen Tat immer und jedenfalls dem Täter und der juristischen Person entzogen werden“: Alessandri, La confisca, in: Alessandri (a cura di), Il nuovo diritto penale delle società, 2002, S. 110. 41 Dieser Sinn erklärt anschaulich etwa den Art. 25-sexies D.LGS. Nr. 231/2001, der eine Erhöhung der Geldstrafe bis auf das Zehnfache des „relevanten Umfangs“ des aus der Straftat gezogenen Ertrages oder Gewinns erlaubt. Ähnlich sind die Art. 184 Abs. 3 und Art. 185 Abs. 2 der D.LGS. Nr. 58/1998 anzusehen, nach denen die Gesamtheit des vom Täter gezogenen Ertrages oder Gewinns einen der Gesichtspunkte darstellt, die die Erhöhung einer Geldstrafe deutlich über die Grenze der Höchststrafe hinaus zulassen und damit ein Alternativkriterium für die Strafzumessung einführen. 42 Bastia, Implicazioni organizzative e gestionali della responsabilità amministrativa delle aziende, in: Palazzo (a cura di), Societas puniri potest. La responsabilità da reato degli enti collettivi, 2003, S. 44. 43 Es würde sich eine Art „dritte Dimension“ der Kriminalitätsbekämpfung oder gar eine „vierte Spur“ des Strafrechts abzeichnen, die, so könnte man provokant formulieren, auf eine „ökonomische Generalprävention“ ausgerichtet ist: nähere Betrachtungen hierzu bei Herzog, Gewinnabschöpfung und Vermögenssanktionen Verbrechensbekämpfung durch Kostenmaximierung des Normbruchs?, in: FS Lüderssen, 2002, S. 241, S. 245; Faure, Gewinnabschöpfung und Verfall auf ökonomischem Prüfstand, in: FS Eser, 2005, S. 1311 ff. 40

Anmerkungen zur Gewinnabschöpfung

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die „verwaltungsrechtliche“ Verantwortlichkeit (und die folgende Verhängung von Geldbußen und Verboten sowie die Veröffentlichung des Urteils) auszuschließen, wenn sie keinen Einfluss auf die Durchführung der „confisca“ haben.

VI. Die Vorstufe der „confisca“: die vorsorgliche Beschlagnahme zum Zwecke der Gewinnabschöpfung Die Auswirkungen der „confisca“ weiten sich angesichts ihrer Anwendbarkeit zu einem Zeitpunkt, der dem Moment der Feststellung der Verantwortlichkeit des Adressaten der abschöpfenden Maßnahme vorausgeht, massiv aus. Dies geschieht über das Institut der vermögensrechtlichen Vorsorgemaßnahme der vorbeugenden Beschlagnahme. Art 321 c.p.p., der auch die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit der Maßnahme (Gefahr im Verzug und Verschärfung oder Fortdauern der Folgen der Straftat, Abs. 1) regelt, räumt dem Richter „darüber hinaus“ die Möglichkeit ein, die Beschlagnahme von Sachen anzuordnen, deren „confisca“ zulässig ist (Abs. 2) und verpflichtet ihn dazu, sobald die laufende Maßnahme eine der Taten nach Teil I des Titels II des Buches II des codice penale oder der „Taten eines Amtsträgers gegen die öffentliche Verwaltung“ (Abs. 2-bis) betrifft.44 Die vorsorgliche Beschlagnahme „zum Zwecke der ‚confisca‘“ wird insoweit als selbstständige Figur im Vergleich zur „allgemeinen“ Figur nach Abs. 1 angesehen, als sie auch von jenen unklaren Voraussetzungen befreit ist, die das Gesetz vorsieht: Der präventive Charakter der hier untersuchten Figur ist vielmehr auf den spezifischen Zweck beschränkt, eine etwaige zukünftige „confisca“ effizient zu gestalten45 Einheitlich geht die herrschende Meinung davon aus, dass jenes „darüber hinaus“ den Richter von der Pflicht entbindet, eine Gefahr im Verzug festzustellen und eine Verschärfung oder ein Fortdauern der Folgen der Tat zu überprüfen. Es wird nur verlangt, dass die „Gegenstände“ der ___________ 44

Die Bestimmung ergänzt Art. 335-bis c.p., der die Pflicht zur „confisca“ auch in den Fällen vorsieht, in denen sie gemäß Art. 240 c.p. nur fakultativ ist: Beide Vorschriften sind durch das Gesetz vom 27.3.2001, Nr. 97 eingeführt worden, welches Regelungen über die Beziehung zwischen Straf- und Disziplinarverfahren und über Auswirkungen des Strafurteils auf die Angestellten der öffentlichen Verwaltungseinrichtungen enthält. Siehe hierzu De Gregorio, Norme sul rapporto tra procedimento penale e procedimento disciplinare ed effetti del giudicato penale nei confronti dei dipendenti delle amministrazioni pubbliche, Legislazione penale, 2002, 613 ff.; Fondaroli, La confisca, in: Cadoppi/Canestrari/Manna/Papa, Trattato di diritto penale. Parte speciale II – I delitti contro la pubblica amministrazione, 2008, S. 271 ff. 45 Garavelli, Art. 321, in: Conso/Grevi, Commentario breve al codice penale, 2005, S. 1097.

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„confisca“ unterliegen46, d.h. „dass es sich um Gegenstände handelt, deren „confisca“ nach den Bestimmungen des codice penale oder der Strafgesetze zulässig ist“.47 Die Regelung der vielgestaltigen „confisca“, oder genauer der „confische“, auf deren Sicherung die Maßnahme gerichtet ist, setzt auch im Stadium besonderer Schutzmaßnahmen die Grenzen der Abschöpfung. Je nach der einschlägigen Figur der Abschöpfung muss der Richter die vorgeschriebenen Voraussetzungen der (obligatorischen oder fakultativen) Einziehbarkeit überprüfen und über die Erforderlichkeit einer Beschlagnahme entscheiden (vorbehaltlich des Falls einer vorsorglichen Beschlagnahme zwecks einer obligatorischen „confisca“ gemäß Art. 321 Abs. 2-bis c.p.p.). Mit anderen Worten kann der „Gegenstand“, der (je nach den Bestimmungen) einen Ertrag, Gewinn oder Erlös aus der Straftat darstellt oder der bei Tatbegehung verwendet wurde oder dazu bestimmt war, sowie jedes andere „Gut“ mit entsprechendem Vermögenswert dem Täter im Fall der Verurteilung oder einer gleichgestellten Aburteilung allein unter der Voraussetzung der Einziehbarkeit und unabhängig von einem Bezug zur Straftat entzogen werden.48 Vor allem in Beziehung auf die obligatorische „confisca“ schließt der Zusammenhang zwischen Gegenstand und Straftat, der „vollständig von der Überprüfung der ‚Einziehbarkeit‘ des Gegenstands absorbiert wird“, jedweden Ermessensspielraum des Richters über einen umsichtigen Umgang mit der gefährlichen Sache aus, womit das Gesetz über eine unwiderlegbare Vermutung die Zirkulation der Sache zu verbieten sucht.49 Aber nicht nur das. Zahlreich – und daher hier nicht darstellbar – sind die komplexen prozessrechtlichen Regelungen vom Widerruf bis zur Überprüfung ___________ 46

Zustimmend die ganz herrschende Meinung in der Literatur (vgl. etwa Lattanzi, Art. 321, in: Lattanzi/Lupo, Codice di procedura penale. Rassegna di giurisprudenza e di dottrina, IV, Band II, 9. Aufl., 2003, S. 1619; Garavelli, in: Conso/Grevi (Fn. 45), S. 1097 f.) und die Rechtsprechung (vgl. Cass. 3. Strafsenat, 26.11.2004, Passatutto, Archivio della nuova procedura penale, 2005, S. 188, die diese Auffassung auf diesem Gebiet als nunmehr gefestigt bezeichnet): s. die Wiederbegründung des „State of the Art“ von Montagna, I sequestri nel sistema delle cautele penali, 2005, S. 119. Die Gefährlichkeit von Gegenständen, die der Beschlagnahme unterliegen, wird sozusagen „vom Gesetz vermutet“: Carli, Le indagini preliminari nel sistema processuale penale, 2. Aufl. 2005, S. 361. 47 Cass. 3. Strafsenat, 13.10.2004, Nr. 45797, P., Archivio della nuova procedura penale, 2005, S. 188. 48 So die herrschende Meinung: Cass. 6. Strafsenat, 27.1.2005, Nr. 11902, CED 231234; dagegen aber Cass. 4. Strafsenat, 30.1.2004, Nr. 13298, Pani, Cassazione penale 2005, S. 2324. 49 Cass. Gemeinsamer Strafsenat, 9.7.2004, Nr. 29951, Il Fallimento 2005, 1269, Abschnitt 4.2.a.

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der Beschlagnahme, die die „confisca“ im Rechtsschutzverfahren von verschiedenen Bedingungen abhängig machen. In Bezug auf die Verantwortlichkeit von „enti“ bestimmt Art. 53 D.LGS. Nr. 231/2001, dass der Richter die vorsorgliche Beschlagnahme von Gegenständen, deren „confisca“ gemäß Art. 19 zulässig ist, anordnen kann. Die vorsorgliche Beschlagnahme gemäß Art. 321 Abs. 2 c.p.p. und Art. 53 D.LGS. Nr. 231/2001 stellt das von der Rechtsprechung gewählte Institut im Rahmen der besonderen Fallgruppen dar, das man mit der Sicherungsmaßnahme regelmäßig vor allem im Hinblick auf die Grenzen des Begriffs des Gewinns, dem ein Vermögenswert zuzumessen ist, abwägen muss. Es handelt sich um ein nicht leicht zu lösendes Problem im vorläufigen Ermittlungsverfahren, wenn man sich vergegenwärtigt, dass im Moment der Durchführung der Maßnahme die Ermittlungen über die Verantwortlichkeit noch nicht weit fortgeschritten sind und die Auswirkungen der „Folgen“ der Straftat selbst nur vermutet werden können. In diesem Zusammenhang scheint die Bestimmung des Gewinns und noch mehr die des äquivalenten Vermögenswerts allein einer umsichtigen Einschätzung durch den Richter und seiner Gutachter ausgeliefert.

VII. Der schwache Schutz von Dritten Die Abschöpfungsmaßnahmen befriedigen Strafbedürfnisse des Staates zum Nachteil von Dritten, die bereits in der Phase des Ermittlungsverfahrens eine Beeinträchtigung von Rechten erleiden können, die ihre Ansprüche schützen sollen.50 Diese Schutzrechte folgen unterschiedlichen Richtungen. Auf einer Spur kommen die Grenzen der „confisca“ von Gütern zur Geltung, die einer „an der Straftat nicht beteiligte Person“ gehören: So sind die fakultative „confisca“ nach Art. 240 Abs. 1 c.p. und die obligatorische „confisca“ des Erlöses (Art. 240 Abs. 2 Nr. 1 c.p.) ausgeschlossen, wenn der Gegenstand einer „an der Straftat nicht beteiligten Person“ („persona estranea al reato“) gehört (Art. 240 Abs. 3 c.p., der auch auf die Bestimmungen anwendbar ist, die auf diese Norm verweisen, wie etwa auf gesellschaftsrechtlicher Ebene Art. 2641 codice civile und im Fall von Wettbewerbsverletzungen Art. 187 D.LGS. Nr. 62/2005); ein analoger Ausschluss ist in Art. 322-ter c.p. vorgesehen, der auf ___________ 50

Diese Tatsache kann man noch als angelehnt an die neueren Urteile des Gemeinsamen Strafsenats Nr. 25932 und Nr. 25933 (beide abrufbar unter www.cortedicassazione.it) bezeichnen, die das Recht der betroffenen und Herausgabe verlangenden Person begründet haben, sich spontan in das Überprüfungsverfahren gegen die Anordnung der vorläufigen Beschlagnahme einzuschalten und weitere Beweismittel vorzulegen.

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andere Vorschriften ausgedehnt wird (Art. 640-quater c.p.; Art. 1 Abs. 143 Gesetz Nr. 244/2007). Auf einer weiteren Spur sichern einige Bestimmungen das Recht auf Schadensersatz in Naturalrestitution und Wertersatz (man denke an Art. 644 letzter Abs. c.p. für Verschleiß und Abnutzung und an Art. 12-sexies Abs. 4-bis Gesetz Nr. 356/1992), womit eine Befriedigung der Ersatzansprüche des verletzten Rechtsgutsträgers („persona offesa“) ermöglicht wird.51 Das Recht Dritter, sich in das Schutzverfahren einzuschalten, wird durch Art. 2-ter Gesetz Nr. 575/1965 gesichert, aber im Fall der Verletzung der Norm bleibt als einzige gangbare Möglichkeit, Zwischenklage über die Ausführung der Maßnahme oder Privatklage gegen den Staat zu erheben, der die Inhaberschaft der Rechte an den beim Adressaten der Maßnahme beschlagnahmten Gegenstände übernommen hat. Auf eine Art schuldlosen guten Glauben scheint Art. 301 D.P.R. Nr. 43/1973 (vereinheitlichter Zolltext) Bezug zu nehmen, was Mittel anbelangt, die bei einer Bandenstraftat benutzt wurden oder dafür bestimmt waren. Weitere Bestimmungen wie Art. 19 D.LGS. Nr. 231/2001 nehmen ausdrücklich sowohl Rechte des Geschädigten (im spezifischen Fall dieser Norm allein das Recht auf Naturalrestitution) als auch Rechte Dritter aus, die in gutem Glauben erworben worden sind. Problematisch ist die Unterscheidung zwischen Fällen, in denen die „confisca“ wegen einer bindenden Gesetzesregelung (wie im erwähnten Fall des Art. 240 Abs. 3 und 4 c.p.) nicht durchgeführt werden darf, und den Fällen, in denen sich erst nachträglich herausstellt, dass Rechte eines „Dritten“, eines verletzten Rechtsgutsträgers oder eines anderen „Geschädigten“ ausgenommen sind: Im zweiten Fall ist die „confisca“ (und damit die Beschlagnahme zum Zwecke eben dieser) zulässig und Rechte Dritter können – im Gegensatz zu Regelungen anderer Rechtssysteme wie dem deutschen – nur im Wege der Zwischenklage über die Ausführung und den Zivilrechtsweg geltend gemacht werden. In Wirklichkeit stellen sich die „fehlende Beteiligung an der Tat“ und der ausdrückliche Verweis auf den Schutz von Rechten Dritter eher als scheinbare Grenzen der „confisca“ dar: Im ersten Fall ist die Regelung nämlich von der Rechtsprechung ausgehöhlt worden, da sie (außer für den Mitangeklagten) für ___________ 51 Aus dem Wortlaut der Vorschrift scheint man folgern zu können, dass die Ausnahme auf Schadensersatzklagen des Rechtsgutsträgers beschränkt ist und sich nicht auf Klagen sonstiger Geschädigter erstreckt, vgl. hierzu Fondaroli, Illecito penale e riparazione del danno, 1999, S. 51 ff., und dazu die Rezension von Maiwald, ZStW 116 (2004), 217, 218 f.; s. auch Fondaroli, Die Wiedergutmachung: Strafausschließungsgrund oder neue „Strafobligation“?, in: Momsen/Bloy/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, 2003, S. 29 ff.

Anmerkungen zur Gewinnabschöpfung

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diejenigen nicht gilt, die an irgend einer Straftat teilgenommen haben, die eine Verbindung nach Art. 61 Nr. 2 c.p. aufweist, und auch für diejenigen nicht gilt, die an einer einheitlichen Tat aufgrund irgendeiner Verbindung wie „Abhängigkeit“ oder „Ursächlichkeit“ – wie eine solche, welche die Hehlerei oder Begünstigung abhängig macht von einer Vortat („reato presupposto“) – beteiligt waren und die jedenfalls einen Vorteil oder Nutzen aus der Straftat gezogen haben.52 Was hingegen den Schutz Dritter anbelangt, reduziert der Einbruch in der Rechtsprechungspraxis, den Schutz im Sinne eines Dritten „in gutem Glauben“53 zu deuten, was auch auf dem Gebiet vorsorglicher vermögensabschöpfender Maßnahmen fortentwickelt und rasch vom Gesetzgeber übernommen wurde (siehe Art. 19 Abs. 1 D.LGS. Nr. 231/2001), erheblich den Umfang der Rechte, die von der Wirkung der „confisca“ nicht betroffen sind. Und dennoch könnte eine erneute Wertschätzung des Schutzes von Rechten Dritter einen wichtigen Weg – der rebus sic stantibus nicht mit hinreichender Bestimmtheit „eingeschlagen“ ist – eröffnen, die abschöpfenden Maßnahmen einzuschränken.

VIII. Die sanktionierende Wirkung besonderer Fälle der „confisca“ Im Wesentlichen hat die Vermögensabschöpfung auch außerhalb der „confisca“ des Wertersatzes den Charakter einer Strafe im eigentlichen Sinne54 angenommen, was bedeutende Konsequenzen (unter anderem) für Bestimmungen hat, die im Fall der Teilnahme mehrerer Personen an der Straftat anzuwenden ___________ 52

Cass. Gemeinsamer Senat, 28.4.1999, Nr. 9, Baccherotti, Rivista penale 1999, S. 632 ff. 53 Cass. Gemeinsamer Strafsenat, 19.12.2007 (niedergelegt unter 8.1.2007), Nr. 57, abrufbar unter www.cortedicassazione.it, Abschnitt 14. Der Begriff des „entschuldigenden guten Glaubens“, der von einem Konzept ausgehöhlt wird, das die eigenen Wurzeln des Ausschlusses des Verschuldens von Gesetzesübertretungen beseitigt (hierzu Belfiore, Contributo alla teoria dell’errore in diritto penale, 1997, S. 22 ff., und dazu die Rezension von Maiwald, ZStW 113 [2001], 435 ff.), scheint merkwürdigerweise auf Personen anwendbar zu sein, die strafrechtlich für die Tat nicht verantwortlich sind, wohl aber „sanktioniert“ werden (durch den Verlust von Rechten), wenn sie eine Art Auswahlverschulden (culpa in eligendo) gegenüber Personen trifft, denen gegenüber sie entsprechende Pflichten eingegangen sind. Diesem Gesichtspunkt wird von der Rechtsprechung in Bezug auf Rechte Dritter, die von Bankinstituten oder Gläubigerorganisationen vertreten werden, die meiste Aufmerksamkeit geschenkt. 54 Auch die Rechtsprechung erkennt jetzt an, dass die „confisca“ einen sanktionierenden Zweck hat (Cass. Gemeinsamer Strafsenat, 6.3.2008, Nr. 10280, abrufbar unter www.cortedicassazione.it), der über einen rein präventiven Zweck hinausgeht und nicht nur ein strategisches Instrument der Kriminalpolitik darstellt (Cass. 5. Strafsenat, 16.1.2004, Foro italiano, 2004, II, 690).

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sind55: Strafsanktionen im eigentlichen Sinn bei der „confisca“ des Wertersatzes; mitunter „Hauptsanktion“ (nach der Struktur des Art. 19 D.LGS. Nr. 231/2001)56, häufiger hingegen „abhängige Sanktion“ (wie ausdrücklich in Buchst. e des Art. 40 Gesetz vom 28.12.2005, Nr. 262 niedergelegt, der Bestimmungen zum Schutz von Sparguthaben und zur Regelung über Finanzmärkte enthält)57, die jedenfalls vorläufig bis zum Zeitpunkt des Ermittlungsverfahrens über das Instrument der vorsorglichen Beschlagnahme zwecks späterer „confisca“ verhängt werden kann (Art. 321 Abs. 2 c.p.p.; Art. 53 D.LGS. Nr. 231/2001)58. Dass folglich in Bezug auf die „confisca“ die besonderen verfassungsrechtlichen (insbesondere rechtsstaatlichen) Garantien an eine hauptsächlich strafende Maßnahme eingehalten werden müssen (wie auch von Art. 6 und 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention und von der Rechtsprechung der EGMR gefordert)59, stellt eine in der Rechtsprechung des EGMR schon selbstverständliche Tatsache dar.60

___________ 55

Der überwiegenden Ansicht, nach der die vorsorgliche Beschlagnahme des Wertersatzes im Lichte eines als solidarisch bezeichneten Prinzips, das die Regelung über die Beteiligung mehrerer an einer Straftat unterstützen würde (so Cass. 5. Strafsenat, 16.1.2004, Nr. 15445, Napolitano, Foro italiano, 2004, II, S. 685 ff.), gleichermaßen gegenüber einem oder mehreren der Täter der strafbaren Handlung verhängt werden kann und nicht an die persönliche Bereicherung, sondern an die Mitverantwortung aller an der Tat Beteiligten anknüpft (Cass. 2. Strafsenat, 14.3.2007, Nr. 10838, Napolitano, Rivista penale 2008, S. 136 ff.), steht die Mindermeinung entgegen, die die „confisca“ von Gegenständen ausschließt, die den Umfang des Gewinns eines Mittäters übersteigt (Cass. 6. Strafsenat, 2.8.2007, Nr. 31690, Giallongo, ivi). 56 So auch Cass. 2. Strafsenat, 27.9.2006, Nr. 31989, abrufbar unter www.cortedicassazione.it. 57 Art. 40 enthält eine Ermächtigung der Regierung, wegen der Einführung von Sanktionen neben den strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen, im zentralen Finanzrecht enthaltenen Sanktionen, ein oder mehrere Gesetzesdekrete zu erlassen, und schreibt das Prinzip der Nebensanktion „confisca“ des Ertrages oder Gewinns aus der Straftat, der bei Tatbegehung verwendeten Gegenstände sowie von Gegenständen mit entsprechendem Wert vor. 58 Die Corte di Cassazione hat darauf erkannt, dass die „confisca“ vielseitig ist und je nach dem normativen Zusammenhang die Natur oder Funktion entweder einer Strafe oder einer Maßregel oder auch einer Verwaltungsentscheidung annimmt (Cass. 2. Strafsenat, 27.9.2006, Nr. 31989, abrufbar unter www.reatisocietari.it; Cass. Gemeinsamer Strafsenat, 2.7.2008, Nr. 26654, abrufbar unter www.cortedicassazione.it (Abschnitt 5). 59 Zur ständigen Rechtsprechung des EGMR immer aktuell die weitergehenden Ausführungen von Paliero, „Materia penale“ e illecito amministrativo secondo la Corte Europea dei diritti dell’Uomo: una questione „classica“ a una svolta radicale, Rivista italiana di diritto e procedura penale 1985, 902 ff.; s. insbesondere zur „confisca“: EGMR, 9.2.1995 (proc. Nr. 17440/90), Welch, Abschnitte 27 f. (abrufbar unter http://cmiskp. echr.coe.int).

Anmerkungen zur Gewinnabschöpfung

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Ein erster Schritt in diese Richtung scheint von der Rechtsprechung gemacht worden zu sein, die eine rückwirkende „confisca“ des Wertersatzes (und folglich die Anwendung des Art. 200 c.p.) ausschließt und damit von einer Einordnung als vornehmlich auf Wiederherstellung gerichteter Sanktion abrückt.61 Diese Auffassung ist auch von der Corte Costituzionale bestätigt worden.62 Im Übrigen muss berücksichtigt werden, dass auch der mitreißende Strom von zahlreichen Rechtsquellen nicht nur europäischer und internationaler Herkunft, sondern auch verwaltungsrechtlicher (regionaler oder kommunaler)63 oder privatrechtlicher Art („private“ Pflichten- und Verhaltenscodices – „codici deontologici e di comportamento“)64, die Fähigkeit zum Widerstand mithilfe des Rechtsstaatsprinzips erheblich mindert. In diesem Sinne offenbart die Erfahrung des Bundesverfassungsgerichts, dass eine – vor allem mittels Verfassungsbeschwerden durchgeführte – wachsame Kontrolle über die Einhaltung der für das Strafrecht geltenden verfassungsrechtlichen Garantien durch eine Prüfung der Zulässigkeit einzelner abschöpfender Maßnahmen gesichert werden kann und dass dadurch die Grundrechte der Bürger (der Adressaten der Maßnahme und in eigenen Rechten betroffenen Dritten) weitestgehend geschützt werden. Wenn der erweiterte Verfall gemäß § 73d StGB tatsächlich ein zu den §§ 812 ff. BGB komplementäres Instrument darstellt, (das weder als Strafe noch als strafähnlich angesehen wird und) das auf die Wiederherstellung des ___________ Vgl. auch Grasso, Profili problematici delle nuove forme di confisca, in: Maugeri (a cura di), Le sanzioni patrimoniali come moderno strumento di lotta contro il crimine: reciproco riconoscimento e prospettive di armonizzazione, 2008, S. 138 ff. 60 EGMR, 30.8.2007 und 20.1.2009 (Az. 75909/01), Affaire Sud Fondi s.r.l. et Autres c. Italie, abrufbar unter http://cmiskp.echr.coe.int. 61 Cass. 2. Strafsenat, 8.5.2008 (niedergelegt unter 28.5.2008), Nr. 21566, P.A.N., abrufbar unter www.utetgiuridica.it. Zur Ausweitung der „confisca“ des Wertersatzes nach Art. 322-ter c.p. auf Steuerdelikte (Art. 1 Abs. 143 Gesetz Nr. 244/2007) vgl. GUP (Gericht der Vorverhandlung: dazu Maiwald [Fn. 4], S. 213 ff.) Trento vom 12.2.2008 (abrufbar unter www.penale.it). Zum sanktionierenden Charakter (mit der daraus folgenden fehlenden Rückwirkung) der „confisca“ des Wertersatzes (oder auch mit Bezug zum Fall des Art. 9 D.LGS. 231/2001) vgl. Cass. 2. Strafsenat, 10.1.2007, Nr. 316, G.s.r.l., abrufbar unter www.reatisocietari.it. 62 Beschl. der Corte costituzionale, Nr. 97/2009, abrufbar unter www.cortecostituzionale.it., welche die vom GUP Trento am 12.2.2008 (abrufbar unter www.penale.it) vorgelegte Frage nach der Rechtmäßigkeit der o. g. Vorgehensweise verneint und eine solche Vorgehensweise als offensichtlich unbegründet bezeichnet hat. 63 Für eine interessante Überlegung in diesem Sinne vgl. Ruga Riva, Il lavavetri, la donna col burqa e il sindaco. Prove atecniche di “diritto penale municipale”, Rivista italiana di diritto e procedura penale 2008, 133 ff. 64 Vgl. Sgubbi, Il diritto penale incerto ed efficace, Rivista italiana di diritto e procedura penale 2001, 1193 ff.

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vermögensrechtlichen, von der Straftat veränderten Zustands ausgerichtet ist65, muss vor allem aus Schutzgesichtspunkten die Prüfung der Zulässigkeit der im Einzelfall angewendeten (und vor dem BVerfG angefochtenen) Maßnahmen unter strengster Beachtung der verfassungsrechtlich garantierten materiellen und formellen Regelungen durchgeführt werden66.

___________ 65

BVerfG, 14.1.2004, abrufbar unter www.bverfg.de. Vgl. beispielsweise BVerfG, 5.5.2004, 3.5.2005, 19.1.2006, 7.7.2006, abrufbar unter www.bverfg.de; dazu vertiefend Fondaroli (Fn. 6), S. 465 ff. 66

Gesetzesvorbehalt und Quellen des Gemeinschaftsrechts. Denkanstöße* Von Gabriele Fornasari

I. Ziele dieses Beitrages Die folgenden kurzen Überlegungen verfolgen das Ziel, den Begriff des Gesetzesvorbehalts im Rahmen des Strafrechts vor dem Hintergrund einer immer stärkeren Beeinflussung der Aktivitäten des nationalen Gesetzgebers durch das Gemeinschaftsrecht zu überdenken. Ich glaube nämlich, dass unter strafrechtlichem Aspekt die Zeit gekommen ist, den meiner Meinung nach unterschätzten möglichen Gefahren für dieses grundlegende Prinzip entgegenzuarbeiten. Gefahren, die aus der ständigen normativen und richterlichen Entwicklung der EU erwachsen. Ich möchte vorausschicken, dass ich als Strafrechtler über das Geschick eines im engen Sinne des Wortes bedeutsamen Prinzips unserer Verfassungsordnung zu sprechen beabsichtige. Es ist hier nicht von Bedeutung, ob wir Europa mit Skepsis oder mit Enthusiasmus gegenüberstehen: Was mich betrifft, bin ich schon immer ein überzeugter Europäer gewesen, aber das soll mich nicht daran hindern, unvoreingenommen ein rechtspolitisches Problem (noch vor der kriminalpolitischen Frage) zu analysieren. Die Analyse soll uns helfen, einen Fixpunkt bei der Zuteilung von Anwendungskompetenzen zwischen nationalen und gemeinschaftlichen Organen in einem so zentralen Bereich wie dem des Strafrechts zu finden. Ich werde in erster Linie über die Situation sprechen, welche das italienische Recht betrifft, doch glaube ich, dass die Überlegungen sich mutatis mutandis problemlos auf die anderen Staaten der EU übertragen lassen. Den folgenden Ausführungen sei eine kurze Vorbemerkung zum aktuellen Stand vorangestellt. Die problematischen Aspekte des Gesetzesvorbehalts, so wie dieser feierlich in Art. 25, Abs. 2 der italienischen Verfassung verankert ist, ___________ * Übersetzt von Dr. Roberto Wenin, Universität Trento. Besonderer Dank gilt auch PD Dr. Peter Rackow, Georg-August-Universität Göttingen.

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scheinen, falls man auch nur die einschlägige Literatur des Strafrechts betrachtet, folgende zu sein: die Frage, ob auf Gesetzesdekrete1 und Gesetzesvertretende Dekrete2 als Quellen zurückgegriffen werden kann; die Grenzen eines Rückgriffs auf Blankettstrafnormen, welche die Schilderung des Deliktstypus oder eines Teils durch die Verweisung auf sublegislative Vorschriften ersetzen; die Möglichkeit, dass regionale Gesetzesquellen Strafrechtsnormen beinhalten. Unbestritten ist auf jeden Fall, dass Quellen wie Verordnungen, Gewohnheit, Billigkeit und Abkommen zwischen Privaten, ausgeschlossen sind. Im Allgemeinen sieht man es als Selbstverständlichkeit an, dass die EU nicht befugt ist, strafrechtliche Normen zu erlassen, was im Laufe der Zeit durch die verschiedenen Verträge bekräftigt wurde. Wenn auch die Gemeinschaftsorgane einen Einfluss auf die nationale Gesetzgebung haben, so doch nicht in der Weise, dass auf der formalen Ebene das Prinzip des internen Gesetzesvorbehaltes in Frage gestellt würde; dies auch in Anbetracht der Tatsache, dass die „gemeinschaftlichen Anregungen“ in die nationalen Rechtsordnungen über von den Parlamenten erlassene Gesetze einfließen, welche ihnen Rechtswirksamkeit verleihen.3 Als allgemein akzeptiert gilt die Ansicht, gemäß der das Prinzip des Gesetzesvorbehaltes im Wesentlichen formaler Natur ist, während der materielle Aspekt des Gesetzlichkeitsprinzips eher in der Bestimmtheit des Tatbestandes liege, im Analogieverbot und im Rückwirkungsverbot der Strafrechtsnorm. Kurzum, der Gesetzesvorbehalt garantiere die Herkunft des Geschaffenen und somit das demokratische Prinzip bei seinem Zustandekommen. Die materielle Qualität des Gesetzes zum einen und zum anderen, dass es nur auf jene ___________ 1 Das Gesetzesdekret (decreto legge), festgeschrieben durch Art. 77 der italienischen Verfassung, ist eine vorläufige Maßnahme, die von der Regierung in Fällen außerordentlicher Notwendigkeit und Dringlichkeit erlassen wird. Sie hat unmittelbare Wirksamkeit, muss aber noch am selben Tag den Kammern vorgelegt werden, um in ein Gesetz umgewandelt zu werden. Wenn die Umwandlung nicht innerhalb von sechzig Tagen erfolgt, wird sie rückwirkend unwirksam. Was das Strafrecht betrifft, so bleiben diejenigen Verfügungen wirksam, welche den Einzelnen begünstigen, so z.B. Gründe, welche die Strafbarkeit ausschließen oder mildernde Umstände (so der Kassationsgerichtshof). 2 Das Gesetzvertretende Dekret (decreto legislativo), geregelt durch Art. 76 der italienischen Verfassung, ist ein normativer Akt, mit dem das Parlament die Regierung ermächtigt, eine Gesetzesbestimmung zu erlassen. Dabei werden die Prinzipien und leitenden Kriterien festgelegt und die Ermächtigung gilt nur für einen beschränkten Zeitraum und für die angegebenen Bereiche. 3 So z.B. Antolisei, Manuale di Diritto penale. Parte generale, 15. Aufl. 2000, 75; Pagliaro, Principi di Diritto penale. Parte generale, 8. Aufl. 2003, 44; mehr Aufgeschlossenheit gegenüber der „Europäisierung“ des Strafrechts (um im Bereich der Literatur zu bleiben) finden wir bei Mantovani, Diritto penale, 5. Aufl. 2007, 910 ff. und De Francesco, Diritto penale. I fondamenti, 2008, 92 ff.

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Subjekte angewendet wird, die danach ihr Verhalten orientieren konnten, werde anderweitig gewährleistet.4 Ich meinerseits habe stets versucht, die Studenten von der durchaus materiellen Natur des vom Gesetzesvorbehalt gewährleisteten Schutzes zu überzeugen, der sich nicht darauf beschränkt, die Korrektheit der Methode bei der Erstellung der Strafrechtsnormen zu sichern (wobei vor allem die auf dem Spiel stehenden Interessen im Mittelpunkt sind). Der Zweck des Gesetzesvorbehaltes liegt auch und vor allem darin, dem von der Verfassung vorgesehenen und demokratisch legitimierten Subjekt die Wahl der strafrechtlich zu schützenden Rechtsgüter anheim zu stellen, sowie die Entscheidung über die Modalitäten dieses Schutzes (Tatbestand, subjektives Element, Art und Ausmaß der Sanktionen, eventuelle ausschließende oder die Sanktion beinflussende Umstände).5 Dies ist, meiner Meinung nach, ein wesentlicher Ausgangspunkt für die nun folgenden Überlegungen.

II. Beschreibende Analyse der Entwicklung der Beziehungen zwischen Gemeinschaftsrecht und Strafrecht Nach den angestellten Überlegungen zum aktuellen Stand und den Betrachtungen über das Verhältnis von Gesetzesvorbehalt und dem Einfluss der gemeinschaftlichen Quellen gilt es nunmehr zu überprüfen, ob Schein und Wirklichkeit übereinstimmen. Ich werde versuchen, dies in der hier angebrachten Kürze zu leisten und werde mich dabei jeglichen Urteils über das Phänomen enthalten, da es mir hier lediglich um eine beschreibende Analyse und nicht um eine einschlägige Bewertung geht. Über mehrere Jahre hinweg entsprach die Wirklichkeit durchaus der im Vertrag von Rom enthaltenen Feststellung, dass der Gemeinschaft keinerlei Strafrechtssetzungskompetenz zukomme. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass in der Anfangsphase die Mitgliedstaaten wenig Bereitschaft zeigten, Teile ihrer Souveränität abzutreten und vor allem überhaupt keine Bereitschaft bestand, das höchste Symbol der Souve___________ 4 Es handelt sich um Überlegungen, die in letzter Zeit angestellt wurden, so z.B. Riz, Lineamenti di Diritto penale. Parte generale, 5. Aufl. 2006, 11 ff. und Ronco, Il principio di legalità, in Ronco/Ambrosetti/Mezzetti (Hrsg.), La legge penale, 2006, 54. 5 Ähnlich herausgestellt in Donini-Insolera, Riserva di legge e democrazia penale: il ruolo della scienza penale – considerazioni introduttive, in Insolera (Hrsg.), Riserva di legge e democrazia penale: il ruolo della scienza penale, 2005, 11 ff.

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ränität – die Kompetenz, strafrechtliche Normen zu erlassen – aus der Hand zu geben. Später änderte sich die Sachlage jedoch und die Europäische Gemeinschaft (später EU) weitete ihren normgebenden Einfluss aus bis hin zum Bereich des Strafrechts. Dies angesichts des (schwer in Abrede zu stellenden) Bedürfnisses, auf angemessene Weise solche Interessen zu wahren, die nicht mehr die Summe der Interessen einzelner Staaten, sondern übernationaler Natur sind und der Gemeinschaft obliegen, in primis, zeitlich gesehen, die Interessen der gemeinschaftlichen Finanzen gegenüber betrügerischen Schädigungen. Der Bereich der unmittelbar gemeinschaftlichen Interessen hat sich dann, was ganz natürlich ist, mit dem Wachsen der Europäischen Union ausgeweitet und umfasste z.B. den Schutz einer regulären gemeinschaftlichen Verwaltung und die korrekte Tätigkeit der gemeinschaftlichen gerichtlichen Organe, den Schutz des wirtschaftlichen Wettbewerbs sowie der Transparenz der Tätigkeit der Unternehmen, den Schutz der Einheitswährung und der Umwelt.6 Dies alles findet innerhalb der Logik eines Europas als gemeinsamer Markt statt (in diesem Sinn ist der Umweltschutz ökonomischen und produktiven Interessen untergeordnet). Dann jedoch weitet sich, in einer Perspektive eines gemeinsamen Raumes, der von rein wirtschaftlichen Funktionen losgelöst ist, das Interessenfeld und es umfasst nunmehr z.B. die Sicherheit, die Regelung der Einwanderung, die Gleichstellung von Mann und Frau sowie die Qualität der Lebensmittel.7 Dabei handelt es sich im Großen und Ganzen um eine natürliche Expansion. Jedoch erregen neuere Versuche, eine Harmonisierung der gemeinschaftlichen Moral herbeizuführen, einiges Befremden, z.B. der Versuch, mit Hilfe von strafrechtlichen Sanktionen das Problem der Verleugnung des Holocaust (negazionismo)8 in allen Staaten einer einheitlichen Regelung zu unterwerfen. ___________ 6 Diese geschichtliche Entwicklung wird detailliert beschrieben im Buch von Grasso, Comunità europee e diritto penale. I rapporti tra l’ordinamento comunitario e i sistemi penali degli stati membri, 1989, 41 ff. 7 Zu besagter Escalation vgl. den kürzlich erschienenen Beitrag von Giuseppina Panebianco, La giurisprudenza della Corte di Lussemburgo, in: De Vero-Panebianco, Delitti e pene nella giurisprudenza delle Corti europee, 2007, 59 ff. und von Sotis, Il diritto senza codice. Uno studio sul sistema penale europeo vigente, 2007, 69 ff. 8 In diesem Sinne der Vorschlag eines Rahmenbeschlusses vom 17. April 2007. Siehe dazu Visconti, Aspetti penalistici del discorso pubblico, 2008, 218. Ein kritischer Hinweis findet sich in der Arbeit von Sotis (Fn. 7), 97 ff. Im Gegensatz zu mehreren europäischen Ländern, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, hat Italien in seinem Strafgesetzbuch keine Vorschrift, die den „Negationismus“ unter Strafe stellt, vorgesehen. Es gibt in Italien sogar eine verbreitete Meinung, wonach eine Strafrechtsnorm dieser Art gegen die freie Meinungsäußerung verstoßen würde, welche von Art. 21 der italienischen Verfassung gewährleistet ist, wenigstens so-

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III. Die Rolle des Europäischen Gerichtshofes Parallel zu dieser Entwicklung der gemeinschaftlichen Kompetenzen und des Schutzes der zugrundeliegenden Interessen mittels Sanktionen verläuft die Entwicklung (oder besser gesagt, die Escalation) des Appels der Gemeinschaft an die Staaten, mit eigenen Gesetzen einzugreifen, um einen angemessenen (ich verwende hier bewusst einen ziemlich neutralen Ausdruck) Schutz der sich neu anfindenden Interessen zu gewährleisten. Parallel verlief auch die Entwicklung der Rolle des Gerichtshofes9, der dazu befugt ist, mittels Vertragsverletzungsverfahren die einzelnen Mitgliedstaaten zu sanktionieren, falls sie ihren aus der Gemeinschaft erwachsenen Verpflichtungen nicht nachkommen.10 Es war gerade die expandierende Zuständigkeit der Gemeinschaft, die immer mehr dazu führte, dass die ursprüngliche Vorstellung von einem Strafrecht, das nicht durch den Prozess der europäischen Integration erfasst werden sollte, hinfällig wurde. Die Umgestaltung der Beziehungen zwischen dem Gemeinschaftsrecht und den nationalen Rechtssystemen führte dazu, das immer weniger die nationalen Gesetzgeber darüber entscheiden konnten, welche Handlungen in ihren Rechtsordnungen unter Strafe gestellt werden sollten.11 Die Rechtsprechung wacht zudem selbst darüber, dass die internen Rechtsvorschriften, welche normative Elemente beinhalten, die von auf Gemeinschaftsebene anerkannten Prinzipien bedingt sind, korrekt interpretiert werden. Als Beispiel hierfür kann der Einfluss angeführt werden, welchen das Nieder-

___________ lange, als die Behauptungen nicht eine direkte Aufforderung zu Formen des Hasses oder der Gewalt beinhalten. 9 Aufschlussreich bezüglich der „umfassenden“ Rolle des Gerichtshofes sind die Bemerkungen von Manes, I rapporti tra diritto comunitario e diritto penale nello specchio della giurisprudenza della Corte di Giustizia: approdi recenti e nuovi orizzonti, in Sgubbi-Manes (Hrsg.), L’interpretazione conforme al diritto comunitario in materia penale, 2007, 21 ff. 10 Vorausahnend waren in Bezug auf diesen Punkt die Bemerkungen, welche Riondato vor nunmehr gut zehn Jahren in seiner Monografie gemacht hat. Riondato, Competenza penale della Comunità europea. Problemi di attribuzione attraverso la giurisprudenza, 1996, passim, insbesondere 145 ff. 11 Vgl. Rosaria Sicurella, La tutela „mediata” degli interessi della costruzione europea: l’armonizzazione dei sistemi penali nazionali tra diritto comunitario e diritto dell’Unione Europea, in: Grasso-Sicurella, Lezioni di diritto penale europeo, 2007, 247. Als Vorläufer für diese Art Analyse ist Pedrazzi zu nennen: Pedrazzi, Il ravvicinamento delle legislazioni penali nell’ambito della Comunità economica europea, in: Bettiol u.a., Prospettive per un diritto penale europeo, 1968, 459 ff.

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lassungsrecht auf einen strafrechtlichen Tatbestand, wie jenen der unbefugten Ausübung eines Berufes, hat.12 Wir wollen jetzt auf eine etwas detailliertere Weise die einzelnen diesbezüglichen Schritte aufzeigen, bevor wir uns mit dem Thema der „Stabilität“ des Gesetzesvorbehaltes befassen. Zuerst muss auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes hingewiesen werden, die von Anfang an klärend hervorgehoben hat, dass der Umstand, dass in den Abkommen auf gemeinschaftlicher Ebene jegliche (Straf-) Sanktionskompetenz fehlt, nicht bedeuten konnte, dass man darauf verzichtet, auf angemessene Weise die Interessen der Gemeinschaft zu schützen. Es handelt sich viel mehr um die Einrichtung eines Systems eines indirekten Schutzes durch den Sanktionsapparat der einzelnen Mitgliedstaaten.13 Dabei geht es um eine echte Pflicht, die aus den durch den Beitritt zum gemeinschaftlichen Projekt erwachsenen Verpflichtungen herrührt und ihre rechtliche Verankerung im Prinzip der loyalen Zusammenarbeit (oder der Gemeinschaftstreue) hat, wie sie nunmehr in Art. 10 EGV definiert ist. Es handelt sich in jeder Hinsicht um eine Erfolgspflicht, wobei dann das Resultat von dem Gerichtshof selbst überprüft wird, welcher die Angemessenheit der Lösung bewertet und eine eventuelle Nichterfüllung bestraft. Unter diesem Aspekt ist es nicht von Bedeutung, ob es sich um Zusammenarbeit im Rahmen der ersten oder dritten Säule handelt, denn auch im letzteren Fall ist neben die bloße operative Zusammenarbeit ein Verlangen nach Harmonisierung getreten. Dementsprechend sind die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, ihre eigenen Schutzmaßnahmen nach den Bedürfnissen des gemeinschaftlichen Projektes auszurichten, d.h. darauf, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und der Gerechtigkeit zu schaffen. Mit seinen ersten Urteilen, die sich mit der Angemessenheit der nationalen Sanktionen im Falle der Verletzung des gemeinschaftlichen Rechts befassen, hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Staaten verpflichtet sind, mit einer „geeigneten Sanktionsregelung“ zu reagieren, genauer, mit Sanktionen, „welche einen tatsächlichen und wirksamen Rechtsschutz“ gewährleisten und die für den Täter „eine wirklich abschreckende Wirkung“ haben (Urteil von Colson & Kamann, 1984). In dem bekannten leading case Urteil des sogenann___________ 12 Es handelt sich dabei um Art. 348 italienisches StGB, wonach eine unbefugte Ausübung eines Berufes, für den eine spezifische staatliche Befähigung erforderlich ist (z.B. Arzt, Rechtsanwalt, Steuerberater), mit einer Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten oder mit einer Geldstrafe von 103 bis 516 Euro bestraft wird. Vgl. dazu Fornasari, Abusivo esercizio di una professione, in Bondi/Di Martino/Fornasari, Reati contro la pubblica amministrazione, 2. Aufl. 2008, 424 ff. 13 Vgl. dazu Bernardi, L’europeizzazione del diritto e della scienza penale, 2004, 25 ff.

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ten griechischen Maisskandals (Kommission/Republik Griechenland, 1989) hat der Gerichtshof später, ausgehend von der allgemeinen gemeinschaftlichen Treueverpflichtung, damit begonnen, die Grundlagen für die Ausübung der Bestrafungsbefugnis der Staaten in den Bereichen der Zuständigkeit der Gemeinschaft umzudefinieren. Dabei wurden in zweierlei Weise Vorgaben gemacht: erstens, dass Verletzungen des gemeinschaftlichen Rechts nach „ähnlichen“ sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden, wie „nach Art und Schwere“ (Assimilierungsprinzip) vergleichbare Verstöße gegen die nationale Rechtsordnung; zweitens, dass jeder Sanktion die „Merkmale der Wirksamkeit, der Verhältnismäßigkeit sowie der Abschreckung“ zukommen müssen (Prinzip der Angemessenheit der Sanktionen).14 Auch wenn es dabei vorerst nur um den Schutz finanzieller Interessen ging und dabei noch keine spezifischen Hinweise betreffend die Sanktionstypologien gegeben wurden, haben diese ersten Urteile des Gerichtshofes klar erkennen lassen, dass man davon abging, die Wahl der Sanktionen durch die nationalen Gesetzgeber unangetastet zu lassen. Es wurde somit die begriffliche Voraussetzung geschaffen für die Einführung von Verpflichtungen zum Erlass von strafrechtlichen Sanktionen, wo diese sich als einzige Form einer angemessenen Repression erweisen. Auf jeden Fall ist hervorzuheben, dass bereits die Rechtsprechung der Neunzigerjahre (Urteile Hansen, 1990 und Allain, 1996) dazu neigt, diese Vorgaben als allgemeine Parameter bei der Wahrnehmung der Sanktionsbefugnis durch die Mitgliedstaaten in allen Bereichen aufzufassen, die unter die Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen.

IV. Quellen des Gemeinschaftsrechts und normative Tatbestandsmerkmale Ein weiterer Punkt, an dem die Gemeinschaftsnormen die Formulierung von nationalen Straftatbeständen beeinflussen, liegt bei den EG-Verordnungen technischer Natur. In deren Anwendungsbereichen gewinnen die nationalen normativen Elemente, welche die Straftat beschreiben, ihren Inhalt erst durch Gemeinschaftsnormen, welche somit gegenüber der nationalen strafrechtlichen Norm eine ergänzende Funktion ausüben. Solange es sich um die materielle Beschreibung eines normativen Tatbestandsmerkmals handelt, bringt die Technik der Verweisung auf Gemein___________ 14

Vgl. Rosaria Sicurella (Fn. 11), 276 ff. sowie Grasso, L’incidenza del diritto comunitario sulla politica criminale degli Stati membri: nascita di una „politica criminale europea“?, Ind. pen., 1993, 77 ff.

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schaftsrecht in Bezug auf den Gesetzesvorbehalt keine größeren Probleme mit sich als jene, welche viele strafrechtliche Tatbestände aufwerfen, die auf nationale außerstrafrechtliche Normen verweisen (niemand bestreitet z.B. die Rechtmäßigkeit im Falle der Erpressung im Amt, concussione, wie in Art. 31715 italienisches StGB vorgesehen, nur weil die Unrechtmäßigkeit der Gewährung eines finanziellen Vorteils von Verwaltungsnormen abgeleitet wird; nämlich von Normen, die sublegislativer Natur sind und die Ausübung eines bestimmten Amtes regeln).16 Sobald aber die nationale strafrechtliche Norm explizit auf die Definition eines unerlaubten Verhaltens, die umfassend in einer gemeinschaftlichen Verordnung enthalten ist, verweist, sehen die Dinge natürlich anders aus (denn es ist dann ja per definitionem jegliche Möglichkeit ausgeschlossen, sowohl die Vorschrift zu überarbeiten, als auch diese wörtlich in einem normativen internen Akt wiederzugeben). In diesem Zusammenhang ist es kaum übersehbar, dass eine erhebliche Spannung zum Gesetzesvorbehalt entsteht, wenn die Beschreibung des strafbaren Verhaltens an eine andere Instanz, etwa an die Gemeinschaft derogiert wird und somit durch einen normativen Akt erfolgt, der sich nicht mit dem nationalen Gesetz deckt. Den nationalen Organen wird die Ermessensfreiheit bei der Auswahl der unter Strafe zu setzenden Handlungen genommen und man findet sich damit ab, dass die nationale strafrechtliche Regelung nur noch die Funktion der Strafbestimmung hat (z.B., „Wer sich nicht an die Verordnungen, Verbote oder Einschränkungen hält, oder die von Artikel X der Verordnung Y vorgesehenen Voraussetzungen nicht einhält, wird … bestraft“. Eine Modalität die im Bereich des Lebensmittelstrafrechts nicht unbekannt ist17). Wenn es sich dabei nun um eine starre Verweisung auf bestehende Vorschriften des Gemeinschaftsrechts handelt, so kann der Gesetzesvorbehalt vielleicht noch gewahrt bleiben, wenigstens auf formaler Ebene. Voraussetzung dafür ist, dass in diesem Fall die Aufnahme der vom Gemeinschaftsrecht hergeleiteten Vorschrift in die internen Gesetzesbestimmungen (auch im Fall, dass es sich um eine „vollständige“ Verweisung handelt) auf einer bewussten Über___________ 15 Diese Vorschrift stellt das Verhalten jener Amtsperson unter Strafe, die unter Missbrauch ihrer Eigenschaft oder ihrer Befugnisse einen anderen zu Unrecht zur Gewährung eines finanziellen oder sonstigen Vorteils für sich oder für einen Dritten zwingt oder veranlasst. 16 Betreffend diese actio finium regundorum ist das Werk von Risicato aufschlussreich. Lucia Risicato, Gli elementi normativi della fattispecie penale. Profili generali e problemi applicativi, Giuffrè, Milano, 2004, insb. 165 ff. 17 Siehe spezifisch zu diesem Bereich Bernardi, Il processo di razionalizzazione del sistema sanzionatorio alimentare tra codice e leggi speciali, Riv. it. dir. proc. pen., 2002, 69 ff.

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nahme der gemeinschaftlichen Interessen von Seiten der nationalen Rechtsordnung beruht und somit der Grund für die Gewährleistung eines angemessenen strafrechtlichen Schutzes der gemeinschaftlichen Interessen gegeben ist.18 Eindeutig nicht legitim sind dagegen die Fälle der Verweise auf zukünftige gemeinschaftliche Rechtsakte bzw. die Fälle allgemeiner oder „dynamischer“ Verweise, bei denen der nationale normative Akt automatisch den Inhalt jeder zukünftigen Änderung der gemeinschaftlichen Bestimmung, auf die Bezug genommen wird, rezipiert. Es handelt sich dabei um gesetzliche Konstruktionen, bei denen der nationale Gesetzgeber auf die inhaltliche Bestimmung des Unwertes des Tatbestandes keinen Einfluss hat. Dies zeigt sich besonders in den Fällen „elastischer“ Verweisungen, denn hier muss sich die nationale Norm an jegliche Abänderung der Gemeinschaftsnorm anpassen, ohne dass der nationale Gesetzgeber dazu befugt ist, einzugreifen; und zwar selbst dann nicht, wenn die ursprüngliche nationale Bestimmung und die genannte Änderung (ggf. auch nur teilweise) in Widerspruch geraten. Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass der nationale Gesetzgeber, wenn auch nur in bestimmten Sachbereichen, im Rahmen derartiger Verweisungen eindeutig darauf verzichtet, bei der Formulierung der strafrechtlichen Normen seine Monopolstellung wahrzunehmen (und dem noch vorgelagert, darüber zu bestimmen, wie die „strafrechtlichen Ressourcen“ eingesetzt werden sollen). Es handelt sich dabei immerhin um Aufgaben, die ihm seit einigen Jahrhunderten auf Grund des Gesetzesvorbehalts zustanden. Ich bin der Ansicht, dass man schon in Bezug auf den weiter oben als weniger problematisch dargestellten Fall (nämlich beim strikten Verweis auf eine vorherbestehende Verordnung) seine Zweifel haben kann. Neben den Gefahren (auf die in Italien z.B. Bernardi zu Recht hingewiesen hat19), dass der Gebrauch einer derartigen Technik eine Ausdehnung der Strafbarkeit mit sich bringt, die zum Prinzip der extrema ratio in Widerspruch steht und zu einer Hypertrophie und einer Überschneidung von Normen führt, die möglicherweise im Gegensatz zum Bestimmtheitsgrundsatz stehen, sehe ich auch einen möglichen Reibungspunkt mit dem Prinzip des Gesetzesvorbehaltes. Und zwar insbesondere dann, wenn er nicht nur rein formal als Garant der Herkunft der Norm betrachtet wird, sondern vielmehr unter dem materiellen Aspekt als ein Instrument gesehen wird, das dem Parlament die Befugnis zuerkennt, über das an und quomodo der zu schützenden Güter zu entscheiden (man ___________ 18 In diesem Sinne, zumindest als Hypothese, Rosaria Sicurella, La tutela „mediata“, a.a.O., 283. 19 Vgl. Bernardi (Fn. 17), 75.

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darf nicht vergessen, dass über dem Haupt des Gesetzgebers das Damoklesschwert schwebt, dass der Gerichtshof eine Nichterfüllung der gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen feststellen könnte).

V. Gemeinschaftliche Verpflichtungen zum strafrechtlichen Schutz Ein anderes Problem, das die Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofes im Vergleich zu derjenigen der Neunzigerjahre mit sich gebracht hat, ist jenes der gemeinschaftlichen Schutzverpflichtung. Gemeint ist das Problem der Legitimität des Einwirkens der Gemeinschaft auf nationales Strafrecht, wenn diese, um einen besseren Schutz für Bereiche zu gewährleisten, die unter die Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen, den Staaten nicht nur zur Auflage macht, allgemein effiziente Strafmaßnahmen zu garantieren, sondern ihnen richtiggehende „Sanktionsverpflichtungen“ vorschreibt, welche die Mitgliedstaaten verbindlich zwingen, Verletzungen von bestimmten Vorschriften des Gemeinschaftsrechts strafrechtlich zu ahnden. Teilweise wird dabei die Ermessensfreiheit der nationalen Parlamente sogar bei der Wahl der vorzusehenden Art der Sanktion und des Strafmaßes beeinflusst. Zunächst geschah dies mittels eines indirekten Mechanismus und zwar derart, dass man formell dem Staat die abstrakte Auswahl der effektiv ahndenden Reaktion überließ, welche verhältnismäßig und abschreckend sein sollte. Dann aber vertrat der Gerichtshof die Auffassung, dass gegebenenfalls die strafrechtliche Sanktion die einzige angebrachte sei: so das Ergebnis des Urteils Unilever vom Jahr 1999, in dem es um die Etikettierung und die Werbung betreffend Kosmetikartikel ging. Das Problem direkter Vorgaben für die nationalen Parlamente war bis Ende der Neunzigerjahre im Wesentlichen theoretischer Natur. Es begann aber beträchtliche praktische Auswirkungen zu entfalten, nachdem die Kommission ab dem Jahr 2001 eine Reihe von Vorschlägen zu Richtlinien eingebracht hatte, welche ausdrücklich vorsahen, Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht, die in den Richtlinien selbst beschrieben waren, als Straftaten einzustufen (z.B. in Bezug auf den Umweltschutz, die von Schiffen verursachte Verschmutzung, die finanziellen Interessen der Gemeinschaft und das geistige Eigentum). Die Legitimität derartiger Verpflichtungen wäre dann gegeben, wenn die (strafrechtlichen) Regelungsmaterien eine notwendige Verbindung mit den Tätigkeiten der Gemeinschaft in diesen Bereichen hätten.20

___________ 20 Alle notwendigen Hinweise finden sich in der Arbeit von Rosaria Sicurella (Fn. 11), 294 f.

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Der logische Grund für derartige Vorgaben soll also in den Vorschriften der jeweiligen Richtlinie selbst zu sehen sein. Aus der Gemeinschaftszuständigkeit für einen bestimmten Regelungsbereich, z.B. den des Umweltschutzes, soll sich also gleichsam als ein Annex die Kompetenz zur Strafrechtsanweisung ableiten lassen. (Ich weise nebenbei darauf hin, dass es sich um eine Argumentation handelt, die sich in der Sache völlig mit derjenigen deckt, welche in der Literatur, vor allem der nichtstrafrechtlichen, vorgetragen wurde, um den Regionen eine strafrechtliche Kompetenz in ihren Zuständigkeitsbereichen laut altem Art. 117 italienische Verfassung zuzuweisen. So argumentiert wurde insbesondere in der Zeit vor den einschlägigen Urteilen des Verfassungsgerichthofes, der die Stichhaltigkeit dieser Argumentation verwarf.21) Der wesentliche Qualitätssprung besteht vor diesem Hintergrund darin, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber an Hand von Richtlinien gegebenenfalls festlegen kann, dass der Schutz bestimmter Gemeinschaftsinteressen durch strafrechtliche Sanktionen zu gewährleisten ist, wobei ausgeschlossen ist, dass der nationale Gesetzgeber, wenn er davon ausgeht, dass Sanktionen anderer Natur wirksamer sind, diese Vorgabe in Frage stellen kann. Eine äußerst schwerwiegende Folge liegt darin, dass der Gerichtshof nicht nur in dem Fall, dass der nationale Gesetzgeber eine Wahl trifft, die sich als ungeeignet zum besseren Schutz der betreffenden Interessen erweisen sollte, als Nichterfüllung der Verpflichtungen bewerten würde, sondern jegliche von der Vorgabe abweichende Wahl. Letztlich besteht dann aber kein Raum mehr für eine Ermessensfreiheit des nationalen Gesetzgebers.22

VI. Das „Umweltschutzurteil“ und seine Folgen An dieser Stellte muss zur weiteren Erläuterung der Problematik das am 13. September 2005 erlassene Urteil des Gerichtshofes Kommission/Rat zum Thema Umwelt genauer betrachtet werden. Mit diesem Urteil hat der Gerichtshof, ___________ 21 So z.B. Rossi, Lineamenti di diritto penale costituzionale, 1953, 13 ff., und Zangara, Potere della Regione di dettare leggi penali e sindacato giurisdizionale, Foro it., 1951, II, 132. Die Meinung wurde bekräftigt durch ein Urteil der „Alta Corte“ der Region Sizilien (Urteil vom 21. April 1950). Interessant ist diesbezüglich die historische Rekonstruktion von Vinciguerra, Le leggi penali regionali. Ricerca sulla controversa questione, 1974, 5 ff. 22 Sehr zweifelhafte Überlegungen bezüglich der Vertretbarkeit dieses Mechanismus finden sich in der Arbeit von Sotis, Obblighi comunitari di tutela penale?, in: Ruga Riva (Hrsg.), Ordinamento penale e fonti non statali. L’impatto dei vincoli internazionali, degli obblighi comunitari e delle leggi regionali sul legislatore e sul giudice penale, 2007, 193 ff.

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der insoweit der Auffassung der Kommission gefolgt ist, ausdrücklich die Meinung vertreten, dass die Gemeinschaft die Kompetenz habe, den Staaten ausdrücklich vorzuschreiben, in ihrer nationalen Gesetzgebung strafrechtliche Sanktionen einzuführen (dies speziell auf dem Gebiet des Umweltschutzes, aber mit Überlegungen, die, wenigstens prinzipiell, auch auf andere unter die Gemeinschaftspolitik fallende Bereiche ausgedehnt werden können). Trotz des verbalen Zugeständnisses, dass „das Strafrecht ebenso wie das Strafprozessrecht grundsätzlich nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt“, folgt aus dem Umwelturteil letztendlich eine starke Einwirkung auf das derzeitige Gleichgewicht in den Beziehungen zwischen der gemeinschaftlichen und den nationalen Rechtsordnungen, die sich als bedeutender Schritt des „Übergangs“ darstellt. Muss man nun nach alldem von einer faktischen Aushebelung einiger Garantien des staatlichen Gesetzesvorbehaltes im Bereich des Strafrechts sprechen? Gehen wir insoweit von einer Voraussetzung aus: Das Gesetzlichkeitsprinzip ist im gemeinschaftlichen Zusammenhang durchaus nicht unbekannt23, aber seine ausdrückliche Anerkennung bezieht sich im Rahmen der Rechtsprechung des Gerichtshofes vor allem auf das Rückwirkungsverbot (Urteil Kirk 1984) und den Bestimmtheitsgrundsatz, genauer auf das Verbot einer (auch nur) ausdehnenden Interpretation des strafrechtlichen Tatbestandes (Urteil Strafverfahren/X 1996), während die Bezugnahmen auf den Gesetzesvorbehalt indirekt und kaum greifbar sind.24 Dennoch ist in der Vergangenheit dieses Prinzip anerkannt worden, wenn es auch in den einschlägigen Urteilen nicht ausdrücklich genannt wurde. Die implizite Anerkennung geschah, als man in ihm eine Einschränkung der Wirksamkeit von Richtlinien angelegt sah und demgemäß ausschloss, dass Richtlinien „durch sich allein und unabhängig von zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates“, auf das sich ihre Anwendung stützt, die Wirkung haben können, „die strafrechtliche Verantwortlichkeit“ von jenen Personen, welche die betreffenden Verordnungen verletzen, „festzulegen oder zu verschärfen“ (Urteil Kolpinghuis Nijmegen 1987).

___________ 23

Besonders betont wird dieser Standpunkt in der Arbeit von Costanza Honorati, La comunitarizzazione della tutela penale e il principio di legalità nell’ordinamento comunitario, in: Ruga Riva (Fn. 22), 174 ff. 24 Dazu bemängelt man in der Literatur zu Recht, dass in den Gemeinschaftsabkommen ein wirklich bindendes, ausdrückliches Gesetzlichkeitsprinzip, und insb. des Gesetzvorbehaltes, nicht auffindbar ist: so Bernardi, „Riserva di legge“ e fonti europee in materia penale, Parte I, Annali dell’Università di Ferrara, vol. XX, 2006, 18.

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In jüngerer Zeit hat übrigens der Gerichtshof selbst (im Urteil Berlusconi vom Jahre 2005) dieses Prinzip in einem engen Sinne ausgelegt, indem er hervorhob, dass die gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen keinen Einfluss in all den Fällen haben, in denen sie die strafrechtliche Verantwortlichkeit gegenüber dem im nationalen Recht Vorgesehenen modifizieren bzw. verschärfen könnten. Es wurde nämlich die von der Generalanwältin (Juliane Kokott) vertretene Ansicht verworfen, dass im Falle eines Widerspruchs zwischen einer Richtlinie und dem nationalen Strafgesetz (in diesem Falle ging es um Bilanzfälschung), letzteres, welches zum Zeitpunkt des Urteils gültig war, außer Kraft zu setzen sei, und stattdessen die strengere Vorschrift anzuwenden sei, welche zur Zeit der Begehung der Straftat gegolten hatte. Maßgeblich hierfür sei, dass die nationale Bestimmung keinen ausreichenden Schutz der gemeinschaftlichen Interessen gewährleiste. Im Urteil Strafverfahren/X (2004) wurde ebenso die Auffassung vertreten, dass dort, wo der nationale Richter feststellt, dass ein Verhalten einen Verstoß gegen eine EG-Verordnung, nicht aber gegen das nationale Recht darstellt, „der Grundsatz Keine Strafe ohne Gesetz, wie er in Artikel 7 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert ist, der ein den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gemeiner allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts ist, verbietet ein solches Verhalten strafrechtlich zu sanktionieren, und zwar auch dann, wenn die nationale Regelung gemeinschaftsrechtswidrig sein sollte“. Auch die vor kurzem vom Generalanwalt (Damaso Ruiz-Jarabo Colomer) vorgelegten Schlussbemerkungen stehen mit diesem Prinzip in Einklang (Fall Kommission/Rat 2006). Es stellte sich hier das Problem der Wahrung des Rechts der Staatsbürger, dass „die Tatbestände der Straftaten von den auf demokratischem Wege gewählten Vertretern festgelegt werden“, und man kann ganz eindeutig eine formelle und materielle Dimension erkennen, wobei freilich anzumerken ist, dass im konkreten Fall (bei dem es um die Rechtmäßigkeit der gemeinschaftlichen Verpflichtungen, strafrechtliche Sanktionen einzuführen, ging) „das Prinzip nullum crimen sine lege unangetastet bleibt, da die Gemeinschaftsharmonisierung das Tätigwerden der nationalen Parlamente für die endgültige Aufnahme der externen Vorschriften in ihre Rechtsordnung verlangt“. Dieses Argument scheint jedoch nicht stichhaltig zu sein. Es ist zwar richtig, dass auch dann, wenn im Bereich des Strafrechts gemeinschaftliche Ahndungsverpflichtungen vorgesehen sind, dadurch die unmittelbare Nicht-Anwendbarkeit der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift im Bereich des Strafrechts nicht in Frage gestellt wird. Denn zur Umsetzung dieser Verpflichtungen in Form von für den einzelnen unmittelbar wirksamen Strafvor-

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schriften ist in einem gesonderten Akt die Tätigkeit des nationalen Gesetzgebers erforderlich, welcher sich also der auf Gemeinschaftsebene erfolgten Einschätzung des zu pönalisierenden Verhaltens als Unrecht anschließen muss (und ebenso der Einschätzung der Notwendigkeit der Strafbarkeit sowie der Strafwürdigkeit, welche die gemeinschaftsrechtliche Vorgabe der Ahndungspflicht voraussetzt). Es bleibt festzuhalten, dass der Umstand, dass den gemeinschaftlichen Organen eine Zuständigkeit zuerkannt wird, den Mitgliedstaaten derartige Verpflichtungen aufzuerlegen, de facto einen, wenn auch partiellen, Übergang von verschiedenen nationalen Ordnungen zu einer supranational geprägten Ordnung bei grundlegenden Entscheidungen kriminalpolitischer Natur zur Folge hat. Denn durch die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben werden Entscheidungen getroffen, welche die Unterscheidung zwischen strafrechtlicher Ahndung und alternativen Schutzinstrumenten betreffen und nicht zuletzt auch eine teilweise Zuständigkeit der Gemeinschaft bei der Auswahl der Güter, welche schutzbedürftig sind und der Verhaltensweisen, die unter Strafe zu stellen sind, implizieren.25 Es ist ein Übergang, der nicht unproblematisch zu sein scheint, vor allem, weil es bei der Entscheidung, Güter unter Schutz zu stellen, nicht nur um technisch-rationale Gesichtspunkte geht. Diesen Entscheidungen gehen vielmehr klare Wertentscheidungen voraus und hier ist es fraglich, ob die Gemeinschaft auf legitime Weise diese Entscheidungen treffen kann.26 Verschärft wird die Situation dadurch, dass der Gemeinschaft ein Durchsetzungsmechanismus zur Verfügung steht: Wie bereits gesagt, kann die nicht erfolgte interne Angleichung an die Strafverpflichtungen ein Verfahren wegen Nichterfüllung, d.h. die mögliche Verurteilung des betreffenden Mitgliedstaates zur Bezahlung einer Geldbuße, zur Folge haben.

___________ 25

Rosaria Sicurella (Fn. 11), 307 f. Mir scheint, dass das von mir hier auf sehr synthetische Weise Dargestellte im Wesentlichen und mit viel breiterer Argumentation in der Arbeit von Mannozzi-Consulich, La sentenza della corte di giustizia C-176/03: riflessi penalistici in tema di principio di legalità e politica dei beni giuridici, Riv. trim. dir. pen. econ., 2006, 899 ff. und insb. 941 ff. seine Bestätigung findet. In einem Punkt stimme ich jedoch nicht völlig mit den dort angestellten Überlegungen überein: Die Autoren vertreten die Meinung, dass die zentrale Frage nicht so sehr den Gesetzesvorbehalt betrifft, sondern vielmehr die Beurteilung der Notwendigkeit und der Strafwürdigkeit, d.h., die Entscheidung über die Art des Schutzes der Rechtsgüter (mit dem Ziel, kriminalpolitische Ansätze, als welche sich zuweilen die vom Gerichtshof angeregten erweisen, zu vermeiden, die zwar effizient aber autopoietisch sind). Kurzum, ich stimme in den Inhalten überein, aber für mich handelt es sich, wie ich schon weiter oben ausgeführt habe, um ein Problem des Gesetzesvorbehalts und zwar, wie ich darzustellen versucht habe, in einem nicht rein formalistischen Sinn. 26

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VII. Nochmals zum demokratischen Defizit Es stellt sich also letztendlich das heikle Problem des demokratischen Defizits. Die jüngsten normativen Schritte im europäischen Gebäude scheinen tatsächlich in die Richtung einer fortschreitenden Herstellung des Gleichgewichts in den Beziehungen betreffend die Entscheidungsbefugnisse zu gehen: die Befugnisse des Rates wurden nämlich tendenziell zugunsten jener des Parlaments eingeschränkt und dies ist sicherlich der richtige Weg hin zu einer Überwindung des Arguments des demokratischen Defizits.27 Man müsste sich auch auf eine stufenweise Errichtung und Festigung eines Wertgebäudes in der Gemeinschaftsordnung zubewegen. Dabei sollte man eine rein nach ökonomischen Gesichtspunkten ausgerichtete Logik verlassen und das Gebilde Europa immer mehr als demokratisches Modell zu errichten versuchen, sowohl in den Inhalten als auch in den Formen, d.h., die Entscheidungsverfahren sollten auf demokratischem Wege dazu befugten Organen anvertraut werden. Es fragt sich nun, ob hierdurch der Diskussion über die Gemeinschaftskompetenz, den Mitgliedstaaten die Pflicht aufzuerlegen, bestimmte Verhalten unter Strafe zu stellen, eine neue Richtung verliehen werden könnte. Im Augenblick ist es nicht einfach, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Der Gerichtshof scheint zwar, in dem „Umweltschutzurteil“ die Rechtmäßigkeit der Ahndungsverpflichtungen auf diejenigen Fälle beschränkt zu haben, wo sie darauf ausgerichtet sind, die Effizienz einer bereits bestehenden gemeinschaftlichen Norm zu gewährleisten (unter Ausschluss von autonomen Sanktionierungsmaßnahmen). Die Kommission möchte aber in ihrer Mitteilung betreffend die Auswirkungen des Urteils vom 13.09.2005 darauf hinaus, dass diese Lösung automatisch überall in der gemeinschaftlichen Politik Anwendung finde. Nicht ganz eindeutig ist die Entscheidung weiterhin hinsichtlich der Frage des Einflusses, den der Gerichtshof auf den wichtigen Bereich der Wahl der Sanktionsart und ihres Maßes ausüben kann. Das „Umweltschutzurteil“ bietet insoweit die Möglichkeit einer sowohl restriktiven als auch extensiven Auslegung, wobei sich die Kommission in der besagten „Mitteilung“ für letztere entschieden hat. Es ist klar, dass die extensive Auslegung zwar zu einem kohärenteren System führen würde (wenn nämlich die Kompetenzen zugesprochen sind, Kriminalisierungsverpflichtungen festzulegen, ist es vielleicht vernünftig, diese auf ___________ 27 So auch Costanza Honorati (Fn. 23), 185 ff., in einem vielleicht insgesamt zu optimistischen Kontext.

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die Festlegung der Strafe auszudehnen). Andererseits ist natürlich offensichtlich, dass damit in der Sache auf die Wahrung des Gesetzesvorbehalts verzichtet wird. In Übereinstimmung mit der Grundauffassung, die hinter dieser extensiven Auslegung steht, ist übrigens der Inhalt der Richtlinie 2008/99, die ebenso den Schutz der Umwelt betrifft. Diese sieht in Art. 5 ausdrücklich vor, dass die Staaten in Bezug auf mehrere in den beiden vorausgehenden Artikeln vorgesehene Fälle wirksame, angemessene und abschreckende Strafsanktionen anwenden. Noch einschneidender war der ursprüngliche Text, wie er vom europäischen Parlament und vom Rat vorgeschlagen worden war. In diesem wurde von Tatbestand zu Tatbestand detailliert das Mindest- und Höchstmaß der Freiheitsstrafe, welche die Staaten hätten vorsehen sollen, festgelegt.

VIII. Wie kann die Zukunft einer strafrechtlichen Zuständigkeit der Gemeinschaft aussehen? Für die Erstellung eines Zukunftsszenarios bedarf es eines klaren theoretischen Konzeptes bezüglich der Kriterien, welche die Ausübung einer strafrechtlichen Kompetenz von Seiten der übernationalen Organisation leiten sollten. Dies alles baut wohlgemerkt darauf auf, dass nunmehr, allerdings unter ganz bestimmten Voraussetzungen, das Tabu der strafrechtlichen Zuständigkeit der Gemeinschaft grundsätzlich durchbrochen werden kann. Dies aber erst dann, wenn die Zeit als gekommen betrachtet werden kann, dass die Staaten, in Anbetracht der erzielten Übereinstimmung hinsichtlich einiger wesentlicher Grundentscheidungen, auch auf diesem Gebiet einen Teil ihrer Souveränität abtreten. Der wesentliche Punkt für die Begründung eines zukünftigen theoretischen Rahmens einer Strafrechtskompetenz der Gemeinschaft ist, dass hierbei von denselben Legitimationskriterien ausgegangen werden muss wie bzgl. der strafrechtlichen Zuständigkeit der einzelnen Staaten. Zuvor muss allerdings das Problem der Subsidiarität28 geklärt werden. Man wird mit größtmöglicher Genauigkeit diejenigen Bereiche ausmachen müssen, in denen eine strafrechtliche Intervention der Gemeinschaft als Mittel der ersten Säule gerechtfertigt ist, welche sich direkt auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen auswirkt. In Betracht kommen kann dies in Bezug auf diejenigen Güter, für deren besseren Schutz zuweilen das Zurückgreifen auf übernationale ___________ 28 Man sehe dazu Donini, Sussidiarietà penale e sussidiarietà comunitaria, in: Donini (Hrsg.), Alla ricerca di un disegno. Scritti sulle riforme penali in Italia, 2003, 115 ff.

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Instanzen gegenüber rein nationalstaatlichen Regelungen wegen der Notwendigkeit einer homogenen Intervention und des Zusammenhangs mit der gesamten (gemeinschaftlichen) Regelung des Bereiches (so z.B. im Bereich Umwelt, wie von Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer vorgebracht) vorzuziehen ist. Ich glaube, dass eine Lösung dieser Art eine normative Grundlage ad hoc benötigt. Art. 280 Abs. 4 EGV kann – entgegen der Auffassung einiger Autoren29 – nicht als solche herangezogen werden. Er handelt zwar, außerhalb der dritten Säule, von Maßnahmen der Gemeinschaft, die diese ergriffen hat in den Bereichen der Vorbeugung und der Bekämpfung von Betrug mit dem Ziele der Assimilierung; im zweiten Teil der Norm (und es handelt sich um eine schwer zu übergehende Aussage) wird jedoch präzisiert, dass die besagten Maßnahmen „nicht die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten betreffen“. Diese Aussage muss so verstanden werden, dass zwar gemeinschaftliche Maßnahmen zum Zwecke einer Harmonisierung im Bereich der Bekämpfung von Betrug zum Nachteil der EG möglich sind, aber diese keine direkte Anwendung in den internen Rechtsordnungen finden können.

IX. Der Versuch einer Bilanz Welche Schlüsse kann man in diesem Zusammenhang für die Gegenwart und die Zukunft des Gesetzesvorbehalts ziehen? Die gegenwärtige Situation ist problematisch, da die auf der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aufbauenden Sanktionsverpflichtungen, welche in der Praxis zunehmen, darauf abzielen, die Anerkennung des Gesetzesvorbehalts auszuschließen. Dies wird vor allem in materieller Hinsicht darin deutlich, dass die kriminalpolitischen Entscheidungen den demokratisch befugten Organen der Mitgliedstaaten entzogen werden; aber hierüber hinaus sind auch die formalen Beziehungen wenigstens in den Fällen betroffen, wo es um die Technik der elastischen oder zukünftigen Verweisung geht.30 ___________ 29

Man sehe Picotti, Potestà penale dell’Unione europea nella lotta contro le frodi comunitarie e possibile „base giuridica“ del Corpus Juris. In margine al nuovo art. 280 del Trattato CE, in: Grasso (Hrsg.), La lotta contro la frode agli interessi finanziari della Comunità europea, tra prevenzione e repressione, 2000, 370, und Bacigalupo, La tutela degli interessi finanziari della Comunità: progressi e lacune, ebenda, 24 ff. 30 Von einer wesentlichen Außensteuerung unseres Strafrechtsystems in wichtigen Bereichen auf Grund der gemeinschaftlichen Bindungen spricht neulich Romano, Complessità delle fonti e sistema penale. Leggi regionali, ordinamento comunitario, Corte costituzionale, Riv. it. dir. proc. pen., 2008, 548; ähnliche Überlegungen stellt Viganò in seinem Kommentar zum „Umwelturteil“ an: Viganò, Norme comunitarie e riserva di legge statale in materia penale: i termini di una relazione (sempre più) problematica, Quaderni costituzionali, 2006, 366 ff.

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Diese Erwägungen gelten meiner Meinung nach auch für die Fälle gemeinschaftsrechtlich veranlasster Entkriminalisierungen (aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Fall des Sammelns von Wetten, in dem der italienische Kassationsgerichtshof und der Europäische Gerichtshof entgegengesetzte Standpunkte vertreten haben31). Auch hierbei handelt es sich nämlich um grundlegende Entscheidungen kriminalpolitischer Natur und die Tatsache, dass eine (nationale) strafrechtliche Vorschrift auf andere Weise als durch das Eingreifens des (nationalen) Gesetzgebers ihre Wirkung verliert, ist schwerlich mit dem Gesetzesvorbehalt in Einklang zu bringen. Was dagegen natürlich und legitim erscheint, ist der Rückgriff auf gemeinschaftliche Prinzipien als Schlüssel bei der Interpretation von normativen Elementen eines strafrechtlichen Tatbestandes, wenn es darum geht, ein bestimmtes Verhalten als „unrechtmäßig“ oder als „widerrechtlich“ einzustufen. In diesem Fall richtet sich der nationale Gesetzgeber nach allgemeinen gemeinschaftlichen Prinzipien nicht strafrechtlicher Natur, die bereits seine Zustimmung gefunden haben und lediglich die Anwendung eines Tatbestandes beeinflussen und von denen man von vornherein weiß, dass sie von einer anderen Rechtsordnung (die der EG) definiert werden. ___________ 31

Hierzu Sotis (Fn. 7), 273 ff. Bekanntlich handelte es sich um ein einmaliges gerichtliches Hin und Her in das das erkennende Gericht, einzelne Abteilungen sowie die Großen Senate des Kassationsgerichtshofs, der Europäische Gerichtshof, die kleine (Urteil Gambelli 2003) sowie die Große Kammer (Urteil Placanica 2007), verwickelt waren. Es ging dabei um die Vereinbarkeit der restriktiven italienischen Normen zur freien Sammlung von Wetten (die von verschiedenen öffentlichen Autoritäten genehmigt und erlaubt sein muss), mit den gemeinschaftsrechtlichen Prinzipien der Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV) und der Freiheit der Dienstleistungen (Art. 49 EGV). Das letzte Wort, welches auf die Unvereinbarkeit der nationalen Regelungen mit dem europäischen Recht hinauslief, hatte die europäische Rechtsprechung, der sich dann der Kassationsgerichtshof angeschlossen hat (obtorto collo) (Urteil des Kassationsgerichtshofes vom 28/03/2007 Nr. 16969, Cass. pen., 2007, 3628 ff.). Man kann jedoch bezüglich der inhaltlichen Güte der Lösung berechtigte Zweifel hegen. Denn der italienische Gesetzgeber hatte wahrscheinlich mehr als einen guten Grund, durch die Androhung von Sanktionen für den Fall der Nichtbeachtung der maßgeblichen Normen, ein Betätigungsfeld zu regulieren, auf welchem sich die organisierte Kriminalität bereichern könnte (und die Erfahrung zeigt, dass sie dies tut!) und dabei von einem sozialen Phänomen, wie dem der sogenannten „Spielsucht“, profitiert, einem Phänomen, dass alles andere als unbedeutend ist und ganze Familien an den Bettelstab zu bringen vermag. Übrigens betrifft die Kontroverse auch die Bundesrepublik Deutschland. Genannte Urteile des Luxemburger Gerichtshofs haben ihre Auswirkung nämlich auch auf die entsprechenden deutschen Bestimmungen (die ebenfalls, was das Sammeln von Wetten betrifft, restriktiv sind); vgl. Dazu BVerfG, Urteil Nr. 1054/01 vom 28/03/2006, NJW, 2006, 1261. Instruktiv hierzu die Analyse von Fink-Rübenstahl, Placanica & Co. – „Rien ne va plus“? – Das Ende der Anwendbarkeit von § 284 StGB und der Abschied vom Sportwettenmonopol?, European Law Report, 2007, 7-8, 275 ff. und aus italienischer Sicht Manno, Giochi, scommesse e responsabilità penale, 2008, 274 ff.

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X. Denkanstöße Für die Zukunft sollte man Klarheit schaffen. In Bezug auf die Güter rein gemeinschaftlicher Natur – Schutz der Finanzen, Schutz des Euro, Schutz des wirtschaftlichen Wettbewerbes usw. – würde ich es, vorausgesetzt, dass eine eindeutige Kompetenzvorschrift geschaffen würde, nicht für unangebracht halten, wenn gemeinschaftliche Organe (die aber endlich hinreichend demokratisch legitimiert sein müssen!) strafrechtliche Normen mit unmittelbarer Wirksamkeit in den Mitgliedstaaten erlassen würden. Es sollte aber den Mitgliedstaaten die Möglichkeit gegeben werden, diese Vorschiften einigen spezifischen Bedürfnissen, vor allem in Bezug auf Strafrahmen32 und Prozessregelungen33, anzupassen. Was dagegen die Güter betrifft, die nicht direkt mit dem Projekt Europa in Zusammenhang stehen (welche dies nun sind und welche zur ersteren Kategorie gehören, muss auf politischer Ebene ausgehandelt werden; grundsätzlich glaube ich jedoch, dass die europäischer Strafgesetzgebung zugänglichen Güter klar bestimmt werden sollten und letztere residualer Natur sind), so halte ich dafür, dass der nationale Gesetzesvorbehalt ernst genommen werden sollte und somit der Einfluss der gemeinschaftlichen Vorschriften nicht über das hinausgehen sollte, was ihm im Urteil zum griechischen „Maisskandal“ zuerkannt wird: Es wurde dort verlangt, dass die einzelnen Staaten mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Sanktionen einen Schutz gewährleisten, wobei ihnen aber die Wahl zwischen einer Kriminalisierung und dem Rückgriff auf Sanktionen anderer Natur überlassen bleibt.

___________ 32 Dieser Aspekt ist mir besonders wichtig, weil ich im Rahmen meiner rechtsvergleichenden Studien erkannt habe, dass die Strafbestimmungen in den verschiedenen europäischen Rechtsordnungen erhebliche quantitative Unterschiede aufweisen: Ich frage mich diesbezüglich, ob es sinnvoll ist, dass für eine bestimmte „gemeinschaftliche“ Straftat die Strafe für alle Bürger Europas gleich sein soll, obwohl die fragliche Straftat in einer Rechtsordnung zu den Straftaten mittlerer Schwere zählt und zu denen von geringerer Schwere in einer anderen. Es besteht hier die Gefahr, dass gefährliche Ungleichheiten geschaffen werden. 33 Diesbezüglich sollten wir von der Tatsache lernen, dass zu den kritischsten Aspekten beider Auflagen des Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der EU die Schwierigkeit gehörte, neben der Harmonisierung der Tatbestände eine allgemeingültige prozessuale Regelung vorzusehen. Ich verweise dazu auf die scharfsinnigen Bemerkungen von Orlandi, Qualche rilievo intorno alla vagheggiata figura di un pubblico ministero europeo, in Picotti (Hrsg.), Possibilità e limiti di un diritto penale dell’Unione Europea, 1999, 207 ff. und von Silvia Allegrezza, L’incertezza dei limiti probatori nel Progetto Corpus Juris, in Picotti (Hrsg.), Il Corpus Juris 2000. Nuova formulazione e prospettive di attuazione, 2004, 249 ff.

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Der Gerichtshof kann dann die Wirksamkeit der vorgesehenen Sanktionen bewerten. Er darf aber nicht grundsätzlich vorschreiben, dass einer Kriminalisierung der Vorzug zu geben ist. Dies sind nur die wesentlichen Grundlagen eines Mechanismus, der in seiner Gesamtheit natürlich detaillierter zu behandeln ist. Auf jeden Fall kann aber nicht darauf verzichtet werden, eine möglichst klare Aufteilung der Kompetenzen festzulegen, um die unbefriedigende aktuelle Situation zu überwinden, in der viel zu viel Spielraum für gegensätzliche und unkontrollierbare Interpretationen besteht. Im Zuge der europäischen Einigung kann das Strafrecht sich dafür entscheiden, einen Teil der internen Souveränität zu opfern, indem es das Prinzip des Gesetzesvorbehaltes relativiert. Es kann aber nicht auf die Klarheit bei der Festlegung der Zuständigkeiten verzichtet werden. Diese sind zu wichtig bei solchen Entscheidungen, die auf dramatische Art die Verhaltensweisen der Bürger beeinflussen.

Das Spezifikum der vollendeten Vorsatztat Von Georg Freund

I. Allgemeine Grundlagen Die vollendete vorsätzliche Begehungstat ist eine sehr spezielle Erscheinungsform der Straftat – nicht etwa deren Grundfall. Sie kann nur auf der Basis der in ihr enthaltenen allgemeinen Elemente richtig verstanden werden. Der kleinste gemeinsame Nenner aller Straftaten ist der Verstoß gegen eine rechtlich legitimierte Verhaltensnorm.1 Ohne personales Verhaltensunrecht wäre eine strafrechtliche Ahndung verfehlt. Sie könnte jedenfalls vor dem verfassungsrechtlich verankerten Schuldprinzip keinen Bestand haben.2 Mit Blick auf den nullum crimen-Satz des Art. 103 Abs. 2 GG muss es sich überdies um einen tatbestandsspezifischen Verhaltensnormverstoß handeln – also etwa um personales Verhaltensunrecht der Tötung, der Körperverletzung oder der Sachbeschädigung. Wenn ein solcher Verstoß vorliegt – das Verhalten also grundsätzlich tatbestandsmäßig missbilligt und nicht gerechtfertigt ist – und die personale Fehlleistung für eine strafrechtliche Ahndung hinreichendes Gewicht besitzt, kann er allerdings nur unter einer weiteren Voraussetzung zur Bestrafung führen: Der Gesetzlichkeitsgrundsatz erfordert eine „passende“ Sanktionsnorm, die außer dem Verhaltensnormverstoß keine zusätzlichen Erfordernisse enthält.3 Eine Straftat begeht demnach, wer durch hinreichend gewichtiges personales Fehlverhalten den Tatbestand eines Strafgesetzes rechtswidrig verwirklicht. Personales Fehlverhalten liegt nur vor, wenn der Täter nach seinen individuel___________

Der Beitrag wurde im April 2009 abgeschlossen. Für die kritische Durchsicht des Textes und wertvolle Anregungen danke ich sehr herzlich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie einigen freundlichen Kolleginnen und Kollegen. 1 Näher dazu MK-StGB/Freund, 2003, Vor § 13 Rn. 115, 118 ff., 134 ff.; ders., Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 1 Rn. 12 ff., § 2 Rn. 8 ff. – s. a. Kindhäuser, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2008, § 2 Rn. 2. 2 Zum Schuldgrundsatz s. etwa BVerfGE 20, 323, 331; BGHSt 2, 194, 200 f.; MKStGB/Freund, 2003, Vor § 13 Rn. 216 ff.; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 367 ff. 3 Zum fragmentarischen Charakter des Strafrechts (als Kehrseite des Gesetzlichkeitsgrundsatzes) und seiner Berechtigung näher Maiwald, FS Maurach, 1972, S. 9 ff.

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len Verhältnissen in der Lage war, zu erkennen und zu vermeiden, dass er möglicherweise den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht, ohne gerechtfertigt zu sein, und wenn genau dies von ihm rechtlich erwartet werden konnte. Grundkriterium jeder Straftat ist also der Verstoß gegen eine tatbestandsspezifische Verhaltensnorm. Daran kommt niemand vorbei, der bei der Strafrechtsanwendung rechtsstaatliche Grundsätze achten will. Die deshalb notwendige Bildung tatbestandsspezifischer Verhaltensnormen ist mitunter nicht einfach, gelingt aber, wenn man den im Folgenden skizzierten klaren Regeln folgt.

1. Tatbestandsspezifische Verhaltensmissbilligung und Legitimationsgründe der Verhaltensnorm Die tatbestandsspezifische Verhaltensmissbilligung ist nur möglich, wenn im verhaltensrelevanten Zeitpunkt (ex ante) hinreichende Legitimationsgründe für eine entsprechende Verhaltensnorm vorliegen. Für die Begründung einer Verhaltensnorm gegenüber dem potentiellen Normadressaten ist der durch die Normeinhaltung zu erzielende berechtigte Nutzen – man kann auch sagen: der Verhaltensnorm-Zweck – unverzichtbarer Legitimationsgrund. Ohne die als Zweck verfolgten berechtigten Belange des Güterschutzes wäre die durch die Verhaltensnorm bewirkte Beschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit verfassungsrechtlich nicht haltbar. Die Verhaltensnorm muss geeignet, erforderlich und angemessen sein, um einen legitimen Zweck zu erreichen.4 Neben diesem Rechtsgüterschutzaspekt spielt häufig – allerdings nicht zwingend5 – eine besondere Verantwortlichkeit des Normadressaten als zusätzlicher Inpflichtnahmegrund eine Rolle (etwa wenn die abzuwendende Gefahr vom Organisationskreis des in die Pflicht zu Nehmenden ausgeht oder wenn er sich zu der Gefahrenabwendung bereit erklärt hat).6 Der für die Legitimation einer Verhaltensnorm und damit für die tatbestandliche Verhaltensmissbilligung unverzichtbare Rechtsgüterschutz kann nur durch das Vermeiden ganz bestimmter Schädigungsmöglichkeiten bewirkt ___________ 4

Näher zu diesen Kriterien Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 1 Rn. 12 ff., § 2 Rn. 10 ff.; MK-StGB/Freund, 2003, Vor § 13 Rn. 134 ff. 5 Das zeigen die Inpflichtnahmen, auf die sich die Sanktionsnormen der §§ 138, 323c StGB beziehen. Zu seltenen Konstellationen einer fehlenden besonderen Verantwortlichkeit bei aktivem Tun s. a. MK-StGB/Freund, 2003, § 13 Rn. 80 ff.; ders., FS Herzberg, 2008, S. 225, 232 ff.; Frisch,Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs (Tatbestandsmäßiges Verhalten), 1988, S. 250 ff.; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 7/52; Merkel, FS Herzberg, 2008, S. 193 ff. 6 Zur Sonderverantwortlichkeit s. etwa Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 2 Rn. 16 ff.; MK-StGB/Freund, 2003, Vor § 13 Rn. 153 ff. – Für die Unterlassungsdelikte vgl. dazu auch Maiwald, JuS 1981, 473 ff., 480 ff.

Das Spezifikum der vollendeten Vorsatztat

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werden. Die durch das Verhalten erst geschaffenen oder nicht abgewendeten konkreten Schädigungsmöglichkeiten sind (!) die Legitimationsgründe einer Verhaltensnorm – also die Gründe, die es rechtfertigen, dem Normadressaten ein ganz bestimmtes Verhalten zu verbieten oder aber zu gebieten. Nur diese tatsächlichen Umstände des (Lebens-)Sachverhalts (und nicht irgendwelche abstrakten Tatbestandsmerkmale des Strafgesetzes) können und sollen den Normadressaten zu normkonformem Verhalten motivieren. Dementsprechend wird auch nur durch deren Miss- oder Nichtbeachtung die Verhaltensnormgeltung in Frage gestellt.7

2. Fahrlässiges und vorsätzliches (personales) Verhaltensunrecht a) Fahrlässiges Verhaltensunrecht Das soeben Gesagte ist zunächst für die exakte Bestimmung des Unwertgehalts fahrlässigen Fehlverhaltens maßgeblich. Fahrlässig verhält sich, wer angesichts der von ihm vorgefundenen Sachlage die nach seinen individuellen Verhältnissen vorhersehbare, vermeidbare und von Rechts wegen zu vermeidende Möglichkeit der nicht gerechtfertigten Tatbestandsverwirklichung schafft oder nicht abwendet.8 Dabei bedeutet Vorhersehbarkeit, dass der Täter individuell in der Lage sein muss, die drohende nicht gerechtfertigte Tatbestandsverwirklichung zu erkennen – bei Erfolgsdelikten insbesondere den drohenden Schaden. Mit Vermeidbarkeit ist gemeint, dass es dem Täter auf Grund seiner individuellen Fähigkeiten und Kenntnisse möglich sein muss, die Gefahr gar nicht erst zu schaffen oder diese abzuwenden. Das Vermeiden-Müssen ist anzunehmen, wenn im Rahmen einer Gesamtabwägung das zu schützende Interesse das Täterinteresse überwiegt (Güter- und Interessenabwägung). Die Definition fahrlässigen Verhaltens reformuliert zwangsläufig die schon genannten Grundkriterien jeder Straftat. Das hängt damit zusammen, dass das fahrlässige Verhalten gerade der Grundtyp personalen Fehlverhaltens ist. Die hier gegebene Definition fahrlässigen Verhaltens enthält gewissermaßen eine Anleitung zur Rechtskonkretisierung im Einzelfall. Sie bringt die gängigen Begriffe der Vorhersehbarkeit und der Vermeidbarkeit in den erforderlichen Zusammenhang mit dem normativen Kriterium des rechtlichen VermeidenMüssens: Die Vorhersehbarkeit ist Grundvoraussetzung dafür, dass etwas überhaupt vermieden werden kann; und die Vermeidbarkeit ist wiederum Grundvoraussetzung dafür, dass erforderlichenfalls etwas vermieden werden muss ___________ 7 Näher zu diesem Begründungszusammenhang Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992, S. 80 ff., 88 ff. 8 Siehe dazu Freund, FS Küper, 2007, S. 63, 78 f.

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(Vermeiden-Müssen). Andererseits ist nicht alles, was vorhersehbar ist, auch vermeidbar, und keineswegs alles, was vermeidbar ist, muss von Rechts wegen vermieden werden. Mit dieser Einsicht lässt sich die Problematik der rechtlichen Verhaltensmissbilligung strafrechtsdogmatisch bewältigen.9

b) Vorsätzliches Verhaltensunrecht Das für die Fahrlässigkeitstat Gesagte ist – als Grundvoraussetzung – auch für den besonderen Unwertgehalt der Vorsatztat zu beachten. Deren besonderer Unwert enthält den allgemeinen der Fahrlässigkeitstat. Auch der Vorsatztäter muss gegen eine Verhaltensnorm verstoßen, deren Legitimation denselben Kriterien zu genügen hat wie die Legitimation der Verhaltensnorm im Falle fahrlässigen Fehlverhaltens. Wenn jemand eine bestimmte Schädigungsmöglichkeit nicht vorhersehen oder nicht vermeiden kann oder wenn er diese von Rechts wegen gar nicht vermeiden muss, dann ist sein Verhalten rechtlich nicht missbilligt. Daher scheidet nicht nur ein fahrlässiges, sondern erst recht ein vorsätzliches Fehlverhalten aus.10 Erst wenn ein tatbestandsmäßiges Fehlverhalten vorliegt, das nicht gerechtfertigt und hinreichend schuldhaft ist, stellt sich die weitergehende Frage nach der Erfüllung des Vorsatzerfordernisses. In diesem Zusammenhang ist eine wichtige Differenzierung zu beachten: Die Frage nach dem vorsätzlichen Fehlverhalten ist streng von der weitergehenden Frage nach einer etwa vorsätzlich herbeigeführten Fehlverhaltensfolge zu unterscheiden. Die ungenügende Unterscheidung der beiden Fragestellungen ist oft eine Quelle von Missverständnissen. Trotz eines gewissen Zusammenhangs können die sachlichen Probleme nur bei exakter Trennung auf den Punkt gebracht werden. Für den vorsätzlichen Verhaltensnormverstoß – das vorsätzliche Fehlverhalten – gilt Folgendes: Vorsätzlich handelt oder unterlässt, wer die Umstände kennt, welche die nicht gerechtfertigte Tatbestandsverwirklichung begründen.11 Ob das Fehlverhalten bestimmte Folgen hat oder nicht, ist für dieses vorsätzlich-tatbestandsmäßige Verhalten ohne jeden Belang. Es bestimmt sich aus___________ 9

Bei dem bisher üblichen Prüfungsvorgehen wird die „Sorgfaltspflichtverletzung“ meist zu oberflächlich bejaht. – Weiterführend zur Problematik der Verhaltensmissbilligung bei der Fahrlässigkeitstat Maiwald, FS Schüler-Springorum, 1993, S. 475 ff. (unter dem Blickwinkel der „Unzumutbarkeit“); s. a. dens., FS Dreher, 1977, S. 437 ff.; dens., JuS 1984, 439 ff., 442 f.; dens., JuS 1989, 186 ff. 10 Näher zu diesem Verhältnis von Vorsatz- und Fahrlässigkeitstat MK-StGB/ Freund, 2003, Vor § 13 Rn. 269 ff.; Hardtung, Versuch und Rücktritt bei den Teilvorsatzdelikten des § 11 Abs. 2 StGB, 2002, S. 173 ff.; Herzberg, GA 2001, 568, 570 f., 572 f.; vgl. ferner Block, Atypische Kausalverläufe in objektiver Zurechnung und subjektivem Tatbestand (Atypische Kausalverläufe), 2008, S. 128 ff., 131 ff. 11 Siehe zu dieser Definition bereits Freund, FS Küper, 2007, S. 63, 82.

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schließlich nach dem Zeitpunkt des Verhaltens des Täters, in dem dieser die Umstände kennen muss, die es zu einem tatbestandsmäßig missbilligten (und nicht gerechtfertigten) machen. Dieses Erfordernis der Tatumstandskenntnis folgt zwingend aus der Ratio der Vorsatzbestrafung. Im Verhältnis zum Fahrlässigkeitstäter wird der Vorsatztäter deutlich härter bestraft. Auch greift die Strafbarkeit sehr viel eher ein, wie die häufige Strafbarkeit des Versuchs bei Vorsatztaten im Verhältnis zur regelmäßig straflosen folgenlosen Fahrlässigkeit zeigt. Der qualitative Unterschied zwischen vorsätzlichem und fahrlässigem Fehlverhalten, der diese extrem unterschiedliche Behandlung rechtfertigt, wird deutlich, wenn man sich die spezifische Rechtsgüterschutzaufgabe des Strafrechts vor Augen führt: Durch angemessen missbilligende Reaktion auf den Verhaltensnormverstoß nebst Folgen soll der dadurch zum Ausdruck gelangenden Infragestellung der Normgeltung begegnet werden.12 Diese Infragestellung der Normgeltung liegt uneingeschränkt vor und erreicht dementsprechend eine besondere Qualität, wenn der gegen die Verhaltensnorm Verstoßende die Legitimationsgründe der übertretenen Verhaltensnorm klar vor Augen hat und sich dennoch für den Normverstoß entscheidet. Während sich der Fahrlässigkeitstäter in der entscheidenden Hinsicht irrt, hat der Vorsatztäter z. B. bei seinem vorsätzlichen Körperverletzungsverhalten die Verletzung seines Opfers als in concreto mögliche Verhaltensfolge gedanklich korrekt antizipiert und das mögliche weitere Geschehen in dieser Hinsicht ohne Fehleinschätzung zu Ende gedacht.13 Dieses spezifische Verhaltensunrecht der Vorsatztat muss der betreffende Täter – für Teilnehmer gilt nichts anderes – jeweils in eigener Person verwirklichen. Nach Wortlaut und Ratio der gesetzlichen Regelungen zum Vorsatzerfordernis (§§ 15, 16 StGB) können andere Personen (wie etwa involvierte Tatmittler), die bestimmte (unwertige) Entscheidungen treffen, dies nicht etwa als eine Art Stellvertreter tun.14 Die „Zurechnung“ solcher fremder Entscheidungen als Ausgleich für einen beim Täter oder Teilnehmer in der entscheidenden Hinsicht fehlenden Vorsatz ist ausgeschlossen. Andernfalls würde das in der Sank___________ 12

Näher zu dieser spezifischen Aufgabe der strafrechtlichen Reaktion Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 1 Rn. 5 ff. – Einen Überblick über moderne Entwicklungen in der Auffassung vom Zweck der Strafe vermittelt Maiwald, in: Immenga (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung, 1980, S. 291 ff. 13 Näher zur Ratio der Vorsatzstrafe Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 46 ff., 195 ff. et passim. – Trotz des qualitativen Sprungs ist im vorsätzlichen Fehlverhalten der Unwertgehalt des fahrlässigen als Minus enthalten. Nur deshalb kann im Falle des nicht selten scheiternden Vorsatznachweises wegen einer Fahrlässigkeitstat verurteilt werden, ohne gegen den nullum crimen-Satz zu verstoßen. Näher dazu Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 7 Rn. 35 ff., 39; NK-StGB/Puppe, 2. Aufl. 2005, § 15 Rn. 5. 14 Entsprechendes ergibt sich auch aus § 29 StGB.

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tionsnorm vorausgesetzte Vorsatzerfordernis durch eine im Strafrecht unzulässige Fiktion ausgehebelt. Der Vorsatztäter muss (ex ante) die Schädigungsmöglichkeit(en) rechtzeitig richtig eingeschätzt und sich dennoch für dieses Verhalten entschieden haben. Ein derartiges vorsätzliches Verhalten – z. B. im Sinne einer Körperverletzung oder Tötung – kann nicht durch nachträgliche Billigung bestimmter Folgen entstehen. Es „entfällt“ auch nicht etwa rückwirkend deshalb, weil vielleicht wegen einer Ladehemmung der Pistole nichts weiter passiert oder weil die Kugel ihr Ziel verfehlt. Dies hat keinerlei Einfluss auf das verwirklichte personale (vorsätzliche) Verhaltensunrecht. Beispiele für Sanktionsnormen, bei denen im Falle des vorsätzlichen Verstoßes gegen eine tatbestandsspezifische Verhaltensnorm keine weiteren – von diesem Fehlverhalten zu unterscheidenden – Sanktionserfordernisse erfüllt sein müssen, sind die Regelungen, aus denen sich die Versuchsstrafbarkeit ergibt – also etwa §§ 212 I, 22, 23, 12 I oder §§ 223 I, II, 22. Diese erfassen zumindest im Grundsatz bereits den untauglichen Versuch, bei dem allein der vorsätzliche Verstoß gegen die Verhaltensnorm eine Straftat darstellt. Demgegenüber ist etwa das bloß fahrlässige Tötungs- oder Körperverletzungsverhalten zwar ebenfalls rechtlich missbilligt und steht im Verhaltenszeitpunkt unter einer Strafandrohung: Denn für den Fall, dass dieses Fehlverhalten im weiteren Verlauf des Geschehens spezifische Folgen haben sollte (was von nicht mehr beeinflussbaren Zufälligkeiten abhängt), muss mit einer Bestrafung gerechnet werden. Bei entsprechend fahrlässigem Fehlverhalten ist die spätere Straflosigkeit lediglich dem Zufall zu verdanken. Dieses bloß fahrlässige Fehlverhalten ist aber noch keine Straftat i. S. der entsprechenden Vollendungsdelikte der §§ 222, 229 StGB. Da es sich bei diesen Straftaten um Vergehen handelt (so dass die allgemeine Regelung der §§ 23 I Fall 1, 12 I StGB nicht greift) und auch keine spezielle Anordnung der Versuchsstrafbarkeit getroffen wurde, ist damit der Versuch entsprechender Fahrlässigkeitstaten nach der eindeutigen Gesetzeslage keine Straftat.15 Allerdings gibt es in manchen Bereichen Sonderregelungen, die – wie etwa §§ 316, 315c StGB – sachlich auch Fälle der versuchten fahrlässigen Körperverletzung und Tötung als Straftat erfassen.

___________ 15

Diese Straflosigkeit folgt nicht etwa aus einem vorgegebenen „Wesen“ des Versuchs. Mit Recht betont Jakobs (Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 25/28), dass alles, was erfolgreich vollzogen werden kann, auch erfolglos zu versuchen ist. – Zur Problematik der folgenlosen Fahrlässigkeit s. a. Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT I, 5. Aufl. 2004, § 15 Rn. 58 ff.

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3. Spezifische Fehlverhaltensfolgen (allgemeine „Zurechnung“) Für die Vollendungsdelikte der §§ 222, 229 StGB – um wieder diese beiden wichtigen Beispiele zu nennen – muss als spezifische Fehlverhaltensfolge der Tod bzw. die Körperverletzung eines anderen Menschen eingetreten sein. Viele würden sagen, es muss ein entsprechender Erfolg vorliegen, der dem Fehlverhalten „zugerechnet“16 werden kann. Dabei werden die Weichen für die richtige Beantwortung der „Zurechnungsfrage“ durch die jeweiligen Legitimationsgründe der übertretenen Verhaltensnorm gestellt: Dem Fehlverhalten zurechenbar sind nur spezifische Fehlverhaltensfolgen – also Ereignisse, die vorhersehbar waren und die durch richtiges Verhalten hätten vermieden werden können und sollen. Oder anders formuliert: Für die Bestrafung wegen vollendeten Delikts muss sich ein schädigender Verlauf ereignen, den zu vermeiden ex ante Legitimationsgrund der übertretenen Verhaltensnorm war. Auf Einzelheiten kommt es an dieser Stelle nicht an.17

4. Spezifische Folgen vorsätzlichen Fehlverhaltens Die Lehrdarstellungen zum Vorsatzdelikt unterscheiden – wie gesagt – meist nicht klar genug die beiden Fragestellungen nach den Kriterien vorsätzlichen Verhaltens einerseits und nach den genauen Anforderungen an eine Bestrafung wegen vorsätzlichen vollendeten Delikts andererseits.18 In der Sache ist aber anerkannt, dass ein vorsätzliches vollendetes Delikt nur bei Erfüllung von Zusatzbedingungen angenommen werden kann. Insofern geht es um Fragen, die ___________ 16 Oft wird auch von „objektiver Zurechnung“ gesprochen (vgl. statt vieler etwa Gropp, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2005, § 5 Rn. 40 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 176 ff.). Das soll den Gegensatz zur sog. „subjektiven Zurechnung“ zum Ausdruck bringen. Indessen gelingt das nicht überzeugend, weil die sog. „objektive Zurechnung“ ihrerseits so stark mit subjektiven Elementen – etwa dem Sonderwissen des Täters – durchsetzt ist, dass der Gegensatz falsch konstruiert wird. Tatsächlich geht es um eine „normale“ (allgemeine) Zurechnung eines Erfolgs zum personalen Fehlverhalten des Täters einerseits (sachlich: Fahrlässigkeitszurechnung, zu der auch schon subjektive Elemente gehören) und die weitergehende spezielle subjektive Zurechnung zum vorsätzlichen personalen Fehlverhalten andererseits (spezielle Vorsatzzurechnung). – Zur umstrittenen strafrechtssystematischen Funktion des Begriffs der „objektiven Zurechnung“ näher Maiwald, FS Miyazawa, 1995, S. 465 ff. 17 Näher zu den allgemeinen Anforderungen an eine vollendete Straftat Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 2 Rn. 45 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 507 ff., 518 ff. 18 Vgl. etwa Wessels/Beulke, Strafrechts AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 202 ff., 244 ff.; Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 5 (zur Vorsatzlehre), § 13 (zur Irrtumslehre). – I. S. einer strikten Trennung der Fragestellungen mit Recht aber z. B. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 570; vgl. a. Winkelbach, Die Strafbarkeit des Anstifters beim error in persona des Täters (Strafbarkeit des Anstifters), 2004, S. 61.

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meist unter den Stichworten der speziellen Zurechnung zum Vorsatz (der „Vorsatzzurechnung“) oder der speziellen subjektiven Zurechnung thematisiert werden. In diesem Zusammenhang interessieren nicht mehr die oben (I 3) angesprochenen allgemeinen Erfordernisse der Bestrafung wegen vollendeten Delikts.19 Auf spezifische Erfordernisse gerade der Bestrafung wegen vorsätzlichen vollendeten Delikts kommt es nur noch an, wenn das spätere Geschehen ex ante als Möglichkeit gedacht tatsächlich Grund für eine spezifische Verhaltensmissbilligung war20 und überdies zumindest in bestimmter Hinsicht ein vorsätzliches Verhalten i. S. der gerade in Frage stehenden Sanktionsnorm vorliegt.21 Das Besondere gerade des vorsätzlichen vollendeten Delikts im Verhältnis zur bloßen Addition von vorsätzlichem tatbestandsmäßigen Verhalten und fahrlässiger Herbeiführung tatbestandsmäßiger Verhaltensfolgen (oder der entsprechenden Verantwortlichkeit für sonstige gleichwertige Gegebenheiten) folgt aus dem bisher Dargelegten zwingend: Das, was sich ereignet, muss spezifische Folge (oder in anderer Weise Ausdruck) gerade des vorsätzlich-tatbestandsmäßigen Verhaltens sein. In ihm muss sich die qualifizierte personale Fehlleistung des vorsätzlich Handelnden oder Unterlassenden ausdrücken. Es genügt nicht, dass bei Gelegenheit eines vorsätzlichen Verhaltens etwas lediglich fahrlässig bewirkt wird.22 Die verbreitete Lehre von der „unwesentlichen Abweichung“ des Kausalverlaufs bzw. der Wirklichkeit von der Vorstellung des Täters bei seinem tatbestandsmäßigen Verhalten geht an diesem sachlichen Kriterium vorbei. Unwesentlich sollen nach dieser Lehre Abweichungen sein, wenn sie sich noch in den Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren halten und keine andere Bewertung der Tat rechtfertigen.23 Das Kriterium der Voraussehbarkeit führt dabei nach dem bereits Gesagten zu keiner Eingrenzung. Es ist funktionslos, weil das, was nicht voraussehbar ist, schon als tatbestandsspezifi___________ 19 Näher dazu Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 2 Rn. 43 ff. (allgemein), § 5 Rn. 61 ff. (für das Fahrlässigkeitsdelikt), § 6 Rn. 100 ff. (für das Unterlassungsdelikt). 20 In der Sache mit Recht hervorgehoben von SK-StGB/Rudolphi, 37. Lfg. Okt. 2002, § 16 Rn. 31. 21 Zutreffend Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 575, 578. 22 I. S. eines solchen Erfordernisses z. B. auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 585; s. a. Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 8/65: Der Erfolg muss „wegen des vorsätzlich geschaffenen Risikos und nicht nur gelegentlich dieses Risikos eintreten“. 23 Siehe dazu etwa BGHSt 7, 325, 329 (Blutrauschfall); 14, 193, 194 (Jauchegrubenfall); 23, 133, 135 (Schuldunfähigkeitsaffekt); Schönke/Schröder-Cramer/SternbergLieben, StGB, 27 Aufl. 2006, § 15 Rn. 55; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 258; vgl. a. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 29 V 6 d (S. 314 f.) (die in Fällen des sog. „dolus generalis“ im Wesentlichen mit der „objektiven Zurechenbarkeit“ des Erfolgs auch die vollendete Vorsatztat begründen möchten).

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scher Missbilligungsgrund ausscheidet. Anerkanntermaßen ist das Kriterium der Voraussehbarkeit bereits Bestandteil der Fahrlässigkeitsverantwortung für bestimmte Folgen des eigenen Verhaltens. Damit bleibt als „Kriterium“ die fehlende Rechtfertigung einer anderen Bewertung übrig. Das ist jedoch eine nichtssagende Leerformel, die lediglich auf die Selbstverständlichkeit hinweist, dass die in Frage stehende Rechtsfolge angemessen sein muss. Als Kriterium dafür, ob dies tatsächlich zutrifft, taugt sie nicht.24 Eine weiterführende Definition der Anforderungen an eine vollendete Vorsatztat muss – um es nochmals zu betonen – deren Spezifikum erfassen. Die vollendete Vorsatztat erfordert, dass sich im Erfolgssachverhalt die spezifische Gefährlichkeit des vorsätzlich-tatbestandsmäßigen Verhaltens realisiert.25 Weichenstellend für die Klärung dieser Frage sind die Kriterien der tatbestandsmäßigen Verhaltensmissbilligung und des entsprechend vorsätzlichen Verhaltens. Diese lassen keinen Raum für Abweichungen. Das gilt jedenfalls, wenn man das gesetzliche Vorsatzerfordernis der Tatumstandskenntnis (§ 16 I StGB) und die sich aus der Ratio der Vorsatzbestrafung ergebenden Anforderungen ernst nimmt und daraus die gebotenen Konsequenzen für das Spezifikum gerade der vollendeten Vorsatztat zieht. Während nach dem oben (I 2 b) Gesagten zwingendes Kriterium vorsätzlichen Verhaltens die Kenntnis der mit diesem Verhalten in der Lebenswirklichkeit konkret verbundenen Schädigungsmöglichkeit(en) ist, erfordert die vollendete Vorsatztat weitergehend und zwingend die Realisierung einer erkannten Schädigungsmöglichkeit.26 Die für die vollendete Vorsatztat als Spezifikum nötige Realisierung einer erkannten Schädigungsmöglichkeit ist ohne Weiteres zu bejahen, wenn sich die konkrete Verlaufsvorstellung des Täters mit der späteren Wirklichkeit vollkommen deckt. Beispiel: A sticht B in den Oberkörper, um ihn durch einen Stich ins Herz zu töten. Wenn genau das gelingt, hat A eine vorsätzliche vollendete Tötung begangen. Nicht mehr ganz so trivial ist indessen die rechtliche Bewertung, wenn B zwar infolge eines Messerstichs stirbt, dieser jedoch nicht das Herz, sondern z. B. die Lunge trifft oder der letztlich eingetretene Tod die Folge weiterer Faktoren – etwa einer Notoperation – ist und A daran nicht ge-

___________ 24 Zur Kritik der „Abweichungslehre“ treffend Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 571 ff.; vgl. auch Herzberg, ZStW 85 (1973), 867, 873; Winkelbach, Strafbarkeit des Anstifters, S. 58 ff.; Wolter, ZStW 89 (1977), 649, 663. 25 Siehe dazu bereits Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 7 Rn. 115 ff., 146a. 26 Sachlich übereinstimmend insoweit etwa Herzberg, NStZ 1999, 217, 218; ders., JuS 1999, 224, 227; Schlehofer, Vorsatz und Tatabweichung, 1996, S. 131 ff.; ders., GA 1992, 307, 313 ff.

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dacht hat oder vielleicht sogar davon überzeugt war, dass dies nicht der Fall sein würde.27 Der Schlüssel für die Lösung dieses Problems der Abweichung des späteren Geschehens von der Vorstellung des Täters liegt nach allem Bisherigen nicht im Kriterium der Vorhersehbarkeit oder der allgemeinen Zurechenbarkeit solcher abweichender Verläufe. Auch die „Gleichwertigkeit“ des abweichenden Verlaufs im Verhältnis zu dem ins Auge gefassten ist zu unspezifisch und lenkt vom entscheidenden Punkt ab.28 Vielmehr kann dem Spezifikum der vollendeten Vorsatztat nur über eine präzise Bestimmung der Legitimationsgründe der übertretenen Verhaltensnorm, die der Vorsatztäter zutreffend erfassen muss, angemessen Rechnung getragen werden. Jeweils konkretisierungsbedürftig ist zunächst: Wann genau ist eine vorhandene Schädigungsmöglichkeit so beschaffen, dass sie einen für die Legitimation der Verhaltensnorm tragfähigen Legitimationsgrund abgibt? Dafür muss diese Schädigungsmöglichkeit (ex ante) bei dem (potentiellen) Normadressaten motivierende Kraft in Richtung auf ein Vermeiden derselben entfalten können. Ist diese Frage geklärt und hat der Täter genau die dafür benötigten Umstände erkannt, handelt er insoweit auch dann vorsätzlich, wenn er weitere Momente des zu erwartenden Geschehens nicht kennt oder sich davon falsche Vorstellungen macht. Konkret: Der Stich des A mit dem Messer in den Oberkörper des B kann für B tödlich enden. Das reicht als Legitimationsgrund für ein entsprechendes Verbot gegenüber A im Lebensschutzinteresse des B. Dabei sind die möglichen Verläufe (Herz oder Lunge wird getroffen, die Notoperation wird wegen einer nicht rechtzeitig erkennbaren Narkoseunverträglichkeit nicht überstanden etc.) nur Unterfälle der mit dem Stich in den Oberkörper verbundenen Schädigungsmöglichkeit in Richtung auf das Leben des B. Erkennt A die Lebensgefährlichkeit des Stichs, ist es für sein tötungsvorsätzliches Verhalten mit Blick auf das Leben des B irrelevant, ob er sich nähere Gedanken über die Art und Weise der Todesherbeiführung macht. Die Vorstellung des A und der spätere Verlauf entsprechen einander vollkommen in den Aspekten, auf die es normativ ankommt. Da er den drohenden Verlauf nicht in allen naturalistischen Details kennen muss, um tötungsvorsätzlich zu handeln, realisiert sich die zutreffend erkannte Lebensgefahr für B auch dann, wenn sich A den konkreten Kausalverlauf zum Tode hin etwas anders vorgestellt hat. Insoweit geht es also nicht etwa ___________ 27

Vgl. zu solchen Konstellationen Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 608 ff., 618 ff.; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 8/80; ferner Backmann, JuS 1971, 113, 118; Block, Atypische Kausalverläufe, S. 232 ff., 234; Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 7 Rn. 120 ff.; Winkelbach, Strafbarkeit des Anstifters, S. 76. 28 Der Gesichtspunkt der Gleichwertigkeit taucht etwa auf bei Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum (Die Unterscheidung), 1987, S. 480 ff., 492 ff.; Wolter, FS Leferenz, 1983, S. 545, 550 ff.

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um die bloße „Gleichwertigkeit“ von vorgestelltem und eingetretenem Verlauf. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, dass das, was tatsächlich geschieht, in seiner für die Verhaltensnormlegitimation benötigten Dimension (ex ante) in dem als möglich erkannten Verlauf enthalten ist. Die normativ begründbare Irrelevanz bestimmter Details der Verlaufsvorstellung des Täters ist jedoch eng begrenzt. Insbesondere muss darauf geachtet werden, dass der mit einer Verurteilung wegen vollendeter Vorsatztat erhobene Vorwurf zutrifft.29 Insofern wäre es verfehlt, anzunehmen, alle Lebensrisiken, die der Vorsatztäter schaffe, seien „gleichwertig“ und deshalb in dem als möglich erkannten Verlauf enthalten. Das gilt in dieser Allgemeinheit schon nicht für alle Lebensrisiken, die mit einer bestimmten Täterhandlung für ein und dasselbe Opfer verbunden sind. Beispiel: A schießt mit einer Pistole auf X, trifft aber nicht, sondern der Knall erschreckt in der Nähe weidende Kühe, die – in Panik geraten – X zu Tode trampeln:30 Die Schädigungsmöglichkeit, die sich hier realisiert, ist kein bloßer Unterfall des von A erkannten Risikos für das Leben des X durch einen „Treffer“, sondern ein aliud. Bei je nach den Umständen durchaus denkbarer Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit sowie bei anzunehmendem Vermeiden-Müssen des Stampede-Risikos31 liegt nur eine (vollendete) fahrlässige Tötung an X vor, die gelegentlich der versuchten Tötung desselben Opfers begangen wurde. Eine Verurteilung wegen vollendeter Vorsatztat verstieße gegen den Gesetzlichkeitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG. Erst recht darf dem Schützen nicht mit dem oberflächlichen Hinweis, vor dem Recht sei das Leben aller Menschen „gleichwertig“, ein (von der Kugel oder den Kühen) tatsächlich getötetes oder verletztes anderes Opfer als das angeblich vorsätzlich getötete oder verletzte untergeschoben werden. Insofern rächt sich die ungenügende Unterscheidung zwischen den Ebenen des abstrakten (Straf-)Tatbestands und des konkreten (Lebens-)Sachverhalts. Nur die Umstände des konkreten Sachverhalts sind tragfähige Legitimationsgründe für die Bildung von Verhaltensnormen. Diese Verhaltensnormbildung ist eine Leistung des Subjekts in der konkreten Situation, auf die das Recht unbedingt angewiesen ist. Sie kommt nicht ohne die Umstände der Lebenswirklichkeit und deren zutreffende Einschätzung durch den potentiellen Normadressaten aus.32 Motivierende Kraft kann nur eine in der konkreten Situation seitens ___________ 29 Näher zu diesem grundlegenden Erfordernis der Schuldspruchadäquität Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, S. 109 ff. 30 Siehe zu diesem Beispiel Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 7 Rn. 124 f. m. w. N. 31 Beispielsweise wenn sich ein entsprechender Verlauf unter den Augen des Schützen vor geraumer Zeit schon einmal zugetragen hat, so dass sich diesem das erneute Stampede-Risiko hätte aufdrängen müssen. 32 Zur Normbildung als einer Leistung des Subjekts in der konkreten Situation s. a. Freund, GA 1991, 387, 396 ff.

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des Betreffenden in Rechnung zu stellende Schädigungsmöglichkeit entfalten. Musste er diese gar nicht in Rechnung stellen, fehlt es schon am (fahrlässigen) Fehlverhalten. Und wenn er sie in Rechnung stellen und von Rechts wegen vermeiden musste, liegt ein vorsätzliches Fehlverhalten nur dann vor, wenn der Betreffende die rechtlich zu vermeidende Schädigungsmöglichkeit tatsächlich zutreffend erkannt und sich dennoch für sein Verhalten entschieden hat.33 Die Unkenntnis der von Rechts wegen zu vermeidenden konkreten Schädigungsmöglichkeiten führt nicht etwa zu einem für den Vorsatz irrelevanten bloßen Motivirrtum.34 Nicht alles, was als „Motivirrtum“ erscheint, ist für das spezifische Unrecht der (vollendeten) Vorsatztat unerheblich. Sowohl die gegenüber dem Adressaten notwendige Legitimation der Verhaltensnorm als auch deren geistige Infragestellung durch den Normbrüchigen sind nicht denkbar ohne die für die Motivation zu rechtstreuem Verhalten unverzichtbaren konkreten Schädigungsmöglichkeiten. Diese müssen, um als Vermeidemotiv wirken zu können, (für Fahrlässigkeitsunrecht) zumindest erkennbar und für Vorsatzunrecht tatsächlich erkannt worden sein. Nur Irrtümer, die diese Kenntnis unberührt lassen, sind ggf. als „bloße Motivirrtümer“ unbeachtlich. Beispiel: A hält den Y in der Dämmerung für seinen Feind X und schießt auf Y als den vermeintlichen X. In diesem Fall ist der Irrtum des A über die Identität des Opfers für sein tötungsvorsätzliches Handeln und die vollendete vorsätzliche Tötung des Y als des vermeintlichen X (!) nicht von Belang. Denn die für § 212 Abs. 1 StGB benötigten Legitimationsgründe der von A übertretenen Verhaltensnorm und die entsprechende Kenntnis des A hiervon liegen mit Blick auf das konkret wahrgenommenen Opfer uneingeschränkt vor. Anders verhält es sich jedoch, wenn A in der Dämmerung einen Baumstrunk für X hält, auf diesen schießt und ein vom Baumstrunk abprallender Querschläger den in der Nähe schlafenden X oder Y tötet, obwohl dieser von A noch gar nicht bemerkt worden ist, sondern nur hätte bemerkt werden können und müssen.35 Ganz allgemein ist zu beachten: Die bloße Einbildung (des Täters)

___________ 33 Mit Recht betont Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 8/80: „… ob aber neben dem Menschen noch ein Mensch steht oder ein zerbrechlicher Gegenstand etc. oder nicht, ist dadurch, daß auf einen Menschen geschossen wird, nicht bestimmt, also von der gesehenen Gefahr her Zufall“; s. a. Winkelbach, Strafbarkeit des Anstifters, S. 73 ff. – Hillenkamp, Die Bedeutung von Vorsatzkonkretisierungen bei abweichendem Tatverlauf (Vorsatzkonkretisierungen), 1971, S. 112 ff., 117 ff., 125 f. lässt z. T. die im „richtigen Vorsatz“ enthaltene Gattungsvorstellung ausreichen, um in Bezug auf nicht erkannte Schädigungsmöglichkeiten den Vorsatz zu fingieren. Bedenken hat er nur bei Verhaltensnormverstößen, die höchstpersönliche Rechtsgüter betreffen (s. dazu unten II 2). 34 Von einem für die (vollendete) Vorsatztat angeblich irrelevanten Motivirrtum spricht aber etwa Hillenkamp, Vorsatzkonkretisierung, S. 117 f. 35 Um in dieser Hinsicht vorsätzlich zu handeln, hätte der Täter zumindest die Möglichkeit erkennen müssen, dass bei Abgabe des Schusses derselbe abgefälscht werden und einen in der Nähe befindlichen Menschen tödlich treffen kann.

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genügt niemals für die „Zurechnung“ (irgendwelcher objektiver Gegebenheiten oder Verläufe)!36

Halten wir also fest: Zwingendes Kriterium vorsätzlichen Verhaltens ist die Kenntnis der mit diesem Verhalten in der Lebenswirklichkeit konkret verbundenen Schädigungsmöglichkeit(en). Dementsprechend erfordert die vollendete Vorsatztat weitergehend und ebenfalls zwingend die Realisierung einer erkannten Schädigungsmöglichkeit. Dafür reicht nicht etwa die bloße „Gleichwertigkeit“ des eingetretenen, aber nicht vorausgesehenen, im Verhältnis zu dem als möglich erkannten Verlauf. Vielmehr muss das sich ereignende Geschehen in seiner für die Verhaltensnormlegitimation benötigten Dimension in dem vorausgesehenen Verlauf enthalten sein.

II. Weitere beispielhafte Verdeutlichung 1. Vorsätzliche vollendete Täterschaft (allgemein) Wir haben oben (I 2 b) gesehen: Vorsätzliches Handeln oder Unterlassen erfordert jeweils die Kenntnis des Täters von den Umständen, welche die nicht gerechtfertigte Tatbestandsverwirklichung begründen. Der Vorsatztäter hat bei den Erfolgsdelikten im entscheidenden Zeitpunkt seines Verhaltens die Schädigungsmöglichkeit(en) – allgemein gesprochen: die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung – ex ante klar erfasst und „zu Ende gedacht“ (manche würden sagen: „billigend“ in Kauf genommen). Für die vollendete Vorsatztat muss sich überdies eine der Möglichkeiten der Tatbestandsverwirklichung realisieren, die in seiner vorsätzlich-unwertigen Entscheidung gegen das Rechtsgut enthalten sind. Dabei kann beispielsweise bei den Tötungs- und Körperverletzungsdelikten der konkrete Mensch, der getötet oder verletzt wird, nicht als „unwesentlich“ abgetan werden. Die tatbe___________ 36 Hierin liegt der berechtigte Kern der insbesondere von Herzberg (vgl. etwa dens., NStZ 1999, 217, 218 ff.) und Schlehofer (Vorsatz und Tatabweichung, S. 19 f., 34 ff., 37 ff., 131 ff.) akzentuierten Differenz zwischen dem „Vorstellungsvorsatz“ (der nur für den Versuch genügt) und dem „Kenntnisvorsatz“ (der für die vollendete Vorsatztat benötigt wird). Es handelt sich dabei freilich nicht etwa um zwei verschiedene Arten von „Vorsätzen“. Vielmehr „steckt“ sachlich in der Kenntnis die Vorstellung als Minus (Kenntnis als Spezialfall der Vorstellung [= die zutreffende Vorstellung]), so dass der Täter der vollendeten Vorsatztat auch mit der für die Versuchstat ausreichenden Vorstellung (von der Tat) handelt. Regelmäßig ist das aber nicht selbstständig relevant, weil dieser Versuch in der weitergehenden Vollendung aufgeht. Bedeutung kann dieser Befund aber z. B. für die Strafbarkeit eines Anstifters zu dieser Versuchstat erlangen – etwa wenn bei diesem wegen einer bewirkten mittelbaren Selbstverletzung (oder weil sonst der „Falsche“ von der Haupttat getroffen wurde) eine Anstiftung zur vollendeten Tat ausscheidet (instruktiv dazu NK-StGB/Puppe, 2. Aufl. 2005, § 16 Rn. 110 f.; Stratenwerth, FS Baumann, 1992, S. 57, 66 ff.; s. a. Freund, JuS 1990, L 36, 37, 39).

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standsrelevanten Schädigungsmöglichkeiten, die der Täter schafft oder nicht abwendet, sind immer bezogen auf ganz konkrete Menschen und nicht auf ein irgendwie geartetes Gattungswesen. Wenn z. B. A davon ausgeht, er bringe nur X (und sonst keinen) in Lebensgefahr, dann läuft es auf eine Fiktion hinaus anzunehmen, er handle tötungsvorsätzlich in Bezug auf Y, nur weil Y in die für X aufgestellte Falle tappt. Selbst bei im Täterplan angelegtem – in gewisser Weise sogar vorprogrammiertem – Fehlverlauf hat A die Lebensgefahr für Y schon gar nicht erkannt, dessen Tod also auch nicht vorsätzlich, sondern nur bei Gelegenheit eines in Bezug auf X tötungsvorsätzlichen Verhaltens bloß fahrlässig herbeigeführt.

a) Klassische Fälle der aberratio ictus Für die Grundkonstellation der aberratio ictus wird dies von Rechtsprechung und h. L. auch durchaus zutreffend erkannt:37 Wenn A auf X mit Tötungsvorsatz schießt, jedoch Y, den A gar nicht gesehen hat, plötzlich in die Schusslinie tritt und tödlich getroffen wird (womit A hätte rechnen können und müssen), liegt im Verhältnis zu X eine versuchte (vorsätzliche) Tötung und im Verhältnis zu Y nur eine (vollendete) fahrlässige Tötung vor. Die Schädigungsmöglichkeit in Richtung auf das Leben des X als Legitimationsgrund der übertretenen Verhaltensnorm hat A zwar erkannt, diese hat sich aber nicht realisiert. Und die entsprechende Gefahr in Richtung auf das Leben des Y als weiterer Legitimationsgrund der übertretenen Verhaltensnorm hat sich zwar realisiert, diese Schädigungsmöglichkeit hat A jedoch nicht erkannt. Daher liegt schon gar kein tötungsvorsätzliches Handeln des A mit Blick auf das Leben des Y vor und damit erst recht keine vollendete Vorsatztat. Wenn – um das klassische Beispiel zu modifizieren – Y nicht vor, sondern hinter X in die Schusslinie tritt und die Kugel zuerst X durchbohrt, dann aber auch Y zusätzlich von der Kugel getötet wird, liegen zwar in Bezug auf X die Voraussetzungen einer vorsätzlichen vollendeten Tötung vor. Eine weitergehende Verantwortlichkeit für den Tod des Y ist aber nur in fahrlässiger Form gegeben. Da A davon ausgegangen ist, dass sein Schuss für X und sonst niemanden eine tödliche Wirkung haben kann, wird er beim besten Willen nicht ___________ 37

BGHSt 34, 53, 54 f.; 37, 214, 219; Schönke/Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben, StGB, 27. Aufl. 2006, § 15 Rn. 57; Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 16 Rn 6; Herzberg, ZStW 85 (1973), 867 ff.; Hruschka, JZ 1991, 488, 489; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 29 V 6 c (S. 313 f.); MK-StGB/Joecks, 2003, § 16 Rn. 62 ff.; SKStGB/Rudolphi, 37. Lfg. Okt. 2002, § 16 Rn. 33; Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 15 Rn 12; s. a. Backmann, JuS 1971, 113 ff. – Zur Gegenauffassung vgl. etwa Heuchemer, JA 2005, 275 ff.; Kuhlen, Die Unterscheidung, S. 479 ff.; Loewenheim, JuS 1966, 310, 312 ff.; Puppe, GA 1981, 1 ff.; dies., JZ 1989, 728, 730 ff.

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zum Vorsatztäter in Bezug auf alle Menschen, die von der Kugel tatsächlich getötet werden (könnten) – also je nach den Umständen zu einem „Massenmörder“. In Bezug auf die Personen, für die A nicht von der Lebensgefährlichkeit seines Schusses auf X ausgegangen ist, liegt schon kein vorsätzliches Tötungsverhalten vor. Deshalb konkurrieren mit der vorsätzlichen vollendeten Tötung des X gegebenenfalls lediglich mehrere fahrlässige Tötungen. An diesem Ergebnis der nur fahrlässigen Tötung der Personen, bei denen A die Lebensgefährlichkeit des Schusses verkannt hat, ändert sich nichts, wenn z. B. X lediglich verletzt, aber nicht getötet wird: Unter diesen Umständen konkurrieren mit den fahrlässigen Tötungen der unversehens in die Schusslinie Getretenen die versuchte Tötung des X sowie eine (vollendete) gefährliche Körperverletzung an X. Eine Verrechnung des ausgebliebenen Todes des X mit dem eingetretenen Tod einer anderen Person, in Bezug auf die das Vorsatzerfordernis gerade nicht erfüllt wird, ist ausgeschlossen. Nochmals zur Klarstellung: Das soeben Gesagte macht nicht etwa jede Fehlvorstellung des Täters über die Identität eines in Aussicht genommenen Opfers zu einem vorsatzausschließenden Tatumstandsirrtum. In den Paradefällen des error in persona lässt sich eine Bestrafung wegen vorsätzlichen vollendeten Delikts durchaus ohne Verstoß gegen die Kriterien rechtsstaatlichen Strafens begründen. Beispiel: Der Täter, der den Auftrag hat, den Sohn des Auftraggebers zu erschießen, erschießt – wie in dem bekannten Hoferbenfall38 – einen Nachbarn, weil er diesen für den Gemeinten hält. Der mit der entsprechenden Verurteilung des Haupttäters wegen vollendeter Vorsatztat erhobene Vorwurf ist ohne jede Einschränkung berechtigt.39

b) Problemfälle der Opferkonkretisierung – insbesondere in Fallen-Fällen Indessen soll nach verbreiteter Auffassung eine vollendete Vorsatztat auch dann vorliegen, wenn der Täter das angegriffene Objekt überhaupt nur über dessen Stellung im Kausalverlauf „identifiziere“.40 Irrelevant sei – so etwa Jakobs –, ob der Täter davon ausgehe, das zutreffend definierte Objekt durch weitere Identifikationsmerkmale – wie z. B.: „das wird der X sein“ – benennen zu können.41 Allerdings legt Jakobs gleich nach, dass die Lage verwickelt und in Grenzbereichen ungeklärt sei. Und: Jakobs betont mit Recht, dass – falls das ___________ 38 BGHSt 37, 214 ff.; vgl. dazu etwa Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl.2009, § 10 Rn. 130 ff.; Gropp, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2005, § 13 Rn 84 ff.; Puppe, NStZ 1991, 124 ff.; Roxin, FS Spendel, 1992, S. 289 ff. 39 Siehe dazu etwa Schönke/Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben, StGB, 27. Aufl. 2006, § 15 Rn. 59; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 8/82; MK-StGB/Joecks, 2003, § 16 Rn. 60; Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 13 Rn. 21 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 12 Rn. 193 ff.; SK-StGB/Rudolphi, 37. Lfg. Okt. 2002, § 16 Rn. 29. 40 So die Formulierung von Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 8/81; vgl. a. Prittwitz, GA 1983, 110, 130; Puppe, GA 1981, 1, 7 f. 41 Siehe dazu und zum Folgenden Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 8/81.

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vom Täter gesehene Risiko in entscheidungsrelevanter Dichte nur für ein Opfer bestimmter Individualität bestehe, diese Individualisierung für die Risikokenntnis maßgeblich sei und sich deshalb das gesehene Risiko bei einem anderen Opfer nicht verwirklichen könne. Insoweit ist Jakobs uneingeschränkt zuzustimmen. Diese Frage der (vorsätzlichen) Definition (bzw. Konkretisierung oder Individualisierung) des Opfers über seine Stellung im Kausalverlauf dürfte vor allem für die sog. Fallen-Fälle bedeutsam sein.42 Deren richtige Lösung hat unter konsequenter Beachtung der allgemeinen Kriterien einer vorsätzlichen vollendeten Tat zu erfolgen: Eine vollendete Vorsatztat liegt danach nur vor, wenn der Täter die Schädigungsmöglichkeit in Bezug auf die Person, die letztlich geschädigt worden ist, auch tatsächlich erkannt hat. Nur dann ist eine vorsätzliche Opferkonkretisierung gegeben. Es genügt nicht, dass er die tatsächlich vorgenommene Konkretisierung – und sei es auch noch so grob – fahrlässig verkannt hat. Um mit einem bekannten Beispiel zu beginnen: Schickt die Täterin vergifteten Enzian-Schnaps in einem Paket an ihren Ehemann in der sicheren Annahme, dieser werde das Getränk allein verzehren, liegt keine vorsätzliche vollendete Tötung vor, wenn der Ehemann die Flasche an einen Freund mit tödlichem Ausgang weiterschenkt.43 Wer das behauptet, fingiert die tatsächlich nicht vorhandene Kenntnis einer Schädigungsmöglichkeit gegenüber allen Personen, die von dem vergifteten Getränk trinken könnten.44 Die Lebensgefährlichkeit des Getränks besteht ja nicht per se. Für die Legitimation einer das Leben anderer ___________ 42

Zu solchen Fallen-Fällen vgl. etwa Rath, Zur strafrechtlichen Behandlung der aberratio ictus und des error in objecto des Täters (Zur strafrechtlichen Behandlung), 1993, S. 38, 283 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT I, 5. Aufl. 2004, § 8 Rn. 96; ferner Lubig, Jura 2006, 655, 658. – Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Giftfallen-Fall BGHSt 43, 177, 183: Der BGH ging von einer konkreten Gefährdung der Polizeibeamten aus, verneinte aber in der Sache mit Recht ein in dieser Hinsicht vorsätzliches Tötungsverhalten (ebenso Herzberg,NStZ 1999, 217, 221). 43 Sachlich übereinstimmend insofern etwa Herzberg, NStZ 1999, 217, 221 (zu einem „Sprengfallenfall“); Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 2006, § 29 V 6 c (S. 313 – zum „Enzianfall“); s. a. Otto, Grundkurs Strafrecht – Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004, § 7 Rn. 95. – Zur verbreiteten Gegenauffassung vgl. Schönke/Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben, StGB, 27. Aufl. 2006, § 15 Rn. 59; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 8/81; Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 13 Rn. 27; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 12 Rn. 197; Streng, JuS 1991, 910, 913. 44 Liegt die Kenntnis dieser Schädigungsmöglichkeit in Bezug auf einen anderen vor (etwa wenn die Täterin damit rechnet, dass entweder ihr Ehegatte oder aber dessen Freund von dem Gift trinken könnten), stellt sich das Abweichungsproblem nicht. Denn die Täterin erfüllt das Vorsatzerfordernis in Bezug auf jedes von ihr ins Auge gefasste Opfer. Insofern zutreffend Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 8/81: „Weiß der Täter, dass die Stellung im Kausalverlauf entweder von einem oder aber von einem anderen Opfer eingenommen werden kann, so liegt ein alternativer Vorsatz vor“.

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Menschen schützenden Verhaltensnorm muss vielmehr die Möglichkeit bestehen, dass überhaupt jemand – etwa die Person X – durch ein solches Getränk zu Tode kommen kann. Wenn nun die Täterin bei entsprechender Verhaltensmissbilligung mit Blick auf die Lebensgefahr für X diese Gefahr nicht erkennt oder jedenfalls nicht ernst nimmt, handelt sie unbestritten nicht tötungsvorsätzlich. Sie begeht nur eine fahrlässige Tötung, wenn X infolge des Fehlverhaltens zu Tode kommt. Lässt sich nach Sachlage das Verhalten der Täterin im Hinblick auf die für X und Y oder vielleicht sogar weitere Personen geschaffenen Lebensgefahren rechtlich missbilligen, werden Y oder andere nicht schon deshalb vorsätzlich getötet, weil die Täterin in Bezug auf X die Anforderungen an ein vorsätzliches Tötungsverhalten erfüllt. Nur weil sie den Tod des X in Kauf genommen hat, hat sie nicht automatisch auch den Tod von irgendwelchen anderen Personen als Möglichkeit gesehen und insofern tötungsvorsätzlich gehandelt. Um es nochmals zu betonen: Die fahrlässige Tötung von Personen, an die die Täterin nicht gedacht hat, reicht – auch wenn diese gelegentlich eines vorsätzlichen Tötungsverhaltens in Bezug auf X erfolgt – nicht für eine vollendete Vorsatztat.45 Insofern verhält es sich nicht anders als in den schon oben (II 1 a) angesprochenen klassischen Fällen der aberratio ictus: Für diese Fallgruppe lässt man die Argumentation, der Täter habe einen Menschen verletzen oder töten wollen und einen ebensolchen verletzt oder getötet, mit Recht nicht gelten. Tatsächlich ist diese Argumentation unspezifisch und nicht geeignet, die Berechtigung des Vorwurfs vorsätzlicher vollendeter Verletzung oder Tötung zu begründen. Das entsprechende Opfer der Vorsatztat ist nicht austauschbar. Zwar lässt sich durchaus sagen, der Täter habe mit dem Abfeuern der Pistole eine tödliche Gefahr für jeden Menschen geschaffen, der in die Schussbahn gerät. In solcher Sicht wird jeder, der unversehens in die Schusslinie tritt, Opfer einer vom Täter in die Welt entlassenen dynamischen Falle, bei der Tatmittel und Opfer gemeinsam den Todeserfolg bewirken. Das reicht aber nicht für die vollendete Vorsatztat, weil die Schädigungsmöglichkeit, die sich in Bezug auf das konkrete Opfer realisiert, vom Täter nicht erkannt worden ist. Vor diesem Hintergrund ist es inkonsequent, zwar eine vollendete Vorsatztat etwa bei einer fehlgehenden Kugel abzulehnen, eine solche aber zu bejahen, ___________ 45 Deshalb ist der etwa von Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5. Aufl. 1996, § 29 V 6 c (S. 313) genannte Gedanke im Ergebnis richtig, dass es für die vorsätzliche vollendete Tat nicht genügt, wenn der Vorsatz nur abstrakt auf eine bestimmt Objektsart bezogen ist; vielmehr muss der Täter ein bestimmtes Angriffsobjekt ins Auge fassen; nur in dieser Hinsicht erfüllt er das Vorsatzerfordernis. Sachlich wird dieser Gedanke durch die hier angestellten normentheoretischen Überlegungen zu den genauen Legitimationsgründen der übertretenen Verhaltensnorm fundiert. Diese muss der Täter zutreffend erkannt haben, um den besonderen Unwertgehalt der (vollendeten) Vorsatztat zu verwirklichen.

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wenn das Tatmittel wie in den typischen Fallen-Fällen statisch und nicht beweglich ist.46 Wenn der Täter anstelle eines Projektils einen Sprengkörper verwendet und in der Vorstellung fernzündet, (nur) ein ganz bestimmter Mensch halte sich in der Nähe des todbringenden Ortes auf, während tatsächlich ein Mensch getötet wird, an den der Täter nicht im Entferntesten gedacht hat, liegt diesem gegenüber keine vollendete Vorsatztat vor. Hier gilt nichts anderes als bei einer außer Kontrolle geratenen ferngesteuerten oder vorab programmierten Rakete. Niemand käme auf die Idee, ein vorsätzliches Tötungsverhalten oder gar eine vollendete vorsätzliche Tötung an dem unerkannt in den Wirkungskreis eines Sprengkörpers Geratenen anzunehmen, wenn sich der den Sprengkörper Zündende sicher ist, dass sich überhaupt kein Mensch in diesem Bereich aufhält. Verkennt er die dennoch eröffnete Schädigungsmöglichkeit in Bezug auf ein bestimmtes fremdes Menschenleben – das des Y – aus Fahrlässigkeit und kommt deshalb Y zu Tode, kennt der Täter die Umstände nicht, welche diese Tatbestandsverwirklichung i. S. d. § 212 Abs. 1 StGB begründen. Daran ändert sich nichts, wenn der Täter (nur) mit der Möglichkeit rechnet, dass sich ein ganz bestimmter anderer Mensch (X) an dem Ort aufhalten könnte, der dann aber tatsächlich nicht dort ist. Auf die Verhaltensnormbildung als Leistung des Subjekts kann nur die sich diesem darbietende Sachlage mit den in ihr angelegten Schädigungsmöglichkeiten Einfluss gewinnen. Ohne deren Erkennbarkeit fehlt es bereits am für die Fahrlässigkeitsbestrafung erforderlichen personalen Verhaltensunrecht. Vorsatzunrecht als qualifizierte personale Fehlleistung erfordert dementsprechend weitergehend die Kenntnis genau der Schädigungsmöglichkeiten, die den Vorsatztäter in besonderem Maße hätten motivieren können und sollen. Unter diesem Blickwinkel der Motivation zu richtigem Verhalten ist es aber eine unzulässige Verallgemeinerung, wenn die Kenntnis einer ganz bestimmten Schädigungsmöglichkeit in die Kenntnis irgendwelcher anderer (gleichwertiger) Möglichkeiten der Tatbestandsverwirklichung umgedeutet wird. Wenn der Täter erkennt, dass sein Verhalten für einen ganz bestimmten Menschen lebensgefährlich ist, erkennt er diese Gefahr nicht notwendig zugleich bezüglich irgendeines anderen Menschen, der in die Situation des möglichen Opfers geraten könnte. Der ganz bestimmte „eine“ ist eben nicht „irgendeiner“. In vorsatzbegründender Weise motivierend wirken kann nur die aktuell tatsächlich vorhandene Kenntnis der Schädigungsmöglichkeit für den einen, aber nicht die bloße Erkennbarkeit einer gleichwertigen Schädigungsmöglichkeit bezüglich irgendeines anderen. Selbst die leichtfertige Verkennung solcher gleichwertiger Möglichkeiten der Tatbestandsverwirklichung macht aus dem in dieser Hinsicht nur fahrlässigen Fehlverhalten kein vorsätzliches. ___________ 46 I. S. einer solchen Differenzierung aber etwa Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 13 Rn. 27 m. w. N.

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2. Vorsätzliche vollendete mittelbare Täterschaft Für Konstellationen der mittelbaren Täterschaft gelten keine Besonderheiten. Das muss auch so sein. Denn die mittelbare Täterschaft ist nur ein Unterfall der Täterschaft, hat also denselben Kriterien zu genügen. Es ist für die vollendete Vorsatztat nicht ausreichend, dass ein Fehlgehen der Tat beim Einsatz eines Tatmittlers im Tatplan des Hintermannes „angelegt“ oder in bestimmter Weise „programmiert“ war oder ob man sagen kann, dass sich der Individualisierungsirrtum des Tatmittlers in den Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren gehalten hat. Auch wenn der mittelbare Täter (Hintermann) die Individualisierung des Tatopfers bzw. des Tatobjekts dem Tatmittler (Vordermann) „überlassen“ hat,47 ist das kein angemessenes Kriterium für die Verantwortlichkeit des mittelbaren Täters wegen vollendeter Vorsatztat. Diese Aspekte sind zwar für die allgemeine Verantwortlichkeit in Bezug auf spezifische Folgen des Fehlverhaltens von Bedeutung. Das Spezifikum gerade der vollendeten Vorsatztat lässt sich damit jedoch nicht angemessen erfassen. Insofern muss der Täter bei seinem vorsätzlich-tatbestandsmäßigen Verhalten gerade die mit Blick auf die konkrete Folgenherbeiführung relevanten Umstände klar erkannt – also auch: zu Ende gedacht – und sich dennoch für sein Verhalten entschieden haben. Als Beispiel kann eine Abwandlung des schon genannten Hoferbenfalles dienen, in welcher der Auftraggeber (A) grundsätzlich die Voraussetzungen der mittelbaren Täterschaft erfüllt und dabei den Tatmittler (T) als schuldunfähiges Werkzeug einsetzt, das nach dem Falschen obendrein noch den Richtigen tötet, also denjenigen, den sich der Auftraggeber als allein mögliches Opfer vorgestellt hat. Unter diesen Umständen liegen zwar zwei im Zustand der Schuldunfähigkeit begangene Tötungen vor; personales Verhaltensunrecht, wie es für eine strafrechtliche Reaktion gegenüber T erforderlich ist, hat T aber nicht verwirklicht. Zur Klärung der Verantwortlichkeit des Auftraggebers (A) kann zunächst davon ausgegangen werden, dass er mit seinem Auftrag ex ante mehrere (mindestens zwei) Schädigungsmöglichkeiten in Richtung auf das Leben anderer Menschen schafft, die er auch unter Berücksichtigung seiner individuellen Verhältnisse hätte erkennen und vermeiden können und die er bei angemessener rechtlicher Wertung hätte vermeiden müssen. Der Auftraggeber (A) ist aber nicht wegen vorsätzlicher vollendeter Tötung zweier Menschen verantwort___________ 47

Zur mit derartigen Kriterien arbeitenden Gegenauffassung s. etwa Schönke/Schröder/Cramer/Heine, StGB, 27. Aufl. 2006, § 25 Rn. 52 (vgl. a. § 26 Rn. 23); Gropp, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2005, § 10 Rn. 79 (vgl. a. § 13 Rn. 91); Haft/Eisele, GS Keller, 2003, S. 81, 98 f.; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 21/106; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 550.

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lich.48 Seine Vorsatzverantwortlichkeit beschränkt sich auf das, was er bei seinem Auftrag als Schädigungsmöglichkeit(en) im verhaltensrelevanten Bewusstsein klar erkannt hat. Wenn er z. B. schon gar nicht auf den Gedanken gekommen ist, dass vor dem Richtigen eine weitere Person vom Beauftragten getötet werden könnte, erfüllt er in Bezug auf diese weitere Person bereits das Erfordernis vorsätzlichen Tötungsverhaltens nicht. Deshalb kann insoweit auch keine vollendete Vorsatztat vorliegen. Mit Recht wird im Schrifttum insofern für die parallele Konstellation der Anstiftung geltend gemacht, dass sich der Vorsatz des Auftraggebers nur auf die Tötung eines Menschen beziehe.49 Das gilt selbst dann noch, wenn die Fehlidentifizierung des ersten Opfers im erteilten Auftrag angelegt – durch diesen vielleicht sogar vorprogrammiert – war. Denn für die hier allein interessierende Vorsatzfrage ist dieser Gesichtspunkt unspezifisch und ändert deshalb nichts daran, dass der Auftraggeber diese Fehlprogrammierung verkannt hat. Und ein bloßes Kennen-Können und Kennen-Müssen – also ein bloß fahrlässiges Verkennen – ergibt eben keinen Vorsatz. Nach allem Bisherigen ist es falsch, eine Verantwortlichkeit des mittelbaren Täters wegen vorsätzlicher Vollendungstat bereits dann anzunehmen, wenn er dem ausführenden Tatmittler die Aufgabe der Individualisierung des Opfers übertragen hat und dieser sich (subjektiv) an den Auftrag hält. Diese Annahme beruht auf der ungenügenden Unterscheidung zwischen der „normalen“ Fahrlässigkeitsverantwortlichkeit für Folgen des eigenen Fehlverhaltens und der besonderen Verantwortlichkeit wegen vollendeter Vorsatztat. Für Letztere muss der Täter die Schädigungsmöglichkeit, die sich tatsächlich realisiert, in ihrer normativ für die konkrete (!) Verhaltensnormlegitimation relevanten Dimension ohne Wenn und Aber zutreffend erkannt und bei seinem Verhalten in Kauf genommen haben. Umgekehrt ist es also richtig: Der Täter, und damit auch der mittelbare Täter, muss selbst die vorsätzlich unwertige Entscheidung für die Schaffung ganz bestimmter Schädigungsmöglichkeiten (zu denen auch bestimmte Opfer gehören) treffen. Fehlt es an dieser qualifiziert unwertigen Entscheidung mit Blick auf bestimmte Schädigungsmöglichkeiten, weil der Täter diese nicht bedacht hat, kann insoweit auch das Spezifikum der vollendeten Vorsatztat nicht gegeben sein.

___________ 48

Unter dem Aspekt der vorsätzlichen vollendeten Anstiftung fehlerhaft insofern etwa BGHSt 37, 214, 219; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 580. 49 MK-StGB/Joecks, 2003, § 26 Rn. 71; LK-StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 26 Rn. 87. – In diesem Zusammenhang findet sich meist auch der Hinweis auf Bindings „Blutbadargument“ (Binding, Die Normen, III, 1918, S. 214 Fn. 9); vgl. dazu etwa NKStGB/Puppe, 2. Aufl. 2005, § 16 Rn. 112; LK-StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 26 Rn. 85 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT I, 5. Aufl. 2004, § 8 Rn. 98.

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Eine Sonderdogmatik für den mittelbaren Täter mit einer Außerkraftsetzung der normalen Vorsatzregeln darf es nicht geben. Wortlaut und Ratio der Regelungen zum Vorsatzerfordernis lassen es nicht zu, dass andere Personen gleichsam stellvertretend für den (mittelbaren) Täter (unwertige) Entscheidungen treffen, die dann als solche des (mittelbaren) Täters fingiert werden. Soweit das Vorsatzerfordernis für bestimmte Sanktionsnormen gilt, muss es jeder, der entsprechend strafbar sein soll, in eigener Person erfüllen. Vor diesem Hintergrund vermag auch die oft anzutreffende unterschiedliche Behandlung von (mittelbaren) Tätern, die einen Tatmittler einsetzen, der für den Täter gewisse Konkretisierungsaufgaben zu lösen hat, und von Tätern, die sich mechanischer Werkzeuge – z. B. eines Roboters – bedienen, nicht zu überzeugen.50 Denn beide Instrumente führen ein Programm des Täters aus. Ob es sich dabei um eine durch eingegebene Zieldaten programmierte Rakete oder aber um einen schuldunfähigen oder gutgläubigen Tatmittler mit entsprechender Handlungsanweisung handelt, macht insofern keinen Unterschied.51 Nichts anderes gilt, wenn man ein abgerichtetes Tier einsetzt. Immer wird ein Programm des Täters umgesetzt. Aus diesem Grund ist der Täter für dessen Realisierung durchaus rechtlich verantwortlich. Indessen geht es im hier interessierenden Zusammenhang um die viel speziellere Frage nach der Verantwortlichkeit des Täters wegen (vollendeter) Vorsatztat. Und fremde „Vorsätze“ oder konkret getroffene fremde Umsetzungsentscheidungen oder entsprechende Impulse von anderen Menschen, Tieren und sonstigen Werkzeugen sind nicht mit vorsatzbegründender Wirkung auf den Täter „übertragbar“. Man denke an die Krankenschwester, die einem bestimmten Patienten in einem bestimmten Bett eine – wie sie nicht weiß – gesundheitsschädliche Injektion verabreichen soll.52 Den Auftrag hat A erteilt. Liegt auf Grund eines Irrtums der Verwaltung im Bett des ausersehenen Opfers mittlerweile eine andere Person, so dass diese durch die Injektion an der Gesundheit geschädigt wird, liegt selbst dann keine vorsätzliche vollendete Körperverletzung vor, wenn auf die

___________ 50

Unter diesem Blickwinkel differenzierend aber etwa Schönke/SchröderCramer/Heine, StGB, 27. Aufl. 2006, § 25 Rn. 52 f.; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 21/106; Streng, JuS 1991, 910, 916; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 550; vgl. a. Haft/Eisele, GS Keller, 2003, S. 81, 98 f. 51 Insoweit zutreffend gegen eine unterschiedliche Behandlung solcher Fälle etwa Hillenkamp, Vorsatzkonkretisierungen, S. 68 (mit dem Beispiel der zur Brandstiftung geschleuderten Fackel, die einmal das „richtige“ Haus verfehlt, weil diese der Wind abtreibt, das andere Mal, weil der mit dem Wurf beauftragte Schuldunfähige die Häuser verwechselt). 52 Dieses Beispiel findet sich in ähnlicher Form (dort geht es um Tötung) bei Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 21/106.

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verletzte Person alle vorgesehenen Individualisierungsmerkmale zutreffen.53 Wenn A nicht damit gerechnet hat, dass diese andere Person in dem Krankenbett liegen könnte, fehlt ihm in der entscheidenden Hinsicht die Kenntnis der Schädigungsmöglichkeit. Die entsprechende Vorstellung in Bezug auf das gemeinte Opfer gleicht dieses Kenntnisdefizit nicht aus.54 Zu einem anderen Ergebnis gelangt man nur, wenn der Hintermann selbst den Dritten als den zu Verletzenden nicht nur rein objektiv betrachtet konkretisiert, sondern überdies genau diese Konkretisierung in einer für den entsprechenden Vorsatz ausreichenden Weise selbst zutreffend erfasst. Zu denken ist an eine Abwandlung des Beispielsfalls der beauftragten Krankenschwester, in der A das Opfer selbst in voller Kenntnis der relevanten Umstände individualisiert, indem er auf die Person zeigt, der die Injektion verabreicht werden soll. Die irrige Annahme, es handle sich um den Gemeinten, ändert nichts an der uneingeschränkt vorhandenen Kenntnis der sich letztlich realisierenden Schädigungsmöglichkeit in Bezug auf das konkrete Opfer. Hat der Täter dagegen die Schädigungsmöglichkeit, die sich letztlich realisiert, im Zeitpunkt seines Verhaltens nicht erkannt, kann die Annahme einer vollendeten Vorsatztat in dieser Hinsicht nur auf einer unzulässigen Fiktion des die entsprechende Strafbarkeit begründenden Vorsatzes beruhen. Der bloß fiktive Charakter solchen „vorsätzlichen“ Verhaltens bzw. solcher „vorsätzlicher“ Folgenherbeiführung zeigt sich, wenn man beachtet, dass sich das Programm des Täters unter Umständen unbemerkt auch gegen diesen selbst richten kann. Beispiel: A beauftragt den schuldunfähigen X damit, dem eineiigen Zwillingsbruder B des A eine Tracht Prügel zu verpassen. Obwohl sich X exakt an die Vorgaben des A hält, steckt nicht B, sondern A die Schläge ein, wobei die Personenverwechslung – z. B. wegen einer ungenauen Beschreibung des als Opfer Ausersehenen – im Plan des A angelegt war.55 Dass unter diesen Umständen A nicht mittelbarer Täter einer strafbaren (vorsätzlichen vollendeten, fahrlässigen vollendeten oder auch nur versuchten) Körperverletzung an sich selbst (!) sein kann, folgt aus dem gesetzlichen Erfordernis der „anderen Person“ in §§ 223 I, 229 StGB und ist trivial. Doch darum geht es bei dem hier vorgeschlagenen Testvergleich nicht. Denn immerhin kann man sagen, dass ___________ 53 Zur Gegenauffassung s. etwa Schönke/Schröder-Cramer/Heine, StGB, 27. Aufl. 2006, § 25 Rn. 52 f.; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 21/106; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 550. 54 Spezifisches Unrecht der vollendeten Vorsatztat liegt eben nicht bereits bei Schaffung einer „nicht mehr steuerbaren“ Gefahr vor. Tatsächlich haben wir es mit einer entsprechenden Gefahrschaffung auch beim Abschießen einer verrosteten oder verbogenen Waffe zu tun, welche ein anderes als das anvisierte Ziel trifft (= klassischer Fall der aberratio ictus). 55 Zu einem entsprechenden Fall aus dem Bereich der Anstiftung vgl. Freund, JuS 1990, L 36 ff.

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wegen der im Plan angelegten Personenverwechslung eine fahrlässige mittelbare Selbstverletzung vorliegt. Diese ist lediglich nach geltendem Recht keine Straftat. Eine vorsätzliche mittelbare Körperverletzung an sich selbst hat A jedoch sicher nicht begangen. Es wäre mehr als lebensfremd hier anzunehmen, A habe seine eigene Körperintegrität in vorsätzlicher vollendeter Form verletzt. Dementsprechend handelt er aber auch nicht mit Verletzungsvorsatz in Bezug auf einen Dritten, der – etwa wenn es sich bei den Brüdern um leicht verwechselbare Drillinge handelt – wider Erwarten anstelle des von A gemeinten B zum Opfer wird. Als Vorsatztäter kann A nur für das verantwortlich sein, was er als Schädigungsmöglichkeit ex ante zutreffend erfasst hat. Übrigens kann die Frage der vorsätzlichen (mittelbaren) Selbstverletzung in dem eben genannten Beispiel sehr wohl auch strafrechtlich relevant werden: Wenn die Schläge des von A Beauftragten den A für eine gewisse Zeit wehruntauglich machen, wäre er dennoch nicht nach § 109 StGB wegen Wehrpflichtentziehung strafbar, weil er in Bezug auf die dafür bedeutsame Selbstverletzung das Vorsatzerfordernis nicht erfüllt.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Lösung des auf die Konstellation der mittelbaren Täterschaft umgeschriebenen Attentatsbeispiels56 von Jakobs: Der Täter installiert hinter einer Brücke eine Bombe, die nicht wie in dem von Jakobs gebildeten Fall von einer Induktionsschleife, sondern von einem Schuldunfähigen beim zweiten passierenden Fahrzeug ausgelöst werden soll. Ist in diesem Beispiel der Traktorfahrer, an den der Attentäter nicht gedacht hat, anders als bei Jakobs nicht der zweite, sondern der erste vor dem Attentäter, der wider Erwarten als zweiter selbst zum Opfer wird, hat sich der Attentäter nicht vorsätzlich selbst getötet oder auch nur verletzt.

3. Straftaten gegenüber nicht höchstpersönlichen Rechtsgütern Bei den bisher diskutierten Fällen ging es durchweg um Straftaten, die höchstpersönliche Rechtsgüter betreffen. Damit stellt sich die Frage, ob etwa bei den Eigentumsdelikten oder bei einer Falschaussage oder falschen Verdächtigung großzügiger verfahren werden kann.57 Um die Antwort vorweg zu neh___________ 56 Siehe dazu Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 8/81: „Der Täter installiert eine Bombe mit einer Induktionsschleife und einem Zählwerk hinter einer Brücke, wobei das zweite passierende Fahrzeug die Explosion auslösen wird; der Täter nimmt an, das zweite Fahrzeug (er selbst lenkt das erste) werde ein Regierungsmitglied lenken, aber ein Landwirt mit seinem Trecker kommt diesem zuvor.“ 57 Auf der Grundlage einer „materiellen Gleichwertigkeitstheorie“ zwischen höchstpersönlichen und nicht höchstpersönlichen Rechtsgütern differenzierend Hillenkamp, Vorsatzkonkretisierungen, S. 102 ff., 112 ff., 126 f. (bei nicht höchstpersönlichen Rechtsgütern: Vollendung auch dann, wenn die sich in concreto realisierende Schädi-

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men: Ein sachlicher Grund dafür, bei manchen Straftaten das gesetzliche Vorsatzerfordernis weniger ernst zu nehmen als bei Straftaten, die höchstpersönliche Rechtsgüter betreffen, ist nicht vorhanden. Vielmehr gelten die hier herausgearbeiteten strengen allgemeinen Regeln durchgängig. Beispiel:58 A hat vor, die Schaufensterscheibe des X einzuwerfen. Tatsächlich entgleitet ihm der Stein beim Wurf, so dass das Schaufenster des Y zertrümmert wird, womit A nicht gerechnet hat. Der mangelnde Sachbeschädigungsvorsatz in Bezug auf das Eigentum des Y lässt sich nicht durch den in Bezug auf das Eigentum des X vorhandenen kompensieren. Deshalb liegt nur eine versuchte Sachbeschädigung an der Scheibe des X vor. Die damit zufällig einhergehende fahrlässige vollendete Sachbeschädigung am Eigentum des Y ist keine Straftat. Zu einem anderen Ergebnis gelangt man freilich, wenn sich A in der Hausnummer irrt und daraufhin bei dem falschen Ladeninhaber die Scheibe einschlägt. Für die Legitimation der Verhaltensnorm in der konkreten Situation spielt der Name des Eigentümers keine Rolle. Insofern genügt es, dass A fremdes Eigentum vor sich hat. Dementsprechend kennt er auch in einer für vorsätzliches Sachbeschädigungsverhalten genügenden Weise die mit seinem Wurf verbundene Schädigungsmöglichkeit in Bezug auf genau dieses für ihn fremde Eigentum. Wenn sich diese Schädigungsmöglichkeit realisiert, liegt eine vollkommene Kongruenz zwischen diesem Schaden und der tatbestandsrelevanten Verlaufsvorstellung vor. Ebenso verhält es sich, wenn der Wurf auf eine fremde Statue deren Kopf zertrümmern soll und stattdessen den Arm trifft.59 Kopf- und Armtreffer an der Statue sind insoweit lediglich spezielle Unterfälle der für die Legitimation des Sachbeschädigungsverbots in der konkreten Situation benötigten einheitlichen Schädigungsmöglichkeit. Realisiert sich diese hinsichtlich der Statue gesehene Schädigungsmöglichkeit, liegt deshalb eine vorsätzliche vollendete Sachbeschädigung vor. Trifft dagegen der Stein eine andere Statue desselben (oder auch die eines anderen) Eigentümers, lässt sich nicht sagen, es habe sich eine vom Täter erkannte Schädigungsmöglichkeit realisiert. Darin läge eine unzuläs___________ gungsmöglichkeit nicht erkannt worden ist). – Krit. dazu etwa Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 13 Rn. 36 f. 58 Hillenkamp, Vorsatzkonkretisierungen, S. 129 f. bildet in diesem Kontext das Beispiel des Brandstifters, der infolge eines Versehens statt eines baufälligen Hauses die angrenzende Villa eines Fabrikanten in Brand setzt. Auf der Basis einer „materiellen Gleichwertigkeitstheorie“ gelangt er jedoch í mangels Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter í zur Annahme einer Strafbarkeit des Täters wegen vorsätzlicher vollendeter Brandstiftung an der Fabrikantenvilla. 59 Vgl. zu entsprechenden Fällen Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 618 f. (mit allerdings teilweise zu weitgehender Annahme einer vorsätzlichen vollendeten Sachbeschädigung); ferner etwa Block, Atypische Kausalverläufe, S. 203, 210 f., 225 f.; Herzberg, JA 1981, 470, 472.

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sige Tatobjektsvertauschung. Der mit einer Verurteilung wegen vorsätzlicher vollendeter Sachbeschädigung verbundene Vorwurf ist unberechtigt. Daran vermag die Überlegung, der Täter habe das vorsätzliche Verhaltensunrecht einer Sachbeschädigung verwirklicht und immerhin einen zurechenbaren Sachbeschädigungserfolg bewirkt, nichts zu ändern. Die Sanktionsnorm der vorsätzlichen vollendeten Sachbeschädigung hat als weiteres Erfordernis die Realisierung einer erkannten Schädigungsmöglichkeit. Dieses Erfordernis wird ausgehebelt, wenn fahrlässige Sachbeschädigungen, die bei Gelegenheit von (vorsätzlichen) Versuchstaten begangen werden, zu einer Verurteilung wegen vollendeter Vorsatztat führen sollen.

4. Exkurs: Gründe für die dogmatische Fehlentwicklung Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt: Allein der hier vorgestellte restriktive Umgang mit den Sanktionsnormen der vorsätzlichen Vollendungsdelikte entspricht der gesetzlichen Differenzierung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit und der daran anknüpfenden unterschiedlichen Behandlung des folgenlosen und des folgenreichen (fahrlässigen oder vorsätzlichen) Verhaltensnormverstoßes. Es kann und soll im Rahmen dieses Beitrags nicht im Einzelnen oder gar abschließend der Frage nachgegangen werden, wie es zu der gegenwärtig in Rechtsprechung und Literatur verbreiteten Fehleinschätzung kommen konnte. Die Gründe dafür sind sicher vielschichtig, die Konsequenz dagegen immer dieselbe: In Fällen des (vorsätzlichen) Versuchsunrechts, die mit dem Unwertgehalt einer vollendeten Fahrlässigkeitstat verknüpft sind, wird wegen vollendeter Vorsatztat verurteilt, obwohl deren Spezifikum gerade nicht erfüllt ist. Begünstigt wurde und wird die verfehlte Annahme einer vollendeten Vorsatztat durch ein verbreitetes – methodisch aber verfehltes – klassifikatorisches „Schubladendenken“, bei dem die Erscheinungsform im Vordergrund steht: Man erörtert, ob ein „error in persona“ oder eine „aberratio ictus“ vorliege oder ob der zu beurteilende Fall „eher“ der einen oder „eher“ der anderen Fallgruppe entspreche, anstatt das für die zu entscheidende Frage der vollendeten Vorsatztat normativ relevante Kriterium direkt in den Blick zu nehmen. Error in persona und aberratio ictus sind schließlich keine brauchbaren „Kriterien“ bei der Subsumtion unter die Voraussetzungen der hier interessierenden Sanktionsnorm der vollendeten Vorsatztat. Die Orientierung an den Äußerlichkeiten ohne normative Anbindung verleitet dazu, Fälle, bei denen eine entsprechende Strafbarkeit erwünscht ist, unter Rekurs auf gewisse Übereinstimmungen einfach in die Schublade des „error in persona“ einzuordnen.60 Nicht zu unterschätzen ___________ 60 Zur Gefährlichkeit einer solchen Vorgehensweise zutreffend Rath, Zur strafrechtlichen Behandlung, S. 38.

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dürfte in diesem Zusammenhang auch der Aspekt der Vereinfachung im Strafverfahren sein, der eine verführerische Anziehungskraft besitzt. Denn bei gesetzeskonform differenzierter Beurteilung ist nicht nur die Gestaltung des Schuldspruchs, sondern vor allem auch die angemessene weitere Rechtsfolgenbestimmung anspruchsvoller61 – zumindest lassen sich die sachlichen Probleme der angemessenen Reaktion auf das personale Verhaltensunrecht nebst Folgen leichter kaschieren, wenn diese in den einen Topf der vollendeten Vorsatztat geworfen werden. Mit anderen Worten: Es ist erheblich bequemer, eine vollendete Vorsatztat anzunehmen. Indessen sind es wohl nicht nur Schubladendenken und Bequemlichkeit, die hier einer zutreffend differenzierenden Beurteilung und Bewertung in den Bereichen des Schuld- und Strafausspruchs im Wege stehen. Tatsächlich stellt sich weitergehend die Frage, ob in den hier interessierenden Fällen der verwirklichte Unwertgehalt angemessen zum Ausdruck gelangt, wenn neben dem Versuch „nur“ eine tateinheitlich verwirklichte fahrlässige Vollendungstat erscheint.62 Recht häufig wird nämlich eine qualifizierte Form der fahrlässigen Erfolgsherbeiführung vorliegen, die von der Vorsatztat nicht mehr weit entfernt ist – also insbesondere eine leichtfertige Tötung oder Körperverletzung. Insofern gibt es jedoch – von den erfolgsqualifizierten Delikten abgesehen – keine Sanktionsnorm, die einen spezifischen Schuldspruch vorsieht. Deshalb ist die Versuchung groß, dem Bedürfnis nach einem im Verhältnis zur einfachen Fahrlässigkeit strengeren Schuld- und Strafausspruch durch die Verurteilung wegen vollendeter Vorsatztat zu entsprechen. Das mag verständlich sein – sachlich rechtfertigen lässt sich Derartiges jedoch nicht. Wenn insofern Defizite in Bezug auf die angemessene Ahndung bestehen, wären diese durch die Schaffung passender Sanktionsnormen (der leichtfertigen Tötung oder der leichtfertigen Körperverletzung) einfach zu beheben. Schon der Gesetzlichkeitsgrundsatz verbietet es, die Gesetzeslücke durch den Einsatz nicht passender Sanktionsnormen (der vorsätzlichen Vollendungstaten) zu schließen. Überdies schösse man damit auch in der Sache über das im Ansatz berechtigte Anliegen, den Unwertgehalt angemessen zu erfassen, hinaus. In diesem Zusammenhang erscheint eine Überbewertung des Verhaltensunrechts als psychologische Wurzel der voreiligen Annahme einer vollendeten Vorsatztat. Zwar findet in den meisten Bereichen eher eine zu starke Berücksichtigung des sog. „Erfolgsunwerts“ statt – etwa wenn einerseits bei der Strafzumessung trotz geringfügigen fahrlässigen Verhaltensunrechts allein wegen ___________ 61 Näher zum insoweit bedeutsamen Zusammenhang zwischen dem jeweiligen Straftatbestand und der genauen Rechtsfolgenbestimmung MK-StGB/Freund, 2003, Vor § 13 Rn. 71 ff.; ders., GA 1999, 509 ff. 62 Zu Bedenken gegen die Angemessenheit eines solchen Schuldspruchs s. etwa Hillenkamp, Vorsatzkonkretisierungen, S. 103 ff. m.w.N.

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des eingetretenen Erfolgs äußerst hart reagiert wird und andererseits selbst die gröbste Fahrlässigkeit bei Folgenlosigkeit sanktionslos bleibt.63 Ab und zu wird aber – vor allem in Fällen des strafbaren Versuchs – der nach dem Zuschnitt unseres Strafrechts durchaus berechtigte Stellenwert spezifischer Fehlverhaltensfolgen mit der nicht überzeugenden Begründung ignoriert, dem Täter dürfe deren zufälliges Ausbleiben nicht zugute kommen. Das ist nach geltendem Recht systemwidrig und läuft auf die unzutreffende Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem hinaus.64 Schließlich besteht der Verdacht, dass vor allem in den oben angesprochenen Fallen-Fällen die fehlerhafte Annahme einer vorsätzlichen vollendeten Tat auf einer bloß intuitiven und nicht angemessen reflektierten Korrektur des als bewiesen anzusehenden Sachverhalts beruht: In den Urteilsfeststellungen steht zwar, der Täter habe nur eine ganz bestimmte Person als Opfer – etwa seiner Gift-Falle – ins Auge gefasst oder diese Beschränkung in der Tätersicht lasse sich jedenfalls nicht ausschließen. Das will man dem Täter aber nur ungern abnehmen. Oft drängt sich die Vermutung auf, er habe zumindest i. S. des dolus eventualis die sich tatsächlich am falschen Opfer realisierende Schädigungsmöglichkeit erkannt und in Kauf genommen.65 Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, das leidige Beweisproblem scheinbar elegant dadurch beiseite zu schieben, dass kurzerhand die materiellrechtlichen Anforderungen an den entsprechenden Vorsatz heruntergeschraubt werden. Sachlich führt diese Vorgehensweise indessen zu einer gegen Art. 103 II GG verstoßenden und daher verfassungswidrigen Verdachtsstrafe.

III. Fazit und Ausblick Aus dem gesetzlichen Vorsatzerfordernis der Tatumstandskenntnis und der speziellen Ratio der Vorsatzbestrafung folgt zwingend: Vorsätzliches Handeln oder Unterlassen setzt die Kenntnis der mit diesem Verhalten in der Lebenswirklichkeit konkret verbundenen Schädigungsmöglichkeit(en) voraus. Deshalb erfordert die vollendete Vorsatztat die Realisierung einer erkannten Schädigungsmöglichkeit. Nur dann liegt deren Spezifikum vor. Bei Abweichungen der ___________ 63 Näher zu dieser hier nicht weiter zu diskutierenden Problematik der „monistischen“ oder „dualistischen Unrechtskonzeption“ Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 2 Rn. 56 ff. 64 Näher zur Frage der Milderbeurteilung des Versuchs Frisch, FS Spendel, 1992 S. 381 ff. 65 I. S. einer solchen Vermutung etwa Herzberg, JA 1981, 470, 473; vgl. a. Wolter, FS Leferenz, 1983, S. 545, 551 f. zu einem Beispielsfall der „unmotivierten Auswahl“ des konkreten Tatopfers durch den Täter bei objektiver Gleichwertigkeit von verletztem und anvisiertem Opfer.

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Vorstellung von der Wirklichkeit des späteren Verlaufs reicht nicht etwa die bloße „Gleichwertigkeit“ des nicht erkannten Verlaufs im Verhältnis zum als möglich erachteten. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, dass der tatsächliche Verlauf in seiner für die Verhaltensnormlegitimation benötigten Dimension in dem als möglich erkannten Verlauf enthalten ist. Ein sich realisierender bloß gleichwertiger Verlauf, der aber vom Täter gerade nicht gesehen worden ist, vermag keine Verantwortlichkeit wegen vollendeter Vorsatztat zu begründen. Die bloße Erkennbarkeit und das Vermeiden-Müssen einer gleichwertigen Schädigungsmöglichkeit bezüglich irgendeines Objekts genügen nur für einen entsprechenden Fahrlässigkeitsvorwurf. In diesem Zusammenhang gibt es keinen sachlichen Grund für die Ungleichbehandlung von Delikten, die gegenüber nicht höchstpersönlichen Rechtsgütern – also etwa gegen fremdes Eigentum – begangen werden. Sämtliche Sanktionsnormen vorsätzlicher vollendeter Erfolgsdelikte verlangen unabhängig von dem jeweils betroffenen Rechtsgut die Realisierung einer durch den Täter erkannten Schädigungsmöglichkeit. Auch für die mittelbare Täterschaft als einen Unterfall der Täterschaft gelten keine Besonderheiten. Es kommt daher nicht auf eine irgendwie geartete Verantwortlichkeit für den Individualisierungsirrtum des Tatmittlers an. Vielmehr muss der mittelbare Täter selbst die vorsätzlich unwertige Entscheidung für die Schaffung der sich realisierenden konkreten Schädigungsmöglichkeit treffen. Eine Orientierung an den „Schubladen“ des „error in persona“ oder der „aberratio ictus“ ist gefährlich und geeignet, den Blick für die normativ allein relevanten Anforderungen der vollendeten Vorsatztat zu verstellen. Rein intuitive Strafbarkeitsbedürfnisse sowie eine Überbewertung des Verhaltensunrechts dürfen zur Vermeidung von gesetzwidrigen Sanktionierungen in keinem Fall tragender Gedanke der Bestrafung sein. Es bleibt zu hoffen, dass dem Spezifikum der vollendeten Vorsatztat endlich die gebührende Beachtung geschenkt wird. Nach dem nullum crimen-Satz macht es eben doch einen wesentlichen Unterschied, ob der Täter einen vorsätzlichen Versuch und ggf. eine vollendete Fahrlässigkeitstat begangen hat oder aber weitergehend wegen vollendeter Vorsatztat verantwortlich ist. Dabei handelt es sich nicht etwa nur um ein eng begrenztes Problem der Missachtung des gesetzlichen Vorsatzerfordernisses. Vielmehr sind davon sämtliche Bereiche der Täterschaft und der Teilnahme betroffen. Auch wenn dies aus Raumgründen nicht mehr im Einzelnen ausgeführt werden konnte, gilt das hier herausgearbeitete Kriterium nicht nur für die Verantwortlichkeit des (unmittelbaren oder mittelbaren) Täters einer vollendeten Vorsatztat. Es ist nicht minder für die vorsätzliche vollendete Anstiftung bzw. die vorsätzliche vollendete Beihilfe (jeweils zur versuchten oder vollendeten Vorsatztat) und nicht zuletzt auch für die vorsätzliche vollendete Mittäterschaft zu beachten.

Defizite empirischen Wissens und ihre Bewältigung im Strafrecht Von Wolfgang Frisch Jede Gesellschaft hat etwas, das man ihre Kehr- oder Rückseite nennen kann. Das gilt auch für die Gesellschaft, die sich ambitioniert Wissens- oder Informationsgesellschaft nennt1 und ihre Herausforderungen und Aufgaben im Bereich des Rechts vor allem in der Anpassung des Rechts an solches Wissen, in der rechtlichen Ordnung des Zugangs zu Wissen und seiner Verwertung2 sowie in der Gewährleistung und dem Schutz von Menschenrechten in der Informationsgesellschaft3 sieht – um nur einige dieser Herausforderungen zu nennen.4 Dem faszinierenden Zuwachs des Wissens auf vielen Feldern der Naturwissenschaften, der Technik, der Medizin und der Empirie ganz allgemein korrespondieren nach wie vor weite Bereiche, in denen wir nur sehr begrenztes, unvollständiges Wissen haben. Das gilt für die Neurobiologie und die Hirnforschung ebenso wie für Abläufe und Entwicklungen der Wirtschaft, für die Bedingungen bestimmter menschlicher Entscheidungen wie für die positiven und negativen Wirkungen von Arzneimitteln und sonstigen Produkten. Nicht selten ist die Begrenztheit oder Unvollständigkeit des Wissens uns dabei zunächst gar nicht voll bewusst – zeigen erst unerwartete Folgen, dass wir unter Umständen Wichtiges nicht wussten. ___________ 1

Zu den Begriffen, dem Verhältnis der Begriffe zueinander, den Konzepten und Konturen der „Informationsgesellschaft“ sowie den Trends und Segmenten der „Wissensgesellschaft“ statt vieler Kübler, Mythos Wissensgesellschaft, 2. Aufl. 2009. 2 Siehe dazu etwa das Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (InformationsfreiheitsG) vom 5.9.2005 (BGBl. I S. 2722), das UmweltinformationsG vom 22.12.2004 (BGBl. I S. 3704), das Gesetz zur Verbesserung der gesundheitsbezogenen Verbraucherinformation (VerbraucherinformationsG) vom 5.11.2007 (BGBl. I S. 2558) sowie die Europäische Richtlinie 2003/98/EG vom 17.11.2003 über die Weiterverwendung von Informationen des öffentlichen Sektors (Abl. L 345/90 vom 31.12.2003). 3 Siehe dazu z.B. den Sammelband von Benedek/Pekari (Hrsg.), Menschenrechte in der Informationsgesellschaft, 2007. 4 Einen Überblick über die vielfältigen Herausforderungen des Rechts durch die Probleme der Informations- und der Wissensgesellschaft vermitteln z.B. Taeger/Wiebe, Information – Wirtschaft – Recht, Regulierung in der Wissensgesellschaft, 2004 und Burgstaller/Hadeyer, Recht in der Informationsgesellschaft, 2. Aufl. 2008; allgemeiner z.B. Laughlin, Das Verbrechen der Vernunft: Betrug an der Wissensgesellschaft, 2008.

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I. Wissensdefizite als rechtlich zu bewältigendes Problem Nicht immer sind solche Defizite des Wissens rechtlich bedeutsam. Aber häufig ist das eben doch der Fall, wäre möglicherweise unterschiedlich zu entscheiden – je nach dem, ob gewisse empirische Gesetzmäßigkeiten bestehen oder nicht,5 gewisse Prämissen zutreffen oder nicht.6 Das ist gerade auch im Strafrecht der Fall. Schon das empirische Wissen, das man zur Beantwortung gewisser Grundfragen benötigte, ist hier unsicher und unvollständig. Nicht weniger fehlt es an empirischem Wissen, um empirisch abgesichert eine Reihe von Fragen der Rechtsanwendung beantworten zu können.7 Es ist auch ganz unwahrscheinlich, dass das zur empirisch abgesicherten Beantwortung dieser Fragen benötigte Wissen in absehbarer Zeit gefördert werden könnte. Wie verhält sich das Recht, wenn ihm das zur Beantwortung bestimmter Fragen eigentlich benötigte oder das zur empirischen Fundierung bestimmter Annahmen notwendige Wissen fehlt oder wenn dieses nur unvollständig vorhanden ist? Sicher kann das Recht in solchen Fällen nicht einfach unter Hinweis auf das insoweit noch fehlende empirische Wissen die Antwort auf sich stellende Fragen verweigern.8 Ebenso wenig ist es von vornherein ausgeschlossen, im Kontext des Rechts von Prämissen oder Annahmen auszugehen, die empirisch ungesichert oder unbewiesen sind. Die rechtlich adäquate Beantwortung von Fragen und die Entscheidung zwischen konkurrierenden Hypothesen auf der Basis empirisch unsicheren oder begrenzten Wissens ist ein eigenständiges rechtliches Problem. Seine Lösung vollzieht sich nach den Regeln der praktischen Vernunft und normativen Prinzipien.9 Dazu gehört z.B. nicht nur, dass man sol___________ 5

Etwa im Bereich der Kausalität; dazu noch unten IV. Z.B. die Annahme der Unverzichtbarkeit des Strafrechts oder der Willensfreiheit; dazu unten II. 7 Etwa die Frage der spezialpräventiv oder generalpräventiv richtigen Strafzumessung; dazu unten III. 8 Bekannt ist das Verbot der Verweigerung der rechtlichen Antwort vor allem als Anweisung an den Rechtsanwender, dem es untersagt, die rechtliche Entscheidung wegen der Unklarheit des Sachverhalts oder des Fehlens einer ausdrücklichen Aussage des Rechts zu verweigern (zu diesem so genannten Justizverweigerungsverbot näher z.B. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 10. Aufl. 2005, S. 69 f., 179 f., 208; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 368, 372, 401 f.; eingehend E. Schumann, Das Rechtsverweigerungsverbot, ZZP 81 [1968], 79 ff.). Aber in der Sache gilt nichts anderes natürlich auch für die Rechtsordnung selbst – gleich ob diese die Antwort ausdrücklich, implizit, detailliert oder nur grundsätzlich gibt. 9 Zur Bedeutung der praktischen Vernunft für die juristische Dogmatik grundlegend Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, in: Simon (Hrsg.), Ausgewählte Schriften, Band 2: Theorie des Rechts und der Rechtsgewinnung, 1983, S. 59 ff., 63 ff., 67 ff., 76 ff.; Zaczyk, Was ist Strafrechtsdogmatik?, FS Jakobs, 2007, S. 723, 727 ff.; siehe auch Frisch, Zur Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Entwicklung des 6

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che Antworten auf unsicherer Basis nur dort geben wird, wo die Entscheidung auf ungesicherter Basis unvermeidbar ist.10 Auch wenn das der Fall ist, erfolgt die Entscheidung nicht ohne vernunftgeleitete Führung. Allgemeinere Erfahrungen und analytische Einsichten können den Ausgang von bestimmten Annahmen auch dort hinreichend fundieren, wo belegendes empirisch gesichertes Wissen fehlt. Ebenso können normative Erwägungen es rechtfertigen, ja sogar gebieten, im Falle empirischer Unsicherheit in bestimmter Richtung zu entscheiden, also von bestimmten empirisch ungesicherten Prämissen auszugehen. Denn wo eine rechtliche Entscheidung bei empirischer Ungewissheit unausweichlich ist, erscheint aus der Sicht des Rechts und der praktischen Vernunft vorzugswürdig allemal die Entscheidung, die mit den für rechtliche Entscheidungen bedeutsamen Kriterien besser kompatibel ist. Natürlich bedürfen diese zugegebenermaßen sehr abstrakten Erwägungen zu rechtlichen Entscheidungen auf der Basis empirisch unsicheren oder unvollständigen Wissens der Konkretisierung. Ich will daher im Folgenden an einigen Beispielen aus dem Strafrecht, vornehmlich an Grundfragen des Strafrechts, verdeutlichen, an welch prominenten Stellen es das Strafrecht mit dem Phänomen empirischen Unwissens oder unvollständigen Wissens zu tun hat und wie es diesem Phänomen über Erwägungen der praktischen Vernunft und die Ausrichtung an rechtlichen Wertungen Rechnung trägt. Dabei interessieren im vorliegenden Zusammenhang vor allem die Sachverhalte des Unwissens, die ihren tieferen Grund schon in prinzipiellen Lücken unseres empirischen Wissens haben – wie dem Unwissen darüber, ob in bestimmten Bereichen empirische Gesetzmäßigkeiten überhaupt bestehen11 und wie diese lauten oder ob bestimmte Grundannahmen empirisch zutreffen oder nicht12, usw. Außer Betracht bleiben sollen dagegen solche Sachverhalte, in denen das Unwissen nichts mit derartigen grundsätzlichen Wissenslücken zu tun hat, sondern (bei prinzipiell vorhandenem Wissen über die relevanten Gesetzmäßigkeiten) schlicht auf unzureichendes Beweismaterial im Einzelfall zurückzuführen ist. Zwar geht es auch in diesen Fällen um am Maßstab der praktischen Vernunft und den Rechtswerten entwickelte normative Antworten auf die Frage tatsächlichen Unwissens – etwa

___________ Strafrechts, in: Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, 2010. 10 Dem entspricht prozessual die umfassende Aufklärungspflicht. Zu weiteren Konsequenzen (etwa der Vorzugswürdigkeit des Aufschubs von Entscheidungen bei noch möglicher Erlangung von Erkenntnissen in der Zukunft) siehe unten III. 2 (nach Fn. 51). 11 Beispielhaft dafür die Frage nach der Existenz kausaler Gesetzmäßigkeiten hinsichtlich des Zustandekommens menschlicher Entscheidungen; dazu unten IV. 2. 12 Wie die Annahme der prinzipiellen Freiheit des Menschen, sich für das Richtige zu entscheiden; dazu II. 2.

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in Gestalt des Satzes „in dubio pro reo“13, den Grundsätzen der Wahlfeststellung14 oder ähnlichen Regeln15. Aber Probleme wie das, ob der Jurist unter Umständen von tatsächlichen Annahmen ausgehen darf oder sogar sollte, die im Bereich der empirischen Wissenschaften ungesichert sind, stellen sich hier nicht. Sie sind auf den Bereich beschränkt, in dem dem Unwissen in concreto ein prinzipielles Unwissen zugrunde liegt. Diesem Problem des empirischen Unwissens oder unvollständigen Wissens und seiner strafrechtlichen Bewältigung gerade in einer Manfred Maiwald gewidmeten Festschrift nachzugehen, liegt dabei schon deshalb nahe, weil der verehrte Jubilar sich mit einem wichtigen Ausschnitt aus der Problematik vor nunmehr dreißig Jahren selbst eingehend befasst hat.16

II. Exemplifizierung: Wichtige strafrechtliche Grundentscheidungen auf der Basis ungesicherter Empirie 1. Aus rechtsgrundsätzlicher, insbesondere verfassungsrechtlicher, Sicht ist das im Strafrecht praktizierte Verfahren, auf bestimmte verbotene Verhaltensweisen mit Strafe, und d.h. mit einem gravierenden Eingriff in die Rechte einer Person, zu reagieren, nur zu legitimieren, wenn Strafrecht überhaupt notwendig ist.17 Wären die Güter und Freiheiten auch ohne Strafrecht hinreichend gesichert, so wäre ein Strafrecht überflüssig und nicht zu rechtfertigen. Zu den Kernsätzen des Strafrechts und den Behauptungen seiner Existenzberechtigung ___________ 13 Zum Zusammenhang des Satzes „in dubio pro reo“ mit Gerechtigkeitserwägungen u.a. Frisch, Zum Wesen des Satzes „in dubio pro reo“, FS Henkel, 1974, S. 273, 284 f.; Montenbruck, In dubio pro reo aus normtheoretischer, straf- und strafverfahrensrechtlicher Sicht, 1985, S. 16 ff.; Stree, In dubio pro reo, 1962, S. 14 ff.; zum philosophischen Hintergrund der Unschuldsvermutung Hruschka, Die Unschuldsvermutung in der Rechtsphilosophie der Aufklärung, ZStW 117 (2000), 285 ff.; Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1998, S. 11 ff. 14 Zur Entwicklung der Wahlfeststellung aus Erwägungen praktischer Vernunft im Lichte der Rechtswerte der Gerechtigkeit und Rechtssicherheit z.B. SK-StGB/ Rudolphi/Wolter, 110. Lieferung, September 2007, Anhang zu § 55 Rn. 5-5b; Wolter, Wahlfeststellung und in dubio pro reo, 1987, S. 21 ff. m.w.N. 15 Wie z.B. den Grundsätzen der Postpendenzfeststellung; zu deren Begründung aus Erwägungen der Logik und praktischen Vernunft Hruschka, Zur Logik und Dogmatik von Verurteilungen aufgrund mehrdeutiger Beweisergebnisse im Strafprozeß, JZ 1970, 637, 641; Küper, Probleme der „Postpendenzfeststellung“ im Strafverfahren, FS Lange, 1976, S. 65 ff. 16 Vgl. Maiwald, Kausalität und Strafrecht, 1980, insbes. S. 91 ff. 17 Übereinstimmend SK-StGB/Rudolphi, 26. Lieferung, Juni 1997, Vor § 1 Rn. 1 m.w.N.; Appel, Verfassung und Strafe, 1998, insbes. S. 171 ff., 580 ff.; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 177; zur Rechtsprechung des BVerfG vgl. Vogel, Strafrechtsgüter und Rechtsgüterschutz durch Strafrecht im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, StV 1996, 110, 113 ff.

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gehört dementsprechend der Satz, dass das Strafrecht unverzichtbar sei – unverzichtbar zur Gewährleistung eines friedlichen und gedeihlichen Zusammenlebens.18 Durch empirisches Wissen, insbesondere durch einschlägige statistische Beobachtungen und Befunde, gesichert ist diese Behauptung oder Annahme nicht.19 Wir haben zwar kriminologisches Material zu Häufigkeit und Zahl der Straftaten unter der Geltung des Strafrechts. Aber wir haben kaum statistisches Material darüber, ob und in welchem Maße (heute strafrechtlich relevante) Güterbeeinträchtigungen bei einem Verzicht auf die Strafe steigen oder steigen würden. Im Glauben an eine doch jedenfalls begrenzte Wirksamkeit des Strafrechts hat sich – begreiflicherweise – bislang kein Staat dazu verstehen können, auf das Strafrecht ganz zu verzichten und uns damit jene statistischen Befunde zu liefern, die empirisch eindeutig die Notwendigkeit des Strafrechts für den Schutz von Gütern und Freiheiten belegen könnten.20 Bei diesem Defizit empirisch belegten Wissens wird es wohl auch bleiben. Denn es ist kaum anzunehmen, dass sich an der genannten Haltung der Staaten in absehbarer Zeit etwas ändern wird. Bei dieser Sachlage müssen zur Fundierung der Notwendigkeit des Strafrechts schwächere Belege genügen. Es muss reichen, dass die Annahme der Notwendigkeit des Strafrechts nach allgemeinen Vernunft- und Erfahrungseinsichten eindeutig besser begründet (und plausibler) ist als die gegenteilige Annahme. Denn schon wenn dies der Fall ist, wäre es vernunftwidrig und im Blick auf die staatliche Schutzaufgabe unvertretbar, auf das Strafrecht und dessen Wirkungen ganz zu verzichten. Vernunfteinsichten und allgemeine Erfahrungen machen die Annahme einer gewissen Wirksamkeit und damit der Notwendigkeit des Strafrechts (zur Verhinderung von sonst nicht Verhindertem) aber ___________ 18 Vgl. statt Vieler Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, AT, 5. Aufl. 1996, S. 4, 64 m.w.N.; Eisenberg, Einführung in die Probleme der Kriminologie, 1972, S. 144; Haffke, Tiefenpsychologie und Generalprävention, 1975, S. 76 f.; Andenaes, The general prevention effects of punishment, University of Pennsylvania Law Review 114 (1966), 981. 19 Vgl. dazu nur Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. 1996, § 30 Rn. 16; Göppinger, Kriminologie, 4. Aufl. 1980, S. 93 ff. (zum bescheidenen Umfang des empirisch gesicherten Wissens); Eisenberg (Fn. 18), Einführung, S. 144 f.; eingehender Appel (Fn. 17), Verfassung und Strafe, S. 183 ff. m.w.N. 20 Zur Bedeutung einiger so genannter „Zufallsexperimente“ (Ausfall der Strafrechtspflege im kriegsbesetzten Dänemark; Madrider Woche der Liebenswürdigkeit) vgl. Eisenberg, Kriminologie, 6. Aufl. 2005, § 41 Rn. 11 ff.; Kaiser, Verkehrsdelinquenz und Generalprävention, 1970, S. 354 ff.; Ashworth, Sentencing and Criminal Justice, 4. Aufl. 2005, S. 68; zu verschiedenen (begrenzt aussagekräftigen) „Feldexperimenten“ zur Wirksamkeit der Strafe vgl. Kaiser, a.a.O., S. 391; Breland, Lernen und Verlernen von Kriminalität, 1975, S. 71 ff., 164 ff., 171 ff. und Schöch, Empirische Grundlagen der Generalprävention, FS Jescheck, 1985, S. 1081, 1085 ff. m.w.N.

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nun eindeutig plausibler als die gegenteilige Annahme.21 Selbsterfahrung und Fremdbeobachtung belegen, dass der bei bestimmtem Verhalten zu erwartende Eintritt eines Übels einen Grund bilden kann, von diesem Verhalten abzusehen;22 dass (auch) diese motivatorische Barriere in manchen Fällen nicht wirkt, steht dem nicht entgegen.23 Nicht weniger einleuchtend ist, dass das bei einem Verzicht auf das Strafrecht z.B. für den Dieb oder Betrüger allein bestehende Risiko, das Diebesgut oder den Gewinn ggf. wieder zurückgeben und sich tadeln lassen zu müssen, in einer von Schwächen und Egoismen nicht freien Gesellschaft nur einen sehr schwachen Grund gibt, einer Tat zu widerstehen, bei der man eine reelle Chance hat zu gewinnen und im schlimmsten Fall nur nicht gewinnt. Kurz: Es erscheint durchaus plausibel, dass es bei einem Verzicht auf das Strafrecht allmählich zu einer Erosion der rechtlichen Verhaltensordnung käme. Darauf kann und muss die Rechtsordnung aufbauen. 2. Kann die Rechtsordnung damit begründet von der Notwendigkeit des Strafrechts ausgehen, so bleibt als zweite Grundfrage die Frage nach dessen Ausgestaltung. Darf das Strafrecht den Straftäter als einen Menschen sehen, der fähig war, sich anders, nämlich rechtlich richtig zu verhalten, und ihn deshalb für seine Tat nach dem Maß seiner Schuld zur Verantwortung ziehen? Oder ist ihm dies verwehrt, weil es damit auf einer Prämisse aufbauen würde, die empirisch unbewiesen und von Hirnforschern zum Teil ausdrücklich als unhaltbar bezeichnet worden ist?24 Auch an dieser Stelle kommt das Recht nicht darum herum, eine Entscheidung auf der Basis empirisch unsicheren Wissens zu treffen. Denn nicht nur die These von der Fähigkeit des Menschen zu rechtlich richtigem Verhalten ist empirisch unbewiesen (und empirisch wohl unbeweisbar). Auch die gegenteilige Annahme, die These, das Verhalten des Menschen sei kausalgesetzlich deter___________ 21

Übereinstimmend Kuhlen, Zum Strafrecht der Risikogesellschaft, GA 1994, 347, 364; siehe auch Baurmann, GA 1994, 368, 371 f., 394. 22 Übereinstimmend von Hirsch, Begründung und Bestimmung tatproportionaler Strafen, in: Frisch/von Hirsch/Albrecht (Hrsg.), Tatproportionalität, 2003, S. 47, 51 ff. m.w.N.; dazu, dass sich dies auch in Kurven über die Verteilung von Handlungsweisen bei institutionellem Zwang niederschlägt, vgl. Kaiser (Fn. 20), Verkehrsdelinquenz, S. 387 f., 393 f.; ders. (Fn. 19), Kriminologie, § 31 Rn. 44 f. m.w.N.; zu Versuchen, die Notwendigkeit der Strafe auch mit Hilfe tiefenpsychologischer und lerntheoretischer Erkenntnisse zu begründen, vgl. Haffke (Fn. 18), Tiefenpsychologie, S. 96 ff., 103 f., 131 f., 154 ff., 169 f. 23 Zutreffend Haffke (Fn. 18), Tiefenpsychologie, S. 79 f.; Hoerster, Zur Generalprävention als dem Zweck staatlichen Strafens, GA 1970, 272, 274. 24 Zur Infragestellung der menschlichen Willensfreiheit durch Hirnforscher und Neurobiologen in den letzten Jahren vgl. etwa Günther, KJ 2006, 116 ff.; Hillenkamp, JZ 2005, 313 ff.; Krauß, FS Jung, 2007, S. 411 ff.; Müller-Dietz, GA 2006, 338 ff. sowie umfassend und m.w.N. Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008 (zu ihm Zaczyk, GA 2009, 371 ff.).

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miniert, ist noch immer unbewiesen – daran ändern die bei Licht besehen doch relativ wenig aussagekräftigen Experimente einiger Neurobiologen wenig.25 Auch ein von der durchgehenden kausalgesetzlichen Determiniertheit menschlichen Handelns ausgehendes Strafrecht würde damit auf einer unbewiesenen empirischen Grundlage aufbauen, wenn es den Täter als ein (ausweislich der begangenen Tat) zu richtigem Handeln (derzeit noch) nicht fähiges Individuum sähe, dem deshalb die Strafe aufzuerlegen sei, die für die Zukunft eine rechtskonforme Determination gewährleistet. Bei dieser Sachlage, also dem empirischen non liquet, können uns im Grunde wieder nur Erwägungen der praktischen Vernunft und damit im Recht grundlegende normative Erwägungen sagen, auf welcher Basis das als unverzichtbar erachtete Strafrecht aufzubauen ist. Geht man diesen Weg, so wird alsbald einsichtig, dass bei Weitem vorzugswürdig ein Strafrecht ist, das den Täter prinzipiell (d.h. soweit nicht gewisse Ausnahmezustände vorliegen) als eine zu richtiger Entscheidung fähige Person sieht. Dies nicht nur deshalb, weil das Gegenkonzept praktisch kaum durchführbar ist – denn niemand weiß doch wirklich, was ein als falsch oder unzureichend determiniert erachteter Täter bräuchte, um richtig determiniert zu sein.26 Die Vorzüge eines auf die Fähigkeit des Einzelnen zu richtigem Entscheiden und Handeln aufbauenden Strafrechts sind grundsätzlicher. Das Verständnis auch des (gewisse Voraussetzungen erfüllenden) Straftäters als einer zu richtiger Entscheidung fähigen Person ist zunächst schon weitaus besser mit den Wertungen anderer Teile der Rechtsordnung kompatibel als das deterministische Gegenmodell. Die Autonomie der Person, von der die anderen Teile der Rechtsordnung, insbesondere auch die Verfassung, ausgehen,27 bildet damit auch die bessere Grundlage für die Aufarbeitung der Straftat. Übereinstimmung besteht aber nicht nur mit den Grundwertungen anderer Teile der Rechtsordnung. Die Annahme des Strafrechts, dass der Straftäter bei Erfüllung gewisser Voraussetzungen28 eine zu richtigem Entscheiden und Handeln fähige Person sei, hält das Strafrecht auch in Einklang mit den in der Gesellschaft vorhandenen Vorstellungen und der Selbsterfahrung und (wechselseitigen) Selbstein___________ 25 Kritisch zur Aussagekraft dieser Experimente z.B. Hillenkamp, JZ 2005, 313 ff.; Frisch, Zur Zukunft des Schuldstrafrechts, in: Schriftenreihe der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 2010 (in Vorbereitung). 26 Man vergleiche nur die Aussage Göppingers zum „gesicherten Wissen der Kriminologie“, in: Kriminologie (Fn. 19), S. 93 ff.; ferner Kaiser, Was wissen wir von der Strafe?, FS Bockelmann, 1979, S. 923 ff. und Schöch, Grundlage und Wirkungen der Strafe, FS Schaffstein, 1975, S. 255, 256 f. 27 Zu Autonomie und Willensfreiheit im Lichte der Verfassung vgl. z.B. Wolff, JZ 2006, 925 ff. m.w.N. 28 Wie einem bestimmten Alter (z.B. § 19 StGB), dem Fehlen geistiger Erkrankungen (z.B. § 20 StGB), usw.

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schätzung ihrer Mitglieder. Sie entspricht damit zugleich dem, wovon die Mitglieder dieser Gesellschaft in einem vertragstheoretischen Entwurf des Strafrechts ex ante oder in einem Diskurs über die personalen Voraussetzungen der Ahndung unrechter Taten prinzipiell ausgehen würden – unter dem Rawlsschen Schleier des Nichtwissens29 über seine zukünftige Tat übrigens auch der (zukünftige) Täter selbst.30 Und sie ermöglicht endlich auch eine Milderbehandlung des Täters insofern, als sie diesen prinzipiell auch ohne spezielle zusätzliche Determination als (in Zukunft) zu vernünftiger Selbstbestimmung fähige Person anerkennt – womit sich die Strafe auf das beschränken kann, was zur Aufrechterhaltung der Geltungskraft der Rechtsordnung unerlässlich ist.31 Dass dies nicht nur theoretische Vorteile sind, zeigt der Vergleich von Strafrechtsordnungen: Während Strafrechtsordnungen, die auf der Fähigkeit des Täters zu richtigem Handeln aufbauen und diesen nur mit der zur Erhaltung der Normgeltung notwendigen Schuldstrafe belegen, im Laufe der Zeit zunehmend milder wurden und werden,32 tendieren auf Determination (des Täters wie der Allgemeinheit) bedachte Strafrechtskonzepte überwiegend zur Verschärfung – bis sie schließlich an eben dieser Verschärfung aus Gründen fehlender Akzeptanz selbst scheitern.33

III. Fortsetzung: Rechtsfolgeentscheidungen auf der Basis unvollständigen empirischen Wissens Freilich sind es nicht nur gewisse Grundfragen des Strafrechts, die auch in unserer heutigen Wissensgesellschaft noch immer auf der Basis nicht zureichenden empirischen Wissens nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und normativen Adäquität entschieden werden müssen. Auch für wichtige vom Rechtsanwender zu treffende Entscheidungen fehlt es an zureichendem, empi___________ 29 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 29, 36, 159 ff.; wegen gewisser Schwächen des Ansatzes Zippelius, Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2007, S. 86 f. 30 Dazu näher demnächst Frisch (Fn. 25), Zur Zukunft des Schuldstrafrechts. 31 Dazu, dass die Sicht des Täters als einer zur vernünftigen Entscheidung fähigen Person eine mildere Behandlung des Falles ermöglicht und bewirkt, vgl. Hillenkamp, JZ 2005, 313 ff.; Frisch (Fn. 25), Zur Zukunft des Schuldstrafrechts. 32 Vgl. dazu beispielhaft Frisch, FS Jung, 2007, S. 189, 200; ders., GA 2009, S. 385, 394 f. 33 Beispielhaft dafür etwa die Ablösung des von der Bevölkerung nicht mehr akzeptierten, tendenziell immer gravierender eingreifenden spezialpräventiven Strafrechts in einigen skandinavischen Staaten; siehe dazu für Schweden z.B. Jescheck, Der Einfluß der neueren schwedischen Kriminalpolitik auf die deutsche Strafrechtsreform, ZStW 90 (1978), 777, 798 ff.; dens., Die Krise der Kriminalpolitik, ZStW 91 (1979), 1037, 1040 ff.; Dag Victor, Der Grundsatz der Tatproportionalität in der Strafzumessungspraxis – Die schwedische Erfahrung, in: Frisch/von Hirsch/Albrecht (Fn. 22), S. 243 ff.

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risch gesichertem Wissen. Das gilt vor allem für die Fragen der Strafzumessung und für die Anwendung vorbeugender Maßnahmen gegenüber (mehrfachen) Wiederholungstätern. 1. An Versuchen, die Bemessung der Strafe aus ihrer angeblichen Schuldmetaphysik zu befreien und auf die einer Wissensgesellschaft adäquate Basis empirisch fundierten Wissens zu stellen, hat es seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nicht gefehlt. Im Grunde haben Präventionstheoretiker aller Couleur daran geglaubt und den Eindruck erweckt, dass es möglich sei oder bald sein werde, das rationale Programm der Prävention auf der Basis empirisch gewonnenen und begründeten Wissens auch praktisch umzusetzen. Mittlerweile ist dieser Glaube einer unübersehbaren Ernüchterung gewichen. Wir sind weit davon entfernt, empirisch fundiert sagen zu können, welche konkrete Strafgröße notwendig ist, um einen Täter für die Zukunft von bestimmten Straftaten abzubringen.34 Im Grunde beschränkt sich unser empirisch begründetes Wissen zu den erforderlichen Strafgrößen im Bereich der Spezialprävention auf wenige Rahmenerkenntnisse – wie etwa die Einsicht, dass Strafzeiten, die unter einer gewissen zeitlichen Schwelle liegen, für eine erzieherische oder sozialisierende Einwirkung nicht ausreichen und andererseits, bei überhaupt bestehender Einwirkungsmöglichkeit mehr als ein Zeitmaß von drei bis fünf Jahren nicht benötigt werde.35 Genauso wenig gibt es aus empirischen Forschungen, etwa Untersuchungen zur Wirkung unterschiedlicher Strafgrößenkonzepte, gewonnene hinreichend gesicherte Einsichten dazu, welche Strafe und welches Strafmaß im Anschluss an die Begehung bestimmter Straftaten notwendig ist, um einen bestimmten allgemeinen Präventionseffekt zu erreichen oder zu gewährleisten.36 Was bleibt einer Rechtsordnung angesichts solcher bei realistischer Sicht kaum überwindbarer Defizite im Bereich entscheidungsleitenden empirischen Wissens? Im Grunde bleibt nur eines: Da das empirische Wissen in der Frage der Strafhöhe allenfalls begrenzend, aber kaum entscheidungsleitend zu wirken vermag,37 müssen andere, meta-empirische Maßstäbe bei der Bemessung der ___________ 34 Vgl. nur Göppinger, Kriminologie (Fn. 19), S. 93 ff.; Kaiser, FS Bockelmann, S. 923 ff.; Schöch, FS Schaffstein, S. 255 ff., 262 ff. 35 Siehe dazu z.B. Schaffstein, Erfolg, Misserfolg und Rückfallprognose bei jungen Straffälligen, ZStW 79 (1967), 209 ff., 232 ff.; ders., FS Henkel, 1974, S. 215, 219 f.; Schöch, FS Schaffstein, S. 255, 256 f., 262 ff. m.w.N. 36 Schöch, FS Schaffstein, S. 255, 262 ff.; ders., FS Jescheck, S. 1081 ff., 1103 ff. 37 Eher leitend ist das empirische Wissen wohl zu einigen anderen Fragen, wie etwa der Frage nach der richtigen Strafart: Hier steht in manchen Fällen empirisches Wissen dem Zugriff auf die eine Strafart entgegen. Freilich muss sich die Praxis auch hier vielfach mit „trial and error“-Verfahren behelfen. Siehe dazu noch unten vor 2.

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Strafe die Leitfunktion übernehmen. Natürlich können dabei nicht irgendwelche beliebigen Maßstäbe herangezogen werden. Es muss sich um Maßstäbe handeln, deren Zugrundelegung bei der Strafzumessung sachgerecht, aus Vernunftgründen einsichtig erscheint. Dafür müssen die Maßstäbe etwas mit dem hinter dem Einsatz der Strafe stehenden Grundkonzept, also der Aufgabe der Strafe zu tun haben. Sieht man dieses Grundkonzept in der Wiederherstellung der durch die Tat verletzten, nämlich in ihrer Geltung in Frage gestellten, Rechtsordnung,38 so liegt es nahe und ist auch Vernunftgründen einsichtig, das Maß der Strafe vom Ausmaß der Beeinträchtigung der Rechtsordnung abhängig zu machen. Das Maß der Strafe bestimmt sich dann nach den Umständen, die dieses Ausmaß der Beeinträchtigung konstituieren – also der Bedeutung des verletzten Rechtsgutes, dem Ausmaß seiner Beeinträchtigung, der Art und Weise der Infragestellung der Rechtsordnung und der mehr oder weniger großen Fähigkeit des Täters, richtig zu handeln,39 kurz: nach der der Tat entsprechenden Schuldstrafe. Anders als der Rekurs auf das empirisch gesicherte Wissen ermöglicht dieser Ansatz es, über den Vergleich der denkbaren und praktisch vorkommenden Taten unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung zu einem differenzierten Katalog von Aussagen über das relative Gewicht von Straftaten und dann auch zu einem ausdifferenzierten System proportional bestimmter Strafgrößen zu kommen, sobald nur – konkretisiert etwa in der akzeptierten Bewertung bestimmter Ausgangsfälle40 – das grundsätzliche Strafniveau feststeht.41 Es kommt daher nicht von ungefähr, sondern ist wiederum ein Beleg für die Bedeutung der praktischen Vernunft im Zusammenhang der hier interessierenden Problematik, dass Ansätze dieser Art über die ganze Welt verbreitet sind. Die Lösung der Strafhöhenfrage über die Schuldstrafe ist aber nicht nur aus normativen Gründen sachgerecht und zugleich das, was angesichts des Fehlens gesicherten empirischen Wissens zu den für bestimmte Präventiveffekte notwendigen Strafgrößen an Akzeptablem allein bleibt. Eine solche normative Lö___________ 38 Eingehend dazu Frisch, Strafkonzept, Strafzumessungstatsachen und Maßstäbe der Strafzumessung, in: Canaris u.a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band IV, 2000, S. 269 ff.; ders., FS Jareborg, 2002, S. 207 ff. Zu denkbaren anderen Konzepten Frisch, GA 2009, 385 ff. 39 Nähere Ausdifferenzierung dieses Ansatzes bei Frisch (Fn. 38), 50 Jahre Bundesgerichtshof, S. 269, 286 ff.; ders., FS Müller-Dietz, 2001, S. 237 ff. 40 In der Praxis steht für diese Konkretisierung die Tradition; zu ihrer Bedeutung für die Strafzumessung näher Frisch (Fn. 22), Maßstäbe der Tatproportionalität und Veränderungen des Sanktionenniveaus, in: Frisch/von Hirsch/Albrecht, S. 155, 162 ff.; Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, 1984, S. 49 ff., 304 ff. 41 Näher zu diesem Konzept der relativen Schwereskala der Taten (z.B. eines Delikts) und der korrespondierenden Strafgrößen z.B. Bruns, Strafzumessungsrecht, Gesamtdarstellung, 2. Aufl. 1974, S. 81 ff.; Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung, 1971, S. 161 ff. m.w.N.

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sung erscheint auch aus der Sicht der Prävention und rationaler Kriminalpolitik gar nicht so schlecht. Jedenfalls bestätigen Kriminologen seit geraumer Zeit, dass die Strafe, die am besten geeignet ist, das Rechtsbewusstsein zu erhalten und damit positiv generalpräventiv zu wirken, regelmäßig die Schuldstrafe sei.42 Freilich ist dies keine Einsicht, die uns erst die Kriminologie zu bescheren vermochte. Es ist wieder nur das, was schon der analytische Verstand lehrt: Solange eine Gemeinschaft es als sachgerecht ansieht, eine Tat mit einer der Schuld entsprechenden Strafe zu ahnden,43 solange wird die Strafe, die (nach geschehener Tat) das Rechtsbewusstsein am besten stärkt, die Schuldstrafe sein – weil sie eben die Strafe ist, die die Gemeinschaft erwartet. Um das zu erkennen, benötigt man keine empirischen Untersuchungen, sondern nur praktische Vernunft. (Empirische Untersuchungen, die die generalpräventive Wirkung der Schuldstrafe aufzeigen, belegen so gesehen lediglich, dass eine Gemeinschaft als angemessene Reaktion – noch immer – die Schuldstrafe erwartet). Schlichte Erwägungen praktischer Vernunft sind es auch, die uns beim Umgang mit der spezialpräventiven Seite der Strafe leiten.44 Da wir über empirisch gesichertes Wissen, welche Strafgröße der Täter zur Gewährleistung zukünftiger Straftatenfreiheit benötigt, nicht verfügen, bedienen wir uns eines Verfahrens von „trial and error“. Dessen Ausgangspunkt bildet wiederum die schon zur Erhaltung der Geltung der Rechtsordnung notwendige Schuldstrafe. Wenn und solange es möglich erscheint, dass schon diese Schuldstrafe reicht, um den Täter von weiteren Straftaten abzuhalten, ist es vernünftig und auch allein legitimierbar, es bei einer mäßigen Schuldstrafe bewenden zu lassen. Enttäuscht der Täter diese Erwartung durch die Begehung neuer Taten, so gebietet die Vernunft es, eine Strafe zu verhängen, die eine bessere Chance dafür bietet, dass er sich in Zukunft straftatenfrei verhält. Man wird dementsprechend statt einer mäßigen Schuldstrafe nunmehr eine solche verhängen, die die Bandbreite der für eine Tat schuldgerechten Strafen stärker ausschöpft.45 Wo das Gewicht ___________ 42 In diesem Sinne etwa Haffke, MschrKrim 1975, 40, 53 f.; ders. (Fn. 18), Tiefenpsychologie, S. 77; Müller-Dietz, FS Jescheck, 1985, S. 813, 823, 825 f.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2. Aufl. 2002, Rn. 14 ff., 22 ff., 435; ferner Roxin, FS Bockelmann, 1979, S. 279, 305; Schünemann, GA 1986, 293, 350; Zipf, FS Bruns, 1978, S. 205, 215. 43 Und das ist die Einstellung dieser Gemeinschaft, wie für Deutschland deutlich § 46 Abs. 1 S. 2 StGB zeigt. 44 Siehe dazu schon Frisch, Strafzumessung, in: Frisch/Vogt (Hrsg.), Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, 1994, S. 307 ff., 317 ff. 45 Dazu dass „die“ Schuldstrafe schon aus erkenntnistheoretischen Gründen regelmäßig auf eine Bandbreite „schon“ bis „noch“ vertretbarer Strafgrößen hinausläuft, die Schuldstrafe in diesem Sinne einen Rahmen zu bilden vermag, vgl. eingehend Bruns (Fn. 41), Strafzumessungsrecht, S. 87 ff., 263 ff.; Frisch (Fn. 41), Revisionsrechtliche Probleme, S. 114 ff., 209 ff.; aus der Rechtsprechung zur so genannten Rahmenschuld-

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der neuen Tat(en) so ist, dass unter Schuldaspekten auch eine Freiheitsstrafe in Betracht kommt, wird man also nach dem Scheitern der Denkzettelstrategie auf Strafen übergehen, die auch sozialisierende Einwirkungen und Angebote ermöglichen. Freilich sind die insoweit bestehenden Möglichkeiten beschränkt: Ist auch mit der Ausschöpfung der vollen Schuldstrafe und den in deren Rahmen möglichen Sozialisationsangeboten nichts zu erreichen, so taugt die Strafe spezialpräventiv allenfalls noch zur (begrenzten) Sicherung, für die vernünftigerweise der Schuldrahmen nach oben auszuschöpfen ist. 2. Prekärer noch als bei der Strafzumessung sind die Defizite im Bereich des empirischen Wissens bei den Maßnahmen der schlichten Verbrechensvorbeugung – also z.B. den Unterbringungen und der Sicherungsverwahrung.46 Denn diese Maßnahmen dienen ja gerade dazu, mit der Schuldstrafe nicht zu befriedigende präventive Bedürfnisse zu erfüllen; der Rekurs auf die Schuldstrafe scheidet hier also schon ansatzbedingt aus. Stattdessen bedarf es offenbar des Blicks in die Zukunft – ist also vor allem die Frage zu beantworten, ob der Täter (ohne entsprechende Maßnahmen) wieder Straftaten begehen wird. Es ist evident, dass wir zur Beantwortung solcher Fragen nicht einfach auf empirisch gesicherte Gesetzmäßigkeiten zurückgreifen können, die z.B. besagen, dass Personen mit ganz bestimmten Persönlichkeitszügen in Zukunft (wieder) Straftaten begehen werden. Selbst wenn es solche Gesetzmäßigkeiten geben sollte, so kennen wir sie doch nicht. Was wir allein besitzen, sind allgemeinere Erfahrungseinsichten – z.B. über Persönlichkeitszüge, fehlende Fähigkeiten und Einstellungen, die die Begehung von Straftaten begünstigen oder erschweren, oder über Situationen, in denen sich solche Defizite besonders auswirken, usw. Da eine Verknüpfung solcher und ähnlicher Einsichten schwerlich zu sicherem Wissen führen kann, geht es also auch hier um Entscheidungen auf der Basis unvollständigen oder unsicheren Wissens. Den Maßstab für die richtige Entscheidung (über die Anordnung oder Nichtanordnung vorbeugender Maßnahmen) bilden dabei auch hier wieder Erwägungen der praktischen Vernunft, nicht etwa (oft gar nicht verfügbare) statistische Risikohöhen.47 Vernunfterwägungen können zunächst gebieten, trotz der Unsicherheit unseres Wissens bei der Entscheidung über die richtige rechtliche Reaktion doch von der einen oder anderen Hypothese über die zukünftige Entwicklung des Tä___________ strafe und Spielraumtheorie insbesondere BGHSt 7, 28 ff. und 16, 353 ff.; weit. Nachw. bei Bruns, a.a.O., S. 266 ff. 46 Siehe dazu näher Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, 1983, S. 29 ff. 47 Zur Inadäquität und Undurchführbarkeit eines an Risikohöhen anknüpfenden Konzepts Frisch, Strafrechtliche Prognoseentscheidungen, in: Frisch/Vogt, (Fn. 44), S. 84 ff.; ders., Maßregeln der Besserung und Sicherung im strafrechtlichen Rechtsfolgensystem, ZStW 102 (1990), 343, 371 f.

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ters als Entscheidungsgrundlage auszugehen. Maßgebend ist in diesem Zusammenhang vor allem, ob es sich bei dem Täter um eine zu richtiger Entscheidung prinzipiell fähige Person handelt und ob uns die Zuerkennung dieser Fähigkeit, insbesondere in Verbindung mit dem durchgeführten Verfahren und der verhängten Strafe, vernünftigerweise als hinreichende Garantie zukünftiger Straftatenfreiheit genügt. Bei Ersttaten schuldfähiger Täter ist das in aller Regel so – man kann nicht im Grundsätzlichen von der Wirkung der Strafe ausgehen und zugleich selbst bei Ersttätern, denen man die Fähigkeit zu vernünftiger Entscheidung zuerkennt, noch vor Erprobung der Möglichkeiten der Strafe als Regel eine deliktische Entwicklung annehmen. Entsprechendes gilt für Wiederholungstäter, wenn es erfahrungsfundierte Gründe gibt, für die Zukunft auf die Einsicht des Täters zu setzen – etwa weil es in der Person des Täters inzwischen deutliche Änderungen zum Positiven gegeben hat.48 Umgekehrt liegt es dann, wenn der Täter bereits mehrere Taten begangen hat, die sich allein als Ausdruck bestimmter Fehlhaltungen oder der Unfähigkeit zur rechtskonformen Bewältigung bestimmter Situationen erklären lassen,49 und mit solchen Situationen realistischerweise auch in Zukunft zu rechnen ist. Hier wäre es schlicht unvernünftig, weil erfahrungswidrig, im Rahmen der rechtlichen Reaktion ohne Anzeichen einer Änderung dieser Einstellungen für die Zukunft nicht von dem auszugehen, was die Vergangenheit gezeigt hat – also von der Annahme zukünftiger Straftatenbegehung (die bei hinreichendem Gewicht der drohenden Taten dann auch die Anordnung vorbeugender Maßnahmen rechtfertigt). Vernunfterwägungen dieser Art muss auch der akzeptieren, zu dessen Nachteil die Zugrundelegung der einen oder anderen Hypothese ausfällt – unter dem Rawlsschen „Schleier des Nichtwissens“, ob er auf der einen oder anderen Seite steht,50 würde auch er hier nicht anders vorgehen. Natürlich gibt es eine Reihe von Fällen, die zwischen diesen Polen liegen. So kann z.B. unklar sein, ob die Taten Ausdruck bereits vorhandener Fehleinstellungen sind, ob es in der Zwischenzeit wirklich zu Änderungen gekommen ist oder ob bisher noch nicht unternommene Sozialisationsbemühungen zu einer positiven Festigung oder zu einer Änderung bestimmter Fehlhaltungen führen werden.51 Bei solcher Offenheit der zukünftigen Entwicklung wäre es wenig überzeugend, weil mit Vernunftgründen schwerlich belegbar, im Rahmen der Entscheidung gleichwohl von einer Entwicklung in eine ganz bestimmte tat___________ 48

Beispiele dafür, dass auch die Rechtsprechung nach solchen Mustern der praktischen Vernunft verfährt, bei Frisch, Maßregeln, in: Frisch/Vogt (Fn. 44), S. 397 ff. 49 Zur Relevanz des Vorhandenseins solcher Persönlichkeitsstrukturen vgl. schon Frisch (Fn. 46), Prognoseentscheidungen, S. 72 ff.; ders., ZStW 102 (1990), 343, 373 ff. 50 Zu diesem Verfahren zur Gewährleistung wechselseitig fairer Lösungen vgl. Rawls (Fn. 29), Gerechtigkeit, S. 29, 36, 159 ff. 51 Zu solchen Fällen schon Frisch (Fn. 46), Progonoseentscheidungen, S. 161 ff.

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sächliche Richtung auszugehen. Hier muss eine vernünftige Lösung vielmehr – differenzierend – anders verfahren. Wo z.B. nicht sofort auf unsicherer Basis entschieden werden muss und weiterer Erkenntnisgewinn möglich erscheint, besteht die vernünftige Lösung darin, die Entscheidung so lange offen zu halten, wie dies rechtlich möglich ist. Die Institutionen der vorbehaltenen und der nachträglichen Sicherungsverwahrung52 entsprechen vor diesem Hintergrund im Ansatz53 durchaus Vernunfterwägungen – dass sie so lange nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wurden, hat damit zu tun, dass man solche im spezialpräventiven Jugendstrafrecht durchaus geläufige Verfahrensweisen54 nicht auf das Recht der Maßnahmen gegen Erwachsene übertrug.55 Stellen sich im Rahmen einer solchen die Entscheidung offen haltenden Vorgehensweise Erkenntnisse ein, die es rechtfertigen, nunmehr in tatsächlicher Hinsicht aus Vernunftgründen von einer bestimmten weiteren Entwicklung auszugehen, so gilt für das Weitere das schon Gesagte. Fehlt es dagegen an solchen Erkenntnissen, erscheint die weitere Entwicklung vielmehr nach wie vor offen,56 so kann vernünftigerweise nur noch eine rein normative Entscheidung helfen.57 Die zentrale Frage ist dann, welche Entscheidung – Anordnung der vorbeugenden Maßnahme oder Nichtanordnung – bei Offenheit der zukünftigen Entwicklung mit Rechtsprinzipien besser vereinbar ist. Da mit der Offenheit der zukünftigen Entwicklung zugleich Zweifel am Vorliegen der Voraussetzungen bestehen, auf die sich die Legitimation der vorbeugenden Maßnahmen gründet, liegt die rechtsprinzipiell vorzugswürdige Lösung hier im Verzicht auf die Anordnung einer vorbeugenden Maßnahme.58

___________ 52 Vgl. §§ 66a und 66b des StGB, die ihrerseits entsprechende Vorläufer im Landesrecht hatten; siehe dazu z.B. Würtenberger/Sydow, NVwZ 2001, 1201 ff. 53 Ob sie im Übrigen hinreichend durchdacht und normativ adäquat sind, ist eine andere Frage, deren Beantwortung hier nicht geleistet werden kann. 54 Vgl. das Institut der Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe zur Bewährung in den §§ 27 ff. JGG. 55 Auch Fehlvorstellungen über die Rechtskraft, die bei präventiv gerichteten Entscheidungen ganz anders zu bestimmen ist als bei retrospektiv orientierten (zutreffend, aber oft übersehen, schon Henkel, ZStW 59 [1939], 167, 183 ff., insbes.186 ff.), spielten lange Zeit eine Rolle. 56 Entsprechendes gilt natürlich, wenn die Möglichkeit, die Entscheidung aufzuschieben, von vornherein nicht in Betracht kommt. 57 Siehe dazu schon Frisch (Fn. 46), Prognoseentscheidungen, S. 49 ff., 161 ff. 58 Näher Frisch (Fn. 46), Prognoseentscheidungen, S. 49 ff., 161 ff.

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IV. Unvollständiges und wissenschaftlich nicht abgesichertes Wissen im Bereich der Kausalität Die bisherigen Überlegungen und Beispiele mögen den Eindruck erwecken, der rationale Umgang mit dem Fehlen empirisch gesicherten Wissens im Strafrecht sei vor allem ein Problem der Grundlagen des Strafrechts und der Rechtsfolgenentscheidungen. Davon kann keine Rede sein. Auch bei manchen anderen Fragen gilt es, trotz Fehlens sicheren empirischen Wissens zu rechtlich akzeptablen Lösungen zu gelangen. Beispiele dafür finden sich vor allem im Bereich der Kausalität oder – in der gesetzlichen Formulierung – der Verursachung.59 1. An sich setzt das Vorhandensein von Kausalität zwischen einem bestimmten Verhalten und dem Eintritt eines nachfolgenden Ereignisses das Bestehen eines dieses Verhalten mit dem Ereignis verknüpfenden Kausalgesetzes voraus.60 Ein Verhalten ist dann kausal für den Eintritt eines Erfolgs, wenn es im Rahmen eines Kausalgesetzes eine Bedingung für den Eintritt dieses Ereignisses bildet.61 Es ist leicht zu sehen, dass es längst nicht in allen Fällen möglich ist, die Kausalität eines Verhaltens auf diese anspruchsvolle Weise zu ermitteln. Die danach eigentlich erforderliche Formulierung des Kausalgesetzes, nach dem das Verhalten unter ganz bestimmten Randbedingungen mit einem bestimmten Ereignis verbunden ist (samt Feststellung aller danach erforderlichen Randbedingungen), würde den Rechtsanwender vor allem bei komplexen Sachverhalten nicht selten überfordern. Erst recht käme er in Verlegenheit, wenn er die empirische Abgesichertheit eines solchen komplexen Kausalgesetzes belegen sollte. Schon in Fällen, in denen sich das Kausalgesetz letztlich mit Mühe formulieren und als gesichert belegen lässt, bedarf es für die Zwecke der Praxis somit einer Umschreibung der Kausalität, die rechtspraktisch leichter umzusetzen ist und doch den Anforderungen der praktischen Vernunft genügt.62

___________ 59 Ein weiteres bekanntes Beispiel bilden die Unklarheiten im Bereich des hypothetischen rechtmäßigen Alternativverhaltens, die bekanntlich auch normativ gelöst werden. 60 Zum Folgenden grundlegend Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 21 ff.; eingehende Darlegungen und Überblick bei NKStGB/Puppe, 2. Aufl. 2005, Vor § 13 Rn. 80 ff.; SK-StGB/Rudolphi (Fn. 17), Vor § 1 Rn. 41 f. je m.w.N. 61 Präzisierend i.S. einer notwendigen Bedingung innerhalb einer hinreichenden Bedingung NK-StGB/Puppe (Fn. 60), Rn. 80 ff. 62 Siehe dazu und zum Folgenden Frisch, Die Conditio-Formel: Anweisung zur Tatsachenfeststellung oder normative Aussage?, FS Gössel, 2002, S. 51, 65 ff.

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Die altbekannte Conditio-Formel erfüllt diese Anforderungen der Rechtspraxis (bei einer minimalen Ungenauigkeitsquote63) geradezu musterhaft: Die Frage, ob im zu beurteilenden Fall eine bestimmte Folge auch ohne das Verhalten eingetreten wäre, ist anhand eines Vergleichs auf der Basis allgemeiner Lebenserfahrung meist leicht zu beantworten. Und ebenso leuchtet es aus der Perspektive der praktischen Vernunft ein, Kausalität als gegeben anzusehen, wenn eine bestimmte Folge ohne das entsprechende Verhalten auf der Basis intersubjektiv vorhandener Lebenserfahrung entfallen würde. Dann hat es eben etwas mit dem Verhalten zu tun, dass der Erfolg eingetreten ist. Kein Wunder also, dass sich dieser Ansatz trotz aller Angriffe der „reinen Lehre“ selbst dort ungebrochen halten konnte, wo es mit einiger Mühe durchaus möglich wäre, die Kausalgesetze zu formulieren und in einer wissenschaftlichen Anforderungen genügenden Weise zu belegen.64 2. Freilich hat der Rechtsanwender die Kausalitätsfrage nicht nur dort zu beantworten, wo sich – wenn auch mit einiger Mühe – Kausalgesetze mit allen Einzelheiten formulieren und wissenschaftlich exakt belegen lassen. Die Frage nach der Kausalität oder „Verursachung“ ist nach dem Gesetz (oder entsprechenden Interpretationen des Gesetzes65) auch dort zu beantworten, wo sich Kausalgesetze nicht formulieren lassen – sei es, dass dies aus prinzipiellen Gründen so ist, sei es, dass sich doch jedenfalls derzeit ein Kausalgesetz mit exakt formulierten Bedingungen wissenschaftlich abgesichert nicht angeben lässt. Ein Beispiel für das Erstere bildet der Bereich der so genannten psychischen Kausalität:66 Wir sind prinzipiell nicht in der Lage, ein wissenschaftlich abgesichertes Kausalgesetz zu formulieren, das exakt angibt, unter welchen Bedingungen ein bestimmtes Verhalten der einen Person (z.B. ein Zuruf, eine Bitte) eine andere Person dazu veranlassen wird, sich zu einer Straftat zu entschließen. Und doch soll der Rechtsanwender im Rahmen der Anstiftung feststellen, ___________ 63 Siehe dazu und den zu ihrer Behebung vorgenommenen Verbesserungen näher Frisch, FS Gössel (Fn. 62) , S. 51, 52 ff. 64 Auch in der Philosophie und der Wissenschaftstheorie finden sich durchaus entsprechende Formulierungen; vgl. etwa die Nachweise bei Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Band 1 Teil D: Erklärung, Begründung, Kausalität, 2. Aufl. 1983, S. 584 ff. (zu J. St. Mill und Hume). 65 So wenn z.B. bei der „Tötung“ die Verursachung eines Todeserfolgs oder beim „Bestimmen“ im Rahmen der Anstiftung eine Verursachung des Entschlusses des Angestifteten gefordert wird. 66 Zur begrifflichen Erfassung und zur Feststellung der psychischen Kausalität näher insbesondere Engisch, Das Problem der psychischen Kausalität beim Betrug, FS H. von Weber, 1963, S. 247 ff.; Bernsmann, ARSP 82, S. 536 ff.; Puppe, ZStW 95 (1983), 286, 297; dies., JR 1994, 515; ferner NK-StGB/Puppe (Fn. 60), Vor § 13 Rn. 125 ff.; Koriath, Kausalität, Bedingungstheorie und psychische Kausalität, 1988, S. 217 ff.

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ob das Handeln des einen den Entschluss des anderen verursacht hat. Aber nicht nur im Bereich der psychischen Kausalität fehlt es uns an ganz exakten und gesicherten Gesetzmäßigkeiten, die wir zur Feststellung der Kausalität benötigten, wenn wir dafür die Möglichkeit der Angabe exakter, wissenschaftlich gesicherter Kausalgesetze forderten. Auch im Bereich der physischen Kausalität kann die Feststellung der Kausalität über das Erfordernis eines das Verhalten und bestimmte Ereignisse verbindenden Kausalgesetzes Schwierigkeiten bereiten. Bekannte Beispiele bilden die Fälle, in denen es im Anschluss an die Einnahme bestimmter Medikamente oder die Verwendung chemischer Produkte zu pathologischen Erscheinungen bei den Arzneimittel- oder Produktbenutzern gekommen ist.67 Trotz des gehäuften Auftretens übereinstimmender Phänomene im Anschluss an die Benutzung ist es hier unter Umständen noch nicht einmal möglich, die für den Eintritt der Ereignisse möglicherweise verantwortliche Substanz genau zu benennen – erst recht ist der Versuch der Formulierung eines wissenschaftlich abgesicherten vollständigen Kausalgesetzes mit allen Randbedingungen hier unmöglich. Soll damit in all diesen Fällen wegen der Unmöglichkeit der Formulierung solcher wissenschaftlich abgesicherter Gesetze die Kausalität von vornherein zu verneinen sein?68 Die Rechtsprechung weigert sich, so zu verfahren.69 Sie ersetzt die Anforderungen der „reinen Lehre“ durch solche, die aus ihrer Sicht den Erfordernissen der praktischen Vernunft besser gerecht werden und die eher als die Anforderungen der „reinen Lehre“ zu akzeptanzfähigen Entscheidungen führen. Im Bereich der psychischen Kausalität genügt es etwa und muss es sinnvollerweise auch genügen,70 wenn der, der eine bestimmte Straftat begangen hat, selbst davon ausgeht (und das dann auch bekundet), dass es die Aufforderung des anderen war, die ihn zum Entschluss veranlasst hat, die Straftat zu begehen, und dass er die Tat ohne diese Aufforderung nicht begangen hätte. Kein vernünftiger Mensch würde es akzeptieren, wenn der Rechtsanwender in solchen und ___________ 67

Vgl. etwa den „Lederspray-Fall“ BGHSt 37, 106 = JR 1992, 27 m. Anm. Puppe, a.a.O.; Kuhlen, NStZ 1990, 566 ff. und Samson, StV 1991, 182 ff.; siehe auch den „Holzschutzmittel-Fall“ BGHSt 41, 206 = NJW 1995, 2930 = JZ 1996, 315 m. Anm. Puppe, aaO und Volk, NStZ 1996, 105 ff.; siehe zuvor schon im Zusammenhang mit den Contergan-Fällen LG Aachen JZ 1971, 507 ff. und dazu Armin Kaufmann, JZ 1971, 572 ff.; und Maiwald (Fn. 16), Kausalität, S. 106 ff. 68 In diesem Sinne – mit unterschiedlichen Begründungen – in der Tat Armin Kaufmann, JZ 1971, 572 ff.; NK-StGB/Puppe (Fn. 60), Vor § 13 Rn. 86; dies., JR 1992, 31 und JZ 1996, 319; Samson, StV 1991, 182, 183; Volk, NStZ 1996, 105, 108. 69 Vgl. insbesondere BGHSt 37, 106, 112 f. und die Ausführungen in BGHSt 41, 206, 215 f. 70 Übrigens auch den Anhängern der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung, die für den Bereich der psychischen Kausalität regelmäßig eine Ausnahme von der Maßgeblichkeit der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung vorsehen; vgl. z.B. NKStGB/Puppe (Fn. 60),Vor § 13 Rn. 125 ff., insbes. 131 f.

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ähnlichen Fällen die Kausalität der Aufforderung des anderen mit Rücksicht auf die Unmöglichkeit der Formulierung eines wissenschaftlich abgesicherten Kausalgesetzes verneinen würde. Als durch den Handelnden „verursacht“ oder „bestimmt“ gilt hier also das, wofür dessen Handeln aus der Sicht praktischer Vernunft als Bedingung erscheint. – In ganz ähnlicher Weise bedarf es offenbar einer Anpassung der Anforderungen an die Kausalität an das aus der Sicht der Vernunft für praktisches Handeln (des Rechtsanwenders) Ausreichende im zweiten Beispiel: Kommt es in den Fällen der Benutzung bestimmter Arzneimittel oder Produkte im Anschluss an solches Verhalten statistisch deutlich überhöht zu pathologischen Erscheinungen, so spricht das zunächst einmal dafür, dass es hier eine kausale Gesetzmäßigkeit gibt71 – auch wenn sich diese noch nicht exakt formulieren und wissenschaftlich (z.B. durch Experimente) belegen lässt. Natürlich ist damit noch nicht ausgeschlossen, dass der Eintritt der entsprechenden Erscheinungen im Einzelfall eine andere Ursache haben kann.72 Aber wenn sich auch dies ausschließen lässt, weil die entsprechenden Erscheinungen bei einer Person regelmäßig, aber auch immer nur im Zusammenhang mit der Verwendung des Produkts aufgetreten sind,73 wir also für den Eintritt der Erscheinungen keinen anderen vernünftigen erklärenden Grund angeben können, liegt es für die praktisches Handeln leitende Vernunft nahe, dies zur rechtspraktischen Feststellung der Kausalität (anders als für wissenschaftliches Beweisen) ausreichen zu lassen.74 Denn mit der Erfüllung dieser Voraussetzungen genügt die Feststellung eines Bedingungszusammenhangs zwischen Handlung und Erfolg allgemeinen Anforderungen, die wir auch sonst für die Feststellung rechtlich relevanter Sachverhalte ausreichen lassen.75 Bedenklich und angreifbar wäre diese von der Rechtsprechung denn auch praktizierte, in

___________ 71 Für die Wirkung von Thalidomid im so genannten Contergan-Verfahren insoweit übereinstimmend Maiwald (Fn. 16), Kausalität, S. 93. 72 Vgl. etwa den Hinweis von Maiwald (Fn. 16), Kausalität, S. 93, wonach die in den Contergan-Fällen in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1958 und 1962 in mindestens 845 Fällen aufgetretenen Missbildungen vereinzelt auch schon zuvor aufgetreten waren, freilich in einer Häufigkeit von 1:4.000.000. 73 So lag es offenbar im „Lederspray-Fall“, BGHSt 37, 106, 112 f.; anders dagegen im „Holzschutzmittel-Fall“, BGHSt 41, 206, 215, in dem es um heterogene Beschwerden ohne vergleichbare zeitliche Zuordnung ging. 74 Übereinstimmend SK-StGB/Rudolphi (Fn. 17), Vor § 1 Rn. 42c; Beulke/Bachmann, JuS 1992, 737; Erb, JuS 1994, 449, 452 f.; Kuhlen, NStZ 1990, 566, 567; Wohlers, JuS 1995, 1019, 1024 m.w.N.; schwankend dagegen Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 16. 75 Nämlich dem Hypothesenausschlussverfahren, das als Verfahren der praktischen Vernunft auch sonst zur Tatsachenfeststellung benutzt wird; vgl. dazu näher Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. 1960, S. 60 ff., 75 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl. 2006, S. 91 ff.; weit. Nachw. in Fn. 86.

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der Literatur aber zum Teil abgelehnte76 Vorgehensweise nur, wenn sie mit dem Gesetzesbegriff der Verursachung nicht vereinbar oder inadäquat sein sollte, wenn sie die Anforderungen an den Nachweis der Verursachung zu sehr absenken oder den Rechtsanwender zu problematischen Feststellungen (über die Verursachung) zwingen würde. Ich glaube nicht, dass das der Fall ist. Auch die der skizzierten Sicht folgende Rechtsprechung geht davon aus, dass ein Verursachungszusammenhang zwischen der fraglichen Handlung und dem Erfolg nur dann besteht, wenn die Handlung eine Bedingung für den Erfolgseintritt darstellt. Sie hält damit an dem fest, was seit langem als Grundvoraussetzung eines Verursachungszusammenhangs angesehen wird. Sie und der ihr zustimmende Teil der Lehre verzichten nur darauf, schon in die Definition dieses Ursachenzusammenhangs auch noch aufzunehmen, dass als Bedingungen im Sinne eines derartigen Ursachenzusammenhangs nur solche Ereignisse zählen, die mit dem eingetretenen Erfolg nach wissenschaftlich anerkannten Gesetzmäßigkeiten verbunden sind.77 Damit wird weder der vom Gesetz alltagssprachlich verwendete Begriff der „Verursachung“ verkürzt – denn diesem ist die Einengung auf Bedingungen, die als Teile von Gesetzmäßigkeiten ausgewiesen (und dann auch als solche festzustellen!) sind, eher fremd. Noch wird damit eine Auslegung gewählt, die normativ inadäquat ist – im Gegenteil: Bei Zugrundelegung einer solchen Sicht bleiben die Gesetzmäßigkeiten der Natur das, was sie auch sonst sind, nämlich Mittel zur Feststellung der normativ bedeutsamen Tatsachen.78 Zugleich eröffnet eine solche Sicht aber auch die Möglichkeit, den Ursachenzusammenhang gegebenenfalls auf einfachere Weise als durch den Nachweis einer Gesetzmäßigkeit und der Erfüllung ihrer Bedingungen im Einzelfall festzustellen. Und sie ermöglicht es überdies, auch dort zur Feststellung eines Ursachenzusammenhangs zu kommen, wo wir Gesetzmäßigkeitszusammenhänge nicht (oder noch nicht) formulieren können, die Qualität eines Verhaltens als Bedingung des Erfolgseintritts im zu beurteilenden Fall ___________ 76 Vgl. etwa – mit unterschiedlichen Begründungen – Armin Kaufmann, JZ 1971, 572 ff. (gegen ihn mit Recht Maiwald [Fn. 16], Kausalität, S. 107 f.); Hamm, StV 1997, 157 ff.; Hassemer, Produktverantwortung im modernen Strafrecht, 2. Aufl. 1996, S. 27 ff., 49 f.; Puppe, JR 1992, 30, 31; dies., JZ 1992, 1147, 1148 f. (siehe freilich auch S. 1150 f. zum Beweis); dies., JZ 1996, 319; Samson, StV 1991, 182, 183; Volk, NStZ 1996, 105, 108 ff.; auch Maiwald (Fn. 16), Kausalität, S. 108 f. scheint dieser Auffassung (allerdings in der Auseinandersetzung mit der Contergan-Entscheidung, nicht mit der Rechtsprechung des BGH) zuzuneigen. 77 Hierauf läuft sachlich jene Auffassung der Literatur hinaus, die den vom Gesetz geforderten Ursachenzusammenhang über die Qualität des Verhaltens als gesetzmäßige Bedingung in einem Verhalten und Erfolg verbindenden Naturgesetz definiert (ohne dass es freilich deshalb notwendig wäre, die Naturgesetze selbst als Teile des gesetzlichen Obersatzes zu verstehen, wie dies Armin Kaufmann, JZ 1971, 572, 573 meint). 78 Hier also des Bedingungszusammenhangs, der sich durchaus normativ sinnvoll auch im Sinne der Conditio-Formel fassen lässt.

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aber durch andere, für die praktische Vernunft einsichtige und ausreichende Verfahren belegt werden kann. Die Sichtweise der Rechtsprechung, die den Nachweis der Qualität eines Verhaltens als Bedingung für den Erfolgseintritt über den Aufweis des Vorkommens dieses Verhaltens (oder seiner unmittelbaren Folgen79) als Bedingung des Erfolgseintritts in einer anerkannten Gesetzmäßigkeit hinaus erweitert, sorgt mit dieser Erweiterung dafür, dass die praktische Rechtsanwendung im Einklang mit Einsichten der praktischen Vernunft bleiben kann. Weil die Feststellung der Bedingungsqualität des Verhaltens im Einzelfall auch in anderer Weise als durch den Aufweis einer anerkannten Gesetzmäßigkeit erfolgen kann, ist der Rechtsanwender zudem nicht gezwungen, etwas zu tun, was der verehrte Jubilar – mit Recht – für problematisch hält: einen gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg festzustellen, obwohl die Fachwissenschaft ein entsprechendes Gesetz nicht (oder noch nicht) benennen kann.80 Der Rechtsanwender kann sich auf die Feststellung beschränken, dass das Recht hier nach seinen Maßstäben – ohne damit Aussagen über Gesetzmäßigkeiten zu treffen – einen normativ ausreichenden Zusammenhang als gegeben erachtet.81 Denn das Recht widerspricht den Fachwissenschaften nicht und ergreift auch nicht Partei, wenn es seine Aussagen über einen ausreichenden Zusammenhang zwischen Handlungen und eingetretenen Erfolgen vom Gegebensein eines gesicherten Gesetzmäßigkeitszusammenhangs löst und schon dann bejaht, wenn der Zusammenhang im Einzelfall aus Einsichten der praktischen Vernunft gewährleistet erscheint.82 Es trägt mit solchem Vorgehen vielmehr nur dem Umstand Rechnung, dass es seine Akzeptanzfähigkeit zu verlieren droht, wenn es sich bei seinen Konstruktionen Einsichten der praktischen Vernunft verschließt. ___________ 79

Wie der Verfügbarkeit des Medikaments oder des Produkts in der Hand des Benut-

zers. 80

Vgl. Maiwald (Fn. 16), Kausalität, S. 108 f. Dass es um einen normativ ausreichenden Zusammenhang geht (der keineswegs einfach von vornherein mit einem Zusammenhang im Sinne der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung, also der Qualität des Verhaltens als Bedingung in einer zum Erfolg führenden wissenschaftlich anerkannten Gesetzmäßigkeit gleichgesetzt werden darf), betont mit Recht auch Kuhlen, NStZ 1990, 566, 567. Ein normatives Problem ist dabei nicht nur die adäquate materiell-rechtliche Definition (siehe dazu den vorherigen Absatz), sondern auch die (prozessuale) Frage des hinreichenden Beweises des Zusammenhangs. Dabei muss hier offen bleiben, ob die herkömmliche Trennung nicht in Wahrheit ein einheitliches Ganzes künstlich aufteilt und es letztlich darum geht, ob das, was vorliegt und bestimmten Anforderungen gerecht wird (z.B. die nach den Regeln praktischer Vernunft einzige plausible Erklärung zu sein), schon der ausreichende Zusammenhang ist (und nicht nur einen davon unabhängig gedachten Sachverhalt beweist). 82 Übereinstimmend Kuhlen, NStZ 1990, 566, 567. 81

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Was man ihm möglicherweise vorwerfen könnte, ist etwas anderes: dass es, indem es praktischer Vernunft folgt und auf Akzeptanzfähigkeit bedacht ist, die Anforderungen an die Feststellung eines Ursachenzusammenhangs zu sehr absenke83 (und damit ein zu großes Fehlverurteilungsrisiko enthalte). Doch trägt auch dieses Bedenken letztlich nicht. Im Bereich der psychischen Kausalität, für die sich Naturgesetzmäßigkeiten schon aus prinzipiellen Gründen nicht formulieren lassen dürften, ist die Ablösung der Ursächlichkeitsfeststellung von sie belegenden Naturgesetzmäßigkeiten ohne Alternative – hier muss es, wenn man psychische Ursächlichkeit überhaupt anerkennt, genügen, dass die Ursächlichkeit auf eine andere Weise (etwa durch die Bekundung einer Person über die Entstehung ihres Entschlusses) belegt ist.84 Aber auch in prinzipiell den Kausalgesetzen unterliegenden Bereichen beinhaltet das geschilderte Verfahren der Rechtsprechung keine problematische Absenkung der Anforderungen an die Feststellung von Ursachenzusammenhängen. Das von der Rechtsprechung praktizierte Hypothesenausschlussverfahren, in dem belegt wird, dass die fragliche Handlung (oder eine ihrer Folgen) die einzige in Betracht kommende Erklärung für den Erfolgseintritt ist, andere erklärbare Hypothesen also praktisch ausgeschlossen erscheinen, bildet nicht etwa ein problematisches Sonderverfahren zur Aufarbeitung der hier interessierenden Fallkonstellationen.85 Es ist – ganz im Gegenteil – das Verfahren, das allgemein zur forensischen Feststellung rechtlich relevanter Sachverhalte, insbesondere auch der Begehung einer bestimmten Tat durch eine bestimmte Person, verwendet wird.86 Von einer problematischen Absenkung der Feststellungsanforderungen an den Ursachenzusammenhang kann damit keine Rede sein – zumal der zur Erklärung herangezogene „Kandidat“ (anders als sonstige im Ausschlussverfahren bestätigte) Hypothesen nicht nur eine bloße Möglichkeit verkörpert, sondern bereits selbst mit relativ hoher statistischer Wahrscheinlichkeit als Ursache in Betracht kommt. Die Nichtannahme des Ursachenzusammenhangs in Fällen, in denen nach den Maßstäben der praktischen Vernunft alles für das Gegebensein eines Ursachenzusammenhangs spricht, würde damit im Gegenteil zu Brüchen im Recht führen, weil sie im Kontext des Ursachenzusammenhangs ein Verfahren ___________ 83

In diese Richtung zielen wohl die Kritik von Volk, NStZ 1996, 105, 108 ff. und die skeptischen Erwägungen von Roxin (Fn. 74), Strafrecht AT I, § 11 Rn. 16. 84 Bezeichnenderweise machen denn auch die Vertreter der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung hier eine Ausnahme (vgl. z.B. NK-StGB/Puppe [Fn. 60], Vor § 13 Rn. 125 ff., insbes. 131 f.). 85 Diesen Eindruck erweckt die Kritik von Volk, NStZ 1996, 105, 108 f. 86 Grundlegend zum Hypothesenausschlussverfahren als Verfahren zur Feststellung jener Sachverhalte, von denen nach materiellem Recht (d.h. den insoweit maßgeblichen Obersätzen) der Eintritt der rechtlichen Folgen abhängt, Engisch (Fn. 75), Logische Studien, S. 60 ff., 75 ff.; Zippelius (Fn. 75), Juristische Methodenlehre, S. 91 ff.; siehe auch schon Glaser, Handbuch des Strafprozesses I, 1883, S. 743 ff. und allgemeiner Sigwart, Logik II, 4. Aufl. 1911, S. 623 sowie V. Kraft, Erkenntnislehre, 1960, S. 246 ff.

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zum Nachweis nicht ausreichen ließe, das im Übrigen allgemein als völlig ausreichend angesehen wird.

V. Zusammenfassung und Ausblick Auch im Strafrecht der Wissensgesellschaft müssen nach allem noch immer eine Fülle von Entscheidungen auf der Basis unvollständigen Wissens, relativen Nichtwissens oder doch jedenfalls ohne die Möglichkeit des Rückgriffs auf wissenschaftlich abgesichertes empirisches Wissen getroffen werden. Grundfragen des Strafrechts sind davon ebenso betroffen wie zahlreiche Fragen der Rechtsanwendung im Einzelfall. Ich vermute, dass das in anderen Rechtsgebieten kaum anders ist. Gemessen an dieser Vielzahl und Bedeutung von Entscheidungen auf der Basis von unvollständigem, unsicherem oder doch jedenfalls wissenschaftlich nicht gesichertem Wissen lässt die gezielte Beschäftigung der Rechtswissenschaft mit dieser Art von Entscheidungen zu wünschen übrig. Die Art und Weise, in der das Strafrecht auf das Fehlen empirisch abgesicherten Wissens reagiert, ist unterschiedlich (ohne dass die vorstehend erörterten Beispiele insoweit einen umfassenden Überblick böten). Zum Teil begnügt man sich bei Fehlen empirisch abgesicherten Wissens mit weicheren Daten, etwa der Verknüpfung von analytischen Einsichten und allgemeiner Lebenserfahrung, um von dem, was nicht abgesichert ist, ausgehen zu können.87 Ganz entsprechend lässt man auf der Ebene der Rechtsanwendung bei fehlendem empirisch abgesicherten Wissen Argumentationen ausreichen, die zwar nicht auf wissenschaftlich Bewiesenes aufbauen, aber doch den Erfordernissen der praktischen Vernunft genügen.88 Zwischen konkurrierenden tatsächlichen Alternativen wird nicht selten danach entschieden, welche Alternative mit allgemeinem Erfahrungswissen besser vereinbar ist.89 In anderen Fällen ist die Entscheidung zwischen konkurrierenden Hypothesen ganz deutlich von normativen Erwägungen geleitet.90 Bisweilen kommt es bei völliger Offenheit auch gar nicht mehr zu einer Entscheidung zwischen empiriegeleiteten Alternativen, wird vielmehr auf die empirische Offenheit direkt mit einer normativen Lösung reagiert.91 Auf diese Weise kann es zum Entwurf umfangreicher normativer Systeme92 kommen, um Fragen zu beantworten, die sich auf der Basis empiri___________ 87

Vgl. dazu oben II. 1 (Notwendigkeit des Strafrechts). Vgl. dazu das unter IV. zur Kausalität Gesagte. 89 Vgl. oben III. 2. (nach Fn. 47) und IV. 2. 90 So beim Aufbau des Strafrechts auf Willensfreiheit und Schuldfähigkeit, oben II. 2., ebenso bei völlig offenen Verläufen im Maßnahmenrecht, oben III. 2. a.E. 91 So bei der Zumessung der Strafe, vgl. oben III. 1. 92 Etwa in Gestalt eines ausdifferenzierten normativen Systems der Strafzumessung. 88

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schen Wissens überhaupt nicht beantworten lassen. Andere Verfahrensweisen, die trotz unvollständigen Wissens sachgerechte Lösungen ermöglichen, sind erfahrungsgeleitete Verfahren von „trial and error“.93 Aber auch die rationale Einsicht, dass man nicht auf der Basis unsicheren Wissens entscheiden sollte, wenn dies nicht unbedingt geboten ist, spielt immer wieder eine Rolle.94 Das Recht hat nach allem weithin auch ohne verfügbares empirisch gesichertes Wissen Regeln zu entwerfen und zu entscheiden. Es folgt dabei allgemeineren Erfahrungseinsichten und den Regeln der praktischen Vernunft; empirische Lücken und Defizite werden nicht selten durch normative Lösungen kompensiert. Empirisch gesichertes Wissen ist also nicht etwa ein unverzichtbares Element, um zu sachgerechten rechtlichen Lösungen und Entscheidungen zu gelangen. Seine Bedeutung liegt vielmehr darin, dass es unter Umständen bestimmte Lösungen ausscheidet – denn es wäre unvernünftig, rechtliche Lösungen zu entwerfen und zu praktizieren, die gesichertem empirischem Wissen zuwider laufen. Außerdem eröffnet es neue Gestaltungsmöglichkeiten, mit denen sich das Recht aus den verschiedensten Gründen befassen muss – angefangen bei möglichen Missbräuchen bis hin zu Möglichkeiten der Nutzung durch das Recht selbst.

___________ 93 94

Vgl. oben IV. 1. (nach Fn. 44). Vgl. oben IV. 2. (nach Fn. 51).

Se ut dominum gerere – Überlegungen zur Renaissance des Zueignungsbegriffs Von Walter Gropp

I. Die Renaissance des Zueignungsbegriffs durch das 6. Strafrechtsreformgesetz von 1998 Manfred Maiwald, dem dieser kleine Beitrag mit den herzlichsten Geburtstagsgrüßen und in aufrichtiger Verbundenheit gewidmet ist, hat mit seiner Habilitationsschrift aus dem Jahre 1970 „Der Zueignungsbegriff im System der Eigentumsdelikte“ die dogmatische Grundlage für den modernen Zueignungsbegriff geschaffen. Mag auch die Auffassung, dass der Diebstahl im Grunde nicht die Wegnahme einer Sache in Zueignungsabsicht, sondern eine Zueignung mittels Wegnahme sei,1 in der Rechtspraxis nicht herrschend geworden sein, so besitzen doch Maiwalds Aussagen zur Zueignung bis heute volle Gültigkeit. Seiner Grundlegung des Zueignungsbegriffs ist dabei mit dem 6. Strafrechtsreformgesetz von 19982 ein ganz besonderes Gewicht zugefallen. Denn nachdem sich die Tathandlung der Unterschlagung in der Neufassung des § 246 StGB nunmehr in der Zueignung erschöpft, ist die Ausfüllung jenes Begriffs die einzige Hoffnung, um dem Grundsatz „nullum crimen sine lege certa“ zumindest in der Größe eines Feigenblattes gerecht zu werden. Nicht zu Unrecht bezeichnet Duttge3 den Zueignungsbegriff deshalb als „Schlüssel“ für eine Wiederherstellung des unterschlagungsspezifischen Unrechtstypus. Die neue Aktualität des Zueignungsbegriffs hat auch Manfred Maiwald keine Ruhe gelassen. In der Festschrift für Hans-Ludwig Schreiber äußert er sich zur Neufassung des § 246 StGB, indem er kritisch hinterfragt, ob die Unterschlagung durch bloße Manifestation des Zueignungswillens begangen werden könne.4 ___________

Herrn Akad. Rat Dr. Pierre Hauck LL.M. (Sussex) danke ich herzlich für anregende Diskussionen zum Thema. 1 Maiwald, Der Zueignungsbegriff im System der Eigentumsdelikte, 1970, S. 172 ff., 177 ff., 183. 2 BGBl. I, S. 164. 3 Duttge, ZIS 2008, 183. 4 Maiwald, FS Schreiber, 2003, S. 315 ff.

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Dabei spielt die Eigentumsanmaßung – das „se ut dominum gerere“ – innerhalb seiner Überlegungen zum Zueignungsbegriff eine zentrale Rolle. Im Rahmen der Befassung mit der Erweiterung der Zueignungstatbestände um die Drittzueignung durch das 6. Strafrechtsreformgesetz wird u. a. die Frage aufgeworfen, ob ein „se ut dominum gerere“ auch dann gegeben ist, wenn der Täter die Sache einem bösgläubigen Dritten zueignen will. Maiwald bejaht diese Frage, nicht jedoch ohne einen diskreten Hinweis auf eine Fundstelle, an welcher sich der Autor dieses Beitrags in solchen Fällen gegen eine Anmaßung des Eigentums ausspricht.5 Ob eine Eigentumsanmaßung begeht, wer die Sache einem bösgläubigen Dritten zueignet, hängt – eine Binsenweisheit – letztlich davon ab, was man unter „Zueignung“ bzw. „se ut dominum gerere“ versteht. Je höher die Anforderungen insoweit sind, desto eher wird man eine Zueignung verneinen müssen. Wer den Begriff der Zueignung hingegen sehr weit fasst und sogar Sachzerstörung und Gebrauchsanmaßung als Eigentumsanmaßung einordnen will,6 für den stellt die Bösgläubigkeit des Empfängers keinerlei Hindernis für die Annahme einer Zueignung dar. Freilich müsste ein so weiter Zueignungsbegriff aber auch auf Zweifel stoßen, weil er jede Benutzung einer fremden Sache zu Täuschungszwecken – man denke nur an den sog. Dienststiefel-Fall7 – zur Zueignung erklären könnte. Die weiteren Überlegungen wenden sich vor diesem Hintergrund zunächst der Frage zu, welchen Ursprungs die Eigentumsanmaßung ist (II. 1.) und welche strukturelle Bedeutung ihr im Rahmen der Zueignungsdelikte zukommt (II. 2.). Auf dieser Grundlage kann dann erörtert werden, ob das Anmaßen formal als das Spielen einer Rolle und/oder materiell als das Wahrnehmen von Befugnissen zu verstehen ist (III.). Abschließend wird sich dann die Frage beantworten lassen, ob auch eine Zueignung an einen bösgläubigen Dritten möglich ist (IV.).

___________ 5 Maiwald (Fn. 4), S. 319 Fn. 13: „Es wird davon ausgegangen, dass eine Drittzueignung sowohl dann möglich ist, wenn der Dritte beim Empfang der Sache bösgläubig ist, als auch dann, wenn der Dritte gutgläubig ist; a. A. Gropp, JuS 1999, 1045.“ 6 MK-StGB/Schmitz, § 242 Rn. 107. 7 Näher unten III. 4.; ausführlich dazu Eser, Albin, Zur Zueignungsabsicht beim Diebstahl – OLG Hamm, NJW 1964, 1427, JuS 1964, 477 ff.

Renaissance des Zueignungsbegriffs

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II. Die Eigentumsanmaßung als Bestandteil des Zueignungsbegriffs 1. „Se ut dominum gerere“ – Eine Errungenschaft des späten 19. Jahrhunderts Versucht man zu ergründen, woher die Formulierung „se ut dominum gerere“ stammt, so gibt auch hier wiederum die Habilitationsschrift des Jubilars den Rahmen vor: Zu der aus dem römischen Recht stammenden Gewinnabsicht (contrectatio rei fraudulosa lucri faciendi gratia) tritt der deutsch-rechtliche Gewahrsamsbruch hinzu, wobei beide Elemente durch die Naturrechtslehre in einen systematischen Zusammenhang gestellt und als Eigentumsdelikt klassifiziert wurden.8 Dabei ist die latinisierende Formel „se ut dominum gerere“ nicht römisch-rechtlicher Natur. Für sie scheint vielmehr Franz von Liszt Pate gestanden zu haben, der sie im Zusammenhang mit der Fokussierung des Diebstahls auf die Sachsubstanz eingeführt haben dürfte.9 Allerdings ist in der ersten Auflage 1881 des „Deutschen Reichsstrafrechts“ von Franz von Liszt bezüglich der für den gesamten Zueignungskomplex stehenden Aneignung10 noch schlicht davon die Rede, „dass die Sache, gleichsam als wäre sie Eigentum, den Zwecken des Täters dauernd und ausschließlich dienstbar gemacht wird. Sofortige Vernichtung der Sache ist nicht Aneignung, ebenso wenig vorübergehender Gebrauch derselben.“11 Ab der dritten Auflage 1888 und auch noch in der 25. Auflage 1927 des Lehrbuchs von von Liszt/Schmidt kann man dann aber lesen, die Aneignung setze zwar nicht die dauernde Herrschaft, „wohl aber die völlige eigentümergleiche Beherrschung der Sache (das „se ut dominum gerere“) voraus“.12 Erwähnenswert ist, dass die Eigentumsanmaßung dabei zwar einerseits dazu dient, die Aneignung insgesamt zu beschreiben, jedoch auch gleichzeitig gerade dazu, den bloßen Gebrauch und die bloße Zerstörung aus dem Tatbild des Diebstahls auszuschließen. Damit wird schon an dieser Stelle deutlich, dass der Formel von der Eigentumsanmaßung durchaus eine einschränkende Wirkung zukommt. ___________ 8

Maiwald (Fn. 1), S. 21 ff. Vgl. die Nachweise bei Hauck, Pierre, Drittzueignung und Beteiligung, 2007, S. 148. 10 v. Liszt spricht nur von der Absicht rechtswidriger „Aneignung“ beim Diebstahl. Mit „Enteignung“ und „Zueignung“ wird noch nicht operiert, obwohl schon das Preußische StGB von 1851 in § 215 formuliert: „Einen Diebstahl begeht, wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen.“ 11 v. Liszt, Das Deutsche Reichsstrafrecht, 1881, S. 258. 12 Vgl. v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 3. Aufl. 1888, S. 410; v. Liszt/ Eb. Schmidt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 25. Aufl. 1927, S. 617 f.; näher hierzu Hauck (Fn. 9), S. 148 f. 9

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2. Die Eigentumsanmaßung als typisierendes Element der Zueignungsdelikte a) Ausschluss von Gebrauchsanmaßung und Sachentziehung aus der Zueignung Gegen die Formel von der Eigentumsanmaßung wendet sich eine Auffassung, welche sie für „bestenfalls inhaltsleer“ und somit für verzichtbar hält.13 Diese Aussage stößt auf Verwunderung, wenn man ihre Begründung liest: Auch wer eine Sache zerstöre, geriere sich wie ein Eigentümer, weil nur dieser das Recht dazu habe. Dasselbe gelte für die Gebrauchsanmaßung.14 Damit wird allerdings verkannt, dass der Eigentümer zwar das Recht haben mag, die Sache zu zerstören, dass die mutwillige Zerstörung der Sache aber – im Unterschied zu den Fällen der Nutzung und Verwertung durch Zerstörung wie etwa beim ADAC-Crashtest – nicht ihre typische Verwendung darstellt. Will man nicht die zivilrechtsakzessorische Natur der Zueignungsdelikte als Delikte zum Schutz des Eigentums15 aufgeben, dann stehen die Nutzung und die Verwertung als Rechte des Eigentümers im Vordergrund, nicht aber die mutwillige, in keiner Weise auf die Qualität der Sache bezogene Zerstörung. Letztere als typischen Inhalt des Eigentums betrachten zu wollen, liefe auf eine Pervertierung des Eigentumsgedankens hinaus.16 Das Missverständnis besteht darin, dass zwar einerseits die Zueignung als Kriterium verstanden wird, um die bloße Enteignung (z. B. in Form der Zerstörung) und die bloße Aneignung (in Form der Gebrauchsanmaßung) von der Zueignung abzuschichten, dass andererseits aber übersehen wird, dass diese Abschichtung gerade über die Eigentumsanmaßung erreicht wird. Wer sagt, die Anmaßungsformel sei für den Begriff der Aneignung bzw. Zueignung als Merkmal der Zueignungsdelikte inhaltsleer, gleicht dem Bäcker, der meint, Hefe sei unwichtig, weil man auch ohne Hefe einen Teig bereiten kann, ohne zu bemerken, dass es um die Herstellung eines Hefekuchens geht.

b) Einflechtung einer Herrschaftsbeziehung über die Sache in die Zueignung Gegen die Anmaßungsformel wird weiter eingewandt, sie laufe im Bereich der Unterschlagung auf die konturlose Formel von der Manifestation des Zu___________ 13

MK-StGB/Schmitz, § 242 Rn. 107 mwN. Vgl. MK-StGB/Schmitz, § 242 Rn. 107. 15 Vgl. insofern Maiwald (Fn. 1), S. 80 ff., 86 ff. 16 So Maiwald (Fn. 1), S. 233 f. 14

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eignungswillens als Tathandlung hinaus.17 Dies wäre der Fall, wenn allein die „Äußerung“ der Eigentumsanmaßung Zueignung bedeuten würde. Dann wäre in der Tat die bloße Eigentumsbehauptung bereits die Zueignung.18 Die Zueignung würde sich damit in einem personalen, täterbezogenen Handlungsunwert erschöpfen.19 Dieser Einwand spricht jedoch nicht gegen die Anmaßungsformel. Er zeigt nur, dass es für die Typisierung der Zueignungsdelikte nicht hinreicht, die Anmaßungsformel nur auf die Aneignung zu beziehen. Man kann der befürchteten „Vergeistigung“ der Manifestationsformel entgegenwirken, indem man die Eigentumsanmaßung nicht nur auf die Aneignung, sondern auch auf die Enteignung bezieht und insoweit zumindest die Möglichkeit einer sachentziehenden Einwirkung verlangt, wie dies z. B. von Hauck vertreten wird.20 Für den Diebstahl hat Maiwald diesen Weg durch die Formel von der Zueignung mittels Wegnahme bereits 1970 entwickelt.21 Die Eigentumsanmaßung erstreckt sich – wie bei v. Liszt Ende des 19. Jahrhunderts – auf die die Enteignung einschließende Aneignung bzw. nach moderner Lesart auf die Zueignung als Aneignung und Enteignung insgesamt.22 Diese Wieder-Einbeziehung der Enteignungsseite und damit die Abschwächung der Aneignungsseite liegt durchaus im „Trend“: Nicht zu Unrecht weist Degener darauf hin, dass durch die Einfügung der Drittzueignung durch das 6. Strafrechtsreformgesetz der Diebstahl immer mehr an die auf Dauer gerichtete Sachentziehung heranrückt.23 So besehen ist die auf die Zueignung insgesamt bezogene „se ut dominum gerere-Formel“ gerade ein Instrument zur Begrenzung einer „vergeistigten“ Manifestationsformel, indem auf der Enteignungsseite eine gewisse Herrschaftsbeziehung über die Sache verlangt wird.24 Auch nach der von der Rechtsprechung bevorzugten Formel von der Begründung des „Eigenbesitzes unter Ausschluss des Berechtigten“ wohnt der Anmaßungsformel jener doppelte Bezug zur Aneignung („eigen“) und Enteignung („Besitz“) inne.25 Aber selbst wenn man mit der noch überwiegenden Meinung das Anmaßungselement nur auf die Aneignung bezieht, wird deutlich, dass dem Aneignungselement jene typenbildende Funktion zukommt. ___________ 17

Vgl. Maiwald (Fn. 1), S. 194. Vgl. Ambos, GA 2007, 127 (145). 19 Vgl. Ambos (Fn. 18), 131 Fn. 27. 20 Vgl. Hauck (Fn. 9), S. 195 ff. 21 Vgl. Maiwald (Fn. 1). 22 So zutreffend Hauck (Fn. 9), S. 157. 23 Degener, JZ 2001, 388 (398). 24 Vgl. Sinn, NStZ 2002, 64 (67); Hauck (Fn. 9), S. 156 f., 195 ff. 25 Vgl. auch die Nachweise bei Gropp, Anm. zu Urt. BGH v. 26.9.1984 – 3 StR 367/84, JR 1985, 517 (519 links); ferner BGHSt 14, 38 (43). 18

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Im Ergebnis wird man somit daran festhalten müssen, dass die Eigentumsanmaßung zumindest als formales Element der Zueignung – sei es als Element der Aneignung oder als Element auch der Enteignung – typenbildenden Charakter sowohl für den Diebstahl als auch für die Unterschlagung hat.26

III. „Ut dominum“ – „wie“ oder „als“ Eigentümer? 1. Spielen einer Rolle oder Wahrnehmen von Möglichkeiten? Ob das „se ut dominum gerere“ ausschließlich formal als Spielen einer Rolle oder (zumindest) auch materiell als Wahrnehmen von Möglichkeiten verstanden wird, lässt sich nur schwer erkennen. Stellt man allein auf den Sprachgebrauch ab, wobei auch hier mit Undeutlichkeiten gerechnet werden muss, so finden sich ältere Auffassungen, nach denen das „se ut dominum gerere“ als das Spielen einer Rolle aufgefasst zu werden scheint.27 In jüngeren Beiträgen ist davon die Rede, dass das Zueignungssubjekt faktisch in die Stellung des Eigentümers einrückt und statt diesem die Herrschaft über die Sache ausübt.28 Auch das Abstellen auf den Eigenbesitz, wonach das Zueignungssubjekt die Sache „als ihm gehörend“ (§ 872 BGB) besitzt, könnte in Richtung auf das Innehaben einer Rolle gedeutet werden. Noch deutlicher in diese Richtung geht die Formulierung, nach welcher der Täter sich an die Stelle des Eigentümers setzt und sich als solcher „aufspielt“.29 Die Auffassung vom „se ut dominum gerere“ als Rollenspiel hätte – wie zu zeigen sein wird – einen sehr engen Anwendungsbereich der Zueignungsdelikte zur Folge. Vermutlich ist sie – was die jüngeren Autoren betrifft – aber nicht so eng gemeint, wie sie klingt. Der Bereich des Auftretens „als“ Eigentümer wird verlassen, sobald man mit der herrschenden Meinung formuliert, dass das Zueignungssubjekt materiell „Eigentümerbefugnisse“ wahrnehmen müsse.30 „Se ut dominum gerere“ bedeutete danach die Anmaßung einer eigentümerähnlichen Herrschaftsmacht. Der Täter muss mit der Sache so verfahren wollen, „wie es nur der Eigentümer tun dürfte (‚se ut dominum gerere‘)“.31 Dass es hier nicht um das Etikett „Eigentümer“ geht, sondern um die aus dem Eigentum fließenden Befugnisse, zeigen ___________ 26 Vgl. Gropp, JuS 1999, 1041 (1043); Gropp (Fn. 25), 519 links; Hauck (Fn. 9), S. 146 ff. 27 Vgl. Gropp (Fn. 26), 1043 rechts mwN. 28 Vgl. Ambos (Fn. 18), 131. 29 Vgl. Rönnau, GA 2000, 410 (411). 30 Vgl. Mitsch, Strafrecht BT 2/1, 2. Aufl. 2003, § 1 Rn. 101 ff. mwN; Arzt/Weber, Strafrecht BT. Lehrbuch, 2000, § 13 Rn. 71. 31 Vgl. Eser (Fn. 7), 479 links.

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Formulierungen wie „die tatsächliche Usurpierung der normativ gemäß § 903 S. 1 BGB gewährleisteten Eigentumsinhalte“32. Gemeinsam ist der engen wie der weiten Auffassung, dass die Rechte des Eigentümers vom Zueignungssubjekt missachtet werden. Jedoch reicht diese Missachtung nicht hin, um die Eigentumsanmaßung im Sinne der Zueignungsdelikte zu beschreiben. Denn sie liegt auch in den Fällen vor, in denen ein Gebrauch ohne Enteignung (Gebrauchsanmaßung) bzw. ein Entzug ohne Gebrauch (Zerstörung) gegeben ist. Der Unterschied des Verständnisses von Zueignung als formale Rolle („als“) bzw. als materielle Wahrnehmung von Befugnissen („wie“) lässt sich auch an charakteristischen Fallgruppen deutlich erkennen.

2. Verkaufs- und Schenkungsfälle In den Fällen, in denen die Zueignung durch Verkauf oder Schenkung erfolgt bzw. erfolgen soll, wirkt sich die Auslegung des Zueignungsbegriffs darauf aus, ob der Empfänger gutgläubig sein muss. Denn dem Gutgläubigen gegenüber tritt der Verkäufer oder Schenker „als“ Eigentümer auf. Er spielt die Rolle des Eigentümers. Der Beschenkte hingegen maßt sich kein Eigentum an, er hat nicht einmal einen Vorsatz hinsichtlich des „se ut dominum gerere“. Ist der Empfänger hingegen bösgläubig, dann spielt das Zueignungssubjekt nicht mehr die Rolle des Eigentümers. Es nimmt nur die tatsächlichen Befugnisse eines Eigentümers wahr, handelt wie ein Eigentümer. Hier wäre zunächst zu erwägen, ob ein Verkauf an einen bösgläubigen Dritten zugleich Beihilfe zum Sich-Zueignen des Dritten ist, oder ausschließlich eine Drittzueignung durch den Täter vorliegt. Und weitergehend wäre sogar zu fragen, ob eine Beihilfe zu anderen Sachaneignungsdelikten wie Raub, Sacherpressung oder Sachbetrug zugleich eine täterschaftliche Drittzueignung oder nur Beihilfe in Drittzueignungsabsicht ist.33 Die genannte Problematik ergibt sich nur, wenn man das „se ut dominum gerere“ materiell und nicht als Rollenspiel versteht. Sie ließe sich folglich vermeiden, wenn man dem Zueignungssubjekt die Rolle des Eigentümers zuschreibt. Jedoch würde das Verständnis von der Eigentumsanmaßung als Rollenspiel dem Typus der Zueignungsdelikte ebenso wenig gerecht wie der eingangs erwogene34 völlige Verzicht auf sie. Unterschlagung, Diebstahl und Raub erfordern keine besondere Cleverness vom Täter, keine intellektuelle Leistung. Zu___________ 32

Vgl. Hauck, wistra 2008, 241 (244 mwN). Vgl. Maiwald (Fn. 4), S. 320; Degener (Fn. 23), 392; Rönnau (Fn. 29), 422. 34 Siehe oben II. 2. a). 33

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eignung, Zueignung mittels Wegnahme oder gar Zueignung mittels gewaltsamer Wegnahme sind im Grunde recht primitive Angelegenheiten, die keinerlei schauspielerische Fähigkeiten erfordern. Dies zeigt ein Blick auf die typischen Fallvarianten bei den Zueignungsdelikten, in denen das Zueignungssubjekt dem Opfer „ungeschminkt“ gegenüber tritt.

3. Wegnahme- und Vorenthaltungsfälle Bei Zueignungsdelikten wie Diebstahl oder Raub ist es außerhalb jeder Diskussion, dass ein Auftreten des Zueignungssubjekts „wie“ ein Eigentümer ausreicht. Der „Dieb“ oder „Räuber“ erweckt auch nicht im Entferntesten den Eindruck, Eigentümer zu „sein“. Mag er auch irgendwann einmal Dritten gegenüber eine Rolle als Eigentümer spielen. Zum Zeitpunkt der Tat – mit Maiwald gesprochen zum Zeitpunkt der „Zueignung durch Wegnahme“35 – kann keine Rede davon sein, dass er „als Eigentümer auftritt“. Hingegen kann man formulieren, dass der Täter sich an die Stelle des Eigentümers setzt, die Sache „wie“ ein Eigentümer nutzen bzw. verwerten will. Was für den Ur-Typus des Zueignungsdelikts, die Zueignung durch Wegnahme, gilt, gilt aber auch für Fälle, in denen der Täter kultivierter vorgeht. Nehmen wir an, der Täter habe vom Eigentümer ein Kfz für die Dauer von einer Woche geliehen. Am Ende der Leihfrist weigert er sich, den Wagen zurückzugeben, und fährt stattdessen einen weiteren Monat umher, bis die Reifen abgefahren sind. In diesen Fällen schlägt der vorübergehende Gebrauch in einen Verbrauch und damit in eine Zueignung der Sache um.36 Dabei spielt der Täter nicht die Rolle des Eigentümers, er lässt vielmehr, insbesondere dem Eigentümer gegenüber, nie einen Zweifel daran, dass er nicht Eigentümer ist. Er nimmt aber Befugnisse des Eigentümers wahr, indem er die Sache benutzt und darüber hinaus eigentümertypisch sinnvoll verwertet. Ähnlich liegen die Fälle, in denen der Täter eine Sache des Eigentümers eigenmächtig als Pfand nimmt. Auch dann tritt der Täter nicht „als“ Eigentümer dem wahren Eigentümer gegenüber. Im Hinblick auf eine mögliche Verwertung benimmt er sich hingegen wie ein Eigentümer, worin ebenfalls ein „se ut dominum gerere“ gesehen wird.37 Gleiches gilt für die jüngst von Hauck38 erörterten Fälle der Sicherungsübereignung. Hier sind – neben anderen, zivilrechtsunwirksamen Handlungen – jedenfalls „all diejenigen Realakte gemäß § 946 ff. ___________ 35

Vgl. die Fundstellen bei Maiwald (Fn. 1). Vgl. Schönke/Schröder/Eser, StGB, 27. Auf. 2006, § 242 Rn. 53 mwN. 37 Vgl. Gropp (Fn. 25), 520. 38 Hauck (Fn. 32), 241 ff. 36

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BGB tatbestandsmäßig Zueignungen, durch die der Fiduziar seine Verwertungsbefugnis mitsamt seinem Eigentum rechtswirksam verliert.“39 Es zeigt sich somit, dass es zwar Fälle geben mag, in denen das Zueignungssubjekt „als“ Eigentümer auftritt, notwendig ist dies jedoch nicht, und die Fälle sind nicht einmal typisch für die Zueignungsdelikte. Zueignungsdelikte sind keine heimlichen Delikte. Sie erfordern nicht – wie etwa der Betrug – ein listiges Vorgehen mittels Täuschung. Es genügt folglich, dass sich das Zueignungssubjekt Rechte anmaßt, die sonst nur dem Eigentümer zustehen, dass es sich materiell wie ein Eigentümer gibt. Das Ergebnis lässt im Hinblick auf den viel kritisierten sog. DienststiefelFall40 aufhorchen: Sollte das OLG Hamm, indem es den Soldaten wegen Diebstahls verurteilte, doch Recht gehabt haben?

4. Der Dienststiefel-Fall und sonstige verdeckte und offene Rückgabefälle – Vom „se ut dominum gerere“ zum „lucrum ex negotio cum re“ Im Dienststiefel-Fall konnte ein Bundeswehrsoldat nach Beendigung seiner Dienstzeit die ihm zugeteilten Dienststiefel „XX“ nicht mehr auffinden und zurückgeben. Um sich von Schadensersatzansprüchen zu entlasten, nahm er einem Kameraden heimlich dessen Dienststiefel „YY“ weg und gab sie als „seine“ Dienststiefel zurück. Das OLG Hamm sah darin einen Diebstahl der Stiefel YY. Der Täter habe die Stiefel bei seinem Kameraden weggenommen, um sich den ihnen innewohnenden Wert, sie als die geschuldeten Stiefel „XX“ zurückzugeben, zuzueignen. Unter Zueignungsgesichtspunkten könnte zunächst die Wegnahme beim Kameraden die Tathandlung eines Diebstahls sein. Begreift man den Diebstahlstatbestand als „Zueignung durch Wegnahme“, dann ist eine Eigentumsanmaßung zum Zeitpunkt der Wegnahme erforderlich. Begreift man ihn als „Wegnahme in Zueignungsabsicht“, dann bedarf es einer beabsichtigten Eigentumsanmaßung im Hinblick auf die Rückgabe der Stiefel YY. Da der Soldat nicht behauptete, Eigentümer der Stiefel zu sein, kommt nur eine Anmaßung in Form der Wahrnehmung von Möglichkeiten („wie“ ein Eigentümer) in Frage. Hinsichtlich der Sachsubstanz ist eine Zueignung in jeder Hinsicht zu verneinen, weil der Soldat die Stiefel YY der Bundesrepublik als Eigentümerin nicht auf Dauer vorenthalten wollte. Es fehlt das Element der dauernden Enteignung. ___________ 39

Vgl. Hauck (Fn. 32), 245. OLG Hamm NJW 1964, 1427; umfassend hierzu Eser, Albin, Strafrecht IV, 4. Aufl. 1983, Fall 3 Anmerkung A Rn. 6 ff. 40

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Entschließt man sich nun mit der herrschenden Meinung und unter Vernachlässigung der historischen Dimension41, von der Sachsubstanz auf den Sachwert als Gegenstand der Zueignung überzuwechseln, so käme als Gegenstand der Zueignung das Ersparen von Aufwendungen als Ersatz für die verloren gegangenen Stiefel XX in Frage. Bezüglich dieses Sachwertes läge auch eine Missachtung von Interessen der Bundesrepublik als Eigentümerin der Stiefel XX vor. Allerdings würde es sich dabei um den Wert der verlorenen Stiefel XX handeln, bezüglich derer eine Wegnahme nicht gegeben ist. Es fragt sich aber, ob dieser Wert Gegenstand des Zueignungsdelikts mit den Stiefeln YY als Tatobjekt sein kann. Nun ist die Ersparnis des Ersatzes der verloren gegangenen Stiefel XX ein anderer Wert als derjenige, der den weggenommenen Stiefeln YY spezifisch innewohnt. Man hätte folglich einen Diebstahl zu konstruieren, bei dem der Täter durch Wegnahme der Sache YY sich den Wert der Sache XX zueignet bzw. zuzueignen beabsichtigt. Dies ist nur möglich, wenn der Gegenstand der (beabsichtigten) Zueignung auch ein Wert sein kann, der sich mittels der weggenommenen Sache erzielen lässt. Der fragliche Sachwert ist dann aber nicht mehr der eigentums-spezifische, d. h. der der Sache innewohnende Wert („lucrum ex re“), sondern ein eigentums-unspezifischer Wert in Form der Möglichkeit, eine Sache als Mittel zur Gewinnung von Vermögensvorteilen, z. B. zur Täuschung im Rahmen eines Betrugs, zu gebrauchen („lucrum ex negotio cum re“)42. Die Tathandlung dieses Betruges ist im Dienststiefelfall die Rückgabe der entwendeten Stiefel YY als angeblich geschuldete (Täuschung, Irrtum) Stiefel XX, mit der Folge der Nichtgeltendmachung des Ersatzanspruchs (Vermögensverfügung) für die Stiefel XX und einem darauf beruhenden Vermögensschaden der Bundesrepublik, indem die durch die Vermögensverfügung hervorgerufene Vermögensminderung nicht ausgeglichen wird. Die Anerkennung eines „lucrum ex negotio cum re“ als Gegenstand der Zueignung stößt jedoch zu Recht auf Ablehnung, weil so der Unterschied zwischen der Zueignung einer Sache und dem allgemeinen Erlangen von Vermögensvorteilen verwischt wird.43 Der Dienststiefel-Fall ist somit selbst dann unrichtig entschieden, wenn man das „se ut dominum gerere“-Erfordernis in der Weise interpretiert, dass der Täter sich (hinsichtlich der Stiefel YY) nur „wie“ ein Eigentümer geben muss. Denn bezüglich der Stiefel YY missbraucht er zwar das Eigentum des Bundes, indem er die Stiefel in betrügerischer Weise benutzt. Er missbraucht das Bundeseigentum jedoch nicht in einer Weise, in der er sich spezifische Eigentümerbefugnisse („lucrum ex re“) anmaßt. Dieser Schwachpunkt wird zugedeckt, ___________ 41

Vgl. oben II. 1. Vgl. Eser (Fn. 36), § 242 Rn. 49 mwN. 43 Vgl. Eser (Fn. 42) mwN. 42

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wenn man auch ein „lucrum ex negotio cum re“ als Objekt der Aneignung genügen lassen will.44 Es ist an dieser Stelle freilich zuzugeben, dass es nicht das „se ut dominum gerere“ im Begriff der Zueignung ist, was im Dienststiefel-Fall gegen einen Diebstahl spricht, sondern das fehlende lucrum ex re als Objekt der Zueignung. Damit erweist sich – neben der Eigentumsanmaßung als Bestandteil der Zueignung – die Abschichtung zwischen „lucrum ex re“ als Objekt der Zueignung und „lucrum ex negotio cum re“ als Objekt der Bereicherung als ein weiteres Kriterium, um die objektiven Elemente der Tatbestandsmäßigkeit der Zueignungsdelikte zu beschreiben und zu bestimmen. Ähnlich wie beim Dienststiefel-Fall ist die Situation in sonstigen Fällen zu beurteilen, in denen der Eigentümer durch Vorenthaltung der Sache dazu genötigt wird, für die Rückgabe eine geldwerte Leistung zu erbringen. Auch hier ist diese Leistung nicht der spezifische, der Sache innewohnende Wert, mag die Leistung auch dem Marktwert der Sache entsprechen. Davon zu unterschieden sind jedoch jene Fälle, in denen der Täter „als“ Eigentümer auftritt und dem nichts ahnenden wahren Eigentümer dessen eigene Sache „verkauft“. Die überwiegende Auffassung sieht in der Wegnahme in der Absicht des Rückverkaufs an den zu täuschenden Eigentümer eine Wegnahme in Zueignungsabsicht. Denn hier eigne sich der Täter einen Wert zu, der der Sache als typischer, durch das Eigentum vermittelte Wert innewohnt: die Verwertung durch Verkauf.45 Wenn man jedoch den Verkaufswert als spezifischen Sachwert einordnet, dann kann es keinen Unterschied machen, ob der Täter die Sache wegnimmt, um sie „als“ Eigentümer einem Dritten oder dem wahren Eigentümer zu verkaufen. Bei den verdeckten Rückverkaufsfällen liegt somit ein se ut dominum gerere bezüglich des Sachwertes und damit eine Zueignung vor.

IV. Sich-Zueignung und Drittzueignung Abschließend sei nun ein kurzer Blick auf die Rolle des Anmaßungserfordernisses im Rahmen der Drittzueignungs-Problematik geworfen. Durch die Einfügung des Drittzueignungselementes in die Tatbestände der Zueignungsdelikte wollte der Gesetzgeber Lücken schließen.46 Er hat jedoch zugleich eine neue Welt der Zueignungsdelikte eröffnet.47 Dass sich damit die Gewichte von der Aneignung weg und hin zur Enteignung des Berechtigten ___________ 44

Vgl. aber MK-StGB/Schmitz, § 242 Rn. 131. Vgl. Eser (Fn. 36), § 242 Rn. 50, ders. (Fn. 7), 480. 46 Vgl. BT-Drs. 13/8587, S. 43. 47 Vgl. Maiwald (Fn. 4), S. 315 f.; Hauck (Fn. 9), S. 29 ff. 45

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verschieben, wurde bereits erwähnt.48 Auf weitere Besonderheiten hat der Jubilar in der Festschrift für Schreiber eindrucksvoll aufmerksam gemacht.49 Hier soll nur jener kleine Ausschnitt angesprochen werden, der oben bereits als Frage formuliert worden ist:50 ob der Drittzueignungsempfänger gutgläubig sein muss, damit man eine Eigentumsanmaßung des Zueignungssubjekts annehmen kann. Nachdem es sich ergeben hat, dass das „se ut dominum gerere“-Element als Anmaßung von Eigentümerbefugnissen, d. h. als ein Sichverhalten „wie“ ein Eigentümer zu verstehen ist,51 liegt die Antwort auf der Hand. Es genügt, dass der Drittzueignende Befugnisse wahrnimmt, die sonst nur einem Eigentümer zustehen, dass er die Sache verwertet oder nutzt, indem er sie einem Dritten zueignet. Dazu gehört auch, dass der Täter die Sache einem Dritten verkauft oder verschenkt, weil beides typische Verwertungshandlungen sind, die sonst durch den Eigentümer vorgenommen werden. Was den Dritten betrifft, so ist es indessen gleichgültig, ob der Dritte gut- oder bösgläubig ist. Auch wenn er weiß, dass der Drittzueignende die Sache unterschlägt, indem er sie ihm, dem Dritten, verkauft, ändert dies am Verhalten des Drittzueignenden „wie“ ein Eigentümer nichts. Es ist Manfred Maiwald somit in seiner Aussage in der SchreiberFestschrift52 beizupflichten: Eine Drittzueignung ist auch dann möglich, wenn der Dritte in Bezug auf die Berechtigung des Drittzueignenden bösgläubig ist.53 Eine ganz andere Frage ist es, ob der Dritte nun Täter einer Selbstzueignung ist, zu der der Drittzueignende Beihilfe leistet, oder ob der Drittzueignende Täter einer Drittzueignung ist, oder ob beides möglich ist. Maiwald hat dieser Problematik in der Festschrift für Schreiber weiten Raum eingeräumt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass beide Beteiligungsformen nebeneinander bestehen können. Pierre Hauck hat in seiner Dissertation mit dem Titel „Drittzueignung und Beteiligung“ einer Lösung den Vorzug gegeben, bei der Täterschaftsund Teilnahmemaßstäbe auf das Verhältnis von Drittzueignung des Täters und Selbstzueignung des Dritten projiziert werden. Hauck kommt zu dem Ergebnis, dass die direkte Einwirkungsmöglichkeit des Zueignungssubjekts und die Zuordnung der Zueignung zum Dritten durch den Drittzueignenden für eine täterschaftliche Drittzueignung sprechen. Im Falle der Einverleibung der Sache durch den Dritten soll hingegen eine Beihilfe zu dessen Selbstzueignung gegeben sein.54 Es ist hier nicht der Ort, über jene Streitfrage zu entscheiden, zumal ___________ 48

Siehe oben II. 2. b). Maiwald (Fn. 4), S. 315 (316 ff., 321 ff.). 50 Siehe oben I., III. 2. 51 Siehe oben III. 3. 52 Maiwald (Fn. 4), S. 319 Fn. 13. 53 Vgl. auch Eser (Fn. 36), § 242 Rn. 58 mwN. 54 Vgl. Hauck (Fn. 9), S. 214 f. 49

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die Diskussion aus berufenerem Munde höchst anspruchsvoll geführt worden ist. Was hier aber der Erwähnung bedarf, ist eine Passage im Vorwort der Dissertation von Hauck: Er dankt Manfred Maiwald dafür, dass er mit ihm im November 2002 in Göttingen ein längeres Fachgespräch über die Problematik der Zueignung und der Drittzueignung führen durfte. Diesem Dank schließe ich mich von Herzen an.

Beteiligung und Versuchsbeginn bei der Strafvereitelung Von Volker Haas

I. Einleitung Die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme und die damit inhaltlich verbundene Festlegung des Versuchsbeginns stehen bei der Strafvereitelung nach § 258 StGB noch immer nicht auf dogmatisch festem Fundament. Von Bedeutung ist die Klärung dieser Frage nicht nur für das materielle Strafrecht, sondern auch für das Strafprozessrecht im Hinblick auf den Ausschluss des Verteidigers nach § 138a I Nr. 3 StPO von der Mitwirkung am Strafverfahren. Der nachfolgende Beitrag möchte sich daher noch einmal diesen in der Literatur bisher eher spärlich erörterten Problemen zuwenden. Der Jubilar hat sich öfters insbesondere zu Fragen der Beteiligungslehre mit wichtigen Beiträgen zu Wort gemeldet.1 Und so ist zu hoffen, dass die folgenden Ausführungen auf sein Interesse stoßen mögen. Zunächst soll die bisherige Rechtsprechung dargestellt und die Tragfähigkeit ihrer Begründung untersucht werden. Sodann wird in Auseinandersetzung mit anderen Ansätzen in der Literatur ein eigener Lösungsvorschlag unterbreitet, der vor allem die Festlegung des tatbestandsmäßigen Verhaltens bei § 258 StGB betreffen wird.

II. Die zentralen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs Im Zentrum der Problematik stehen bis heute im Wesentlichen zwei Entscheidungen des Bundesgerichtshofs. Schon im März 1982 hatte der Bundesgerichtshof folgenden, hier leicht vereinfacht wiedergegebenen Fall zu entscheiden:2 Der in Untersuchungshaft sitzende Zeuge Kr. übergab dem Angeklagten, einem Rechtsanwalt, den er mit seiner Verteidigung in einer Strafsache beauftragt hatte, einen Brief mit der Bitte, diesen über seine Ehefrau an Sch. gelangen zu lassen. Dieser war als Tatzeuge zum Hauptverhandlungstermin in der betreffenden Strafsache geladen. Das Schreiben enthielt die an Sch. gerichtete ___________ 1 Siehe Maiwald, FS Bockelmann, 1979, S. 343 ff.; ders., FS Schroeder, 2006, S. 283 ff. 2 BGHSt 31, 10 ff.

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Aufforderung, als Zeuge einen bestimmten unzutreffenden Tathergang zu schildern. Der Angeklagte las das Schreiben zumindest teilweise durch. Ihm war klar, dass Sch. zu einer Falschaussage bewegt werden sollte. Nachdem ihm auf dem Weg zur Außenpforte der Justizvollzugsanstalt Frau Kr. begegnet war, begab er sich zu einem neben der Außenpforte geparkten Fahrzeug, da er annahm, dass es ihr gehören würde. Er befestigte das Schreiben unter Hinzufügung seiner Visitenkarte an einem der Scheibenwischer. In Wirklichkeit handelte es sich um das Fahrzeug eines anderen Eigentümers, der den Umschlag später fand und bei der Justizvollzugsanstalt abgab. Er gelangte dann von dort an die Staatsanwaltschaft und an das Gericht. Der Bundesgerichtshof folgte der von der Strafkammer vertretenen Ansicht, die von einer Verurteilung wegen versuchter Strafvereitelung abgesehen hatte, und stützte sich einerseits auf die Ausgestaltung des seinerzeit durch das EGStGB vom 2.3.1974 als § 258 StGB neu eingeführten Erfolgsdelikts der Strafvereitelung, andererseits auf die Umschreibung des Versuchsbeginns in § 22 StGB. Zwar bedürfe es für ein unmittelbares Ansetzen nicht der Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals, so dass auch Handlungen genügen würden, die nach dem Tatplan der Erfüllung eines solchen Merkmals vorgelagert seien. Dies sei jedoch nur dann der Fall, wenn diese in die Tatbestandshandlung unmittelbar einmünden sollten. Ein derartiges unmittelbares Verhältnis zwischen dem Tatbeitrag des Angeklagten und der gewollten Strafvereitelungshandlung habe allerdings nicht bestanden. Nach dem Tatplan seien dieser noch die Mitwirkung der Ehefrau des Zeugen Kr. und die Entscheidung des Sch. vorgeschaltet gewesen. Der Bundesgerichtshof gelangte daher zu dem Resultat, dass die Grenze zum Versuch erst durch den Beginn der falschen Zeugenaussage seitens Sch. überschritten worden wäre.3 Des Weiteren stützte der Bundesgerichtshof seine Ansicht darauf, dass eine Vorverlagerung der Versuchsgrenze auf den Zeitpunkt von Absprachen mit dem Ziel der späteren Falschaussage dem in § 159 StGB zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers widerspreche, den Versuch der Anstiftung zur Falschaussage durch diese Sondervorschrift zu erfassen. Da eine solche Ausdehnung des Versuchsstadiums nicht auf § 258 StGB beschränkt bleibe, stehe sie auch nicht im Einklang mit der vom Gesetzgeber getroffenen Regelung, in § 30 StGB nur besonders gefährliche Vorbereitungshandlungen unter Strafe zu stellen.4 Der entscheidende Senat gab damit nach eigenem Bekunden die bisherige Rechtsprechung auf, nach der bereits die Absprache zwischen dem Vortäter und dem Zeugen über eine von diesem zu tätigende Falschaussage eine ___________ 3 4

BGHSt 31, 10, 12 f. mit Anmerkung Beulke, NStZ 1983, 330 f. BGHSt 31, 10, 13; ebenso OLG Frankfurt StV 1992, 360, 361.

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vollendete oder zumindest versuchte Strafvereitelung des Zeugen darstellte.5 Die geänderte Rechtsansicht entspricht heute der schon ständigen, das Vereidigungsverbot des § 60 Nr. 2 StPO betreffenden Rechtsprechung vor allem der Oberlandesgerichte.6 Sie ist von Anfang an auf Zustimmung in der Literatur gestoßen.7 Neben diese bekannte Entscheidung tritt eine weitere einschlägige Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1983, die allerdings unmittelbar § 138a I Nr. 3 StPO und nicht § 258 StGB betrifft.8 Die Zeugin F erstattete gegen ihren früheren „Freund“ M Strafanzeige wegen Zuhälterei, Menschenhandel, Nötigung, Bedrohung und Freiheitsberaubung. Dies führte zu seiner Verhaftung. Der Beschuldigte M bevollmächtigte daher Rechtsanwalt D als Verteidiger, der im Haftprüfungstermin beantragte, die Zeugin R darüber zu vernehmen, dass der Beschuldigte die Zeugin F zu keinem Zeitpunkt verprügelt oder mit einer Rasierklinge verletzt habe. Gut einen Monat nach diesem Termin brachte Rechtsanwalt D in einem an die Staatsanwaltschaft gerichtetem Schriftsatz sein Befremden zum Ausdruck, dass die Entlastungszeugin R bisher noch nicht vernommen worden sei. In der ungefähr zwei Wochen später stattfindenden polizeilichen Vernehmung äußerte dann die Zeugin R, dass Rechtsanwalt D sie nach der Verhaftung des M in seine Kanzlei bestellt habe. Dort habe sie auf „mehr oder weniger Drängen des Anwaltes“ die eidesstattliche Erklärung unterschrieben, dass sie während ihrer Anwesenheit von den Handlungen des M nichts mitbekommen habe. Rechtsanwalt D habe gemeint, dass man so „den Detlev entlasten“ könne, und sie „mehr oder weniger“ mit Worten zum Unterschreiben genötigt. Aufgrund dieses Sachverhalts wurde Rechtsanwalt D durch Beschluss des OLG Köln von seiner Mitwirkung in dem gegen seinen Mandanten M anhängigen Strafverfahren ausgeschlossen. In seinem Beschluss auf die sofortige Beschwerde des Rechtsanwalts D bestätigte der Bundesgerichtshof, dass dieser dringend verdächtigt sei, Handlungen begangen zu haben, die für den Fall der Verurteilung seines Mandanten M eine versuchte Strafvereitelung darstellen würden. Das dem Rechtsanwalt D anzulastende Verhalten erschöpfe sich nicht in einer bloßen Vorbereitungshandlung. Ferner behauptete der entscheidende Senat, dass sich aus der Ent___________ 5 BGHSt 31, 10, 14 mit Verweis u.a. auf BGH bei Holtz, MDR 1979, 108; NStZ 1981, 268 f.; NStZ 1981, 309; abweichend zuvor schon BGHSt 30, 332 ff. sowie OLG Hamburg NJW 1981, 771 f. 6 BGH NStZ 1982, 430; BayObLG NJW 1986, 202 f.; OLG Düsseldorf NJW 1988, 84. 7 Rudolphi, JR 1981, 160; Müller-Dietz, JR 1981, 475; Lenckner, NStZ 1982, 401; Schönke/Schröder/Stree, StGB, 27. Aufl. 2006, § 258 Rn. 31; MK-StGB/Cramer, 2003, § 258 Rn. 49. 8 BGH NStZ 1983, 503 f. mit Anmerkung Beulke, NStZ 1983, 504 ff. und Bottke, JR 1984, 300; siehe des Weiteren auch BGH NJW 1989, 1813 ff.

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scheidung BGHSt 31, 10 ff. für den vorliegenden Fall nichts herleiten lasse, weil dieser sich von dem damals abgeurteilten Fall wesentlich unterscheide: Rechtsanwalt D habe aus seiner Sicht durch die auf Vernehmung der Zeugin R gerichteten Anträge bereits alles Erforderliche getan, um die Staatsanwaltschaft zu veranlassen, umgehend deren Vernehmung anzuordnen und auf diese Weise eine seinen Mandanten entlastende Aussage zu erreichen. Damit sei die Grenze zum Versuch überschritten worden.9 Zu Recht ist in der Literatur bemerkt worden, dass es wohl immer ein Geheimnis der beteiligten Richter bleiben werde, worin ein rechtlich relevanter Unterschied zwischen beiden Fällen liege: In dem der früheren Entscheidung des Bundesgerichtshofs zugrunde liegenden Sachverhalt habe es eines Antrags des Verteidigers nicht bedurft, weil der Zeuge bereits von Amts wegen geladen worden sei. Infolgedessen habe der Verteidiger auch schon seinerzeit alles aus seiner Sicht Erforderliche getan. Die staatliche Rechtspflege sei sogar stärker gefährdet gewesen, weil die Hauptverhandlung unmittelbar bevor gestanden habe.10 In der Tat: Der Umstand, dass die Verteidiger nicht nur den Zeugen beeinflusst, sondern durch seinen Antrag zugleich dessen Vernehmung durch seinen Antrag ausgelöst hat, kann im Hinblick auf den Versuchsbeginn nicht erheblich sein. Möglicherweise haben die beteiligten Richter im zweiten Verfahren nach einem Vehikel gesucht, um den Beschluss des OLG Köln, durch den der Verteidiger D vom Verfahren ausgeschlossen wurde, nicht aufheben zu müssen. Denn angesichts der Funktion des § 138a StPO mag man zum Schutz des Strafverfahrens vor rechtsmissbräuchlicher Verfahrensstörung einen Verteidigerausschluss schon dann für sachgerecht halten, wenn der vom Verteidiger beeinflusste Zeuge noch nicht zu seiner Aussage unmittelbar angesetzt hat, und daher versucht sein, an die Anforderungen einer versuchten Strafvereitelung geringere Anforderungen zu stellen, als wenn es um die Strafbarkeit nach § 258 StGB selbst geht. Dies ändert aber nichts daran, dass dogmatisch betrachtet die Kasuistik in sich unstimmig ist. Es erstaunt daher, dass in einzelnen Kommentierungen die Rechtsprechung ohne jede kritische Würdigung wiedergegeben wird.11

___________ 9

BGH NStZ 1983, 503; siehe ferner BGH StV 1993, 225 f. So wörtlich Beulke, NStZ 1983, 504. 11 Schönke/Schröder/Cramer, StGB, § 258 Rn. 49; Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 258 Rn. 37; HK-GS/Pflieger, 2008, § 258 Rn. 19; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 258 Rn. 31; a.A. indes SK-StGB/Hoyer, 52. Lfg. 2001, § 258 Rn. 19. 10

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III. Die Tragfähigkeit der Begründung des Bundesgerichtshofs Die inkonsistente Handhabung des § 258 StGB durch die bisherigen Judikate gibt Anlass, sich nunmehr den Gründen der Ausgangsentscheidung des Bundesgerichtshofs zuzuwenden. Wenig überzeugend ist schon, dass der Senat auf die Sonderregelung des § 159 StGB aufmerksam macht, die angeblich bei einer Vorverlagerung des Versuchsbeginns der Strafvereitelung unterlaufen würde. Dagegen spricht nicht nur, dass die Aussagedelikte nicht auf Strafverfahren beschränkt und daher nicht notwendig mit einer Strafbarkeit nach § 258 StGB verbunden sind12, sondern auch, dass bei der uneidlichen Falschaussage das tatbestandliche Verhalten in dem Aussageverhalten vor Gericht oder der anderen zur eidlichen Vernehmung zuständigen Stelle liegt. Worin bei der Strafvereitelung das tatbestandsmäßige Verhalten besteht, ist jedoch gerade die Frage, deren Antwort durch die §§ 153 ff. StGB keineswegs präjudiziert wird. Erst ihre Beantwortung lässt die Klärung des Problems zu, wann das unmittelbare Ansetzen bei § 258 StGB beginnt. Ein zweiter Kritikpunkt: Der entscheidende Senat ist in seiner Entscheidung ohne jede Begründung von Täterschaft ausgegangen, obwohl das Verhalten des angeklagten Rechtsanwalts – die Annahme des Briefes und seine Befestigung an der Windschutzscheibe des vor der Justizvollzugsanstalt parkenden Fahrzeugs – rein phänotypisch auch als versuchte Anstiftung zur Strafvereitelung oder genauer als Beihilfe zur versuchten Anstiftung zur Strafvereitelung qualifiziert werden könnte und damit nach der (keineswegs selbstverständlichen) herrschenden Ansicht als versuchte Beihilfe zur Strafvereitelung selbst.13 Unter dieser Voraussetzung wäre die fehlende Versuchsstrafbarkeit ohne Schwierigkeit zu begründen gewesen: Zum einen würde es an einer versuchten Haupttat fehlen. Zum anderen würde die versuchte Anstiftung oder Beihilfe zur Strafvereitelung nicht unter § 30 StGB fallen. Geht man umgekehrt – wie offenbar der Bundesgerichtshof – von Täterschaft aus, müsste hingegen begründet werden, warum der Versuch noch nicht begonnen hat, obwohl der angeklagte Rechtsanwalt durch sein Verhalten die tatbestandliche Vereitelungshandlung schon vollzogen hat. Diese Begründung sucht man in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vergeblich. Im Folgenden soll daher der Frage nachgegangen werden, ob der Verteidiger in Anbetracht seiner Stellung und seines Verhaltens als Täter zu qualifizieren ist.

___________ 12

Darauf stellt sachlich zutreffend Beulke, NStZ 1982, 331 f., ab. MK-StGB/Joecks, 2003, § 26 Rn. 87; SK-StGB/Hoyer, 34. Lfg., 2000, § 27 Rn. 32. 13

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IV. Zur Täterschaft aufgrund der Stellung des Beteiligten als Strafverteidiger In der Literatur ist vorgeschlagen worden, den Strafverteidiger stets als Täter einzuordnen. Seine überragend wichtige Funktion als Organ der Rechtspflege soll es rechtfertigen, bei ihm von Tatherrschaft auszugehen und damit Unterstützungshandlungen für den Vortäter als täterschaftlich begangene Strafvereitelungshandlungen einzustufen. Seine vielfältigen Einflussmöglichkeiten würden die ausnahmslose Annahme von Täterschaft nahelegen.14 Legt man die Tatherrschaftslehre als Prämisse zugrunde, ist dieser Standpunkt anfechtbar. Die Tatherrschaft wird dieser Theorie zufolge dem Hintermann grundsätzlich dadurch vermittelt, dass der Vordermann in einem Zurechnungsdefekt – zum Beispiel in Form eines Irrtums etc. – handelt. Umgekehrt schließt die gänzlich freie, voll verantwortliche Entscheidung des Vordermanns im Regelfall die Tatherrschaft des Hintermanns aus.15 Diese Voraussetzungen sind in den beiden Entscheidungen nicht erfüllt. Bei den Zeugen, die beeinflusst werden sollten bzw. auch beeinflusst wurden, geben die dem jeweils zu entscheidenden Sachverhalt zugrunde liegenden Tatsachen keinen Hinweis auf irgendeinen erheblichen Zurechnungsdefekt. Und sofern auf die vielfältigen Einflussmöglichkeiten des Strafverteidigers abgestellt wird, beschränken sich diese darauf, durch das Stellen eines entsprechenden Antrags dem Zeugen die Möglichkeit zu geben, im Strafverfahren falsch auszusagen. Die Ermöglichung einer Straftat aber ist charakteristisch für die Beihilfe gemäß § 27 StGB. Eine Einflussmöglichkeit, die geeignet wäre, die Verantwortlichkeit des Zeugen für sein Aussageverhalten auf den Verteidiger als Hintermann zu verlagern, ist nicht zu erkennen. Die Tatherrschaft geht – gemessen wiederum an den Maßstäben dieser Lehre selbst – auch dann nicht auf den Verteidiger als Hintermann über, wenn es sich bei dem Vordermann um den Beschuldigten handeln sollte und man berücksichtigt, dass sich der Beschuldigte in einer notstandsähnlichen Lage befindet. Die fast einhellige Meinung innerhalb der Tatherrschaftslehre verlangt ganz allgemein, dass beim Vordermann eine Notlage im Sinne von § 35 StGB vorliegen muss, damit der Hintermann eine Willensherrschaft ausüben kann.16 Die notstandsähnliche Lage, in der sich der Beschuldigte befindet, wird jedoch nicht von § 35 StGB erfasst, da die Gefahr der Strafverfolgung grundsätzlich ___________ 14

So Beulke, NStZ 1982, 331; ders., NStZ 1983, 504. Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 99; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, S. 143 f., 156 ff., 259 f., 276, 294; Rudolphi, FS Bockelmann, 1979, S. 373 f., 383; Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985, S. 345 ff. 16 Roxin, Strafrecht AT II, 2003, § 25, Rn. 243; MK-StGB/Joecks, § 25, Rn. 52; Schönke/Schröder/Cramer/Heine, StGB, § 25 Rn. 33; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1993, 21/91 ff. 15

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zumutbar ist.17 Denkbar sind auch vielfach Fälle, in denen eine Verurteilung überhaupt nicht zu einem Freiheitsentzug führt – beispielsweise bei Geldstrafen und bei zu erwartender Strafaussetzung zur Bewährung. Tötet der Beschuldigte einen Zeugen, um seine Täterschaft zu verdecken, kann er sich überhaupt nicht auf eine Schuldminderung berufen. Im Gegenteil: Er begeht sogar einen Mord und nicht nur einen Totschlag.18 Nun könnte man erwidern, dass bei den Tötungsdelikten in Rechte Dritter eingegriffen wird, dass aber bei § 258 StGB insofern eine Sonderlage vorliege, weil das genuin staatliche Interesse an der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs geschützt werde. Die lediglich relative Relevanz der Selbstbegünstigung lässt jedoch nicht automatisch einen Rückschluss auf eine entsprechende relative Willensherrschaft des Hintermanns zu. Dies legt auch positiv-rechtlich der Tatbestand der Gefangenenbefreiung in § 120 I StGB nahe: So soll die Norm zeigen, dass es der Gesetzgeber offenbar für nötig befindet, bestimmte mittelbare Tatbeiträge erst eigens zu vertatbestandlichen.19 Voraussetzung der Validität dieses Arguments ist freilich, dass das Verleiten des Gefangenen zum Entweichen einen Fall der Anstiftung und keinen Fall gesetzlich typisierter mittelbarer Täterschaft darstellt, da ansonsten gerade der umgekehrte Schluss zu ziehen wäre. Diese Voraussetzung ist wohl aber erfüllt. Die allgemeine Meinung geht jedenfalls von der tatbestandlichen Erfassung bloßer Anstiftung aus.20 Nach hier vertretener Auffassung ist allerdings die Tatherrschaftslehre insgesamt abzulehnen. Der Standpunkt, dass das voll zurechenbare, ohne jegliches Zurechnungsdefizit vollzogene Verhalten des Vordermanns die Tatherrschaft und damit die Täterschaft des Hintermanns sperrt, ist schon mit der Mittäterschaft nicht zu vereinbaren.21 Entscheidend für die Annahme mittelbarer Täterschaft ist vielmehr, dass es einen Grund gibt, das Verhalten des Vordermanns dem Hintermann wie eigenes Verhalten zuzurechnen, ohne dass der Zurechnungsgrund – wie bei der Teilnahme – verlangt, dass das Verhalten des Vordermanns in rechtswidriger Weise einen Tatbestand erfüllt. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn der Hintermann in die Entscheidungsfreiheit des Vordermanns rechtswidrig eingreift und dadurch für den Entschluss und das Verhalten des Tatmittlers unmittelbar verantwortlich wird. Für eine Nötigung gibt ___________ 17 Schönke/Schröder/Lenckner/Perron, StGB, § 35 Rn. 25 f.; Schönke/Schröder/ Lenckner, StGB, § 157 Rn. 6; Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, 1987, S. 273; SK-StGB/Rudolphi, 48. Lfg., § 157 Rn. 1; LK-StGB/Zieschang, 12. Aufl. 2006, § 35 Rn. 60. 18 Ebenso Rudolphi, FS Kleinknecht, 1985, S. 379, 389 f. 19 SK-StGB/Hoyer, § 258 Rn. 30. 20 Siehe SK-StGB/Horn/Wolters, 63. Lfg. 2005, § 120 Rn. 9; Fischer, StGB, Rn. 6; MK-StGB/Bosch, 2005, § 120 Rn. 21. 21 Umfassend dazu V. Haas, Die Theorie der Tatherrschaft und ihre Grundlagen, 2008, S. 32 ff.

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jedoch der Sachverhalt der zweiten vorangestellten Entscheidung keinen hinreichenden Anhaltspunkt. Das bloße Bedrängen der potentiellen Zeugin R durch den Rechtsanwalt D reicht dafür noch nicht aus. Und selbst wenn ein erheblicher Zwang zu bejahen gewesen wäre, bliebe die Lösung für all diejenigen Fälle offen, in denen kein erheblicher Druck auf den Zeugen ausgeübt wird. Ein weiteres Beispiel mittelbarer Täterschaft ist der Umstand, dass der Vordermann aufgrund von Unzurechnungsfähigkeit im Sinne von § 20 StGB keinen rechtlich relevanten Willen bilden kann. Unter dieser Voraussetzung muss der Hintermann den Willen des Vordermanns als seinen Willen gelten lassen, sofern er diesen aufgrund seiner Einflussnahme hervorgerufen hat. Die notstandsähnliche Lage des Beschuldigten hebt indes seine Zurechnungsfähigkeit keineswegs auf. So wird schon aus prozessualer Sicht dem Beschuldigten zugebilligt, selbst autonom darüber entscheiden zu können, ob er sich zur Sache einlässt oder lieber von seinem Schweigerecht gemäß den §§ 136 I, 243 IV StPO Gebrauch macht. Eine mittelbare Täterschaft des Strafverteidigers kommt daher auch nach hier vertretener Auffassung nicht in Betracht. Ihre Anerkennung wäre freie Rechtsschöpfung ohne Bindung an rechtlich begründbare Kriterien. Man könnte als letzten Ausweg noch daran denken, die Täterschaft des Verteidigers auf eine Sonderverantwortlichkeit für die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu stützen. Der Rechtsanwalt hat jedoch als Beistand des Beschuldigten insoweit keine Garantenstellung inne. Dies gilt unabhängig davon, ob man den Verteidiger als Organ der Rechtspflege auffasst oder nicht.22 Es stellt sich daher abschließend die Frage, ob es vielleicht einen anderen Grund gibt, unter bestimmten Umständen die Einflussnahme eines Strafverteidigers auf einen Zeugen etc. als Täterschaft zu qualifizieren und nicht als bloße Teilnahme. Vielleicht kann diese Frage einer Beantwortung zugeführt werden, wenn zunächst geklärt wird, wodurch das tatbestandsmäßige Verhalten bei der Strafvereitelung definiert ist. Die Qualifizierung der Beteiligung an der Tat setzt die begriffliche Erfassung der Tat voraus.23

V. Das tatbestandsmäßige Verhalten bei § 258 StGB Die Schwierigkeit, bei § 258 StGB die tatbeständsmäßige Ausführungshandlung genau zu bestimmen, beruht historisch auf der Trennung von sachlicher und persönlicher Begünstigung. Im früher einheitlichen Tatbestand des § 257 StGB aF war unter anderem das wissentliche Beistand-Leisten unter Strafe ge___________ 22

Überzeugend SK-StGB/Hoyer, § 258 Rn. 29 f. So auch Rudolphi, (Fn. 18), S. 384, der betont, dass zur Lösung der Beteiligungsproblematik zuvor eine möglichst exakte Bestimmung des tatbestandsmäßigen Verhaltens erfolgen müsse. 23

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stellt, das vollzogen wurde, um dem Täter oder Teilnehmer des Verbrechens oder Vergehens der Bestrafung zu entziehen. Aufgrund dieser Formulierung konnten ohne weiteres Beihilfehandlungen dem Tatbestand subsumiert werden. Insoweit galt ein Einheitstäterbegriff. Der heutige § 258 StGB verlangt demgegenüber, dass der Täter selbst ganz oder zum Teil vereiteln muss, dass ein anderer gemäß dem Strafgesetz bestraft wird. Der Gesetzgeber hat somit die Strafvereitelung – wie dem Wortlaut ganz unzweifelhaft zu entnehmen – als Erfolgsdelikt konzipiert. Die Auswirkungen dieser Änderung auf die Erfassung von Beistandshandlungen zugunsten des Vortäters hat der Gesetzgeber, der eigentlich im Grundsatz das geltende Recht übernehmen wollte,24 offensichtlich übersehen.25 Aufgrund der Ausgestaltung des Tatbestandes als Erfolgsdelikt sollen nach herrschender Meinung ungeachtet des gesetzgeberischen Versehens die allgemeinen Kriterien der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme gelten.26 Es ist daher fraglich, ob das Bereitstellen eines Fluchtfahrzeugs oder das Zur-Verfügung-Stellen einer Unterkunft unter den Tatbestand fällt.27 Eine Strafbarkeit wegen Beihilfe würde scheitern, weil es an einer vorsätzlich rechtswidrigen Haupttat seitens des Beschuldigten fehlt: Die Selbstbegünstigung ist tatbestandslos. Angesichts der Änderung der Gesetzesfassung ist der Hinweis, dass es sich um klassisches, vom Schutzzweck der Norm umfasstes Vereitelungsunrecht handele,28 wenig aussagekräftig. Und der Vorwurf, dass die Gegenauffassung sich bei ihrer Argumentation mit Hilfe allgemeiner Strukturerwägungen der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme einer sekundären Erkenntnisquelle bediene, dass aber vielmehr primär Wortlaut und Telos des § 258 StGB heranzuziehen seien,29 läuft solange leer, solange nicht gezeigt wird, worin sich die Strafvereitelung als Erfolgsdelikt von anderen Erfolgsdelikten wie § 212 StGB oder § 303 StGB unterscheidet. Die Erwägung, dass bei § 258 StGB die typische Gefahr bloßer Hilfeleistungshandlungen für das geschützte Rechtsgut nicht geringer sei als die sonstiger Handlungen, die unmittelbar und nicht erst noch über das Verhalten des Vortäters den Taterfolg herbeiführen,30 ist schon deswegen nicht stichhaltig, weil die Abgrenzung von Tä___________ 24

Siehe BT-Drs. 7/550, S. 249. Lenckner, GS Horst Schröder, 1978, S. 339, 351 f. 26 NK-StGB/Altenhain, 2. Aufl. 2005, § 258 Rn. 21; MK-StGB/Cramer, § 258 Rn. 41; Lackner/Kühl, StGB, § 258 Rn. 5; LK-StGB/Ruß, 11. Aufl. 2005, § 258 Rn. 30; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 258 Rn. 32; Lenckner (Fn. 25), S. 350 f.; vgl. aber Frisch, NJW 1983, 2741, 2743. 27 Für Täterschaft Frisch, JuS 1983, 915, 919; Küper, Strafrecht BT, 7. Aufl. 2008, S. 345; für bloße Teilnahme Rudolphi, JR 1984, 338; ders. (Fn. 18), S. 379, 389; Krekeler, NStZ 1989, 146, 148; NK-StGB/Altenhain, § 258 Rn. 24; SK-StGB/Hoyer, § 258 Rn. 29 ff. 28 Frisch, NJW 1983, 2171, 2172; ders., JuS 1983, 915, 919. 29 Frisch, NJW 1983, 2171, 2172; ders., JuS 1983, 915, 919. 30 Frisch, JuS 1983, 915, 919. 25

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terschaft und Teilnahme ohnehin nicht über die jeweilige Höhe des Erfolgsrisikos und damit über die Gefährlichkeit der Handlung erfolgen kann.31 Die Schwierigkeit, genau die tatbestandsmäßige Ausführungshandlung festzulegen, resultiert also schon aus der Konzeption der Vorschrift als Erfolgsdelikt. Einigkeit besteht, dass nicht jeder, der eine Bedingung für den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs setzt, Täter einer Strafvereitelung ist.32 Die herrschende Meinung versucht deshalb ganz allgemein, aber auch im Rahmen der Strafvereitelung eine adäquate Restriktion des Tatbestandes über die Kategorie der objektiven Zurechnung zu erreichen.33 Die Mängel dieses Ansatzes sollen an dieser Stelle nicht noch einmal dargestellt werden.34 Vielmehr soll gezeigt werden, welcher Lösungsweg sich möglicherweise für das hier aufgeworfene Problem auf der Basis der eigenen Straftatkonzeption anbietet. Ihre normative Prämisse ist, dass die strafrechtlich bewehrten Verhaltensnormen vor Verletzungen von Rechtsverhältnissen schützen. Bei den Individualrechtsgutsdelikten handelt es sich dabei um subjektive Rechte der Privatrechtssubjekte wie unter anderem das Eigentum, die körperliche Integrität, das Hausrecht oder die Ehre. Bei den Universalrechtsgütern handelt es sich demgegenüber um Rechtspositionen der staatlich verfassten Allgemeinheit.35 Vor dem Eintritt von Schädigungen schützen die strafrechtlich bewehrten Verhaltensnormen nur insofern, als diese auf der Störung eines Rechtsverhältnisses durch den Täter beruhen. Die Vorteile einer solchen Betrachtungsweise sind vielfältig: Zunächst überwindet diese Lehre das Defizit, dass bei einem Denken in Rechtsgütern lediglich Schädigung auf den Begriff gebracht werden kann. Die Klärung der Frage hingegen, wodurch der Schadensverlauf definiert sein muss, um der jeweiligen Rechtszuweisung zu widersprechen, kann der Rechtsgutsbegriff nicht leisten, weil es sich bei ihm lediglich um eine zweistellige Relation zwischen einem Rechtssubjekt und einem bestimmten materiellen bzw. immateriellen Substrat handelt.36 Dies wird methodisch erst bei dem Begriff des Rechtsverhältnisses möglich, der eine dreistellige Relation zwischen diesem Substrat und zwei Rechtssubjekten beschreibt. Sodann wird die strafrechtliche Begriffsbildung an die übrigen Teilrechtsordnungen wie das Zivilrecht oder das Verwal___________ 31 Murmann, GA 1996, 269, 274; Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 89; V. Haas (Fn. 21), S. 26 f.; Rotsch, ZStW 112 (2000), 518, 528. 32 Siehe pars pro toto Lenckner (Fn. 25), S. 350; Rudolphi (Fn. 18), S. 385. 33 Frisch, NJW 1983, 2171, 2772 f.; ders., JuS 1983, 915, 919 ff.; SK-StGB/Hoyer, § 258 Rn. 24; Rudolphi (Fn. 18), S. 385. 34 Siehe V. Haas, in: Kaufmann/Renzikowski (Hrsg.), Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung, 2004, S. 193 ff. 35 V. Haas (Fn. 21), S. 58; ebenso mit vertiefenden Ausführungen Renzikowski, GA 2007, 561 ff. 36 V. Haas, Kausalität und Rechtsverletzung, 2002, S. 69; ders. (Fn. 21), S. 60.

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tungsrecht rückgebunden und damit die kohärente Eingliederung des Strafrechts, das ein limitiert akzessorisches Schutzrecht und kein autarkes Gebilde innerhalb des Rechts darstellt,37 in das Gesamtgefüge der Rechtsordnung theoretisch abgesichert. Und schließlich greift der hier vertretene dogmatische Ansatz bei den Individualrechtsgütern den individualistischen Nukleus des Strafrechts auf, der bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Lehre vom delictum privatum fortlebte, dann aber durch den positivistischen Etatismus im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts verloren gegangen ist. Um Missverständnisse auszuschließen: Das Unrecht besteht auch bei den Individualrechtsgutsdelikten nicht primär in der Verletzung der strafrechtlich geschützten privaten Rechte, sondern in dem Verstoß gegen die Verhaltensnormen der Allgemeinheit, deren Funktion es ist, die Rechtsunterworfenen zur Achtung der rechtlichen Integrität und mittelbar damit natürlich auch der faktischen Integrität der geschützten Rechtspositionen zu veranlassen. Ein staatliches Strafrecht wäre als Reaktion auf einen in erster Linie privatrechtlich definierten Rechtsverstoß nicht erklärbar. Tatbestandsmäßiges Verhalten ist diesem Modell zufolge also zunächst immer ein Verhalten, durch das der Täter das tatbestandlich geschützte Rechtsverhältnis als Störer unmittelbar verletzt, demgegenüber also der Inhaber der betroffenen Rechtsposition einen Abwehranspruch besitzt. Welche Konsequenzen ergeben sich nun, wenn man diese Konzeption auf § 258 StGB überträgt? Als Rechtsgut der Strafvereitelung wird einerseits die (Straf-)Rechtspflege,38 andererseits der staatliche Strafanspruch39 genannt. Ungeachtet der Differenzen zwischen beiden Ansichten, stellt sich jeweils die Schwierigkeit, das rechtwidrige tatbestandsmäßige Verhalten des Täters zu bestimmen. Wählt man als Rechtsgut den Schutz des staatlichen Strafanspruchs, wird man mit dem Problem konfrontiert, dass der staatliche Strafanspruch, der ohnehin erst durch die Verurteilung formell zur Entstehung gelangt, sich lediglich gegen den verurteilten Angeklagten richtet. Denkbar ist gleichwohl, ein Verhalten dann als rechtswidrig zu qualifizieren, wenn es nur so verstanden werden kann, als habe es den Zweck, die Durchsetzung dieses Anspruchs zu vereiteln (vgl. die entsprechende Wertung des § 226 BGB). Eine derartige objektivierte Zwecksetzung wäre nicht mehr von der allgemeinen Handlungsfreiheit gedeckt und somit ein Kandidat für die gesuchte tatbestandsmäßige Handlung. Freilich bliebe ___________ 37

Vgl. schon Altenhain, Das Anschlussdelikt, 2002, S. 299. BGHSt 30, 77, 78; 43, 82, 85; 45, 97, 101; Lackner/Kühl, StGB, § 258 Rn. 1; LKStGB/Ruß, § 258 Rn. 1; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 258 Rn. 1. 39 Altenhain (Fn. 37), S. 257, 266, 269; Müller-Dietz, Jura 1979, 245; auf die mit der Durchsetzung des Strafanspruchs verfolgten Präventionszwecke stellen SK-StGB/ Hoyer, § 258 Rn. 3 und Lenckner (Fn. 25), S. 343 f., ab; vgl. ferner Ostendorf, NJW 1978, 134, 1346, der auf das nach Verfahrensgrundsätzen durchsetzbare Sanktionsrecht abstellt. 38

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immer noch das Problem zu lösen, dass die Zielsetzung, die Sanktionierung des Täters zu verhindern, mit prozesskonformen Mitteln verfolgt werden könnte und infolgedessen gleichwohl rechtmäßig wäre. Schließt man sich hingegen der Lehre an, die die (Straf-)Rechtspflege als Rechtsgut anerkennt und präzisiert man den Ansatz dahingehend, dass nur die Funktion der (Strafrechts-)Pflege gemeint sein kann, das materielle Strafrecht durchzusetzen,40 bliebe gleichermaßen noch zu erläutern, durch welches Verhalten diese Funktion in rechtswidriger Weise beeinträchtigt wird. Der hier zu Lösung des sich stellenden Problems unterbreitete Vorschlag lautet, dass die Rechtswidrigkeit des Täterverhaltens bei der Verfolgungsvereitelung des § 258 I StGB ganz generell durch das Prozessrecht definiert wird. Der Täter tritt gewissermaßen durch seine Handlung verfahrensrechtlich als Störer in Erscheinung. Er vollzieht ein Verhalten, dem gegenüber der Staat einen prozessrechtlichen Unterlassungsanspruch hat. Erst aufgrund dieses Umstandes wird die Vereitelungstat zum Unrecht. Der Tatbestand des § 258 I StGB ist somit prozessakzessorisch ausgestaltet. Er verweist – wie der Bundesgerichtshof zu Recht formuliert hat41 – auf die Regelungen des Strafprozessrechts. Die Folge des tatbestandsmäßigen Verhaltens, nämlich dass der staatliche Strafanspruch nicht durchgesetzt werden kann, sorgt für den vom Täter aufgrund seines prozesswidrigen Verhaltens zu verantwortenden Schaden, mithin den Erfolgsunwert. Dabei geht es im Rahmen der Unrechtsbegründung allein um die Verletzung derjenigen prozessualen Normen, die ihren Grund in der Gewährleistung einer der materiellen Wahrheit und des materiellen Rechts entsprechenden Entscheidungsfindung haben. Ob man eine Strafvereitelung durch Nötigung des Verletzten begehen kann, von seiner Strafantragsberechtigung keinen Gebrauch zu machen, ist daher keineswegs selbstverständlich.42 Die herrschende Dogmatik beurteilt die Rechtslage in Bezug auf die Strafverteidigung in ganz ähnlicher Weise, wenn sie bei prozesskonformem Handeln des Verteidigers einen Tatbestandsausschluss postuliert.43 Man muss nur die Beurteilung vom Kopf auf die Füße stellen: Durch das Ergreifen prozessadäquater Verteidigungsmittel wird nicht die Rechtswidrigkeit des Täterverhaltens im Spezialfall der Strafverteidigung ausgeschlossen. Vielmehr wird umgekehrt schon im Normalfall gerade die Rechtswidrigkeit des Täterverhaltens durch seine Prozesswidrigkeit begründet. Ausschließlich bei Anerkennung einer allgemeinen Prozessakzessorietät des § 258 I StGB wird verständlich, warum der Verteidiger immer dann ein tatbestandlich unerlaubtes Verhalten vollzieht, ___________ 40

Rudolphi (Fn. 18), S. 384. BGHSt 46, 53, 54. 42 Vgl. Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 258 Rn. 4. 43 Dies die wohl ständige Rechtsprechung BGHSt 46, 53 ff.; KG NStZ 1988, 178; OLG Düsseldorf StV 1994, 472; 1998, 552. 41

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wenn er zu Mitteln greift, zu denen er auch bei Nichtbestehen des Sanktionsanspruchs nicht hätte greifen dürfen.44 Die Prozessregeln gelten unabhängig von der materiellen Rechtslage. Ihre Verletzung konstituiert daher die Rechtswidrigkeit des Täterverhaltens unabhängig davon, ob überhaupt die materiellen Voraussetzungen des staatlichen Strafanspruchs gegeben sind oder nicht. Das zu fordernde prozesswidrige Verhalten, welches gemäß § 25 I 1. Var. StGB unmittelbare Täterschaft begründet, kann zum einen in der Verletzung der prozessualen Wahrheitspflicht seitens eines Zeugen oder Sachverständigen liegen. Ein derartiges Verhalten führt für sich schon zu einer Strafbarkeit nach den §§ 153 ff. StGB. Es ist aber auch Grundlage einer strafrechtlichen Haftung nach § 258 StGB. Das zu fordernde prozesswidrige Verhalten kann aber auch in dem Verstoß gegen das prozessuale Verdunkelungsverbot liegen, dessen Voraussetzungen im Verhältnis zum Beschuldigten in § 112 II StPO geregelt sind. Das Verbot, die Beweislage zu verdunkeln, besteht jedoch nicht nur diesem gegenüber. Es ist an alle natürlichen Rechtssubjekte adressiert,45 insbesondere auch an den Strafverteidiger. Letzteres entspricht der bisher ständigen Rechtsprechung.46 Eine Verdunkelung kann ohne Zweifel durch eine Einwirkung auf bestimmte sachliche Beweismittel erfolgen. § 112 II Nr. 3 a) StPO nennt als Modalitäten das Vernichten, Verändern, Beiseite-Schaffen, Unterdrücken oder Verfälschen. Sie kann aber auch gemäß § 112 II Nr. 3 b) StPO durch die unlautere Einwirkung auf persönliche Beweismittel wie den Zeugen oder Sachverständigen erfolgen. Eine unlautere Einwirkung meint nicht nur eine Drohung oder Täuschung, sondern auch eine sonstige Veranlassung der Aussageperson, die Unwahrheit zu sagen. Die Unlauterkeit der Beeinflussung ergibt sich hierbei aus der verfolgten Zielsetzung.47 Damit übereinstimmend qualifiziert der Bundesgerichtshof die Bestärkung oder Veranlassung des Zeugen, falsch auszusagen, als verbotene Verdunkelungshandlung des Verteidigers.48 Die unlautere Einwirkung auf einen Zeugen oder Sachverständigen ist als Verdunkelungshandlung originär Prozessstörung. Sie ist nicht etwa aus prozessualer Sicht Teilnahme an der Verletzung der prozessualen Wahrheitspflicht des Zeugen, wenn auch die Unlauterkeit der Beeinflussung voraussetzt, dass die Aussageperson nicht ihrerseits von einem prozessualen Recht Gebrauch ___________ 44

So wörtlich SK-StGB/Hoyer, § 258 Rn. 26; vgl. auch Frisch, JuS 1983, 915, 920 ff., wenn auch mit anderer Stoßrichtung. 45 Vgl. V. Haas, FS Weber, 2004, S. 235 ff. 46 BGHSt 2, 375, 377; 9, 20, 22; 10, 393; 29, 107; 38, 345, 348; 46, 53 ff.; BGH StV 1999, 135 f. 47 KK-StPO/Graf, 6. Aufl. 2008, § 112 Rn. 36; LR-StPO/Hilger, 25. Aufl. 2004, § 112 Rn. 48; SK-StPO/Paeffgen, 54. Lfg. 2007, § 112 Rn. 36. 48 BGHSt 29, 99, 107; BGH NStZ 1983, 503.

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macht.49 Ob der Betreffende ein Augenscheinsobjekt zerstört, eine Urkunde verfälscht oder ob er einen Zeugen beeinflusst, steht prozessual als Verdunkelungshandlung völlig gleich. Insoweit würde es an der Sache vorbeigehen, wenn man in der zweiten anfangs vorgestellten Entscheidung das Verhalten von Rechtsanwalt D – ungeachtet von seiner Antragstellung auf Vernehmung der Zeugin – im Sinne des § 26 StGB als Anstiftung umschreiben würde.50 Der maßgebliche Terminus, der das Verhalten des vom Strafverfahren ausgeschlossenen Verteidigers als täterschaftliches Verhalten kennzeichnet, ist die Einwirkung auf den Zeugen in unlauterer Weise. Erst in § 112 II Nr. 3 c) StPO, in dem die Veranlassung eines anderen, Verdunkelungshandlungen vorzunehmen, als Haftgrund geregelt ist, verweist das Prozessrecht umgekehrt auf die Zurechnungsnormen des materiellen Rechts. Nach der hier zur Diskussion gestellten Sichtweise ist der Auffassung, dass gemäß den Direktiven der Tatherrschaftslehre tatbestandsmäßig im Sinne des § 258 StGB nur eine Handlung sein kann, die bereits selbst unmittelbar das Risiko des tatbestandsmäßigen Erfolgs begründet, bei der also zur Begründung des tatbestandsmäßigen Risikos weder weitere deliktische Handlungen des Täters noch anderer Personen erforderlich sind, eine Absage zu erteilen.51 Der Wortlaut zwingt nicht zu einer derart restriktiven Auslegung.52 Ist der vorgeschlagene prozessuale Ausgangspunkt richtig, wäre die unausweichliche Konsequenz der Tatherrschaftslehre, gleichwohl auf eine Anstiftung auszuweichen, wenig überzeugend. Denn die Anstiftung hat – ebenso wie die Beihilfe, die mittelbare Täterschaft oder die Mittäterschaft – als Zurechnungsmodus nur dann eine Funktion bzw. Daseinsberechtigung, wenn das Verhalten des Beteiligten nicht unmittelbar rechtswidrig ist, es also dieser Rechtsfigur bedarf, um das Unrecht seines Handelns überhaupt begründen zu können. Wenn zum Beispiel eine Person eine Urkunde verfälscht, deren einzige beweisrechtliche Bedeutung darin besteht, die falsche Einlassung des Beschuldigten oder Angeklagten in glaubhaftem Licht erscheinen zu lassen, der Urkunde aber darüber hinaus kein eigenständiges entlastendes Indiz zu entnehmen ist, müsste die Forderung eines unmittelbaren Vereitelungsrisikos dazu führen, dass der Beteiligte aufgrund seiner Verdunkelungshandlung nur als Gehilfe der Selbstbegünstigung des Beschuldigten oder Angeklagten strafrechtlich erfassbar ist. Diese Konsequenz ist wenig einleuchtend. ___________ 49

Siehe KK-StPO/Graf, § 112 Rn. 37. So aber ein Teil der Literatur; siehe NK-StGB/Altenhain, § 258 Rn. 25; MKStGB/Cramer, § 258 Rn. 41 ff.; SK-StGB/Hoyer, § 258 Rn. 31; Schönke/Schröder/ Stree, StGB, § 258 Rn. 32; nach Lackner/Kühl, StGB, § 258 Rn. 6, bedarf das Problem noch einer abschließenden Klärung. 51 Rudolphi (Fn. 18), S. 385 f. 52 Insoweit ist Frisch, JuS 1983, 915, 919, durchaus Recht zu geben. 50

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Da ungeachtet einer fehlenden strafbewehrten Wahrheitspflicht ein Lügerecht des Beschuldigten oder Angeklagten im eigentlichen Sinne des Wortes schon deswegen abzulehnen ist, weil die unwahre Einlassung anders als das Schweigen prozessual im Rahmen der Beweiswürdigung zu seinen Lasten verwertet werden darf,53 besteht bei dem hier unterbreiteten Lösungsvorschlag die Möglichkeit, die prozessual unzulässige Einflussnahme als Täterschaft einzuordnen und die „unangenehme“ Alternative einer straflosen Anstiftung an einer tatbestandslosen Selbstbegünstigung zu vermeiden.54 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass prozessrechtlich auch die unlautere Einwirkung auf Mitbeschuldigte (als persönliches Beweismittel im weiteren Sinne) gemäß § 112 II Nr. 3 b) StPO eine Verdunkelung darstellt. Fraglich ist indes, ob auch die Unterstützung des Beschuldigten bei einer Verdunkelungshandlung selbst schon originär prozesswidriges Verhalten darstellt. Der Bundesgerichtshof hat festgestellt, dass der Verteidiger nicht wissentlich wahrheitswidrige Einlassungen seines Mandanten unterstützen dürfe.55 Verallgemeinert: Der Verteidiger darf nicht Beihilfe zu Verdunkelungshandlungen des Beschuldigten oder Angeklagten leisten. Dies ist gewiss richtig. Aber damit ist noch nicht gesagt, dass sich diese Wertung schon aus dem Prozessrecht und nicht erst über den Umweg über § 27 StGB gewinnen lässt. Letzteres hätte die Konsequenz, dass bloße Teilnahme gegeben wäre.

VI. Schlussbemerkung Im Ergebnis hat der Bundesgerichtshof in der zweiten Entscheidung richtig entschieden. Schon die Einflussnahme von Rechtsanwalt D auf die Zeugin R stellte eine Verdunkelungshandlung dar, die als tatbestandsmäßiges Verhalten im Sinne von § 258 I StGB einzuordnen ist. Sein Ausschluss vom Strafverfahren gemäß § 138a StPO war daher zulässig. Der Umstand, dass der Verteidiger zugleich im Haftprüfungstermin den Antrag stellte, die von ihm beeinflusste Zeugin zu vernehmen, ist allerdings unerheblich. Und im ersten Fall hat der Bundesgerichtshof wohl zu Recht eine versuchte Strafvereitelung abgelehnt. Dies liegt jedoch nicht daran, dass der Versuchsbeginn zu verneinen gewesen wäre. Wäre das Verhalten des angeklagten Rechtsanwalts als täterschaftliches Verhalten zu qualifizieren, gäbe es keinen Grund, den Versuchsbeginn abzulehnen. Die Fallgruppe des beendeten Versuchs, die in ihrem Kern aufgrund des zwischengeschalteten Opferverhaltens vermutlich nichts anderes als einen ___________ 53

KK-StPO/Diener, § 136 Rn. 20; Rüping, JR 1974, 135, 139; Rieß, JA 1980, 293,

297. 54 Anders OLG Karlsruhe StV 1991, 519 ff.; MK-StGB/Cramer, § 258 Rn. 41; Lackner/Kühl, StGB, § 258 Rn. 6. 55 BGH StV 1999, 153 f.

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Unterfall der mittelbaren Täterschaft in Zwei-Personen-Verhältnissen darstellt,56 greift nicht ein, weil es sich bei dem noch erforderlichen Verhalten um die Aussage des Sch. als Zeugen handelte und damit nicht um das Verhalten eines Opfers. Der entscheidende Grund liegt folglich vielmehr darin, dass der angeklagte Rechtsanwalt bei genauer Analyse nur ein Beihilfe zur Anstiftung seines Mandanten zur Strafvereitelung57 und damit – wie die hinterfragbare herrschende Meinung meint – eine Beihilfe zur Strafvereitelung des Sch. geleistet hat, die jedoch noch nicht einmal ins Versuchsstadium gekommen war. Mit diesen Bemerkungen soll es sein Bewenden haben. Gewiss können die Ausführungen nicht den Anspruch erheben, die Beteiligungsproblematik bei § 258 StGB vollständig gelöst zu haben. Vielleicht ist jedoch ein dogmatischer Weg gewiesen, der einer Überlegung wert ist, ob man ihn nicht zukünftig beschreiten könnte!

___________ 56

Vgl. BGHSt 43, 177, 180: eine der mittelbaren Täterschaft verwandte Struktur. Rudolphi (Fn. 25), S. 382, geht von einer Anstiftung des Verteidigers aus. Doch fehlt eine eigene ausdrückliche oder konkludente Äußerung des Verteidigers. 57

Abschied von den „unselbstständigen“ Abwandlungen oder den besonders schweren Fällen oder von beidem? Überlegungen zum derzeitigen „System“ der Strafrahmenänderungen Von Michael Hettinger

I. Einleitung – Terminologisches Manfred Maiwald, dem dieser Beitrag gewidmet ist, hat sich in zwei gründlichen, mittlerweile zu Klassikern gewordenen Abhandlungen mit einer Thematik befasst, die – seit dem 1. StrRG vom 25. Juni 1969 insbesondere wegen des praktisch überragend wichtigen § 243 StGB n.F.1 mit vermehrter Aufmerksamkeit bedacht – auch Gegenstand und Mittelpunkt der folgenden Zeilen sein soll. Seine erste Arbeit, 1973 in der Festschrift für Wilhelm Gallas publiziert, stand unter dem Titel „Bestimmtheitsgebot, tatbestandliche Typisierung und die Technik der Regelbeispiele“2; die zweite, der ein Vortrag aus dem Jahr 1983 in der Richterakademie in Trier zugrunde lag, lautete „Zur Problematik der ‚besonders schweren Fälle‘ im Strafrecht“3. Auf einen dritten Aufsatz „Dogmatik und Gesetzgebung im Strafrecht der Gegenwart“4 wird später einer Bemerkung Maiwalds wegen noch kurz einzugehen sein. Bevor die im Titel angesprochene Thematik näher untersucht werden kann, ist jedoch zunächst Terminologisches zu klären, sodann gerafft zu wiederholen, wie nach ständiger Rechtsprechung und h.L. die Basis des Folgenden, das Ver___________ 1 Vgl. nur Arzt, JuS 1972, 385, 515, 576 zu der damals noch als „schwerer Fall“ ausgeflaggten Norm, die durch das EGStGB dann zum „besonders“ schweren Fall befördert wurde. Reizvoll wieder zu lesen die Ausführungen bei Lackner/Maassen, StGB, 5. Aufl. 1969, § 13 Anm. 3 sowie die Anm. zu § 243. Zu § 243 n.F. und seinen Vorläufern s. auch Scheffler, Strafgesetzgebungstechnik in Deutschland und Europa, 2006, S. 28 ff. m.w.N. 2 FS Gallas, 1973, S. 137-162. 3 NStZ 1984, 433-440. 4 In: Behrends/Henckel (Hrsg.), Gesetzgebung und Dogmatik. 3. Symposion der Kommission „Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart“ am 29. und 30. April 1988, S. 120-137.

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hältnis von Tatbestand5 und Strafandrohung6 zueinander, beschaffen ist. Da mit Ausnahme des Mordtatbestands alle anderen Bestimmungen des Besonderen Teils des StGB7 – zumindest auch – zeitige Freiheitsstrafe vorsehen, wird im Weiteren der Vereinfachung halber nur noch von Strafrahmen als der typischen Rechtsfolge im Strafrecht die Rede sein. Mit Strafrahmenänderungsregelungen sind im Folgenden alle Vorschriften gemeint, die sich – mit oder ohne die Abwandlung näher umschreibenden Umständen – auf einen Tatbestand beziehen und dessen Strafdrohung modifizieren8. In Rechtsprechung und Doktrin wird weiter unterschieden zwischen unselbstständigen und selbstständigen Abwandlungen mit Tatbestandscharakter, nämlich qualifizierenden und privilegierenden Tatbeständen sowie eigenständigen Delikten – jeweils im Verhältnis zu einem sog. Ausgangs- oder Grundtatbestand9 –, und solchen, denen nach h.M.10 kein Tatbestandscharakter eignet, im StGB minder schwer und besonders schwer genannte Fälle, wobei letzteren heute meist Regelbeispiele beigegeben sind11. Ihnen korrespondiert demnach kein „Grund“-Tatbestand, sie gelten lediglich als Modifikationen des Regelstrafrahmens eines Tatbestandes12. – Straf___________ 5 Ob hier – genauer – statt dessen von Straftatbestand gesprochen werden sollte, sei dahingestellt. Zum „eingefahrenen“ Begriff des Tatbestandes im vorliegenden strafrechtlichen Zusammenhang s. nur Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, AT, 5. Aufl. 1996, § 25 I 3; Köhler, Strafrecht, AT, 1997, S. 119 f.; LK-StGB/Walter, 12. Aufl. 2007, Vor § 13 Rn. 40 f. sowie Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, StGB, 27. Aufl. 2006, Vor § 13 Rn. 43 ff. 6 Straf(an)drohung umfasst als Oberbegriff alle Rechtsfolgen, die mit einem sozialethischen Unwerturteil über Tat und Täter verbunden sind, insbesondere also Geld- und Freiheitsstrafe. Letztere ist absolut bestimmt, als lebenslange Freiheitsstrafe – so im StGB bei § 211 und § 212 II, neben zeitiger Freiheitsstrafe auch in einigen Erfolgsqualifikationen wie z.B. §§ 227, 251, 306c – oder nur relativ, d.h. zeitige Freiheitsstrafe, so bei allen anderen Tatbeständen im Besonderen Teil. 7 Auf die Bestimmungen des StGB konzentrieren sich die folgenden Ausführungen. Zitierte Paragraphen sind dementsprechend, soweit nicht anders bezeichnet, solche des StGB. 8 Ausgeklammert bleiben Strafrahmenänderungen, die auf § 49 I oder II Bezug nehmen. Zum Sprachgebrauch s. auch Eisele, Die Regelbeispielsmethode im Strafrecht. Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Tatbestand, 2004, S. 6 ff.; LK-StGB/Theune, 12. Auf. 2006, Vor § 46 Rn. 8 ff. 9 Zur Begrifflichkeit Jescheck/Weigend, AT (Fn. 5), § 26 III 1; Küper, Die Rechtsprechung des BGH zum tatbestandssystematischen Verhältnis von Mord und Totschlag – Analyse und Kritik, Teil 1, JZ 1991, 761, 763. 10 Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 46 Rn. 11; Maiwald, NStZ 1984, 433, 435; Maurach/Zipf, Strafrecht, AT Teilbd. 2, 7. Aufl. 1989, § 62 Rn. 49; ausf. und krit. Eisel, Regelbeispielsmethode (Fn. 8), S. 144 ff.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen. Die Strafzumessung und ihre Grundlagen, 2. Aufl. 2002, Rn. 415 f. 11 Vgl. nur Lackner/Kühl (Fn. 10), § 46 Rn. 7 ff.; LK/Theune (Fn. 8), Vor § 46 Rn. 18. 12 Schönke/Schröder/Stree, StGB (Fn. 5), Vor § 38 Rn. 44 ff.; Wessels/Hillenkamp, Strafrecht BT/2, 32. Aufl., Rn. 195 ff.; BGHSt 4, 226 (228): das Gesetz habe durch all-

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rahmen sind Ausdruck der Erkenntnis, dass, da das deutsche Strafrecht ein Schuldstrafrecht ist13, seine Strafandrohungen grundsätzlich an Unrechts- und Schuldschwere ausgerichtet sind14. Die Strafrahmen legen „die Eckwerte fest, innerhalb derer der Richter auf der Grundlage der Schuld unter Berücksichtigung der spezial- und generalpräventiven Bedürfnisse die Strafe zu bestimmen hat. Darüber hinaus ist dem Richter mit dem Strafrahmen eine Strafenstaffelung vorgegeben, die von dem denkbar geringsten Schuld- und Unrechtsgehalt bis zum denkbar schwersten Fall der Tatbestandsverwirklichung reicht“15.

___________ gemeine Strafschärfungsgründe „nur einen außerordentlichen Strafrahmen neben den ordentlichen gestellt …, ohne die gesetzlichen Merkmale der Straftat zu ändern“. 13 Vgl. nur BGHSt 2, 194; 3, 179; 20, 264; 24, 132; st. Rspr.; Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 46 Rn. 5 f.; MK-StGB/Franke, 2003, § 46 Rn. 11 f.; Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot bei strafrahmenbildenden Umständen (§ 46 Abs. 3, 50 StGB), 1982, S. 62 ff., 71 ff., 117 ff.; ders., Über den Begriff der minder schweren Fälle – ein Beitrag zu ihrer Entstehungsgeschichte, FS Pötz, 1993, S. 77, 79; Köhler, AT (Fn. 5), S. 595 ff., 598 f.; Lackner/Kühl (Fn. 10), Vor. § 13 Rn. 22 und § 46 Rn. 6; Maiwald, FS Gallas, 1973, S. 137, 142 f. 14 Bruns, Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 48; Dreher, FS Bruns, 1978, S. 141, 146; nach Dreher, ebd. S. 142, 144 f., stellte gar „das in unserem Strafrecht äußerst subtil entwickelte System der Strafrahmen“ … „ein ausgeprägtes Schuldstrafrecht“ dar. In einem äußerlichen Sinn mag das 1978 wie heute zutreffen; s. etwa BT-Drs. 13/8587, S. 19 und Kreß, Das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts, NJW 1998, 633, 634, nach dem das 6. StrRG für die „systemkonforme“ (gab es denn ein System?) Neubewertung „die Grundbausteine des geltenden Strafrahmengefüges zum Ausgangspunkt“ genommen hat. Aber „äußerst subtil entwickelt“ war das damalige und ist auch das heutige „System“ durchaus nicht; näher dazu der Text bei und in Fn. 106 ff. und Hettinger, Die Strafrahmen des StGB nach dem 6. Strafrechtsreformgesetz, FS Küper, 2007, S. 95. Durchaus fundierte Thesen der Strafzumessungsdogmatik reichen weit über das hinaus, was dem deutschen „Strafrahmensystem“ entnommen werden könnte. Hier besteht vielfacher und seit langem angemahnter Anpassungsbedarf; s. dazu auch den folgenden Text. 15 LK-StGB/Theune (Fn. 8), Vor § 46 Rn. 7, im Anschluss an Dreher, FS Bruns, 1978, S. 141, 145 ff.; zur Theorie der Schwereskala (Stufenfolge) s. auch Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot (Fn. 13), S. 128 ff.; SK-StGB/Horn (1/2001), § 46 Rn. 48 ff.; Köhler, AT (Fn. 5), S. 585 f., 595 f.; Krahl, Tatbestand und Rechtsfolge, 1999, S. 33 ff. und Streng, Strafrechtliche Sanktionen (Fn. 10), Rn. 492 ff.; sehr instruktiv die Begr. des Entwurfs eines Strafgesetzbuches, E 1962, BR-Drs. 200/62, S. 96 ff., 179 ff., 265 f. – Um allfälligen Illusionen (insbes. der „Punktstrafe“) vorzubeugen, bemerkt BVerfGE 105, 135 (169), „Strafzumessung als Umsetzung von Unrecht und Schuld in eine bestimmte Strafe ist grundsätzlich kein in seinen Einzelschritten überprüfbarer Rechenvorgang … Der Strafzumessung … liegt ein fester Maßstab nicht zu Grunde, der das Gewicht des verschuldeten Unrechts in eine bestimmte Dauer einer Freiheitsstrafe oder in eine konkrete Anzahl von Tagessätzen einer Geldstrafe einfach umsetzen ließe“; s. dazu auch Fischer, FS Hamm, 2008, S. 63, 71.

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II. Verfassungsgerichtliche Vorgaben Das Bundesverfassungsgericht teilt diesen Standpunkt der Fachgerichtsbarkeit und der h.L., hat jedenfalls keine verfassungsrechtlichen Einwände: „Gemessen an der Idee der Gerechtigkeit müssen Tatbestand und Rechtsfolge sachgerecht aufeinander abgestimmt sein. Beide sind wechselseitig aufeinander bezogen. Einerseits richtet sich die Strafhöhe nach dem normativ festgelegten Wert des verletzten Rechtsgutes und der Schuld des Täters. Andererseits läßt sich das Gewicht einer Straftat, der ihr in der verbindlichen Wertung des Gesetzgebers beigemessene Unwertgehalt, in aller Regel erst aus der Höhe der angedrohten Strafe entnehmen“16. „Der Strafrahmen gibt dem Richter damit eine normative Orientierung und definiert überdies den abgegrenzten Bereich, aus dem dieser mit Blick auf die konkrete Tat und den in ihr zum Ausdruck gekommenen individuellen Unrechts- und Schuldgehalt unter Berücksichtigung der allgemeinen Strafzumessungskriterien nach § 46 StGB die konkrete Strafe entnehmen kann.“17 Beließe es der Gesetzgeber nun bei der Formulierung der Unwert- oder Deliktstypen, etwa der Körperverletzung durch § 223, des Diebstahls durch § 242, des Betrugs durch § 263 I, um die praktisch wichtigsten des StGB hervorzuheben – zu nennen wäre auch der Raub, § 249 I –, so hätte dies, die derzeitige Bewertung der jeweiligen speziellen Rechtsfolgenbestimmungen hinzugenommen, sehr weite Strafdrohungen zur Folge18. Für „Diebstahl“ und „Betrug“ reichten sie von zehn Jahren Freiheitsstrafe bis hinunter zu fünf Tagessätzen Geldstrafe; für „Körperverletzung“ betrüge das Höchstmaß Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren, das Mindestmaß ebenfalls fünf Tagessätze, für Raub – ebenso für die §§ 211-216 – lebenslange Freiheitsstrafe bis hinunter zu sechs Monaten Freiheitsstrafe. „Normative Orientierung“ wäre hier schwerlich noch zu erkennen, weder was „den“ zugrundeliegenden Unwerttyp – auch im Verhältnis zu anderen – betrifft, noch was die schuldangemessene Bestrafung angeht. Mit §§ 46 ff. allein würde bei solcher Gesetzeslage dem Tatrichter der Weg zur Endstrafzumessung nicht in der erforderlichen (zumindest: in der zu wünschenden) Weise geebnet. Zur Vermeidung derart weiter Strafrahmen hat der Gesetzgeber eben deshalb für den jeweiligen Deliktstyp verschiedene Wertstufen gebildet, wobei er unterschiedlich verfahren ist.19 Im Zentrum des Interesses ___________ 16

BVerfGE 25, 269 (286); 90, 145 (173); 105, 135 (164); st. Rspr. BVerfGE 105, 135 (153, 164); 109, 130 (168). 18 Vgl. dazu auch Dreher, ZStW 77 (1965), 220, 230; Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot (Fn. 13), S. 66 ff. 19 Zu den Möglichkeiten knapp Lackner/Kühl (Fn. 10), § 46 Rn. 7; „die Entwicklung der Gesetzgebungstechnik“ schildert sehr instruktiv Schroeder, in: Vormbaum/Welp (Hrsg.), Das Strafgesetzbuch. Sammlung der Änderungsgesetze und Neubekanntma17

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des Folgenden stehen die Strafrahmenschärfungsgründe, also die „unselbstständigen“ Abwandlungen und die besonders schweren Fälle, im Hinblick auf die Frage, ob die Harmonisierung der Strafrahmen im Kernstrafrecht gelungen ist – und wo nicht, woran das liegt und wie dem abzuhelfen sein könnte. Soweit zur Komplettierung des Gesamtbildes nötig, haben verschiedentlich auch die „minder schweren Fälle“ kurze Auftritte.

III. Das „System“ des derzeitigen StGB Das StGB stuft bei Körperverletzungstaten bestimmte gefährliche Begehungsweisen als qualifizierend ein (§ 224 I), bewertet bestimmte Folgen als schwer (§§ 226 I, 227 I) und schärft für schwere Körperverletzung i.S. des § 226 I die Strafdrohung noch ein weiteres Mal, wenn der Täter die schwere Folge absichtlich oder wissentlich verursacht hat20. Die gegenüber dem Grundtatbestand erhöhten Mindeststrafen der §§ 224 I, 226 I, II und 227 I werden dann jedoch durch Hinzufügung je eines Strafrahmens für minder schwere Fälle wieder relativiert. – Qualifikationen finden sich auch beim Diebstahl in Gestalt der §§ 244 und 244a. Hier gibt es mit § 243 zudem eine Bestimmung für besonders schwere Fälle, veranschaulicht durch Regelbeispiele, die Figur, die noch etwas näher zu betrachten sein wird. Wenn auch nicht als Tatbestand, so doch mit privilegierender Wirkung ausgestattet ist der sog. „Haus- und Familiendiebstahl“ (§ 247)21. Für den schweren Bandendiebstahl sieht § 244 a II schließlich für minder schwere Fälle einen gemilderten Strafrahmen vor. Ähnlich liegt es beim Betrug. § 263 kennt neben einer Qualifikation in Abs. 5 sowie einem deren Rechtsfolge mildernden Strafrahmen für minder schwere Fälle ebenfalls eine Bestimmung für besonders schwere Fälle, näher „erläutert“ durch Regelbeispiele (§ 263 III). Eine Reihe von speziellen Bestimmungen versammeln sich auch um den Raub: eine Qualifikation mit etlichen Varianten in zwei Stufen, § 250 I und II, sowie eine Erfolgsqualifikation, § 251. Hinzu kommen Strafrahmen für minder schwere Fälle des „einfachen“ Raubes, § 249 II, und für die Qualifikationen des schweren Raubes, § 250 III.

___________ chungen. Supplementband 1: 130 Jahre Strafgesetzgebung – Eine Bilanz, 2004, S. 381 ff. Zur Weite der Strafrahmen und ihren Grenzen s. auch unten Abschn. V. 20 Von einer Erörterung der §§ 225, 229 (230) und 231 wird hier abgesehen. 21 Näheres zu diesem „Privilegierungsgrund“ bei Wessels/Hillenkamp (Fn. 12), Rn. 306 ff.; s. auch Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl., 1991, 6/96. – Für die hier interessierende Thematik ist es nicht erforderlich, auf die weiteren Vorschriften des 19. Abschnitts des BT einzugehen.

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Einen Privilegierungstatbestand gibt es weder hier22 noch bei Körperverletzung, Diebstahl oder Betrug23. Ein solcher findet sich mit § 216 im Bereich der Tötungsdelikte. Zwar ist nach Rechtsprechung und h.L. der Strafrahmen des § 213 anzuwenden, wenn die Voraussetzungen seiner ersten Alternative vorliegen; gleichwohl kommt dieser Norm nach h.M. nur der Charakter einer bloßen Rechtsfolgenmodifikation, nicht der eines Privilegierungstatbestands zu24. Man sieht anhand des Geschilderten das Bemühen des Gesetzgebers, der Strafzumessung des Tatrichters vorzuarbeiten und ihn auf diese Weise von Bewertungen zu entlasten, die schon und gerade dem Gesetzgeber möglich sind25, jenem also „Orientierung“ zu geben. Die Wirkung solcher unselbstständigen Abwandlungen, wie etwa der §§ 224, 226 oder 227, ist klar und für den Tatrichter tendenziell entlastend: Ist nur § 223 verwirklicht, steht ihm der im Verhältnis zu den §§ 224, 226 und 227 engere, weil von diesen besonders geregelten schwereren Fallgruppen entlastete Strafrahmen des Grunddelikts zur Verfügung. Auf diesen sind seine weiteren Überlegungen im Rahmen der Bewertung einer konkreten Tat sodann begrenzt. Mit dem Strafrahmen – beispielsweise – des § 224 hat der Tatrichter sich nur zu befassen, wenn – zumindest – eines der qualifizierenden Merkmale der Nrn. 1-5 zusammen mit den Voraussetzungen des § 223 I verwirklicht ist. Andere, s. E. ebenso gefährliche Handlungsweisen wie die in § 224 I beschriebenen, können nur im Rahmen der Beurteilung der Tat als „einfache“ Körperverletzung nach § 223 I straferhöhend zu Buch schlagen. Da die qualifizierenden gefährlichen Begehungsweisen in § 224 I abschließend aufgeführt sind, ist das angesichts des Analogieverbots unausweichlich26. Was aus Gründen der ___________ 22

Ersatz bieten in gewisser Weise die zahlreichen Strafrahmen für minder schwere Fälle, z.B. §§ 249 II, 250 III. So meint denn auch die Begr. zum Entwurf eines 6. StrRG, BT-Drs. 13/8587, S. 34 im Zusammenhang mit der Streichung der Kindestötung, die psychische Ausnahmesituation einer Mutter könne „durch die Anwendung des § 213 StGB Berücksichtigung finden“. 23 Soweit dort die gesetzliche Mindeststrafe angedroht ist, §§ 38 II, 40 I, bedarf es einer solchen Bestimmung auch nicht. 24 Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 1 Rn. 8; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1, 33. Aufl. 2009, Rn. 117 f.; hingegen stellte die 1998 gestrichene Kindestötung, § 217, eine Privilegierung dar, freilich mit halbherziger Absenkung nur der Mindeststrafdrohung auf drei Jahre. 25 Wenn er denn schon nicht von Verfassungs wegen verpflichtet ist, alle hier anfallenden Sachprobleme zu regeln, die er entscheiden könnte – das BVerfG lässt ihm in diesem Bereich weitgehend freie Hand; zu den Grenzen seiner eigenen Prüfungskompetenz s. BVerfGE 80, 244 (255); 90, 145 (173) –, so sollte er sich doch, schon um der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung willen, hierum bemühen. Zu den Pflichten der Legislative, die das BVerfG Art. 103 II GG hinsichtlich der Strafandrohungen entnimmt, s. unten IV. 26 Wenn die Doktrin für den Tatbestandscharakter von gesetzlichen Merkmalen zusätzlich verlangt, deren Vorliegen müsse den Richter auch zur Anwendung des jeweili-

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Rechtssicherheit für den Tatrichter entlastend wirken soll und wirkt, könnte nun dann als Regelung „unbefriedigend“ sein, wenn ein vorgekommener, in der Qualifikation nicht erfasster Fall tatsächlich gleich oder gar strafwürdiger erschiene als die in der Abwandlung geregelten Fälle27. In diesem Sinn stünde dem Vorteil28 der „Rechtsstaatlichkeit“ (Rechtssicherheit) als Nachteil eben die Starrheit dieser Methode gegenüber, die fehlende „Flexibilität“29. Was nun bei einem etwas längeren Blick auf die o.g. tatbestandlichen Abwandlungen auch zu erkennen ist, sind allerdings – de lege lata – Ungereimtheiten; dies jedenfalls dann, wenn man die schon referierten Aussagen zur Bedeutung der Strafrahmen und ihrer Basis ernst nimmt: So müsste bei einer qualifizierenden Abwandlung prinzipiell jede Tat, die gegenüber einer i.Ü. als gleich gedachten ein zusätzliches schärfendes Merkmal aufweist, entsprechend dem geänderten Bewertungsmaßstab eine höhere Strafe nach sich ziehen30. Gerecht werden dem z.B. die Strafrahmen der §§ 235 I, IV und V, 239 I, III und IV sowie 306a I, 306b I, II und 306c, was das Verhältnis Grundtatbestand – Qualifikation – Erfolgsqualifikation betrifft. Bei §§ 249 I, 250 I, II und 251 stimmen die Relationen hingegen nur, wenn man annimmt, es seien jeweils Fälle in einem nicht nur theoretischen Sinn denkbar, die zwar die Voraussetzungen ___________ gen Strafrahmens zwingen – für alle: MK-StGB/Radtke (Fn. 13), § 12 Rn. 18 –, so ist das mit Vorsicht zu genießen: Zum einen wird das Erfordernis überall relativiert, wo das Gesetz Strafrahmen für minder schwere Fälle vorsieht, wie etwa in §§ 224 I, 244a II, 250 III, zum anderen bei Vergehen durch die Opportunitätsbestimmungen der §§ 153 ff. StPO aufgeweicht. 27 Allzu häufig dürfte das nicht real werden; und wenn es denn wirklich einmal so läge, sind – und das ist durchaus kein Lob – schon die derzeitigen Strafrahmen der Grundtatbestände so weit gefasst, dass die als angemessen empfundene Endstrafe in aller Regel erreichbar sein würde; vgl. den Text nach Fn. 112. Angesichts dessen entbehren derartige, in Gesetzgebungsverfahren immer wieder zu vernehmende „Sorgen“ einer soliden Grundlage. 28 Zu den Qualifikationen s. BGHSt 4, 226 (228); in: LK-StGB/Hilgendorf (Fn. 5), § 12 Rn. 24; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, § 4 Rn. 109 f.; zu deren Nachteilen Dreher, ZStW 77 (1965), 220, 231 ff. 29 Der in unseren Tagen in Gesetzgebung und Praxis hoch gelobten „Flexibilität“ (Biegsamkeit, Wendigkeit) ist die nahe Verwandtschaft zur Opportunität schon auf den ersten Blick anzusehen. Derlei „vereinfacht“ der Praxis gewiss ihr Geschäft; man sollte aber – im Strafrecht i.w.S. zumal – die „Kostenseite“ nicht so locker übergehen oder „klein reden“, wie dies heute häufig geschieht; s. auch Stächelin, Das 6. Strafrechtsreformgesetz – Vom Streben nach Harmonie, großen Reformen und höheren Strafen, StV 1998, 98, 101. 30 Vgl. noch SK-StGB/Horn (Fn. 15), § 46 Rn. 58. Erwähnt sei, dass auch die Tatbestände selbst (nebst ihren Abwandlungen) untereinander in einem „rechten Verhältnis“ stehen müssten. Da uns freilich zwar eine Art „Meßlatte“, aber keine „dazugehörige Waage“ zur Verfügung steht – zu diesem schönen Bild Dreher, FS Bruns, 1978, S. 141, 154 und schon Beling, Der amtliche Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs, GS 91 (1925), 328 –, gilt das Gesagte nur „cum grano salis“; s. auch Fn. 14 a.E.

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des § 249 I oder des § 250 I, nicht aber die des § 250 II erfüllten, jedoch gleichwohl angemessen nur mit einer Strafe aus dem Bereich der zeitigen Höchststrafe belegt werden könnten31. Anderenfalls wäre die Höchststrafe in § 249 I und/oder § 250 I falsch, nämlich zu hoch32. Sicher nicht in der beanspruchten Systemlogik liegt es hingegen, wenn in §§ 244, 244a gegenüber § 242 zwar die Mindeststrafe auf sechs Monate / ein Jahr33 Freiheitsstrafe erhöht wird, die Höchststrafe dann aber für beide Qualifikationen gleichermaßen zehn Jahre beträgt, obwohl sie entweder für § 244a höher34 oder für § 244 niedriger liegen müsste. Ebenso verhält es sich, die Obergrenzen betreffend, bei dem erst durch das 37. StÄG vom 11. Februar 2005 eingeführten „Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung“, § 232: Für den Grundtatbestand Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, für die qualifizierten Fälle (Abs. 3) Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. Das ist sachlich eine Gleichsetzung von Ungleichem35. Schon das bisher Gesagte zeigt, dass die nur auf den allerersten Blick harmonisch anmutende Flurbereinigung durch das 6. StrRG einen – auch in den Begründungen – inhaltsarmen „starren Schematismus“ hinterlassen hat, der „der Vielfalt der Tatbestände nicht gerecht“ wird, dass also genau das eingetre-

___________ 31 Dazu vgl. schon Hettinger, GA 1995, 399, 411; die Verurteiltenstatistik weist die §§ 249, 250 und 251 nicht getrennt aus. 32 Mit denkbaren Folgeänderungen bei §§ 242 ff. 33 Wobei die Differenz von sechs Monaten angesichts der Ausschläge nach oben – jeweils von fünf Jahren auf zehn Jahre – gering ist. Immerhin bewirkt sie aber die Einordnung des § 244a als Verbrechen i.S. des § 12 I; krit. zu § 244a I Alt. 2 Krahl,Tatbestand (Fn. 15), S. 6 Fn. 13. 34 Dazu Hettinger, GA 1995, 399, 412 f. und in: FS Küper, 2007, S. 95, 102 f. 35 Bemerkenswert ist auch die Regelung in § 232 V: Für minder schwere Fälle des Abs. 1 Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, für solche des Abs. 3 dann sechs Monate bis zu fünf Jahren. Hierzu heißt es in der Begr. der BT-Drs. 15/4048, S. 13: „Absatz 5 enthält Strafzumessungsregeln für minder schwere Fälle“. Nun ja. – Nicht unmittelbar klar ist ferner, warum die Qualifikation der bloßen „Förderung des Menschenhandels“, deren Strafrahmen dem des § 232 I entspricht, im Gegensatz zu diesem keinen Strafrahmen für minder schwere Fälle kennt. – Nachgerade vertauscht muten insoweit die Bestimmungen für minder schwere Fälle in den §§ 234 II und 234a II an! – Bereits an der Vorläuferregelung der „minder schweren Fälle“, den „mildernden Umständen“, vom Code pénal ins preuß. StGB von 1851 übernommen, war mit guten Gründen gerügt worden, es fehle ein „festes Prinzip“, ein System; dazu m.w.N. Hettinger, FS Pötz, 1993, S. 77, 88 ff.; Richard Ed. John, Entwurf mit Motiven zu einem Strafgesetzbuche für den Norddeutschen Bund, 1868, S. 167, 170 ff.; C.G. v. Wächter, Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, Leipzig 1870, S. 58 ff., 70 ff.; Adolf Wach, Legislative Technik, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, hrsg. von Karl v. Birkmeyer u.a., Allgemeiner Teil, Bd. VI, 1908, S. 1, 77.

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ten ist, was die Verfasser des E 1962 für den Fall einer zu geringen Zahl von Strafandrohungstypen befürchtet hatten36. Die eigenständigen Delikte, soweit man dieser Gruppe überhaupt dogmatische Bedeutung zumessen will, sind problemlos, weil sie im Unterschied zu den unselbstständigen Abwandlungen den Charakter von „Unwerttypen“37 aufweisen, denen wiederum unselbstständige Abwandlungen beigefügt sein können38. Bis hier entspricht das deutsche System der Differenzierung dem vieler anderer Rechtsordnungen39. Wo ein Tatbestand nach Einschätzung des Gesetzgebers zu viele nach Unrecht und Schuld verschiedene Sachverhalte erfasst, also einen Strafrahmen von einer Weite bedingen würde, die den Unwerttypus des Delikts nicht mehr hinreichend deutlich erkennen ließe, verfehlte das Gesetz seine Aufgabe, den Richter – gerade – auch bei seiner Strafzumessungstätigkeit hinreichend zu führen40. Eben deshalb ist der Gesetzgeber, insbesondere in für die Praxis wichtigen Gebieten41, – wie gezeigt – traditionell bemüht, der Vielfalt der Erscheinungsformen des jeweiligen Delikts dadurch gerecht zu werden, dass er spezielle Fallgruppen aus dem einen Deliktstyp herausnimmt und mit eigenen, auf ihren Unrechts- und Schuldgehalt zugeschnittenen schärferen oder (kaum noch:) milderen Strafrahmen ausstattet42. Gelänge ihm das immer, könn___________ 36

Vgl. E 1962 (Fn. 15), S. 266. Dazu Jakobs, AT (Fn. 21), 6/98; Jescheck/Weigend, AT (Fn. 5), § 26 III 3; Maurach/Zipf, Strafrecht AT, Teilbd. 1, 8. Aufl. 1992, § 20 Rn. 46; vom „Unrechtstypus“ spricht Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 10 Rn. 135 f. 38 Siehe o. den Text bei Fn. 31. 39 So verfahren etwa auch die Strafgesetzbücher von Österreich, Italien, Spanien, Frankreich, Polen, Russland und der Schweiz. Die Schweiz kennt punktuell eine fakultative Strafschärfung bei Verursachung eines großen Schadens in Art. 144, 144bis sowie bei (Dritt-)Bereicherungsabsicht in Art. 158; ferner in Art. 185 III (Geiselnahme) fakultativ lebenslange Freiheitsstrafe „in besonders schweren Fällen, namentlich wenn die Tat viele Menschen betrifft“; die Staatsschutzdelikte der Art. 271 und 273 weisen unbenannte „schwere“ Fälle auf, Art. 272 einen solchen mit Erläuterung („insbesondere“). 40 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 4. Aufl. 2008, Rn. 310 ff., 315 sowie 487 ff.; Streng, Sanktionen (Fn. 10), Rn. 386 f., 408 ff., aber auch 476 ff., jeweils m.w.N.; Lange, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 1. Bd., Grundsatzfragen, 1. bis 13. Sitzung, 1956, S. 115 ff.; s. auch unten Abschn. V. 41 Außer den schon genannten §§ 223 ff., 242 ff., 263 und 249 ff. wäre insbes. das Betäubungsmittelstrafrecht hervorzuheben mit 2006 insgesamt 68.580 Verurteilten, davon 43.063 zu Freiheitsstrafen. Nebenbei: Der E 1962 sah für die den § 223, 239 I, 242, 263 entsprechenden Tatbestände jeweils Gefängnis bis zu drei Jahren oder Strafhaft (gem. § 47 E 1962: eine Woche bis zu sechs Monaten) vor! Auch andere Strafrahmen waren maßvoller als das geltende Recht. 42 Vgl. dazu Schröder, FS Mezger, 1954, S. 415 ff.; Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot (Fn. 13), S. 66 ff. 37

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te er – wie schon erwähnt – den Strafrahmen für den „Grundtatbestand“ eng halten, weil dann alle vom Unwert dieses Typus wesentlich nach oben oder unten abweichenden „Untertypen“ (Abwandlungen) in die je speziellen Strafrahmen ausgegliedert wären. Das verbürgte Rechtssicherheit und gäbe dem Richter einen gut konturierten „Orientierungsrahmen“ an die Hand, der ihm bei der „Feinbestimmung“ der Endstrafe dienlich wäre. Wo dies nicht möglich wäre, hätte der Tatrichter immerhin durch die speziellen Merkmale Klarheit jedenfalls darüber, welche „Umstände“ in welche Richtung wiesen und mit welcher „generellen Gewichtigkeit“. Der zweite, offenbar nur im deutschen StGB systematisch beschrittene Weg führt statt über qualitative Abschichtung über eine letztlich rein quantitative Scheidung43. Im Verhältnis zu den herkömmlichen unselbstständigen Abwandlungen handelt es sich bei den besonders schweren Fällen um eine Rechtsfigur relativ neuen Datums. Da es zu ihr, ihrer Entstehungsgeschichte sowie dem sich um sie rankenden Streit eine Vielzahl von Monographien44 und Abhandlungen45 gibt, und auch aus anderen, noch darzulegenden Gründen, genügt es an dieser Stelle, den derzeitigen Diskussionsstand in aller Kürze aufzuzeigen. Auch nach den umfangreichen Änderungen durch das 6. StrRG kennt das Strafgesetzbuch noch Strafrahmen für besonders schwere Fälle ohne Regelbeispiele. Die Voraussetzungen, die darüber entscheiden (können), ob ein solcher Strafrahmen zur Anwendung kommt, sind – bis auf die besondere Schwere – „vollkommen unbenannt“46. Wann in solchen Fällen diese besondere Schwere ___________ 43 Das gilt jedenfalls für die hier allein interessierende, im aktuellen StGB eingesetzte Technik der besonders schweren Fälle mit Regelbeispielen oder ohne; dazu Noll, JZ 1963, 297, 300 ff.; Dreher, ZStW 77 (1965), 220, 234 ff. Zu anderen, schon einmal eingesetzten Techniken s. Richard Lange, MDR 1948, 310; Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989, S. 79 ff., 417 ff., zusf. 718 ff. (mit Blick auf diesen Zeitraum sprach Eb. Schmidt in der Großen Strafrechtskommission einmal von einer „entarteten Gesetzgebungstechnik“); Scheffler, Strafgesetzgebungstechnik (Fn. 1), S. 6 ff., 19 ff. Instruktiv zur Strafrahmenkonzeption des E 1962 (Fn. 15) als dem Vorläufer der heutigen besonders schweren Fälle mit Regelbeispielen s. dessen Begr., S. 97 f., 179 f. und insbes. 183 ff. sowie 265 ff.; anschaulich und kritisch zur Entwicklung der §§ 242-244 bis 1972 Blei, FS Heinitz, 1972, S. 419, 420 f. 44 Eisele, Die Regelbeispielsmethode (Fn. 8), Kap. B X, XI, S. 70 ff. listet Rspr. und Literatur bis Ende 2003 auf; s. auch Scheffler, Strafgesetzgebungstechnik (Fn. 1). 45 Aus neuerer Zeit insbes. Degener, FS Stree/Wessels, 1993, S. 305 ff.; Zieschang, Jura 1999, 561 ff.; Gössel, FS Hirsch, 1999, S. 183 ff.; Hirsch, FS Gössel, 2002, S. 287 ff. für die „h.M.“ einerseits, Kindhäuser, FS Triffterer, 1996, S. 123 ff.; Calliess, Der Rechtscharakter der Regelbeispiele im Strafrecht, NJW 1998, 929 ff.; Gropp, JuS 1999, 1041 ff.; Eisele, JA 2006, 309 ff., für die „a.A.“ andererseits. Dabei sei nur erwähnt, dass innerhalb der Lager zu Einzelfragen durchaus keine Einigkeit herrscht. 46 So MK-StGB/Radtke (Fn. 13), § 12 Rn. 15, der einige dieser Bestimmungen aufzählt; weiter zu nennen wären neben § 212 II noch die Ende 2003 wieder eingeführten §§ 176 III, 179 III, die zeigen, dass der Gesetzgeber auch an dieser alten „Technik“ trotz zwischenzeitlichen Schwankens festhalten will. Nach Maurach/Zipf, AT/2 (Fn. 10), § 62

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zu bejahen sein soll, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Nach der Rechtsprechung des BGH liegt ein besonders schwerer Fall vor, „wenn die Tat bei Berücksichtigung aller Umstände die erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden und deshalb vom Gesetz für den Spielraum des ordentlichen Strafrahmens schon bedachten Fälle an Strafwürdigkeit so übertrifft, daß der ordentliche Strafrahmen zur Sühne nicht ausreicht (BGH 1 StR 594/51 vom 4. Dezember 1951, NJW 1952, 234; RGSt 69, 164, 169). Dabei sind die wesentlichen Strafzumessungsgründe der Tat selbst zu entnehmen; den Begleitumständen ist geringeres Gewicht beizulegen“47. Zahlreiche spätere Entscheidungen haben diese Formel variiert, aber in der Substanz bestätigt48. Neben dieser „ältesten“ Form der Strafrahmenunterteilung mit Hilfe besonders schwerer Fälle hat sich inzwischen nahezu49 vollständig die Technik der Regelbeispiele durchgesetzt, die freilich nicht „neben“ den unbenannten besonders schweren Fällen stehen, sondern als Bestandsteil dieser Rechtsfigur fungieren. Während die Erfüllung der Voraussetzungen eines Grund- oder Ausgangstatbestandes wie etwa § 242 den Richter zur Anwendung der Norm – jedenfalls nach deren Wortlaut – zwingt (wird mit … bestraft50), sagt beispielsweise § 243 I 1 zwar, dass in besonders schweren Fällen der Diebstahl mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zehn Jahren bestraft „wird“ und führt sodann „Beispiele“ dafür an, wann „in ___________ Rn. 37 stellen die „nicht durch spezielle Merkmale erläuterten Wertgruppen … eines der schwierigsten Probleme der Strafzumessung dar“. 47 So die frühe „Leitentscheidung“ BGHSt 5, 124 (130); s. auch BGHSt 2, 181 (182 f.), beide in Bezug genommen von BVerfGE 45, 363 (372), sowie, von BT-Drs. 13/8587, S. 42 herangezogen, BGHSt 28, 318 (319 f.); 29, 319 (322). Zur Entstehungsgeschichte dieser Formel s. Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot (Fn. 13), S. 207 ff.; ders., FS Pötz, 1993, S. 77, 83, 100 ff. 48 Nachw. bei Schäfer/Sander/van Gemmeren, Strafzumessung (Fn. 40), Rn. 597; ferner etwa BGH NStZ 1992, 229; 2001, 647; bei Detter, NStZ 2000, 579 mit Fn. 26; die Übersichten zur Rspr. zum Strafzumessungs- und Maßregelrecht von Detter in der NStZ enthalten in den letzten Jahren kaum noch Entscheidungen des BGH zu unbenannten besonders schweren Fällen; und wenn, geht es um § 212 II. Das „bestätigt“ die in der „Öffentlichen Anhörung“ des Rechtsausschusses des Bundestags am 4.6.1997 – zum Entwurf eines 6. StrRG – von Vertretern der Praxis geäußerte Ansicht, von der Annahme unbestimmter besonders schwerer Fälle werde in der Praxis – wegen des sehr hohen Begründungsaufwands und der hohen Dichte revisionsgerichtlicher Nachprüfung – sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht; s. das Protokoll der 88. Sitzung des Rechtsausschusses, Deutscher Bundestag, 13. WP, Rechtsausschuss (6. Ausschuss), Protokoll Nr. 88. Zu den krit. Stellungnahmen zur Rechtsfigur der besonders schweren Fälle in dieser Anhörung näher Calliess, NJW 1998, 929, 930; s. auch Hirsch, FS Gössel, 2002, S. 287, 294 f. mit Fn. 35. 49 Ausnahmen bilden nur noch §§ 129 IV und 241a IV, wobei letzterer auch bei Bejahung eines besonders schweren Falls die Anwendung dessen Strafrahmens nur fakultativ vorsieht. 50 So lautet die Formulierung in aller Regel. Daneben finden sich „Mit … wird bestraft, wer …“ (z.B. § 244 I), „… so ist“ (§ 251), „auf … ist zu erkennen“ (§ 250 I), „ebenso wird bestraft, wer“ (§ 232 I 2).

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der Regel“ ein solcher besonders schwerer Fall vorliege. Damit bestimmt aber nicht – wie bei den Qualifikationen – schon die Verwirklichung eines solchen (Regel-)Beispiels über die Anwendung des Sonderstrafrahmens, sondern erst die Entscheidung darüber, ob der Fall „insgesamt“ als besonders schwer anzusehen ist. Die Regelbeispiele haben also die Wirkung eines starken51 Indizes für die Schwere des jeweiligen Falls, mehr aber nicht52. Darüber hinaus kommt ihnen nach h.A. hinsichtlich eines möglichen sonstigen besonders schweren Falls eine Analogie- und eine Gegenschlusswirkung zu. Man mag bei ersterer zwischen einer engeren Variante (Ähnlichkeit zu einem Regelbeispiel) und einer weiteren („nur“ gleicher Unrechts- und Schuldgehalt) unterscheiden53, letztlich entscheidend ist aber auch hier der Schwerewert, ob also Unrechts- und Schuldgehalt das Maß erreichen, das der Gesetzgeber für diese Rechtsfigur der „besonders schweren Fälle“ voraussetzt. Gleiches gilt für die sog. Gegenschlusswirkung54. Stiehlt der Täter mit dem „richtigen“ Schlüssel oder aus einem „offenen“ Behältnis, so ist das jeweilige Regelbeispiel des § 243 I 2 gerade nicht verwirklicht; gleichwohl kann – aus anderen Gründen – die besondere Schwere, und damit ein besonders schwerer Fall, zu bejahen sein55. Die Diskussion über diese im Entwurf zum 6. Strafrechtsreformgesetz als „in der modernen Strafgesetzgebung bevorzugte Technik“56 besonders hervorgehobene Regelbeispielsmethode wurde vor und wird auch nach dem Inkrafttreten des Reformgesetzes in der Literatur kontrovers geführt. Zum einen erfährt der BGH dafür Kritik, dass er die Beantwortung der Frage, ob eine Straftat einen besonders schweren Fall eines Delikts darstelle, von einer „Gesamtbewertung der wesentlichen tat- und täterbezogenen Umstände“57 abhängig machen will, also davon, „ob das gesamte Tatbild nach einer Gesamtwertung aller objektiven, subjektiven und die Persönlichkeit des Täters betreffenden ___________ 51 Das zeigt § 267 III 3 Hs. 1 StPO, wonach im Urteil begründet werden muss, „weshalb ein besonders schwerer Fall nicht angenommen wird, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen nach dem Strafgesetz in der Regel ein solcher Fall vorliegt“. 52 Vgl. auch BGHSt 23, 254 (257): „Nur indizielle Bedeutung“; ferner etwa Fischer (Fn. 13), § 46 Rn. 91; Eisele, JA 2006, 309, 310. 53 So Eisele, JA 2006, 309, 310 m.w.N. 54 Diese „Gegenschlusswirkung“ besagt nicht mehr, als dass die Regelbeispielswirkung nicht eintreten kann, wenn das jeweilige Regelbeispiel nicht verwirklicht ist. Gewonnen ist damit nichts; eher wird hierdurch einem falschen Schluss der Boden bereitet. 55 Fischer (Fn. 13), § 46 Rn. 94; Eisele, JA 2006, 309, 310; s. auch § 267 III 3 Hs. 2 StPO. 56 BT-Drs. 13/8587, S. 36; massive Kritik bei Calliess, NJW 1998, 929, 932 f.; Hettinger, Entwicklungen im Strafrecht und Strafverfahrensrecht der Gegenwart. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, 1997, S. 34 ff.; dazu auch Kreß, NJW 1998, 633, 636; Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999,Vor § 38 Rn. 18 ff. Aufgegriffen hat diese deutsche „Erfindung“ offenbar bisher kein anderer Strafgesetzgeber. 57 So BGHSt 23, 254 (257); krit. Eisele, Regelbeispielsmethode (Fn. 8), S. 182, 207 f.

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Umstände, die der Tat selbst innewohnen oder die sonst im Zusammenhang mit ihr stehen, vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle in einem Maße abweicht, daß die Anwendung des höheren Strafrahmens geboten erscheint ... Die für die Bewertung wesentliche Richtlinie bilden dabei die gesetzlichen Regelbeispiele, die keinen abschließenden Katalog darstellen, denen aber eine maßstabbildende Bedeutung zukommt“58. Zum anderen – und damit zusammenhängend – ist nach wie vor höchst streitig, ob die These der Rechtsprechung, es handle sich bei den besonders schweren Fällen (mit Regelbeispielen oder ohne) um Strafzumessungsregeln59, zutrifft oder nur den Versuch darstellt, das – befürchtete – Verdikt der Verfassungswidrigkeit dieser Rechtsfigur zu umgehen60.

IV. Zur Aufteilung der Verantwortung zwischen Gesetzgeber und Richter Die Reformatoren, die nach 1871 erfolgreichen wie die, deren Projekte aus unterschiedlichsten Gründen scheiterten61, hatten jeweils im Blick, was die Diskussion bis heute mit prägt: die Frage der Verantwortungsaufteilung zwischen Gesetzgeber und Richter, die Rechtsfolgenbestimmung im Einzelfall betreffend62, einerseits, und die Problematik der Reichweite der Strafrahmen63, in der der jeweilige Deliktstypus erkennbar sein und bleiben soll, andererseits64. Sicher scheint, dass „allzu breite Strafrahmen … verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt“ sind65. Darüber, wann ein Strafrahmen „allzu breit“ geraten ist, gehen die Ansichten in der Literatur freilich auseinander66. ___________ 58 BGHSt 28, 318 (319 f.); s. schon o. den Text vor und in Fn. 43; zur Kritik vgl. Eisele, Regelbeispielsmethode (Fn. 8), S. 206, 207 ff. 59 Lackner/Kühl (Fn. 10), § 46 Rn. 7 ff. m.w.N.; instruktiv i.S. der h.M. Mitsch, Strafrecht BT 2, Vermögensdelikte (Kernbereich)/Teilbd. 1, 2. Aufl. 2003, § 1 Rn. 169 f. Nachw. zur h. M. bei Eisele, Regelbeispielsmethode (Fn. 8), S. 144 Fn. 8. 60 Dazu nur Calliess, NJW 1998, 929, 933 und Eisele, Die Regelbeispielsmethode (Fn. 8), S. 147 ff. m.w.N.; krit. zu Calliess’ Argumentation ebd., S. 152 ff., 157 ff. 61 Zu diesen Entwürfen s. den Überblick bei Eisele, Regelbeispielsmethode (Fn. 8), S. 70 ff. 62 Was zumeist unter dem Aspekt „Rechtsstaatlichkeit“ abgehandelt wird. 63 Die insbes. Kritiker der Weite der Strafrahmen als Bestimmtheitsproblem erörtern; es scheine, als sei diese Frage „bereits bis zum Überdruß diskutiert“, schrieb Maiwald, FS Gallas, 1973, S. 137, 138. 64 Zum Spannungsverhältnis zwischen der Rechtsfolgebestimmtheit und der schuldbezogenen Einzelfallgerechtigkeit s. nur Bruns, Strafzumessungsrecht. Gesamtdarstellung, 2. Aufl. 1974, S. 73 ff. und: LK-StGB/Dannecker (Fn. 5), § 1 Rn. 223 ff. m.w.N. 65 Jescheck/Weigend, AT (Fn. 5), § 82 II 1, die hier §§ 267 und 253 sowie §§ 212, 213 im Auge hatten. Bei ersteren reichten die Strafandrohungen vor dem 6. StrRG von

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Das Problem war bereits67 in der Großen Strafrechtskommission Gegenstand der Diskussion gewesen. Das kommt sehr klar zum Ausdruck in der „Grundsatzfrage 6“, über die in der 6. Sitzung der Großen Strafrechtskommission am 12.10.1954 Richard Lange und Hans Dahs (sen.) referierten und die Kommission sodann diskutierte: „In welchem Umfang soll die Freiheit des richterlichen Ermessens bei der Gestaltung der Strafrahmen und der Rechtsfolgen der Tat erweitert oder beschränkt werden? Wie sind die Fragen der mildernden Umstände, der schweren, besonders schweren, minder schweren, besonders leichten Fälle zu lösen? Soll der Richter unter Umständen von Strafe absehen können und inwieweit?“68 Der Entwurf 1962 suchte den rechtsstaatlichen Bedenken „gegen übermäßig weite Strafrahmen“ bei Tatbeständen, die „infolge ihrer abstrakten Ausformung … Taten von außerordentlich unterschiedlichem Unrechts- und Schuldgehalt“69 umfassten, durch „eine sachgemäße Unterteilung solcher Strafrahmen“ abzuhelfen; zum einen durch Herausbildung von „Wertgruppen“ (Hinzutreten tatbestandlich abschließend umschriebener Merkmale), zum anderen – wo diese Methode versage, weil „der Verstoß gegen den Tatbestand durch eine Fülle verschiedenartigster tatsächlicher Handlungen begangen werden kann“70 – durch Einsatz der neuen „Rechtsfigur der besonders schweren Fälle“71. Im Sonderausschuss für die Strafrechtsreform, der nach dem Scheitern des im Entwurf 1962 kulminierenden Reformprojekts an die Stelle der Großen Strafrechtskommission getreten war, wurde mehrfach die rechtsstaatliche Bedenklichkeit extrem weiter Strafrahmen hervorgehoben72, daneben wurden aber auch „verfassungsrechtliche Bedenken“73 gegen ___________ fünf Tagessätzen Geldstrafe bis – in (unbenannten) besonders schweren Fällen – zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe, bei letzteren von sechs Monaten bis zu fünfzehn Jahren, in besonders schweren Fällen lebenslanger Freiheitsstrafe. 66 Maiwald, NStZ 1984, 433, 440 hielt z.B. den Strafrahmen bei § 267 a.F. für „unter dem Blickwinkel des Art. 103 GG eine missliche Sache“; vgl. auch die Nachw. bei Hettinger, GA 1995, 399, 405 f. für die Zeit vor dem 6. StrRG. Hirsch, FS Gössel, 2002, S. 287, 290 hält schon einen Strafrahmen von Geldstrafe bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe für Taten nach § 242 (bei Streichung des § 243) für unangemessen und wohl nicht mehr akzeptabel. Vgl. dazu auch unten V. 67 Das Problem ist allerdings schon lange erkannt; vgl. Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot (Fn. 13), S. 203 ff. m.w.N. 68 Niederschriften (Fn. 40), S. 115. 69 E 1962 (Fn. 15), Begr. S. 183. 70 E 1962 (Fn. 15), Begr. S. 184. 71 Wie Fn. 70, Hervorhebung im Original; nachdrücklich für diese Technik Dreher, ZStW 77 (1965), 220, 236. 72 Abg. Müller-Emmert, Sonderausschuss für die Strafrechtsreform (= SA), Protokolle IV. Wahlperiode (= WP), S. 516; s. auch die Nachw. bei Hettinger, FS Pötz, 1993, S. 77, ,104 Fn. 137. 73 Abg. Kaffka, SA, Protokolle IV. WP, S. 510; ders., SA, Protokolle 5. WP, S. 345; Abg. Müller-Emmert, SA, Protokolle IV. WP, S. 514 und Protokolle 5. WP, S. 371.

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die Technik der Regelbeispiele geltend gemacht. Der Ausschuss sah sie als nicht durchschlagend an: Es sei gewiss „rechtsstaatlicher“, die Strafdrohung in einen Regelstrafrahmen und einen verschärften Strafrahmen für besonders schwere Fälle zu unterteilen, als „einen einheitlichen, weit gespannten Strafrahmen von einer Woche bis zu zehn Jahren Gefängnis“74 vorzusehen. Die Auseinandersetzung um diese Problematik ist – wie erwähnt – auch nach dem 6. StrRG nicht zur Ruhe gekommen. Mochte nach der Kritik aus der Wissenschaft75, insbesondere aber aus der Praxis76, an den Plänen des Entwurfs zu einem 6. StrRG und der Reaktion des Gesetzgebers auf sie zunächst der Eindruck entstanden sein, die Regelbeispielstechnik habe ihren Zenit überschritten77, so zeigte sich in der Folgezeit, dass man an beiden Formen der besonders schweren Fälle festzuhalten gedenkt78. Damit erweist sich Maiwalds Prognose von 1983, die Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1977 (dazu Abschnitt V), die die Verwendung „der Rechtsfigur ‚besonders schwerer Fall‘“ verfassungsrechtlich nicht beanstandet hatte, werde wohl vom Gesetzgeber eher als „Ermutigung“ aufgefasst, „auch für die Zukunft an ihr festzuhalten“79, als nach wie vor zutreffend. Zu klären bleibt, welche Position das BVerfG aus der Sicht des von ihm interpretierten Verfassungsrechts zu der in Theorie und Praxis schon so lange und so unverändert umstrittenen Problematik einnimmt.

V. Zur Verfassungsmäßigkeit der besonders schweren Fälle Der 2. Senat des BVerfG hat bereits mit Beschluss vom 21.6.1977 in bei diesem Gericht unüblich knapper, schon lakonisch zu nennender Weise die Frage, ob § 94 II 1, 2 Nr. 2 den Erfordernissen des Art. 103 II GG genüge, be___________ 74 So etwa für das BMJ Schafheutle, SA, Protokolle 5. WP, S. 372 mit dem Hinweis S. 373, die Große Strafrechtskommission, die Länderkommission des Bundesrats wie auch dessen Rechtsausschuss hätten diese Lösung gebilligt; wie Schafheutle schon früher Dreher, SA, Protokolle IV. WP, S. 513; ähnlich Schwalm, ebd. S. 517. 75 Siehe nur die Nachw. bei Hirsch, FS Gössel, 2002, S. 287 f. 76 Siehe o. Fn. 48. 77 So Hirsch, FS Gössel, 2002, S. 287, 288 unter Bezugnahme auf Wilkitzki bei Dietmeier, Marburger Strafrechtsgespräch 1997, ZStW 110 (1998), 393, 409 und Kreß, NJW 1998, 633, 636. 78 Vgl. § 266a IV, eingeführt durch das Gesetz v. 23.7.2002 sowie §§ 176 III, 179 III, eingeführt durch das Gesetz v. 27.12.2003; dazu Eisele, Regelbeispielsmethode (Fn. 8), S. 103 f. Bis zum 6. StrRG hatten § 176 III eine Regelung für besonders schwere Fälle mit Regelbeispielen, § 179 III eine solche ohne Regelbeispiele aufgewiesen. 79 Maiwald, NStZ 1984, 433, 440.

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jaht80. Er führte aus, dass „die Kontroverse über die dogmatische Einordnung der Rechtsfigur ‚besonders schwerer Fall‘“ auf sich beruhen könne. „Denn unabhängig davon, ob man diese Rechtsfigur dem Bereich der Strafbemessungsregeln oder demjenigen der Strafvoraussetzungen zuordnet, ist hier dem Bestimmtheitsgebot genügt“. Nach Aufruf der zum damaligen Zeitpunkt schon erarbeiteten Formeln zum „Gebot der Bestimmtheit“ stellte das Gericht fest, dass die Vorschrift diesen Anforderungen gerecht werde: „In § 94 Abs. 1 StGB ist der Unwerttypus des Landesverrats eindeutig festgelegt. Aus dieser Vorschrift kann der einzelne ersehen, welche Verhaltensweise als Landesverrat unter Strafe steht“. Sie biete der Rechtsprechung „eine feste Grundlage für die Auslegung und Anwendung des Absatzes 2“81. Dieser bilde keinen neuen, von § 94 I wesensverschiedenen Unwerttypus; vielmehr beziehe sich die Rechtsfigur „besonders schwerer Fall“ auf den in § 94 I umrissenen Tatbestand. Was unter einem besonders schweren Fall zu verstehen sei, lasse sich anhand der von der Rechtsprechung hierzu entwickelten Kriterien und der Bestimmung des § 46, der bei Ausfüllung des Begriffs herangezogen werden könne, „unschwer ermitteln. Danach liegt ein besonders schwerer Fall nur vor, wenn das gesamte Tatbild einschließlich der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Fälle so sehr abweicht, daß die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten erscheint, weil der ordentliche Strafrahmen angesichts der besonderen Strafwürdigkeit der Tat nicht ausreicht“82. Darüber hinaus habe der Gesetzgeber in § 94 II zwei Beispiele genannt, die zusätzliche Hinweise dafür gäben, unter welchen Voraussetzungen ein besonders schwerer Fall vorliege. „Bei dieser Rechtslage ist das materiale Kriterium der ‚besonderen Schwere‘ des Falles hinreichend deutlich gemacht, um eine sichere Rechtsanwendung zu garantieren“83. Die in § 94 II angedrohte Strafe begegne „offensichtlich keinen Bedenken“84. Am 24.4.1978 stellte der 1. Senat (Vorprüfungsausschuss) unter Bezugnahme auf BVerfGE 45, 363 fest, dass § 212 II mit dem ___________ 80

BVerfGE 45, 363. Landesverrat wird gem. § 94 I mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr, in besonders schweren Fällen gem. § 94 II mit lebenslanger oder mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. Das Tatgericht kann also, wenn es einen besonders schweren Fall bejaht hat, auch lebenslange Freiheitsstrafe verhängen. 82 BVerfGE 45, 363 (372) mit Hinw. auf RGSt 69, 164 (169); BGHSt 2, 181 (182); 5, 124 (130) und Dreher, StGB, 36. Aufl. 1976, § 46 Rn. 40. 83 BVerfGE 45, 363 (373); krit. Krahl, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG), 1986, S. 149 ff.; MK-StGB/Schmitz, 2003, § 243 Rn. 3; Hirsch, FS Gössel, 2002, S. 287, 296 f. hält diese Entscheidung für überholt. Das Gericht sieht das wohl anders, wie verschiedentliche einschränkungslose Berufung auf sie zeigt; s. etwa BVerfGE 86, 288 (311); BVerfG NStZ 2009, 83. 84 BVerfGE 45, 363 (373). 81

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GG vereinbar sei85. Zwar enthalte die Vorschrift im Unterschied zu § 94 II keine Regelbeispiele, dafür gebe aber § 211 Hinweise, „welchen Unrechts- und Schuldgehalt der Gesetzgeber für diese Strafdrohung voraussetzen wollte. Daraus ergeben sich hinreichend sichere Kriterien auch für die Auslegung des § 212 Abs. 2 StGB“86. Beim Vergleich der Entscheidungen fällt eine Unstimmigkeit ins Auge: Während der 2. Senat in seinem Beschluss von 1977 die Rechtsfigur des besonders schweren Falls offenbar schon ohne Heranziehung der Regelbeispiele des § 94 II 2 für hinreichend bestimmt hält, denn in den „darüber hinaus“ genannten Beispielen sieht er nur „zusätzliche Hinweise“, scheint die zweite Entscheidung § 212 II nur deshalb für mit Art. 103 II GG vereinbar zu halten, weil § 211 Hinweise zum Unrechts- und Schuldgehalt eines mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu ahndenden Tötungsdelikts gibt. Da beide zur Überprüfung stehenden Vorschriften zur schweren Kriminalität gehören, lässt sich hier auch mit der – zweifelhaften – Rechtsprechung des Gerichts zu den mit der Schwere der angedrohten Strafe angeblich steigenden Anforderungen an die Bestimmtheit87 nichts glätten. In der Entscheidung vom 20.3.2003, die die Vermögensstrafe nach § 43a kassierte, betont der 2. Senat aus gegebenem Anlass, was schon in der bisherigen Rechtsprechung des Gerichts vorgezeichnet war: Dass die Strafe in Art und Maß durch den Gesetzgeber normativ bestimmt werden und für den Normadressaten vorhersehbar sein muss, dass das Spannungsverhältnis zwischen Schuldprinzip (Gerechtigkeit) und Rechtsfolgenbestimmtheit (Rechtssicherheit) so zum Ausgleich gebracht werden muss, dass die Sanktionsbestimmung dem Richter auch für den Einzelfall die Verhängung einer gerechten und verhältnismäßigen (schuldangemessenen) Strafe ermöglicht. Und weiter: „Bei den Strafdrohungen in den einzelnen Straftatbeständen des Besonderen Teils muss sich der Gesetzgeber auf Strafrahmen festlegen, denen sich grundsätzlich das Mindestmaß einer Strafe ebenso wie die Sanktionsobergrenze entnehmen lassen und die so einen Orientierungsrahmen für die richterliche Abwägung nach ___________ 85

BVerfGE JR 1979, 28 mit krit. Anm. Bruns; krit. auch Hirsch, FS Gössel, 2002, S. 287, 300 f. und Eric Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht. Eine Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 2005, S. 430 ff., 433. 86 BVerfG JR 1979, 28; zu den nicht eben einfach zu beantwortenden Fragen in diesem Zusammenhang Momsen, NStZ 1998, 487 ff. 87 BVerfGE 14, 245 (251); 75, 329 (342); 105, 135 (155 f.): „Je schwerer die angedrohte Strafe ist, umso dringender ist der Gesetzgeber verpflichtet, dem Richter Leitlinien an die Hand zu geben, die die Sanktion voraussehbar machen …, und den Bürger über die zu erwartende Strafrechtsfolge ins Bild zu setzen“; Nachw. zu krit. Stimmen bei Eisele, Regelbeispielsmethode (Fn. 8), S. 391 f.; Simon, Gesetzesauslegung (Fn. 85), S. 432 Fn. 151; ferner Appel, Verfassung und Strafe. Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Strafe, 1998, S. 119 f.; s. aber auch die Deutung bei Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 2. Aufl. 2008, Art. 103 II Rn. 39.

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Tatunrecht und Schuldmaß bilden“88. In ihrer Deutlichkeit neu erscheint die folgende Bemerkung, dass das gesetzliche „Mindestmaß“ der jeweiligen Strafart (§§ 38 ff.) „im Zusammenspiel mit der Sanktionsobergrenze nicht zu uferlosen Strafrahmen führen“ dürfe89. Anderenfalls bestehe die Gefahr der Unklarheit des normativen Verhältnisses zwischen Unrecht und Schuld einerseits und Sanktion andererseits, was dann die Bestimmung der konkreten Strafe zu einem unberechenbaren Akt richterlicher Entscheidung machen könne. Schließlich sei der Gesetzgeber „zur Angabe von Wertungskriterien verpflichtet, an die sich die richterliche Entscheidung bei der Auswahl der Strafart und der Ausfüllung des konkreten Strafrahmens zu halten hat“90. Nun, viel wäre das nicht, was das Gericht zu einer nicht eben unbedeutenden Frage 1977 zu sagen wusste; jedenfalls dann nicht, wenn damit auch die besonders schweren Fälle legitimiert sein sollten, die bislang neben den Regelbeispielen ein Schattendasein fristen und praktisch kaum eine Rolle spielen, denen aber vom Gesetzgeber vor einigen Jahren mit den §§ 176 III und 179 III wieder Nachwuchs zugewiesen worden ist. Etwas mehr wäre es hingegen, wenn die 1978 ergangene Entscheidung91 als nunmehr „offizielle“ Deutung verstanden werden dürfte. Denn dann wäre immerhin dem völlig frei flottierenden „Erfindungsrecht“92 phantasiebegabter Richter der Garaus gemacht. Wie gesehen interpretiert der Gesetzgeber unserer Tage die Entscheidung aber anders93. Festzuhalten ist auch, dass das BVerfG dem Gesetzgeber nach wie vor – offenbar – weitgehend freie Hand lassen will, und zwar – was registriert zu werden verdient – selbst dann, wenn die Annahme eines besonders schweren Falles, wie meist, zu einer Erhöhung des Höchstmaßes der Strafe führt94. Fasst ___________ 88

BVerfGE 105, 135 (156). BVerfGE 105, 135 (156); u.a. daran scheiterte die Vermögensstrafe; vgl. auch Eisele, Regelbeispielsmethode (Fn. 8), S. 392 ff., 394. 90 BVerfGE 105, 135 (156) mit Hinweis auf Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 103 II, Rn. 197 und auf die Wichtigkeit richterrechtlicher konkretisierender Strafzumessungsregeln; nur so ließen sich „weite Strafrahmen rechtsstaatlich handhabbar“ machen; vgl. auch Schulze-Fielitz, Grundgesetz (Fn. 87), Art. 103 II Rn. 38. 91 BVerfG JR 79, 28. 92 Freund, ZStW 109 (1997), 457, 471; Klaus Weber sprach in der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses zum Entwurf eines Sechsten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (Fn. 48), S. 22 von „Spielernaturen unter den Richtern“. 93 Ob er insoweit als Vergleichsnorm etwa für § 176 III den § 176a II, III, V im Auge hat oder aber auf die Argumentation von BVerfGE 45, 363 setzt, entzieht sich meiner Kenntnis. 94 Das ist so selbstverständlich nicht, denn hier wird – ohne nähere Angabe eines benannten „qualitativen“ Grundes, sei es eines qualifizierenden Merkmals oder wenigstens eines Regelbeispiels – dem Richter eine dem Gesetzgeber zukommende Aufgabe zugewiesen. Nicht wird der Richter angewiesen, aus einem schon vorhandenen Strafrahmen – z.B. des § 94 I – die Strafe dem oberen Bereich zu entnehmen, sondern ihm wird in 89

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man die Judikate des Gerichts zu dieser Frage zusammen, so stellt sich die Rechtslage wie folgt dar: Die Macht des Gesetzgebers zur Rechtsfolgenbestimmung endet erst dort, wo er sie zur Schaffung von „uferlosen Strafrahmen“ fehl gebraucht95. Scheinen ihm im Rahmen eines „Unwerttyps“ nun so viele unterschiedlich zu beurteilende Handlungen denkbar, dass er, um dem Richter schuldangemessene Strafen zu ermöglichen, den gesamten zeitigen Freiheitsstrafrahmen sowie auch den der Geldstrafen zur Verfügung stellen will, so darf er sich nicht mit den aus den Regelungen der §§ 38 ff. sich ergebenden „Rahmen“96 begnügen. Er kann aber, so der Weg über unselbstständige Abwandlungen nach seiner Einschätzung nicht alle denkbaren Fallgruppen erfasst, soweit es um Schärfungen geht, auch Strafrahmen für besonders schwere Fälle vorsehen, sei es erläutert durch Regelbeispiele, sei es – notfalls? – ohne solche Beispiele. Und diese Strafdrohung darf – wie BVerfGE 45, 363 zeigt – sich zum einen hinsichtlich ihres „zeitigen“ Teils mit dem Strafrahmen des Unwerttyps des § 94 I vollständig decken97, zum anderen kann sie für die „aller schwersten“ besonders schweren Fälle über das für den Unwerttyp Bestimmte hinaus auch lebenslange Freiheitsstrafe vorsehen. Der Gesetzgeber kann aber – so BVerfG, JR 1979, 28 – auch so verfahren, dass er für besonders schwere Fälle nur lebenslange Freiheitsstrafe anordnet98. ___________ § 94 II die Kompetenz übertragen, lebenslange Freiheitsstrafe auch dann zu verhängen, wenn keines der Regelbeispiele verwirklicht ist. 95 Die andere, von BVerfGE 50, 125 (140) geschilderte Konstellation – s. den Text vor Fn. 99 – dürfte nicht vorkommen. Zur gegenläufigen „absoluten“, d.h. lebenslangen Freiheitsstrafe hat das BVerfG sich schon mehrfach geäußert; dazu bedarf es jedenfalls hier keiner Stellungnahme. 96 Also Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu fünfzehn Jahren. Das ist nun durch BVerfGE 105, 135 ausdrücklich verworfen. Auch ein einheitlicher, durchgehender Strafrahmen von einem Monat bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe könnte womöglich dem Bannfluch anheim fallen, denn das BVerfG spricht zwar vom gesetzlichen Mindestmaß, nicht aber auch vom gesetzlichen Höchstmaß (hier: zeitiger Freiheitsstrafe), sondern nur von der „Sanktionsobergrenze“. 97 Insoweit stellt sich freilich die nach dem Sinn solchen Verfahrens. Gibt es nämlich auch unbenannte besonders schwere Fälle, so fragt man sich, wie der Richter für einen „Normalfall“ des Typs Landesverrat „mittlerer Schwere“ eine Freiheitsstrafe von zehn bis zu fünfzehn Jahren begründen will, der nicht zugleich ein besonders schwerer Fall ist. Neben dem Strafrahmen des § 94 II läuft der Regelrahmen leer; vgl. auch Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot (Fn. 13), S. 217 ff. 98 Dann könnte § 212 I so zu deuten sein, dass sein Strafrahmen im Bereich von zehn bis zu fünfzehn Jahren nur die Fälle mittlerer Schwere enthält, darunter auch solche, bei denen die Typik der besonderen Schwere gerade so eben noch zu verneinen ist. Im Bereich hinunter bis zur Mindeststrafe von fünf Jahren läuft der Strafrahmen des § 212 I völlig parallel zu § 213, beinhaltet mithin die „schweren“ minder schweren Fälle und „daneben“ die leichten Fälle mittlerer Schwere. Solche Denkübungen an ungeeignetem Objekt haben m. E. – in den „Augen“ ausländischer Kollegen – etwas zutiefst „Deutsches“.

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Schon vor 30 Jahren hat das BVerfG im Zusammenhang mit dem damaligen § 48, der Bestimmung zum Rückfall, festgestellt, die Festlegung eines Strafrahmens beruhe „auf einem nur in Grenzen rational begründbaren Akt gesetzgeberischer Wertung. Welche Sanktion für eine Straftat – abstrakt oder konkret – angemessen ist, und wo die Grenzen einer an der Verfassung orientierten Strafdrohung zu ziehen sind, hängt von einer Fülle von Wertungen ab. Das Grundgesetz gesteht dem Gesetzgeber bei der Normierung von Strafdrohungen einen weiten Gestaltungsspielraum zu. Dem trägt das Bundesverfassungsgericht bei der inhaltlichen Überprüfung gesetzlicher Strafdrohungen Rechnung. Es kann in solchen Fällen einen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz und das Übermaßverbot nur dann feststellen, wenn die gesetzliche Regelung – gemessen an der Idee der Gerechtigkeit – zu schlechthin untragbaren Ergebnissen führt“99. Nimmt man noch hinzu, dass das Gericht, weil es „lediglich darüber zu wachen (hat), daß die Strafvorschrift materiell in Einklang mit den Bestimmungen der Verfassung steht und den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen sowie Grundentscheidungen des Grundgesetzes entspricht“, die Entscheidungen des Gesetzgebers nicht daraufhin prüft, „ob er die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat“100, so wird klar, welch weiten Entscheidungsspielraum der demokratisch legitimierte Gesetzgeber hat. Ist die verfassungsrechtliche Lage aber so vom BVerfG festgestellt101, sollte sie von der Strafrechtswissenschaft in ihrer Bedeutung für die Praxis auch zur Kenntnis genommen werden. Es ist der gemeinsamen Sache schwerlich dienlich, wenn „de lege lata“ weiterhin darüber gestritten wird, wie denn die Rechtsfigur der besonders schweren Fälle rechtsrichtig einzuordnen sei, obwohl dem Gesetzgeber doch insoweit vom Gericht gerade freie Hand gelassen wird. So gesehen kann die Frage „praktisch“ betrachtet nur noch sein, ob es Alternativen zu dem Modell gibt, das der Gesetzgeber mit den besonders schweren

___________ 99 BVerfGE 50, 125 (140) mit Hinw. auf BVerfGE 34, 261 (266); dazu auch Kau, FS Kriele, 1997, S. 761, 769 f. 100 BVerfGE 90, 145 (173) mit Hinw. auf BVerfGE 80, 244 (255). 101 Die Frage, ob das BVerfG hier „zu großzügig“ gegenüber einem „nachlässigen“ Gesetzgeber ist, ob es gar irrt und was da sonst noch an Einwänden angeführt werden könnte, all‘ das ändert nichts an der dem Gesetzgeber zugewiesenen Position – und mit der Art, wie er sie gebraucht, ist wohl niemand rundum zufrieden. Das so Beschriebene ist nicht als Aufforderung zu verstehen, den Inhalt des Rechts und der Gesetze nur noch an den „Erkenntnissen“ des BVerfG auszurichten. Diese stecken „nur“ den Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen ab, umschreiben mithin den Handlungsspielraum der (Rechts-)Politik. Das Gericht ist der Verfassung verpflichtet und entscheidet hier für die Praxis verbindlich darüber, was s.E. möglich ist und was nicht. Nur diese Aufgabe habe ich hier im Auge, denn insoweit gilt „Roma locuta, causa finita“ – Änderungen der eigenen Rspr. des Gerichts nicht ausgeschlossen. Zur darüber hinausreichenden Frage „Was ist Strafrechtsdogmatik?“ s. Zaczyk, FS Küper, 2007, S. 723 ff.

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Fällen derzeit favorisiert102. Und solche lassen sich aus einer kritischen Betrachtung der derzeitigen Lage durchaus entwickeln. Angesichts des beschränkten Raumes können hier nur noch die wesentlichsten Gesichtspunkte angerissen werden, die in der bisherigen Debatte bereits zur Sprache gekommen sind.

VI. Definitionen des BGH zu den besonders schweren Fällen Gravierende Einwände gegen die Rechtsfigur der „besonders schweren Fälle“ – von den verfassungsrechtlichen Vorbehalten vieler Kritiker im Weiteren abgesehen – neben dem schon Gesagten sind u.a. folgende: Die Begriffsbestimmungen, die der BGH den besonders schweren Fällen zuteil werden lässt, passen durchaus nicht zu den jeweils „konkurrierenden“ Strafrahmen. Insbesondere die Definition von 1953 in der alten Leitentscheidung BGHSt 5, 124 (130) war ersichtlich auf ein anderes Rechtsfolgensystem gemünzt als das derzeitige103. Der außerordentliche Strafrahmen sollte danach zur Anwendung kommen, wenn der konkrete Fall die im ordentlichen Strafrahmen schon bedachten Fälle „an Strafwürdigkeit so übertrifft, daß der ordentliche Strafrahmen zur Sühne nicht ausreicht“104. Aber selbst die modernere, bis heute meist zitier___________ 102

Das in Gesetzentwürfen beliebte „Alternative Keine“ gaukelt zwar dem Publikum (und wohl auch manchem Parteibrillenträger) vor, dem sei dann eben so; aber in aller Regel trifft diese Behauptung nicht zu. Jedenfalls bei strafrechtlichen Materien ist in den vergangenen Jahrzehnten eine alarmierende Entwicklung zu beobachten: Der Gesetzgeber testet die „Belastbarkeit“ der Verfassung aus und setzt das nach verfassungsrechtlichen Kriterien – teils gerade so eben noch – Zulässige mit dem Rechtsrichtigen in Eins. Die Fachwelt, deren Einfluss, seitdem das BVerfG – auftragsgemäß – die beherrschende Rolle auch im Bereich strafrechtlicher Materien übernommen hat, massiv geschrumpft ist, wird – ein m. E. schwerer „Kunstfehler“ – nunmehr auch in dem Bereich nicht mehr ernstlich einbezogen, der den politisch Verantwortlichen zur Entscheidung übertragen ist. 103 Zur Ersetzung der Zuchthaus- und Gefängnisstrafe, der Einschließung und der Haft durch die Einheits(freiheits)strafe s. Hettinger, FS Pötz, 1993, S. 77, 104 ff. 104 BGHSt 5, 124 (130, Hervorh. M.H.), Urt. v. 10.11.1953. Die Große Strafrechtskommission wird später für die besonders schweren Fälle mit § 62 E 1962 eine allgemeine Definition vorschlagen: „Ein besonders schwerer Fall liegt vor, wenn Umstände, die zur Tat gehören oder ihr vorausgehen oder das Verhalten des Täters nach der Tat das Unrecht und die Schuld wesentlich erhöhen“. Es wird in der Begr. zum Entwurf die Vermutung geäußert, angesichts der Überschneidungen der Regelstrafrahmen und derjenigen für besonders schwere Fälle „in einem nicht unerheblichen Bereich“ werde die Praxis einen „herausgehobenen Typus“ bilden, „für den der Gesetzgeber einen erschwerten Tatbestand schaffen könnte, wenn dem nicht das Bedenken gegen eine allzu kasuistische Ausgestaltung der Strafvorschriften entgegenstände“ (S. 184). Diese Überschneidungen, die Gegenstand einer sehr aufschlussreichen Debatte in der Kommission waren – dazu s. den nachfolgenden Text mit Fn. 105 –, bestanden freilich insbes. zwischen Zuchthaus- und Gefängnisstrafen. Auf der Basis der heute geltenden Einheitsfreiheitsstrafe zeigt sich der Widerspruch in voller Schärfe.

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te Referenzentscheidung BGHSt 28, 318 (319) von 1979, die vor dem Hintergrund des 1. und des 2. StrRG formuliert worden ist und einen Teil der Formel aus BVerfGE 45, 363 (372) übernommen hat, spricht noch von einem solchen Maß der Abweichung, „dass die Anwendung des höheren Strafrahmens geboten erscheint“. Auch diese etwas „weichere“ Formulierung ist nicht geeignet, dem Richter bei seiner Entscheidung über den richtigen Strafrahmen die vom Bundesverfassungsgericht postulierte „Orientierung“ zu geben. Dass das Revisionsgericht einen Prüfungsmaßstab hätte, mit dessen Hilfe es im Überschneidungsbereich z.B. der Strafrahmen der §§ 242 und 243 eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten als falsch brandmarken könnte, weil das Tatgericht einen unbenannten besonders schweren Fall hätte annehmen müssen, kann man bestenfalls „glauben“, denn „hier muss der Richter sozusagen einen weiteren Typus bilden, der sich von dem des Grundtatbestandes unterscheidet. Er darf also nicht nach seinem Gutdünken die Strafe erhöhen, sondern muss sich bei seiner Entscheidung darüber klarwerden, ob der betreffende Einzelfall Momente aufweist, die wenn sie generalisierbar wären, den Gesetzgeber veranlasst hätten, einen neuen Tatbestand mit einer erhöhten Mindeststrafdrohung zu bilden“. Der Unterschied zweier Fälle könne innerhalb des Überschneidungsbereichs „nicht in der konkreten Strafwürdigkeit, sondern nur im Tattypus liegen“105. Gibt man nun dem Richter Strafrahmen an die Hand, die im Extrem bis hin zu 13 Jahren parallel laufen106, wird weder ein Tattypus zu finden noch über den Wertgruppengedanken ein handhabbares Unterscheidungsverfahren zu entwickeln sein. Es ist dies trotz vieler Bemühungen in über 30 Jahren nicht gelungen. Es würde auch in den nächsten 30 Jahren nicht gelingen, solchen Überlappungen einen einigermaßen plausiblen Sinn abzugewinnen. Es ist mithin an

___________ 105 So Gallas in der Kommission, der sehr dezent „von recht komplizierten Erwägungen“ sprach (von denen er vermutlich keine Klärung erwartete); s. den Nachw. bei Hettinger, FS Pötz, 1993, S. 77, 102; s. auch E 1962 (Fn. 15), Begr., S. 184. Letztlich legte man sich auf den schon von Lange, Die Systematik der Strafdrohungen, Materialien zur Strafrechtsreform, 1. Bd., Gutachten der Strafrechtslehrer, 1954, S. 69, 83 favorisierten Begriff der Wertgruppe fest; Lange verstand ihn i.S. einer Wertung nach der materialen Deliktsschwere (SK-StGB/Horn [Fn. 15], § 46 Rn. 58 will den Richter „zum Denken in ‚Tatbildern‘, in strafrahmenbezogenenen Wertgruppen“ bewegen); s. etwa Niederschriften (Fn. 68), Bd. 1, 1956, S. 121 (Lange), 126 (Dahs); Bd. 5, Anhang A, Nr. 1 S. 154, Nr. 3 S. 166; SA, Protokolle 5. WP, S. 368 ff. (Horstkotte); E-EGStGB, BT-Drs. 7/550, S. 211 f.; vgl. auch Maiwald, FS Gallas 1973, S. 137, 155, 160 f. und Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot (Fn. 13), S. 218 ff. – Die Kritiker der „Gesamtwürdigung“ zur Ermittlung der einschlägigen Wertgruppe knüpfen der Sache nach an Gallas’ Bemerkung zum zu ermittelnden „Tattypus“ an; z. B. Eisele, Regelbeispielsmethode (Fn. 8), S. 210 ff., 229 ff. m.w.N.; zielführend kann m. E. auch dieser Ansatz nicht sein (auch der Inhalt der „Gesamtwürdigung“ scheint hier nicht richtig bestimmt). 106 Dazu Hettinger, FS Küper, 2007, S. 95, 105 ff., 106 f. (zu den besonders schweren Fällen); 109 ff., 111 (zu den minder schweren Fällen).

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der Zeit, diese Suche zu beenden und sich der Überprüfung anderer Wege zuzuwenden. Die Begriffsbestimmungen des BGH setzen stillschweigend voraus, dass die Strafrahmen sich – im Einheitsfreiheitsstrafensystem – nicht oder allenfalls geringfügig überschneiden. Jene Definitionen passen nun aber augenfällig eher zu einem Vorschlag des früheren Vorsitzenden Richters am BGH Gerhard Schäfer, der in seiner schriftlichen Stellungnahme als Sachverständiger in der Anhörung des Rechtsausschusses des Bundestags zum Entwurf des 6. StrRG sowohl der damaligen lex lata wie auch dem Entwurf zunächst unverblümt bescheinigte, es sei in ihnen „ein System nicht zu erkennen“107, und fortfuhr: „Die Normalstrafrahmen und die Sonderstrafrahmen der selbstständigen Qualifikationen, der besonders schweren Fälle und der minder schweren Fälle überschneiden sich weitgehend, sodaß die Strafrahmen die Aufgabe, Unrecht abzuschichten und dem Richter eine Vorwertung des Gesetzgebers an die Hand zu geben, nicht leisten können“. Diese Diagnose eines Revisionsrichters war – seit der Einführung der Einheitsfreiheitsstrafe zweifelsfrei – zutreffend und ist es immer noch108. Als Therapie forderte Schäfer eine Neubewertung der Strafrahmen, eine Neubestimmung der Begriffe der minder schweren und der besonders schweren Fälle, Zuweisung einheitlich definierter besonderer Strafrahmen und Einfügung eines „§ 49a. Besonders schwere und minder schwere Fälle“. Ein besonders schwerer Fall läge nach diesem Modell vor, „wenn die straferschwerenden Umstände stark überwiegen“. Regelbeispiele sollten, da deliktstypisch, bei den einzelnen Tatbeständen formuliert werden109. Dieses Modell thematisiert die zahlreichen Widersprüche und Schwachpunkte des StGB und beseitigt ___________ 107 In der Anhörung des Rechtausschusses am 4.6.1997 (Fn. 48), S. 36-41, 36; in dieser Richtung auch schon Blei, FS Heinitz, 1972, S. 419 ff.; ferner Goydke, FS Odersky, 1996, S. 371 ff. 108 Den Gesetzgebungsorganen scheint die Kraft, die Phantasie oder der Mut (wahrscheinlich Letzteres; s. auch Rolinski, FS Eisenberg, 2009, S. 171) zu fehlen, diese immer noch notwendige Reform auf den Weg zu bringen. So wird des juristisch verbrämten Redens auf der Basis höchst widersprüchlicher Vorgaben kein Ende sein, obwohl jeder Kundige weiß, dass es ein Strafrahmensystem, das diesen Namen verdiente und auf dessen Grundlage ein inhaltliches Debattieren – und Entscheiden! – überhaupt erst möglich wäre, gar nicht gibt. Wenn Kreß, NJW 1998, 630, 634 Fn. 18 „gewisse Zweifel an der Machbarkeit einer solchen Totalrevision“ äußert, mag er – insoweit! – „Recht“ haben. Auf eine solche Reform müssten eine von der Politik traditionell auf die Höchststrafen eingeschworene Bevölkerung und hierauf fixierte Medien vorbereitet werden. Man müsste sich mithin „ehrlich“ machen und den Bezug zur Realität – auch den von Gerichten tatsächlich verhängten Strafen – herstellen. Man wird aber wohl lieber weiter – begründungslos! – behaupten, es bestehe ein System, das diesen Namen auch nur annähernd verdient, und die Rechtsprechung wird weiterhin so tun (müssen), als sei dem so; s. dazu auch Wessels/Hettinger, BT/1 (Fn. 24), Rn. 1055, 1122. 109 Schäfer (wie Fn. 107), S. 37 f.; weitere Einzelheiten dort; vgl. dazu auch Hettinger, FS Küper 2007, S. 95, 119.

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etliche. Es erscheint schon deshalb als dem geltenden Recht mit dessen teilweise absurden Regelungen deutlich überlegen; freilich lässt sich über die „Rohform“ noch nicht abschließend urteilen110. Wenn eingangs des Abschnitts VI. festgestellt wurde, dass die Formel des BGH, die besonders schweren Fälle betreffend, nicht zu der derzeitigen Strafrahmensituation passe, so lässt sich die Kritik auch umkehren: Überlappungen des Regelstrafrahmens mit demjenigen für besonders schwere Fälle von vier Jahren, vier Jahren und sechs bzw. neun Monaten, von neun, zehn oder gar dreizehn Jahren sind nur noch monströs zu nennen. Sie machen eine sinnvolle Erklärung unmöglich. Weil nämlich ein unbenannter besonders schwerer Fall vom Unrechts- und Schuldgehalt des Normalfalls mittlerer Schwere nur quantitativ abgeschichtet werden kann, sind Überlappungen von solcher Güte, wie das derzeitige StGB sie zu bieten hat, schlicht irrational111. Wenn Manfred Maiwald, bezogen auf die Lage in § 263 I und III angesichts einer Überschneidung von vier Jahren und sechs Monaten – einer häufigeren Variante – schreibt, es führe diese Lage für den Richter „zu der rational kaum zu lösenden Fragestellung, wie er in diesem Überschneidungsbereich das Vorliegen eines besonders schweren Falles oder aber eines Normalfalles begründen soll“112, so verbirgt sich hinter dem höflich formulierten „Zweifel“ die herbe Kritik, dass das Gesetz von den Rechtsanwendern Unmögliches verlangt. Wie verfahren die Situation ist, zeigt sich auch, wenn man die Begriffsbestimmungen zu den besonders schweren Fällen mit den tatsächlichen Strafen in ___________ 110 Schäfers Vorschlag integriert die Strafrahmen für minder schwere und besonders schwere Fälle in einen durchlaufenden Strafrahmen, so dass Fälle wie heute §§ 94 II, 212 II oder 243, bei denen im Sonderrahmen eine Strafe ermöglicht wird, die im Grundstrafrahmen nicht schon enthalten ist, nicht mehr vorkommen. Nach Schäfers § 49a darf bei minder schweren Fällen „höchstens auf ein Fünftel (oder: ein Viertel) des angedrohten Höchstmaßes erkannt werden. In besonders schweren Fällen darf die Strafe die Hälfte des angedrohten Höchstmaßes (oder: ein Drittel) nicht unterschreiten“. Eine Beurteilung dieses Vorschlags hängt von den Ergebnissen der von Schäfer geforderten Neubewertung der gesetzlichen Strafrahmen (S. 37) ab. Prima vista erscheint die Hälfte des angedrohten Höchstmaßes als Mindeststrafe für besonders schwere Fälle sehr wenig, ein Drittel gar entschieden zu wenig. Diese Vorschläge reflektieren aber wohl die Zahlen der Verurteiltenstatistik. – Es zeigt sich, dass die starken Vorbehalte, die gegen die besonders schweren Fälle bisherigen Provenienz bestehen, deutlich schwinden, wenn die Konturen der Strafrahmen mit dem Inhalt des Begriffs wieder in Übereinstimmung gebracht werden. 111 Vgl. dazu Hettinger, FS Küper, 2007, S. 95, 105 ff. m.w.N.; Maiwald, FS Gallas, 1973, S. 137, 155 ff., 158. – Dass die Strafrahmenbildungen auch in anderer Hinsicht kritikwürdig sind, steht auf einem anderen Blatt. Zu der bei Degener, FS Stree/Wessels, 1993, S. 305 ff. in Fn. 6 angedeuteten Problematik eines Wandels der Betrachtungsweise muss hier nicht Stellung genommen werden. 112 Maurach/Maiwald, Strafrecht BT, Teilbd. 1, 9. Aufl. 2003, § 41 Rn. 155; s. auch Blei, FS Heinitz, 1972, S. 419, 426; Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot (Fn. 13), S. 218 ff.; ders., GA 1995, 399, 418 f.

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Beziehung setzt, die von Tatgerichten für „Normalfälle“ einerseits und für als besonders schwer eingestufte Fälle andererseits verhängt werden. Die Statistik des Statistischen Bundesamts, Fachserie 10, Reihe 1 für das Jahr 2007 weist eigene Zahlenreihen nur für den einfachen Diebstahl nach § 242 und für den (Wohnungs-)Einbruchsdiebstahl nach den §§ 243 I 2 Nr. 1 Var. 1, 244 I Nr. 3 aus113. Die Zahl der Verurteilungen nach § 242 mit Hauptstrafe nach allgemeinem Strafrecht beläuft sich auf 153.390, die für §§ 243 I 2 Nr. 1 Var. 1, 244 I Nr. 3 auf insgesamt 9954. Zu Geldstrafen kam es, bezogen auf beide Gruppen, insgesamt in 69.993 Fällen (68.443/1550), zu Freiheitsstrafen in 93.351 Fällen (84.947/8404). Die Freiheitsstrafen verteilen sich im hier allein interessierenden „oberen“ Bereich des Strafrahmens bei § 242 wie folgt: neun Monate bis zu einem Jahr betrug die Strafe in 1007 Fällen, wobei in 507 Fällen die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde; bei einem bis zu zwei Jahren lauten die Zahlen 527/218, bei zwei bis drei Jahren 33. Drei bis zu fünf Jahren wurden verhängt in neun Fällen, fünf bis zehn Jahre in einem und zehn bis zu fünfzehn Jahren ebenfalls in einem Fall114, wobei den hohen Strafen ziemlich sicher und den höchsten sicher Tatmehrheiten zugrundeliegen. Besonders aufschlussreich sind hier die Zahlen zu den verhängten Freiheitsstrafen für den (Wohnungs-) Einbruchsdiebstahl. Die Höchststrafe beträgt – zur Erinnerung – bei beiden Regelungen jeweils zehn Jahre, die Mindeststrafe bei § 244 sechs Monate, bei § 243 drei Monate Freiheitsstrafe. Die Gesamtstrafe darf gemäß § 54 II 2 bei zeitigen Freiheitsstrafen fünfzehn Jahre nicht übersteigen. – Neun Monate bis zu einem Jahr wurden in 1462 Fällen verhängt, in 871 Fällen wurde die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Von einem bis zu zwei Jahren reichten die Strafen in 1610 Fällen, davon 746 „Aussetzungen“. 386 Mal lautete das Urteil auf zwei bis zur drei Jahren, 143 Mal auf drei bis zu fünf, 32 Mal auf fünf bis zu zehn Jahren. Eine Strafe zwischen zehn bis zu fünfzehn Jahren ist für 2007 nicht ausgewiesen115. – Diese Zahlen belegen schlagend zum einen, dass der Strafrahmen für § 242 I viel zu weit in den Bereich hineinreicht, in dem die Gerichte ihre als „schuldangemessen“ angesehenen Bestrafungen von (Wohnungs-)Einbruchsdiebstählen ansiedeln. Zum anderen zeigt sich, dass die Praxis trotz erhöhter Mindeststrafen nicht einmal in 43% aller 8404 Fälle zu einer Freiheitsstrafe von mehr als neun Monaten gelangt ist. Das belegt mit aller Deutlichkeit, dass die Begriffsbestimmung des BGH zu den besonders schwe-

___________ 113

§ 243 I 2 i.Ü. und § 244 I Nr. 1, 2 sowie 244a sind in diesem Jahrgang nur in der Gruppe §§ 242-248c mit erfasst. 114 Wie es zu diesem Eintrag gekommen ist, entzieht sich meiner Kenntnis. 115 2003 wurden wegen (Wohnungs-)Einbruchsdiebstahl 8579 Freiheitsstrafen verhängt. Zu den Zahlen im Einzelnen s. Hettinger, FS Küper, 2007, S. 95, 115.

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ren Fällen von den Tatgerichten – bezogen auf die derzeitigen Strafrahmen – schlicht nicht für bare Münze genommen wird116. Ein anderer Weg aus der – evidenten – Misere bestünde darin, die Regelbeispiele aus ihrer bisherigen Funktion, lediglich Indiz für das Vorliegen eines besonders schweren Falles zu sein, zu entlassen und ihnen eine neue Bedeutung zu geben, die bündig mit „abschließend, aber nicht zwingend“ umschrieben ist. Soweit nicht die Begründung der Strafbarkeit in Rede steht, sondern eine Verschärfung der schon begründeten Strafbarkeit, kennt die Dogmatik bisher nur die qualifizierenden Tatbestandsmerkmale, die von der h.M. als „gewöhnliche Tatbestandsmerkmale“117 eingeordnet werden. Die Regelbeispiele neuen Typs sollen nun wie diese Tatbestandsmerkmale „abschließend“ gemeint sein mit der Folge, dass eine „analoge“ Erweiterung des Anwendungsbereichs des diesem Merkmal zugeordneten Strafrahmens ausgeschlossen ist. Im Unterschied zu den eine Strafbarkeit erst begründenden Merkmalen wie auch denjenigen der „Grundtatbestände“118 sowie der Tatbestände, die bisher nur unbenannte Abwandlungen119 oder gar keine120 kennen, sollen diese Merkmale neuen Typs die Heranziehung des ihnen zugeordneten Strafrahmens nicht „zwingend“ zur Folge haben121. Das kollidiert nicht mit Art. 103 II GG. Darüber hinaus nötigt das ___________ 116

Was wiederum die Richtigkeit der Diagnose Schäfers (o. Text bei Fn. 107) belegt. Den weitgehenden „Leerlauf“ des Strafrahmens ab fünf Jahren hatte Blei, FS Heinitz, 1972, S. 419, 422 schon früh vorausgesagt. 117 Lackner/Kühl (Fn. 10), § 46 Rn. 7; zu den Qualifikationen s. schon oben Abschn. III. 118 Z. B. §§ 223 I, 242 I, 249 I, nach h.L. auch § 212 I. 119 Vgl. etwa §§ 94, 95, 100. 120 Siehe nur §§ 148, 171, 206. 121 In dem Sinn, dass der Richter trotz Bejahung des Merkmals i.E. aufgrund des Vorliegens wesentlicher Unrecht und/oder Schuld mildernder oder mindernder Umstände die Anwendung des geschärften Strafrahmens verneint, also den (Normal- oder) Regelstrafrahmen heranzieht; vgl. nur Calliess, JZ 1975, 112, 117 und NJW 1998, 930, 935; Hettinger, Entwicklungen (Fn. 56), S. 39 f.; ders., FS Küper, 2007, S. 95, 120; s. auch Freund, ZStW 109 (1997), 457, 471; Dietmeier, ZStW 110 (1998), 393, 408 ff. De lege lata entspricht das dem Verfahren bei Vorliegen eines Regelbeispiels, vgl. nur Fischer (Fn. 13), § 46 Rn. 91. Für i.S. dieses neuen Typs „qualifizierende“ Merkmale bedürfte es hingegen gesetzgeberischen Handelns; a. A. BGHSt 26, 167 (173 f.); 33, 370 (374); Küper, JZ 1986, 518, 526; Kindhäuser, FS Triffterer, 1996, S. 123, 126; Gropp, JuS 1999, 1041, 1049; sie wollen die Regelbeispiele – entgegen deren gesetzgeberischer Entstehungsgeschichte – aus ihrer (bloßen) Indizfunktion für die besondere Schwere des konkreten Falls herauslösen und „schon jetzt“ der Voraussetzungsseite zuordnen; Kindhäuser spricht insofern von einem Gesamttatbestand; auch Küpers (JZ 1986, 518 ff. mit Fn. 35, 36) subtil angelegter Rettungsversuch zeigt m. E. nur, dass das, was BGHSt 33, 370 schon als geltendes Recht behauptet, Gesetz werden könnte; wie hier hingegen Maiwald, NStZ 1984, 433; er nennt die (unbenannten) besonders schweren Fälle „normative Tatbestandsmerkmale höchster Stufe“ (S. 435) und anerkennt ebenfalls den Rettungsversuch des BGH mit dem Ziel der Anwendungsgleichheit (S. 436), sieht freilich

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Verbot analoger Ausweitung des Anwendungsbereichs den Gesetzgeber wieder zu „abschließendem“ Denken, so dass er die Last des Entscheidens in diesem Bereich nicht mehr dem Richter überbürden kann. Der Vorschlag ist nicht neu122, stößt jedoch erst in jüngerer Vergangenheit vermehrt auf Zustimmung und zwar bemerkenswerter Weise aus beiden „Lagern“123. Gewiss, noch viele Probleme harren dann einer vernünftigen Lösung. Einige seien, wenn auch nur kurz, angetippt: Sollen, so kann man fragen, alle Qualifikationen umgewandelt werden oder nur solche, bei denen schon das Vorhandensein eines Strafrahmens für minder schwere Fälle anzeigt, dass der Gesetzgeber selbst davon ausgeht, der für die Qualifikation vorgesehene Strafrahmen könne „in Ausnahmefällen“ einmal zu hart sein, also keine der konkreten Tatschuld angemessene Strafe ermöglichen. Wo sich in etlichen Jahren und nach vielen Verurteilungen kein Bedürfnis nach Auflockerung gezeigt hat, mag man die Qualifikationen herkömmlicher Art belassen124. Mit einer Umwandlung der abschließenden und zwingenden qualifizierenden Merkmale in nur noch abschließende würden die Strafrahmen für minder schwere Fälle obsolet, eine m. E. höchst erfreuliche Folgewirkung, zumindest auf der Basis derzeitiger Gesetzeslage beurteilt. Der Vorläufer dieser Rechtsfigur, die Regelungen zu „mildernden Umständen“125, war dem französischen Code pénal von 1810 entlehnt und sowohl im preußischen StGB von 1851, das ihn erstmals in ein „deutsches“ Strafgesetzbuch einführte, als auch im (R)StGB ein Fremdkörper126. In der derzeitigen Ausgestaltung sind die minder schweren Fälle jedenfalls kein Gewinn; warum das so ist, wurde an anderer Stelle näher ausgeführt127. Sichergestellt werden müsste die Anwendbarkeit der Regelungen des AT, um die Verbiegungen zu vermeiden, zu denen sich die h.M. wegen der Säumnisse des Gesetzgebers bei Einführung der Regelbeispielstechnik genötigt sah128. Neuer Überlegungen bedürfte es insoweit u.U. aber hinsichtlich der in §§ 12 und 78 ___________ in dem Ergebnis „eine Art dogmatischen Brei“ zur Befriedigung des Rechtsgefühls (S. 439); krit. ferner Hirsch, FS Gössel, 2002, S. 287, 297 f. 122 Grundlegend insoweit Horst Schröder, FS Mezger, 1954, S. 415, 425 ff., 428 (vielleicht anknüpfend an John, Entwurf [Fn. 35], S. 160 ff.); ihm zust. Wessels, FS Maurach, 1972, S. 295, 297 ff. 123 Calliess, Kindhäuser, Gropp (alle wie Fn. 121); ferner Krahl, Tatbestand (Fn. 15), S. 162 f.; Eisele, Regelbeispielsmethode (Fn. 8), S. 433 f. 124 Unterstellt ist hier immer prozessordnungsgemäßes Verfahren der Justiz. 125 Unter Strafverteidigern gern leicht ironisch als „mildernde Umschläge“ bezeichnet. 126 Näheres bei Hettinger, FS Pötz, 1993, S. 77, 86 ff. mit Fn. 67 und m.w.N. 127 Wie Fn. 126, S. 109 ff. 128 Vgl. nur BGHSt 33, 370 und dazu Küper, JZ 1986, 518 und Degener, FS Stree/Wessels, 1993, S. 305.

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geregelten Materien129. Wichtig wäre es, nicht nur in diesem Zusammenhang, den neuen Merkmalstyp von den für den Unwerttyp der jeweiligen Deliktsgattung konstitutiven („echten“) Tatbestandsmerkmalen auch sprachlich deutlich abzuheben130.

VII. Schluss – mit der „absolut unrichtigen Gesetzgebung“ Die Frage, die als Überschrift das Leitmotiv dieses Beitrags zu Ehren Manfred Maiwalds bildet, kann und soll nicht im Hau-Ruck-Verfahren eine dann letztlich nicht hinreichend begründete Antwort erhalten. Das hier beackerte Feld, auf dem sich in den letzten Jahrzehnten zu dem schon vorhandenen noch vielfältig neues „Unkraut“ hinzugesellt hat, bedarf einer gründlich-grundsätzlichen Sanierung, um die Früchte hervorbringen zu können, die gerade auch der Jubilar sich erhofft und deren Ermöglichung seine grundlegenden Arbeiten gewidmet sind. Das Ziel dieses Beitrags war und konnte also nur eine Annäherung an die gesuchte Antwort sein, zunächst die Überprüfung des derzeitigen Sachstands, dann die begründete Feststellung seines Ungenügens und im Weiteren der Versuch, den Weg zu ebnen zu einer besseren Gesetzgebung in diesem Bereich als Basis einer nunmehr auch besseren und sodann erst ernstlich überprüfbaren Rechtsprechung. Die hier untersuchte intrikate Thematik war Maiwald 1988 Anlass zu der – da für die Zunft gesprochen: selbstkritischen – Bemerkung, „dass gelegentlich, wenn die Strafrechtsdogmatik auf den Gesetzgeber einwirkt, auch so etwas wie ein Eigentor geschossen werden kann“131. Im Auge hatte er gerade die Regelung der besonders schweren Fälle, insbesondere § 243 des geltenden Rechts. Maiwalds Diagnose: Die Gesetzestechnik der besonders schweren Fälle mit Regelbeispielen hat eine Reihe von Problemen hervorgebracht, „die kaum lösbar sind“132. Die Übernahme dieser Technik ins Gesetz entpuppte sich als – so schreibt er – ein „Pyrrhussieg“133. Ganz in Mai___________ 129

Das sind nicht inhaltliche, sondern gesetzestechnische Fragen, die freilich durchaus Probleme aufwerfen können. Hinsichtlich § 28 sowie StPO §§ 263, 265 verfährt die Rspr. mit den Regelbeispielen derzeitiger Provenienz schon so; selbstverständlich ist das nicht, wenngleich „konsequent“ in der Inkonsequenz bei Einordnung der besonders schweren Fälle. 130 „Regelmerkmale“ wäre eine „blasse“, Regelbeispiele eine vielleicht doch verbrauchte Möglichkeit. Würden alle bisherigen Qualifikationstatbestände umgewandelt, könnte man von qualifizierenden Merkmalen – neuen Typs – sprechen. Auf jeden Fall ist bei der Benennung große Sorgfalt am Platz. 131 Maiwald, Gesetzgebung (Fn. 4), S. 120, 131. 132 Wie Fn. 131. In NStZ 1984, 433 ff. wird er sehr deutlich: Da ist die Rede von einem „Fehlgriff des Gesetzgebers“ (S. 436), von einem „Kompromiss“, der der Praxis „eine unzumutbare Aufgabe zugewiesen“ habe; dem Richter würden „Steine statt Brot“ gegeben (alle Zitate S. 440). 133 Wie Fn. 131.

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walds Sinn formuliert sei der abschließende Wunsch: Es wäre schön, wenn am Ende gründlicher134 Beratungen Bestimmungen stünden, von deren Begriffen sich sagen ließe, sie hätten (wieder) einen nachvollziehbaren Inhalt, und Strafrahmen, deren Konturen diesen Begriffen entsprächen. Wir hätten dann, was bisher – nur durch Formeln mühsam überspielt – fehlt: Ein System – ohne die Anführungszeichen im Untertitel dieser Abhandlung – als Voraussetzung der bisher uneinlösbaren Behauptung, Strafzumessung sei mehr als institutionalisierte Willkür, als ein Griff ins Dunkle, nämlich strukturell Rechtsanwendung135. „Der Kunst der Gesetzgebung sind, wie allem menschlichen Können, unübersteigliche Schranken gesetzt“136. Von seinen Pflichten dispensiert das den Gesetzgeber aber keineswegs. Die Anforderungen an die Gesetzgebungskunst heißen „Zielklarheit und Folgerichtigkeit. Auf absolut richtige Gesetzgebung müssen wir verzichten; aber eine unklare und unfolgerichtige Gesetzgebung ist jedenfalls eine absolut unrichtige Gesetzgebung. Sie hält vor dem Denken nicht stand und bringt, da die Gesetzgebung verlangt, dass ihr nachgedacht und nachgehandelt werde, auch praktisch rettungslos Mißerfolge“. Diese Sätze stammen nicht vom Verfasser der vorstehenden Zeilen; sie sind inzwischen über 80 Jahre alt. Formuliert hat sie Ernst Beling137. Sie bleiben – ewig jung – unbezweifelbare Sätze.

___________ 134

Dazu Fischer, NStZ 1999, 13; Hettinger, FS Küper, 2007, S. 95, 97 (mit Fn. 19), 109. Materien solcher Bedeutung sollten unbedingt dem politischen Alltagshickhack wieder entzogen werden. „Gut‘ Ding will Weile haben“ gilt auch in der Gesetzgebung einer demokratischen-parlamentarischen Republik. Das „Sachzwängeargument“ scheint mir in einem solchen Zusammenhang einer Bankrotterklärung gleichzukommen. – Erinnert sei auch an die Mahnung, die Karl Lackner, anlässlich der Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs durch das 15. StÄG, vor über 35 Jahren „zur gesetzespolitischen Problematik“ aus seiner Erfahrung als Referent in der Strafrechtsabteilung des BMJ zu Papier gebracht hat, Die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs. Das 15. Strafrechtsänderungsgesetz, NJW 1976, 1233, 1234 f. 135 Bruns, Das Recht der Strafzumessung (Fn. 14), S. 1. 136 Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs nebst Begründung. Veröffentlicht auf Anordnung des Reichsjustizministers. Zweiter Teil: Begründung, Berlin 1925, S. 53. 137 GS 91 (1925), 328.

Zur Kongruenz von objektivem und subjektivem Tatbestand der Untreue Von Thomas Hillenkamp

I. „Die Untreue ist ein einfach kongruentes Delikt.“ Diesen Satz, mit dem Reinhart Maurach bereits in der ersten Auflage seines 1953 erschienenen Lehrbuchs zum Besonderen Teil des Deutschen Strafrechts seine Erläuterungen zum subjektiven Tatbestand der Untreue einleitete,1 hat Manfred Maiwald, dem dieser Beitrag in Verehrung, freundschaftlicher Verbundenheit und Dankbarkeit2 zu seinem 75. Geburtstag gewidmet ist, bis zur neunten Auflage des von ihm (auch) zu diesem Deliktsbereich weitergeführten Werkes unverändert belassen.3 Dabei kann es auch bleiben, soweit damit gemeint ist, dass – wie es dort weiter heißt – „der Vorsatz ... sich auf sämtliche Merkmale des objektiven Tatbestandes erstrecken muss“. Auch ist es – entgegen manchem hier und da geäußerten Bedauern, dass es anders als in § 263 StGB bei der Untreue so ist – unverändert richtig, dass keine zum Vorsatz hinzutretende Bereicherungsabsicht die Kongruenz im Sinne einer überschießenden Innentendenz stört4 und die nicht selten ___________ 1 Reinhart Maurach, Deutsches Strafrecht, BT, 1. Aufl. 1953, § 39 II A (S. 263). In der ersten Auflage war der gesamte Besondere Teil noch in einem Band zusammengefasst. 2 Ich kann mich nicht zu den eigentlichen Schülern Manfred Maiwalds zählen. Immerhin hat aber der Jubilar 1980 als Nachfolger Gunter Arzts auf dem Göttinger Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht das Erstgutachten zu meiner Habilitationsschrift erstellt und später – nämlich 1995 – zu meiner Freude die Laudatio anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der TU Dresden an mich gehalten. Für beides wie für manche andere Förderung bin ich Manfred Maiwald dankbar. 3 Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT II, 9. Aufl. 2003, § 45 Rn. 51. 4 Ein gewisses Bedauern artikuliert im Fall Kanther u. a. der 2. Strafsenat in BGHSt 51, 100, 121 (Rn 62) zu dieser Diskrepanz; Kempff erinnert in der Festschrift für Hamm, 2008, S. 255, 264 an die von Rainer Hamm maßgeblich beeinflusste Stellungnahme des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltsvereins zum 6. Gesetz zur Reform des Strafrechts, das in seinem 1. Entwurf die Einführung der Versuchsstrafbarkeit bei der Untreue vorsah. Hamm schrieb hierzu, dass dann der Gesetzgeber „auch die Einführung der Bereicherungsabsicht bei der Untreue“ hätte „vorschlagen können“, was den Vorzug hätte, „dass es bei der Kritik an dem viel zu weiten Tatbestand der Untreue durch eine gewisse Einengung entgegenkäme, die nach geltendem Recht die Rechtsprechung nur mit einem Beweiswürdigungskorrektiv zu lösen versucht ...“ (zitiert aus Stellungnahme

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berechtigte Berufung auf das Fehlen dieser Absicht den Tatvorwurf zur Enttäuschung manches Angeklagten daher auch nicht zu Fall bringen kann.5 Gleichwohl wird man gespannt sein dürfen, ob Manfred Maiwald es auch in der im Entstehen begriffenen und im Zeitpunkt des Erscheinens dieses Beitrages sicher schon erschienenen zehnten Auflage bei dieser Eingangsfeststellung zum subjektiven Tatbestand der Untreue belässt. Es mehren sich nämlich die Anzeichen dafür, dass namentlich die Rechtsprechung die eigentlich selbstverständlich erscheinende Kongruenz nicht als sakrosankt behandelt und sie im Grenzbereich des für die Untreue nach heute unbestreitbarer und unbestrittener Auffassung ausreichenden dolus eventualis6 möglicherweise ein Stück weit aufgekündigt hat. Kühne hat diese Aufkündigung schon in der Entscheidung BGHSt 47, 148 gesehen, weil dort „ein überschießender, den Vermögensschaden als Möglichkeit umfassender Vorsatz beim ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal der Vermögensgefährdung“ verlangt werde. Er billigt diesen „dogmatischen Schachzug“ als rechtspolitisch sinnvolle Restriktion der „Weite“ dieses Tatbestandsmerkmals, bezweifelt aber, „ob Vorsatz (für) über ein Tatbe-

___________ des Strafrechtsausschusses des DAV Nr. 16/1997, S. 9); s. auch Matt/Saliger, in: Irrwege der Strafgesetzgebung, 2000, S. 217, 225, die „den Mangel einer strafbarkeitseinschränkenden Bereicherungsabsicht im subjektiven Tatbestand der Untreue“ beklagen. Zum Vorhandensein dieses Merkmals in der in Italien geregelten Amtsuntreue s. Maiwald (Fn. 3), § 45 Rn. 10; § 266 StGB a. F. qualifizierte die Tat im Falle der Bereicherungsabsicht. 5 Sowohl im Fall der schwarzen Kassen der Hessen-CDU als auch z. B. im Heidelberger Herzklappen-Fall (BGHSt 47, 295) fanden sich bei den Angeklagten Anzeichen für ein Erstaunen darüber, dass man sich einer Untreue schuldig machen kann, ohne etwas „in die eigenen Taschen“ zu wirtschaften. Der BGH mahnt, in Fällen fehlenden Eigennutzes lediglich, strenge Anforderungen an den Nachweis des Vorsatzes zu stellen, s. dazu weiter unten und im Herzklappenfall BGHSt 47, 295, 302 sowie Gerd Schäfer, in: Tag/Tröger/Taupitz, Drittmitteleinwerbung – strafbare Dienstpflicht?, 2004, S. 65, 71 f.; zur Berücksichtigung fehlender bzw. vorhandener Eigennützigkeit in der Strafzumessung siehe Nack, in: Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2006, § 66 Rn. 138 mit Fn. 113. 6 In der bis zur Strafrechtsnovelle vom 26.05.1933 geltenden Fassung des § 266 war zwar „Absicht“ verlangt; für sie wurde aber jede Vorsatzart – wie noch zu zeigen ist – für ausreichend erklärt. Die bloße Rückkehr zur „Absicht“ verlangenden Gesetzesfassung würde daher nicht unbedingt die – gewünschte – Entscheidung schaffen; für Wiedereinführung des Absichtsbegriff mit restriktiver Tendenz Perron, NStZ 2008, 517 ff.; ders., FS Tiedemann, 2008, S. 748; auch der E 1960 wollte in dem die Untreue regelnden § 263 (s. Begr. zu § 263 S. 402) wie der Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1909 (Begr. zu § 277) zum Absichtsbegriff zurückkehren; gegen die Forderung nach einem „qualifizierenden Vorsatz“ Hellm. Mayer, in: Materialien zur Strafrechtsreform, 1. Band 1954, S. 355 mit dem Argument, es „würden damit gerade die schwersten Korruptionsfälle und die pflichtwidrigsten Spekulationen straflos werden“.

Zur Kongruenz von objektivem und subjektivem Tatbestand der Untreue

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standsmerkmal hinausreichende Merkmale gefordert werden kann“.7 Diese Zweifel teilen Keller und Sauer, die an der auch von Kühne besprochenen Entscheidung im Anschluss an eine schon vor diesem Urteil von Waßmer geübte Kritik beanstanden, dass „Vorsatz in Bezug auf Umstände geprüft“ werde, „die für den objektiven Tatbestand keine Rolle spielen“.8 Seier hat den Begriff des „überschießenden Vorsatzes“ dann im Zusammenhang mit der Entscheidung des BGH im Fall Kanther u. a. aufgegriffen und den Richtern empfohlen, die von ihnen damit eingeforderte Restriktion „generell schon in die objektive Schadensbewertung“ einzubeziehen, denn nur dann „wären Vorsatz und objektiver Tatbestand auch wieder deckungsgleich“.9 In der Tat ist es das Urteil des 2. Strafsenats zu den schwarzen Kassen der Hessen-CDU, dass den Kongruenzbruch nicht nur – wie vielleicht BGHSt 47, 148 – uneingestanden betreibt, sondern als systematisch bedingt und notwendig ausgibt. In ihm wird die These aufgestellt, „dass der bedingte Vorsatz eines Gefährdungsschadens nicht nur Kenntnis des Täters von der konkreten Möglichkeit eines Schadenseintritts und das Inkaufnehmen dieser konkreten Gefahr voraussetzt, sondern darüber hinaus eine Billigung der Realisierung dieser Gefahr, sei es auch nur in der Form, dass der Täter sich mit dem Eintritt des ihm unerwünschten Erfolges abfindet“10. Gegen diese „Einschränkung“ – so wehrt der Senat denkbare Kritik schon einmal vorsorglich ab – könne „nicht eingewandt werden, dass auf diese Weise eine Inkongruenz von objektivem und subjektivem Tatbestand für Fälle der Untreue bei Verursachung eines bedingt vorsätzlichen Gefährdungsschadens entstehe. Der „Grund“ für die Berechtigung der gar nicht geleugneten, sondern sogar befürworteten Inkongruenz ergebe sich „nämlich aus dem Umstand, dass die Anerkennung einer ‚konkreten Vermögensgefährdung‘ auf der Grundlage einer wirtschaftlichen Betrachtung der Sache nach eine Vorverlagerung der Vollendung in den Bereich des Versuchs“ bedeute und „der Versuch einer Straftat“ sich nun einmal „gerade durch diese Inkongruenz, d. h. durch objektive Nichtvollendung bei auf Vollendung gerichtetem Vorsatz“ auszeichne. „Bei der Anwendung des § 263 StGB, für welchen die Figur der ‚schadensgleichen Vermögensgefährdung‘ entwickelt wurde, spiegele sich „diese in dem subjektiven Element der Absicht der Selbst- oder Drittbereicherung“.11 ___________ 7

Kühne, StV 2002, 199 in einer Anmerkung zu BGHSt 47, 148, einer Entscheidung des 1. Strafsenats zur Kreditvergabe (Hervorheb. vom Verf.). 8 Keller/Sauer, wistra 2002, 365, 368 mit Fn. 36; sie beziehen sich auf Waßmer, Untreue bei Risikogeschäften, 1996, S. 158 f. 9 Seier, in: Achenbach/Ransiek, Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts, 2. Aufl. 2008, V 2 Rn. 185 f. 10 BGHSt 51, 100, 121 f. (Rn 63). 11 BGHSt 51, 100, 123 (Rn 66).

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Mit dieser Aussage macht der BGH für Bernsmann12 „aus der Untreue in Bezug auf einzelne Fallgruppen der ‚schadensgleichen Vermögensgefährdung‘ ein Delikt mit (schwach) überschießender“, für Saliger13 „gesteigerter Innentendenz“ und damit „ein dogmatisches Unikum“, das den schon früher von Dierlamm14 eingeforderten „notwendigen Bezug zwischen äußerem und innerem Tatbestand“ im Sinne einer Kongruenz zwischen beiden – für manche „ohne Not“15 – preisgibt. Untreue erscheint hiernach jedenfalls auf einem Teilgebiet nicht mehr als ein „einfach kongruentes Delikt“, die gegenteilige Auskunft im Maurach-Schroeder-Maiwald nicht mehr in Gänze zeitgemäß.

II. Ist deshalb eine Abänderung, ist eine Neuformulierung anzuraten? Bevor man das empfiehlt, erscheint Erinnerung daran und Aufklärung dazu geboten, dass und warum die auch der neuesten Rechtsprechung zugrunde liegende These eine lange und gegen Kritik beharrlich verteidigte Spruchtradition hat. Die These lautet – etwas verkürzt – es seien an den subjektiven Tatbestand der Untreue „besondere Anforderungen“ zu stellen. Für eine solche These gibt es zwei sehr unterschiedliche Gründe, die historisch als ihre Quellen in Betracht kommen. Dabei hat der geschichtlich ältere und heute weitgehend vergessene Grund zu einer weniger deutlichen Formulierung der genannten These geführt als der jüngere, überall zitierte und im Bewusstsein ihrer Vertreter wohl dominante. Gleichwohl ist auch die ältere Quelle neben der jüngeren in der Sache wohl bis in die neueste Rechtsprechung hinein wirksam geblieben. 1. Was mit der „älteren Quelle“ gemeint ist, erschließt sich aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts zur Untreue in der 1871 verkündeten und bis zur am 01.06.1933 in Kraft getretenen Strafrechtsnovelle vom 26.05.1933 (RGBl I 295) gültigen Fassung. Diese sah in ihren drei Varianten vor, dass der Täter „absichtlich zum Nachtheile“ der durch den Tatbestand geschützten Personen handeln musste. Wurde die Untreue begangen, „um sich oder einem Anderen einen Vermögensvorteil zu verschaffen“, war die Tat nach § 266 Abs. 2 StGB ___________ 12 Bernsmann, GA 2007, 219, 230; dort auch die im Text zitierte Einordnung als „dogmatisches Unikum“. 13 Saliger, NStZ 2007, 545, 550; den Begriff der überschießenden Innentendenz übernehmen z. B. Rönnau, FS Tiedemann, 2008, 713, 732 und Schünemann, NStZ 2008, 431. 14 Dierlamm, NStZ 1997, 534, 535. 15 So Ransiek, NJW 2007, 1727, 1729; krit. auch Beulke, FS Eisenberg, 2009, S. 245, 264, der die „im Ergebnis erfreuliche Entwicklung in dogmatischer Hinsicht alles andere als überzeugend“ findet und die „wünschenswerte Korrektur“ im objektiven Tatbestand anmahnt; ebenso Rönnau (Fn. 13), S. 732.

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a. F. qualifiziert.16 Das Reichsgericht hat dazu schon früh, nämlich mit einer Entscheidung des 3. Strafsenats aus dem Jahr 188017 erklärt, dass der Begriff der „Absicht“ vom Gesetzgeber im Tatbestand der Untreue „als gleichbedeutend mit Vorsatz, absichtlich gleichbedeutend mit vorsätzlich oder wissentlich gebraucht“ worden sei und dass hier „in Übereinstimmung mit dem gemeinen Sprachgebrauche ... das absichtliche Handeln wie sonst das vorsätzliche oder wissentliche Handeln nur in Gegensatz zu einem Handeln aus Versehen und Nachlässigkeit gestellt“ worden sei. Das Gericht war sich dabei bewusst, dass es eine „Anzahl von Strafbestimmungen gibt, in welchen die Absicht ... gleichbedeutend mit Zweck oder Motiv des Handelns“ verstanden werde. Für § 266 StGB a. F. gelte das aber nicht. Es müsse hier – wie bei der Unterschlagung – reichen, dass „der Täter das Bewußtsein habe, daß dasjenige, was er that, zum Nachteile des Mündels, Vollmachtgebers, Geschäftsherrn gereiche“. Beweggrund müsse das – wie bei der Unterschlagung – nicht sein. Die Richtigkeit dieser Annahme leitete das Reichsgericht auch daraus her, dass es demjenigen, der mit Bereicherungsabsicht im Sinne des Abs. 2 handle, nur selten auch um eine absichtliche Schädigung des Geschäftsherrn gehe, man also – verlange man das – den „Normalfall“ des Abs. 2 nicht erfasse. Dass der Gesetzgeber des Deutschen Strafgesetzbuches den im preußischen Strafgesetzbuch noch verwendeten Begriff „vorsätzlich“ in „absichtlich“ umgewandelt habe, spreche schließlich nicht gegen diese Deutung, denn „in den Motiven zum Entwurfe des deutschen Strafgesetzbuchs“ seien „die Änderungen, welche an dem Thatbestande des Vergehens im Entwurfe im Vergleich mit dem preußischen Strafgesetzbuche vorgenommen worden sind, hervorgehoben und begründet“. Dabei sei „aber die eben bezeichnete Änderung übergangen“ und das – so der Schluss

___________ 16 § 266 a. F. lautete: Wegen Untreue werden mit Gefängniß, neben welchem auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden kann, bestraft: 1. Vormünder, Kuratoren, Güterpfleger, Sequester, Massenverwalter, Vollstrecker letztwidriger Verfügungen und Verwalter von Stiftungen, wenn sie absichtlich zum Nachtheile der ihrer Aufsicht anvertrauten Personen oder Sachen handeln; 2. Bevollmächtigte, welche über Forderungen oder andere Vermögensstücke des Auftraggebers absichtlich zum Nachtheile desselben verfügen; 3. Feldmesser, Versteigerer, Mäkler, Güterbestätiger, Schaffner, Wäger, Messer, Bracker, Schauer, Stauer und andere zur Betreibung ihres Gewerbes von der Obrigkeit verpflichtete Personen, wenn sie bei den ihnen übertragenen Geschäften absichtlich diejenigen benachtheiligen, deren Geschäfte sie besorgen. Wird die Untreue begangen, um sich oder einem Anderen einen Vermögensvortheil zu verschaffen, so kann neben der Gefängnißstrafe auf Geldstrafe erkannt werden. 17 RGSt 1, 172, 173.

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des 3. Senats – sei „ein Beweis dafür, daß ihr eine tiefere Bedeutung nicht beigelegt“ worden sei.18 Diese erste, sicher nicht unanfechtbare und den Bereich des Strafbaren erheblich, nämlich bis hin zum dolus eventualis ausdehnende19 Entscheidung bestätigte der 1. Strafsenat – möglicherweise ohne ihre Kenntnis – im März 1880.20 Sie wurde zur Grundlage einer dann ständigen und auf §§ 140, 146 des Genossenschaftsgesetzes ebenso wie auf § 312 des Handelsgesetzbuches ausgedehnten Rechtsprechung.21 Mit ihr musste nun zwar das Reichsgericht nicht – wie man es heute vom Bundesgerichtshof kennt – die landgerichtliche Spruchpraxis ermahnen, an den subjektiven Tatbestand der Untreue besonders strenge Anforderungen zu stellen: Die Instanzgerichte taten es ja selbst durch das Beharren auf „Absicht“. Es musste aber doch der durch seine eigene weite Auslegung des Absichtsbegriffs heraufbeschworenen Gefahr, dem Normadressaten ein über Gebühr hohes Strafbarkeitsrisiko aufzubürden, durch eine vernünftige Eingrenzung dieser Weite entgegensteuern. Das tat das Gericht vornehmlich im Blick auf Geschäfte, die ein Verlustrisiko bargen, das den Akteuren bekannt war. So hat es in einem Fall, in dem die angeklagten Entscheidungsträger einer Kreissparkasse einen verloren gegangenen Sanierungskredit bewilligten, seine in der Entscheidung verteidigte Festlegung auf das Ausreichen eines dolus eventualis mit einer Mahnung verknüpft, zu der der Fall selbst eigentlich keinen Anlass bot. Die Angeklagten hatten nämlich, „weil die Offenbarung der bereits eingetretenen Verluste ... ihnen ihre Ämter gekostet haben würde“, einer zuvor schon mit Krediten unterstützten, nun aber ersichtlich in „verzweifelte“ Lage geratenen Firma einen weiteren „Sanierungskredit“ in Höhe von 300.000,– RM gewährt und dabei „wie beim Glücksspiel, alles auf eine Karte“ gesetzt, „mochte es biegen oder brechen“. An der Feststellung des Landgerichts, dass die Angeklagten „mit dem Bewußtsein handelten, daß der Verlust eintreten könne“ und sie diesen „für den Fall seines Eintritts mit in den Kauf nehmen“ wollten, den Erfolg also „billigten“, beanstandete das Reichsgericht deshalb nichts. Vielmehr bestätigte es, dass dies „die Annahme eines absichtlichen Verfügens über eine Forderung zum Nachteile der Sparkasse“ trage. ___________ 18 RGSt 1, 172, 174 f.; auch die Beibehaltung des Wortes „vorsätzlich“ in § 92 StGB a. F. sollte nach dem Reichsgericht nicht dazu führen, in beiden Vorschriften unter „absichtlich“ bzw. „vorsätzlich“ etwas anderes zu verstehen. 19 Siehe RGSt 7, 279, 283. 20 RGSt 1, 329; das Urteil betont zusätzlich, dass „nicht die böswillige Beschädigung als Zweck der rechtswidrigen That“ das eigentliche Unrecht der Untreue ausmache, sondern dass „das Wesentliche ... der Vertrauensbruch, die Verletzung der besonderen Pflicht zur Treue“ sei, hierfür aber die Kenntnis des Täters genüge. 21 Nach den zitierten Entscheidungen folgen RGSt 26, 136, 137; 38, 1, 5 und 53, 194 zum GenG und RGSt 49, 358, 366 sowie RGSt 66, 255, 261 zum HGB; zu § 266 führte die Rechtsprechung z. B. fort RGSt 39, 335, 341; 61, 211, 213.

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Es wies aber doch vorsorglich darauf hin, dass nach seiner Rechtsprechung davon „auszugehen“ sei, „daß nicht bei jedem ‚Sanierungsversuche‘, der mit fremdem Gelde unternommen wird, ohne weiteres auch der innere Tatbestand einer Untreue vorliegen wird. Er“ werde nämlich „ausgeschlossen sein, wenn der Unternehmer nach den Umständen des Einzelfalles mit der nahe liegenden Wahrscheinlichkeit rechnen darf und auch rechnet, daß der Versuch Erfolg hat, die für die ‚Sanierung‘ neu aufzuwendenden Gelder also nicht verloren sein werden“.22 Hierzu fügt sich die Auskunft eines anderen Senats in einer Entscheidung, die gleichfalls „entgegen dem auf die Ansicht mehrerer Schriftsteller gestützten Einwand, daß der Nachweis eines Handelns mit bedingtem Vorsatz die Verurteilung nach § 312 HGB. nicht begründe“, daran festhält, dass „absichtlich ... nichts anderes als vorsätzlich“ heiße, „so daß auch die leichteste Art des Vorsatzes, der bedingte Vorsatz, mit heranzuziehen“ sei. Gleichsam selbst erschrocken über diese Teile des Schrifttums und der Ansicht vieler Instanzgerichte widersprechende weite Interpretation beeilt sich der Senat aber zu betonen, diese „Auffassung“ habe „nicht zur Folge, daß die Vornahme der mit dem Betrieb einer Erwerbsgesellschaft geknüpften Geschäfte der Verfolgung aus § 312 HGB oder § 146 GenG regelmäßig um des Willen ausgesetzt ist, weil das für die Geschäfte tätige Mitglied des Vorstandes die kaum jemals ausgeschlossene Verlustgefahr bei pflichtmäßiger Prüfung ins Auge faßt“. Vielmehr bedürfe es für die Annahme des bedingten Vorsatzes „immer des Nachweises nicht nur des Bewußtseins des Geschäftsführers davon, daß seine Handlung einen Nachteil hervorrufen kann, sondern auch seines auf die Hervorrufung des Nachteils gerichteten Willens“. Verhalte „sich der Täter gegenüber dem als möglich vorgestellten Eintritt eines Nachteils innerlich ablehnend“, so komme „nur Fahrlässigkeit in Frage, während der bedingte Vorsatz die Vereinigung der Voraussicht des nachteiligen Erfolgs und dessen Billigung“ erfordere. Wie in der zuvor zitierten Entscheidung will auch diese gegen die Annahme eines Eventualvorsatzes freilich nichts erinnern, wenn der Bevollmächtigte Geschäfte betreibt, „die – ihm bewußt – von dem Gebot kaufmännischer Sorgfalt weit abweichen, bei denen einer aufs äußerste gesteigerten Verlustgefahr nur eine höchst zweifelhafte Aussicht auf einen günstigen Verlauf gegenüber steht, durch die er ‚wie beim Glücksspiel alles auf eine Karte setzt‘“.23 2. Während diese ältere Rechtsprechung zwar noch nicht von „besonderen Anforderungen“ an den subjektiven Tatbestand der Untreue spricht, sie aber inhaltlich in Fällen des dolus eventualis – wie gezeigt im Sinne einer strikten ___________ 22 23

RGSt 61, 211, 213 f. (Entscheidung des 1. Strafsenats). RGSt 66, 255, 261 f.

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Einhaltung der strengen Billigungstheorie24 – aufstellt, kleidet das Reichsgericht seine Mahnungen zur inneren Seite der 1933 neu gefassten Untreue in seine bis heute lebendige Formel. Dabei stammt ein überall aufgegriffener Teil dieser Formel allerdings nicht aus der Gestalt, die ihr das Reichsgericht in Reaktion auf die Neugestaltung des Untreuetatbestandes im Jahr 1933 gab. Vielmehr geht auch er noch auf die alte Fassung zurück. Sie nämlich lag einer Entscheidung des 4. Senats vom 29.11.1935 zugrunde, in der es heißt: „In Fällen der Untreue, in denen eine gewinnsüchtige Absicht des Täters“ (und damit ist gemeint: die in § 266 Abs. 2 StGB a. F. für die Qualifikation vorausgesetzte Absicht, sich oder einem Dritten einen Vermögensvorteil zu verschaffen) „verneint wird, muß aber für den Nachweis des inneren Tatbestandes eine besonders sorgfältige Begründung verlangt werden“. Auch wenn, wie das Reichsgericht hier noch einmal wiederholt, „der sog. bedingte Vorsatz von dem Wort ‚absichtlich‘ in § 266 StGB mitumfaßt“ werde, so müsse der Täter „neben dem Bewußtsein, daß seine Handlungsweise dem Auftraggeber einen Nachteil zufügen“ könne, doch „auch den Willen haben, einen schädigenden Erfolg herbeizuführen“ und diesen sah das Reichsgericht nach den Feststellungen des Landgerichts noch nicht als erwiesen an; die dem Angeklagten im Urteil vorgehaltene „Gleichgültigkeit gegenüber den Belangen“ der Geschädigten und sein „Hang zur Geschäftemacherei“ deuteten nämlich „eher auf Fahrlässigkeit als auf Vorsatz im strafrechtlichen Sinne hin“.25 Diesen Teil der Formel, dass vor allem beim Fehlen des Eigennutzes auf den „Nachweis“ des Eventualvorsatzes besondere Sorgfalt zu verwenden sei, hat das Reichsgericht später – ohne die vormalige Ableitung dieser Aussage aus der Verneinung der früheren Qualifikation zu bedenken – auf die Neufassung des Untreuetatbestandes, die die Qualifikation nicht mehr kennt, übertragen. In einem Fall einer bloßen, für den Vermögensnachteil freilich als ausreichend bezeichneten „Vermögensgefährdung“ durch „nachlässige Buchführung“ schrieb das Reichsgericht 1943 in sein Urteil: „Wenn die Untreue nur in einer mangelhaften Buchführung, nicht auch in einer Unterschlagung oder Veruntreuung des Fehlbetrages liegt“ – eine „Bereicherungsabsicht“ also, wie das Landgericht festgestellt hatte, fehlt – dann „sind an den inneren Tatbestand besonders strenge Anforderungen zu stellen. Auch beim bedingten Vorsatz muß der Täter den Erfolg wollen“ und das heiße, ihn „billigen“.26 Schon 1940 hatte der 4. Senat das annähernd wortgleich for___________ 24

Siehe dazu exemplarisch RGSt 33, 4 (wohl auch zu einem Fall der Untreue); ferner die Nachweise bei Hillenkamp, Examenswichtige Klausurprobleme Allg. Teil, 12. Aufl. 2006, 1. Problem (zur Billigungstheorie S. 6). 25 RG JW 1936, 882, 883. 26 RGSt 77, 228, 229 (= JW 1944, 155); der Angeklagte war aufgefordert worden, trotz Arbeitsüberlastung und dadurch eingetretener unordentlicher Buchführung weiterzumachen; deshalb lag es für das Reichsgericht fern, dass er „den nachteiligen Erfolg seines Handelns“ auch – wie es zu verlangen sei – billigte.

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muliert, die Aussage, es seien besonders strenge Anforderungen an den inneren Tatbestand zu stellen, wenn die Untreue nicht in der Unterschlagung eines Fehlbetrages, sondern in der falschen Buchführung liege, aber mit dem auf die Buchführung bezogenen Satzteil ergänzt „oder in dem Unterlassen einer solchen“.27 Das Reichsgericht selbst hat – obgleich hierzu Gelegenheit bestand – weder den – wie gezeigt – erst sehr spät und gleichwohl noch mit der alten Fassung des § 266 begründeten „Eigennutz-Teil“ noch den später angehängten „Unterlassens-Teil“ der auf besonders strenge Anforderungen zielenden Formel mit der zur Neufassung entwickelten verbunden. Es hat zudem auf die Begründung dieser dann immer wieder in nur geringfügigen Variationen gebrauchten Formel nur wenig Mühe verwandt. So heißt es in der ersten, vom 2. Strafsenat hierzu ergangenen Entscheidung im Jahr 1934 recht knapp: „Der außerordentlich weit gesteckte Rahmen des äußeren Tatbestandes des § 266 StGB macht es notwendig, an den Nachweis des inneren Tatbestandes strenge Anforderungen zu stellen. Insbesondere bedarf es stets sorgfältiger Prüfung, ob der Täter nicht in dem guten Glauben gehandelt hat, seine Handlung liege auch innenrechtlich im Rahmen seiner Befugnisse.“28 Wenige Monate später wiederholt derselbe Senat unter Hinweis auf die zitierte Entscheidung den ersten der beiden Sätze – die hier sog. „Formel“ – ohne ihm eine zusätzliche Begründung beizufügen.29 1935 verlagert der Senat den Schwerpunkt seiner Aussage dann vom „Nachweis“ mehr auf die inhaltliche Seite. Jetzt heißt es: „Daneben bedarf aber der innere Untreuetatbestand besonders sorgfältiger Prüfung. Es genügt neben dem bewußten Vernachlässigen der Pflicht nicht das bloße Bewußtsein, daß die Unterlassung eine Gefahr für den Betrieb darstellt, vielmehr muß der Täter erkennen, daß sein Verhalten unmittelbar nachteilige Folgen für den Treugeber hat, und er muß das mindestens bedingt in seinen Willen aufnehmen.“30 Schwinge – der schon das Ausgangsurteil besprochen hatte – sieht „die grundsätzliche Bedeutung“ (erst) dieses Urteils „darin, daß es die Untergerichte anweist, ganz besondere Aufmerksamkeit dem inneren Tatbestand der Untreue zu schenken“. Er glaubt, dass seinen Sätzen inhaltlich ein Bekenntnis zur auch von ihm für richtig gehaltenen „Wahrscheinlichkeitstheorie“ zum dolus eventualis zu entnehmen sei. Mit dieser „bedeutsamen Entscheidung“ – so lobt er das Urteil deshalb – habe „der Senat den Untergerichten eine Richtlinie gegeben, die verhindern ___________ 27 RG HRR 1940, Nr. 648; um einen Fall des Unterlassens ging es auch in RG JW 1935, 2963; dort wurde es aber als Grund für besonders hohe Anforderungen nicht benannt; ebenso nicht in RG JW 1936, 2101. 28 RGSt 68, 371, 374; in seiner zu dieser Entscheidung des 2. Strafsenats vom 18. Oktober 1934 verfassten Anmerkung (JW 1935, 289) geht Schwinge auf diese erstmalig gebrauchte „Formel“ des Reichsgerichts erstaunlicherweise mit keinem Wort ein. 29 RGSt 69, 15, 17. 30 RG JW 1935, 2963.

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wird, dass sich das neue Untreuestrafrecht durch zweck- und sinnwidrige Überspannung wirtschaftlich schädigend auswirkt.“31 Dies anzumahnen, gaben landgerichtliche Urteile dem Reichsgericht in den Folgejahren zu wiederholten Malen Gelegenheit. So betonte der 3. Senat 1936, es seien „an den Nachweis des inneren Tatbestandes strenge Anforderungen zu stellen“, weil nur dann „die rechtliche Abgrenzung der strafbaren Untreue von der bloßen groben Fahrlässigkeit“ möglich werde.32 Im selben Jahr rügte der 2. Senat – wie schon in seiner die neue Formel begründenden Entscheidung – die „nicht ausreichende“ Behandlung eines denkbaren Irrtums.33 1937 pochte er auf eine „besonders sorgfältige Würdigung“ gerade des inneren Tatbestandes des § 266 n. F., weil in ihm die den Tatbestand überdehnende Gefahr liege, die Vermögensbetreuungspflicht mit der einfachen „Pflicht, Vertragsbedingungen zu erfüllen“, gleichzusetzen. Im letzten, in unserem Zusammenhang zu berichtenden Urteil findet sich eine Zusammenfassung des 2. Senats zu seiner Rechtsprechung, wenn er darauf zurückweist, „daß es der weit gesteckte Rahmen des äußeren Tatbestandes des § 266 StGB“ nach seiner mehrfach geäußerten Ansicht „nötig macht, an den Nachweis des inneren Tatbestandes strenge Anforderungen zu stellen“ und diese Vorgabe „besonders in den Fällen, in denen es ... darauf ankommt, den Tatbestand einer strafbaren Untreue gegenüber der Fahrlässigkeit abzugrenzen“, Geltung beanspruche. Davor ist – in unausgesprochenem Anklang an Entscheidungen zur alten Fassung – wiederholt, „daß schon der bedingte Vorsatz ausreicht“, dass für ihn aber eben nicht die Voraussicht ausreiche, „daß ein Erfolg eintreten“ könne; denn eine solche liege auch bei der bewussten Fahrlässigkeit vor. Es müsse daher die innerliche Billigung hinzutreten. Zwar ging es in diesem Fall um das Unterlassen hinreichender Rechnungsprüfung. Auch stellt der Senat beiläufig fest, „die Angeklagten hätten“ nach den Feststellungen der Strafkammer „keine unmittelbaren Vermö___________ 31 Schwinge, JW 1935, 2964; für die von ihm bevorzugte „Wahrscheinlichkeitstheorie“ bezieht sich Schwinge dort auf Schwinge/Siebert, Das neue Untreuestrafrecht, S. 57 und Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit, 1930, S. 162 f.; ein Bekenntnis zu dieser Lehre ergibt das Urteil freilich eher nicht. Ein Ausbleiben der „Überspannung“ durch die reichsgerichtliche Rechtsprechung bescheinigt später Hellm. Mayer (Fn 6), S. 337 der Rechtsprechung nicht. 32 RG JW 1936, 2101; im Fall reichte dem Reichsgericht nicht, „dass der Täter allgemein und unbestimmt mit irgendeinem Schaden oder Nachteil des Treugebers rechnet und ihn billigt“. Vielmehr müsse er „mit einem bestimmten, unmittelbaren Schaden wirtschaftlicher, das Vermögen betreffender Art, mit einer Vermögensschädigung oder einer ihr gleichkommenden Vermögensgefährdung rechnen und sie in Kauf nehmen“; ähnlich später RG HRR 1940, Nr. 648: „Es genügt zum Vorsatz nicht das bloße Bewußtsein, daß die Unordnung oder das Fehlen der Buchführung eine Gefahr für den Geschäftsherren mit sich bringt, sondern der Täter muß erkennen, daß ein unmittelbarer, bestimmter Vermögensnachteil droht und er muß diesen Nachteil wenigstens bedingt in seinen Willen aufnehmen“. 33 RGSt 70, 166, 170.

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gensvorteile gehabt“. Beide Aspekte führt das Gericht aber nicht als Gründe für seine „strengen Anforderungen“ an. Hierfür steht hier allein „der weit gesteckte Rahmen des äußeren Tatbestands“ der Untreue.34 3. Zieht man ein kurzes Fazit zu der Rechtsprechung des Reichsgerichts, so ergibt sich, dass die von ihm aufgestellten „besonderen Anforderungen“ an den subjektiven Untreuetatbestand in zwei Richtungen zielen. Zum einen betreffen sie den „Nachweis“ des Vorsatzes. Insoweit verlegen sie ein vorschnelles Schlussverfahren von der Kenntnis des Verlustrisikos auf dessen (verlangte) Billigung ebenso wie nur „formelmäßige Feststellungen“.35 Zum anderen betreffen sie die inhaltlichen Voraussetzungen des dolus eventualis im Sinne einer ernst genommenen Billigungstheorie namentlich im Blick auf den Vermögensnachteil. Anlass, die „besonderen Anforderungen“ zu bedenken, besteht für das Reichsgericht andererseits – seit 1933 – gewissermaßen immer aufgrund des weit gesteckten Rahmens des objektiven Tatbestandes, dessen Weite freilich nur kärglich – etwa in Fällen schadensgleicher Vermögensgefährdung, riskanter Geschäfte oder der Gleichsetzung vertraglicher Pflichten mit der Vermögensbetreuungspflicht36 – verdeutlicht wird. Andererseits sollen besondere Anforderungen gelten, wenn Eigennutz, wenn Bereicherungsabsicht fehlt. Dass daneben auch bei bloßem Unterlassen strengere Anforderungen zu stellen sind, ergibt die reichsgerichtliche Rechtsprechung dagegen nicht. Bemerkenswert ist, dass das Reichsgericht die besondere Sorgfalt der Tatrichter nicht nur auf das den Vorsatz positiv begründende Wissen und Wollen, sondern auch darauf lenkt, nahe liegende Irrtümer zu beachten. Zurückzuführen ist die Entwicklung der besonderen Anforderungen nicht nur auf die „Entgrenzung“ des Tatbestandes durch die Neufassung, sondern auch und bleibend auf die Einbeziehung des dolus eventualis schon unter der Geltung des alten Rechts. Besonders hervorzuheben ist schließlich, dass es kein Urteil gibt, in dem Klage über einen objektiv „zu“ weit gesteckten Rahmen geführt und dieser dann durch „strenge Anforderungen“ an den subjektiven Tatbestand zurückgeschnitten wird. Ein solcher korrigierender Schritt fehlt. Vielmehr bleibt es durchweg bei einer Kongruenz zwischen äußerem und innerem Tatbestand der Untreue.37 ___________ 34

RGSt 76, 115, 116 f. Zum Ersten s. vor allem RGSt 61, 211, 213 f.; 66, 255, 261 f.; zum Zweiten z. B. RGSt 76, 115, 116. 36 Ein Fall, der schon zur Restriktion des objektiven Tatbestandes taugt, s. RGSt 71, 90, 91; s. auch RGSt 69, 203, ein Urteil, in dem die objektive Pflichtwidrigkeit als notwendige Voraussetzung schon des objektiven Tatbestands vor allem auch für Fälle bedacht wird, in denen die subjektive Seite die gebotene Einschränkung nicht leisten kann. 37 In RGSt 69, 203 heißt es daher, dass aus dem Einbau der Pflichtwidrigkeit in den äußeren Tatbestand folgt, „daß das Bewußtsein des Täters von der Pflichtwidrigkeit sei35

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4. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs fügt diesem Bild bis in das Jahr 2000/2001 und wieder danach kaum Wesentliches hinzu. Das gilt jedenfalls dann, wenn man zunächst den Blick auf die Untreue beschränkt. In der ersten, zu § 81 a GmbHG ergangenen Entscheidung heißt es nur, die „innere Tatseite“ sei „nach der Rechtsprechung bei der Untreue besonders sorgfältig zu prüfen“.38 Wenig später erinnert der BGH anlässlich eines Falles der Vermögensgefährdung durch „unordentliche Buchführung“ und eines weiteren der „Bildung schwarzer Kassen durch Beamte“ daran, dass in derartigen Fällen an den inneren Tatbestand „strenge Anforderungen zu stellen“ seien.39 Erstmalig im Bundesligaskandal-Fall kehrt die reichsgerichtliche Formel in ihrer einen Variante (fast) vollständig wieder, wenn es dort heißt, dass „bei der Untreue an den Vorsatz strenge Anforderungen ... vor allem dann“ zu stellen seien, „wenn nur bedingter Vorsatz in Frage steht und der Täter, wie hier, nicht eigensüchtig handelt“. Dem folgt – wie schon oft in Reichsgerichtstagen – im selben Urteil eine – hier auf den mittlerweile entschiedenen „Lederriemen-Fall“40 bezugnehmende – Passage zu den inhaltlichen Voraussetzungen des dolus eventualis, dessen voluntative Seite als weitgehend unabhängig vom Grad der dem Vermögen drohenden Verlustgefahr dargestellt wird.41 Den hier in der Formel noch fehlenden Hinweis auf den „weit gesteckten Rahmen des äußeren Tatbestandes des § 266 StGB“ als maßgeblichen Grund für die strengen Anforderungen liefert der BGH dann 1982 nach.42 Erst 1983 findet sich – was die Entscheidungen zuvor stillschweigend voraussetzten – im Zusammenhang mit einem Risikogeschäft auch die Bestätigung der vom Reichsgericht noch – wie gesehen – besonders begründeten Auffassung, dass „ein bedingter Schädigervorsatz für die Bejahung der inneren Voraussetzung der Untreue“ ausreiche, dass aber dafür die „bloße Kenntnis des (im entschiedenen Fall mit Warentermingeschäften ___________ ner Handlung ein unentbehrliches Merkmal des inneren Tatbestandes ist, wobei freilich auch hier der nur bedingte Vorsatz genügt“. 38 BGHSt 3, 23, 25; einen Beleg für diese „Rechtsprechung“ gibt die Entscheidung nicht an. 39 BGH GA 1956, 121, 123 (unter Berufung auf RG DR 1944, 155); BGH GA 1956, 154, 155 (unter Berufung auf RGSt 75, 207; 77, 228); hier fügt der BGH hinzu „– wie stets bei der Untreue – “. 40 BGHSt 7, 363, 370; dieser ein Tötungsdelikt behandelnde Fall bietet das Ausgangsbeispiel zum 1. Problem in meinen Examenswichtigen Klausurproblemen, Allg. Teil (Fn 24). 41 BGH NJW 1975, 1235, 1236; obwohl die Formel zuvor in dieser Vollständigkeit vom BGH noch nicht wiederholt worden ist, zitiert das Urteil nur die hier in Fn. 38 und 39 belegten BGH-Entscheidungen, greift also – als Beleg – auf die reichsgerichtliche Rechtsprechung (bis auf ein Zwischenzitat aus RGSt 61, 211, 212) nicht zurück. 42 BGH NJW 1983, 461 = wistra 1983, 72 und JR 1983, 515 mit Anm. Keller; zitiert werden aus der reichsgerichtlichen Rechtsprechung RGSt 68, 371, 374; 69, 15, 17; 76, 115, 116.

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verbundenen) hohen Verlustrisikos“ nicht genüge.43 Später wird an die Formel mehrfach angehängt, zum Vorsatz gehöre „in jedem Fall, dass sich der Täter auch der Pflichtwidrigkeit seines Handelns bewußt“ sei.44 Dabei führt die Erinnerung an die „strengen Anforderungen“ keineswegs immer zur Aufhebung der Verurteilung oder gar zum Freispruch. Das zeigt z. B. die trotz Zitierung der Formel an einen ungetreuen Schulleiter gegebene Auskunft, vorsätzliches Handeln sei „regelmäßig gegeben, wenn der Täter, der seine Vermögensbetreuungspflicht kennt, sich der Pflichtwidrigkeit seines Tuns und des dadurch bewirkten Vermögensnachteils bewußt“ sei.45 Ein anderes Mal gibt der BGH die Formel zur Beachtung bei der erneuten Verhandlung dem zuständigen Landgericht nur auf.46 Zwei weitere Erkenntnisse des Gerichts bemängeln schon die Feststellungen zum objektiven Vermögensnachteil, zusätzlich aber auch zum Vorsatz mit der an die vollständig wiederholte Formel angeschlossenen Bemerkung, der Täter müsse sich „nicht nur der Pflichtwidrigkeit seines Tuns, sondern auch des dadurch bewirkten Vermögensnachteils bewußt sein“.47 Sieht man von den noch herauszuhebenden Entscheidungen BGHSt 46, 30 und BGHSt 47, 148 ab, so fügen auch die übrigen Urteile dem bis heute kaum Berichtenswertes hinzu.48 Hinzuweisen ist lediglich noch auf die Entscheidung zum Heidelberger Herzklappen-Fall, in dem der BGH die auch hier zitierten „strengen Anforderungen“ wegen „der grundsätzlichen Weite des Untreuetatbestandes in der Treuebruchsalternative“ nur auf den Treuebruchstatbestand bezieht.49 Ob das als Einschränkung gemeint ist, bleibt offen. ___________ 43 BGH NJW 1984, 800, 801; zwischen beidem findet sich das Zitat des Kerns der Formel. Für das Ausreichen des dolus eventualis zitiert der BGH lediglich die Entscheidung BGHZ 8, 277, 281 = NJW 1953, 457; diese Entscheidung zitiert ihrerseits RG JW 1936, 2101 und RGSt 73, 283; die im Zusammenhang hiermit bisweilen zitierte Entscheidung BGHSt 31, 264 bestätigt lediglich die erstinstanzliche Beweiswürdigung zur subjektiven Seite einer Untreue, ergibt aber zur hier behandelten Problematik nichts. 44 BGHR StGB § 266 Abs. 1 Vorsatz 1 (= wistra 1986, 137) und Vorsatz 2. 45 BGH NStZ 1986, 455, 456; hier fehlt der Hinweis darauf, dass neben der Kenntnis das voluntative Element besonders zu beachten ist; möglicherweise ist hier der BGH aber auch – ohne dies deutlich zu machen – von direktem Vorsatz ausgegangen; dass der „Vorsatznachweis“ trotz der Formel in der Praxis durchaus gelingen kann, betont Nack, NJW 1980, 1602. 46 BGH wistra 1988, 350, 351; die im Zusammenhang mit den „strengen Anforderungen“ bisweilen zitierten Entscheidungen BGH NJW 1990, 3219; 1991, 990; StV 1996, 431 und BGHR StGB § 266 Abs. 1 Nachteil 36 geben für die hier erörterten Fragen nichts her. 47 BGH NStZ 1997, 543 = BGHR StGB § 266 Abs. 1 Nachteil 38 = wistra 1997, 301 (Einstellungsbeschluss); BGH wistra 2000, 60, 61. 48 Das gilt namentlich für BGHR StGB § 266 Abs. 1 Nachteil 48 = NJW 2001, 2411 und BGH wistra 2003, 463, 464, die die Formel eher routinemäßig anfügen. 49 BGHSt 47, 295, 302; da die Vermögensbetreuungspflicht (als eine wesentliche Quelle der Weite) vom BGH auch im Missbrauchstatbestand vorausgesetzt wird, ist

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Einen besonderen Akzent in dieser Formelkette setzen allein zwei Entscheidungen des 1. Senats aus den Jahren 2000/200150, in denen es um die Beurteilung von Kreditvergaben ging. Hier verlangt der Senat nicht nur eine genauere Prüfung von Pflichtwidrigkeit und Vermögensnachteil bei einem solchen, seiner „Natur nach ... mit einem Risiko behafteten Geschäft“. Vielmehr hält das Gericht auch zum subjektiven Tatbestand „eingehende Erörterungen“ und eine „sorgfältige und strenge Prüfung der Frage“ für erforderlich, „ob – zumindest – bedingt vorsätzliches Verhalten tatsächlich vorliegt“. Das ist – soweit – sicher nicht neu. Neu ist aber zum einen, dass das Gericht erstmalig im Zusammenhang mit der Untreue betont, es sei „zwischen den begrifflichen Voraussetzungen des dolus eventualis und den Anforderungen, die an seinen Beweis zu stellen sind“ zu unterscheiden.51 Das hat auch das Reichsgericht in seinen hier berichteten Urteilen getan, wenn es mal strenge Anforderungen an den „Nachweis“, mal an das Kriterium vor allem der „Billigung“ stellt. Es hat diese zwei Ebenen und Bezugspunkte der „Strenge-Anforderungen-Formel“ aber nirgends – so wie jetzt der Senat – bewusst gegenübergestellt und geschieden. Neu ist zum anderen, dass die Richter im ersten der beiden Urteile sich für die Beweisfrage dann mit einer Spruchpraxis auseinandersetzen, die sich mit den Anforderungen an den Beweis des dolus eventualis jenseits der Untreue befasst. Dazu will der Senat entgegen der Rechtsprechung zu den Tötungsdelikten, nach der „die Annahme einer Billigung des Erfolges beweisrechtlich nahe liegen“ soll, „wenn der Täter ein Vorhaben trotz äußerster Gefährlichkeit durchführt“, bei der Untreue – wie schon das Reichsgericht – den „Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts“ nicht allein als „Kriterium für die Entscheidung der Frage“ gelten lassen, „ob der Angeklagte mit dem Erfolg auch einverstanden war“.52 Denn er glaubt in Anknüpfung an ein schon Jahre zuvor zur Urkundenfälschung eines Strafverteidigers von ihm gefälltes Urteil 53, dass „derartige Umschreibungen, die weitgehend für den Bereich der Tötungsdelikte entwickelt worden sind, nicht formelhaft auf Fälle offener, mehrdeutiger Geschehen“ – wie eben eine Strafverteidigung oder ein Risikogeschäft im Kreditgewerbe – „angewendet werden“ können. Vielmehr komme es bei solchen „offenen“ Geschehen auf alle „Umstände des Einzelfalls an, bei denen insbesondere die Mo___________ zweifelhaft, ob man aus dieser Formulierung eine Beschränkung der „Formel“ auf den Treuebruchstatbestand wirklich ableiten kann. 50 BGHSt 46, 30, 34 f.; 47, 148, 154 ff.; beide Entscheidungen zitieren die Formel zwar nicht, setzen sich aber mit ihrem inhaltlichen Anliegen auseinander. 51 BGHSt 46, 30, 35; zitiert wird hierin Schönke/Schröder/Cramer, StGB, 25. Aufl., § 15 Rn. 87; dort findet sich der Beleg auch heute bei Cramer/Sternberg-Lieben in der 27. Aufl. 2006. 52 BGHSt 46, 30, 35; s. auch BGHSt 47, 148, 157. 53 BGHR StGB § 15 Vorsatz, bedingter 8 (Zitat S. 3).

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tive und die Interessenlage des Angeklagten“ wie seine „Persönlichkeit“ zu beachten seien.54 Bemerkenswert ist hieran wiederum weniger die sachliche Übereinstimmung mit der Untreuerechtsprechung des Reichsgerichts auch in dieser Frage. Vielmehr ist es hier die Einbettung des Problems in ein größeres Ganzes. Weil die „beiden Schuldformen“ des dolus eventualis und der bewussten Fahrlässigkeit „im Grenzbereich eng beieinander liegen“ – und das ist der eigentliche Grund – „müssen bei der Annahme bedingten Vorsatzes beide Elemente der inneren Tatseite, also sowohl das Wissenselement als auch das Willenselement“ nach der Rechtsprechung des BGH hiernach eben nicht nur bei der Untreue, sondern auch z. B. bei den Tötungsdelikten55, bei der Urkundenfälschung56 oder bei der Körperverletzung57 „in jedem Einzelfall besonders geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden“. Deshalb werden „formelhafte Thesen in den Urteilsgründen“ ebenso wie der vorschnelle Schluss von der „Kenntnis“ der Gefahr „auf das voluntative Element des Vorsatzes“ nicht nur bei Verurteilungen wegen Untreue, sondern auch wegen anderer Delikte gerügt58 und es werden – ganz wie bei der Untreue und bis in die Fassung der Formel hinein – „besondere Anforderungen bei der Feststellung des inneren Tatbestandes und seiner Darlegung in den Urteilsgründen“ auch bei anderen Delikten gestellt.59 Auch hat der 5. Senat angesichts der „komplexen und mehrdeutigen Strukturen, wie sie in Wirtschaftsstrafsachen häufig gegeben sind“, die zum Wissens- und Willenselement vom 1. Senat für die Untreue eingeforderten „eingehenden Feststellungen“ als Inhalt richterlicher Begründungspflicht ohne Federlesens auf den Tatbestand des Betrugs übertragen.60 5. Damit ist das Fazit zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu unserem Thema schon eingeleitet. Sie beschränkt sich zu einem guten Teil auf die Wiederholung der reichsgerichtlichen Aussagen, ohne etwas zur Begründung ___________ 54 BGHSt 46, 30, 35 und BGHR StGB § 15, Vorsatz, bedingter 8 beziehen sich für diese letzteren Aussagen auf BGHSt 36, 1, 9, die erstere Entscheidung auch auf BGHR StGB § 15 Vorsatz, bedingter 1; StPO § 127 Festnahme 1. 55 Hierfür stehen vor allem die Entscheidungen, die sich mit höchst (lebens-)gefährlichen Handlungen und der dem Vorsatz möglicherweise entgegenstehenden Tötungshemmschwelle beschäftigen, s. z. B. BGH MDR/Holtz 1980, 812; BGH JZ 1981, 35; BGH NStZ 1984, 19; 1986, 550; BGHSt 36, 1, 15; BGH StraFO 2008, 253; s. dazu auch die Heidelberger Dissertation von Mühlbauer, Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Tötungshemmschwelle, 1998. 56 BGHR StGB § 15 Vorsatz, bedingter 8. 57 BGHSt 36, 1, 9: Hieraus auch das Zitat. 58 Die Zitate aus BGH StraFO 2008, 253, 254 betreffen ein Tötungsgeschehen. 59 Zitat aus BGH NStZ 1984, 19. 60 BGHSt 48, 331, 346 ff.; BGH StV 2008, 526 f.; beide Male geht es um Fälle schadensgleicher Vermögensgefährdung.

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der Weite des Untreuetatbestandes oder des Ausreichens des dolus eventualis für ihn als Quellen der „Strenge-Anforderungen-Formel“ gerade für die Untreue nachzutragen. Auch dass das Fehlen von Eigennutz die besonderen Anforderungen auf den Platz rufen soll, ist nur formelhaft wiederholt. Man gewinnt nicht selten den Eindruck, das Aufrufen der Formel sei zu einem oft folgenlosen Ritual erstarrt. Verdienstlich ist demgegenüber einerseits die für den Tatrichter wie für die Revision gleichermaßen bedeutsame Scheidung der Beweis- von der Sachfrage, die erstmal deutlich in der neueren BGHRechtsprechung geschieht. Und verdienstvoll ist auch und vor allem, den die Formel belastenden Schein, sie sei für den „zu weit geratenen Rahmen“ der Untreue reserviert und stelle allein für ihn besondere Anforderungen an den dolus eventualis, beseitigt zu haben. Denn die zuletzt angeführten Entscheidungen machen klar, dass es das enge Beieinanderliegen der „beiden Schuldformen“ ist, das die Revisionsrichter treibt und dass nur der Anlass, dies besonders sorgfältig zu bedenken, delikts- oder sachverhaltstypisch ist. Bei den Tötungsdelikten ist es die Tötungshemmschwelle, bei den Körperverletzungsdelikten durch einen HIV-Positiven dessen belastete Lebenssituation, bei einer Urkundenfälschung oder Falschaussage eines Strafverteidigers zugunsten seines Mandanten die Crux der Verteidigung, bei Wirtschaftsstraftaten sind es „komplexe und mehrdeutige Strukturen“, die vorschnelle Festlegungen oder Schlüsse wie ein zu leichtfertiges Annehmen des „Wollens“ verbieten. Bei der Untreue – die eine Wirtschaftsstraftat ist61 – ist es (auch) die Weite des objektiven Tatbestandes und das Nicht-Verlangen einer eigennützigen Motivation. In keinem der Fälle wird auch vom BGH schließlich vom dolus eventualis mehr zu erfassen verlangt, als der objektive Tatbestand voraussetzt, die Kongruenz zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand nirgends gesprengt. Daran hat das Gericht in den bisher beschriebenen Urteilen auch zur Untreue festgehalten: die Weite des Tatbestandes ist Anlass zur Sorgfalt, nicht aber zu seiner im „Inneren“ vorzunehmenden Korrektur.

III. Die wiedergegebene Rechtsprechung findet zu ihrer „Erweiterung“ des subjektiven Tatbestandes der Untreue auf den dolus eventualis heute de lege lata uneingeschränkte, zu ihrer „besondere Anforderungen“ an seine Voraussetzungen und seine Feststellung stellenden Formel verbreitete Zustimmung.62 Sie ___________ 61

Siehe zu dieser naturgemäß nicht für alle Fälle der Untreue gültigen Einordnung die Nachweise bei Wessels/Hillenkamp, Strafrecht BT II, 31. Aufl. 2008, Rn. 8 a mit Fn. 7. 62 Sie wird freilich nirgends eigenständig begründet und besteht überwiegend in der zustimmenden Wiederholung des Formelinhalts (bisweilen mit dem nach der dargestell-

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trifft insoweit aber auch auf lebhafte Kritik. Diese räumt der Rechtsprechung zwar überwiegend ein, ihre restriktive Tendenz sei angesichts der Unbestimmtheit und Weite des § 266 StGB „kriminalpolitisch“ zu begrüßen,63 weil es im geschäftlichen Leben weder Aufgabe noch Zweck des Gesetzes sei, „gesunden Wagemut zu hemmen“.64 Sie hält aber den eingeschlagenen Weg aus im Wesentlichen vier Gründen für falsch. Der erste ist ein „Gleichheitsargument“: „Daß bei § 266 der Vorsatz sorgfältig zu prüfen ist, ist zutreffend“, schreiben Samson/Günther.65 „Nicht zutreffend ist es aber, daß diese Vorsatzprüfung bei § 266 sorgfältiger als bei anderen Delikten oder bei anderen Delikten weniger sorgfältig als bei § 266 zu erfolgen hat.“ Der zweite Grund ist ein rechtstheoretischer oder rechtslogischer: Bei der Eingrenzung der Weite des Untreuetatbestandes gehe es um eine Auslegungs- und damit Rechtsfrage. Beantworte man sie mit Beweisanforderungen, behandle man diese Rechtsfrage fälschlich als Tatfrage.66 Das dritte Argument ist ein rechtspraktisches. Es wendet sich gegen die Gefahr der Willkür: „Der Ausgang eines Verfahrens wird völlig unvorher-

___________ ten Rechtsprechung jedenfalls aus ihr nicht unmittelbar herzuleitenden Hinweis darauf, auch beim Unterlassen seien besondere Anforderungen an den dolus eventualis zu stellen); in diesem Sinne etwa Arzt/Weber, Strafrecht BT, 2000, § 22 Rn. 78; GSBeukelmann, StGB, 1. Aufl. 2008, § 266 Rn. 49-52; Dannecker, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 2. Aufl. 2004, 1. Kap. Rn. 165; Joecks, StGB, 8. Aufl. 2008, § 266 Rn. 22; NK-StGB/Kindhäuser, 2. Aufl. 2005, § 266 Rn. 122 f.; Kniriem, in: Wabnitz/Janovsky (s. o.), 8. Kap. Rn. 230; Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 266 Rn. 19; Maiwald (Fn. 3), § 45 Rn. 51 f.; Nack, in: Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2006, § 66 Rn. 136 ff.; Raum, in: Wabnitz/Janovsky (s. o.), 4. Kap. Rn. 77 ff.; Rengier, Strafrecht BT I, § 18 Rn. 23 a/b (mit Skepsis); Schmid, in Müller-Gugenberger/Bieneck (s. o.), § 31 Rn. 196; Schmidt/Priebe, Strafrecht BT II, 8. Aufl. 2009, Rn. 749. Bei Otto, Grundkurs Strafrecht BT, 7. Aufl. 2005, § 54 Rn. 14, 31 und Mitsch, Strafrecht BT I, 2. Aufl. 2003, § 8 Rn. 49 findet sich nur Zustimmung zum Ausreichen des dolus eventualis. Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 266 Rn. 77-78 c räumt der Kritik Berechtigung ein, glaubt aber, dass die Einschränkung des subjektiven Tatbestandes in bestimmten Fällen ein probates Mittel der Rückführung des § 266 auf seinen klaren Kernbereich sein könnte. 63 So z. B. außer den schon in Fn. 15 zitierten Stellungnahmen von Beulke und Rönnau jeweils einleitend MK-StGB/Dierlamm, 1. Aufl. 2006, § 266 Rn. 238 und Seier (Fn. 9), V 2 Rn. 86. 64 So Blei, Strafrecht BT II, 12. Aufl. 1983, § 65 VI (S. 261); man kann auch angesichts des von Hellm. Mayer (Fn. 6) berichteten anfänglichen Missbrauchs der Weite zur im politischen Sinne gemeinten „Bereinigung“ der Vorstandsetagen an die Gefahr erinnern, das Strafrecht zu strafrechtsfremden Zwecken einzusetzen; s. zu dieser Gefahr bei der Untreue z. B. (sehr pointiert) Beulke (Fn. 15) und (allgemein) Lüderssen, FS Amelung, 2009, S. 67 (mit Beispielen aus dem Umwelt- und Untreuestrafrecht S. 80). 65 SK-StGB/Samson/Günther, 5. Aufl. 1996, § 266 Rn. 50. 66 So z. B. Fischer (Fn. 62), § 266 Rn. 78; LK-StGB/Schünemann, 12. Aufl. 1998, § 266 Rn. 151.

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sehbar“ – so heißt es bei Beulke67 – „wenn die Notbremse erst im subjektiven Tatbestand gezogen“ und damit tatrichterlichem Ermessen überantwortet wird. Der vierte – wohl am häufigsten angeführte – Grund ergibt sich aus Deliktsaufbau und Systematik: „Die notwendige Korrektur eines dem Wortlaut nach zu weit gefassten objektiven Tatbestandes kann“ – so Lenckner/Perron – „nur durch seine sinnvolle restriktive Auslegung erfolgen. Erhöhte Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung hinsichtlich des auf ihn bezogenen subjektiven Tatbestandes sind hierzu kein taugliches Mittel“.68 Ich habe dem hinzugefügt: „Die Grenzen des objektiven Tatbestandes sind diesem selbst zu setzen“,69 Frisch hat nachzuweisen versucht, dass das – i. E. weitgehend übereinstimmend mit der „Bremse“ der Billigung – über den Gedanken des unerlaubten Risikos – wenn man nur will – auch gelingt.70 Diese Kritik ist sicher nicht ganz unberechtigt; denn man muss sehen, dass die Unbestimmtheit und Weite eines objektiven Tatbestandes eben doch ein kategorial anderer Anlass für Restriktionsbemühungen sind, als faktische Befindlichkeiten wie die Tötungshemmschwelle oder die Tatsache, HIV-positiv zu sein, und situative Merkmale, wie z. B. die „Zwickmühlen“ der Strafverteidigung oder eben die komplexen Lagen in Wirtschaftsstrafsachen. Methodisch ist im ersten Fall für Restriktion der objektive Tatbestand selbst der richtige Ort, das Bemühen um seine einengende Auslegung geboten. In den übrigen Fällen ist in erster Linie die Beweisfrage zu bedenken. Lässt man die Rechtsprechung allerdings in der hier geschehenen Weise noch einmal selbst zu Wort kommen, dann muss man fairer Weise ihr gegenüber einräumen, dass die Kritik eher die Gefahren, als die Wirklichkeit der (bis hierher referierten) Judikate trifft. Denn erstens sind sie – soweit sie zur Untreue ergangen sind – sicher nicht so zu verstehen, man müsse nur hier und eben nicht auch bei anderen Delikten in Problemlagen besondere Sorgfalt aufwenden. Das hat der Seitenblick in BGHSt 46, 30 deutlich gezeigt. Und dass es dort, wo sich der dolus eventualis „problemlos“ ergibt, keiner „besonderen“ Anforderungen und Anstrengungen bedarf, ___________ 67 Beulke, FS Eisenberg, 2009, S. 245, 264; Beulke, JR 2005, 40 f. und Beulke/Witzigmann, JR 2008, 435 raten deshalb freilich von einer Restriktion auch auf der subjektiven Seite bei gehöriger Restriktion des objektiven Tatbestandes nicht ab. 68 Schönke/Schröder/Lenckner/Perron, StGB, 27. Aufl. 2006, § 266 Rn. 50; ebenso z. B. Blei (Fn. 64), § 65 VI (S. 261); MK-StGB/Dierlamm, 1. Aufl. 2006, § 266 Rn. 238; ders., NStZ 1997, 535; Eisele, Strafrecht BT II, 1. Aufl. 2009, Rn. 859; Feigen, FS Rudolphi, 2004, S. 459 f.; Kubiciel, NStZ 2005, 356; Möhrenschlager, in: Dölling, Handbuch der Korruptionsprävention, 2007, A VIII Rn. 128 mit Fn. 445; Ransiek, ZStW 116 (2004), S. 634 ff.; LK-StGB/Schünemann (Fn. 66), § 266 Rn. 50; Seier (Fn. 9), V 2 Rn. 86; Waßmer (Fn. 8), S. 153. 69 Wessels/Hillenkamp (Fn. 61), Rn. 778; s. auch schon Hillenkamp, NStZ 1981, 163 f. 70 Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 306 f., 324 f., der hier auch zu Fällen des Unterlassens Stellung bezieht.

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heißt ja nicht, dass man die Abgrenzung zur anderen „Schuldform“ dort weniger ernst nehmen muss. Zum zweiten behandelt die Rechtsprechung die Auslegungsfrage in ihren Ausführungen zum dolus eventualis sicherlich auch als eine Beweisfrage, aber doch auch als eine vornehmlich das voluntative Element des Vorsatzes betreffende Rechtsfrage und sie scheidet – abermals in BGHSt 46, 30 – jedenfalls im Ausgang deutlich beide. Und da sich in der Untreue die „komplexen und mehrdeutigen Strukturen“ in Wirtschaftsstrafsachen nun einmal als Anlass mit der Weite und Unbestimmtheit des Tatbestandes treffen, lässt sich eine in dieser Weise „kombinierte“ Behandlung des Problems als Tatsachenund Rechtsfrage nicht ohne weiteres von der Hand weisen. Zum dritten mag der Ausgang des Verfahrens in die Formel auf den Plan rufenden Prozessen in der Tat schwer ausrechenbar sein. Immerhin muss man aber sehen, dass die Formel in ihrer sorgfältige Feststellungen und sorgfältige Beachtung der dogmatischen Grenzziehungen anmahnenden Fassung den Beschuldigten ausschließlich begünstigt. Und schließlich kann man viertens der bisher wiedergegebenen Rechtsprechung den Vorhalt kaum machen, sie benutze ihre Formel zu einer die Kongruenz zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand aufkündigenden, den zu weit geratenen objektiven Rahmen im Spiegelbild des Vorsatzes verändernden Korrektur.

IV. Gerade das – und damit kommen wir zu unserem Ausgangspunkt zurück – lässt sich nun aber von der Entscheidung des 2. Senats im Fall Kanther u. a. nicht mehr sagen. Sie nimmt zwar – wie schon die zuvor hervorgehobenen Urteile des 1. Senats – auf die hergebrachte „Besondere-Anforderungen-Formel“ keinen Bezug. Sie reiht sich aber gleichwohl durch ihre unverkennbare Absicht, den objektiv (zu) weit gesteckten Rahmen des Untreuetatbestandes im subjektiven einzufangen, in der Sache fraglos in die beschriebene Formelkette als weiteres Glied ein. In dieser Kette bedeutet sie nun aber einen deutlichen Bruch. Sie kündigt die Kongruenz zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand auf.71 Wäre sie richtig, müsste man den Satz korrigieren, die Untreue sei ein „einfach kongruentes Delikt“. Zu einer solchen Korrektur ist dem Jubilar aber nicht zu raten, denn richtig ist die Entscheidung nicht.72 Allerdings berühren sie ___________ 71

BGHSt 51, 100, 123; der Senat bekräftigt diese Auffassung in BGH NStZ 2007, 704; der 5. Senat übernimmt sie im Ausgangspunkt, s. BGH NJW 2008, 1827. 72 Der 1. Senat hat der Entscheidung in einem obiter dictum widersprochen, s. BGH NJW 2008, 2451, 2452; die hierbei im Vordergrund stehende Behauptung, es handle sich in den entschiedenen Fällen schadensgleicher Vermögensgefährdung in Wahrheit um Fälle eines bereits eingetretenen Vermögensnachteils und eines darauf bezogenen direkten Vorsatzes (s. hierzu die Kontroverse zwischen Nack und Fischer in StraFo 2008, 277 ff. und 269 ff.; zur Annahme eines direkten Vorsatzes in diesen Fällen auch Ran-

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die ersten drei gegen die „Formel-Rechtsprechung“ erhobenen Kritikpunkte eher nicht. Die besondere Mühe, die die Entscheidung auf die Festlegung des Bezugspunktes des Eventualdolus bei (nur) schadensgleicher Vermögensgefährdung wendet, gilt einer von mehreren Problemlagen, die sicher besondere Aufmerksamkeit verdient und einen über das übliche hinausgehenden Begründungsaufwand auch rechtfertigt. Auch stellt der Senat die Rechtsfrage nach dem Gegenstand des dolus eventualis in solchen Fällen und beantwortet sie allein mit rechtlichen Gründen, vermengt also Rechts- und Tatfrage nicht. Und dass seine Lösung den Gerichten mehr als bisher erlaubt, „in einer sehr auf den Einzelfall abstellenden Betrachtungsweise das voluntative Vorsatzelement hinsichtlich der Schadensrealisierung das eine Mal (zu) bejahen und beim nächsten Mal wieder (zu) verneinen“, mit anderen Worten, mehr als bisher in ergebnisorientierte Richterwillkür mündet,73 leuchtet nicht unmittelbar ein. Für solche „Willkür“ ist beim dolus eventualis – wenn man so will – immer ein Platz, solange man ein voluntatives Element fordert; eine besondere Einladung hierzu ist in der neuen Umschreibung deshalb kaum zu erkennen. Was die Konstruktion des 1. Senats aber mit Wucht trifft, ist das wohl gewichtigste Argument gegen jede Lösung, die eine Nachjustierung eines zu weiten objektiven Tatbestandes in „besonderen Anforderungen“ an den subjektiven Tatbestand sucht. Gegen sie ist einzuwenden, dass nicht der subjektive, sondern allein der objektive Tatbestand der richtige und „zulässige“ Ort ist, unter dem Bestimmtheitsgebot bedenkliche oder nach dem Strafwürdigkeitspostulat anfechtbare Weiten durch restriktive Auslegung zurückzuschneiden.74 Dafür sprechen drei Gründe: Zum Ersten kann schon logischer Weise ein zu weit gesteckter Rahmen des objektiven Tatbestandes nicht durch besondere Anforderungen an den inneren Tatbestand zurückgeschnitten oder korrigiert werden, da der innere Tatbestand auf den äußeren nicht zurückwirkt und seine Grenzen nicht verschiebt. Zum Zweiten ist es ein unauflösbarer Satz der Vorsatzdogmatik, dass sich die beiden Elemente des Vorsatzes auf alle Umstände ___________ siek, NJW 2007, 1729; schon zuvor Waßmer [Fn. 8], S. 158 f), muss hier aus Raumgründen ununtersucht bleiben; als „Scheinproblematik“ (BGH NJW 2008, 2452) kann man die Grundsatzfrage selbst dann nicht bezeichnen, da es auch in Fällen schadensgleicher Vermögensgefährdung fraglos Fälle des dolus eventualis gibt. Kritisch zu BGHSt 51, 100 haben sich bisher auch Bernsmann, GA 2007, 229 f.; Beulke, JR 2008, 434 f.; Perron, NStZ 2008, 517; ders., FS Tiedemann, 2008 S. 746; Rönnau, FS Tiedemann, 2008, S. 732; Saliger, NStZ 2007, 580 f.; Schlösser, NStZ 2008, 397; Schünemann, NStZ 2008, 430; Selle/Wietz, ZIS 2008, 471 und U. Weber, FS Eisenberg, 2009, S. 371 ff. geäußert; Zustimmung zur Tendenz findet sich z. B. bei Ignor/Sättele, FS Hamm, 2008, S. 224 f.; Kempff, FS Hamm, 2008, S. 262 ff. 73 So Perron, FS Tiedemann, 2007, S. 747. 74 Das gilt jedenfalls für alle Tatbestände, die anders als die sog. „offenen“ keine gesetzgeberisch vorgesehene Restriktionsmöglichkeit in der Rechtswidrigkeit kennen.

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des objektiven Tatbestands beziehen müssen und das heißt nicht auf weniger, aber das heißt auch, nicht auf mehr. Und zum Dritten ist diese Kongruenz für niemanden und die Kongruenz zwischen objektivem Tatbestand und dem subjektiven (über den Vorsatz gegebenenfalls hinausgehenden) Tatbestand nur durch den Gesetzgeber, nicht aber durch den Richter auflösbar. Der Gesetzgeber könnte eine überschießende Innentendenz oder eine Bereicherungsabsicht in die Untreue einfügen, der Rechtsanwender kann es – auch wenn es den Täter begünstigt – nicht. Denn die das Unrecht konstituierenden Strukturen eines Delikts zu bestimmen, ist allein dem Gesetzgeber vorbehalten. Die in der Einleitung hier schon berichtete „Vorwegverteidigung“ des Senats ist nicht geeignet, diese Einwände zu entkräften. So ist zum einen die Inkongruenz zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand des Betruges75 keine Legitimationsgrundlage dafür, durch einen überschießenden Vorsatzanteil eine gewisse Parallelität in den subjektiven Tatbeständen beider Delikte herzustellen. Das wäre – wenn er es wollte – Sache des Gesetzgebers. Es liegt wenig nahe, weil die Bereicherungsabsicht Betrug und Erpressung im Bereich der Vermögensdelikte als die Tatbestände kennzeichnet, denen Diebstahl und Raub mit ihrer Zueignungsabsicht unter den Eigentumsdelikten entsprechen. Die Untreue ist dagegen die Sachbeschädigung unter den Vermögensdelikten. Im übrigen stellt die Bereicherungsabsicht im Betrug auch in Fällen (nur) schadensgleicher Vermögensgefährdung keine notwendige Beziehung zur sich im „Endschaden“ realisierenden Gefährdung her, wie sie der Senat für solche Fälle bei der Untreue nun sehen möchte; denn „stoffgleich“ ist z. B. bei der betrügerisch oder erpresserisch nebst PIN erlangten EC-Karte und der dadurch bewirkten schadensgleichen Vermögensgefährdung der zunächst angestrebte Besitz beider und folglich muss sich bei dieser „Vollendungskonstruktion“ die Bereicherungsabsicht auch nicht notwendig schon auf das mit beidem abzuhebende Geld – die Realisierung der Gefährdung – erstrecken.76 Zum anderen kann auch die Berufung auf die (vermeintlich) materielle Versuchsstruktur einer vollendeten Untreue bei nur konkreter Vermögensgefährdung (als Schaden!) nicht rechtfertigen, dem gewissermaßen dann objektiv unvollständigen Untreuetatbestand wie sonst beim Versuch einen auf eine weitergehende Vollendung ausgerichteten „vollständigen“ Tatentschluss gegenüberzustellen. Das bedeutet entweder, dass man mit der Vollendungsstrafe belegt, was „eigentlich“ – nämlich in beiden Teilen des Tatbestandes – Versuch und als solcher nach der wiederholten gesetzgeberischen Entscheidung ausdrücklich straflos ist. Oder es bedeutet, dass man einen Zustand für die objektive Tat___________ 75

BGHSt 51, 100, 123 (Rn 66). Ob der beschriebene Vorgang ein vollendeter Betrug oder eine vollendete Erpressung ist, ist strittig; bejahend BGH NStZ-RR 2004, 333; abl. z. B. Wessels/Hillenkamp (Fn. 61), Rn. 713 mit Fn. 37. 76

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vollendung ausreichen lässt, denselben aber als Bezugspunkt des Vollendungsvorsatzes nicht und damit die Lösung im objektiven Tatbestand selbst desavouiert. Wenn schadensgleiche Vermögensgefährdung unter strengen Voraussetzungen ein bereits eingetretener Vermögensschaden ist, gebietet es die insoweit unaufkündbare Kongruenz, es für den Vollendungsvorsatz bei diesem Bezugspunkt zu lassen. Geht es um einen dolus eventualis, muss der Täter folglich den Eintritt einer schadensgleichen Vermögensgefährdung für ernstlich möglich halten und sie billigend in Kauf nehmen oder sich doch wenigstens mit ihr abfinden. Eine „Billigung der Realisierung dieser Gefahr“77 erfordert der Eventualvorsatz dagegen ebenso wenig, wie die „Hoffnung, dass die ganze Angelegenheit später einmal auch noch gut ausgehen wird“, ihn ausschließt.78 Nur diese Aussage wahrt die nötige Kongruenz. Wer sie trifft, ist nach der hier vorgenommenen Untersuchung der „Besondere-Anforderungen-Formel“ nicht gehindert zu mahnen, die Voraussetzungen der voluntativen Seite des Vorsatzes in bestimmten Fällen besonders sorgfältig zu beachten und ihren Beweis nicht vorschnell anzunehmen; denn diese Mahnung gefährdet das Kongruenzerfordernis nicht.79

___________ 77

BGHSt 51, 100, 121. Siehe BGH NJW 1979, 1512; BGH wistra 1985, 190; 1993, 265. 79 Wenn – wie das LG im Fall Kanther u. a. festgestellt hat, die Täter „die – als möglich erkannte – endgültige Realisierung der Gefahr vermeiden wollen und gerade nicht billigen“, so schließt das entgegen BGHSt 51, 100, 120 ff. den dolus eventualis nicht aus; freilich kann man eine solche Einstellung u. U. als ein Indiz dafür werten, dass die Täter sich schon mit einer schadensgleichen Vermögensgefährdung nicht abfinden wollten. 78

Die notwendige Bedingung als ereignisbezogener Kausalfaktor Von Christian Jäger Der Gelehrte, dem diese Festschrift gewidmet ist, hat sich in seinem wissenschaftlichen Werk stets mit Grundsatzfragen des Rechts auseinandergesetzt. Beispielhaft hierfür ist Maiwalds Schrift „Kausalität und Strafrecht“ aus dem Jahre 1980, in der er den Versuch unternommen hat, die Bedeutung der mit der Kausalproblematik zusammenhängenden Begriffe zu erhellen und deren Prinzipien aus naturwissenschaftlich-geschichtlichen Grundlagen und geistigen Wurzeln zu erfassen.1 So mag dem Jubilar drei Jahrzehnte später ein Beitrag gewidmet werden, der die Kausalfrage neuerlich aufgreift und die Berechtigung gängiger Lösungen auf den Prüfstand stellt. Die vorliegende Abhandlung knüpft dabei an zivilrechtliche Strömungen an,2 die im Strafrecht – soweit ersichtlich – noch nicht näher diskutiert werden.

I. Die herrschende Äquivalenztheorie 1. Die Forderung eines hypothetischen Vergleichs Nach der herrschenden Bedingungs- oder Äquivalenztheorie ist ein Erfolg bekanntlich dann durch eine Handlung verursacht, wenn die Handlung nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg (in seiner konkreten Gestalt) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele. Die Äquivalenztheorie gelangt also zur Feststellung eines Ursachenzusammenhangs mit Hilfe eines hypothetischen Eliminationsverfahrens, bei dem das wirkliche Geschehen mit einem gedachten hypothetischen Kausalverlauf verglichen wird.3

___________ 1

Vgl. Maiwald, Kausalität und Strafrecht, S. 13 ff. Insbesondere an die Arbeit von Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, 2003. 3 Zu kritischen Einwänden gegenüber der Äquivalenztheorie Maiwald, Kausalität und Strafrecht, S. 4 ff. 2

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2. Die Schwächen der Äquivalenztheorie a) Das Problem der „Ersatzursachen“ Die von der Äquivalenztheorie zugrunde gelegte conditio sine qua nonFormel stützt sich auf ein Verfahren, bei dem die Kausalität dem Grundsatz nach durch Vergleich zwischen historischem und hypothetischem Erfolg ermittelt wird. Sähe man diesen Erfolg in der bloßen Zustandsveränderung (z.B. Tod eines Menschen), so ließe sich die Kausalität einer Handlung niemals als „conditio sine qua non“ für diesen Erfolg beschreiben. Denn da der Tod eines Menschen stets eines Tages eintritt, könnte ein tödlicher Messerstich auch hinweggedacht werden, ohne dass dieser Erfolg entfiele. Dementsprechend ist es bei Verwendung der conditio sine qua non-Formel schon frühzeitig als Notwendigkeit betrachtet worden, dass bei der Kausalitätsprüfung eine „konkretisierende Erfolgsbetrachtung“ zu erfolgen hat.4 Als konkretisierende Umstände werden dabei vor allem Ort und Zeit des Erfolgseintritts genannt.5 Darüber hinausgehend sollen aber auch alle sonstigen Umstände, die die Zustandsveränderung kennzeichnen, als Konkretisierungskriterium in Betracht kommen, so z.B. Art und Stärke des Rechtsgutsangriffs, der mit der Zustandsveränderung in Verbindung gebracht wird.6 Auch bei einer konkretisierenden Erfolgsbetrachtung stößt die conditio sine qua non-Formel jedoch an ihre Grenzen, wenn die historische und die hypothetische Erfolgsverwirklichung sich so sehr ähneln, dass eine Konkretisierung nicht mehr möglich ist. Dies gilt etwa für folgendes Beispiel: Der Anführer einer Terrorzelle A hat eine Bombe gebaut, die er in einem Schließfach des Hauptbahnhofs Berlin zünden will. Die Bombe ist so konstruiert, dass sie millimetergenau in das Schließfach hineinpasst, um auf diese Weise eine größere Detonationswirkung zu erzielen. Den Schlüssel für das Schließfach hat sich A bereits am Morgen des Tattages besorgt, um zu vermeiden, dass er mit der Bombe in der Hand erst noch nach einem leeren Schließfach suchen muss. Gerade als A sich mit dem Schließfachschlüssel Nr. 20 und ___________ 4 Dazu bereits M. L. Müller, Die Bedeutung des Kausalzusammenhanges im Strafund Schadenersatzrecht, S. 14; im Anschluss an ihn auch Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, S. 13 f.; Roxin, AT I, § 11 Rn. 20. 5 I.d.S. etwa Erb, JuS 1994, 452, der darüber hinausgehende Erfolgskonkretisierungen im Übrigen ablehnt. Vgl. auch LPK-StGB/Kindhäuser, Vor § 13 Rn. 80; Maurach/ Zipf, AT I, § 18 Rn. 54. 6 Vgl. hierzu bereits Metzger, Strafrecht, 2. Aufl., § 15 II, S. 114 f.; Traeger, Der Kausalbegriff im Straf- und Zivilrecht, 1904, S. 44, 46 f.; Nachw. liefert Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 53.

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der Bombe, deren Zeitzünder er auf 18 Uhr gestellt hat, auf den Weg machen will, wird er von dem ebenfalls in der Terrorzelle tätigen B niedergeschlagen. B strebt selbst eine Karriere in der Organisation an und macht sich daher mit dem Schlüssel und der Bombe auf den Weg zum Hauptbahnhof. Dort verwendet er den Schlüssel und stellt die Höllenmaschine in das vorgesehene Schließfach Nr. 20. Bei der Detonation sterben zahlreiche Menschen. Im genannten Beispiel kann die Handlung des B (Einstellen der Bombe in das Schließfach) hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg (Tod der Opfer durch Detonation der Bombe zum konkreten Zeitpunkt, am konkreten Ort und in der konkreten Stärke) entfiele, da der Erfolg auch ohne die Handlung des B in identischer Weise durch A bewirkt worden wäre. Immerhin lässt sich die conditio sine qua non-Formel in einem solchen Fall auch mit einem Argument Spendels verteidigen, wonach hier nicht nur etwas hinweggedacht wird (nämlich das Legen der Bombe durch B), sondern in unzulässiger Weise gleichzeitig etwas hinzugedacht werde (nämlich das ersatzweise Legen der Bombe durch A).7 Zutreffend ist allerdings, dass die conditio sine qua non-Formel – auch in der durch Spendel vorgeschlagenen verfeinerten Fassung – versagt, wenn tatsächliche identische Ersatzursachen bereitstehen, wie dies in den Fällen „alternativer Kausalität“ auftreten kann.8 Beispiel: A und B schütten dem C unabhängig voneinander eine jeweils tödliche Dosis desselben Giftes in sein Weinglas. C verstirbt daraufhin. Weil A und B in diesem Fall ihre Handlung tatsächlich vorgenommen haben, hilft hier auch die verfeinerte Formel von Spendel nicht mehr weiter.9 Denn auch bei Hinwegdenken der jeweils einen Handlung würde der Erfolg durch die jeweils andere Handlung in der gleichen Weise eingetreten sein. Die Vertreter der Äquivalenztheorie geben daher in diesem Beispielsfall die conditio sine qua non-Formel preis und bilden eine Zusatzregel: Handlungen sollen danach auch dann kausal sein, wenn sie zwar alternativ, nicht aber kumulativ hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg entfiele.10 Man muss sich ___________ 7

So jedenfalls Spendel, Die Kausalitätsformel der Bedingungstheorie für die Handlungsdelikte, S. 38, für den eine Handlung nur als kausal gilt, „wenn ohne sie – unter alleiniger Berücksichtigung der dann übrigbleibenden, tatsächlich verwirklichten Umstände! – der konkrete Erfolg nicht eingetreten wäre“. 8 Zutreffend Roxin, AT I, § 11 Rn. 14. 9 Engisch, Vom Weltbild des Juristen, S. 131 m. Fn. 288; Arthur Kaufmann, FS Eb. Schmidt, 1961, S. 209. 10 Vgl. dazu Welzel, Strafrecht, § 9 IId S. 45; Baumann/Weber/Mitsch, AT, Rn. 41 sowie Träger, S. 47 f., der wohl als Begründer dieser Ansicht gelten darf.

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freilich darüber im Klaren sein, dass dies in Wirklichkeit eine Aufgabe der conditio sine qua non-Formel bedeutet.11 Tatsächlich muss man sich vor Augen führen, dass die conditio sine qua non-Formel in Wahrheit ursprünglich nicht auf einem reinen Erfolgsvergleich beruhte und deshalb auch Julius Glaser in Wirklichkeit nicht als Begründer dieser Formel gelten kann,12 obwohl er als solcher immer wieder bezeichnet wird.13 Denn auch bei Glaser heißt es bereits: „Zeigt sich dagegen, dass, diesen Menschen einmal vom Schauplatz des Ereignisses hinweggedacht, der Erfolg gar nicht eintreten konnte, oder er doch auf ganz anderem Wege14 hätte eintreten müssen, dann ist man gewiss vollkommen berechtigt, den Erfolg jenem Menschen anzurechnen, ihn als die Wirkung seiner Thätigkeit zu erklären. Er ist … der Urheber.“15 Hier wird bereits deutlich, dass Glaser, der den Begriff „conditio sine qua non“ selbst niemals verwendet hat, in Wahrheit eine Zurechnungsformel entwickelt hat, die einen Zusammenhang bereits voraussetzt. Gerade durch die Einbeziehung des konkreten Weges, auf dem der Erfolg verwirklicht wurde, ermittelt Glaser nämlich nur wertend den Urheber des Geschehens. Man kann ihn daher entgegen der gängigen Ansicht nicht als Begründer der Äquivalenztheorie bezeichnen.

b) Das Problem der Wertung durch Vergleich Eine weitere Schwäche der conditio sine qua non-Formel besteht darin, dass die Überprüfung der Kausalität nur durch einen Vergleich des tatsächlichen und des bei Fortfall des betreffenden Ereignisses hypothetisch eingetretenen Erfolges möglich ist. Damit handelt es sich bei der conditio sine qua non-Formel in Wahrheit um ein wertendes Vergleichsverfahren.16 Denn die conditio sine qua non-Formel fragt nicht nur – wie es der Begriff eigentlich vermuten ließe – nach der notwendigen Bedingung eines Ereignisses, sondern vergleicht den tatsächlichen und den bei Nichtvornahme der Handlung hypothetisch eingetretenen Erfolg.

___________ 11

In diesem Sinne Engisch, Weltbild, S. 131 m. Fn. 288; Jakobs, AT, 7/10; Jescheck/ Weigend, § 28 II Rn. 4, S. 282 f.; Arthur Kaufmann, FS Eb. Schmidt, 1961, S. 210 f.; NK-StGB/Puppe, Vor § 13 Rn. 88; Roxin, AT I, § 11 Rn. 12 f. 12 Zutreffend sieht dies Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 56. 13 Vgl. etwa Roxin, AT I, § 11 Rn. 7. 14 Hervorhebung des Verfassers. 15 Vgl. Glaser,, Abhandlungen aus dem österreichischen Strafrecht, Bd. 1, S. 298 f. 16 Vgl. dazu hier und im Folgenden näher Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 7 f.

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Beispiel: Pflegerin P erstickt den Komapatienten K, um ihm längere Leiden zu ersparen. Zutreffend erkennt sie dabei, dass K ohnehin nur noch wenige Monate zu leben hat. Da für jeden Menschen der Tod unausweichlich ist und K auch ohne die Handlung der P gestorben wäre, kann nach der conditio sine qua non-Formel ein „Entfallen“ oder ein „Andersausfallen“ nur ermittelt werden, wenn als Vergleich die verbleibende Lebenszeit bzw. die sonst eingetretene Todesart als Vergleichsgrundlage herangezogen wird. Damit aber beinhaltet das Verfahren bereits einen Wertungsvorgang, der über die Feststellung der notwendigen Bedingung hinausgeht. Denn es wird – worauf Rothenfußer zu Recht hingewiesen hat – nicht mehr danach gefragt, ob eine Handlung Bedingung für einen Erfolg geworden ist, sondern zusätzlich danach, ob der Erfolg durch die Handlungen ein anderer geworden ist.17 Besonders deutlich zeigt sich dies beim Tod eines Menschen. Da dieser früher oder später ohnehin eintritt, kommt die conditio sine qua non-Formel hier nur dann zum richtigen Ergebnis, wenn sie das Wertungsmerkmal der „relevanten“ Lebensverkürzung in ihre Überlegungen mit einbezieht. Dies aber ist ein normatives Vorgehen und hat daher nichts mit einer rein faktischen oder empirischen Bestimmung eines Kausalzusammenhangs zu tun. Wird die conditio sine qua non-Formel daher als Vergleichsverfahren verwendet, so taugt sie zu einer wertfreien Kausalitätsbestimmung in Wahrheit nicht.18 Zutreffend wird in der Lit. auch darauf hingewiesen, dass das Verfahren der „Erfolgskonkretisierung“ zu einer beliebigen Erweiterung der Kausalität führen kann.19 Dass diese Gefahr tatsächlich besteht, zeigen Kausalitätsüberlegungen, die Roxin bei der Beihilfe durch Wachestehen anstellt. Auch wenn sich das Wachestehen später als unnötig erweist, soll nach Roxin die Tatsache, dass der Wachestehende nicht einzugreifen brauchte – unabhängig davon, ob psychische Beihilfe bejaht werden kann – nichts an der Kausalität der Hilfeleistung ändern, weil sie bei der erforderlichen Betrachtung ex ante bis zur Vollendung für den Täter chancensteigernd bzw. risikoverringernd wirke und ein Diebstahl durch zwei Personen etwas anderes sei als eine allein ausgeführte Tat, sodass diese „selbstverständlich durch jeden der beiden Beteiligten mit verursacht“ werde.20 Durch die Konkretisierung „Diebstahl durch zwei Personen“ und die ex ante ___________ 17

Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 7. Schon Bindokat, JZ 1986, 426 hat daher zu Recht das Eliminationsverfahren der conditio sine qua non-Formel in der bisher verwendeten Form als Beginn der normativen Betrachtung bezeichnet; vgl. dazu auch Maurach/Zipf, AT I, § 18 Rn. 44. 19 NK-StGB/Puppe, Vor § 13 Rn. 97. 20 Vgl. LK-StGB/Roxin, 11. Aufl., § 27 Rn. 8; ders., FS Miyazawa, 1995, S. 511. 18

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getroffene Feststellung, dass eine Chancensteigerung vorliegt, wird hier also eine Kausalitätserweiterung erreicht, die Puppe als Ausdruck eines zirkulären Verfahrens kritisiert.21 Denn hier wird tatsächlich die konkrete Art der Erfolgsbewirkung als Begründung dafür herangezogen, dass es anderenfalls nicht zu dieser konkreten Art der Erfolgsbewirkung (Diebstahl durch zwei) gekommen wäre. Im Übrigen wird auch bereits vor der Kausalitätsprüfung festgelegt, dass die Chancensteigerung ein relevanter Umstand ist, der die Kausalität mitbegründet. Eine empirische Kausalitätsfeststellung ist auf diese Weise jedoch nicht möglich, da immer nur im Nachhinein festgestellt werden kann, welche notwendigen Bedingungen ein bestimmtes Ereignis gehabt hat.22 Die Risikoerhöhung als wertender Gesichtspunkt kann dabei gerade nicht zur Begründung von Kausalität herangezogen werden, sondern muss im Rahmen der objektiven Zurechnung zur Kausalität hinzutreten, wie Roxin selbst an anderer Stelle zutreffend festgestellt hat.23 Ebenso wenig kommt hier aber die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung zu zutreffenden Ergebnissen. Denn das Wachestehen bewirkt selbstverständlich nicht in gesetzmäßiger Weise die Wegnahme eines Gegenstands als Diebstahlserfolg, da hierfür stets noch das Fassen eines Diebstahlsentschlusses als freier Willensakt hinzutreten muss.

II. Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung 1. Die Forderung einer naturgesetzlichen Verknüpfung Anders als die haftungsbeschränkenden Theorien, die die Weite der Äquivalenztheorie durch einschränkende Kriterien auszugleichen versuchen, geht es der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung,24 vor allem um eine Eliminierung des in der Äquivalenztheorie enthaltenen Vergleichsverfahrens, wie es die herkömmliche Verwendung der conditio sine qua non-Formel mit sich bringt. Nach der Formel von der gesetzmäßigen Bedingung ist eine Handlung für einen bestimmten Erfolg daher schon dann kausal, „wenn der Erfolg der Handlung zeitlich nachfolgt und mit ihr (natur-)gesetzlich verbunden ist“.25 Diese auf Engisch zurückgehende Formel entspricht heute der ganz herrschenden Li___________ 21

NK-StGB/Puppe, Vor § 13 Rn. 97. Richtig Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 65 f. 23 Vgl. Roxin, FS Miyazawa, 1995, S. 510. 24 Vgl. nur Jakobs, AT, 7/12; Kühl, AT, § 4 Rn. 22 ff.; Jescheck/Weigend, AT, § 28 II 4; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, Vor §§ 13 ff. Rn. 75; Roxin, AT I, § 11 Rn. 15 ff.; SK-StGB/Rudolphi, Vor § 1 Rn. 41. Krit. B. Heinrich, AT I, Rn. 226. 25 So die treffende Kurzformel bei SK-StGB/Rudolphi, Vor § 1 Rn. 41. 22

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teraturauffassung.26 Der Vorteil dieser Formel besteht darin, dass hier zumindest nicht auf ein normatives Vergleichsverfahren – wie dies die conditio sine qua non-Formel in ihrer herkömmlichen Verwendung erfordert – zurückgegriffen wird. Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung fragt daher nicht danach, „ob der Erfolg auch ohne die Handlung eingetreten wäre, sondern ob die konkrete Handlung im konkreten Erfolg tatsächlich wirksam geworden ist“.27

2. Die Schwächen der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung a) Das Wertungselement der Naturgesetzlichkeit Auch die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung enthält jedoch – entgegen ihrem eigentlichen Anspruch – ein Wertungselement, indem sie eine naturgesetzliche Verknüpfung zwischen Handlung und Erfolg voraussetzt und damit nicht alle Zusammenhänge, die die Wirklichkeit bereitstellt, als Kausalitätskriterium zulässt.28 Gerade wenn man die Existenz der menschlichen Willensfreiheit als Grundlage der strafrechtlichen Verschuldenshaftung bejaht,29 lässt sich die menschliche Willensentscheidung nicht auf einen naturgesetzlichen Zusammenhang zurückführen. In Wahrheit nimmt die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung daher all jene Bedingungen aus dem Kausalitätskriterium aus, die erst über einen Willensentschluss den Erfolg vermitteln.

___________ 26 Vgl. Bernsmann, ARSP 68 (1982), 536; Erb, JuS 1994, 450; MK-StGB/Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 313; Hilgendorf, FS Lenckner, 1998, S. 705 f.; Jakobs, AT, 7/12; LK-StGB/Jescheck, Vor § 13 Rn. 56; Köhler, AT, S. 140 f.; Koriath, Kausalität, Bedingungstheorie und psychische Kausalität, 1988, S. 115 f.; Schönke/Schröder/ Lenckner/Eisele, Vor §§ 13 ff. Rn. 75; Otto, AT, § 6 Rn. 31 ff.; Pothast, ARST Beiheft 22 (1985), 37; NK-StGB/Puppe, Vor § 13 Rn. 89, 96 ff.; Samson, Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht, S. 30 ff., 91; Roxin, AT I, § 11 Rn. 14; SK-StGB/Rudolphi, Vor § 1 Rn. 41; Volk, NStZ 1996, 108; Jescheck/Weigend, § 28 II 4, S. 283 jeweils m.w.N. Für eine doppelte Kausalitätsprüfung und damit für die Vermeidung einer Streitentscheidung zwischen conditio sine qua non-Formel und Formel von der gesetzmäßigen Bedingung treten dagegen Kühl, AT, § 4 Rn. 8 und Wessels/Beulke, Rn. 126a ein. 27 So Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, Vor §§ 13 ff. Rn. 75; ebenso Otto, AT, § 6 Rn. 22; ders., FS Lampe, 2003, S. 493. 28 Zutr. hier im Folgenden wiederum Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 8 f. 29 Burkhardt, FS Lenckner, 1998, S. 24; Haddenbrock, NStZ 1995, 581; Tiemeyer, ZStW 105 (1993), 519 ff.; Rath, Zeitschrift für Rechtsphilosophie, 164 ff.; a. A. unter Hinweis auf die moderne Hirnforschung Roth, FS Lampe, 2003, 43 ff.; vgl. auch Krümpelmann, GA 1993, 337 ff.

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b) Die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung als Ausdruck der Regressverbotslehre Erhebt man die „gesetzmäßige Bedingung“ zum entscheidenden Kausalitätskriterium, so lässt sich nach dem soeben Gesagten eine psychisch vermittelte Kausalität30 tatsächlich nicht mehr begründen. Dies müsste dann aber zu einem Regressverbot führen, wonach die Mitwirkung an einer fremden Vorsatztat, die stets auf einem dazwischentretenden freien Willensentschluss fußt, keine Kausalität begründet.31 Gerade das wird aber von der ganz überwiegenden Auffassung in Rspr. und Lit. abgelehnt.32 Im Ergebnis widerspräche dies auch der gesetzlichen Wertung: Die Strafbarkeit der Anstiftung zeigt, dass ein Ausschluss psychisch vermittelter Kausalität und die Annahme eines strikten Regressverbots der gesetzgeberischen Grundentscheidung zuwiderläuft.33 Tatsächlich entspricht es daher heute auch der weit überwiegenden Literaturansicht, dass die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung in Fällen psychisch vermittelter Kausalität versagt.34 Auf den Punkt gebracht hat dies Puppe, indem sie fordert, dass die „Zurechnung von Erfolgen kraft psychisch vermittelter Beeinflussung anderer Personen auf eine grundsätzlich andere Basis zu stellen ist, als die Zurechnung äußerer Erfolge kraft Beeinflussung von Naturvorgängen“ und ausgehend von diesem Befund vorschlägt, im Falle psychischer Beeinflussung „danach zu fragen, ob der Beeinflusste sich diesen Anreiz … zum Grunde seines Entschlusses genommen hat“.35 Damit ist allerdings auch die Untauglichkeit der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung offenge___________ 30

Der Begriff stammt von Frank, StGB, 1. Aufl., § 1 Anm. V 2. So vor allem Frank, StGB, 15. Aufl., § 1 Anm. III 2a. 32 Vgl. etwa BGHSt 7, 286, 271 f.; dazu auch Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, S. 138 f.; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben, StGB, § 15 Rn. 171; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 240 ff.; Jakobs, ZStW 89 (1977), 22 f.; ders., AT, 24/13 ff.; Murmann, Die Nebentäterschaft im Strafrecht, S. 273 ff., 276 ff.; Puppe, Jura 1998, 27; Roxin, FS Tröndle, 1989, S. 185 f.; ders., AT I, § 24 Rn. 26 ff.; SK-StGB/Rudolphi, Vor § 1 Rn. 72; Schumann, S. 69 ff., 107 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, AT 1, § 15 Rn 66; a.A. jedoch RGSt 58, 366, 368; 61, 318, 320 f.; 64, 316, 318 f.; Jescheck/Weigend, § 54 IV 2, S. 573 f. 33 Vgl. auch hierzu Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 10. 34 Vgl. dazu Bernsmann, ARSP 68 (1982), 543; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, Vor §§ 13 ff. Rn. 75; Kahrs, Das Vermeidbarkeitsprinzip und die condicio-sine-quanon-Formel im Strafrecht, 1968, S. 21 f.; Koriath, Kausalität, Bedingungstheorie und psychische Kausalität, 1988, S. 218/248; Otto, Strafrecht, § 6 Rn. 37 f.; SK-StGB/ Rudolphi, Vor § 1 Rn. 42d; NK-StGB/Puppe, Vor § 13 Rn. 111, 116 jeweils m.w.N.; a.A. allerdings Engisch, FS v. Weber, 1963, S. 162 f.; Samson, Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht, S. 186, die jedoch entweder eine Gesetzmäßigkeit des Willensentschließungsprozesses oder des menschlichen Verhaltens behaupten. 35 Vgl. dazu NK-StGB/Puppe, Vor § 13 Rn. 131. 31

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legt, weil zahlreiche Fälle außerhalb dieses Grundansatzes durch eine nicht kausale Zurechnungsbegründung gelöst werden müssen.

III. Die Lehre von der notwendigen Bedingung 1. Die Unterscheidung zwischen Ereignis und Erfolg Die Schwächen der conditio sine qua non-Formel und der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung haben in der neueren Lit. zu einem bislang noch wenig beachteten Konzept geführt, das sich als Lehre von der notwendigen Bedingung beschreiben lässt.36 Die conditio sine qua non-Formel kann als zutreffende Bezeichnung für die Feststellung einer notwendigen Bedingung nur dann herangezogen werden, wenn das Wertungselement des Vergleichs zwischen tatsächlichem und hypothetisch eingetretenem Erfolg bei dem Verfahren eliminiert wird. Dies ist der zutreffende Ansatz der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung. Darüber hinaus darf die Vermittlung der Zurechnung nicht allein auf gesetzmäßige Bedingungen beschränkt werden. Dies ist der zutreffende Ansatz der conditio sine qua non-Formel. Der Fehler der Äquivalenztheorie in Gestalt der conditio sine qua nonFormel besteht nun aber darin, dass sie nach Ursachen eines Erfolgs sucht und davon ausgeht, dass diese Ursachen durch Bedingungen für einen (konkreten) Erfolg gekennzeichnet werden. Übersehen wird dabei jedoch, dass Erfolge i.S.v. Zustandsveränderungen (z.B. Tod einer Person oder Beschädigung einer Sache) überhaupt nicht auf Bedingungen und damit auf Ursachen beruhen. Die Äquivalenztheorie lässt sich daher entgegen der ganz h.M. in der juristischen Lit. überhaupt nicht in Bezug auf Erfolge anwenden. Denn da der Erfolg nur eine Zustandsveränderung kennzeichnet, stellt er nur einen schmalen „Ausschnitt der Wirklichkeit“ dar, der durch jede beliebige Handlung herbeigeführt werden kann.37 So kann der Tod einer Person oder die Beschädigung einer Sache auf so vielfältige Art und Weise erfolgen, dass von einer Notwendigkeit einer Bedingung (d.h. einer conditio sine qua non) niemals die Rede sein kann. Dies ist auch der Grund, weshalb die h.M. im Rahmen der Äquivalenztheorie auf die Herbeiführung des konkreten Erfolgs abstellt und dabei etwa die konkrete Art der Zustandsveränderung (konkrete Todesart, konkrete Sachbeschädigungsart), den konkreten Zeitpunkt der Zustandsveränderung und auch den ___________ 36

Am deutlichsten bei Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 13 ff.; das Kriterium der notwendigen Bedingung bringt aber auch bereits NK-StGB/Puppe, Vor § 13 Rn. 90 ff. – allerdings auf den Erfolg und nicht auf das Ereignis bezogen, s. dazu sogleich! 37 Hier und im Folgenden Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 16 ff.

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konkreten Ort der Zustandsveränderung in die Betrachtung mit einbezieht. Auch das ist aber kein zulässiges Vorgehen, weil eine Erfolgskonkretisierung nicht schon vor Durchführung der Kausalprüfung erfolgen kann. Stellt man etwa nicht mehr nur auf den Erfolg (Tod eines Menschen), sondern auf den Erfolg in seiner konkreten Art (z.B. Tod durch Erschießen) ab, so erübrigt sich eine Kausalprüfung, weil durch die Konkretisierung bereits endgültig festgestellt wird, dass der Tod durch Erschießen eingetreten ist.38 Ersichtlich ist die Aussage, der Tod durch den konkreten Schuss wäre ohne den konkreten Schuss nicht erfolgt, zirkulär und taugt daher zu einer Kausalitätsfeststellung in keiner Weise. Kausalität i.S. der Äquivalenztheorie ist deshalb eine Kategorie, die sich zwar auf Ereignisse, nicht aber auch auf Erfolge anwenden lässt.39 In der Strafrechtswissenschaft ist dementsprechend bislang zu wenig beachtet worden, dass nur Ereignisse, nicht aber Erfolge über notwendige Bedingungen verfügen.40 Ereignis und Erfolg dürfen daher nicht gleichgesetzt werden. Vielmehr ist der Erfolg als Zustandsveränderung nur Teil eines Ereignisses und die Kausalprüfung besteht daher darin, einem bestimmten Erfolg vorangegangene Ereignisse zuzuordnen und auf diese Weise das abhängige Ereignis erst zu ermitteln. Es muss daher erst festgestellt werden, welche der vorangegangenen Ereignisse dem Geschehensverlauf angehören, der zu dem jeweiligen Erfolg geführt hat. Dieser gesamte historische Geschehensverlauf bildet dann zusammen mit dem Erfolg das abhängige Ereignis. Bei strikter Unterscheidung zwischen Erfolg und Ereignis entfällt auch das Problem der Ersatzursache im Rahmen der sog. alternativen Kausalität. Beispiel: A und B geben dem C jeweils unabhängig voneinander eine tödliche Dosis E 605. Beide Dosen führen zu einer tödlichen Hemmung der Rezeptoren der Atemmuskulatur. Hier sind die Handlungen sowohl des A als auch des B ein Bestandteil des Geschehensverlaufs, der zum Tod des C geführt hat und damit notwendige Bedingung für das Ereignis (nicht für den Erfolg) des Todes des C. Dabei ist es gleichgültig, ob C auch bei Hinwegdenken der Handlung des A bzw. des B in gleicher Weise gestorben wäre. Denn das historische Ereignis umfasst gerade die beiden Handlungen von A und B, weshalb dieses Ereignis tatsächlich entfallen müsste, wenn man eine der beiden Handlungen hinweg denkt. Denn bei___________ 38 Vgl. dazu Kühl, AT, § 4 Rn. 15; ebenso der Sache nach Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 68. 39 So zutr. Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 26. 40 Auch hierzu Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 26.

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de Handlungen sind als Bestandteil des Geschehensverlaufs, der hier zum Tod des C geführt hat, zugleich Bestandteil dieses Ereignisses. Durch Ermittlung der Bestandteile eines Geschehensverlaufs, der zu einem Erfolg geführt hat, werden daher zugleich die Bestandteile eines bestimmten Ereignisses und damit die notwendigen Bedingungen festgestellt. Dabei hat dieses Vorgehen der Ergründung des Geschehensverlaufs und die damit zusammen hängende Ermittlung der Bestandteile eines Ereignisses nichts mit der Bestimmung eines „konkreten Erfolgs“ i.S. der h.M. zu tun. Denn die Konkretisierung des Erfolgs kann vor Durchführung der Kausalprüfung nicht vorgenommen werden, weil dadurch bereits eine Wertung i.S.v. erfolgsrelevanten und erfolgsirrelevanten Umständen stattfindet, die der empirische Vorgang der Kausalprüfung gerade nicht zulässt.41 Beispiel: A wird in seinem Bett tot aufgefunden. Sein Körper ist durch Schläge schrecklich entstellt. Als möglicher Täter wird B ausfindig gemacht, der gesteht, dass er nachts im Dunkeln an das Bett des A herangetreten sei und auf diesen in Tötungsabsicht mit einem Beil eingeschlagen habe. Der Erfolg als Zustandsveränderung besteht hier im Tod des A. Eine Konkretisierung dieses Erfolges i.S. eines Todes durch Erschlagen ist vor Durchführung der Kausalprüfung ganz und gar unsinnig, weil anderenfalls bereits die Kausalität ohne weitere Kausalprüfung feststehen (nämlich Tod durch Erschlagen)42 und im Übrigen auch bereits eine Wertung im Vorfeld stattfinden würde, derzufolge allein die Schläge entscheidend für den Tod gewesen sein können. So aber kann eine Kausalprüfung nicht stattfinden. Vielmehr kommt es alleine auf die Zustandsveränderung (Tod des A) an, die den Bezugspunkt der Ermittlung des dazugehörigen Gesamtereignisses darstellt. Dass A mit gespaltenem Schädel aufgefunden wurde, begründet dabei nur einen möglichen Anhaltspunkt für die Feststellung von Kausalität bezüglich der Handlung des B. Jedoch kann die weitere Untersuchung auch ergeben, dass A schon zuvor an einer Überdosis Schlaftabletten, die er vor dem Einschlafen zu sich genommen hat, verstorben war. Die Schläge des B mit dem Beil sind dann nicht Bestandteil des Ereignisses des Todes sowie des damit verbundenen Erfolgs. An diesem Beispiel zeigt sich, dass eine vor der Kausalprüfung erfolgte Konkretisierung nicht nur zu falschen Ergebnissen führen kann, sondern per se unsinnig ist, da ein solches Vorgehen die Ermöglichung der Kausalprüfung ausschließt und nur dann zum richtigen Ergebnis führt, wenn man bereits vorher weiß, welche Ursachen konkret zum Erfolg geführt haben. ___________ 41

Vgl. dazu Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 71 f. Vgl. dazu schon Puppe, ZStW 92 (1980), 873; Bydlinski, Probleme der Schadensverursachung, S. 17; MK-StGB/Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 306; Kühl, AT, § 4 Rn. 15. 42

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Richtig ist es vielmehr allein, nicht auf den Erfolg des Todes, sondern auf das Ereignis des Todes abzustellen, das sich aus dem Erfolg und dem zu ihm führenden Geschehensverlauf zusammensetzt. Aufgabe der Kausalprüfung ist es daher, einem bestimmten Erfolg vorangegangene Ereignisse zuzuordnen und auf diese Weise das abhängige gesamte Ereignis erst zu ermitteln oder umgekehrt: Der historische Geschehensverlauf bildet zusammen mit dem Erfolg das abhängige Ereignis. Dies bedeutet freilich auch, dass das abhängige Ereignis bei Zugrundelegung der Definition der notwendigen Bedingung diejenigen Ereignisse, von welchen es abhängig ist und die demgemäß seine Ursachen darstellen, selbst enthalten muss.43 Denn nur dann besteht das abhängige Ereignis aus dem mit seinem Eintritt verbundenen Erfolg und zusätzlich aus den Ereignissen, die zu diesem Erfolg geführt haben. Bei alldem darf nicht übersehen werden, dass auch in der Physik das Kausalprinzip nie auf Erfolge, sondern immer nur auf Ereignisse bezogen worden ist. So hat bereits Max Planck erklärt: „Alles, was sich ereignet, hat eine oder mehrere Ursachen, welche zusammen das betreffende Ereignis als Wirkung notwendig nach sich ziehen und umgekehrt kann jedes Ereignis als die Ursache eines oder mehrerer mit Notwendigkeit darauf folgender Ereignisse angesehen werden.“44 Dabei kann die kausale Erklärung der Wirklichkeit, d.h. die Zurückführung eines Ereignisses auf vorangegangene Ereignisse auf unterschiedliche Art erfolgen.45

2. Die notwendige Bedingung als gesetzmäßige Erklärung im Bereich der Naturwissenschaften Im Bereich der Naturwissenschaften erfolgt die kausale Erklärung der Wirklichkeit in gesetzmäßiger Weise, d.h. durch Naturgesetze. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Geschehen im Bereich der Naturwissenschaften durch Gesetzmäßigkeiten streng determiniert wird. Seit Überwindung der klassischen Physik durch die Quantentheorie besteht nämlich Einigkeit darüber, dass auch die Naturgesetze noch Raum für Zufälle lassen.46 Rothenfußer hat daher auch zu Recht darauf hingewiesen, dass sich die Rechtswissenschaft mit dem fehlenden ___________ 43

Zum Ganzen Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 17. Vgl. M. Planck, Kausalgesetz und Willensfreiheit, S. 83; dazu auch Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 30. 45 Hier und im Folgenden Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 30 ff. 46 Vgl. zu dieser Erkenntnis die von Rothenfußer, Fn. 119 angeführten Belege: Heisenberg, Der Teil und das Ganze, S. 163 f., der Einsteins Behauptung: „Der liebe Gott würfelt nicht“ als „sicher falsch“ bezeichnet; ebenso Jordan, Der Naturwissenschaftler und die religiöse Frage. Abbruch der Mauer, 6. Aufl. 1972, S. 205, der diesbezüglich von einem „hundertprozentigen Missverständnis“ spricht. 44

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Determinismus im Bereich der Naturgesetze abfinden muss und die in der Lit. vielfach aufgestellte Behauptung unzutreffend sei, derzufolge der fehlende Determinismus im atomaren bzw. subatomaren Bereich eine Rolle spiele, nicht aber im Bereich der Rechtswissenschaft, die nur mit Vorgängen im Makrokosmos arbeite.47 Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass sich ein Täter zur Ausführung seiner Tat atomarer bzw. subatomarer Vorgänge bedient. Rothenfußer bringt hierfür folgendes überzeugendes Beispiel: Ein Täter bedient sich zur Zündung einer Bombe eines sog. quantentheoretischen Schalters, welcher bei Betätigung lediglich mit 50 % Wahrscheinlichkeit auf „ein“ schaltet und mit 50 % Wahrscheinlichkeit auf „aus“ bleibt. Ein solcher Schalter lässt sich etwa unter Verwendung einer Stern-GerlachApparatur, wie sie in Schul-Physik-Lehrbüchern der Oberstufe beschrieben ist, ohne Weiteres herstellen.48 Tatsächlich zeigt dieses Beispiel, dass Naturgesetzlichkeit und Determinismus nicht gleichgesetzt werden dürfen und dies nicht nur im atomaren bzw. subatomaren Bereich gilt, sondern auch im Makrokosmos, zumal sich der Makrokosmos des Mikrokosmos bedienen kann. Insgesamt ergibt sich daher, dass im Bereich der Naturwissenschaften Kausalität nicht mit Determination gleichgesetzt werden darf.49 Ein Determinismus ist aber für die Feststellung von Kausalität im naturgesetzlichen Sinne auch nicht erforderlich, weil die Kausalitätsprüfung nur in der Zuordnung von Ereignissen zu einem bestimmten Erfolg besteht, nicht aber in der zuverlässigen Vorhersage von aufeinander aufbauenden Ereignissen.

3. Die notwendige Bedingung als nicht gesetzmäßige Erklärung im Bereich der menschlichen Willensbildung Nicht einmal mehr gesetzmäßig, geschweige denn determiniert, kann die menschliche Willensbildung verstanden werden. Darin besteht auch der Hauptnachteil der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung, die die sog. psychisch vermittelte Kausalität nicht erklären kann.50 Diese Lehre wäre daher allenfalls ___________ 47

So etwa Maiwald, Kausalität und Strafrecht, S. 87; Kahrs, Das Vermeidbarkeitsprinzip und die condicio-sine-qua-non-Formel im Strafrecht, 1968, S. 452; Puppe, ZStW 95 (1983), 293; Roxin, AT I, § 11 Rn. 3. 48 Vgl. zu diesem Beispiel Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 35 m. Fn. 134. 49 Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 33. 50 Zutreffend NK-StGB/Puppe, Vor § 13 Rn. 11 f. und LK-StGB/Walter, Vor § 13 Rn. 74 jeweils m.w.N. Auch die Anhänger der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung erklären die Theorie im Bereich der psychisch vermittelten Kausalität selbst für un-

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als Kausalitätskriterium brauchbar, wenn man die menschliche Willensbildung als naturgesetzlich vorherbestimmt auffassen würde.51 Hiergegen spricht aber die Verschuldenshaftung, die als normative Entscheidung des Gesetzgebers gegen die Annahme einer naturgesetzlichen Festlegung des Willensbildungsprozesses spricht. Nach der Lehre von der notwendigen Bedingung ist ein solcher gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen den Ereignissen aber auch nicht erforderlich. Ausreichend ist vielmehr jede beliebige nachträgliche Feststellung eines Kausalzusammenhangs, der auch in einer nichtgesetzmäßigen Erklärung bestehen kann, sofern nur „der jeweilige Entschluss seinem Inhalt nach auf vorangegangene Ereignisse zurückgeführt und damit kausal erklärt werden“ kann.52 Dafür aber ist ausreichend, dass die Entscheidung darüber, welche von mehreren möglichen Handlungen der Täter vornimmt, von ihm selbst und als Reaktion auf ein bestimmtes vorangegangenes Ereignis getroffen worden ist. Man muss sich dabei bewusst machen, dass bei einer über eine notwendige Bedingung hinausgehenden Forderung eines gesetzmäßigen Zusammenhangs selbst Fälle der alternativen Kausalität unlösbar würden. Dies ist in der Lit. bislang – soweit ersichtlich – nur von Rothenfußer gesehen worden:53 Beispiel: A und B geben dem C unabhängig voneinander eine jeweils für sich gesehen tödliche Menge E 605 in sein Sektglas. Nachdem C den Sekt getrunken hat, kommt es im Körperinneren des C zu einer langanhaltenden Aktivierung der Muskatrin- und Nikotinrezeptoren, durch die bei ihm Erbrechen, Schweißausbrüche, Muskelzuckungen und schließlich eine tödliche Atemlähmung ausgelöst werden. Der Sachverständige stellt später fest, dass jede Dosis die tödliche Atemlähmung bei C bewirkt hat. Hier ist der Tod des C nur mit dem Trinken des vergifteten Sekts durch C naturgesetzlich verknüpft. Dagegen besteht mit der Handlung von A bzw. der Handlung von B überhaupt kein naturgesetzlicher Zusammenhang, weil sich das Trinken des vergifteten Sekts durch C nicht naturgesetzlich erklären lässt. ___________ brauchbar. Siehe dazu etwa Bernsmann, ARSP 68 (1982), 543; Koriath, Kausalität, Bedingungstheorie und psychische Kausalität, 1988, S. 218; Schönke/Schröder/Lenckner/ Eisele, StGB, Vor §§ 13 ff., Rn. 75; Otto, AT, § 6 Rn. 37; SK-StGB/Rudolphi, Vor § 1, Rn. 42b. Unklar Roxin, AT I, § 11 Rn. 30 m. Fn. 65, der zwar einen gesetzmäßigen Zusammenhang auch bei psychisch vermittelter Kausalität für möglich hält, dann aber einen empirischen Zusammenhang anstatt eines gesetzmäßigen ausreichen lassen will. 51 So etwa noch Engisch, FS v. Weber, 1963, S. 268 f. 52 So zu Recht Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 37 f. 53 Vgl. hier und im Folgenden Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 21.

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Es beruht vielmehr auf einem freien Willensentschluss des C und ist damit einer gesetzmäßigen Erklärung überhaupt entzogen. Schon an diesem Beispiel wird ersichtlich, dass sich bei den meisten Vorgängen ein gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen den aufeinander aufbauenden Ereignissen nicht fordern lässt. Ausreichend muss jeder beliebige Zusammenhang sein, sofern sich die Ereignisse nur aufeinander bezogen zuordnen lassen. Lösen lässt sich dann auch die Frage der Kausalität des Wache Stehenden.54 Nach der Lehre von der notwendigen Bedingung ist auf das Ereignis des Diebstahls abzustellen, das sich zusammensetzt aus dem Erfolg (Wegnahme) und dem zu ihm führenden historischen Geschehensverlauf. Mit Ermittlung dieses Geschehensverlaufs werden das abhängige Ereignis und zugleich die dafür notwendigen Bedingungen festgelegt. Kausalität ist belegt, wenn nicht nur ermittelt ist, welche Ereignisse dem Erfolgseintritt vorangegangen sind, sondern darüber hinaus auch noch, ob sie Bestandteil des Geschehensverlaufs sind, der zu dem betreffenden Erfolg geführt hat, d.h. wenn auch noch ermittelt ist, ob der Erfolg mit diesen vorangegangenen Ereignissen in irgendeiner Weise verknüpft ist.55 Wenn im Beispielsfall von Roxin der Wache Stehende nicht einzugreifen brauchte, so ist das Wachestehen auch nicht Bestandteil des Geschehensverlaufs, der zur Wegnahme führte. Anders ist es nur, wenn der Haupttäter sich durch den Beitrag des Wachestehens gedeckt gefühlt hat und gerade dadurch zur Diebstahlstat motiviert worden ist, denn dann stellt sich das Wachestehen als Bestandteil des Geschehensverlaufs dar. Im Ergebnis zeigt sich daher, dass Roxin nicht gefolgt werden kann, wenn er davon ausgeht, dass die Kausalität unabhängig von der Frage der psychischen Beihilfe im Falle des Wachestehens bejaht werden kann. Noch deutlicher wird die fehlende Kausalität des Wachestehens, wenn der Haupttäter von dieser Beihilfehandlung nichts weiß. Hier würde wohl niemand behaupten, dass das Wachestehen kausal für den Diebstahlserfolg geworden ist, wenn der Diebstahl völlig unabhängig vom Wachestehenden begangen wurde. Es liegt dann eben strukturell nur eine – straflose – versuchte Beihilfe vor. Darin zeigt sich aber bereits, dass Kausalität nur bejaht werden kann, wenn die Hilfeleistung den Geschehensverlauf, der zum Diebstahl führte, beeinflusst hat oder zumindest einen Anreiz für den Haupttäter gebildet hat (im letzteren Fall liegt allerdings nur psychische Beihilfe vor56). ___________ 54

Vgl. dazu oben I. 2. b). Ähnlich die Formulierung bei Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 19. 56 Zur psychischen Beihilfe siehe Otto, AT, § 22 Rn. 54 ff.; ders., FS Lenckner, 1998, S. 198 f. 55

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Erläutert sei der Unterschied zwischen der conditio sine qua non-Formel bzw. der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung einerseits sowie der Lehre von der notwendigen Bedingung andererseits anhand der Problematik von Gremienentscheidungen. Beispiel: Der Geschäftsführer A entscheidet zusammen mit den weiteren Geschäftsführern B, C, D und E ein von ihnen vertriebenes gefährliches Produkt nicht vom Markt zu nehmen, obwohl ihnen die Gefährlichkeit bekannt ist. Der Beschluss gegen die Rückrufaktion ergeht mit 5 zu 0 Stimmen (auch eine einfache Mehrheit von 3 zu 2 Stimmen hätte genügt). Wegen des unterlassenen Rückrufs werden zahlreiche Personen geschädigt.57 Nach der conditio sine qua non-Formel scheint sich A darauf berufen zu können, dass der Rückruf auch dann nicht erfolgt wäre, wenn er für einen solchen gestimmt hätte. Denn auch dann hätte sich noch immer eine Mehrheit von 4 zu 1 gegen den Rückruf ausgesprochen. So gesehen kann A’s Stimmverhalten hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg (Schädigung der Opfer) entfiele.58 Dies ist der Grund, weshalb man versucht die Kausalität in derartigen Fällen anders zu bestimmen, etwa indem man vom Vorliegen kumulativer bzw. alternativer Kausalität ausgeht oder den Weg über die hochumstrittene Rechtsfigur der fahrlässigen Mittäterschaft wählt.59 Aber ein Fall der kumulativen Kausalität liegt hier schon deshalb nicht vor, weil die einzelne Stimme des A gerade nicht erforderlich war, um den Erfolg zu bewirken.60 Ebenso ist ein Fall der alternativen Kausalität zu verneinen; denn danach liegt Kausalität vor, wenn die beiden Handlungen (Stimmen von B, C, D und E einerseits sowie Stimme des A andererseits) zwar alternativ, nicht aber kumulativ hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg entfiele. So liegt es hier aber ebenfalls nicht. Denn wenn man alle Stimmen hinweg denkt, wäre das Produkt wegen Untätigkeit aller Geschäftsführer ebenfalls auf dem Markt geblieben. Man könnte dann das Stimmverhalten als Kausalfaktor überhaupt nicht mehr in den Blick nehmen. Und die Annahme einer fahrlässigen Mittäterschaft ist nicht nur dogmatisch problematisch,61 sondern ist auch rechtstatsächlich fragwürdig, etwa wenn ___________ 57

Nach BGHSt 37, 106 ff. Gegen Kausalität der Einzelstimme zumindest im Falle der geheimen Abstimmung daher LK-StGB/Walter, Vor § 13 Rn. 83. 59 Dazu erst jüngst ablehnend Gropp, GA 2009, 265 ff. m.w.N. 60 Die Notwendigkeit eines Zusammenwirkens mehrerer Faktoren macht die kumulative Kausalität gerade aus! Wie hier zumindest im Ergebnis Puppe, JR 1992, 32; a.A. Marxen, AT, 31; Roxin, AT I, § 11 Rn. 19. 61 Gegen diese Rechtsfigur BGHSt 37, 130 f.; Baumann/Weber/Mitsch, § 29 Rn. 90; Schönke/Schröder/Cramer/Heine, StGB, Vor § 25 Rn. 116; Gropp, AT, § 10 Rn. 82a; Jäger, AT, Rn. 366 m. Fn. 92; Jakobs, AT, 21/11 f.; Jescheck/Weigend, AT, § 63 I 3a; 58

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geheim abgestimmt wird und der jeweilige Stimmberechtigte von der Entscheidung des jeweils anderen nichts weiß. Aber auch die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung versagt im vorliegenden Fall vollständig. Zwar fragt sie nicht danach, ob der Erfolg auch ohne die Stimme des A in gleicher Weise eingetreten wäre; jedoch verlangt sie, dass sich an die Stimmabgabe des A Veränderungen in der Außenwelt angeschlossen haben, die mit ihr gesetzmäßig verbunden sind. Auch wenn es danach nur auf die Stimmabgabe als solche ankommt und nicht auf ihre Ersetzbarkeit durch die anderen Stimmen, kann diese Ansicht hier nicht zur Annahme von Kausalität gelangen. Denn die freie (!) Kaufentscheidung der später geschädigten Kunden ist nicht gesetzmäßig mit der Stimmabgabe des A verbunden, so dass sich nach dieser Formel keine bruchlose Kette hin zum Erfolg bilden ließe. Die Lehre von der notwendigen Bedingung fragt dagegen überhaupt nicht nach dem Erfolg der Körperschädigungen, sondern ermittelt das Ereignis der Körperschädigung und die diesem Ereignis zugehörigen Bedingungen. Zu diesem Ereignis gehört zwar auch der Körperverletzungserfolg als Zustandsänderung, darüber hinaus aber auch sämtliche Bedingungen, die demjenigen Geschehensverlauf zuzuordnen sind, der zu dieser Zustandsveränderung geführt hat. Danach war der konkrete Beschluss mit 5 zu 0 Stimmen Auslöser für das Verbleiben des Produkts auf dem Markt. Damit aber war die Stimme des A als Bestandteil des 5 zu 0 – Beschlusses zugleich notwendiger Bestandteil des schädigenden Ereignisses. Eine bruchlose Kette im Geschehensverlauf lässt sich dabei nach der Lehre von der notwendigen Bedingung im weiteren Verlauf auch deshalb bejahen, weil das Verbleiben des Produkts auf dem Markt später auch motivationsbildend für den Kaufentschluss sowie der Kauf und das sich darauf gründende Vorhandensein des Produkts im Haushalt wiederum motivationsbildend für dessen Benutzung durch die später geschädigten Opfer war. Dass diese Kauf- und Benutzungsentscheidungen nicht naturgesetzmäßig mit dem Beschluss des Geschäftsführerkollegiums verbunden sind, ändert hieran nichts, da jede notwendige Bedingung genügt. Kurz: Das Ereignis der Schädigung wäre ein anderes, wenn der Beschluss mit 4 zu 1 Stimmen gefasst worden wäre, denn dann wäre das Opfer nicht auf der Grundlage eines 5 zu 0 Beschlusses geschädigt worden, weshalb das Gesamtereignis (nicht aber der Erfolg) ein anderes gewesen wäre. Entscheidend ist insoweit allein, dass A’s Stimme bei der Entscheidung berücksichtigt wurde und daher in den Beschluss als solchen ___________ Kindhäuser, Vor § 25 Rn. 45 f.; Maurach/Gössel/Zipf, § 47 Rn. 103; Puppe, FS Spinellis, 2001, S. 922, 927. Für deren Möglichkeit aber Fischer, § 25 Rn. 239 ff.; SK-StGB/ Hoyer, § 25 Rn. 150 ff.; MK-StGB/Joecks, § 25 Rn. 240; Roxin, AT II, § 25 Rn. 239 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, AT, 16/7; Wessels/Beulke, AT, Rn. 507, 659; Knauer, Die Kollegialentscheidung im Strafrecht, S. 181 ff.

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eingeflossen ist. Denn durch dieses Einfließen der Stimme wurde sie Bestandteil des Gesamtereignisses!

4. Die notwendige Bedingung als nicht gesetzmäßige Erklärung im Bereich der Unterlassung Die soeben geschilderte Annahme von Willensfreiheit hat fundamentale Folgen für die kausale Erklärung der Wirklichkeit auch bei der Begehungsform des Unterlassens. So heißt es zu Recht bereits bei Puppe62: „Eine Unterlassung ist ebenso wie ein Tun ein Sachverhalt, der wirklich sein kann … es ist also kein Grund dafür ersichtlich, dass eine Unterlassung nicht Ursache i.S. einer Bedingungstheorie der Kausalität sein könnte.“63 Allerdings kann auch ein Unterlassen wie jeder psychisch vermittelte Vorgang nur in nichtgesetzmäßiger Weise als kausal erklärt werden.64 In diesem Sinne hat auch bereits v. Liszt festgestellt, dass die Kausalität von Unterlassungen notwendige Folge der Äquivalenztheorie ist: „Das Nicht-Verhindert-Werden ist ausnahmslos Bedingung für den Eintritt des Erfolges. Nicht nur die Mutter des neugeborenen Kindes (sc.: die ihm keine Nahrung gibt) wäre dann Ursache des eingetretenen Todes, sondern jeder beliebige Dritte, mochte er auch meilenweit vom Orte, wo das Kind sich befand, entfernt gewesen sein.“65 Tatsächlich trifft diese Behauptung v. Liszts zu. Dies zeigt folgendes Beispiel: Im Freibad stößt A den Nichtschwimmer B ins Wasserbecken. Trotz der Hilferufe kommt dem B keiner der umstehenden Badegäste zu Hilfe, sodass B ertrinkt. Der Bademeister befand sich gerade beim Mittagessen. Hier ist es vollkommen ausgeschlossen, den Tod lediglich als gesetzmäßige Folge des Stoßes ins Wasser zu begreifen. Vielmehr gilt: „Die Verknüpfung des Erfolgs mit dieser Handlung wird … erst durch mehrere frei getroffene, und daher in naturgesetzlicher Weise nicht zu erklärende Willensentscheidungen hergestellt“.66 Bei unterstellter Willensfreiheit beruht der Ertrinkungstod des B im Beispielsfall auch darauf, dass die umstehenden Badegäste keinen Entschluss zur Rettung gefasst haben, der dann umgesetzt worden wäre. Im Übri___________ 62

Vgl. Puppe, ZStW 92 (1980), 899. NK-StGB/Puppe, Vor § 13 Rn. 119. 64 Vgl. dazu zu Recht Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 46 ff.; a.A. MK-StGB/ Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 308, allerdings ohne Begründung. 65 v. Liszt, Lb., 3. Aufl. 1988, § 29 IV, S. 126 f.; dies sieht auch die zivilrechtliche Lit., vgl. dazu Staudinger/Schiemann, § 249 Rn. 9. Ihnen folgend Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 49. 66 Rothenfußer, Kausalität und Nachteil, S. 48 zu einem ähnlichen Beispiel. 63

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gen ist aber auch der Bademeister als kausal anzusehen, wobei dies nicht nur darauf beruht, dass er in freiem Willensentschluss seinen Beobachtungsposten verlassen und zum Mittagessen gegangen war, sondern auch darauf, dass er keinen Kollegen zur vorübergehenden Beaufsichtigung des Beckenbereichs eingeschaltet hat bzw. darauf, dass er selbst nicht rechtzeitig zurückgekehrt ist und eigenhändig für eine Rettung gesorgt hat. All diese Unterlassungen sind also Teil der kausalen Erklärung der Wirklichkeit! Insofern ist es auch nicht zutreffend, wenn die h.M. Unterlassungen nur als quasi-kausal bezeichnet. Denn zahlreiche Unterlassungen sind als Teil des Geschehensverlaufs Bestandteil des abhängigen Ereignisses und damit kausale Erklärungen i.S. der notwendigen Bedingung. Das Problem entschärft sich allerdings dadurch, dass die Kausalität von Unterlassungen für das Recht nur dort eine Rolle spielt, wo die Möglichkeit zur Vornahme der gebotenen Handlung überhaupt bestand.67 Es kann also nicht „nur darum gehen, ob der Unterlassende eine ‚negative Bedingung‘ für den Erfolg ist, sondern es muß gefragt werden, ob der Erfolg sein Werk ist. ‚Sein Werk‘ ist der Erfolg aber dann nicht, wenn er unbeteiligter Beobachter eines Vorganges ist, … der ihn ‚nichts angeht‘.“68 Im Beispielsfall dürfte eine solche Möglichkeit zu einem Eingreifen für den Bademeister etwa überhaupt nicht gegeben gewesen sein. Allerdings hat für ihn im Vorfeld bereits die Möglichkeit bestanden, einen Kollegen oder eine sonstige Aufsichtsperson für die Zeit seiner Abwesenheit einzuschalten, so dass sich hieran der Unterlassungsvorwurf knüpft. Im Übrigen ist zusätzlich noch eine Garantenstellung erforderlich, ohne die eine Unterlassungshaftung und eine darauf aufbauende Kausalitätsprüfung nicht möglich sind. Für die umstehenden Badegäste fehlte es an einer derartigen Garantenstellung, so dass für sie nur eine Strafbarkeit nach § 323c StGB in Frage kommt, für die es auf eine Kausalprüfung ohnehin nicht ankommt.69 An dieser Stelle ist auf einen Aspekt hinzuweisen, der die Kausalitätsprüfung überhaupt betrifft: Obwohl zahlreiche vorangegangene Ereignisse mit dem Erfolg als Zustandsveränderung verknüpft sind, wird man bei der Ermittlung der Kausalität nur so weit zurückgreifen, als eine rechtliche Verantwortung sinnvoll in Betracht kommt. Obwohl also Kausalität weit in die Vergangenheit zurückreichen kann, wird man bei der Ermittlung dieser Kausalität nur solche ___________ 67

Vgl. hierzu auch schon NK-StGB/Puppe, Vor § 13 Rn. 117. Zutreffend Maiwald, Kausalität und Strafrecht, S. 82, der allerdings deshalb bereits die Kausalität und nicht erst die objektive Zurechnung bzw. Garantenstellung (auch diese ist eine Form der täterschaftlichen Zurechnung) verneint. 69 Fußgänger, die sich außerhalb der Badeanstalt aufgehalten haben, könnten insofern zwar auch als kausal bezeichnet werden, als sie die Badeanstalt nicht vor dem Ereignis betreten haben und daher auch nicht zur Rettung beitragen konnten. Jedoch fehlt es hier für einen Anknüpfungspunkt der Strafbarkeit an einer Pflicht zum Betreten des Schwimmbades, sodass es an jedem strafrechtlichen Bezug mangelt. 68

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Ereignisse im Vorfeld des historischen Erfolgseintritts in die Überlegungen einbeziehen, die sinnvoll rechtlich zugerechnet werden können. Dies ändert aber freilich nichts daran, dass auch andere Ereignisse als kausal zu bezeichnen sind: Beispiel: Die Rettung eines ertrinkenden Kindes im Freibad ist selbstverständlich notwendige Bedingung für das Ereignis des vielleicht 70 Jahre später eintre70 tenden Todes (nicht für den Erfolg des Todes als solchen, denn dieser wäre sonst auch früher bereits im Freibad eingetreten). Da das Recht jedoch nur die Lebensverkürzung unter Strafe stellt, wird man bei der Kausalitätsprüfung auf derartige Ereignisse nicht zurückgreifen. Falsch wäre es nur, daraus den Schluss herzuleiten, dass die erfolgreiche Rettung nicht kausal für das spätere Ereignis des Todes des Betroffenen wäre!

IV. Fazit Mein Beitrag, der dem Jubilar mit herzlichen Glückwünschen gewidmet ist, sollte zeigen, dass sich die Strafrechtswissenschaft weiter intensiv um das Thema der Kausalität bemühen muss. So ist die Lehre von der notwendigen Bedingung bislang noch viel zu wenig ins strafrechtswissenschaftliche Bewusstsein gedrungen. Dies mag damit zusammenhängen, dass den Grundstein für diese Lehre Rothenfußer gelegt hat, dessen Arbeit wohl eher dem Zivilrecht zugeordnet wird.71 Kausalität ist aber – abgesehen vom Deliktsrecht – kein spezifisch zivilrechtliches Phänomen, sondern spielt im Strafrecht gerade wegen des dort geltenden Verantwortungsprinzips eine wesentlich bedeutsamere Rolle. Es ist daher das Strafrecht, das mit seinen Fallgestaltungen die Impulse zur Fortentwicklung geben muss – ganz so, wie es der Jubilar bereits mit dem Titel seines Buchs aus dem Jahre 198072 vorgegeben hat. ___________ 70 Deshalb ist auch Roxin, AT I, § 11 Rn. 21 zuzustimmen, der den Arzt für todesursächlich hält, wenn er den Tod des Patienten hinausschiebt; a.A. aber LK-StGB/Walter, Vor § 13 Rn. 79, der hier keinen echten Kausalfaktor, sondern nur einen bedeutungslosen Begleitumstand annehmen will (die Unterscheidung zwischen relevanten Umständen und „bloßen Begleitumständen“ stammt von Jakobs, AT, 7/15 f.). Damit trägt Walter aber letztlich Zurechnungsgesichtspunkte in die Kausalprüfung hinein, weil der Unterschied zwischen Begleitumstand und echtem Kausalfaktor nur normativ festgestellt werden kann. Gleiches gilt auch für Puppe, GA 1994, 300 ff., derzufolge nur ursächlich sei, wer die Dinge zum Nachteil des Rechtsgutes ändere. 71 Bezeichnenderweise handelt es sich bei der Arbeit von Rothenfußer (vgl. oben Fn. 2) um eine von Canaris betreute Dissertation. 72 Maiwald, Kausalität und Strafrecht, 1980.

Beleidigung Von Günther Jakobs

I. Einige Positionen Maiwald entscheidet sich bei der Behandlung des Ehrbegriffs1 für den sogenannten normativen Ehrbegriff,2 den er wie folgt entfaltet: „Der normative Ehrbegriff sieht als Ehre den der Person berechtigterweise zukommenden Wert an; diese Ehrauffassung geht teilweise davon aus, daß der Wert durch die Personenwürde konstituiert werde ..., teilweise wird die soziale Verflochtenheit hervorgehoben.“3 Maiwald verbindet beides: „Beleidigung ist der Angriff auf den Anspruch auf Achtung der (verdienten) sozialen Geltung, die in der Personenwürde freilich ihre Basis hat.“4 – Was soll die Klammer um das Wort „verdienten“? Auch Eigenschaften, die mit einem Verdienst nichts zu tun haben, aber zur „körperlich-geistige(n) Mindestausstattung“ gehören, sollen ehrrelevant sein, wobei Maiwald freilich die Beleidigung auf die Leugnung der geistigen Ausstattung beschränken will; „z. B. sexuelle oder ästhetische Mängel“ sollen die „Personqualität“ nicht berühren.5 – Bei besonderen Verdiensten erhöhe sich der Achtungsanspruch, und infolge dessen beleidige die Leugnung dieser Verdienste.6 Obgleich der normative Ehrbegriff heute die auf Faktisches abstellenden Ehrbegriffe stark zurückgedrängt, ja nahezu verdrängt hat,7 stehen Einzelheiten ___________ 1

Maiwald konstatiert, dass der Begriff „Ehre“ im 14. Abschnitt des BT des StGB nicht verwendet wird, Maurach/Maiwald (Maurach, Strafrecht Besonderer Teil, Teilband I, fortgeführt von Schroeder/Maiwald, 9. Auflage, 2003), § 24 Rn. 2; eingehend zu diesem Befund Hirsch, Ehre und Beleidigung, Grundfragen des strafrechtlichen Ehrenschutzes, 1967, S. 13 Fn. 55 und zu den außer der Ehre angenommenen Angriffs- und Schutzobjekten S. 13 f., 33 ff. mit Nachweisen. – Siehe auch unten IV. 2 Maurach/Maiwald (Fn. 1), § 24 Rn. 3. 3 Maurach/Maiwald (Fn. 1), § 24 Rn. 2. 4 Maurach/Maiwald (Fn. 1), § 24 Rn. 5. 5 Maurach/Maiwald (Fn. 1), § 24 Rn. 6. 6 Maurach/Maiwald (Fn. 1), § 24 Rn. 7; zu den Gegenstimmen unten Fn. 60. 7 Zur Begrifflichkeit, die bei genauerer Sicht weniger gegensätzlich ist, als es zunächst der Fall zu sein scheint, siehe Engisch, Bemerkungen über Normativität und Faktizität im Ehrbegriff, FS Richard Lange, 1976, S. 401 ff.; LK-StGB/Hilgendorf, 11. Auflage, Bd. 5, 2005, Vor § 185 Rn. 4 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, 27. Auflage,

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seines Inhalts noch in Streit. Hirsch, durch dessen Darstellung und Analyse der Begriffe die neuere Entwicklung maßgeblich vorangetrieben wurde,8 argumentiert wie folgt: Ehre sei der „Wert, den der Mensch ... aufweist: der Geltungswert-Status.“9 Aus diesem Wert fließe10 ein Achtungsanspruch.11 Bei einer Beleidigung werde nicht nur der Achtungsanspruch verletzt, sondern auch die Ehre selbst, die zwar auf ihrer „Basisebene“ von anderen Personen nicht verletzt werden könne, wohl aber auf ihrer „Wirkungsebene“, als „Status“.12 Grundlage des Wertes sei allein die „Personalität“ und die „darauf beruhende Personwürde“,13 nicht die soziale Stellung,14 so dass sich die Ehre zwar vermindern lasse (etwa durch verschuldete Geltungsmängel des Ehrträgers), aber nicht steigern (durch dessen Verdienste).15 Ehrmängel sollen aus schuldhaftem sittlichen Fehlverhalten resultieren,16 ferner aus „elementare(n) menschliche(n) Unzulänglichkeiten“, da auch durch diese „die volle Persongeltung eines Menschen ... beeinträchtigt“ werde („objektive[r] Personmangel“).17 Bei allen wohl deutlich gewordenen Differenzen (Maiwald kennt eine soziale Geltung und hält die Ehre für steigerbar; Hirsch schließt beides aus) haben die skizzierten Ansätze eines gemeinsam: Sie halten es für nicht begründungsbedürftig sondern eher für selbstverständlich, dass der Einzelne einen Schutz seiner Ehre benötigt. Gewiss wird bei beiden Autoren die Annahme deutlich, man sei auf Ehre und deren Schutz angewiesen, um in der Gesellschaft mitund durchzukommen; aber das wird nicht weiter vertieft. – Insoweit genauere Untersuchungen unternimmt Wolff, und zwar mit erheblichen Auswirkungen auf den Ehrbegriff:18 Die Subjektivität, die die Selbstständigkeit des Menschen ___________ 2006), Vor § 185 Rn. 1; MK-StGB/Regge, Bd. 3, 2003, §§ 185–262, Vor §§ 185 ff. Rn. 17 ff. – Zu Amelung siehe unten I. a. E. (Text ab Fn. 25). 8 Hirsch (Fn. 1), S. 14 ff., 29 ff.; ders., Grundfragen von Ehre und Beleidigung, FS Ernst Amadeus Wolff, 1998, S. 125 ff. 9 Hirsch (Fn. 1), S. 30. 10 Die Metapher vom Herausfließen der Ehre, eine – abermals metaphorisch gesprochen – stark verwässernde Metapher, übernimmt Hirsch von BGH 11, 68 ff., 70 f., wonach der Achtungsanspruch aus der inneren Ehre fließen soll (ebenso BGH 36, 145 ff., 148); der Gebrauch der Metapher ist sehr verbreitet; sie wird dadurch freilich nicht genauer. – Dazu auch Spinellis, Das Rechtsgut der Ehre, FS Hans Joachim Hirsch, 1999, S. 739 ff., 742. 11 Wie Fn. 9. 12 Hirsch (Fn. 8), Grundfragen, S. 134 f. 13 Hirsch (Fn. 1), S. 53 und passim. 14 Hirsch (Fn. 1), S. 45 ff. 15 Hirsch (Fn. 1), S. 55 und passim. 16 Hirsch (Fn. 1), S. 72 ff. 17 Hirsch (Fn. 1), S. 82 ff., 85. 18 Wolff, Ehre und Beleidigung. Zugleich eine Besprechung des gleichnamigen Buches von H. J. Hirsch, ZStW 81 (1969), 886 ff., 893 ff. – Wolff folgend insbesondere

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ausmache,19 entstehe durch ein „Sich-Konstituieren ... in einem Verhältnis mehrerer Bezogenheiten“20 und könne von einer Einzelheit, isoliert, nicht geleistet werden, vielmehr nur in einem Akt wechselseitiger Anerkennung.21 Ehre sei bei diesem Verständnis „das die Selbständigkeit ermöglichende Anerkennungsverhältnis“,22 freilich für das Recht „in einer besonderen Form“: Anerkennung werde bereits durch Rechtsinstitute (Rechtssubjektivität, Vertragsautonomie u. a. m.) ermöglicht und müsse demgemäß nicht von der gegenüberstehenden Person geleistet werden, der es aber verboten sei, die Anerkennung durch Missachtung zu verletzen.23 Am normativen Ehrbegriff kritisiert Wolff, er behandele „den einzelnen als festen Block ..., angetan mit äußerem und innerem Eigentum“, und zwar auch dort, wo es gelte, die Verhältnisse herzustellen, die ein „Dasein der Freiheit“ ermöglichen.24 Wolff wirft die Frage nach der Funktion der Ehre in einem philosophischen (anerkennungstheoretischen) Sinn auf; Amelung stellt auf die Funktion im soziologischen (kommunikationstheoretischen) Sinn ab:25 Ehre als Kommunikationsvoraussetzung. „Unehre ist ... eine Eigenschaft, die normative Erwartungen enttäuscht und dadurch Kommunikation unterbricht, nicht zustande kommen läßt oder zumindest zum Nachteil des Betroffenen verändert.“26 Wie entsteht Unehre? Amelung nennt als spezielles Defizit Schwächen im Bereich „berufli___________ NK-StGB/Zaczyk, Bd. 2, 2. Auflage, 2005, Vor § 185 Rn. 1 f. – Zwischen Wolff und den Vertretern eines normativen Ehrbegriffs steht Otto, Grundkurs Strafrecht. Die einzelnen Delikte, 7. Auflage, 2005, § 31 Rn. 5 f.: Es werde die Möglichkeit geschützt, „mit anderen Personen Gemeinschaft zu haben“ (Rn. 5), und zwar als Schutz des auf der Würde der Person beruhenden Wertbestandes sowie des sich aus einer sozialethischen Bewertung ergebenden Status (Rn. 6). 19 Wolff (Fn. 18), S. 895. 20 Wolff (Fn. 18), S. 896. 21 Wolff (Fn. 18), S. 898 f. 22 Wolff (Fn. 18), S. 899. 23 Wolff (Fn. 18), S. 901. – Die Anerkennung wird freilich bei jedem Bruch einer Norm verletzt, die dem Schutz einer Person gilt, etwa auch bei Totschlag, Nötigung, Diebstahl etc. „Missachtung“ reicht also viel weiter als „Beleidigung“. Bei dieser Lage müsste das Verbot speziell der isolierten (nicht in einem sonstigen Delikt gegen die Person enthaltenen) Missachtung begründet werden. 24 Wolff (Fn. 18), S. 903. 25 Amelung, Ehre als Kommunikationsvoraussetzung. Studien zum Wirklichkeitsbezug des Ehrbegriffs und seiner Bedeutung im Strafrecht, 2002 (dazu Jakobs, Buchbesprechung, GA 2003, S. 232 f.); ders., Zum Wirklichkeitsbezug der Ehre und ihrer Verletzung, insbesondere bei sexuellen Belästigungen, FS Hans-Joachim Rudolphi, 2004, S. 373 ff., 375: „Ehre (ist) eine Kommunikationsvoraussetzung“. 26 Amelung, Ehre (Fn. 25), S. 20; schon ders., Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft. Untersuchungen zum Inhalt und zum Anwendungsbereich eines Strafrechtsprinzips auf dogmengeschichtlicher Grundlage. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der „Sozialschädlichkeit“ des Verbrechens, 1972, S. 188 Fn. 70.

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cher Fähigkeiten“ und vier weitere generelle Defizite: (1) sittliche Mängel, (2) „konstitutionelle, insbesondere intellektuelle oder psychische Defizite“, (3) unkontrolliertes äußeres Aussehen und (4) extreme Servilität.27 Die genannten negativen Abweichungen sollen ein Bündel bilden, weil es sich bei ihnen um normativ erwartbare Kommunikationsvoraussetzungen handele,28 womit gemeint ist, man müsse das Fehlen solcher Abweichungen erwarten, wenn man überhaupt mit einer Kommunikation beginnen wolle. – Aber zumindest bei konstitutionellen Defiziten lässt sich eine Enttäuschung nicht durch Zurechnung zur der defizitären Person verarbeiten: Das Normative der Erwartung ist also insoweit höchst problematisch.

II. Diskussion der Positionen 1. Zur Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener Alle skizzierten Positionen haben Schwierigkeiten, die Strafbarkeit der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§ 189 StGB) zu deuten.29 Hirsch nimmt einen Fortbestand der Ehre über den Tod hinaus an,30 genauer, es soll „allein um die Ehre des Lebenden“ gehen, die aber „über den physischen Tod hinaus noch Bestand“ habe.31 Maiwald wendet dagegen ein, ein Toter könne kein Rechtsgutsträger sein; geschützt sei „das Pietätsgefühl der Hinterbliebenen“.32 Das wiederum hält Wolff für eine unangemessene Deutung, da – wegen der Reziprozität der Anerkennung – nicht nur ein Gefühl verletzt werde, sondern auch das Selbstbild zu korrigieren sei, wenn eine Fremdbeurteilung geändert werde, und diese Änderung müsse man sich nicht aufdrängen lassen.33 Die beiden letztgenannten Deutungsversuche leiden darunter, dass sie über einen bloßen Splitter dessen, was ansonsten auch der Fall ist, nicht hinausgelangen: Gefühlsverletzungen bei Angehörigen und Selbstbildprobleme derjenigen, die mit einem Beleidigten in einem Anerkennungsverhältnis stehen, sind auch bei ___________ 27

Amelung, Ehre (Fn. 25), S. 22, 38 f. Amelung, Ehre (Fn. 25), S. 45 ff., 48 f. 29 Ebenso SK-StGB/Rogall, 7./8. Auflage, 2008, Vor § 185 Rn. 27. 30 Hirsch (Fn. 1), S. 125 ff; ebenso LK-StGB/Hilgendorf (Fn. 7), § 189 Rn. 2; Hunger, Das Rechtsgut des § 189 StGB, 1996, S. 110 ff., 129 ff., Darstellung des Meinungsstandes, a.a.O., S. 67 ff. – Siehe auch Schönke/Schröder/Lenckner, StGB (Fn. 7), § 189 Rn. 1; MK-StGB/Regge (Fn. 7), § 189 Rn. 11: Nachwirkung des Schutzes der Persönlichkeit. 31 Hirsch (Fn. 1), S. 128. 32 Maurach/Maiwald (Fn. 1), § 25 Rn. 38. 33 Wolff (Fn. 18), S. 904 Fn. 30. – Diesen Ansatz verbindet Zaczyk mit dem ersten (Ehrfortbestand): Über das Selbstbild des Adressaten werde die Ehre des Verstorbenen geschützt, NK-StGB/Zaczyk (Fn. 18), § 189 Rn. 1. 28

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einer Beleidigung Lebender möglich, reichen aber dort nicht hin, sie zu Opfern zu stempeln. – Nun wäre es ungeschickt, einen Normenkomplex von einer theoretisch wie praktisch eher randständigen Norm her zu interpretieren, aber es kommt Weiteres hinzu.

2. Sozialer Wert? Geht es um einen Personenwert oder auch um einen sozialen Wert? Hirsch bestreitet letzteres34 in dem Bestreben, die Ehre nicht von der „Tauglichkeit für die Zwecke (Aufgaben) der Gemeinschaft“ abhängen zu lassen.35 Allerdings kennt Hirsch sittliche Ehrmängel, und zwar als schuldhafte Verletzung sittlicher Pflichten.36 Sittliche Pflichten sind zumindest auch soziale Pflichten; denn um Pflichten gegen sich selbst dürfte es im hiesigen Zusammenhang nicht gehen. So sieht Hirsch etwa in einem Verbrechen in der Regel den Grund für eine Ehrminderung, so dass um die auch sozialbezogene Bestimmung der Ehre, jedenfalls aber des Ehrmangels, nicht herumzukommen ist.37 Das führt zwar in pervertierten Gesellschaften zu einer pervertierten Bestimmung des Ehrmangels, aber daran ist so lange nicht vorbeizukommen, wie Ehrmängel mit Pflichtverletzungen verbunden werden. Weiterhin, wenn Pflichtverletzungen einen Ehrmangel erzeugen, so liegt die Annahme nahe, eine überobligationsmäßige Leistung führe zu einer Vergrößerung des Maßes der Ehre, dies nicht mit der Folge einer Pflicht der anderen zu devotem Verhalten (wie bei der Standesehre), aber doch mit der nurnegativen38 Pflicht, die Leistung nicht „wegzureden“. Beispielhaft, wenn ein bedeutender Stifter stirbt, wird niemand zu einem umfassenden Nachruf angehalten, und wer einen Nachruf schreibt, mag sich ganz auf den „Menschen“ (den Familienvater, den Naturfreund) konzentrieren, aber wer publiziert, der Verstorbene habe nichts gestiftet, verunglimpft sein Andenken. So entscheidet auch Maiwald.39 Die vorstehenden Bemerkungen zu verdienstlichen Werken gelten auch der Lehre von Wolff. Das „die Selbstständigkeit ermöglichende Anerkennungsver___________ 34

Wie Fn. 14. Hirsch (Fn. 1), S. 48 mit einer Wendung gegen eine in der Tat reichlich unbekümmerte Formulierung von Sauer, Die Ehre und ihre Verletzung, 1915, S. 10. 36 Hirsch (Fn. 1), S. 72 ff. 37 LK-StGB/Hilgendorf (Fn. 7), Vor § 185 Rn. 9 ff., 14, 21. 38 Zur Unterscheidung negativer und positiver Pflichten eingehend Sánchez Vera, Pflichtdelikt und Beteiligung, 1999, S. 67 ff., 76 ff. und passim. 39 Wie Fn. 6. 35

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hältnis“40 wird nicht nur gefährdet, wenn Schandtaten erdichtet werden, vielmehr nicht minder, wenn supererogatorische Leistungen geleugnet, also thematisiert aber gerade nicht anerkannt (!) werden. Dem entspricht die Lage bei der konkreten Konstitution eines Anerkennungsverhältnisses: In der Regel wird es eine starke Person sein („Respektperson“), die einer schwachen zur Selbstständigkeit verhilft, und zwar weil die Stärke dem Schwachen die Sicherheit gibt, auf dem richtigen Weg zu sein. Dazu gehört dann aber auch, dass dem Starken die Möglichkeit belassen wird, den Eindruck eines Starken zu machen. Die Rede von Anerkennung ohne die Rede von Vorbildern entspricht vielleicht den Regeln der politischen Korrektheit, bleibt aber (gerade deshalb) künstlich, abstrakt.

3. Nicht zurechenbare Defekte Das wohl größte Problem des normativen Ehrbegriffs in der Gestalt, die Hirsch ihm gegeben hat, bildet der Umgang mit den sogenannten „elementaren menschlichen Unzulänglichkeiten“41 (Maiwald folgt zu diesem Komplex Hirsch bei der Behandlung geistiger Unzulänglichkeiten), und das Problem belastet auch den Ansatz Amelungs, soweit er „konstitutionelle Mängel“ für ehrrelevant hält.42 Zwar hindern solche Mängel, etwa Schwachsinn, die volle Entfaltung des personalen Status, aber sie machen ihren Träger nicht in dem Sinn unehrenhaft, dass dieser sich verfehlt hätte, ihm also ein Vorwurf zu machen sei, vielmehr rufen sie bei jedem Verständigen Bedauern hervor. Solche Mängel als objektive Personmängel lassen sich nicht zusammen mit schuldhaften Taten in einem Ehrbegriff unterbringen.43 Wollte man für beides einen Oberbegriff bilden, böte sich etwa an, von der Beleidigung nicht als von einem Ehrdelikt zu reden, sondern von einem Delikt der Gefährdung des Fortkommens (des angemessenen Persönlichkeitsbildes, der Anerkennung, der Teilnahme an der Kommunikation). Ein Tatbestand muss sich ja nicht stets darauf beschränken, Angriffe auf ein und nur ein Handlungsobjekt zu beschreiben. Aber was mit den „elementaren menschlichen Unzulänglichkeiten“ neben die sittlichen Verfehlungen tritt, ist nicht geeignet, mit diesen zusammen einigermaßen abgerundet die Hindernisse des Fortkommens zu umreißen; denn welche Eigenschaften eines Menschen „zulänglich“ sind, ist ___________ 40

Wie Fn. 22. Hirsch, wie Fn. 17; Maurach/Maiwald, wie Fn. 5. 42 Wie Fn. 27. 43 Wolff (Fn. 18), S. 892; Kubiciel/Winter, Globalisierungsfluten und Strafbarkeitsinseln – Ein Plädoyer für die Abschaffung des strafrechtlichen Ehrenschutzes, ZStW 113 (2001), 305 ff., 308 f. 41

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je nach der Situation verschieden, und in der Praxis dürfte die psychophysische Ausstattung nicht im Vordergrund stehen, zumal sich falsche Behauptungen darüber in der Regel mit der Zeit als augenscheinlich unzutreffend herausstellen dürften. Wichtiger als die allgemeinen Eigenschaften sind die bereichsspezifischen: dass der kommende Schwiegersohn katholisch ist (oder gerade nicht), dass er Betriebswirtschaft studiert hat (jedenfalls nicht Theaterwissenschaft), dass der einzustellende Redakteur kein „linker Vogel“ ist und der persönliche Referent einer bestimmten Studentenverbindung angehört, etc. Das lässt sich weiter ausmalen: Auch wenn behauptet wird, eine bestimmte Person sei nicht anwesend oder krank oder tot (letzteres sogar als allgemeine Unzulänglichkeit: nur Lebende knüpfen Sozialkontakte), wird eine für den Umgang von Personen miteinander erforderliche „Zulänglichkeit“ geleugnet. Aus dem Fehlen der bereichsspezifischen „Zulänglichkeiten“ kann kein Ehrdefekt folgen; ansonsten litten schlechthin alle Personen unter solchen Defekten, da niemand das in allen Kontexten Vorteilhafte in seiner Person vereinigt, dies schon wegen der Widersprüchlichkeit des jeweils Geforderten. Bei dieser Lage lässt sich freilich die Ehrrelevanz der „elementaren“ (Un-)Zulänglichkeiten auch nicht dartun. Es besteht auch kein Bedürfnis zu einer solchen Erweiterung. Insbesondere der von Maiwald als Beispiel angeführte „Vorwurf des Schwachsinns“44 wird in aller Regel nicht als nüchterne Feststellung einer nun einmal gegebenen krassen Unterbegabung zu verstehen sein (dann würde es sich auch nicht um einen Vorwurf handeln), sondern als Behauptung, mangels hinreichender Sorgfalt habe der Betroffene zurechenbar wie ein Schwachsinniger agiert. Ist das ausnahmsweise nicht der Fall („Der Juniorchef ist leider zu dumm!“), leugnet der Sprecher (oder Schreiber) die bisherigen Leistungen, und das ist seinerseits eine Beleidigung. Es bleibt also allein die Behauptung einer nunmehr (etwa aufgrund einer Krankheit oder eines Unfalls) eingetretenen Unzulänglichkeit, die zudem so krass ausgeprägt sein muss, dass vom Betroffenen kein Rückzug aus dem von ihm beanspruchten Lebensbereich zu erwarten ist (denn ansonsten würde er zurechenbar zu viel beanspruchen, und die lügenhafte [konkludente] Behauptung, das sei der Fall, wäre wiederum eine Beleidigung; beispielhaft, „nach seinem Unfall ist der Chef nur noch ein Wrack“ [was er, nota bene, auch selbst merken müsste]). Analoges gilt für alle anderen Unzulänglichkeiten, insbesondere für die Behauptung mangelnder beruflicher Fähigkeiten. – Ob einzig für diese Fälle eine Verwässerung des Begriffs der Beleidigung angebracht ist, darf bezweifelt werden. Die hier durchaus nicht bestrittene Plausibilität des Vorschlags, die Behauptung elementarer Unzulänglichkeiten als Unrecht zu behandeln, ergibt sich aus ___________ 44 Maurach/Maiwald (Fn. 1), § 24 Rn. 6; SK-StGB/Rogall (Fn. 29), Vor § 185 Rn. 28.

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dem Verstoß gegen das Persönlichkeitsrecht, genauer, gegen das Teilrecht auf Identität. Es ließen sich weitere Teilrechte anführen, deren Schutz nicht weniger plausibel wäre, die freilich mit der Beleidigung so wenig zu tun haben wie das Identitätsrecht. – Beiläufig, die Beschränkung der Beleidigung auf die falsche Behauptung negativ zurechenbaren Verhaltens bringt zudem den Vorteil, eindeutig ehrirrelevante, aber in Teilen der Bevölkerung als nachteilig angesehene Eigenschaften (jüdisch, negroid etc.) klar und deutlich auszuklammern.

4. Erweiterung der Opferrolle? Während die Ehre bei Maiwald und Hirsch als Eigentum (im weiten Sinn) einer Person behandelt wird, so dass ihre Verletzung einer dritten Person zwar Nachteile bringen mag, dieser gegenüber aber nicht per se auch eine Rechtsverletzung ist, formulieren Wolff und, stärker noch, Amelung die Ehre als Bedingung einer Beziehung (Anerkennung, Kommunikation). Die Ehre als „die Selbständigkeit ermöglichendes Anerkennungsverhältnis“45 oder als „Kommunikationsvoraussetzung“46 wird dadurch bi- oder gar multilateral: Die Ehre des einen wird zur Bestandsbedingung auch des anderen,47 und deshalb scheint die Ehre einer Person zu einem sozialen oder doch zumindest mehrpoligen Gut zu mutieren, das im Interesse vieler oder immerhin mehrerer zu schützen ist. Das Ergebnis könnte sich vermeiden lassen, wenn die Zielvorstellung (Anerkennung soll sein! Kommunikation soll sein!) zwar die Interpretation des Rechtsinhaltes leitet, aber nicht die Rechtszuständigkeit bestimmt (Wer ist berechtigt?), was freilich für wechselseitige Beziehungen kaum überzeugt. – Davon unabhängig mag auch eine dritte Person ein Recht haben, über den Ehrbestand (und manchen weiteren Bestand der Persönlichkeit) eines anderen nicht belogen zu werden, aber eben als eigenes Recht, aus dem sich bei einem garantierten Recht sogar strafrechtliche Konsequenzen und bei vertraglicher Bindung immerhin noch Schadensersatzverpflichtungen herleiten lassen. Beispielhaft, rät ein Personalberater mit verleumderischen Auskünften von der Einstellung eines in Wahrheit bestens geeigneten Bewerbers ab, so dass sich die Stelle längere Zeit nicht besetzen lässt, hat er (auch) dem beratenen Unternehmen Schadensersatz zu leisten.

___________ 45

Wolff, wie Fn. 22. Amelung, Ehre, wie Fn. 25. 47 Wolff nutzt das für die Deutung des § 189 StGB; dazu Fn. 33. 46

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III. Verfälschung von Zurechnung Die summa summarum dieser Bilanz ist nicht erfreulich, und deshalb gilt es, das Geschäftsfeld besser auszurichten. Zur Neuausrichtung soll mit einer These begonnen werden: Gewiss schützt das Verbot der Ehrverletzung die einzelne Person, aber das schließt es nicht aus, dass dieses Verbot zum „Kitt der Gesellschaft“ gehört, also auch die Aufgabe hat, der Erhaltung der gesellschaftlichen Struktur zu dienen (und vielleicht dadurch abermals der Person). Wie Eigentum und Vermögen nicht nur wegen der Person (wegen des jeweiligen Eigentümers und Vermögensinhabers) geschützt sind, sondern auch als Grundlage des gesellschaftlichen Wirtschaftens und damit als der normative Teil der Wirtschaftsstruktur der Gesellschaft – deutlich erkennbar an der Akzessorietät des Strafrechts zum strukturbestimmenden Zivilrecht48 –, so hat der Ehrenschutz (soweit es überhaupt um ihn geht; unten IV.) die Aufgabe, Kommunikation über das Fehlverhalten anderer Personen verlässlich zu halten, also die Wahrheit des Kommunizierten zu garantieren.49 Rogall hat begründet, dass nicht nur die fragile informelle Zurechnung einer solchen Garantie bedarf, sondern auch die robuster ausgestaltete, aber gleichfalls nicht per se garantierte formelle Zurechnung.50 Was die formelle Zurechnung betrifft, so ergänzen die Beleidigungsdelikte die Falschaussagedelikte (§§ 153 ff.) und die falsche Verdächtigung (§ 164 StGB). Beispielhaft, wenn mit einer beleidigenden Lüge ein Verwaltungsverfahren angestrengt wird, in dem es keine spezielle strafrechtliche Wahrheitsgarantie gibt, dient das Verbot der Beleidigung auch dem Schutz dieses Verfahrens, und bei Verfahren mit speziellen Garantien (etwa Gerichtsverfahren) verstärkt es diese, soweit es um Berichte über tadelnd zurechenbares Verhalten geht. Im informellen Bereich bleibt es allein bei den Beleidigungsdelikten. Warum „kittet“ eine solche Wahrheitsgarantie die Gesellschaft? Für die formelle Zurechnung lässt sich auf deren unabdingbare gesellschaftliche Notwendigkeit verweisen. Aber auch die informelle Zurechnung ist bestandsnotwendig, wie zunächst an der informellen Weiterverarbeitung des Ergebnisses einer formellen Zurechnung verdeutlicht werden soll: Der rechtskräftig verurteilte Täter einer mehr als bagatellhaften Tat hat nicht nur die Strafe zu dulden, sondern wird erleben, dass andere Personen ihn „schneiden“; er wird also isoliert – eine informelle Sanktion nach der formellen, durch die sich die „Schneidenden“ der Geltung der verletzten Norm vergewissern. – Ein weiteres Bei___________ 48

Zu Fehlerhaftigkeit eines „wirtschaftlichen“ Vermögensbegriffs beim Betrug Pawlik, Das unerlaubte Verhalten beim Betrug, 1999, S. 252 ff., 255 ff. 49 Dazu und zum folgenden Text Jakobs, Die Aufgabe des strafrechtlichen Ehrenschutzes, FS Hans-Heinrich Jescheck, Bd. 1, 1984, S. 626 ff., 635 ff. 50 SK-StGB/Rogall (Fn. 29), Vor § 185 Rn. 27 f.

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spiel: Wer als Schuldner immer wieder säumig bleibt, hat nicht nur Zinslast und Beitreibungskosten zu tragen, sondern wird irgendwann, nämlich wenn sich sein Verhalten herumgesprochen hat, keine Vertragspartner mehr finden und auch jenseits von Vertragsbeziehungen als nicht verlässlich gelten und „geschnitten“ werden. – Drittes Beispiel: Wer sich in einer Notlage von seinem Freund helfen lässt und kurz darauf dem nunmehr in Not geratenen Freund nicht hilft, obgleich es ihm einigermaßen leicht möglich wäre, wird erleben, dass alle seine Freunde ihn verlassen, eben „schneiden“. Abstrakt: Es gibt neben der rechtlichen Struktur der Gesellschaft auch eine solche der gelebten Sitte, die das Recht unterfängt oder neben ihm steht; diese Struktur wird über informelle Sanktionen erhalten. Das Verbot der Beleidigung soll auch garantieren, dass solche Sanktionen nicht den Falschen treffen. – Diese gelebte Sitte ist für den Bestand einer Gesellschaft unabdingbar, weil ansonsten in allen nicht vollständig rechtlich normierten Bereichen ein normatives Chaos herrschen würde und eine jeweilige Ad-hoc-Abstimmung viel zu zeitaufwendig wäre. Beispielhaft, wie sollten emotional hochgeschraubte Veranstaltungen, etwa eine „Papstmesse“, mittelhohe, wie etwa die Selbstbedienung an einem Buffet, oder – weniger emotional – auch nur eine Vorlesung in einem überfüllten Hörsaal ohne (sanktionierte!) informelle Normen stattfinden? Diese These ist vor einem Vierteljahrhundert erstmals (vom Verf.) formuliert worden; sie wurde gründlich registriert, freilich – erwartungsgemäß – zumeist51, ohne Zustimmung zu finden, in der Hauptsache auch nicht diejenige Maiwalds,52 und das ist der Grund für diesen Beitrag an dieser Stelle. Die wohl schärfste Entgegnung stammt von Zaczyk53 und bezieht sich speziell auf die Wahrheitsgarantie bei informeller Zurechnung: „Da ... die Legitimität der informellen Sozialkontrolle jenseits des Rechts unbegründet bleibt (und mit ___________ 51 Teils zustimmend freilich Tröndle/Fischer, StGB, 55. Auflage, 2008, Vor § 185 Rn. 5; mit eingehender Begründung SK-StGB/Rogall (Fn. 29), Vor § 185 Rn. 28 ff. 52 Maurach/Maiwald (Fn. 1), § 24 Rn. 5. 53 NK-StGB/Zaczyk (Fn. 18), Vor § 185 Rn. 6; ähnlich Kindhäuser, Lehrbuch des Strafrechts. Besonderer Teil. Straftaten gegen Persönlichkeitsrechte, Staat und Gesellschaft, 2003, § 22 Rn. 4 mit dem weiteren Argument, es gehe auch um „Bewertungen ... ohne Tatsachenbezug“. Aber eine „Bewertung“ ohne einen zumindest zu vermutenden Bezug besagt nichts: „Ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt halte ich X für ...“ – solches ist eine Mitteilung von der Irrationalität der eigenen Haltung, nicht aber eine Beleidigung. – Um Schärfe der Kritik bemühen sich auch Gössel/Dölling, Strafrecht Besonderer Teil 1, 2. Auflage, 2004, § 29 Rn. 9; dort wird freilich verkannt, dass die hiesige Position sich nicht gegen die Meinung wendet, Beleidigung sei auch ein Delikt gegen die Person. So tritt etwa bei einer beleidigenden Äußerung allein gegenüber dem Opfer das allgemeine Interesse am Wahrheitsschutz zurück, und es bleibt nur das Interesse der Person; insoweit zutreffend kritisch Rahmlow, Die Auslegung von Äußerungen im Strafrecht. Ein Beitrag zur Konkretisierung der Lehre von der objektiven Zurechnung bei der Tathandlung „Äußerung“, 2006, S. 83.

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rechtsverbindlichem Charakter auch gar nicht zu begründen ist), wird bei Jakobs ... (nicht; G. J.) deutlich, weshalb sie notwendig mit wahren Informationen über die Leistungen der Person durchzuführen ist ...“. Zur Beurteilung dieser Kritik kommt es darauf an, was mit „jenseits des Rechts“ gemeint ist. Sollte es um ein Verhalten gehen, das nicht mehr im Rahmen des Rechts liegt, wäre der zitierte Satz evident richtig, ja geradezu trivial, hätte aber nichts mit der zu behandelnden These zu tun; denn gewiss darf niemand einen Delinquenten privatim einsperren, einen Verbrecher belohnen (§ 140 StGB) oder einen dunkelhäutigen Menschen als minderwertig bezeichnen (Art. 3 GG). Ist aber, wie näher liegt, „jenseits des Rechts“ zu lesen als „im Rahmen des Rechts, aber jenseits der rechtlichen Sozialkontrolle“, so ist die Aussage falsch: Es ist den Bürgern in einem nach freiheitlichen Grundsätzen verfahrenden Gemeinwesen garantiert, informelle Regelsysteme errichten und durchsetzen zu dürfen, solange das ohne Rechtsverletzung geschieht, mehr noch, die Errichtung solcher Systeme ist, wie schon ausgeführt wurde, notwendig, wenn komplexe Situationen, für deren Abwicklung es keine rechtlichen Regelungen gibt, bewältigt werden sollen. Die zitierte Kritik geht wohl von dem Vorverständnis aus, Sozialkontrolle dürfe nur dort stattfinden, wo sie ausdrücklich rechtlich vorgesehen ist – etwa der Katholizismus wird so zu einem weitgehend rechtlich illegitimen Unternehmen –, aber das lässt sich freiheitstheoretisch nicht begründen, vielmehr darf informelle Kontrolle stattfinden, wenn sie nicht gegen das Recht verstößt. Auch Zaczyk kommt an diesem Befund nicht vorbei, wie sich daran zeigt, dass auch nach seiner Ansicht der unverdiente Vorwurf (eines zwar rechtmäßigen, aber) grob unsittlichen Verhaltens beleidigt.54 Wieso soll das der Fall sein, wenn sich das informelle Regelwerk nicht als legitim dartun lässt? Diese „Kritik der Kritik“ lässt sich noch vertiefen: Das Recht selbst verweist seinerseits nicht selten auf ein informelles Regelsystem, indem es seine Regelungen – etwa – nach den „guten Sitten“ ausrichtet. Gewiss ist es eine rechtliche Entscheidung, so zu verfahren, aber diese rechtliche Entscheidung ist überhaupt nur möglich, weil es ein nicht-rechtliches, aber inkorporierbares Regelsystem gibt, und dessen Vorhandensein, seine in der Praxis orientierende Kraft, ergibt sich nicht aus prästabiliert harmonischen Zusammenhängen, sondern bedarf, da Menschen bekanntlich aus krummem Holz geschnitzt sind, ab und an der Stabilisierung durch informelle Sanktionen nach informellen Zurechnungen. Alle Freiheit kann missbraucht werden, und so können und werden sich bereichsweise nicht nur sittliche, sondern auch unsittliche informelle Zurechnungsregeln bilden, aber das Recht muss und sollte bei der Anwendung dieser ___________ 54

NK-StGB/Zaczyk (Fn. 18), Vor § 185 und zu §§ 185 ff. fortlaufend.

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Regeln keine Wahrheitsgarantie leisten. Beleidigt ist nur derjenige, dem unverdient ein Verstoß gegen die guten oder doch immerhin erträglichen Sitten nachgesagt wird, nicht aber auch der von einem unsittlichen oder gar rechtswidrigen Standpunkt aus „Geschmähte“.55 Beispielhaft, dem Mitglied einer rechtsradikalen Gruppe, dem fälschlicherweise vorgeworfen wird, beim letzten Überfall auf einen Ausländer „versagt“ zu haben, wird kein Beleidigungsunrecht zugefügt.

IV. Ergebnis Nach der älteren Rechtsprechung soll die Personenwürde als Menschenwürde Quelle der Ehre sein.56 Die Menschenwürde kann nach allgemeinem Verständnis weder verkleinert noch vergrößert werden, die Ehre hingegen soll sich durch „böse“ Werke verkleinern, wenn auch nicht restlos aufheben lassen. Aber diese verkleinerte Ehre müsste an sich von der ja nicht diminuierten Würde sogleich wieder ergänzt werden, da allein aus Invariablem nichts Variables folgen kann. Man mag entgegnen, was aus der Würde folge, hänge vom Kontext ab, und der Kontext sei das Verhalten der Person. Freilich richtet sich dann die Ehre nicht allein nach der Würde, sondern eben nach Würde und Verhalten: Was die invariable Menschenwürde (notwendig:) invariabel beisteuert, ist die Ehrfähigkeit und die Unehrfähigkeit, also die Fähigkeit sich ehrenhaft oder unehrenhaft zu verhalten. Nach der neueren Rechtsprechung soll die Ehre „ein Aspekt der Personwürde“ sein57 (Personwürde nicht verstanden als Menschenwürde), was sie nach der Ansicht der meisten Vertreter des normativen Ehrbegriffs zumindest auch58 ist. Diese Personwürde soll sich vermindern, aber nicht aufbrauchen lassen,59 was man mit der asymptotischen Annäherung der fallenden Ehrlinie an eine Sockellinie bildlich verdeutlichen mag. Aber im konstanten Sockel lässt sich keine Ehre finden – diese ist, da vom Verhalten abhängig, eben nicht konstant –, konstant ist vielmehr abermals die Ehrfähigkeit und Unehrfähigkeit. ___________ 55 Auch soweit die Beleidigung als Delikt nur gegen die Person verstanden wird, entspricht das allgemeiner Meinung. 56 BGH 11, 68 ff., 70: „Personwürde“ als Würde gemäß Art. 1 GG; siehe auch Tenckhoff, Die Bedeutung des Ehrbegriffs für die Systematik der Beleidigungstatbestände, 1974, S. 175 ff. – Dagegen zutreffend Hirsch (Fn. 1), S. 53 mit Fn. 70; ders. (Fn. 8), Grundfragen, S. 136 ff. mit weiteren Nachweisen. 57 BGH 36 , 145 ff., 148. 58 Zum Streit, ob diese personale Sicht um eine soziale Sicht zu ergänzen ist, siehe oben II. 2. 59 Eingehend Hirsch (Fn. 1), S. 53 ff. mit Fn. 24.

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Die Ehrfähigkeit kann nach der hiesigen Ansicht und auch nach derjenigen Maiwalds zum Erwerb von Ehre eingesetzt werden – durch verdienstliche Werke60 – oder von Unehre – durch zu tadelnde Werke. Beleidigung ist bei diesem Verständnis Verfälschung der Zurechnung zulasten der Person:61 Verdienstliche Werke werden geleugnet, zu tadelnde erdichtet. Beleidigung ist deshalb nicht immer eine Ehrverletzung, sondern nur bei der Leugnung verdienstlicher Werke. Um Ehrverletzung geht es also allein in demjenigen Bereich, den die übliche Lehre aus der Beleidigung ausklammert; ansonsten bleibt es bei einer Behauptung von Unehre.62 Beispielhaft, der Taugenichts, der seinen Erbonkel ermordet hat, wird beleidigt, wenn fälschlicherweise behauptet wird, er habe zudem auch noch seine Erbtante umgebracht. Aber dass er diese Tat nicht begangen hat, lässt sich nicht als „seine Ehre“ bezeichnen; denn ansonsten wäre das Ehrkonto jedes Menschen grenzenlos hoch, hätte doch jeder massenhaft (weitere) Schandtaten begehen können, hat sie aber nicht (sämtlich) begangen. Die übliche Lehre nimmt freilich das Fehlen zu tadelnder Werke als Ehre, – als sei das Fehlen von Schulden auf der Seite der Aktiva zu verbuchen. Bei der hiesigen Lösung haben zurechnungsunfähige Personen (gemeint ist eine formelle wie informelle Zurechnung umgreifende völlige Unfähigkeit) keine Möglichkeit, Ehre oder Unehre zu erwerben, was aber nicht heißt, Ehre würde ihnen abgesprochen, vielmehr umfasst ihre Persönlichkeit nicht den Bereich, in dem der Erwerb von Ehre und Unehre einzig stattfinden kann. Sie sind „ehrlos“ im Sinne von „frei von Ehre und Unehre (!)“. Wie ein Säugling noch nicht geschäftsfähig, politisch „wahlfähig“ oder heiratsfähig ist, so auch nicht ehrfähig.63 Auf Beleidigung bezogen heißt das: Wo keine Zurechnung stattfinden kann, lässt sich auch keine verfälschen.

___________ 60

Maiwald, wie Fn. 6; anders die weit überwiegende Ansicht: Hirsch (Fn. 1), S. 54 ff.; ders. (Fn. 8), Grundfragen, S. 139 mit weiteren Nachweisen; Tenckhoff (Fn. 55), S. 40; SK-StGB/Rogall (Fn. 29), Vor § 185 Rn. 16; LK-StGB/Hilgendorf (Fn. 7), Vor § 185 Rn. 16; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB (Fn. 7), § 185 Rn. 3. – Die zumeist herangezogene Autorität ist Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts. Besonderer Teil, Bd. 1, 2. Auflage 1902, S. 145 f.: „Pseudo-Beleidigungen“. – Freilich dürfte es nicht gelungen sein, die hierarchisierende Standesehre (ein Ordnungsfaktor!) allein mit der Annahme zu verdrängen, Gleichheit sei gerechter; vielmehr setzt sich ein anderer – zeitgemäß bürgerlicher – Ordnungsfaktor durch: Leistung. 61 Jakobs (Fn. 49), S. 693. 62 So schon Binding (Fn. 60), S. 135: „Ehrbeleidigung ist die ... Behandlung eines Menschen ... nach Maaß nicht vorhandener Unehre“. 63 Amelung, Ehre (Fn. 25), S. 49 f. mit Fn. 126. Anders die weit überwiegende Lehre: Schramm, Über die Beleidigung von behinderten Menschen, FS Theodor Lenckner, 1998, S. 539 ff. mit umfassenden Nachweisen; MK-StGB/Regge (Fn. 7), Vor §§ 185 ff. Rn. 15, 42–45, wobei freilich, anders als hier, nicht nur zur gänzlichen Zurechnungsunfähigkeit argumentiert wird.

Deliktsbezogene Strafverfolgung und Diversion in Europa Von Jörg-Martin Jehle Das wissenschaftliche Oeuvre des Jubilars Manfred Maiwald zeichnet sich dadurch aus, dass es neben der Beschäftigung mit der deutschen Dogmatik vielfältige internationale Bezüge aufweist. Was den deutsch-italienischen Dialog im Strafrecht angeht, so hat Manfred Maiwald1 auf deutscher Seite fast das Alleinstellungsmerkmal inne. Aber auch im weiteren europäischen Kontext bewegt er sich gerne; zuletzt hat er mit mehreren europäischen Kollegen eine Studie durchgeführt, die anhand gemeinsamer Fallbeispiele die verschiedenen dogmatischen Strukturen der jeweiligen Länder herausarbeitet.2 Daher liegt es nahe, ihm einen Beitrag über eine europäisch-vergleichende Untersuchung zu widmen, welche ebenfalls mit der Methode der Fallbeispiele gearbeitet hat.

I. Anliegen der Studie Wirft man einen Blick auf die Entwicklung der europäischen Kriminaljustizsysteme in den letzten Jahrzehnten, so fällt auf, dass sie durchweg mit einer Steigerung der Fallzahlen und mit einer größeren Arbeitsbelastung zu kämpfen hatten. So zeigte sich in allen westeuropäischen Ländern seit den 1960er Jahren bis Mitte der 1990er Jahre ein ungebremstes Wachstum der Kriminalitätszahlen. Seither sind die Zahlen leicht rückläufig oder stagnieren auf hohem Niveau.3 Die nahe liegende Lösung, den zusätzlichen Arbeitsanfall durch Ausweitung des Justizpersonals aufzufangen, wurde indes nirgends gewählt, stattdessen haben sich in allen Rechtsordnungen Wege der Verfahrensvereinfachungen und -verkürzungen entwickelt. Besonders interessant ist dabei, dass solche aus ___________ 1 Vgl. nur M. Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozeßrecht, Frankfurt, 2009; ders., L’evoluzione del diritto penale tedesco in un confronto con il sistema italiano, Turin, 1993. 2 J. Pradel/A. Cadoppi (Hrsg.), Fälle und Lösungen zur Strafrechtsvergleichung, übersetzt von M. Maiwald, mit Beiträgen u.a. von M. Maiwald, Frankfurt, 2009. 3 Vgl. für Deutschland: J.-M. Jehle, Strafrechtspflege in Deutschland, 4. Aufl., Berlin, 2009 (hrsg. vom Bundesministerium der Justiz).

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Effizienzgründen geschaffenen Abweichungen vom Normalverfahren darauf hinauslaufen, die grundsätzlichen Unterschiede der nationalen Verfahrensordnungen tendenziell einzuebnen.4 So nähern sich Systeme, die dem Legalitätsprinzip verpflichtet sind, durch den Einbau weitreichender Opportunitätsvorschriften den Rechtsordnungen an, die das Legalitätsprinzip nicht kennen. Um diese Mechanismen näher zu untersuchen, wurde eine groß angelegte europäisch-vergleichende Studie durchgeführt.5 Die Wurzeln dieser Studie liegen in dem Projekt, das das sog. European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics6 hervorbrachte. Im Jahre 1996 hatte der Europarat eine Gruppe von Spezialisten, zu der der Autor gehörte, beauftragt, eine Zusammenstellung von Kriminaljustizdaten für ganz Europa vorzubereiten; seitdem ist das European Sourcebook in mehreren Auflagen erschienen. Bei der Beschreibung der Ebene zwischen Polizei und Gericht, die im Wesentlichen von der Staatsanwaltschaft bestimmt ist, war der Mangel an vergleichbaren statistischen und rechtlichen Informationen offenbar geworden. Daraus entstand die Idee zu dieser vertiefenden Studie. Sie wurde in zwei Wellen ausgeführt: Die erste schloss Deutschland, England und Wales, Frankreich, die Niederlande, Polen und Schweden mit ein;7 die zweite arbeitete mit verbesserten methodischen Instrumenten auf der Basis gewonnener Erfahrung und erfasste noch einmal dieselben Länder sowie zusätzlich Kroatien, die Schweiz, Spanien, Ungarn und die Türkei.8 Ziel der Studie war, vergleichend die Funktionen der Staatsanwaltschaften in europäischen Ländern zu analysieren, wobei rechtliche Regelungen ebenso wie empirische Daten, die die tatsächlichen Arbeitspraktiken und Mechanismen erfassten, betrachtet wurden. Die Grundannahme ist, dass Kriminaljustizsysteme einen Komplex aus verschiedenen Ebenen darstellen, welche die Kriminalfälle passieren, wobei sie von Stufe zu Stufe zunehmend ausgeleitet werden, so dass ___________ 4 J.-M. Jehle, Prosecution in Europe: Varying Structures, Convergent Trends, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 8, 2000, S. 27 ff. 5 Die Idee und Konzeption werden erstmals vorgestellt in J.-M. Jehle, Die Funktion der Staatsanwaltschaft im Europäischen Vergleich, FS Schreiber, 2003, S. 173 ff. 6 European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistcs, 3. Aufl., Den Haag, 2006; 4. Aufl. in Vorbereitung. 7 J.-M. Jehle/M. Wade, Coping with Overloaded Criminal Justice Systems, Berlin/ Heidelberg/New York, 2006; zu Deutschland B. Elsner/J. Peters, S. 207 ff.; zu England C. Lewis, S. 151 ff.; zu Frankreich B. Aubusson de Cavarlay, S. 185 ff.; zu den Niederlanden M. Blom/P. Smit, S. 237 ff.; zu Polen T. Bulenda/B. Gruszczynska/A. Kremplewski/P. Sobota, S. 257 ff.; zu Schweden J. Zila, S. 285 ff. 8 European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 14, NOS. 2-3, 2008; zu Kroatien K. Turkovic, S. 263ff.; zur Schweiz G. Gilliéron/M. Killias, S. 333 ff.; zu Spanien M. F. Aebi/M. Balcells, S. 311 ff.; zu Ungarn E. Róth, S. 289 ff.; zur Türkei H. Hakeri, S. 353 ff.

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nur wenige die gerichtliche Ebene erreichen. Im Zentrum steht die Kompetenz der Staatsanwaltschaft, selbstständig eine Verfahrensbeendigung herbeizuführen. Von einem kriminologischen Standpunkt aus bildet die Staatsanwaltschaft einen Teil des Kriminaljustizsystems, das unter einem hohen Druck steht, eine Vielzahl von Fällen zu bewältigen und in dem der Staatsanwaltschaft die entscheidende Funktion der (Ent-)Kriminalisierung zukommt. Insofern interessiert unter organisationssoziologischer Sicht, auf welche Weise die Systeme ihre Arbeitsbelastung mit Hilfe von vereinfachten Methoden und Verfahrensweisen reduzieren.9

II. Anlage und Methoden der Studie Um die verschiedenen nationalen Kriminaljustizsystem zu verstehen und eine Vergleichsbasis zu schaffen, ist es notwendig, nicht nur den staatsanwaltschaftlichen Abschnitt zu betrachten, sondern die jeweilige Rolle der Staatsanwaltschaft im Gesamtsystem. Auf diese Weise können verschiedene Optionen der Entkriminalisierung und Entpönalisierung und die damit verbundenen verfahrensbeendenden Entscheidungen auf polizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Ebene analysiert werden. Wenn ein beträchtlicher Anteil von Fällen bereits von der Polizei abgeschlossen oder gänzlich außerhalb des Kriminaljustizsystems behandelt wird, ist der Input auf staatsanwaltschaftlicher Ebene geringer und die Staatsanwaltschaft kann sich auf schwerere Kriminaldelikte konzentrieren und benötigt weniger Opportunitätsentscheidungen. Wenn andererseits – wie in Deutschland – die Polizei alle Delikte an die Staatsanwaltschaft weiterleitet, muss das Kriminaljustizsystem auf der staatsanwaltschaftlichen Ebene „Ventile“ entwickeln, um zu verhindern, dass die Gerichte durch eine Vielzahl durchzuführender Hauptverfahren überlastet werden. Um diese Mechanismen zu erfassen, hatte die Studie sowohl den rechtlichen Rahmen als auch die praktischen Verfahrensweisen zu erfassen. Sie entwickelte ein komplexes Erhebungsinstrument, indem durch ein Netzwerk von Experten erstens ein gemeinsamer Katalog von Fragen und zweitens angemessene gemeinsame Kriterien, Kategorien und Instrumente entwickelt wurden, um gleiche Daten auf nationaler Ebene zu erheben und zugleich unter einander vergleichbar zu machen.10

___________ 9

J.-M. Jehle/M. Wade/B. Elsner, Prosecution and Diversion within Criminal Justice Systems in Europe, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 14, NOS. 2-3, 2008, S. 93 ff. 10 J.-M. Jehle/M. Wade/B. Elsner (Fn. 9), S. 95 f.

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Die Verständigung über gemeinsame Kategorien und Kriterien ist entscheidend für einen fruchtbaren Vergleich. Die größte Schwierigkeit dabei ist sprachlicher Art: Wenn man wie hier Englisch als Arbeitssprache wählt, entstehen Probleme in zweierlei Hinsicht. Die englische Sprache verfügt oft über keinen Fachbegriff, weil bestimmte Rechtsinstitutionen, die in den meisten kontinentalen Systemen vorhanden sind, in England nicht oder jedenfalls nicht in der Form existieren. Zum anderen ist zwar der englische Ausdruck, mit dem eine spezifische Institution im jeweiligen Rechtssystem bezeichnet wird, im internationalen Vergleich derselbe, hat aber häufig eine (leicht) unterschiedliche Bedeutung im nationalen Kontext. Deshalb war es nötig, intensiv nach angemessenen Kategorien zu suchen, um die Bedeutung der Begriffe präzise zu bestimmen. Die Kategorien und Kriterien, die zusammen mit den Partnern entwickelt worden waren, wurden in einen Erhebungsbogen eingebaut, der sich auf folgende Komplexe bezog: rechtliche Regeln für die Verfahren, Kompetenzen und Zuständigkeiten, vornehmlich für die Staatsanwaltschaft, aber auch für die Polizei und die Gerichte; organisatorische Strukturen der Staatsanwaltschaft in Verbindung mit der polizeilichen und gerichtlichen Ebene, statistische Informationen über Kapazitäten, Verfahren und Entscheidungen, insbesondere auf staatsanwaltschaftlicher Ebene, wobei ein Schwerpunkt auf die verfahrensbeendenden Entscheidungen gelegt wurde. Neben diese standardisierte Form der Erhebung nationaler Gegebenheiten traten Berichte über das jeweilige nationale Kriminaljustizsystem, die in einer schematischen Darstellung der verschiedenen Ebenen und der Entscheidungsstrukturen mündeten. Mit der Schaffung gemeinsamer Fragen und Kategorien für die Erhebung des jeweiligen nationalen Systems war zugleich auch die Basis für einen internationalen Vergleich geschaffen. So wurden die Antworten aus dem nationalen Erhebungsbogen in synoptische Vergleichstabellen übertragen, welche die Gemeinsamkeiten und Unterschiede systematisch offenbar werden ließen. Auf diese Weise konnte ein umfassender Überblick gewonnen werden, wie die Kriminaljustizsysteme arbeiten und welche Funktionen die verschiedenen Institutionen darin spielen. Neben dieser eher abstrakten internationalen Betrachtung wurden zudem Fallbeispiele entwickelt, anhand derer die konkreten Vorgehensweisen in den jeweiligen Ländern miteinander verglichen werden können (s.u. IV.).

III. Generelle Erledigungsstrukturen Der methodische Ausgangspunkt der Studie war, die verschiedenen Ebenen des Strafverfahrens und die beteiligten Institutionen als ein zusammenhängendes System zu betrachten, in dem von Stufe zu Stufe eine Selektion von Fällen

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stattfindet, so dass am Ende nur noch eine ausgelesene Zahl von Verfahren mit einer Hauptverhandlung und einem Urteil endet.11 Die Analyse der Verfahrenserledigung in den untersuchten Ländern zeigt ein differenziertes Bild, das hier nach den verschiedenen Stufen getrennt in groben Strichen skizziert werden soll. Die erste Stufe der Selektion ist die materiellrechtliche Entkriminalisierung. So können minder schwere Verstöße zu Verwaltungsunrecht herabgestuft werden, die dann auch konsequenterweise außerhalb des Kriminaljustizsystems behandelt werden. Dies geschieht oft in Bezug auf Verkehrsverstöße. In Deutschland kennen wir die Ordnungswidrigkeiten; vergleichbare Regelungen existieren ebenso in anderen europäischen Ländern. Derselbe Effekt kann aber auch erreicht werden, wenn die Delikte, z.B. kleine Diebstähle, zwar materiellrechtlich Straftaten bleiben, aber verfahrensrechtlich anders behandelt werden und anderen Formen der Sanktionierung zugeführt werden. Hierzu kann man die Verfahrensweisen in den früheren sozialistischen Ländern zählen, die den sog. Gesellschaftsgerichten Sanktionskompetenz über kleinere Straftaten gaben und diese heute – im neuen rechtsstaatlichen Gewand – gesonderten Gerichten zuführen (wie z.B. in Polen). Eine andere Form der Diversion kann in Frankreich beobachtet werden, die sog. contraventions (Übertretungen) der ersten bis vierten Klasse betreffen Verkehrsdelikte und kleinere Fälle der Körperverletzung und werden in summarischen Verfahren von der Polizei (und gegebenenfalls vom Polizeigericht) abgewickelt, scheiden also auch hier vollständig aus dem Kriminaljustizsystem aus. Eine Sonderbehandlung existiert auch hinsichtlich der von Jugendlichen begangenen Straftaten.12 Entsprechend einer längeren Tradition werden in manchen osteuropäischen Ländern jugendliche Straftäter außerhalb des Kriminaljustizsystems behandelt. Mit Ausnahme von schweren Straftaten übergibt hier die Polizei die Verfahren nicht an die Staatsanwaltschaft, sondern an besondere Gerichte, die man als Familiengerichte bezeichnen könnte.13 All diese Varianten der Entkriminalisierung und Diversion beziehen die Polizei mit ein, aber nicht als Teil des Kriminaljustizsystems, deshalb wird sie in dieser Hinsicht auch nicht von der Staatsanwaltschaft kontrolliert. ___________ 11 Siehe näher J.-M. Jehle, The Function of Public Prosecution within the Criminal Justice System, in: J.-M. Jehle/M. Wade, Coping With Overloaded Criminal Justice Systems, Berlin/Heidelberg/New York, 2006, S. 6. 12 J.-M. Jehle/C. Lewis/P. Sobota, Dealing with Juvenile Offenders in the Criminal Justice System, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 14, NOS. 2-3, 2008, S. 237 ff. 13 T. Bulenda/B. Gruszczynska/A. Kremplewski/P. Sobota, The Prosecution Service Function within the Polish Criminal Justice System, in: J.-M. Jehle/M. Wade, Coping With Overloaded Criminal Justice Systems, Berlin/Heidelberg/New York, 2006, S. 278.

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Die Polizei spielt in den Ermittlungsverfahren eine entscheidende Rolle. In den meisten Rechtordnungen wird zwar die Staatsanwaltschaft als die Herrin des Ermittlungsverfahrens angesehen – in dem Sinne, dass der Staatsanwalt die Ermittlungstätigkeit der Polizei initiiert und kontrolliert, aber die Wirklichkeit ist meist anders: Mit der Ausnahme von schweren Straftaten wird die Staatsanwaltschaft meist nur sehr oberflächlich oder erst am Ende der Ermittlungen einbezogen.14 Insofern sind faktisch die Kompetenzen von der Staatsanwaltschaft auf die Polizei verlagert worden. Allerdings wird diese reduzierte staatsanwaltschaftliche Tätigkeit im Ermittlungsverfahren ein Stück dadurch kompensiert, dass klare Richtlinien für die polizeiliche Ermittlungstätigkeit zwischen der Staatsanwaltschaft und der Polizei vereinbart werden. Darüber hinaus besitzt die Polizei zum Teil aber auch verfahrensbeendende Möglichkeiten. Zwar ist gewöhnlich die Polizei an das Legalitätsprinzip gebunden und verpflichtet, alle ihr bekannt gewordenen Fälle an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten, aber in manchen Ländern kann die Polizei von sich aus die Ermittlungen einstellen, wenn kein Täter gefunden wird oder aber der Tatverdacht nicht hinreichend ist. In England und Wales kann die Polizei auch Opportunitätsentscheidungen treffen, d.h., sie kann Verfahren beenden und damit eine Art rechtliche Konsequenz verbinden, die man „caution“ (Verwarnung) nennt und die als Äquivalent zu einer Verurteilung angesehen wird.15 In den Niederlanden wurde das sogenannte Transaktions(transactie)system etabliert. Es betrifft im Wesentlichen Einstellungen durch die Staatsanwaltschaft, erlaubt aber auch der Polizei, Verfahren entsprechend den generellen Richtlinien des Generalstaatsanwalts zu beenden und Geldauflagen bis zu 350,- Euro aufzuerlegen16. In Schweden schließlich wird die Polizei als Teil des Kriminaljustizsystems gesehen und kann dort in bestimmten minder schweren Fällen eine Geldstrafe verhängen.17 In den Ländern, in denen wie in Deutschland die Polizei dem Legalitätsprinzip verpflichtet ist, kommt der staatsanwaltschaftlichen Ebene die entscheiden___________ 14

Für Deutschland und die Niederlande s. insbes. B. Elsner, Entlastung der Staatsanwaltschaft durch mehr Kompetenzen für die Polizei? Eine deutsch-niederländisch vergleichende Analyse in rechtlicher und rechtstatsächlicher Hinsicht, Göttingen, 2009. 15 C. Lewis, The Prosecution Service Function within the British Criminal Justice System, in: J.-M. Jehle/M. Wade, Coping With Overloaded Criminal Justice Systems, Berlin/Heidelberg/New York, 2006, S. 167. 16 M. Blom/P. Smit, The Prosecution Service Function within the Dutch Criminal Justice System, in: J.-M. Jehle/M. Wade, Coping With Overloaded Criminal Justice Systems, Berlin/Heidelberg/New York, 2006, S. 247 f.; hierzu auch B. Elsner (s.o. Fn 14). 17 J. Zila, The Prosecution Service Function within the Swedish Criminal Justice System, in: J.-M. Jehle/M. Wade, Coping With Overloaded Criminal Justice Systems, Berlin/Heidelberg/New York, 2006, S. 295.

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de Bedeutung zu, was die Erledigung von Strafverfahren angeht. Im europäischen Vergleich werden vier Grundstrukturen sichtbar18: a) Es gibt Länder, in denen die Staatsanwaltschaft weder die Möglichkeit der Verfahrenseinstellung noch die Kompetenz besitzt, irgendwelche Sanktionen dem Straftäter gegenüber anzuordnen. In Übereinstimmung mit einem strikten Legalitätsprinzip hat die Staatsanwaltschaft nur die Funktion die Strafverfahren für die gerichtliche Hauptverhandlung vorzubereiten, kann also das Verfahren allenfalls einstellen bei unbekanntem Straftäter oder mangels Tatverdacht. Dies war vor allem in osteuropäischen Ländern der Fall, wobei sich allerdings auch dort inzwischen Durchbrechungen dieses Prinzips entwickeln (so z.B. in Polen). b) In einigen europäischen Ländern besitzt die Staatsanwaltschaft auch die Entscheidungsbefugnis, von der Strafverfolgung abzusehen, wenn kein öffentliches Interesse besteht. Diese Möglichkeit gibt es auch in Deutschland, verbunden mit der geringen Schuld des Täters – eine Möglichkeit, von der vor allem im Jugendstrafrecht reichlich Gebrauch gemacht wird (§ 45 Abs. 1 JGG). c) Noch weiter gehend haben einige Länder der Staatsanwaltschaft die Kompetenz eingeräumt, Strafverfahren unter der Bedingung einzustellen, dass der Beschuldigte eine Auflage, insbesondere eine Geldauflage, erfüllt. Am ausgeprägtesten findet sich dieses Modell in den Niederlanden mit dem sog. Transaktie-System,19 aber auch in Deutschland mit dem § 153a StPO.20 Die Einstellung erfolgt endgültig, wenn der Beschuldigte die Auflage akzeptiert und erfüllt. Da die Auflage in gewisser Weise „freiwillig“ erfüllt wird, setzt diese Art von „Sanktionen“ keinen Schuldspruch voraus und gilt auch nicht als Bestrafung. d) In Schweden21 und neuerdings auch in den Niederlanden22 kann die Staatsanwaltschaft selbstständig eine Kriminalstrafe, in Form eines Strafbefehls, verhängen. Auch in anderen Ländern, so insbesondere in Deutschland ___________ 18 Vgl. dazu auch P. Tak, Introduction in Tasks and Powers of the Prosecution Services in the EU Member States, Volume I, Nijmegen, 2004, S. 8 ff. 19 M. Blom/P. Smit, The Prosecution Service Function within the Dutch Criminal Justice System, in: J.-M. Jehle/M. Wade, Coping With Overloaded Criminal Justice Systems, Berlin/Heidelberg/New York, 2006, S. 245. 20 Meyer-Goßner, StPO, § 153 a, 51. Aufl., München, 2008. 21 J. Zila, The Prosecution Service Function within the Swedish Criminal Justice System, in: J.-M. Jehle/M. Wade, Coping With Overloaded Criminal Justice Systems, Berlin/Heidelberg/New York, 2006, S. 295. 22 B. Elsner, Entlastung der Staatsanwaltschaft durch mehr Kompetenzen für die Polizei? Eine deutsch-niederländisch vergleichende Analyse in rechtlicher und rechtstatsächlicher Hinsicht, Göttingen, 2009.

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und der Schweiz23, sind vereinfachte Verfahren in Form eines Strafbefehls möglich. Auf der Basis der polizeilichen Ermittlungsarbeit stellt die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt und die verletzten Straftatbestände fest und beantragt eine bestimmte Sanktion, in der Regel eine Geldstrafe. In einem summarischen, rein schriftlichen Verfahren kann das Gericht entweder dem Antrag stattgeben, was in 98 % der Fälle erfolgt,24 oder den Antrag ablehnen; ihn abändern kann es nicht. Die damit verknüpfte Sanktion ist zwar formell eine gerichtliche, funktionell kann man sie aber als staatsanwaltschaftliche bezeichnen, da dem Gericht letztlich nur eine mehr oder weniger formale Kontrolle möglich ist. Schließlich gibt es auch auf gerichtlicher Ebene Tendenzen zur Verfahrensvereinfachung, insbesondere im Zusammenhang mit einem Schuldbekenntnis des Angeklagten. Während wir in Deutschland bis vor kurzem keine gesetzliche Regelung hatten, existiert in England eine lange Tradition der sog. Guiltyplea-Verfahren. Hier profitiert der Beschuldigte, der sich schuldig bekennt, von einer Strafmilderung, weil sein Schuldbekenntnis dazu führt, dass die Beweiserhebung weitgehend entfällt und damit das Verfahren einfacher und kürzer wird. Neuerdings machen sich dem Guilty-plea-Verfahren ähnliche Verfahrensformen auch auf dem Kontinent breit, so insbesondere in Frankreich und in Polen.25 Sie führen entweder dazu, dass keine Hauptverhandlung stattfindet oder die Hauptverhandlung auf das Schuldbekenntnis und die Plädoyers reduziert wird. Gerade auch in dieser Hinsicht zeigt sich, dass sich die inquisitorischen und adversatorischen Systeme einander angleichen.

IV. Methode der Fallbeispiele Kriminaljustizsysteme sind komplexe Funktionszusammenhänge. Sie weisen auf jeder Ebene des Strafverfahrens vielgestaltige Verfahrens- und Entscheidungsmöglichkeiten auf, die zugleich die Übergänge von einer zur anderen Ebene mitbestimmen. Wegen dieser enormen Komplexität kann ein umfassen___________ 23 G. Gilliéron/M. Killias, The Prosecution Service Function within the Swiss Criminal Justice System, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 14, NOS. 2-3, 2008, S. 333 ff. 24 Siehe hierzu B. Elsner/J. Peters, The Prosecution Service Function within the German Criminal Justice System, in: J.-M. Jehle/M. Wade, Coping With Overloaded Criminal Justice Systems, Berlin/Heidelberg/New York, 2006, S. 219. 25 Siehe J. Peters/B. Aubusson de Cavarlay/C. Lewis/P. Sobota, Negotiated CaseSettlement, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 14, NOS. 2-3, 2008, S. 145 ff.; J. Peters, Die gesetzliche Normierung von Absprachen im Strafprozess – Deutsche Gesetzgebungstendenzen im Spiegel europäischer Entwicklungen am Beispiel von England/Wales, Frankreich und Polen, Göttingen, Veröffentlichung vorauss. 2009/10.

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der Vergleich der verschiedenen nationalen Systeme kaum durchgeführt werden. Stattdessen bietet sich an, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten dadurch herauszuarbeiten, dass die Behandlung konkreter Fälle im jeweiligen nationalen System miteinander verglichen wird. Die in unserer Studie ausgewählten Fälle26 repräsentieren eine große Bandbreite von verschiedenen Schweregraden der Delikte: Es beginnt mit einem kleinen Verkehrsdelikt, geht über zu Ladendiebstahl, differenziert nach dem Alter des Täters und wiederholter Begehung, und setzt sich fort mit schwerwiegender Körperverletzung, gefolgt von schwerem Einbruchdiebstahl und Mord. Auf diese Weise kann gezeigt werden, wie solche Fälle in dem entsprechenden Kriminaljustizsystem behandelt werden, so dass die unterschiedlichen Ansätze und Lösungsmöglichkeiten der verschiedenen Systeme vergleichend zu Tage treten.

1. Geschwindigkeitsüberschreitung Fallbeispiel 127: A hat die erlaubte Höchstgeschwindigkeit um 30 km/h überschritten; dies ist sein erstes Delikt. Für die Einordnung des Delikts lassen sich zwei Ländergruppen unterscheiden: Die erste Gruppe definiert den Verstoß als – geringfügige – Straftat, die zweite Gruppe hat den Verstoß entkriminalisiert und behandelt ihn als Ordnungswidrigkeit bzw. als Verwaltungsunrecht oder eigenständiges Bagatelldelikt. Zur ersten Gruppe zählt die Schweiz; dort gilt das Delikt als eine geringe Straftat (Übertretung). In einem vereinfachten Verfahren („Verzeigung“) ermittelt die Polizei und gibt den Fall an den sog. Strafbefehlsrichter weiter, der per Strafbefehl eine Geldstrafe verhängt. Auch in anderen Ländern gilt der Verstoß als Straftat, wird jedoch von der Polizei sanktioniert, und zwar in Form von Katalogstrafen (fixed penalty): so in England, in den Niederlanden (mulder law) und in Schweden. Auch in Frankreich wird der Verstoß als contravention der vierten Klasse von der Polizei sanktioniert, kann aber alternativ vor ein (Polizei-)Gericht gebracht werden, das einen Strafbefehl (ordonnance pénale) erlässt. Eine Besonderheit bildet Polen insofern, als dort mit den sog. wykroczenia eine allgemeine Bagatellvorschrift geschaffen wurde, die bestimmte geringfügige Straftaten aus der Kriminaljustiz ausnimmt und einer besonderen Verfolgung unterwirft. So kann die Polizei das Verkehrsdelikt mit einer Art Kataloggeldbuße sanktionieren oder den Fall an ein Spezialgericht bringen. ___________ 26 Vgl. B. Elsner et al., The Criminal Justice Approach: Case Examples, in European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 14, NOS. 2-3, 2008, S. 123 ff. 27 Vgl. B. Elsner et al. (Fn. 26), S. 125.

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Die zweite Ländergruppe behandelt den Verstoß als Ordnungswidrigkeit bzw. als Verwaltungsunrecht, das direkt von der Polizei bzw. der Verwaltungsbehörde mit einer Sanktion gemäß einem Bußgeldkatalog belegt werden kann. Dazu gehören Deutschland, Spanien, Kroatien und die Türkei. In den meisten Ländern gibt es neben der Geldstrafe bzw. Geldbuße „Maluspunkte“ bezüglich der Fahrerlaubnis. Zusammengefasst lässt sich also feststellen, dass sich die materiellrechtlichen Unterschiede auf Verfahrensebene weitgehend verwischen. Zuständig ist durchweg die Polizei, die im Fall der Strafbarkeit die Rolle der Ermittlungsbehörde vollständig übernimmt. Ganz überwiegend entscheidet sie den Fall auch selbstständig, indem sie eine festgelegte Geldstrafe bzw. Geldbuße auferlegt. Nur in der Schweiz bedarf es für die Sanktion eines richterlichen Aktes in Form eines Strafbefehls.

2. Ladendiebstahl Fallbeispiel 228: Ein erwachsener Ersttäter stiehlt ein Sweatshirt im Wert von 20,- Euro aus einem Warenhaus. Wie Tabelle 1 zeigt, wird dieser Fall in fast allen Ländern als Straftat angesehen. Ausnahmen bilden lediglich Ungarn, das auch diesen Verstoß als Ordnungswidrigkeit definiert, und Polen, wo die Bagatellvorschrift wykroczenia greift. In Polen ermittelt die Polizei unabhängig und bringt den Fall direkt vor ein Spezialgericht, das Geldstrafe oder einen bis zu einmonatigen Arrest verhängt. In den übrigen Ländern kommen vereinfachte Verfahren zur Anwendung, die zum einen von staatlichen Reaktionen absehen und die Reaktion dem Opfer überlassen können (Frankreich, England und Wales) oder auf der polizeilichen Ebene enden – ohne eigentliche Sanktion in England (cautioning), mit Sanktion in Form einer polizeilichen Geldauflage in den Niederlanden (politie transactie). Soweit die Polizei keine Kompetenz zur Verfahrensbeendigung hat, greifen in der Regel staatsanwaltschaftliche Erledigungsformen: Die Staatsanwaltschaft ist berechtigt, den Fall ohne Auflage (so in Deutschland) oder mit Auflage, d.h. in der Regel Geldbuße, einzustellen (so in Kroatien); oder sie ruft förmlich den Beschuldigten „zur Ordnung“ (rappel à la loi in Frankreich) oder sie verhängt einen Strafbefehl (so in Schweden) bzw. beantragt die Anordnung eines Strafbefehls durch das Gericht (so in der Schweiz). Lediglich in Spanien, wo der Fall in einem Schnellverfahren (falta) vor den Ermittlungsrichter kommt, sowie in der Türkei findet eine mündliche Verhandlung statt. ___________ 28 Vgl. B. Elsner et al., The Criminal Justice Approach: Case Examples, Case 2, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 14, NOS. 2-3, 2008, S. 126.

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Zusammengefasst zeigt sich in allen Ländern die Tendenz, die „Normalverfahren“ entweder abzukürzen bzw. zu vereinfachen, vornehmlich indem der Polizei oder der Staatsanwaltschaft zusätzliche verfahrensbeendende Kompetenzen eingeräumt werden. Offensichtlich sind diese Länder einerseits nicht bereit, die Bagatelldelikte aus dem strafrechtlichen Bereich herauszunehmen, andererseits aus Kosten- und Effizienzgründen nicht in der Lage, bei diesen Massendelikten volle ordentliche Strafverfahren durchzuführen. Lediglich in den ehemaligen sozialistischen Ländern Polens und Ungarns ist eine Entkriminalisierung erfolgt. Sie liegt letztlich in der Rechtstradition dieser Länder, welche geringfügige Delikte nicht vor ein ordentliches Gericht, sondern vor sog. Gesellschaftsgerichte (collegia) gebracht hatte. Tabelle 1 Fall 2: Ein erwachsener Ersttäter stiehlt ein Sweatshirt im Wert von 20,- Euro Typus des Verstoßes Minderschwere CH

Straftat (Übertretung)

D

Minderschweres Vergehen

Minderschwere E

Straftat (falta) Minderschwere

EW

Straftat (summary offence) Minderschwere

F

Straftat (delit)

Verfahrenstyp

Reaktionstyp

Vereinfachtes Strafverfahren („Verzeigungsverfahren“): Die StA übermittelt den Fall an den sog. Strafbefehlsrichter, der einen Strafbefehl ausfertigt.

Geldstrafe

Nach polizeilicher Ermittlung entscheidet die StA, ob (mit Auflage) eingestellt oder angeklagt wird.

I.d.R. folgenlose Einstellung (geringe Schuld und mangelndes öffentl. Interesse)

Polizei übermittelt den Fall an den Untersuchungsrichter und die StA. In einem vereinfachten (falta) Verfahren mit mündl. Verhandlung entscheidet der Untersuchungsrichter.

Geldstrafe

Manche Warenhäuser sanktionieren selbst. Wird Fall an die Polizei gegeben, spricht diese eine formelle Verwarnung aus.

Geldzahlung an das Warenhaus (fixed fine) oder polizeil. Verwarnung (caution)

Lediglich zivilrechtl. Sanktion oder die StA bzw. ein „Justizpolizeibeamter“ ruft den Beschuldigten förmlich „zur Ordnung“.

Zivilrechtliche Sanktion oder rappel à la loi Fortsetzung nächste Seite

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Tabelle 1 Fortsetzung

H

HR

Ordnungswidrigkeit

Minderschwere Straftat

Minderschwere NL

Straftat (misdrijven)

PL

Bagatelltat (wykroczenia)

Minderschwere

S

Straftat

TR

Vergehen

Verwaltungsverfahren, ordnungsrechtliche Sanktion: Verwarnung oder Geldbuße

Ordnungsrechtliche Sanktion, wahrscheinl. Verwarnung oder Geldbuße

In einem beschleunigten Strafverfahren übermittelt die Polizei den Fall an die StA, die entweder (mit Auflagen) einstellt oder einen Strafbefehl beantragt.

Wahrscheinl. folgenlose Einstellung

Entweder stellt die Polizei eigenständig oder die StA gegen Geldauflage ein (politie transactie).

Geldbuße (transactie)

Die Polizei ermittelt selbstständig und bringt den Fall nicht vor ein Strafgericht, sondern vor ein Spezialgericht, das sanktioniert.

Geldsanktion oder 5-30 Tage Arrest

Nach eigenständiger polizeil. Ermittlung fertigt die StA einen Strafbefehl aus. Widerspricht der Beschuldigte, geht der Fall ans Gericht.

30 Tagessätze Geldstrafe

Die StA hat nicht die Möglichkeit, den Fall gegen Auflage oder wegen Mediation einzustellen, sondern muss anklagen, so dass das Gericht sanktioniert.

Geldstrafe oder gemeinnützige Arbeit oder Strafaufschub

Variante 2a29: Der erwachsene Ladendieb ist Wiederholungstäter. Wie im Grundfall greift auch hier die Entkriminalisierung in Ungarn (Ordnungswidrigkeit) und in Polen (wykroczenia) mit den entsprechenden Verfahrensweisen. Auch in den übrigen Ländern sind Verfahrensschritte und Reaktionsformen wie im Grundfall möglich, jedoch erfolgt jeweils eine härtere Sanktion. In den Niederlanden ist eine polizeiliche Transaktion nicht mehr möglich, vielmehr handelt es sich um eine staatsanwaltliche Geldauflage oder die Staatsanwaltschaft bringt den Fall in einem schriftlichen Verfahren vor das Gericht. In Schweden wird üblicher Weise eine – höhere – Geldstrafe per staatsanwalt___________ 29

Vgl. B. Elsner et al., The Criminal Justice Approach: Case Examples, Case 2 var. b, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 14, NOS. 2-3, 2008, S. 128.

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schaftlichem Strafbefehl verhängt. In Deutschland wird im Allgemeinen (abhängig von den staatsanwaltschaftlichen Richtlinien der einzelnen Bundesländer) keine folgenlose Einstellung mehr möglich sein; auch eine Einstellung mit Auflage ist nicht üblich; vielmehr dürfte zumeist ein Strafbefehl bei Gericht beantragt werden, der auf Geldstrafe lautet. Ähnliches gilt für die Schweiz, wo aber auch eine kurze Gefängnisstrafe möglich ist, und für Kroatien, sofern eine Geldauflage als nicht ausreichend angesehen wird. Dem gegenüber sind in England und in Frankreich kurze (oft zur Bewährung ausgesetzte) Gefängnisstrafen möglich, wobei in Frankreich als Alternative eine Art Verfahrensbeendigung mit Auflage durch die Staatsanwaltschaft verfügbar ist (composition pénale). Wie im Ausgangsfall verhängt in Spanien im falta-Verfahren der Untersuchungsrichter eine Geldstrafe, ggf. kommt aber auch ein verkürztes Verfahren mit plea bargaining vor dem ordentlichen Gericht in Betracht. Schließlich mündet in der Türkei der Fall in einer gerichtlichen Verurteilung zu einer Geldstrafe oder gemeinnütziger Arbeit, Strafaufschub ist nicht mehr möglich. Zusammengefasst zeigt sich, dass bei wiederholten Bagatelldelikten zunehmend formelle Sanktionen – allerdings im Wege verkürzter bzw. vereinfachter Verfahren – angeordnet werden. Variante 2b30: Ein jugendlicher Ersttäter stiehlt ein Sweatshirt im Wert von 20,- Euro aus einem Warenhaus. Die Verfahren und Reaktionen gegenüber jugendlichen Rechtsbrechern hängen von der Ausgestaltung der Jugendstrafrechtspflege ab. Hier lassen sich im Wesentlichen drei idealtypische Modelle unterscheiden31: Zum einen wird der jugendliche Rechtsbrecher nicht der Strafverfolgung und einem Strafverfahren unterworfen, sondern von sozialen Institutionen und in einer Art familiengerichtlichem Verfahren behandelt. Das gilt besonders für Polen und einige andere osteuropäische Länder, man kann aber Elemente dieses Ansatzes auch z.B. in Schottland finden. Üblicher Weise ist aber dieser Weg, den man als echte „Diversion“ bezeichnen könnte, nicht abschließend; vielmehr werden schwere Delikte wie etwa Mord und Vergewaltigung der Strafverfolgung unterworfen. Beim zweiten Ansatz wird der jugendliche Rechtsbrecher denselben Verfahren wie Erwachsene unterzogen, jedoch in milderer Form bestraft. Dies trifft auf viele europäische Kriminaljustizsysteme zu, wobei gewöhnlich auch alternative Sanktionen Anwendung finden können. Ein dritter Weg besteht schließlich darin, dass der jugendliche Rechtsbrecher zwar von der Strafjustiz betroffen ist, ___________ 30 Vgl. B. Elsner et al., The Criminal Justice Approach: Case Examples, Case 2 var. a, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 14, NOS. 2-3, 2008, S. 127. 31 Siehe näher J.-M. Jehle/C. Lewis/P. Sobota, Dealing with Juvenile Offenders in the Criminal Justice System, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 14, NOS. 2-3, 2008, S. 237 ff.

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aber besonderen Verfahrensformen und Gerichten unterliegt. Als Modell hierfür kann man die Verfahren und Institutionen des deutschen Jugendgerichtsgesetzes ansehen. Entsprechend diesen unterschiedlichen Modellen lassen sich verschiedene Verfahrensformen und Reaktionen auf den Ladendiebstahl eines Jugendlichen unterscheiden; sie werden zum Teil überlagert von dem generellen Ansatz zur Behandlung von Bagatelldelikten. Wie bei dem Grundfall gilt in Ungarn der Verstoß als Ordnungswidrigkeit, der bei Jugendlichen eine Verwarnung nach sich zieht. In Polen bringt die Polizei den Fall vor das Familiengericht, das eine Ermahnung ausspricht bzw. im Wiederholungsfall eine erzieherische Maßnahme auferlegt. Auch in fast allen übrigen Ländern wird eine formelle Verurteilung vermieden, vielmehr mit einer Art informeller Reaktion geantwortet. Sie betrifft einmal einen Verweis auf polizeilicher Ebene (so in England: caution/reprimand); in den Niederlanden übermittelt die Polizei den Fall an eine besondere sozialarbeiterische Einrichtung, ein sog. Halt-Büro, das ggf. erzieherische Maßnahmen mit dem Beschuldigten vereinbart. Deutschland, Kroatien, Schweden und Spanien siedeln die Entscheidungskompetenz auf staatsanwaltschaftlicher Ebene an: Üblicher Weise stellt die Staatsanwaltschaft folgenlos Einstellung, ggf. wird die Einstellung mit Auflage (v.a. Mediation und gemeinnützige Arbeit) verknüpft. Dagegen ist in der Schweiz ein förmlicher Abschluss mit einem Verweis in einem vereinfachten Verfahren vorgesehen, und schließlich ist in der Türkei eine gerichtliche Sanktion in Form von gemeinnütziger Arbeit oder Geldbuße, aber auch ein Aufschub der Anklage oder ein Strafaufschub möglich. Insgesamt erweist sich, dass bei der Behandlung von Bagatelldelikten Jugendlicher sich die grundsätzlichen Unterschiede der jeweiligen Jugendstrafrechtspflege kaum auswirken, vielmehr fast alle Systeme eine förmliche Bestrafung des Jugendlichen zu vermeiden versuchen, indem sie entweder folgenlos einstellen, einen Verweis erteilen oder mit informellen erzieherischen Maßnahmen reagieren.

3. Körperverletzung Fallbeispiel 332: Zwei Erwachsene, die sich zuvor nicht kannten, geraten in einer Gaststätte in Streit. A verletzt den B mit einer Glasflasche im Gesicht. Die Wunde muss genäht werden und B ist für drei Tage arbeitsunfähig. ___________ 32 Vgl. B. Elsner et.al, The Criminal Justice Approach: Case Examples, Case 3, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 14, NOS. 2-3, 2008, S. 129.

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Anders als bei einer einfachen Körperverletzung, deren strafrechtliche Behandlung wie beim Ladendiebstahl zwischen den verschiedenen Kriminaljustizsystemen deutliche Unterschiede aufweist, nähern sich bei der Körperverletzung unter erschwerten Umständen die Einordnung des Delikts, Verfahrensarten und Kompetenzen einander an, stärkere Variationen gibt es lediglich bei der Art der Reaktion bzw. Strafe. So ist fast überall (mit Ausnahme der Türkei, die nur einen einheitlichen Deliktstyp kennt) der Verstoß als Straftat mittlerer Schwere (Vergehen, delit, delito, misdrijven, summary offence etc.) eingestuft. Die Polizei übernimmt die Ermittlungsarbeit und legt das Ergebnis der Staatsanwaltschaft (bzw. in England dem Gericht) vor, die in der Regel Anklage erhebt oder einen Strafbefehl beantragt. In manchen Ländern ist stattdessen unter bestimmten Umständen auch eine Einstellung mit Auflage (häufig: Wiedergutmachungsleistung) möglich: so in Deutschland, Frankreich (composition pénale), Kroatien, Niederlande (transactie) und Ungarn. In der Schweiz, der Türkei und in Polen (hier gibt es allerdings auch die Ausnahme der Privatklage) ist ein gerichtliches Verfahren zwingend. Sofern es zu einer gerichtlichen Verurteilung kommt, was insbesondere bei Wiederholungstätern in allen Ländern üblich ist, wird regelmäßig eine kurze Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt und mit einer Wiedergutmachungsleistung bzw. mit gemeinnütziger Arbeit verknüpft werden kann, verhängt. Variante 3a33: Die im Fall 3 beschriebene Körperverletzung wird von einem Jugendlichen an einem anderen Jugendlichen verübt. Hier gibt es sowohl hinsichtlich der Verfahren als auch der Reaktionen eine größere Variation, die zum Teil der unterschiedlichen Struktur der Jugendstrafrechtpflege geschuldet ist (s. 2.). Abhängig davon, wie die Persönlichkeit des Täters eingeschätzt wird, insbesondere ob er Wiederholungstäter ist oder nicht, kommt neben einem formellen gerichtlichen Verfahren auch eine informelle Verfahrensbeendigung in Bertacht. Polen behandelt diesen Fall, wie generell jugendliche Delikte (ausgenommen schwere Straftaten), ganz außerhalb des Kriminaljustizsystems: Die Polizei bringt den Fall vor das Familiengericht, das den Täter verwarnt oder ihm im Wiederholungsfall eine erzieherische Maßnahme auferlegt, ihn im Extremfall sogar stationär unterbringt. Die staatsanwaltschaftliche Verfahrenserledigung, die in Deutschland, Kroatien und Spanien möglich ist, verbindet sich zumeist mit der Auferlegung eines Täter-OpferAusgleichs oder gemeinnütziger Arbeit. In England kommt anstelle einer gerichtlichen Sanktion ein informelles Verfahren vor einem „youth offending panel“ in Betracht. Soweit gerichtliche Sanktionen erforderlich sind (ein gerichtliches Verfahren ist obligatorisch in Frankreich, den Niederlanden, Schweden, ___________ 33

Vgl. B. Elsner et al., The Criminal Justice Approach: Case Examples, Case 3 var. a, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 14, NOS. 2-3, 2008, S. 130.

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der Schweiz und der Türkei), werden in der Regel erzieherische Maßnahmen angeordnet. Nur ausnahmsweise ist bei Wiederholungstätern eine Freiheitsstrafe, dann aber in der Regel zur Bewährung ausgesetzt, möglich.

4. Schwere Straftaten Als Beispiele für schwerere bzw. schwerste Straftaten wurden in unserer Studie bandenmäßiger Einbruchsdiebstahl und Mord ausgewählt.34 Hier zeigt sich, dass abgesehen von einer Einstellung mangels hinreichenden Tatverdachts eine außergerichtliche Erledigung in allen Systemen ausscheidet. Vielmehr kommt es bei diesen Delikten stets zu einer Anklage und einer Hauptverhandlung, die durchweg eine gerichtliche Verurteilung zu einer längeren bzw. langen Freiheitsstrafe zur Folge hat. Unterschiede ergeben sich nur hinsichtlich der Modalitäten der Hauptverhandlung. So existieren in einigen Ländern aufgrund von plea bargaining oder Urteilsabsprachen verkürzte Formen der Hauptverhandlung, insbesondere ohne eigentliche Beweisaufnahme; dies ist in England selbst bei schwersten Straftaten möglich, anders als in Frankreich und Polen, wo aufgrund von Schuldanerkenntnis verkürzte Verfahren auf Straftaten geringer bis mittlerer Schwere begrenzt sind.35

V. Resümee Die Methode der Fallbeispiele hat – wie gezeigt – eine wichtige Funktion, wenn man international Strukturen und Verfahren der jeweiligen Strafrechtspflege miteinander vergleicht. Sie lassen die Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten konkret hervortreten. Allerdings erklären sich diese Verschiedenheiten nicht auch sich heraus; vielmehr bedarf es dazu ergänzend einer komplexeren Darstellung des jeweiligen nationalen Kriminaljustizsystems. Um dem Untersuchungsgegenstand umfassend gerecht werden zu können, erscheint mithin eine Methodenvielfalt angemessen, wie sie auch in der vorliegenden Studie Anwendung gefunden hat. Was die Ausgangsthese betrifft, so konnte demonstriert werden, dass in der Tat sich infolge von hoher Fallbelastung in allen untersuchten Ländern Verfahrensverkürzungen und -vereinfachungen entwickelt haben. Im internationalen ___________ 34 Vgl. B. Elsner et al., The Criminal Justice Approach: Case Examples, Case 4 u. 5, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 14, NOS. 2-3, 2008, S. 131 f. 35 J. Peters, Die gesetzliche Normierung von Absprachen im Strafprozess – Deutsche Gesetzgebungstendenzen im Spiegel europäischer Entwicklungen am Beispiel von England/Wales, Frankreich und Polen, Göttingen, Veröffentlichung vorauss. 2009/10.

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Vergleich zeigen sich also starke Tendenzen, die zu Angleichungen der Systeme und zu einer zunehmenden Informalisierung des Strafverfahrens führen. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten gilt es, dieser problematischen internationalen Tendenz entgegenzuwirken. Wenn man nicht will, dass sämtliche bisher als Straftaten definierte Verstöße einem vollumfänglichen Strafverfahren zugeführt werden, bleibt nur als saubere rechtsstaatliche Lösung die materiellrechtliche Entkriminalisierung, d.h. die Herabstufung von Bagatellstraftaten zu Ordnungswidrigkeiten oder Verstößen eigener Art, wie sie z.B. in Polen mit der Kategorie der wykroczenia etabliert worden sind. Denn es macht wenig Sinn, Verstöße dem Kriminaljustizsystem zuzuführen, sie aber daraus mittels verwaltungsmäßiger Erledigung alsbald wieder auszuleiten.

Zum sog. „unerlaubten“ Risiko Von Urs Kindhäuser

I. Zielsetzung 1. In seiner für die neuere Lehre von der objektiven Zurechnung1 wegweisenden Schrift „Kausalität und objektive Zurechnung“2 aus dem Jahr 1930 erinnerte Honig an eine fundamentale, aber einfache Einsicht: Normen werden durch Handlungen befolgt. Daher kann eine Person nur dann für einen von ihr verursachten Schadenserfolg strafrechtlich verantwortlich gemacht werden, wenn sie diesen Erfolg um der Normbefolgung willen durch ihr Handeln gezielt hätte vermeiden können. Allerdings war Honig noch dem sog. kausalen Verbrechensaufbau verhaftet, dem zufolge sich das tatbestandliche Unrecht in der Verursachung eines Erfolgs erschöpft und erst im Rahmen der Schuld geprüft wird, ob der individuelle Täter zur Vermeidung des Erfolgs kraft seiner Handlungs- und Motivationsfähigkeit in der Lage gewesen wäre. Um gleichwohl schon auf Tatbestandsebene zu einer Begrenzung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auf vermeidbare Erfolgsverursachungen zu gelangen, bezog Honig die Handlungspflicht auf einen fingierten Normadressaten.3 Er nannte diese Zurechnung objektiv, weil sie sich noch nicht auf die Fähigkeiten des konkreten Täters, sondern auf eine mit durchschnittlichen Fähigkeiten ausgestattete Maßstabsfigur bezog. Dass die Bestimmung der Handlungspflicht durch einen fingierten Normadressaten jedenfalls beim Vorsatzdelikt überflüssig ist, hat sich in der Folgezeit ___________ 1

In seiner Abhandlung „Zur strafrechtssystematischen Funktion des Begriffs der objektiven Zurechnung“ (FS Koichi Miyazawa, 1995, S. 465 ff.) überprüft Manfred Maiwald kritisch, ob die Lehre von der objektiven Zurechnung ihre Ergebnisse an der deliktssystematisch adäquaten Stelle erzielt. Hieran knüpfen die nachfolgenden Überlegung in einer Detailfrage an und müssen sich dabei, um den vorgegebenen Umfang nicht zu verlassen, auf einen kleinen Ausschnitt des Schrifttums beschränken. 2 FS Frank, 1930, S. 174 ff. 3 Inkonseqent – oder seiner Zeit voraus – war Honig aber insoweit, als er das Unterlassungsdelikt schon auf Tatbestandsebene an der individuellen Handlungsfähigkeit anrichtete (FS Frank, S. 191 f.). Nicht übersehen werden darf in diesem Kontext auch, dass Honig bereits die semantische Dimension der Zurechnung und damit die Interpretation eines Verhaltens als Handlung unter einer bestimmten Beschreibung in den Zurechnungskontext einbezog, freilich nur marginal (zum „vergessen“ ebda.).

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auf der Basis unterschiedlicher Ansätze4 als fast schon selbstverständlich durchgesetzt. Der Gesetzgeber hat dem mit der Regelung des § 16 StGB, der implizit das erforderliche Tatwissen als notwendiges Element der Handlungsfähigkeit ausweist, bereits für die lex lata Rechnung getragen. Rechtsgüter werden nicht durch fingierte, sondern nur durch reale Personen geschützt. Richtig ist daher, dass die Bestimmung der Handlungspflicht unter der Fragestellung vorzunehmen ist, wie sich ein rechtstreuer Bürger in der Entscheidungssituation des Täters verhalten müsste. Nur muss dieser rechtstreue Bürger auch mit dem Kenntnisstand und den physischen Fähigkeiten des konkreten Täters ausgestattet sein. Denn von dem jeweiligen konkreten Täter wird ja verlangt, dass er als rechtstreuer Bürger seine Fähigkeiten zur Vermeidung von tatbestandlich genannten Schäden nach Maßgabe der entsprechenden Ge- und Verbote einsetzt. Was ein rechtstreuer Bürger auch beim besten Willen nicht vermeiden kann, kann durch Normen, die sich an den Willen des Einzelnen richten, auch nicht geschützt werden. 2. Obgleich nach der heute ganz vorherrschenden Doktrin beim Vorsatzdelikt nur individuell vermeidbare Erfolge als pflichtwidrige Tatbestandsverwirklichung zurechenbar sind, ist die Auffassung verbreitet, auch bei dieser Deliktsform sei eine objektive Zurechnung erforderlich. Allerdings ist die hier ins Spiel gebrachte „objektive Zurechnung“ keine geradlinige Fortentwicklung der Lehre Honigs. Vielmehr wird das Zurechnungskriterium der objektiven Bezweckbarkeit der Erfolgsvermeidung, also das Erfordernis eines Handlungszusammenhangs zwischen Täterverhalten und Erfolg, durch eine Modifikation des Kausalzusammenhangs ersetzt.5 Honig hatte dagegen eindringlich die Ansicht vertreten, dass ein Kausalverlauf nur der Gegenstand und nicht der Grund strafrechtlicher Zurechnung sein könne; Grund der Zurechnung sei vielmehr die Möglichkeit finaler Vermeidung des schädigenden Kausalverlaufs.6 Unter „objektiver Zurechnung“ verstehen die heutigen Befürworter dieses Zurechnungskriteriums eine höchst ausgefeilte Modifikation der Lehre von der adäquaten Kausalität. Die sog. Adäquanztheorie wollte zunächst den strafrechtlich relevanten Ursachenzusammenhang zwischen Täterverhalten und Erfolg auf Kausalverläufe beschränken, die sich im Rahmen der Alltagserwartung bewegen.7 Die Lehre von der objektiven Zurechnung zieht nun die Grenzen strafrechtlich relevanter Kausalverläufe noch erheblich enger, indem sie drei Anfor___________ 4

Vgl. nur Hruschka, FS Reimers, 1979, S. 459 ff.; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, Abschn. 6/67 ff.; Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954, S. 160 ff. 5 Vgl. nur Roxin AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn 42 f. 6 FS Frank, 1930, S. 192 ff. 7 Zur Kritik dieser Konzeption Honig, FS Frank, 1930, S. 194 ff.; aus heutiger Sicht vgl. nur Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1991, 7/34.

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derungen stellt: Die Verursachung eines Erfolgs soll nur dann mit der Konsequenz einer objektiven Tatbestandsverwirklichung objektiv zurechenbar sein, wenn – erstens der Täter das Risiko eines tatbestandlichen Erfolgseintritts objektiv erhöht hat, – zweitens dieses Risiko als rechtlich unerlaubt anzusehen ist und – drittens das Risiko sich im Erfolgseintritt realisiert hat.8 Im Folgenden soll die zweite dieser Voraussetzung, dass das vom Täter geschaffene Risiko „unerlaubt“ sein müsse9, ein wenig näher und kritisch betrachtet werden.

II. Funktion des „erlaubten“ Risikos 1. Wenn die Lehre von der objektiven Zurechnung fordert, dass der Täter ein unerlaubtes Risiko als Voraussetzung der Zurechenbarkeit eines Erfolgs geschaffen haben müsse, so geht es um die Bewertung einer Ursache. Ein Risiko ist ein Komplex von Bedingungen, der nach einschlägigen Kausalgesetzen die Prognose eines Schadenseintritts mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erlaubt.10 Tritt der Schaden ein und kann dies unter Heranziehung des das Risiko konstituierenden Bedingungskomplexes kausal erklärt werden, so hat sich das Risiko im Schaden realisiert. Risikofaktoren und Schadensursachen sind identisch und werden nur aus unterschiedlicher zeitlicher Perspektive in den Blick genommen. Insoweit unterteilt also die Lehre von der objektiven Zurechnung die Ursachen eines Erfolgs in erlaubte Ursachen und unerlaubte Ursachen. Und zwar mit folgender Konsequenz: Wer eine erlaubte Ursache setzt, verwirklicht nicht den objektiven Tatbestand eines Delikts. Die Lehre von der objektiven Zurechnung will nun keineswegs die Unterscheidung zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit preisgeben. Vielmehr differenziert sie zwischen zwei Arten von erlaubten Erfolgsverursachungen. Zum einen soll es Ursachen geben, die aufgrund ihres Erlaubtseins bereits der Annahme einer Tatbestandsverwirklichung entgegenstehen; wer solche Ursachen setzt, handelt überhaupt nicht strafrechtlich relevant. Ursachen dieser Art werden als erlaubte Risiken bezeichnet und begründen per se keine ___________ 8

Beispielhaft Roxin AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn 47. Zu einer Kritik der beiden anderen Thesen Kindhäuser, GA 2007, 447 ff. und ZStW 120 (2008), 481 ff. 10 Dahinstehen mag hier, dass der Begriff des Risikos zudem noch handlungsleitende Elemente enthält, also kein rein theoretischer, sondern ein praktischer Begriff ist, hierzu Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 201 ff. m.w.N. 9

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Folgenverantwortung.11 Zum anderen gibt es Verursachungen, die zwar tatbestandsmäßig und im Allgemeinen auch verboten sind, die aber aufgrund einer spezifischen Rechtfertigungslage ausnahmsweise erlaubt sind. Zu diesen aufgrund einer spezifischen Rechtfertigungslage erlaubten Erfolgsverursachungen gehört etwa die Verletzung eines Angreifers in einer Notwehrsituation. 2. Nun ist es schon nach der lex lata möglich, dass man einen kausalen Beitrag für einen tatbestandlichen Erfolg leisten kann, ohne zugleich strafrechtliches Unrecht zu verwirklichen. Im kausalen Netz des sozialen Lebens sind Verhaltensweisen auf vielfältige Weise miteinander verknüpft. Deshalb haftet strafrechtlich nur, wer aufgrund seiner Kenntnisse und physischen Fähigkeiten in der Lage ist, die (unmittelbare12) Verursachung eines Erfolgs um der Normbefolgung willen gezielt zu vermeiden. Schon aufgrund dieser Voraussetzungen wird vom Strafrecht nur ein winziger Bruchteil der faktischen Mitverursachung von Erfolgen erfasst. Die objektive Zurechnungslehre will jedoch über diese bereits von der lex lata vorgegebenen täterschaftlichen Kriterien hinaus den Kreis potenzieller Tatbestandsverwirklichung noch weiter einschränken. Es sollen etwa auch Verhaltensweisen, welche die formalen Voraussetzungen einer vorsätzlichen täterschaftlichen Tatbestandverwirklichung erfüllen könnten, als nicht tatbestandsmäßig ausgewiesen werden. Und dies soll wiederum dann der Fall sein, wenn sich das fragliche Verhalten im Rahmen eines erlaubten Risikos bewegt. 3. Zur näheren Bestimmung der Erlaubnis zur Risikoschaffung werden ganz unterschiedliche Kriterien angeführt, von denen nur die meistgenannten erwähnt seien.13 Besonderes Gewicht wird der Einhaltung von Sicherheitsregeln in Gefahrenbereichen beigemessen. So soll etwa derjenige, der einen Unfall verursacht, obgleich er sich an die geltenden Regeln des Straßenverkehrs gehalten hat, nicht den objektiven Tatbestand eines Verletzungsdelikts verwirkli___________ 11 Vgl. nur Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1991, 7/35 ff.; Roxin AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn 44 ff. 12 Die erforderliche Kausalität wird maßgeblich durch die tatbestandliche Beschreibung bestimmt. So ist die Zeugung eines späteren Totschlägers zwar eine Ursache für den Tod des von dem Kind getöteten Opfers. Aber diese Verursachung ist keine „Tötung“ i.S.v. § 212 StGB, weil die Zuschreibung eines Verhaltens unter dieser Beschreibung dem Grund nach nur möglich ist, wenn zwischen Verhalten und Erfolg eine „dadurch-dass-Relation“ besteht. Gleiches gilt für die Produktion von Gegenständen jeder Art. Es lässt sich nicht sagen, der Fabrikant F, habe jemanden dadurch getötet, dass er ein Messer hergestellt hat, mit dem eine andere Person das Opfer erstochen hat. Daher müssen Kriterien, welche die Haftung für fremdes Verhalten normativ ausdehnen (mittelbare Täterschaft, Mittäterschaft, Teilnahme) begründet werden – und nicht etwa bedarf umgekehrt das Setzen beliebiger Ursachen für beliebige Erfolge einer normativen Begrenzung, wie sie die Lehre von der objektiven Zurechnung anstrebt. 13 Vgl. nur Roxin AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn 44 ff. m.w.N.

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chen. Ferner sollen die Schadensfolgen eines sozial adäquaten oder rollengemäßen Verhaltens generell ungeeignet sein, einen objektiven Tatbestand zu erfüllen. Schließlich soll es einer Tatbestandsverwirklichung entgegenstehen, wenn der Verletzte in das riskante Täterverhalten rechtswirksam eingewilligt hat oder wenn er das Risiko einer Verletzung nach den Grundsätzen des Handelns auf eigene Gefahr selbst übernommen hat. Diese bunte Mischung an Kriterien für erlaubte Risiken beruht ersichtlich auf keinem einheitlichen Prinzip. Vielmehr kommen hier ganz unterschiedliche Aspekte strafrechtlicher Wertungen zusammen, die es erforderlich machen, jedes der genannten Kriterien genauer zu analysieren. Im Folgenden sei aufgezeigt, dass es rechtstheoretisch vier sehr unterschiedliche Möglichkeiten gibt, aufgrund derer der Anwendungsbereich einer Norm reduziert sein kann, nämlich: – durch die nur begrenzten Fähigkeiten ihres Adressaten, sie zu befolgen, – durch ihre inhaltliche Reichweite, – durch kollidierende Normen und – durch Gründe, die ihre Geltung ganz oder teilweise aufheben. Insoweit stellt sich die Frage, welchen dieser vier Möglichkeiten die genannten Kriterien für erlaubte Risiken jeweils zuzuordnen sind und ob sie die Voraussetzungen dieser Einschränkungen auch erfüllen. Es wird sich erweisen, dass dies weitgehend nicht der Fall ist.

III. Norm und Zurechnung 1. Ein erstes Prinzip, aus dem sich erhebliche Einschränkungen strafrechtlicher Verantwortlichkeit ergeben, ist der Grundsatz ultra posse nemo obligatur:14 Über sein Können hinaus ist niemand verpflichtet. Dieses Prinzip gewinnt seine Bedeutung im Strafrecht mit Blick auf die Fähigkeit zur Befolgung strafrechtlicher Normen. Zu den Voraussetzungen, unter denen jemand bestraft werden darf, gehört, dass er sich rechtswidrig verhalten hat, dass er sich also nicht so verhalten hat, wie er sich von Rechts wegen hätte verhalten sollen. Wie man sich nicht verhalten soll, ergibt sich aus den Deliktstatbeständen des Besonderen Teils, die in kontradiktorischer Formulierung das Geschehen, das nicht sein soll, umschrei___________ 14 So die übliche Kurzfassung der von Ulpian im 47. Buch der Digesten überlieferten Formel: „nulla iniuria est, quae in volentem fiat“ (D. 47, 10. 1. 5). Zur normtheoretischen Analyse des Verhältnisses von Können und Sollen vgl. Hruschka, FS Reimers, 1979, S. 459 ff.

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ben. Dem Tatbestand etwa, dass die Verursachung des Todes eines Menschen strafbar ist, lässt sich die Norm entnehmen, dass die Verursachung des Todes eines Menschen nicht sein soll. Diese Normen werden durch Handlungen befolgt. Insoweit ergibt sich aus der Norm des Tötungsverbots die Handlungspflicht, sich nicht so zu verhalten, dass hierdurch der Tod eines Menschen verursacht wird. Oder umgekehrt formuliert: Eine Person handelt pflichtwidrig, wenn sie sich nicht so verhält, dass sie die Verursachung des Todes eines Menschen vermeiden kann. In dieser Konstruktion wird durch den Begriff der Pflicht die Bindung einer Person an eine Norm aufgrund ihrer Handlungsfähigkeit zum Ausdruck gebracht. Das allgemeine Sollen der Norm wird also durch die Möglichkeit, sie handelnd zu befolgen, zu einer bestimmten Pflicht konkretisiert. Daher ist die Pflichtverletzung zugleich der strafrechtlich relevante Grund, um jemandem die Realisierung des Geschehens, das nicht sein soll, zuzurechnen. In der der strafrechtlichen Terminologie ist es auch üblich, die Pflichtverletzung als „Handlungsunrecht“ und die Verwirklichung des objektiven Deliktstatbestands als „Erfolgsunrecht“ zu bezeichnen. Genauer gesagt: Das Erfolgsunrecht ist der Gegenstand, das Handlungsunrecht ist der Grund strafrechtlicher Zurechnung. Der Grundsatz ultra posse nemo obligatur besagt nun, dass niemand über seine Handlungsfähigkeit hinaus an eine Norm gebunden ist. Die Handlungsfähigkeit ist zwar keine Grenze des Erfolgsunrechts, wohl aber eine Grenze der Pflicht zur Vermeidung von Erfolgsunrecht und damit eine Grenze der strafrechtlichen Zurechenbarkeit von Erfolgsunrecht. 2. Im hiesigen Kontext ist von Bedeutung, dass fehlende Handlungsfähigkeit nicht von vornherein von Verantwortlichkeit befreit, sondern nur dann, wenn der Betreffende seine Unfähigkeit nicht selbst zu vertreten hat. Ein Beispiel: Wer bei einer Wanderung im Gebirge Steine lostritt, die herabrollen und Wanderer auf einem tiefer gelegenen Weg verletzen, kann sich nicht mit dem Argument entlasten, er habe das Lostreten der Steine nicht bemerkt, weil er ganz in Gedanken versunken gewesen sei. Denn von jemandem, der Anhaltspunkte dafür hat, dass andere Personen durch herabfallende Steine verletzt werden können, wird erwartet, dass er sich konzentriert und vorsichtig bewegt. Solche Erwartungen in die Handlungsfähigkeit werden Sorgfaltsregeln genannt, woraus sich das allgemeine Zurechnungsprinzip ergibt, dass sich jemand auf seine mangelnde Handlungsfähigkeit zur Befolgung einer Norm nicht berufen kann, wenn er bei Einhaltung des von ihm erwarteten Maßes an Sorgfalt handlungsfähig gewesen wäre. Dies verlangt für die Zurechnung eines Erfolges einen doppelten Prüfungsschritt: Zunächst muss festgestellt werden, ob die Handlungsunfähigkeit auf einem Sorgfaltsverstoß beruht. Und sodann ist zu fragen, ob der Erfolg bei Einhaltung der erwarteten Sorgfalt auch tatsächlich vermeidbar gewesen wäre.

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3. Diese alltägliche Zuschreibung von Verantwortung ist im Strafrecht unter dem Begriff der Fahrlässigkeitshaftung bekannt. Von einem rechtstreuen Normadressaten wird nicht nur erwartet, dass er Erfolge, die er für wahrscheinlich hält, vermeidet. Von ihm wird auch erwartet, dass er dafür Sorge trägt, wahrscheinliche Erfolgsverursachungen durch sein Verhalten rechtzeitig erkennen zu können, um so Schädigungen zu vermeiden.15 Die für die strafrechtliche Fahrlässigkeitshaftung entscheidende Frage lautet nun: In welchem Maße muss der Adressat einer Norm für seine Fähigkeit zur Vermeidung von Erfolgen Sorge tragen? In der heutigen Gesellschaft, die in der Soziologie auch als Risikogesellschaft bezeichnet wird, gewinnt das Problem insbesondere in den vielfältigen Lebensbereichen, die mit erheblichen Gefahren verbunden sind, großes Gewicht. Beispielhaft erwähnt seien nur der Straßenverkehr, die Energiewirtschaft oder die Produktion von Chemikalien. In solchen Gefahrenbereichen ist der Mensch selbst bei Aufbietung optimaler technischer Möglichkeiten nicht in der Lage, den Eintritt von Schäden völlig zu vermeiden. Akzeptiert man die Existenz solcher Gefahrenbereiche trotz möglicher Schäden wegen ihrer globalen Nützlichkeit, so muss entschieden werden, welche Schäden dem Gefahrenbereich und welche Schäden menschlichem Versagen zugerechnet werden sollen. Am Beispiel des motorisierten Straßenverkehrs lässt sich eine solche Entscheidung recht gut ablesen: Man verlangt für die Teilnahme zunächst den Nachweise grundlegender Kenntnisse und physischer Fähigkeiten als Voraussetzung einer Fahrerlaubnis. Sodann gibt es vielfältige allgemeine Sicherheitsregeln über korrektes Fahrverhalten, aber auch eine Fülle situationsbezogener Verhaltensanweisungen, wie etwa Geschwindigkeitsbeschränkungen, Vorfahrtsregeln usw. Wer sich nun im Straßenverkehr nicht an die zu beachtenden Sicherheitsregeln hält, geht das Risiko ein, nicht in dem Maße zur Vermeidung von Schäden fähig zu sein, wie es von einem gewissenhaften Teilnehmer dieses Gefahrenbereichs von Rechts wegen erwartet wird. Kommt es zu einem Unfall, der sich bei Einhaltung der entsprechenden Sicherheitsregeln hätte vermeiden lassen, so kann sich der Verkehrsteilnehmer nicht zu seiner Entlastung auf seine mangelnde Vermeidefähigkeit berufen. Er hat vielmehr für den von ihm verursachten tatbestandlichen Schaden strafrechtlich einzustehen. Der Schaden wird also seinem menschlichen Versagen und nicht dem Gefahrenbereich des Straßenverkehrs zugerechnet. Hält sich ein ___________ 15

Ob diese Regeln aus der Verhaltensnorm (so Hruschka, Strafrecht nach logischanalytischer Methode, 2. Aufl. 1988, S. 415 ff.; ders., FS Bockelmann, 1979, S. 421, 426 ff.) oder aus dem Zweck der Sanktionsnorm (vgl. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 65 ff.) ableiten lassen, mag wegen ihrer evidenten Berechtigung hier offen bleiben.

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Verkehrsteilnehmer dagegen an die Sicherheitsregeln, so werden ihm Schäden, deren Verursachung er gleichwohl nicht vermeiden kann, nicht zugerechnet. Exemplarisch: Ein Kraftfahrer hält in einem bestimmten Straßenabschnitt die zulässige Höchstgeschwindigkeit ein; plötzlich rennt ein Fußgänger auf die Straße, der von dem Pkw erfasst wird und zu Tode kommt. Wenn der Kraftfahrer in diesem Fall statt der erlaubten 80 km/h nur 20 km/h gefahren wäre, hätte er rechtzeitig bremsen oder ausweichen können. Der Unfall wäre also für ihn durchaus vermeidbar gewesen, wenn er in höherem Maße für die hierfür erforderliche Handlungsfähigkeit gesorgt hätte, zumal ein solches Verhalten von Fußgängern nicht außerhalb der Lebenserfahrung liegt. Jedoch wird von dem Kraftfahrer dieses erhöhte Maß an Vermeidefähigkeit nicht erwartet, weil ihm durch die Angabe der Höchstgeschwindigkeit erlaubt wurde, in einem bestimmten Maße handlungsunfähig zu sein. Dieses Maß an Handlungsunfähigkeit wird nicht dem Kraftfahrer, sondern den Gefahren des Straßenverkehrs zugerechnet. Da diese Gefahren erlaubt sind, kann man insoweit von der Realisierung eines „erlaubten“ Risikos sprechen. Es wäre ein Selbstwiderspruch des Rechts, wenn es einem Kraftfahrer einerseits gestattete, in einem bestimmten Maße vermeideunfähig zu sein, ihm aber andererseits die aus der mangelnden Vermeidefähigkeit resultierenden Schadensfolgen zurechnete. 4. Aus diesen Überlegungen folgt: Schäden, die sich auch bei Einhaltung der in einem Gefahrenbereich erwarteten Sicherheitsregeln nicht vermeiden lassen, sind ihrem Verursacher nicht zurechenbar. Das erlaubte Risiko ist gewissermaßen das „Restrisiko“, das sich in einem Gefahrenbereich auch bei Aufbietung der erwarteten Sorgfalt nicht ausschließen lässt. Das erlaubte Risiko ist damit die Kehrseite eines Sorgfaltsverstoßes: Wer erlaubt riskant handelt, handelt nicht sorgfaltswidrig. Und umgekehrt: Wer sorgfaltswidrig handelt, handelt unerlaubt riskant. Angewandt auf die Differenzierung zwischen Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht bedeutet dies nun: Das erlaubte Risiko schließt nicht das Erfolgsunrecht aus. Es wäre schief, in der Schaffung eines erlaubten Risikos eine Erlaubnis zur Verursachung eines Erfolgs zu sehen. Die Einhaltung einer zulässigen Hochgeschwindigkeit gibt kein Recht, einen anderen Verkehrsteilnehmer zu töten, wie etwa die Notwehrbefugnis das Recht gibt, einen Angreifer zu verletzen. Anders als die Verletzung eines Angreifers in Notwehr ist daher die Tötung eines Menschen im Straßenverkehr objektives Erfolgsunrecht. Das erlaubte Risiko schließt vielmehr nur das Handlungsunrecht aus. Wer erlaubt riskant handelt, handelt nicht pflichtwidrig, mit der Folge, dass er für das von ihm verursachte Erfolgsunrecht nicht einzustehen hat. Er hat das Erfolgsunrecht nicht fahrlässig verwirklicht. Daraus ergibt sich aber auch, dass es beim Vorsatzdelikt kein erlaubtes Risiko in dem genannten Sinne geben kann. Die Einhaltung von Sorgfaltsregeln

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entlastet nur von dem Vorwurf, nicht in hinreichendem Maße handlungsfähig gewesen zu sein. Wer dagegen vermeidefähig ist und gleichwohl einen für wahrscheinlich erkannten Erfolg verursacht, handelt stets pflichtwidrig. Ein Kraftfahrer, der einen Fußgänger verletzt, obwohl er ohne weiters in der Lage war, dies zu vermeiden, handelt vorsätzlich und bewegt sich nicht etwa im Rahmen eines erlaubten Risikos. Insoweit ist die These der objektiven Zurechnungslehre verfehlt, dass das erlaubte Risiko die Haftung für Vorsatz und Fahrlässigkeit gleichermaßen ausschließt.

IV. Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit 1. Die zweite der vier genannten Möglichkeiten, die Reichweite von Verhaltensnormen einzuschränken, ist auf den ersten Blick trivial: Je mehr begriffliche Merkmale eine Norm enthält, desto kleiner ist ihr Anwendungsbereich. Wenn z.B. der Tatbestand des Raubes (§ 249 StGB) verlangt, dass der Diebstahl unter Anwendung von Gewalt gegen eine Person erfolgt, so ist ein Diebstahl unter Anwendung von Gewalt, die nicht gegen eine Person, sondern etwa gegen eine Sache gerichtet ist, kein Raub. Wird also in den Tatbestand eines Delikts ein weiteres Merkmal eingefügt, so verengt sich die Reichweite dieses Tatbestands. 2. Neben dieser Art und Weise, den Umfang einer Norm gewissermaßen von innen her durch zusätzliche Tatbestandsmerkmale zu begrenzen, kommt als weitere Möglichkeit eine Einschränkung von außen in Betracht. Denn neben den Verhaltensnormen, deren Inhalt durch die Deliktstatbestände kontradiktorisch formuliert werden, gibt es Normen, die Erlaubnisse aussprechen. Hierzu gehört etwa die Erlaubnis, sich gegen einen rechtswidrigen Angriff zur Wehr zu setzen, und zwar auch um den Preis einer ernstlichen Verletzung oder gar Tötung des Angreifers. Solche Normen haben im Strafrecht die Funktion der Rechtfertigung eines an und für sich verbotenen Verhaltens. Im Gegensatz zum erlaubten Risiko, das sich, wie gezeigt, nur auf Sorgfaltsanforderungen bezieht, beseitigen Erlaubnisnormen das Erfolgsunrecht. In einer Notwehrsituation ist die Verletzung oder gar Tötung des Angreifers kein Unrecht. Erlaubnisnormen werden wie Verbotsnormen zugerechnet; auch sie haben einen subjektiven Tatbestand. Nur hat die subjektive Seite bei einer Erlaubnis eine andere Funktion als bei einem Verbot. Während das Verbot einen Adressaten nach Maßgabe seiner Kenntnisse zu einem Verhalten verpflichtet, wird ein Adressat bei einer Erlaubnis nach Maßgabe seiner Kenntnisse zu einem Verhalten berechtigt. Treffen ein Verbot und eine Erlaubnis fallweise zusammen, so kollidieren miteinander unvereinbare Gründe für Handlungen. In einer Notwehrsituation

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kollidiert z.B. das Verbot, einen anderen körperlich zu misshandeln, mit der Erlaubnis, einen rechtswidrigen Angriff auch durch eine körperliche Misshandlung des Angreifers abzuwehren. Da das Recht nicht selbstwidersprüchlich sein kann, indem es die Verursachung desselben Erfolgs zugleich erlaubt und verbietet, muss es eine Regel geben, der zu entnehmen ist, welche der beiden Normen der anderen vorgeht. Es ist keineswegs der Fall, dass im Strafrecht eine Erlaubnis stets ein Verbot völlig verdrängt. So sind z.B. eine Reihe von Einschränkungen der Notwehr bei Angriffen von Ehegatten, Kindern und Schuldunfähigen anerkannt.16 Im Ergebnis aber ist klar, dass die Kollisionsregel eine klare Aussage darüber geben muss, ob der Erfolg durch ein bestimmtes Verhalten herbeigeführt werden darf oder nicht. 3. Wenn eine Verbotsnorm entweder von innen durch zusätzliche Tatbestandsmerkmale oder von außen durch einen Rechtfertigungsgrund eingeschränkt werden kann, so stellt sich die Frage, wo ein die Norm begrenzender Umstand einzuordnen ist. Die jeweilige Einordnung ändert zwar nichts am konkreten Ergebnis: Eine Erfolgsverursachung ist gleichermaßen kein Unrecht, ob es nun am Tatbestand fehlt oder ob ein Rechtfertigungsgrund eingreift. Dennoch ist die Unterscheidung pragmatisch von Bedeutung, und zwar mit Blick auf die Bewertung der in Frage stehenden Interessen. Nach einem bekannten Satz Welzels ist es ein erheblicher Unterschied, ob man tatbestandslos eine Mücke oder in Notwehr einen Menschen tötet.17 Zwar ist das Verhalten normlogisch im einen Fall so wenig verboten wie im anderen. Aber die Begründungen für das Ergebnis weichen erheblich voneinander ab. Bei der Tötung einer Mücke gibt es kein relevantes Schutzinteresse. Der Handlungsfreiheit des Täters steht mit anderen Worten kein Interesse gegenüber, das eine einschränkende Wirkung entfalten könnte. Bei der Notwehr ist die Situation gerade umkehrt: Hier steht dem Handlungsinteresse des Täters an der Tötung eines anderen das grundsätzlich vorrangige Schutzinteresse an der Integrität des Lebens gegenüber. Und nur aufgrund des besonderen Umstands, dass sich der Täter eines gefährlichen rechtswidrigen Angriffs erwehrt, geht das Interesse des Täters dem Opferinteresse vor. Dieser Gedanke lässt sich verallgemeinern: Normen sind erforderlich, um Interessen zu koordinieren und so Freiräume des konfliktfreien Einsatzes von Rechtsgütern zu garantieren. Die strafrechtlichen Verhaltensverbote betreffen hierbei die Koordination zwischen der allgemeinen – also situationsunabhängigen – Handlungsfreiheit des Normadressaten auf der einen Seite und einem besonderen individuellen oder kollektiven Interesse an der Integrität eines ___________ 16 Vgl. BGHSt 24, 356; 26, 143 (145 ff.); 39, 374 (379 ff.); BGH NStZ 2002, 425 (426 f.); MK-StGB/Erb, Bd. 1, 2003, § 32 Rn 199. 17 Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 81.

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Rechtsguts auf der anderen Seite. Diese Koordination der gegenläufigen Interessen kann dergestalt erfolgen, dass das Schutzinteresse der Handlungsfreiheit grundsätzlich uneingeschränkt vorgeht; dies ist etwa beim reinen Erfolgsdelikt des Totschlags (§ 212 StGB) der Fall. Beim Verbot der Körperverletzung (§ 223 StGB) ist der Schutz bereits insoweit eingeschränkt, also der Eingriff somatische Auswirkungen haben muss;18 eine bloß psychische Einwirkung ist nicht erfasst. Auch beim Schutz der Integrität von Sachen (§ 303 StGB) werden z.B. Einwirkungen durch Licht, Lärm oder Gestank nicht erfasst. Wiederum erheblich komplizierter ist die Interessenkoordination beim Betrug (§ 263 StGB); hier ist eine Täuschung nur dann strafrechtlich verboten, wenn sie einer Vermögensverschiebung und nicht nur einer bloßen Vermögensschädigung dient. Kurz: Die Deliktstatbestände sind Ausdruck einer mehr oder weniger ausdifferenzierten Koordination zwischen der allgemeinen Handlungsfreiheit der Normadressaten einerseits und einem konkreten Schutzinteresse andererseits. Diese prinzipielle Koordination zweier Interessenlagen wird nun durch Rechtfertigungsgründe modifiziert, und zwar dergestalt, dass sie bei der gerechten Lösung eines Interessenkonflikts die Berücksichtigung weiterer Interessen ermöglichen. Das können fallweise betroffene spezifische Interessen des Täters sein, das können aber auch Interessen Dritter oder der Allgemeinheit sein. Die Notwehrberechtigung erlaubt es etwa, neben der allgemeinen Handlungsfreiheit des Täters auch sein Interesse an der Erhaltung des angegriffenen Gutes wie auch das Interesse der Allgemeinheit am Ausbleiben rechtswidriger Angriffe zu berücksichtigen. In einer solchen Situation verliert das Schutzinteresse des Angreifers an Gewicht und wird von den entgegenstehenden Interessen verdrängt, mit der Folge, dass die Verletzung des Angreifers in der konkreten Situation erlaubt ist. Ähnlich verhält es sich im Fall einer rechtfertigenden Notstandlage: Wenn fallweise besonders gewichtige Güter erheblich bedroht sind, dann darf zu deren Rettung in das Interesse am Schutz geringwertiger Güter ausnahmsweise eingegriffen werden.19 Um nicht missverstanden zu werden: Auch die Rechtfertigungsgründe sind allgemeingültige Koordinationen von Interessen. Sie beziehen sich jedoch auf Umstände, die nicht stets, sondern nur in besonderen Situationen bei der Anwendung der strafrechtlichen Verbotsnormen eine Rolle spielen. Außerdem beziehen sich Rechtfertigungsgründe in der Regel auf eine Vielzahl von Verhal___________ 18

Vgl. BGH StV 1998, 76; NK-StGB/Paeffgen, 2. Aufl. (2005), § 223 Rn 3 m.w.N. Von Normenkollisionen, bei denen die Inhalte der Verhaltensanweisungen begrifflich miteinander unvereinbar sind, sind Pflichtenkollisionen zu unterscheiden, die sich auf die handlungsrelevante Unfähigkeit des Normadressaten beziehen, alle im konkreten Fall einschlägigen Verhaltensanweisungen zu befolgen; auch die Pflichtenkollision ist kein „echter“ Rechtfertigungsgrund, sondern bezieht sich auf die zur Pflichtbefolgung notwendige Handlungsfähigkeit. Vgl. Zur Problematik NK-StGB/Paeffgen (Fn. 18), Vor § 32 R. 174. 19

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tensnormen, indem sie spezifische Interessen ins Spiel bringen, die in unterschiedlichen Konflikten relevant werden können. Hieraus folgt: Eine Beschränkung der tatbestandlichen Norm durch zusätzliche Tatbestandsmerkmale kann nur aus deren Schutzzweck selbst abgeleitet werden. Es ist zu begründen, dass die Beschränkung für eine gerechte Ausbalancierung zwischen der allgemeinen Handlungsfreiheit einerseits und dem geschützten Interesse andererseits erforderlich ist. Geht es dagegen um die fallweise Berücksichtigung weiterer und höherrangiger gegenläufiger Interessen, so sind diese im Wege von Rechtfertigungsgründen zu berücksichtigen. 4. Die Lehre von der objektiven Zurechnung behauptet nun, dass sozialadäquate oder rollengemäße Verhaltensweisen nicht erst rechtfertigend wirken sollen, sondern bereits als negative Tatbestandsmerkmale der strafrechtlichen Verbotsnormen zu beachten seien. Dies wäre – nach den bisherigen Überlegungen – sachgerecht, wenn diese beiden Kriterien für eine gerechte Koordination von allgemeiner Handlungsfreiheit und normspezifischen Schutzinteressen von Bedeutung wären. a) Betrachtet sei insoweit zunächst der Gedanken der sozialen Adäquanz: Mit Hilfe dieses Kriteriums wird versucht, die Verursachung eines Erfolgs durch alltägliche und sozial übliche Verhaltensweisen als tatbestandslos auszuweisen. Jedoch ist nicht erkennbar, welche Rolle die Berücksichtigung der sozialen Adäquanz eines Verhaltens bei der Koordination von allgemeiner Handlungsfreiheit und spezifischen Schutzinteressen spielen könnte. Die Alltäglichkeit oder soziale Unauffälligkeit eines Verhaltens ist kein rechtlich relevanter Wert als solcher, welcher der allgemeinen Handlungsfreiheit ein Gewicht verleihen könnte, das spezifische Schutzinteresse überwiegen könnte. Die Integrität eines Gutes ist unabhängig davon geschützt, ob es durch ein im Allgemeinen sozial adäquates oder ein sozial inadäquates Verhalten angegriffen wird. Schon die Formulierung etwa, jemand sei durch ein sozial adäquates Verhalten tatbestandslos getötet worden, klingt absurd. Denn dem Begriff der sozialen Adäquanz kommt keine selbstständige Bedeutung zu, mit deren Hilfe sich erlaubtes und unerlaubtes Verhalten voneinander abgrenzen ließen. Vielmehr ist ein Verhalten vor allem dann nicht sozial adäquat, wenn es strafrechtlich verboten ist – und das heißt: einen Deliktstatbestand verwirklicht. Es ist nicht der Begriff der sozialen Adäquanz, der „die Hosen anhat“ und nach dem sich die strafrechtliche Irrelevanz eines Verhaltens bemisst, sondern es ist umgekehrt die strafrechtliche Relevanz eines Verhaltens, mit dessen Hilfe sich die äußersten Grenzen sozialer Adäquanz abstecken lassen. Es kann deshalb nicht verwundern, dass die typischen Beispiele, die für die strafrechtliche Irrelevanz sozial adäquaten Verhaltens angeführt werden, Situa-

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tionen beschreiben, die bereits aus anderen Gründen strafrechtlich bedeutungslos sind. So wird etwa behauptet, es sei aufgrund sozialer Adäquanz von vornherein nicht tatbestandsmäßig, wenn der Ehemann E seine Frau F dazu überredet, eine Reise mit dem Zug statt mit dem Auto zu unternehmen, und zwar auch dann nicht, wenn es bei der Zugfahrt zu einem terroristischen Bombenanschlag kommt, bei dem F stirbt.20 Jedoch beruht die Straflosigkeit des E in diesem Beispiel allein auf dem Umstand, dass E weder vorsätzlich noch fahrlässig handelt, weil er die tatsächliche Gefahr, in der F schwebte, weder kannte noch kennen musste. Man mag dann diesen Rat als Nebenprodukt der strafrechtlichen Wertung sozial adäquat nennen. Keinesfalls kann aber umgekehrt schon allein die angebliche Sozialadäquanz des Rates, den Zug zu nehmen, den E von der Verantwortung für die Folgen seines Verhaltens befreien. Denn sonst hätte E auch dann den Tatbestand des Totschlags nicht verwirklicht, wenn er in den Bombenanschlag eingeweiht war, weil es sich bei den Terroristen um seine Gesinnungsgenossen handelt. Kurz: Bei der strafrechtlichen Beurteilung eines Konflikts geht es immer um die Bewertung eines konkreten Geschehens unter Berücksichtigung aller relevanten objektiven und subjektiven Umstände. Deshalb kann die abstraktobjektive Beschreibung eines Geschehens als alltäglich nie ein relevanter Gesichtspunkt der Bestimmung des konkreten Unrechts sein. b) Teils wird versucht, den Gedanken der sozialen Adäquanz funktional an strafrechtlichen Belangen auszurichten: Das Strafrecht habe die Funktion, berechtigte Erwartungen zu stabilisieren; Strafe sei nur dort angebracht, wo jemand berechtigte Erwartungen enttäusche. Dementsprechend seien Erfolgsursachen, auf deren Ausbleiben nicht vertraut werde, auch strafrechtlich irrelevant. Hieraus folgert Jakobs: Solange sich jemand innerhalb einer legalen sozialen Rolle bewege, sein Verhalten also durch rollentypische Motive erklärbar sei, habe er für Folgen seines Verhaltens strafrechtlich nicht einzustehen. Erst wenn sein Verhalten in objektiv erkennbarer Weise dergestalt in eine deliktische Planung eingebunden sei, dass es nur noch als Teil dieser Planung verstanden werden könne, enttäusche es berechtigte Erwartungen und sei strafrechtlich relevant.21 Nun lässt sich diese These jedenfalls mit Blick auf das geltende Strafrecht kaum halten. Vor allem bei den sog. Vorbereitungsdelikten umschreibt der objektive Tatbestand ein sozial übliches Verhalten, das nur aufgrund der subjektiven Absicht des Täters zu einer Straftat wird. So mag es zur sozialen Rolle ei___________ 20 Vgl. das entsprechende Beispiel eines Krankenhausbrandes bei Roxin, AT § 11 Rn. 47. 21 Grundlegend ZStW 89 (1977), 1 ff.

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nes Studenten gehören, sich einen Wecker zu kaufen. Kauft der Student den Wecker aber, um damit eine Bombe für eine Flugzeugentführung zu basteln, so macht er sich nach § 316c Abs. 4 StGB wegen eines Angriffs auf den Luft- und Seeverkehr strafbar. Aber auch wenn man die Lehre vom rollengemäßen Sozialverhalten nicht an der lex lata misst, sondern als theoretischen Beitrag zur allgemeinen Straftatlehre begreift, vermag sie nicht zu überzeugen. Denn diese Lehre stellt eine in hohem Maße unplausible These auf. Sie behauptet nämlich, dass sich die strafrechtlich relevanten Erwartungen auf das äußere Sozialverhalten bezögen, so dass rollengemäßes Verhalten selbst dann nicht enttäusche, wenn der Täter um die schädigenden Folgen seines Verhaltens wisse. Ein Beispiel: Es sei angenommen, rein zufällig habe der Postbote P Kenntnis davon, dass sich unter den Briefen, die er in den Briefkasten des A wirft, eine Briefbombe mit tödlichem Sprengsatz befindet. Nach der Lehre vom rollengemäßen Sozialverhalten hätte P für den von ihm mitverursachten Tod des A strafrechtlich nicht einzustehen, weil er sich innerhalb seiner sozialen Rolle als Postbote bewegt habe, zu der es nicht gehöre, sich um den Inhalt von Briefen zu kümmern. Bei dieser Begründung werden jedoch verschiedene normgemäße Erwartungen miteinander vermengt. Gewiss erwartet niemand von einem Postboten besondere Kenntnisse über Briefbomben, noch gehört es zu dessen arbeitsrechtlichen Pflichten, Briefe auf eine mögliche Sprengladung hin zu kontrollieren. Insoweit kann dem P weder aus der Sicht der Post als Arbeitgeber noch aus der Sicht des A als Kunde vorgeworfen werden, er habe seine Rolle als Postbote verletzt. Rollenspezifisches Fehlverhalten wäre es etwa, wenn P die Post beschmutzt oder in die falschen Briefkästen wirft. Strafrechtlich gesehen geht es jedoch um eine andere Erwartung. Das Strafrecht spricht den Täter als rechtstreuen Bürger an – und nicht als Postboten oder Studenten. Das Strafrecht verlangt von P nicht, dass er seine Rolle als Postbote ordnungsgemäß spielt. Vielmehr wenden sich die Normen des Strafrechts mit ein und demselben Inhalt an jedermann. Insoweit ist P durch das Tötungsverbot als rechtstreuer Bürger – und damit quer durch alle seinen sozialen Rollen hindurch – verpflichtet, sich so zu verhalten, dass er nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten keine (unmittelbare) Ursache für den Tod eines Menschen setzt. Wer bewusst den Tod eines anderen durch sein Verhalten verursacht, enttäuscht die in ihn als rechtstreuen Bürger gesetzten Erwartungen völlig unabhängig davon, welche soziale Rolle er gerade spielt. Deshalb erfolgt die Strafe auch rollenunabhängig: Dem P wird nicht qua Strafrecht die Anstellung als Postbote gekündigt; er wird vielmehr quer durch alle seine sozialen Rollen hindurch und nach individueller Schuld wegen eines Defizits an Rechtstreue bestraft.

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Wie die Sozialadäquanz ist auch das rollengemäße Sozialverhalten kein selbstständiger Wert, der bei der prinzipiellen Interessenkoordination auf Tatbestandsebene zwischen der allgemeinen Handlungsfreiheit auf der einen Seite und den spezifischen Schutzinteressen auf der anderen Seite irgendeine Bedeutung erlangen könnte. Im Beispielsfall besagt die Interessenkoordination durch das Tötungsverbot, dass die allgemeine Handlungsfreiheit grundsätzlich völlig hinter das Interesse am Lebensschutz zurücktritt. Bei dieser Interessenkoordination ist die Frage, welchen Beruf der Täter ausübt und in welchem berufsbedingten Kontexten er eine Todesursache setzt, ersichtlich ohne Gewicht. Rollengemäßes Sozialverhalten könnte also nur dann zum Unrechtsausschluss führen, wenn das spezifische Interesse an der Verfolgung eines rollengemäßen Ziels in rechtfertigender Weise eine Erlaubnis zur Tötung eines anderen geben würde. Einen Rechtfertigungsgrund rollengemäßen Sozialverhaltens hat freilich noch niemand ernsthaft erwogen, und dies zeigt nur, dass die hinter dem Gedanken des fehlenden Unrechts bei rollgemäßem Sozialverhalten stehende Wertung bei richtiger Lozierung im Verbrechensaufbau verfehlt ist.

V. Opferverhalten 1. Schließlich sei der Blick noch auf die vierte der genannten Möglichkeiten zur Begrenzung des Anwendungsbereichs von Verbotsnormen gelenkt. Es handelt sich um den Fall, dass der Inhaber des durch die Norm geschützten Rechtsguts mit der Beeinträchtigung seines Gutes einverstanden ist. Eine solche Einwilligung ist weder eine immanente Tatbestandseinschränkung22 noch ein Rechtfertigungsgrund23.

___________ 22

In diesem Sinne aber u.a. SK-StGB/Horn, 7., teilweise 8. Aufl., Stand November 2007, § 228 Rn 2; Armin Kaufmann, FS Klug, Bd. 2, 1983, S. 277 (282); Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, 2001, S. 92, 124; ders., Jura 2002, 665 (666); Roxin, AT I, § 13 Rn 12 ff.; Rudolphi, ZStW 86 (1974), 68 (87 f.); Schlehofer, Einwilligung und Einverständnis, 1985, S. 4 ff.; Weigend, ZStW 98 (1986), 44 (60). 23 In diesem Sinne die (noch) vorherrschende Ansicht, vgl. nur BGHSt 17, 359 (360); 23, 1 (3 f.); Amelung/Eymann, JuS 2001, 937 (938); Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 17 Rn 93 ff.; Fischer, StGB, 55. Aufl. 2008, Vor § 32 Rn 3c; Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2005, § 6 Rn 56; Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 2005, Rn 438; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996 (AT), § 34 I 3; Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, S. 245 f.; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2005 (AT), § 9 Rn 22 ff.; Otto, Jura 2004, 679 (680); NK-StGB/Paeffgen (Fn. 18), § 228 Rn 8; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2004, § 9 Rn 9; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 37. Aufl. 2007 (AT), Rn 361, 370.

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Das mag der Grund sein, warum die Lozierung der Einwilligung im Verbrechensaufbau bis heute umstritten ist.24 Eine immanente Tatbestandseinschränkung käme etwa unter der Voraussetzung in Betracht, dass eine Einwilligung bereits der Annahme eines Erfolgs entgegenstünde. In diesem Sinne wäre eine tatbestandliche Körperverletzung zu verneinen, wenn der Betroffene den Eingriff in seine körperliche Integrität wünscht. Hiergegen spricht jedoch, dass es dann bereits begrifflich nicht möglich wäre, eine mit Willen des Inhabers vorgenommene Veränderung eines Gutes als Schaden zu deuten und hieran Rechtsfolgen zu knüpfen. Exemplarisch: Der Eigentümer einer Sache ist damit einverstanden, dass sie zum Zwecke der Rettung eines Verunglückten von einem Retter beschädigt wird. In einem solchen Fall wäre es nicht nur sprachwidrig, wegen der Einwilligung bereits einen Sachschaden zu verneinen, sondern es könnte auch der Eigentümer – im Widerspruch zur Regelung des § 904 S. 2 BGB – mangels Schadens keinen Ersatzanspruch gegen den Geretteten geltend machen. Vielmehr erscheint es durchaus sinnvoll, zwischen einem Schaden und der gewollten Hinnahme dieses Schadens zu differenzieren. Als weitere Möglichkeit zugunsten eines Tatbestandsausschlusses kraft Einwilligung käme die Konstruktion einer tatbestandslosen Selbstschädigung in Betracht: Dem Einwilligenden wäre dann das Verhalten des Schädigers als eigenes Handeln und damit als tatbestandslose Selbstschädigung zurechnen.25 Dem Strafrecht ist – etwa bei der Mittäterschaft – die Zuschreibung fremden Verhaltens als eigenes Handeln durchaus geläufig. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass – etwa bei der Mittäterschaft – zwar eigene Verantwortung durch fremdes Verhalten begründet werden kann, die Verantwortung für das eigene Verhalten hierdurch aber keineswegs erlischt; Mittätern wird das fremde Verhalten zusätzlich zur Verantwortung für eigenes Verhalten zugerechnet. Ein Prinzip, dem zufolge einmal begründete eigene Verantwortung befreiend auf andere übertragen werden könnte, ist dem Strafrecht fremd. Wer dies ignoriert, kann Vorschriften wie §§ 216 und 228 StGB dogmatisch nicht erfassen. 2. Aber auch die Annahme, die Einwilligung sei ein Rechtfertigungsgrund, vermag nicht zu überzeugen. Denn die Einwilligung ist keine Norm, die mit dem Verbot der Tatbestandsverwirklichung kollidiert. Die Einwilligung betrifft ___________ 24 Zur neueren Diskussion vgl. Göbel, Die Einwilligung im Strafrecht als Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts, 1992, S. 66 ff.; Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, 2004, S. 196 ff.; Rinck, Der zweistufige Deliktsaufbau, 2000, S. 28 ff.; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 57 ff. 25 In diesem Sinne noch Kindhäuser, FS Rudolphi, 2004, S. 135, 140 ff.

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vielmehr das durch das Verbot geschützte Interesse selbst und kein über die Verbotsnorm hinaus zu beachtendes weiteres Interesse. Hieran ändert sich nichts, wenn man mit Hruschka die Einwilligung des Verletzten als extrasystematischen Rechtfertigungsgrund qualifiziert.26 Unter einem Rechtfertigungsgrund dieser Art sei eine Bedingung zu verstehen, unter der die Pflicht zur Befolgung der Normen eines Normensystems entfalle. Ihrer logischen Natur nach sei diese Bedingung eine für alle Normen des Systems geltende Metaregel. Der extrasystematische Charakter der Einwilligung ergebe sich aus dem Begriff der Pflicht, deren Erfüllung jemandem geschuldet werde.27 Mit der Einwillige entbinde der „Gläubiger“ den „Schuldner“ von seiner Pflicht, so dass in diesem Fall die Pflicht auch nicht verletzt werden könne. Hruschkas Konstruktion mag für das Zivilrecht plausibel sein, verkennt aber, dass die Normen des Strafrechts öffentlich-rechtlichen Charakter haben:28 Der Adressat einer Norm schuldet deren Befolgung daher allein dem Staat, der selbst dann nicht durch das Opfer repräsentiert wird, wenn die Norm primär dessen Schutz (im spezifisch strafrechtlich zu begründenden Allgemeininteresse!) dient.29 Auch die primär dem Individualschutz dienenden Verhaltensnormen des Strafrechts sind Verpflichtungsgründe, deren Befolgung der Staat kategorisch von ihren Adressaten verlangt. Die körperliche Verletzung eines anderen verstößt daher gegen zwei Pflichten: zum einen gegen die dem Verletzten geschuldete Pflicht, dessen absolutes subjektives Recht auf körperliche Unversehrtheit im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB zu achten, und zum anderen gegen die Pflicht, das Körperverletzungsverbot aus § 223 StGB zu befolgen. Hinsichtlich der letztgenannten Pflicht entfaltet die Einwilligung des Verletzten als bloßes Faktum überhaupt keine normative Wirkung. Dem steht freilich nicht entgegen, dass der Staat die Pflicht zur Befolgung einer strafrechtlichen Verhaltensnorm (ganz oder teilweise) vom konkreten Erhaltungsinteresse des Verletzten abhängig machen kann. Vielmehr kann er die Pflicht zur Normbefolgung unter die (negative) Bedingung stellen, dass der Verletzte sein mangelndes Erhaltungsinteresse nicht (unter bestimmten Wirksamkeitsvoraussetzungen) zum Ausdruck gebracht hat. ___________ 26

Hruschka, FS Dreher, 1977, S. 189 ff. Hruschka, FS Dreher, 1977, S. 189 (197 f.). 28 Beiläufig: § 823 Abs. 2 BGB wäre überflüssig bzw. lediglich deklaratorisch, wenn das Strafrecht bereits ein subjektives absolutes Recht gegenüber jedermann an die Hand gäbe. 29 Dies gilt völlig unabhängig davon, ob die durch die Norm geschützten Güter etatistisch oder personal interpretiert werden; wem die Pflicht nützt und wem sie geschuldet wird, ist zweierlei. 27

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3. Wird die Einwilligung im letztgenannten Sinne gedeutet, so ist sie als ein Grund zu verstehen, der die Geltung des Verbots zu begrenzen oder aufzuheben vermag. Die strafrechtlichen Verhaltensnormen sind Ausdruck einer generalisierten Koordination von Interessen, bei der den Individualgütern abstrakt der Stellenwert zugeschrieben wird, der ihnen in der Gesellschaft und ihrer verfassungsrechtlichen Werteordnung zukommt. Hiervon können die Präferenzen des konkreten Berechtigten deutlich abweichen, wobei diese Präferenzen unter dem Aspekt, dass die Güter Mittel freier persönlicher Entfaltung sind, erhebliches Gewicht haben können. Um abstrakte Interessenkoordinationen und individuelle Präferenzen sachgerecht ins Verhältnis setzen zu können, bietet es sich an, die generelle Regelung fallweise zurücktreten zu lasen, wenn der Inhaber des geschützten Gutes sein fehlendes Interesse an der Bestandsgarantie bekundet. Mit der Einwilligung wird dann im konkreten Fall der Grund, die Norm zu befolgen, aufgehoben.30 Von der Konstruktion eines Tatbestandsausschlusses unterscheidet sich diese Interpretation der Einwilligung als Normaufhebungsgrund vor allem insoweit, als auch das mit Einwilligung des Verletzten vorgenommene Handeln tatbestandsmäßig bleibt. Es entfällt nur der Grund, das schädigende Handeln um der Normbefolgung willen zu unterlassen. Insoweit entspricht die rechtliche Wirkung einer Normaufhebung der Rechtfertigung durch eine dem Verbot vorgehende Erlaubnis. Anders als ein Rechtfertigungsgrund bringt die Einwilligung wiederum kein mit dem Verbot kollidierendes weiteres Interesse ins Spiel. Vielmehr gibt es von vornherein keinen Grund, der gegen das betreffende Verhalten spricht, wie es insbesondere beim ärztlichen Heileingriff deutlich wird. Wird die Einwilligung als Normaufhebungsgrund gedeutet, so ist der rettende Eingriff nicht an und für sich rechtswidrig und nur ausnahmsweise gestattet. Vielmehr bewegt sich der Arzt von vornherein auf dem Boden des Rechts, da das Verbot nur unter der Bedingung gilt, dass der körperliche Eingriff ohne Einwilligung des Patienten erfolgt. Wenn nun die Einwilligung den Inhalt einer Norm und damit den Tatbestand eines Delikts unberührt lässt und nur die Geltung der Norm aufhebt, so lässt sich auch die unterschiedliche Reichweite der Einwilligung zwanglos erklären. Bei der Sachbeschädigung bedarf es keiner Begrenzungen der Einwilligung im Allgemeininteresse,31 da das Eigentum als Inbegriff einer umfassenden Verfügungsgewalt über Sachen nach eigener Willkür zu verstehen ist. Dagegen kann es vor allem im Bereich des Lebensschutzes im Allgemeininteresse liegen, das ___________ 30 Zur Deutung der Einwilligung als Aufhebungsgrund (cancellation condition) einer Verhaltensnorm vgl. Raz, Praktische Gründe und Normen, 2006, S. 31 f. und passim. 31 Vgl. aber auch §§ 304 f. StGB.

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generalisierte Verhaltensmuster der tabuisierten Tötung durch fremde Hand uneingeschränkt für verbindlich zu erklären.32 4. Etwas anders als bei der Einwilligung stellt sich die Problematik beim sog. Handeln auf eigene Gefahr dar. Exemplarisch: Ein Tankwart verkauft Benzin, obgleich er sieht, dass der Pkw des Kunden keinesfalls mehr verkehrstauglich ist; der Kunde, dem die Schadhaftigkeit seines Fahrzeugs bewusst ist, kommt wenig später wegen versagender Bremsen ins Schleudern und zieht sich eine schwere Körperverletzung zu. In einem solchen Fall hat der Verletzte – im Gegensatz zur Einwilligung – selbst die Herrschaft über den schädigenden Kausalverlauf in der Hand. Eine eigenverantwortliche Selbstverletzung ist jedoch tatbestandslos und daher kein Unrecht. Wenn nun eine Selbstverletzung tatbestandslos ist, dann kann auch die Hilfe zu einer Selbstverletzung mangels Unrechts einer Haupttat keine rechtswidrige Beteiligung sein. Insoweit kann die eigenverantwortliche Selbstverletzung als negative Voraussetzung der Zurechenbarkeit eines Erfolgs zu einem weiteren Beteiligten angesehen werden. Die Beteiligung an einer eigenverantwortlichen Selbstverletzung des Opfers ist damit ein Fall, in dem die Mitverursachung eines Erfolgs bereits objektiv nicht zurechenbar ist. Dieses Ergebnis lässt sich jedoch, wie dies auch die Rechtsprechung macht, unmittelbar aus den allgemeinen Grundsätzen der Beteiligung ableiten. Für eine besondere objektive Zurechnungslehre besteht kein Bedarf.

VI. Ergebnis Die vorangegangenen Überlegungen seien kurz zusammengefasst: Die Suche nach einem erlaubten Risiko, das gleichermaßen vorsätzlich und fährlässig eingegangen werden dürfe, ohne für eine hieraus resultierende Erfolgsverursachung zuständig zu sein, hat sich weitgehend als ergebnislos herausgestellt. Die Verwirklichung eines objektiven Tatbestands ist nur zu verneinen, wenn das Opfer selbst auf seinen Schutz verzichtet – sei es in Form einer verbotsaufhebenden Einwilligung, sei es in Form einer tatbestandslosen eigenverantwortlichen Selbstgefährdung. Das sog. erlaubte Risiko in Gefahrenbereichen bezieht sich dagegen nur auf Fahrlässigkeitsdelikte. Sozialadäquanz und rollengemäßes ___________ 32 Dies ist kein paternalistischer Eingriff in die individuelle Freiheit, da dem Sterbewilligen nicht untersagt wird, sich das Leben zu nehmen; es wird ihm nur die Möglichkeit abgeschnitten, durch fremde Hand den Tod zu finden. Allenfalls mag § 216 StGB faktisch die Wirkung einer paternalistischen Bevormundung haben, wenn die Tötung durch fremde Hand die einzige Möglichkeit für den (etwa bewegungsunfähigen) Lebensmüden ist, zu sterben.

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Sozialverhalten schließlich sind keine allgemeingültigen Kriterien, die bei allen Delikten die objektive Zurechnung der Tatbestandsverwirklichung hindern könnten.

Zum Strafgrund der Anstiftung. Eine Skizze Von Heinz Koriath In der Dogmatik zur Anstiftung gibt es viele offene Fragen. Einige davon möchte ich in diesem (skizzenhaften) Aufsatz in zwangloser Reihenfolge diskutieren. Es geht um Fragen wie etwa die nach dem Verhältnis von Kausalität und Akzessorietät der Anstiftung (III.) oder die Frage nach dem Wesen der Relation, die zwischen der Anstiftungshandlung und der Handlung, zu der angestiftet worden ist, besteht (IV.); fraglich ist weiter, ob die Figuren aus der Welt der Teilnahmedogmatik eine sog. sachlogische Struktur1 sein könnten (II.) und schließlich ist nach wie vor strittig, ob es eigentlich einen guten Grund für die Strafbarkeit des Anstifters gibt2 (I.). Aus Gründen der Anschaulichkeit wird es nützlich sein, von einem Referenzfall auszugehen. Gerade hierzu ist der Rose/Rosahl-Fall besonders gut geeignet, denn im Sachverhaltsteil des Urteils wird, anders als in späteren vergleichbaren Fällen (etwa dem Hoferbenfall), die Interaktion der kriminellen Personen plastisch, detailreich und präzise beschrieben. Hier zur Erinnerung eine Passage der bekannten Geschichte: „Rose ward verhaftet und gestand auch alsbald die Ermordung zu, aber zugleich, daß er von seinem Dienstherrn Rosahl zur Ermordung des Schliebe, nicht aber des Harnisch, angestiftet worden sei. Rosahl wurde gleichfalls verhaftet und legte eben so ein Geständnis ab. Hiernach hatte Rosahl bis zu Anfang des Jahres 1858 mit dem Schliebe gemeinschaftlich Holzgeschäfte gemacht. Schliebe hat sodann das ganze Geschäft an Rosahl verkauft, und dieser glaubte sich dabei durch den ersteren bevortheilt. Bereits im März oder April 1858 nun hat Rosahl mit Bezug hierauf zu Rose erklärt: „ich gäbe gleich Etwas darum, wenn Schliebe weg wäre, daß ich Nichts mehr mit ihm zu thun hätte, ich gäbe Dir 300 Rthlr. und 1 Rthlr. die Woche, wenn Du ihn wegbringst.“ Diese Aufforderung den Schliebe umzubringen, hat Rosahl zu verschiedenen Malen wiederholt, und namentlich dann, wenn Schliebe bei ihm gewesen war und Geld aus dem eben erwähnten Kaufgeschäfte geholt hatte. Nachdem nun Rose sich endlich zur Beseitigung des Schliebe bereit erklärt hatte, händigte Rosahl dem ersteren zu verschiedenen Malen Geldbeträge aus, um die zur Beseitigung des Schliebe erforderlichen Schußwaffen zu repariren, resp. anzuschaffen. Ferner kaufte Rosahl in Leipzig Pulver und Blei, entnahm in Schliepzig vom Kaufmann Zundhüt-

___________ 1

Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus, in: ders., Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, 1975, S. 274-287 (283-286). 2 Roxin, FS Stree/Wessels, 1993, S. 365-382; ders., Strafrecht. Allgemeiner Teil, Band 2, 2003, S. 130-138.

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chen, und lieh von einem Fuhrmann dort dessen kurze Flinte. Alle diese Vorbereitungen wurden getroffen, um die Beseitigung des Schliebe zu erwirken. Am Sonnabend den 11. September 1858 war Schliebe zur Instandsetzung der Dorfpumpe nach Schliepzig gekommen. Rose hatte an diesem Tage für Rosahl Gras gemäht und erschien um 6 Uhr auf dem Holzplatze des Rosahl, um die Stiefeln zu wechseln. Rosahl ging hinter ihm her und sagte zu ihm: „Höre, jetzt ist die höchste Zeit; Schliebe hat an der Pumpe bis spät zu thun; ich muß ihm zu Michael 400 Rthlr. zahlen, die bin ich dann los; auch habe ich noch 200 Rthlr. zu heben, die sonst auch zu Michael gezahlt würden; ich bin dann gleich geholfen und Du mit; der verfluchte Schurke; denke nicht, daß Du Sünde thust, dabei ist gar nichts. Du kriegst die 300 Rthlr. und so alle Woche 1 Rthlr. 1000 Rthlr. kann ich mir noch machen, wenn der schlechte Schurke weg ist.“ Rose erklärte sich dieser Aufforderung zufolge bereit zur That, lud die Schußwaffen, ein Doppelterzerol mit je einem Rehposten, und das von Rosahl von dem Furhmann geliehene Gewehr mit mehreren Rehposten. So bewaffnet ging er nach dem Hasengarten an die oben bezeichnete Stelle der Straße, die Rosahl ihm als diejenige bezeichnet hatte, welche Schliebe passiren würde, in der Absicht, den Schliebe auf seinem Rückwege mittels dieser Schußwaffe zu tödten.“

Nach der Lektüre dieser bösen Geschichte wirkt die Frage, aus welchen Gründen man den Anstifter bestraft, schon reichlich kontraintuitiv. Dennoch wird sie ja gestellt und, wie die lange Kontroverse zeigt, ist offenbar eine befriedigende Antwort noch immer nicht gefunden worden.

I. „Der Strafgrund der Teilnahme“3 Es ist offenbar nicht nötig, den dogmatischen Hintergrund der Frage zu referieren.4 Direkt zu der Kontroverse gehört, wie bekannt, die sog. Schuldteilnahmetheorie und die (auch in diesem Zusammenhang) sog. Verursachungstheorie. In nur einem Satz gelingt Welzel eine beinahe kanonische Fassung des Streits und seiner Lösung. Er schreibt: „Der innere Grund für die Bestrafung des Teilnehmers liegt nicht darin, daß der Teilnehmer den Täter in Schuld und Strafe geführt hat (sog. Schuldteilnahmetheorie), sondern darin, daß er eine sozial unerträgliche, also tatbestandsmäßig-rechtswidrige Tat durch Bestimmen veranlaßt oder sie gefördert hat“.5 Aus wenigstens drei Gründen halte ich diese Kontroverse für unbefriedigend. Zunächst einmal wird die sog. Schuldteilnahmetheorie („Verstrickung eines Aktors in Schuld und Strafe“) von sehr vielen (auch jüngeren) Autoren nur recht unvollkommen, ungenau, ja oberflächlich formuliert6 (wobei ich optimis___________ 3

Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil. 4. Aufl. 1988, S. 620. Jescheck (Fn. 3), S. 620, 586 ff., 588 ff. 5 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 115; sog. Verursachungs- oder Förderungstheorie. 6 In der gebotenen Kürze: Die Kritik konzentriert sich zu sehr auf den Namen dieser Theorie statt auf die Sache selbst. Diese wird durch den Rose/Rosahl-Fall ganz deutlich. 4

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tisch unterstelle, genügend Quellen studiert zu haben); oberflächlich ist auch das meistens vorgetragene Gegenargument („Jeder Beteiligte ist, ohne Rücksicht auf die Schuld des anderen, nach seiner Schuld strafbar …“7) gegen die Schuldteilnahmetheorie. Zweitens gibt es (anders als es die inzwischen schon fast ritualisierte Darstellung der Kontroverse ja suggerieren könnte) keinen Grund von einer – sagen wir – Polarität zwischen diesen beiden Theorien auszugehen, sodass aus logischen oder anderen Gründen aus der Falschheit der einen (falls diese „Theorien“ überhaupt wahr oder falsch sein können) die Richtigkeit der anderen, vice versa, folgte. Der entscheidende Grund dafür, dass diese Kontroverse unbefriedigend ist, ist, dass keine der beiden Theorien eine echte Antwort auf die Frage nach dem Strafgrund der Teilnahme enthält. Um nicht wieder in das mehr oder weniger erstarrte Ritual hineinzutappen, ist es nützlich, zunächst den Sinn der Frage zu verstehen. Was bedeutet die Frage nach dem Strafgrund der Teilnahme? Ich möchte nicht behaupten, dass meine Deutung die einzig mögliche ist, aber es ist doch naheliegend, aus der Verbindung8 dieser Kontroverse mit dem Streit um die Vorzugswürdigkeit eines restriktiven oder extensiven Täterbegriffes zu vermuten, dass mit der verkürzten Formulierung nach dem Strafgrund der Teilnahme die grundsätzliche Frage gemeint ist, ob sich eine Norm, in der eine Anstiftung genannte Handlungsweise verboten und sanktioniert wird, begründen oder rechtfertigen lässt. Etwas technischer beschrieben sieht es etwa so aus: Eine Sanktionsnorm besteht, normlogisch betrachtet, aus zwei Normen, einer Primär- und einer Sekundärnorm. Das Tötungsverbot z. B. gliedert sich in diese beiden Normen: (N1) Du sollst nicht töten! (N2) Wer einen anderen Menschen tötet, wird bestraft. In diesem Muster gedacht, bedeutet die Frage nach der Strafbarkeit (oder dem Strafgrund) der Teilnahme, ob sich eine Norm wie etwa (N2a) Wer einen anderen dazu anstiftet, einen Menschen zu töten, wird bestraft, begründen oder rechtfertigen lässt.

___________ Die Bilanz dieser moralischen Katastrophe ist, es gibt einen Mord und einen Mörder und beides wäre nicht der Fall, wenn Rosahl nicht seinen verheerenden Einfluss auf Rose ausgeübt hätte. Rosahl haftet also für zwei Verbrechen. Diese Lehre vom sog. doppelten Unrecht der Anstiftung verdient nach wie vor Beifall. Eine hervorragende Darstellung dieser Lehre findet der Leser bei Less, Der Unrechtscharakter der Anstiftung, ZStW 69 (1957), 43-58 (47). 7 Welzel (Fn. 5), S. 112; zur Oberflächlichkeit vgl. die Bemerkung in Fn. 6. 8 Jescheck (Fn. 3), S. 620 und S. 586 ff. und 588 ff.

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Die Antwort auf diese Frage ist nun außerordentlich leicht. Es ist das Präventionsprinzip, das sowohl N2 wie N2a trägt. Der Vollzug eines Tötungsaktes wird unwahrscheinlicher, wenn auch die Veranlassung dazu durch eine Sanktionsdrohung unwahrscheinlicher wird. Mit einem Wort: Strafgrund der Teilnahme ist Prävention. Sollten die Proponenten der sog. Schuldteilnahmetheorie oder/und Verursachungstheorie diesen Gedanken schon immer gemeint haben, so haben sie sich aber nicht besonders klar ausgedrückt!

II. Vorgegebene Strukturen? Sind an dem Vollzug einer poenalisierten Handlung mehrere Personen (kausal oder sonst wie) beteiligt, so stellt sich (quasi eo ipso) die Frage nach dem Maß ihrer Sanktion. Die Frage gehört in das weite Feld distributiver Gerechtigkeit – und die klassische Antwort „suum cuique tribuere“! (wobei in der Schattenwelt der Kriminalität nicht ein Gut, sondern ein Übel zugeteilt wird) evoziert auch in diesem Kontext nur die weitere Frage, was denn das „Seine“ sei, das dem bösen Aktor zugewiesen werden soll. Unnötig zu sagen, dass auch diese Frage seit je her umstritten ist. In der Gegenwart dominiert eine differenzierte Lösung. Danach ist die Sanktion von der „Rolle“9 – Täter, Anstifter oder Gehilfe – die ein Aktor im Vollzug der sanktionierten Handlung „gespielt“ hat, abhängig. Die Frage nach dem Status dieses Musters ist sicher nicht uninteressant. Dazu hat der verehrte Jubilar schon vor einiger Zeit die auch heute noch wichtigste Studie vorgelegt.10

1. Sachlogische Strukturen Fällt das Täterschaft-Teilnahmemuster, die Figuren und ihre Interdependenz, ganz oder wenigstens teilweise unter die sog. sachlogischen Strukturen? Das hat Welzel stets mit großem Nachdruck betont. Er sagt, sachlogische Strukturen seien Strukturen, „die den ganzen Rechtsstoff punktförmig durchsetzen und ihm eine bestimmtgeartete Regelung vorzeichnen.“11 Diese Strukturen haben empirischen Gehalt („Realitäten“).12 Und ihre Bedeutung für den Gesetzgeber ist kaum zu überschätzen: „In den Sachlogischen Strukturen stecken die materiellen Bindungen des Gesetzgebers, die die Naturrechtslehren meist vergeblich ___________ 9

Welzel, Studien zum System des Strafrechts, in: ders. (Fn. 1), S. 121-184 (171). Maiwald, Historische und dogmatische Aspekte der Einheitstäterlösung, FS Bockelmann, 1979, S. 343-367 (358 ff.). 11 Welzel (Fn. 1), S. 283; Hervorh. von H. W. 12 Welzel (Fn. 1), S. 285. 10

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gesucht haben. Naturrecht ist nicht außerhalb des positiven Rechts oder über ihm zu finden, sondern steckt als immanente Grenze in ihm selbst darin …“.13 Ist das Täter-Teilnehmermuster eine sachlogische Struktur? Das ist in der Tat der Fall. Naturrechtlicher Art ist einmal die Rollendifferenzierung zwischen Täter und Teilnehmer: „Nicht in irgendwelchen positiv-gesetzlichen Bestimmungen, sondern in den wesensmäßigen Erscheinungsformen finalen Handelns innerhalb der sozialen Welt liegt der Unterschied zwischen Täterschaft und Teilnahme.“14 Auch das Akzessorietätsprinzip (und das insbesondere)15 ist eine sachlogische Struktur. Welzel schreibt: „Auch die Art der Abhängigkeit, in der die Tat des Teilnehmers zur Haupttat steht, ist dem Gesetzgeber keineswegs freigestellt, sondern durch sachlogische Gesichtspunkte vorgezeichnet.“16 Soweit zu Welzels Lehre. Ich habe sie hier vergleichsweise ausführlich dargestellt, weil Welzel – einmal mehr – eine geschlossene Darstellung einer Lehre gelungen ist, die bei vielen anderen Autoren nur fragmentarisch entwickelt ist. Unabhängig davon, ob man dieser Lehre zustimmt oder nicht, ist sie doch eine klassische Beschreibung einer mehr implizit als explizit verwendeten Argumentform. Sollte man Welzel zustimmen? Ich fürchte, das ist nicht der Fall. Wie gezeigt, verwendet Welzel hier ein naturrechtliches Argumentations- oder/und Begründungsmuster – und hat sich damit sämtliche Probleme eingehandelt, die zu diesem Argumentationsstil gehören und die er an anderer Stelle17 auch deutlich herausarbeitet, an dieser Stelle, im Rahmen der Dogmatik zur Teilnahmelehre (aber nicht nur hier), aber seltsamerweise ignoriert. Wie gelangt man denn – logisch korrekt – von einer (empirisch, deskriptiven) sachlogischen Struktur (z. B. „Der Anstifter verursacht den Tatentschluss des Täters“) zu der Norm, dem Verbot der Anstiftung genannten Handlungsweise (z. B. „Wer einen anderen dazu bestimmt, einen Menschen zu töten, soll bestraft werden!“)? Mir ist keine Stelle in Welzels umfänglichen Werk bekannt, in der er den Übergang von Sein zum Sollen auch nur ansatzweise demonstriert.18 Sieht man genauer hin, so wird auch sofort deutlich, dass Welzels (naturrechtliche) Argumentation – und das gilt praktisch für alle Varianten dieser Argumentationsform – mehr verschleiert als begründet. Ein Sprecher könnte Welzel folgendes replizieren: Ich gebe zu, Anstifter, Gehilfen, Täter, Mittäter, mittelbare Täter, das sind ge___________ 13

Welzel (Fn. 1), S. 286; Hervorh. von H. W. Welzel (Fn. 9), S. 161. 15 Welzel (Fn. 9), S. 166. 16 Welzel (Fn. 9), S. 285; Hervorh. von H. W. 17 Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. 1962, S. 240-241. 18 Zu solchen „Brücken-Prinzipien“ vgl. Albert, Traktat über kritische Vernunft, 3. Aufl. 1975, S. 75 ff. 14

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läufige Wörter unserer Alltagssprache und sie bezeichnen in verschiedenen Bereichen unserer Kultur (Ökonomie, Kunst, Bildung, etc.) den unterschiedlichen Status von Personen oder ihre meistens hierarchisch geordneten Positionen oder ihre Rollen und dergleichen Dinge mehr. Aber warum soll ein Gesetzgeber daran gebunden sein? Warum muss es sie quasi ein-eindeutig abbilden? Und was ist, wenn der Gesetzgeber den sachlogischen Strukturen nicht folgt? Hat Welzel hierzu eine Gegenrede? Das ist der Fall, aber sie ist nur sehr vage. Welzel schreibt: „Ein Verstoß gegen sie (die Bindung an die sachlogische Struktur, H. K.) hat nicht zur Folge, daß seine Regelung ungültig wird, wohl aber, daß er sein Ziel nicht erreicht …“19 M. E. bleibt nur eine offene Frage: Desavouiert der letzte Satz nicht eher eine Bindung an die sachlogischen Strukturen? 2. Typus und Teleologie Wer die Bedeutung von sachlogischen Strukturen für die Dogmatik von Täterschaft und Teilnahme geringer bemisst, dem wird ein Ansatz, der um Typus und Teleologie kreist, willkommen sein. Natürlich geht der Streit um die Typus-Lehre weit über die Strafrechtsdogmatik hinaus. Verweisen bestimmte, wichtige Wörter des rechtlichen Sprachspiels gar nicht auf Begriffe, sondern auf Typen? Diese These und vor allem ihre Bedeutung für die juristische Methodenlehre hat K. Larenz20 gründlich untersucht und vertreten. Das alles kann hier natürlich nicht diskutiert werden. Larenz’ These, unter einen Typus lasse sich nicht oder jedenfalls nicht in gleicher Weise wie unter einen Begriff subsumieren und seine daraus a fortiori abgeleitete, womöglich noch stärkere These, Typuskonzeptionen würden eine deduktive Entscheidungsbegründung unmöglich machen21, ist aber nicht vertretbar.22 Wenden wir den Blick von der juristischen Methodenlehre zur (engeren) Strafrechtsdogmatik, so sind hier vor allem zwei Autoren zu nennen: Über die Bedeutung von Typuskonzeptionen für die Hermeneutik des Strafrechts hat keiner gründlicher und allgemeiner als Hassemer23 reflektiert. Roxin selbst bezeichnet sein Tatherrschaftskriterium als eine Typuskonzeption – i. S. Larenz’.24 Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Monographie von R. Bloy25, von der im Folgenden etwas näher die Rede sein soll. Die Idee zu ___________ 19

Welzel (Fn. 1), S. 284. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 290 ff. 21 Vertreten auch von Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968, S. 116. 22 Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 73-77. 23 Vgl. die Fn. 21. 24 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, S. 25-32 und vor allem S. 119126; hier auch der Hinweis auf Larenz in der Fn. 1, S. 120 und Fn. 2, S. 123. 25 Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985. 20

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diesem ziemlich umfänglichen, auch recht verschachtelten Werk erhielt Bloy zweifellos von seinem Lehrer Maiwald. Maiwalds Ansatz, dargestellt in dem oben erwähnten Aufsatz, ist gleichzeitig selbstverständlich und genial. Die Bedeutung strafrechtlicher Begriffe müsse teleologisch, aus ihrem Zweck heraus, begründet werden. Die Begriffe Täter, Anstifter und Gehilfe sind nicht deskriptiv, sondern askriptiv zu verstehen, sie spielen eine wichtige Rolle bei der Zurechnung eines Erfolges zu einer Person – ein Spezialfall der allgemeinen Zurechnungslehre. Maiwald schreibt, der teleologische Hintergrund der Begriffe Anstiftung, Beihilfe und Täterschaft lasse sich „ganz allgemein dahin kennzeichnen, dass die Teilnahmeformen Möglichkeiten der Verantwortlichkeit für das tatbestandliche Unrecht ausdrücken.26 Dieser Gedanke nun wird von R. Bloy gründlich ausbuchstabiert. Eine konzise Skizze seines komplizierten, weil verzweigten und verschachtelten Gedankenganges, sieht etwa so aus: Täter, Anstifter und Gehilfe sind sog. normative Realtypen.27 Der vielleicht erste Eindruck einer Paradoxie löst sich auf, wenn man erfährt, dass dieser Ausdruck eine (teleologische) Konstruktion bedeutet, der durchaus empirisch inspiriert sein kann („Realtypus“)28, seine Bedeutung aber nicht in der Beschreibung empirischer Phänomene erschöpft.29 Das Konstrukt (der normative Realtypus) wird gebildet „im Hinblick auf die Rechtsfolgen, die an sein Vorliegen geknüpft sind …“30 Geht es um Sanktion (und das ist tatsächlich der richtige Standpunkt, wenn es um Zurechnung geht), dann sind der Typus Täter und der Typus Teilnehmer (auf dieser Ebene differenziert R. Bloy nicht zwischen Anstiftung und Gehilfenschaft) aus unterschiedlichen Gründen strafwürdig und strafbedürftig. Die Strafwürdigkeit des Täters beruhe auf einem direkten personalen Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg, beim Teilnehmer dagegen nur auf einem indirekten. Bloy schreibt: „… (S)o läßt sich der spezifische personale Zusammenhang bei der Täterschaft als ein direkter, bei der Teilnahme als ein indirekter, weil durch die Person des Täters vermittelter, kennzeichnen.“31 Schließlich entwickelt Bloy den Unterschied der beiden normativen Realtypen bzgl. der Strafbedürftigkeit aus der Theorie der Strafzwecke, der „General- und Spezialprävention“.32 Hier soll es zwischen Täter und Teilnehmer einen beachtenswerten Unterschied geben. „Die Strafbedürftigkeit der Täterschaft besteht also in der Präventionsbe___________ 26

Maiwald (Fn. 10), S. 355. Bloy (Fn. 25), S. 302 ff. 28 Bloy (Fn. 25), S. 295 ff. 29 Bloy (Fn. 25), S. 39. 30 Bloy (Fn. 25), S. 303 ff. 31 Bloy (Fn. 25), S. 314, vgl. auch S. 315, 316, 317. 32 Bloy (Fn. 25), S. 320. 27

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dürftigkeit des tatbestandlichen Unrechts.“33 Wohl anders im Falle der Teilnahme. „Mit der Verhängung von Kriminalstrafe ist … bezweckt, Teilnahme an der Verwirklichung tatbestandlichen Unrechts durch andere zu verhindern.“34 Auch R. Bloys Ansatz kann sicher als Musterexemplar für zahlreiche verwandte Ansätze gelten. Ein genauer Blick auf die Konstruktion (nicht auf Details) wird daher nützlich sein. Was genau sagt Bloy? Er sagt, Täter und Teilnehmer sind normative Realtypen, also askriptivische Konstrukte. Der Täter ist durch einen direkten personalen Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg gekennzeichnet, also ist der Unwertgehalt35 dieses Typs höher und eine höhere Sanktion gerechtfertigt. Kennzeichen des Teilnehmers ist ein (nur) indirekter personaler Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg (vermittelt durch den Täter), also enthält dieser Typus auch nur einen geringeren Unwertgehalt36, folglich kann auch eine geringere Sanktion gerechtfertigt sein. Meine Frage ist nicht, ob das Muster stimmig ist, oder ob es (verborgen) tautologisch oder zirkulär sein könnte. Ich gehe davon aus, dass es eine aufwendige Reformulierung einer geläufigen Intuition ist. Meine Frage ist dann, ob darin eine echte Erkenntnis vermittelt wird und falls ja, welche? Meine zweite Frage ist, ob der typologisierende Ansatz in der Teilnahmedogmatik nicht über Gebühr betont wird? Dazu bitte ich den Leser folgendes Gedankenexperiment zu machen: § 26 StGB lautet: „Als Anstifter wird gleich einem Täter bestraft, wer vorsätzlich einen anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat bestimmt hat.“ Nun lautet meine Frage, würde sich etwas ändern, wenn die Norm etwa diesen Wortlaut hätte: „Wer einen anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat bestimmt hat, wird gleich einem Täter bestraft?“ Für die Subsumtion ganz sicher nicht, denn subsumiert wird unter die Handlungsweise, nicht unter die Figur. Und für den Unrechtsgehalt ebenfalls nicht, denn der Unwert der Anstiftung steckt in der inkriminierten Handlungsweise („bestimmen“) und nicht (entgegen Bloy) im normativen Realtypus („Anstifter“). Es ist wohl nicht ganz unplausibel anzunehmen, dass die Figuren in diesem Teil der Dogmatik eine zu starke Rolle spielen. Vom Unwertgehalt schließlich zur Sanktion. Lapidar formuliert werden – nach Bloy – Täter und Teilnehmer aus (general-)präventiven Gründen bestraft. Der Täter („Realisator“37) aber, weil tatbestandliches Unrecht präventionsbedürftig ist, der Teilnehmer dagegen, um ihn „an der Verwirklichung tatbestand___________ 33

Bloy (Fn. 25), S. 320. Bloy (Fn. 25), S. 320. 35 Bloy (Fn. 25), S. 317 Abs. 3. 36 Bloy (Fn. 25), S. 317 Abs. 3. 37 Bloy (Fn. 25), S. 320. 34

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lichen Unrechts durch andere zu … hindern.“38 Im Großen und Ganzen kann ich dem Argument zustimmen, möchte es aber etwas anders formulieren. Kern der Präventionstheorie ist die Prämisse, den Vollzug einer bestimmten Handlungsweise durch eine Sanktionsdrohung unwahrscheinlicher zu machen. Die Figuren sind auch hier wieder nicht so bedeutend.

III. Kausalität und Akzessorietät Es geht nicht um die §§ 26, 27, 28, 29 StGB oder ihre Interpretation, sondern um den Streit um das Akzessorietätsprinzip. Hierzu ist es nützlich, sich an den Rose/Rosahl-Fall zu erinnern. Alles, was Rosahl gesagt und getan hat, um Rose dazu zu bringen den Schliebe zu töten, werden wir hier in einem Satz zusammenfassen, nämlich diesen: „Rose, töte den Schliebe!“ und diesen Imperativ Handlung 1 nennen. Alles, was Rose getan hat, werden wir ebenfalls in einem Satz zusammenfassen: „Rose tötete den Harnisch“ und diesen Tötungsakt im Folgenden Handlung 2 nennen. In dem Streit um das Akzessorietätsprinzip geht es – im Grundsatz – um die Frage, in welchem Verhältnis Handlung 1 und Handlung 2 zueinander stehen. Traditionell und von der Mehrheitsmeinung39 wird behauptet, zwischen Handlung 1 und Handlung 2 beständen zwei Relationen, eben Kausalität und Akzessorietät, gelegentlich sogar als „akzessorische Verursachung“40 beschrieben. Dass die Handlung 1 die Ursache (i.S.d. conditio sine qua non) der Handlung 2 ist, ist spätestens seit von Buri41 communis opinio; nur eine Minderheitsmeinung hat an dieser festen Überzeugung gelegentlich einige Zweifel geltend gemacht. Doch dazu werde ich erst später (in IV.) etwas schreiben. In der in diesem Zusammenhang sog. Verursachungstheorie42 ist der Kausalzusammenhang gegenwärtig ja der entscheidende Punkt in der Rechtfertigung der Strafbarkeit der Teilnahme durch die Mehrheitsmeinung.43 Neben der kausalen Relation soll zwischen der Handlung 1 und der Handlung 2 noch eine zweite Relation bestehen, nämlich die akzessorische Verbindung. Diese besagt, quasi umgekehrt, dass die Handlung 1 (irgendwie) von der Handlung 2 abhängt (sprachliche Variation: abgeleitet, entlehnt oder übertragen ist).44 Genauer: „Die Teilnahme trägt ihren … Unrechtsgehalt nicht in sich ___________ 38

Bloy (Fn. 25), S. 320 Abs. 2. Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Band 2, 2003, S. 136 Rn. 26. 40 Roxin (Fn. 39), S. 136 Rn. 27. 41 Hippel, Deutsches Strafrecht, Band 2, 1930 (Neudruck 1971), S. 449. 42 Lüderssen, Zum Strafgrund der Teilnahme, 1967, S. 25 und passim. 43 Welzel (Fn. 5), S. 112, 115. 44 Roxin (Fn. 39), S. 128 Rn. 5. 39

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selbst, sondern bezieht ihn aus der fremden Tat“, wie Jescheck/Weigend45 den nämlichen Sachverhalt zutreffend beschreiben. Graphisch ergibt sich dann dieses Bild: H1

H2

Kausalität Akzessorietät

Vielleicht darf ich annehmen, dass ich die in Rechtsprechung und Literatur gegenwärtig herrschende Meinung über den Zusammenhang von Handlung 1 (Anstiftung) und Handlung 2 (sog. Haupttat) einigermaßen zutreffend reformuliert habe. Was ist von dieser Konstruktion zu halten? Ich fürchte, nicht viel, denn in dieser Kombination von Verursachungstheorie und Akzessorietätsprinzip steckt etwas Paradoxes. Denn: Nach der sog. Verursachungstheorie liegt – abstrakter formuliert – der Strafgrund des Anstifters darin, dass „er den vom Täter verwirklichten Erfolg mit verursachte …“46 Rosahl wird danach – konkreter formuliert – für den Vollzug von Handlung 1 bestraft. Falls die Wörter „Strafgrund“ und „Unrecht“ nicht gänzlich unterschiedliches bedeuten – und so etwas wird man ja nicht annehmen können –, dann liegt das Unrecht, das der Anstifter verwirklicht, in seiner Anstiftungshandlung (Rosahl haftet für den Vollzug von Handlung 1). Aber aus dem Akzessorietätsprinzip folgt etwas Gegensätzliches. Danach trägt „(d)ie Teilnahme … ihren … Unrechtsgehalt nicht in sich selbst, sondern bezieht sie aus der fremden Tat,“ um die gelungene Formulierung von Jescheck/Weigend zu wiederholen. Danach wäre Rosahl für den Vollzug von Handlung 2 verantwortlich, nicht von Handlung 1 – oder, wie sollte man sonst den Ausdruck „bezieht ihn aus der fremden Tat“ verstehen? Dass in dieser Kombination von Akzessorietatäsprinzip und Verursachungstheorie etwas nicht ganz stimmig ist, haben in der jüngeren Vergangenheit Lüderssen47 und – ihm insoweit folgend – Bloy48 deutlich erkannt. Das Problem ist freilich älter und es hat eine – m. E. – klassische Würdigung durch R. v. Hippel erhalten. Er schreibt dies: „Es ist ein kulturwidriger und wissenschaftlich geradezu hilfloser Zustand, einen Menschen zu strafen, der den Erfolg angeblich nicht schuldhaft verursachte, sondern dessen Strafbarkeit entlehnt‘ werden soll aus dem, was ein anderer tat und dachte. Als ob wir heute für fremde Tat und Schuld strafen könnten! … Ich selbst halte … die gesamte Lehre von der sog. akzessorischen Natur der Teilnahme für vollständig verfehlt. ___________ 45 Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 657. 46 Lüderssen (Fn. 42), S. 25 Abs. 1. 47 Lüderssen (Fn. 42), S. 25 Abs. 4 und S. 63 ff. 48 Bloy (Fn. 25), S. 177.

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Das Erfordernis der Begehung der Haupttat (mindestens als Anfang der Ausführung) folgt gerade daraus, dass die Teilnahme Mitverursachung des Erfolges ist.“49 Danach sind die Dinge wieder völlig klar: Rosahl haftet für den Vollzug der Handlung 1 und Rose für den Vollzug von Handlung 2. Grundlage der Haftung (und des Unrechts) ist in beiden Fällen dasselbe Prinzip: Kausalität. Indessen gibt es aus neuerer Zeit zwei interessante Versuche, die – bleiben wir bei dem Ausdruck – Paradoxie dieser „Kombinationstheorie“ aufzulösen. Einer stammt aus der Feder von Bloy, ein anderer von Roxin. Bloy möchte den Gegensatz auflösen, indem er, anders als v. Hippel und Lüderssen, die Verursachungstheorie aus der Gemengelage verabschiedet. Er schreibt wörtlich: „Die Teilnahme muß als Akzessorische Beteiligungsform ausgestaltet werden, während von der Verursachungstheorie Abschied zu nehmen ist.“50 Wie erinnerlich, vertritt Bloy aber auch die Ansicht, dass Täter und Anstifter gleichermaßen – wenn auch im Vollzug unterschiedlich – ein Rechtsgut angreifen („Rechtsgutsangriff“51). Falls der Schlüsselbegriff „Rechtsgutsangriff“ nicht gänzlich metaphorisch zu verstehen ist, so stellt sich natürlich sofort die Frage, wie man sich den einen völlig kausalfreien Angriff vorzustellen habe. Das Problem sieht der Autor selbst. Eine echte Lösung hat er dafür aber nicht gefunden.52 Und das ist auch nicht möglich, denn die Angriff genannte Handlungsweise enthält Kausalität. Hat Roxin eine überzeugende Lösung anzubieten? Zunächst einmal ist seine Konstruktion („gemischte Theorie“53) ziemlich kompliziert, weil sie nicht nur aus zwei, sondern aus drei Stücken (irgendwie54) zusammengesetzt ist. Nur wenn die akzessorische Verursachung (insoweit traditionell) einen „selbstständigen Rechtsgutsangriff“55 darstelle (Roxins drittes Stück), begründe sie das Unrecht der Teilnahme.56 Überzeugend ist auch diese Position – m. E. – nicht. In der „akzessorischen Verursachung“ ist die oben diskutierte Paradoxie enthalten.57 Was das dritte Merkmal, den „selbstständigen Rechtsgutsangriff“ – isoliert betrachtet – anbe___________ 49

Hippel (Fn. 41), S. 451; Hervorh. von R. v. H. Bloy (Fn. 25), S. 254 Abs. 2. 51 Bloy (Fn. 25), S. 254, 255. 52 Der Leser vergleiche selbst Bloy (Fn. 25), S. 255 Abs. 2. 53 Roxin (Fn. 39), S. 131 Rn. 11. 54 Vgl. dazu Jung, Roxin, Marias, GA 2006, 301-304 (302); Bloy (Fn. 25), S. 253 f. 55 Roxin (Fn. 39), S. 136 Rn. 27. 56 Roxin, FS Stree/Wessels, 1993, S. 365-382 (369 ff.). 57 Dazu insbesondere Bloy (Fn. 25), S. 255 „… aus zwei heterogenen Teilen additiv zusammen(gesetzt) …“. 50

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langt, so ist wohl vor allem fraglich, ob es überhaupt erforderlich ist. Die hier diskutierten Fälle sind entweder reichlich konstruiert oder wirken, normale moralische Intuition vorausgesetzt, abstoßend; praktisch sind sie völlig irrelevant.58 Abschließend noch einige Bemerkungen zu der Auseinandersetzung über den Strafgrund der Teilnahme. Die Streitfrage wird etwa von Roxin (aber völlig repräsentativ) so formuliert: „Der zentrale Streitpunkt hinsichtlich des Strafgrundes der Teilnahme liegt in der Frage, ob das Teilnahmeunrecht aus dem Unrecht der Tätertat abgeleitet oder ob es selbstständig ist.“59 Roxin hat diese Kontroverse umfänglich und sorgfältig dokumentiert.60 Wenn man, wie ich, die Verursachungstheorie (nota bene: i.S.d. conditio sine qua non) im Wesentlichen für richtig hält (und sich außerdem noch die obige Graphik in Erinnerung ruft), dann erkennt man recht leicht, dass dieses Problem nur ein Scheinproblem ist. Welche Rolle das Akzessorietätsprinzip pro futuro spielen könnte? Nun, es wird marginalisiert werden zur Regelung dogmatischer (oder gesetzestechnischer) Details.61

IV. Anstiftung und Kausalität Die Interpretation des gesetzlichen Ausdruckes „bestimmt hat“ ist schwierig und strittig. Hier geht es um die Frage, ob in der sehr weiten Interpretation etwa von Welzel („Hervorrufen der Tatentschlossenheit“62) ein Kausalzusammenhang enthalten ist oder nicht. Dazu sogleich. Zuvor möchte ich aber doch noch eine Bemerkung zum „Wesen“ der Anstiftungshandlung schreiben. Um es sogleich klar zu sagen: Von den jedenfalls in der Kommentar- und Lehrbuchliteratur vertretenen Deutungen finde ich keine (ganz) überzeugend. Der entscheidende Punkt der Anstiftung wird – m. E. – nicht (ganz) getroffen. Die Rede ist von einem bestimmten Motivationszusammenhang. In seiner sehr gründlichen aber wenig beachteten Studie schreibt Less dies: „Der Anstifter macht sich zum Herrn fremden Willens, er verengt ihm die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden, er schaltet sich in den Motivationsprozess eines anderen ein zu dem Zweck, sich ihm zu unterwerfen.“63 Wer hierzu einer Illustration bedarf, erinnere sich des Rose/Rosahl-Falles, in dem sich die beschriebene Struktur ge___________ 58

Roxin (Fn. 56), S. 370-372. Roxin (Fn. 39), S. 130 Rn. 11. 60 Roxin (Fn. 39), S. 131-136 und ders. (Fn. 56), S. 365-369; vgl. auch Schmidhäuser, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1984, S. 270-272. 61 So auch Schmidhäuser (Fn. 60), S. 269 Rn. 10. 62 Welzel (Fn. 5), S. 116. 63 Less (Fn. 6), S. 50. 59

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radezu ideal abbildet. Gewiss, so schreibt Less weiter, müsse es der Anstifter letzten Endes dem Umworbenen überlassen, ob er die Tat begehen will oder nicht, doch gehe sein Wille darauf, sich ihm gefügig zu machen.64 Wieder ist der Rose/Rosahl-Fall ein gutes Beispiel. Wie erinnerlich, leistete Rose anfänglich erheblichen Widerstand gegen Rosahls Plan. Dieser hat nur mit erheblichem Aufwand (werbend, flehend, eine Belohnung in Aussicht stellend, auch argumentierend) Roses natürliche Tötungshemmung überwinden können. Knapp zusammengefasst bedeutet „bestimmen“ die Erzeugung eines erheblichen Motivationsdrucks. Noch einmal Less: „Anstiftung besteht, psychologisch gesehen, nicht lediglich in der Lieferung eines Motivs für die Willensbildung des anderen, sondern in der aktiven Bearbeitung des anderen, das Motiv zu seiner Willensbildung auch anzunehmen.“65 Ein Streifzug durch die Literatur ergibt dagegen Folgendes: Die Deutung des gesetzlichen Ausdrucks („bestimmt hat“) als „Hervorrufen der Tatentschlossenheit“66 oder als „Verhaltensvorschlag“67 oder auch als „Aufforderung“68 ist zu schwach; dagegen sind Interpretationen wie „geistige Beeinflussung durch Kollusion“69 oder kontraktualistisch als „Unrechtsakt“70 zu symmetrisch, sie passen eher zur Mittäterschaft. Mit der von Jakobs vertretenen Auffassung („… Kommunikation über die Handlung, die man vollziehen soll …“71) und der hier (nur) skizzierten Interpretation könnte dagegen eine gewisse Verwandtschaft bestehen. Schließlich berichtet Jung, dass das französische Strafrecht „bloße Vorschläge und Ratschläge nicht genügen (lässt), wenn sie nicht von Druckmitteln begleitet sind.“72 Es liegt nahe, die Frage zu stellen, ob der Motivationsdruck, den der Anstifter ausübt („Handlung 1“), es nicht gleichzeitig ausschließt, die Handlung, die der Haupttäter ausführt („Handlung 2“) als frei vollzogen zu bewerten. Die Frage ist, wie bekannt, oft gestellt und sehr kontrovers diskutiert worden. Ich kann das Thema hier natürlich nicht erörtern, deshalb nur eine knappe Bemerkung, quasi der Vollständigkeit halber. Versteht man – wie ich – Freiheit i.S.v. Handlungsfreiheit (Aristoteles, Hume) und hält man diesen Begriff für stark genug, um den strafrechtlichen Schuldvorwurf zu begründen, so ist die hier ___________ 64

Less (Fn. 6), S. 48. Less (Fn. 6), S. 50. 66 Welzel (Fn. 5), S. 116. 67 Schmidhäuser (Fn. 60), S. 310. 68 Roxin (Fn. 39), S 153-158 und ders. (Fn. 56), S. 377. 69 Jescheck (Fn. 3), S. 622. 70 Puppe, Der objektive Tatbestand der Anstiftung, GA 84, 101-123 (112). 71 Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1983, S. 551 Rn. 22. 72 Jung (Fn. 54), S. 303 ff. 65

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(nur angedeutete) Motivationstheorie der Anstiftung mit der Handlungsfreiheit kompatibel. Doch das, wie gesagt, nur mehr en passant. Wenn wir nunmehr zur eigentlichen Frage zurückkehren, ob zwischen Anstiftung und Haupttat ein Kausalzusammenhang besteht, so ist es nützlich, als Ausgangspunkt die Frage nach der Bedeutung von Kausalität zu stellen. Es kann vermutet werden, dass die Antwort unterschiedlich ausfallen wird, je nach dem, ob man von einem Humeschen Kausalbegriff ausgeht oder Kausalität als conditio sine qua non deutet. Deutet man Kausalität als notwendige Bedingung, dann ist das Problem praktisch aus der Welt.73 Denn diese äußerst schwache Voraussetzung ist sicher auch dann erfüllt, wenn der Anstifter seine Tätigkeit auf Vorschlag und Beratung beschränkt. Auch das Gedankenexperiment („Hinwegdenkverfahren“)74 ist in dem Fall äußerst trivial und funktioniert praktisch problemlos. Das Faktum einer Kommunikation zwischen Anstifter und Angestiftetem unterstellt, wird es nur sehr schwer sein zu bezweifeln, dass ohne diese Kommunikation das Verbrechen unterblieben wäre. Es ist eine bare Trivialität, dass „Handlung 2“ nicht stattgefunden hätte, falls „Handlung 1“ nicht der Fall gewesen wäre. Wenn man aber die Frage stellt, ob zwischen Rosahls Imperativ („Töte den Schliebe!“) und Roses Entschluss, Schliebe zu ermorden, ein Humescher Kausalzusammenhang besteht, handelt man sich so viele schwierige Probleme ein, dass man fast geneigt ist, zur conditio-sine-qua-non-Regel zurückzukehren. Welche Merkmale gehören (wesentlich) zu Humes Kausalbegriff? Es sind nur zwei Elemente, zwei Ereignisse (in geordneter zeitlicher Folge) und ein nomischer (deterministischer) Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen. Fragen wird also ganz naiv: (i) Sind Rosahls Imperativ und Roses Entschluss zwei Ereignisse? Einmal vorausgesetzt, es handelt sich um Ereignisse, besteht dann (ii) zwischen diesen ein nomischer Zusammenhang in Form eines deterministischen Gesetzes? Schon die Frage (i) klingt sehr viel einfacher als sie tatsächlich ist. Zu der Frage nämlich, was ein Ereignis eigentlich ist, herrscht unter Philosophen ein erheblicher Streit.75 Gehen wir einmal – wieder recht naiv – davon aus, dass ein Ereignis etwas ist, dem man die bekannten drei Raum- und die Zeitkoordinate(n) zuordnen kann, dann sind Imperativ und Entschluss vermutlich keine Ereignisse. Zwar kann man Rosahls Sprechakt, mit dem der Imperativ vollzogen wurde, die vier Koordinaten zuordnen. Aber es geht ja nicht um den Sprechakt in seiner physikalischen Dimension, sondern um seine Bedeutung. Hat Seman___________ 73

Hippel (Fn. 41), S. 449. Vgl. hierzu Puppe (Fn. 70), S. 114. 75 Beckermann, Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, 2. Aufl. 2001, S. 185-191. 74

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tik etwas mit Ereignissen zu tun? Wohl noch problematischer wird es, Roses Entschluss unter den – naiven – Ereignisbegriff zu subsumieren. Kann man wirklich annehmen, mentale Phänomene hätten räumliche Dimensionen? (Die Zeitkoordinate ist kein Problem.) Und wie geht es dann weiter, welcher Art ist dann der Zusammenhang zwischen diesem Entschluss und Roses Körperbewegungen, die er zum Vollzug des Mordes ausführt? Die hier aufgeworfenen Fragen sind mehr oder weniger ungelöst, aber so viel wird man sagen dürfen, dass die Bezeichnung des Imperativs und des Entschlusses als zweier Ereignisse ganz sicher nicht selbstverständlich ist. Dagegen ist die Frage (ii) – m. E. – eindeutig zu verneinen. Ich habe diese Frage an anderer Stelle etwas ausführlicher behandelt76, sodass ich hier nur ein wichtiges Argument vortragen möchte. Der Satz „Rose fasste den Entschluss den Schliebe zu töten aufgrund des Imperativs des Rosahl“ enthält keinen versteckten Bezug auf eine empirische Regel, gar ein deterministisches Gesetz, wie der Satz „A hat Kopfschmerzen, weil er zu viel Schnaps getrunken hat.“ Der Zusammenhang zwischen Imperativ und Entschluss ist einfacher, elementarer, wir verstehen ihn spontan. Welche Folgen sich hieraus für die Zurechnung ergeben, brauchen wir an dieser Stelle ebenfalls nicht zu diskutieren. Abschließend möchte ich noch auf eine Arbeit Puppes zum gleichen Thema hinweisen. Auch sie ist der Ansicht, dass man den Zusammenhang von Rosahls Imperativ und Roses Entschluss nicht unter deterministische Gesetze subsumieren könnte.77 Die Frage, ob das – wie sie es formuliert – aus „prinzipiellen Gründen“78 – gemeint ist das Willensfreiheitsproblem, das die Hegelschule in diesem Zusammenhang besonders traktiert hat – nicht möglich sein sollte, lässt sie offen. Pragmatisch gewandet ist es einfach das banale und ernüchternde Faktum, dass gegenwärtig gar keine deterministischen Gesetze bekannt seien, unter die menschliche Interaktionen subsumiert werden könnten. Was tut man in einer solchen Situation? Puppe schlägt vor, auf eine kausal gestützte Zurechnung „im Bereich der Anstiftung ganz zu verzichten.“79 Und auf welches Kriterium soll die Zurechnung dann gestützt werden? Auf Handlungsgründe. Puppe argumentiert, für die Zurechnung genüge es, „dass wir für jede unserer Handlungen Gründe anerkennen …“80 Also hat Rosahl den Rose genau dann zu dem Mord bestimmt, wenn sein Imperativ für ihn ein Grund gewesen ist, den Tötungsakt zu vollziehen. Das alles klingt recht plausibel, ja trivial. Doch enthält Puppes „Modell des psychischen Bewirkens“81 ein Problem, eine Art Aporie. In ___________ 76

Koriath, Kausalität und objektive Zurechnung, 2006, S. 135-144. Puppe (Fn. 70), S. 105, 106. 78 Puppe (Fn. 70), S. 109. 79 Puppe (Fn. 70), S. 108. 80 Puppe (Fn. 70), S. 109. 81 Puppe (Fn. 70), S. 109. 77

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ihrem Modell ist der Angestiftete (Rose) frei, frei i.S.d. Willensfreiheit. Danach hat Rose „die Möglichkeit … die Gründe für die Tat anzuerkennen oder zurückzuweisen und sich überhaupt nicht oder aus anderen Gründen zu der Tat zu entschließen.“82 Wenn das so sein sollte: Wie soll es möglich sein, (auch) Rosahl den Mord zuzurechnen? Das Problem sieht Puppe wohl. Wenn sie aber schreibt „so bleibt die Anstiftung als Mittel der Erfolgsherbeiführung doch ein recht unsicheres und unbeherrschbares Verfahren“83, so wird deutlich, dass ihr Modell eine endgültige Lösung dieses Zurechnungsproblems wohl doch nicht enthält. Ich weiß, dass der Laureat eine überschwängliche Laudatio nicht leiden kann. Also möchte ich meine Wertschätzung möglichst unprätentiös ausdrücken, vielleicht so: In bester Erinnerung habe ich Manfred Maiwalds Antrittsvorlesung in Göttingen, gehalten im WS 1977/1978. Maiwald sprach über die Philosophie zur Kausalität, über Hume, Kant, Mill und die modernen Theorien aus der Analytischen Philosophie. Es war eine große Rede – und für mich ein Bildungserlebnis. Aus dieser Vorlesung entstand dann das überragende Buch „Kausalität und Strafrecht“ (1980). Natürlich habe ich dieses Werk mehrfach gelesen – und ich glaube, einiges wäre anders verlaufen, ohne diese Lektüre. Salute Maiwald!

___________ 82 83

Puppe (Fn. 70), S. 109. Puppe (Fn. 70), S. 110.

Von der gerechten Strafe zum legitimen Bereich des Strafbaren Eine Wegbeschreibung aus Anlass neuer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Von Kristian Kühl

I. Einführung in die Thematik Das nach vielen verworfenen Versuchen – einige waren sofort als subjektiver Fehlschlag auszuscheiden, von anderen wurde erst nach längerem Überlegen zurückgetreten, das aber dann aus zwingenden Gründen und deshalb nicht freiwillig – schließlich gewählte Thema zeigt einen Weg, der auch in umgekehrter Richtung begehbar erscheinen könnte. Der umgekehrte Weg ist der für den Richter vorgesehene. Erst nach der Feststellung der Straftat kann der Richter die gerechte Strafe bemessen. Und auch bei der Bemessung der gerechten Strafe muss er sich zunächst an der schuldhaft begangenen Straftat und ihrer Schwere orientieren, wenn er den Bezug der Strafe zur Gerechtigkeit nicht verfehlen will. Wer sich als Strafrechtler oder als Kriminalpolitiker oder als Rechtsphilosoph um die angemessene Bestimmung des Verhältnisses von Strafe und Straftat kümmern will, sollte – wie es auch das Thema dieses Festschriftbeitrags vorzeichnet – mit der Strafe beginnen. Denn durch diese besondere Sanktion hebt sich das Strafrecht von anderen Rechtsgebieten wie etwa dem Zivilrecht besonders deutlich ab. Selbst im Bereich der strafrechtlichen Sanktionen, zu denen ja auch Maßregeln der Besserung und Sicherung gehören, sticht die Strafe hervor. Erst wenn man erfasst hat, was das Besondere an der Sanktion „Strafe“ ist, kann man sinnvoll fragen, auf welche Taten eine solche Sanktion passen könnte. Ein Ansetzen bei den Taten würde die Besonderheit des Strafrechts nicht erfassen, denn im Verbot etwa von Tötung oder Diebstahl unterscheidet sich das Strafrecht nicht von anderen Rechtsgebieten. So führt eine Verletzung der Rechtsgüter Leben oder Eigentum auch im Zivilrecht als unerlaubte Handlung nach § 823 BGB zu einer Sanktion; – allerdings nur zu Schadensersatz und nicht zu einer Strafe. Erst die Strafe und erst recht die schwerste Strafe – die le-

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benslange Freiheitsstrafe – zwingt zu der Überlegung, ob sie nicht ein zu schweres Geschütz für bestimmte Fehlverhaltensweisen wie etwa Bagatelltaten oder nur grob anstößiges Verhalten ist. Die Überschrift des vorliegenden Festschriftbeitrags zeichnet aber nicht nur den Weg von der Strafe zur Straftat (= dem Bereich des Strafbaren) vor, sondern qualifiziert den Ausgangspunkt und den Zielpunkt in nicht gerade streng juristischer Sprache oder gar dogmatischer Terminologie mit den Begriffen „gerecht“ und „legitim“. Die Begriffe sind zwar nicht streng juristischdogmatischer Natur, aber doch auch unter Juristen nicht so ungebräuchlich, dass man sie nicht in der Überschrift eines Festschriftbeitrags für einen Strafrechtswissenschaftler verwenden dürfte. Von der gerechten Strafe zu sprechen, vermeidet zwar das Strafgesetzbuch, doch schon die auch für das Strafrecht höchste richterliche Instanz – das Bundesverfassungsgericht – leitet das Erfordernis der Gerechtigkeit der Strafe aus der Verfassung ab. Das ist gerade wieder in jüngster Zeit in zwei Entscheidungen deutlich geworden, auf die noch näher eingegangen werden muss. Hier sollen zum Beweis des soeben behaupteten notwendigen Gerechtigkeitsbezugs der Strafe nur zwei kurze Zitate dienen. In der Entscheidung zum sog. „Kannibalen“-Fall vom 7.10.2008, in dem der Bundesgerichtshof in Strafsachen zu einer Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe wegen eines Mordes „zur Befriedigung des Geschlechtstriebs“ kam1 – der das Opfer nicht nur tötende, sondern es (mit dessen Einverständnis) auch verzehrende „Kannibale“ strebte diese Befriedigung beim Betrachten des vom Tötungsvorgang hergestellten Videos an – heißt es, „dass Tatbestand und Rechtsfolge gemessen an der Idee der Gerechtigkeit sachgerecht aufeinander abgestimmt sein müssen“2. Das erfordert bei der Rechtsfolge – lebenslange Freiheitsstrafe – hohen Begründungsaufwand hinsichtlich des Tatbestands – Mord zur Befriedigung des Geschlechtstriebs. Wichtiger ist jedoch an dieser Stelle die grundgesetzliche Absicherung dieser Gerechtigkeitsschranke für die Strafe. Das Gericht entnimmt sie zunächst dem verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatz, den das Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip ableitet. Ganz ähnlich wurde auch schon in der neuen sog. „Inzest“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26.2.2008 argumentiert und abgeleitet, die Ableitung sogar doppelt fundamentiert. „Im Bereich staatlichen Strafens folgt aus dem Schuldprinzip und aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Schwere einer Straftat und das Verschulden des Täters zu der Strafe in einem gerechten Verhältnis stehen müssen. Eine Strafandrohung darf nach Art und ___________ 1 2

BGH St 50, 80 ff. BVerfG NJW 2009, 1061, 1063.

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Maß dem unter Strafe gestellten Verhalten nicht schlechthin unangemessen sein. Tatbestand und Rechtsfolge müssen vielmehr sachgerecht aufeinander abgestimmt sein“3. War diese Bindung der Strafe an die Gerechtigkeitsidee im „Kannibalen“Fall deshalb erforderlich, weil es um eine passende Antwort auf einen Mord ging, der zumindest hinsichtlich des in ihm steckenden Totschlags zweifelsfrei als legitime Straftat gilt, so geht es im „Inzest“-Fall um eine andere Konstellation. In diesem Fall stand keine lebenslange Freiheitsstrafe im Raum, aber auf der Straftat-Seite war die Legitimität der Strafvorschrift über den Inzest (§ 173 StGB) umstritten. Der Gerechtigkeitsbezug der Strafe stand also nicht direkt zur Diskussion, es ging nicht um die für eine bestimmte Straftat angemessene und gerechte Strafe, sondern nur indirekt, d.h. insofern als eine Strafe überhaupt dann nicht passt und deshalb auch ungerecht ist, wenn es um die Sanktionierung einer Moralwidrigkeit ohne Rechtsgutsverletzung geht. Das ist ein dem Strafrechtler vertrautes Problem, geht aber über das Strafrecht hinaus. Reine Moralwidrigkeiten verdienen nicht nur keine Strafe, sondern auch keine andere rechtliche Sanktion wie etwa Schadensersatz oder Schmerzensgeld. Strafe und Gerechtigkeit werden aber – wie eine erste Umsicht ergibt – nicht nur vom Bundesverfassungsgericht aus verfassungsrechtlichen Gründen zusammengesehen. Auch in der Rechtsphilosophie ist das durchaus üblich. Ohne hier weit auszuholen, seien hier nur zwei klassische und repräsentative Zitate aufgegriffen. So antwortet etwa der wegen seiner Vergeltungstheorie der Strafe oft (und zu Unrecht) gescholtene Immanuel Kant – der geforderte „Abschied von Kant und Hegel“ ist einem zwar noch im Ohr, hat aber nicht stattgefunden – auf die selbst gestellte Frage in der allgemeinen Anmerkung E. „Vom Strafund Begnadigungsrecht“ der Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre von 1797: „Welche Art aber und welcher Grad der Bestrafung ist es, welche die öffentliche Gerechtigkeit sich zum Prinzip und Richtmaße macht?“: „Kein anderes als das Prinzip der Gleichheit (im Stande des Züngleins an der Waage der Gerechtigkeit), sich nicht mehr auf die eine als auf die andere Seite hinzuneigen.“ Ebenso schnell wie unerwartet kommt auch Gustav Radbruch in dem dem „Strafrecht“ gewidmeten § 22 seiner Rechtsphilosophie auf die Gerechtigkeit zu sprechen: „Die Gerechtigkeit bietet zunächst die Gestalt der ausgleichenden Gerechtigkeit dar, um die Strafe auf sie zu gründen“. Trotz aller Kritik an Kant und trotz der Favorisierung eines sozialen Strafrechts, übersieht Radbruch nicht die Stärke und Unvermeidbarkeit des Vergeltungsgedankens: „er dient gleichzeitig der Rechtfertigung der Strafe und ihrer Zweckbestimmung, erfüllt in sich zugleich den Gedanken der Gerechtigkeit und den der Rechtssicherheit“. ___________ 3

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Schließlich ist die Rede von der gerechten Strafe auch umgangssprachlich üblich. Damit ist zwar die Berechtigung einer solchen Redeweise noch nicht dargetan, doch spricht in diesem Fall viel dafür, dass sich in dieser Rede eine über Jahrhunderte gefestigte und geprüfte Sicht das Wort verschafft, und zwar nicht nur in der deutschen Sprache. Aktuell wird die Frage nach der Gerechtigkeit der Strafe und des ganzen Strafrechts besonders deshalb gestellt, weil man sich mit zu geringen Strafen nach Absprachen nur schwer abfindet. Selbst der Präsident des Bundesgerichtshofs, der Strafrechtler ist, hat dafür Verständnis gezeigt. Dem Autor dieses Festschriftbeitrags wurde ein Vortrag zum Thema: „Wie gerecht ist unser Strafrecht?“ von einer Volkshochschule angetragen, und er hatte größte Schwierigkeiten die Kritik an dem „Handel mit der Gerechtigkeit“ durch den Hinweis auf die bestehende gesetzliche Einstellungsvorschrift des § 153a StPO und die inzwischen erfolgte gesetzliche Regelung der Absprachen zu entschärfen. Während Strafe und Gerechtigkeit auf allen Ebenen als zusammengehörig verstanden werden, bedarf die Verwendung des Begriffs „legitim“ in der Überschrift dieses Festschriftbeitrags der Erläuterung. Er ist zwar wie der Begriff „gerecht“ in juristischen Diskursen nicht so unüblich, als dass man ihn nicht in einer Überschrift eines Festschriftbeitrags verwenden dürfte. Dennoch ist er nicht eindeutig, sondern eher schillernd. Häufig wird die Legitimität der Legalität gegenübergestellt. Bekannter ist aber das Theorem von Legalität und Moralität. Die Gegenüberstellung von Legalität und Moralität ist über Immanuel Kant auf uns übergegangen. Sie meint in den Worten Kants, wieder in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre von 1797 „Von der Einleitung einer Metaphysik der Sitten“: „Man nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben, die Legalität (Gesetzmäßigkeit); diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben.“ Weil hier nur die Legalität interessiert, die in Gegensatz zur Legitimität gestellt werden soll, reicht es festzustellen, dass sie dem Rechtsbereich zuzuordnen ist. Das Recht muss sich mit legalem Verhalten der Rechtsunterworfenen zufrieden geben; es reicht die Übereinstimmung der (äußeren) Handlung mit dem Gesetz. Zusätzliche Ansprüche hinsichtlich des (subjektiven) Beweggrundes erhebt nur die Moral. Wird der Begriff „legal“ nicht auf eine (äußere) Handlung, sondern auf eine Strafvorschrift bezogen, so kann man eine legale Strafvorschrift in jeder gesetzlichen Vorschrift sehen, die als Sanktion eine Strafe androht. Wann aber kann man von einer legitimen Strafvorschrift sprechen? Material oder rechtsphilosophisch betrachtet, könnte man einen Konsens darüber verlangen, dass die gesetzliche Strafvorschrift alle Anforderungen erfüllt, welche das Grundgesetz an solche Vorschriften stellt; – dafür, dass diese Anforderungen im Vergleich zu anderen gesetzlichen Vorschriften besonders

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hoch sind, genügt der Hinweis auf Art. 103 Abs. 2 GG, der den Bestimmtheitsgrundsatz und das Rückwirkungsverbot enthält. Ob es über die Verfassung hinausgehende, von der Strafrechtswissenschaft entwickelte, zusätzliche Anforderungen an legitime Strafvorschriften gibt – so etwa das sog. Rechtsgutskonzept – ist seit der „Inzest“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (o. Fn. 3) in die Diskussion geraten. Dort heißt es, Ansprüche aus der Strafrechtswissenschaft kategorisch zurückweisend: „Strafnormen unterliegen von Verfassungs wegen keinen darüber [d. h. über die Verfassung] hinausgehenden, strengeren Anforderungen hinsichtlich der mit ihnen verfolgten Zwecke. Insbesondere lassen sich solche nicht aus der strafrechtlichen Rechtsgutslehre ableiten.“ Diskussionsstoff genug.

II. Die gerechte Strafe Mit dem schon in der Einführung kurz angesprochenen Gerechtigkeitsbezug der Strafe ist nur ein Element dieser besonderen Sanktion bezeichnet. Es müssen noch zwei weitere Elemente hinzugefügt werden, um ein vollständiges Bild der Strafe zu erhalten. In stichwortartiger Bezeichnung sind das die Elemente der schuldausgleichenden Übelzufügung und der sozialethischen Missbilligung. Erst der „Dreiklang“ von schuldausgleichender Übelzufügung, sozialethischer Missbilligung und Gerechtigkeitsbezug macht die Strafe aus. Alle drei Elemente sind aufeinander bezogen und stehen nicht isoliert nebeneinander. Welche Rolle den einzelnen Elementen in diesem Zusammenhang zukommt, damit sie zur Formung der Strafe taugen, muss noch erläutert werden. Beginnen wir mit der offensichtlichen Zufügung eines Übels, die dem Schuldausgleich dienen soll.

1. Die schuldausgleichende Übelzufügung Solange man in einem Rechtssystem mit Strafen arbeiten will und nicht als Ersatz auf rein präventive Maßnahmen setzen möchte, ist der Blick zurück auf die Straftat erforderlich. Gestraft wird, weil eine Straftat begangen worden ist. Das ist schon in der nur begrifflich altmodisch klingenden Definition des Strafrechts von Kant – wieder in der Allgemeinen Anmerkung E. „Vom Straf- und Begnadigungsrecht“ – eindeutig gesagt: „Das Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen.“ Die Strafe muss gegen den Täter verhängt werden „weil er verbrochen hat“. Diese Begründung wird innerhalb der Straftheorien, die zur Rechtfertigung der Strafe entwickelt worden sind, von der Schuldausgleichstheorie, pejorativ,

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aber verbreitet auch Vergeltungstheorie genannt, gegeben. Sie hat als repressive, rückwärtsgewandte Theorie starke Konkurrenz durch die in die Zukunft blickenden präventiven Theorien. Sie nehmen die zurückliegende Straftat nicht als Grund für die darauf folgende Strafe, sondern nur zum Anlass, um mittels einer Sanktion positiven Einfluss auf den Täter oder die Gesellschaft zu nehmen. Dahinter steht die zunächst plausibel klingende Ansicht, dass ein Übel – die Straftat – nicht durch ein weiteres Übel – die Strafe – vermehrt werden sollte. Dem Übelscharakter der Strafe entgehen sie aber nicht, denn auch ein mit sozialtherapeutischen Angeboten angereicherter Vollzug der Freiheitsstrafe ist ein Übel, weil er die Fortbewegungsfreiheit vorübergehend aufhebt. Wenn die präventive Einwirkung auf den Täter – sog. Spezialprävention – und / oder auf die Gesellschaft – sog. Generalprävention – der alleinige Zweck einer Sanktion ist, so wäre die Bezeichnung „Strafe“ verfehlt. Aus dem Strafrecht würde ein Präventionsrecht. Von Strafe kann sinnvoll nur gesprochen werden, wenn es um eine Reaktion auf eine zurückliegende (verschuldete) Tat geht, die deshalb erfolgt, weil die Tat (schuldhaft) begangen worden ist. Insofern ist die schuldausgleichende Übelzufügung der unverzichtbare Kern der Strafe. Grundlegende Bedeutung für die Strafe kommt der (schuldhaft) begangenen Straftat zu. Davon geht auch unsere Rechtsordnung aus, auch wenn sie nicht ausdrücklich ein Bekenntnis zur Schuldausgleichstheorie ablegt. Dass diese dennoch das Strafrecht prägt, lässt sich ziemlich sicher der zentralen Vorschrift für die Bemessung der Strafe entnehmen. Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB ist die „Schuld des Täters … Grundlage für die Zumessung der Strafe.“ Man muss hier nur die „Schuld“ als die (schuldhaft) begangene Tat verstehen und schon hat man die „grundlegende“ Bedeutung der (schuldhaft) begangenen Tat für die Strafe dem Gesetz entnommen. Noch deutlicher ist dieses Verständnis der Strafe der neuen „Inzest“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu entnehmen, weil dort die begangene „Straftat“ von ihrer schuldhaften Begehung sprachlich getrennt wird: „… die Schwere einer Straftat und das Verschulden des Täters“ müssen „zu der Strafe in einem gerechten Verhältnis stehen“4. Nimmt man das Gerechtigkeitselement vorerst einmal aus dieser Aussage heraus, so wird der notwendige Zusammenhang von Strafe und Straftat noch deutlicher. Selbst den Begriff „Schuldausgleich“ verwendet das Bundesverfassungsgericht etwa in einer Entscheidung zum möglichen (aber abgelehnten) Strafcharakter der Sicherungsverwahrung: „Der Anwendungsbereich von Art. 103 Abs. 2 GG ist auf staatliche Maßnahmen beschränkt, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf

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rechtswidrig schuldhaftes Verhalten darstellen und wegen dieses Verhaltens ein Übel verlangen, das dem Schuldausgleich dient“5. Hat man so – mit „Zustimmung“ des Strafgesetzgebers und des Bundesverfassungsgerichts – den Schuldausgleich – genauer: den Ausgleich von Straftat und Verschulden des Täters – in das Zentrum der Strafbegründung gerückt, so steht einer ergänzenden Berücksichtigung präventiver Strafzwecke nichts entgegen. Auch das entspricht unserer Strafrechtsordnung, wie sich schon der bereits zitierten, grundlegenden Vorschrift zur Bemessung der Strafe entnehmen lässt. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB sind die „Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, … zu berücksichtigen.“ Ergänzt man das um die Berücksichtigung der Wirkungen, die von der Strafe für die Gesellschaft oder die Allgemeinheit zu erwarten sind, so hat man das gesamte spezial- und generalpräventive Gedankengut in die Strafzumessung integriert. Wichtig ist aber das von Satz 1 und Satz 2 des § 46 Abs. 1 StGB vorgegebene Verhältnis von Repression und Prävention. „Grundlegend“ ist die Ausrichtung der Strafe auf die (schuldhaft) begangene Straftat, präventive Überlegungen, wie mittels der Strafe positiv auf den Täter oder die Gesellschaft eingewirkt werden kann, sind nur „zu berücksichtigen“. Diese Sicht des Verhältnisses von repressivem Schuldausgleich und präventiver Einwirkung auf Täter und Gesellschaft ist übrigens nicht neu, sondern wurde schon von dem als rückwärtsgewandten „Vergeltungstheoretiker“ gescholtenen Immanuel Kant geteilt: der Täter „muss“ wegen der Tatbegehung „strafbar“ befunden sein, ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen. Diese Einbindung präventiver Überlegungen in die tatschuldorientierte Strafe ermöglicht auch die aus vielen Gründen erforderliche Begrenzung der an sich unbegrenzten Präventionszwecke. Wer spezialpräventiv bessernd auf den Täter einwirken will, wird dieses zweckbezogene Vorgehen so lange „durchziehen“, bis der Zweck erreicht, die Besserung erfolgt ist. Da die (schuldhaft) begangene Tat nur Anlass für die bessernden Einwirkungen auf den Täter ist, hat ihre Schwere keinen Einfluss auf den Zeitraum, in dem Besserung erfolgen soll. Hier bedarf es einer Begrenzung, die sich nur aus der (schuldhaft) begangenen Tat ergeben kann. Manchmal ist das Zusammenspiel von Schuldausgleich und Prävention auch komplizierter. So etwa bei dem vom Bundesverfassungsgericht schon vor längerem gefordertem gesetzlichem Anspruch auf Wiedereingliederung in die Gesellschaft, den auch zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilte Straftäter haben. Der Gesetzgeber hat daraufhin § 57a StGB – Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe – geschaffen und darin ein nicht leicht durchschauba___________ 5

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res Zusammenspiel von Schuldausgleich und Spezialprävention vorgesehen. Zunächst steht – wie auch sonst bei der Aussetzung von Strafen zur Bewährung – hinter der Vorschrift der spezialpräventive Resozialisierungsgedanke, in dessen Genuss auch „Lebenslängliche“ durch Wiedereingliederung in die Gesellschaft gelangen sollen. Dafür gibt es aber Schranken. Zunächst eine auch spezialpräventiv zu verstehende Schranke, die sich aus der Verweisung des § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB auf § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB ergibt. Danach ist eine Aussetzung des Strafrestes nur möglich, wenn „dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann“. Damit ist der spezialpräventive Zweck der Sicherung angesprochen. Zwar soll die Allgemeinheit gesichert werden, aber durch Einwirkung auf den Täter, genauer: durch Einschließung des Täters. Am prägnantesten ist dieser spezialpräventive Sicherungszweck in § 2 Satz 2 StVollzG formuliert: „Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten.“ Um noch deutlicher herauszustellen, dass es um Spezialprävention geht, könnte man anfügen: vor weiteren Straftaten des inhaftierten Straftäters, dem durch seine Einschließung die Möglichkeit zu solchen Taten (weitgehend) genommen ist. Auch hier begrenzt eine spezialpräventivere Überlegung eine andere spezialpräventivere Überlegung, konkreter der Sicherungszweck den Besserungszweck, der nach § 2 Satz 1 StVollzG in erster Linie die Aufgabe des Vollzugs bestimmt: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen …“. Der erforderliche Schuldausgleich kommt in der Aussetzungsregelung des § 57a StGB gleich zwei Mal „ins Spiel“. Zunächst begrenzt Abs. 1 Nr. 1 die Möglichkeit, den Strafrest bei lebenslanger Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, darauf, dass „fünfzehn Jahre der Strafe verbüßt sind …“. Diese Begrenzung ergibt sich aus der Überlegung, dass jede Mordtat mindestens so schwer wiegt, dass fünfzehn Jahre Freiheitsstrafe zum Schuldausgleich erforderlich sind. Das reicht aber nicht für jede Mordtat. Deshalb sieht Abs. 1 Nr. 2 eine weitere Begrenzung der Aussetzungsmöglichkeit vor. Danach reicht die Verbüßung von fünfzehn Jahren nur, „wenn … nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet …“. Damit ist der die Strafzumessung schon nach § 46 StGB dominierende Schuldausgleichsgedanke auch hier dominant. „Gebremst“ werden muss der spezialpräventive Besserungsgedanke auch in „umgekehrter Richtung“. Gemeint sind damit Fälle, in denen mangels Besserungsbedürfnisses des Täters – er ist seit Jahrzehnten gesellschaftlich „voll“ integriert – eine Strafe mit spezialpräventiven Erwägungen nicht begründet werden könnte. Hat dieser Täter aber vor langer Zeit etwa einen Mord begangen, so verlangt der Schuldausgleichsgedanke schon wegen der Schwere der Tat die

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Verhängung einer Strafe. Für den Beispielsfall des Mordes wird diese „unabweisliche“ Forderung durch § 78a Abs. 2 StGB bestätigt. Danach verjähren „Verbrechen nach § 211 (Mord) … nicht.“ Die Verjährung wird zwar überwiegend als ein prozessrechtliches Institut eingeordnet, doch spielt bei der zitierten Vorschrift sicher die materiell-rechtliche Überlegung eine Rolle, dass so schwere Taten wie ein Mord Strafe auch noch nach langer Zeit verdienen. Die Rechtsprechung löst das Zusammenspiel von Schuldausgleich und präventiven Überlegungen in dem vom Gesetz – § 46 StGB – vorgezeichneten Rahmen mit der sog. Spielraumtheorie. Obwohl diese Theorie viel theoretische Kritik auf sich zieht, erscheint sie pragmatisch handhabbar. Wichtiger ist hier aber, dass sie die Dominanz des Schuldausgleichsgedankens vor präventiven Überlegungen hervorhebt. Präventive Überlegungen sind danach nicht von der „Kraft“, dass sie dem durch die Schwere der (schuldhaft) begangenen Straftat festgelegten Spielraum von der schon bis zur noch schuldangemessenen Strafe nach oben oder unten „sprengen“ können. Das entspricht dem gesetzlichen Programm unseres Strafrechts und überzeugt jedenfalls für die schuldbestimmte Obergrenze. Wäre sie eine durchlässige Grenze, so würde das zu Strafen führen, die den Bezug zur (schuldhaft) begangenen Straftat verloren hätten.

2. Die sozialethische „Aufwertung“ der Strafe zur Missbilligung Mit den Straftheorien ist die Begründung und Rechtfertigung der Strafe als Übelszufügung im Großen und Ganzen gelungen. Das „Wesen“ der Strafe ist aber mit der Übelszufügung nicht hinreichend erfasst. Dieses „Wesen“ – eigentlich ein Begriff, den man lieber nicht benutzen würde, wenn man über einen adäquaten Begriff zur Kennzeichnung des „Wesens“ verfügen würde – wird schon seit langem in der Strafrechtswissenschaft und in jüngerer Zeit vermehrt auch von der Rechtsprechung, insbesondere der des Bundesverfassungsgerichts, in ihrem Missbilligungscharakter gesehen. Die in der Strafe zum Ausdruck gebrachte Missbilligung wird häufig näher als „sozialethische“ gekennzeichnet. Obwohl die Rechtsprechung, vor allem weil sie aktuell ist, eigentlich mehr Interesse beanspruchen kann, soll hier in diesem Festschriftbeitrag doch auch ein Repräsentant der Strafrechtswissenschaft, für den die Strafe als sozialethische Missbilligung ein zentraler Punkt seines strafrechtswissenschaftlichen und rechtsphilosophischen Denkens war, genannt werden. Gemeint ist Wilhelm Gallas, der in begrifflichen Abwandlungen häufig von der Strafe als moralischem Unwerturteil oder als missbilligender Antwort der Rechtsgemeinschaft auf das vom Täter begangene schuldhafte Unrecht sprach. Die sozialethische Missbilligung wurde von zahlreichen Strafrechtswissenschaftlern als „Wesen“ der Strafe gesehen, in für das deutsche Strafrecht repräsentativer Form im

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Kristian Kühl

„Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil“ von Jescheck/Weigend, § 8 I 2b. Dass hier Wilhelm Gallas herausgegriffen wird, ist dem „äußerlichen“ Umstand zuzuschreiben, dass sich sowohl der Adressat dieser Festschrift als auch der Autor dieses Festschriftbeitrags als Schüler dieses Strafrechtlers verstehen; mit voller Berechtigung eigentlich nur Manfred Maiwald, der sich bei Gallas habilitierte, mit etwas weniger Berechtigung Kristian Kühl, der immerhin als Letzter bei Gallas promovierte. Obwohl sich alle drei in verschiedenen Rollen als Professor, wissenschaftlicher Assistent und Student auch schon in zwei (für den Studenten im Rückblick sehr anstrengenden Veranstaltungen, vor allem wenn die Monologe des Professors in ein Protokoll „gezwängt“ werden mussten) Seminaren kennengelernt hatten, kam es zu einer Zusammenarbeit erst, als der Festschriftempfänger den Autor dieses Festschriftbeitrags, der gerade das erste Staatsexamen bestanden hatte, in der Cafeteria des Juristischen Seminars der Universität Heidelberg fragte, ob er nicht in der anstehenden Übung von Gallas als Korrekturassistent antreten wolle. Dies war faktisch der Beginn meines wissenschaftlichen Wegs an der Universität, so dass Maiwald die Urheberschaft daran zugesprochen werden kann. An dieser Kausalität ändert bekanntlich die hypothetische Erwägung, dass Kühl diesen Weg auch ohne die Anfrage Maiwalds eingeschlagen hätte, nichts. Doch zurück zum „Wesen“ der Strafe. Wie bereits gesagt, spielt die „sozialethische“ Missbilligung in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine besonders wichtige Rolle. Selbst in der bereits mehrfach zitierten „Inzest“-Entscheidung vom 26.2.2008 wird sie bemüht, obwohl es dort gar nicht um die Bestimmung einer Sanktion als Strafe oder sonstige Sanktion ging, sondern darum, ob ein bestimmtes Verhalten – der Vollzug des Beischlafs mit leiblichen Geschwistern – legitimer Gegenstand einer Strafvorschrift sein darf (dazu näher unter III). Konkret wird die besondere Bedeutung des Übermaßverbotes als Maßstab für die Überprüfung einer Strafnorm wie § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB damit begründet, dass in Androhung, Verhängung und Vollziehung von Strafe ein sozialethisches Unwerturteil zum Ausdruck komme.6 „Sozialethisches Unwerturteil“ ist die Formulierung, die das Bundesverfassungsgericht am häufigsten zur Umschreibung des Missbilligungscharakters der Strafe verwendet, so etwa auch schon in BVerfGE 96, 245, 249 vom 9.7.1997 und in BVerfG NJW 1994, 1577, 1587 vom 9.3.1994, sowie in BVerfGE 110, 1, 16 vom 14.1.2004. Häufig wird dieser Charakter der Strafe auch so umschrieben, dass die Strafe eine „missbilligende hoheitliche Reaktion“ auf rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten sei.7 Die wechselnden Umschreibungen ändern aber nichts daran, dass die Strafe vom Bundesverfassungsgericht ihrem „Wesen“ nach als sozialethische Missbil___________ 6

BVerfGE 120, 224, 240 = NJW 2008, 1137, 1138. So etwa in BVerfGE 42, 261, 263 vom 30.6.1976 und in BVerfGE 109, 133, 167 vom 5.2.2004 sowie E 109, 190, 217 vom 10.2.2009. 7

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ligung verstanden wird. Dass sich ein Gericht um die Bestimmung des „Wesens“ der Strafe bemüht – ein Bemühen, das man eher einem Strafrechtswissenschaftler oder Rechtsphilosophen zutrauen würde –, muss einen Grund haben. Dieser Grund muss etwas mit den Aufgaben von Gerichten, Fälle zu entscheiden, zu tun haben. Das „Wesen“ der Strafe muss also eine Relevanz für die Entscheidung von Fällen haben. Und das hat es, wie das Bundesverfassungsgericht in jüngster Zeit mehrfach demonstrieren konnte. Am anschaulichsten in dem Fall, in dem es darum ging, ob ein Sicherungsverwahrter, demgegenüber die Sicherungsverwahrung angeordnet war, als diese Maßregel der Sicherung noch auf zehn Jahre begrenzt war, auch länger – unbefristet – verwahrt werden darf, weil während seiner Verwahrung das Gesetz geändert wurde, das die Befristung enthielt, so dass nach neuem Recht die Sicherungsverwahrung unbefristet ist. Die Betroffenen wehrten sich gegen die Anwendung des neuen Rechts auf seinen alten Fall verständlicherweise unter Berufung auf das verfassungsrechtlich garantierte Rückwirkungsverbot. Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, „bevor“ die Tat begangen wurde. Obwohl diese Vorschrift ersichtlich auf den Fall zugeschnitten ist, dass ein zur Zeit seiner Begehung nicht strafbares Verhalten auch dann nicht bestraft werden kann, wenn seine Strafbarkeit durch ein neues Gesetz vorgesehen ist, besteht Einigkeit darüber, dass auch eine nach der Tatbegehung erfolgte Verschärfung der Strafe erfasst ist. Es muss die vor der Tatbegehung geltende Strafe – auch was ihre Befristung betrifft – angewandt werden. Allerdings gilt dieses Rückwirkungsverbot nur für Strafen und nicht für alle im Strafgesetzbuch vorgesehenen Sanktionen. Fallentscheidend war deshalb die Frage, ob die Sicherungsverwahrung trotz ihrer Einordnung als Maßregel der Sicherung durch § 61 Nr. 3 StGB nicht doch eine Strafe ist. Vom „Übelscharakter“ her kommt sie wegen der Entziehung der Fortbewegungsfreiheit einer Freiheitsstrafe gleich. Entscheidend gegen ihre Einordnung als Strafe sprach aber nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts der der Sicherungsverwahrung fehlende „Missbilligungscharakter“, also gerade der Charakterzug, der das „Wesen“ der Strafe ausmacht. „Der Anwendungsbereich von Art. 103 Abs. 2 GG ist auf staatliche Maßnahmen beschränkt, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf rechtswidriges schuldhaftes Verhalten darstellen und wegen dieses Verhaltens ein Übel verlangen, das dem Schuldausgleich dient“8. Eine „öffentliche Missbilligung der Tat“ soll aber durch die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht zum Ausdruck gebracht werden. Die Sicherungsverwahrung wird also nicht nur vom Strafgesetzbuch als Maßregel der Sicherung auf die zweite Spur des strafrechtlichen Sanktionssystems gestellt, son___________ 8

BVerfGE 109, 133, 167 = NJW 2004, 739, 744.

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dern sie gehört dort auch der Sache nach hin. Dem soll hier nicht näher nachgegangen werden, denn hier geht es „nur“ darum zu zeigen, dass die Wesensbestimmung der Strafe als Sanktion mit Übels- und Missbilligungscharakter höchst praktische Folgen haben kann. Diese können für den Betroffenen auch günstig sein, denn Art. 103 Abs. 2 GG stellt für die Strafen hohe Hürden auf. Neben dem Rückwirkungsverbot auch den Bestimmtheitsgrundsatz, dem die inzwischen deshalb abgeschaffte Vermögensstrafe nach § 43a StGB nicht entsprach9, weshalb sie auf durch sie Betroffene nicht weiter angewendet werden durfte. § 43a StGB ist durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20.3.2002 (BGBl S. 1340) mit Gesetzeskraft für nichtig erklärt worden. Ein Wort muss noch dem Prädikat „sozialethisch“ gewidmet werden. Wie schon in der Überschrift zu diesem Unterabschnitt angedeutet, erfährt die Strafe dadurch eine „Aufwertung“. Sie wird über die rein rechtliche Sanktion hinausgehoben und hat auch noch die Moral in Form der Sozialethik hinter sich. Das schuldhafte Fehlverhalten des Täters wird nicht nur vom Recht nicht hingenommen, sondern auch von der Moral missbilligt. Dass die Moral sich nicht selbst oder durch ein Sprachrohr in den Vorgang der Bestrafung einbringt, ändert nichts daran, dass sie wenigstens in Form der Sozialethik von Richtern gebraucht wird, um der Strafe ihr besonderes „Wesen“ zu verschaffen. Das erhöht nicht nur den Druck auf die Rechtfertigung einer solchen Strafe durch die Straftheorien (dazu oben unter II. 1.), sondern ist auch bei der sogleich (unter III.) zu behandelnden Frage nach der Legitimität von Strafvorschriften zu beachten.

3. Der Gerechtigkeitsbezug der Strafe Der Gerechtigkeitsbezug der Strafe ist im Schuldausgleich (oben II. 1.) und im Missbilligungscharakter der Strafe (oben II. 2.) bereits deutlich angelegt. Wenn die Strafe das schuldhafte Fehlverhalten des Täters ausgleichen soll, so muss sie in einem angemessenen Verhältnis zur begangenen Straftat stehen, das man am treffendsten mit den Begriffen „gerecht“ und „gleich“ belegen kann. Wenn die Strafe darüber hinaus auch noch eine „sozialethische“ Missbilligung zum Ausdruck bringen soll, so empfiehlt sich ein Maßstab, der sowohl im Recht wie auch in der Moral anerkannt ist, und das sind wieder die Maßstäbe der Gleichheit und Gerechtigkeit. Die Anerkennung dieser Maßstäbe durch Rechtsprechung und Wissenschaft ist schon oben (am Ende von I.) durch Zitate belegt worden; sie müssen hier nicht wiederholt oder durch weitere Zitate belegt werden.

___________ 9

BVerfGE 105, 135, 152 ff.

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Hier soll aus Anlass der neuen „Kannibalen“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine besonders prekäre Konstellation behandelt werden, in der die lebenslange Freiheitsstrafe als gerechte Strafe erwiesen werden muss. Dabei kann man zunächst mit Erleichterung feststellen, dass uns der Verfassungsgeber durch Abschaffung der Todesstrafe (Art. 102 GG) von der Aufgabe entbunden hat, auch diese Strafe für bestimmte Straftaten als gerecht zu erweisen. Da die Todesstrafe aber nach wie vor eine weltweit praktizierte Strafart ist, bestände dennoch Anlass für einen Wissenschaftler, sie auf ihre mögliche oder unmögliche Rechtfertigung hin zu untersuchen. Das soll hier nicht geschehen. Jedenfalls kann sie nicht mit dem Talionsgedanken – „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ – gerechtfertigt werden, denn dieser Gedanke wird wohl nirgends mehr in Reinheit umgesetzt. Die bei uns zur Verfügung stehenden Strafen – die Freiheits- und Geldstrafen – antworten ja nicht mehr nur auf Freiheits- und Eigentumsdelikte, sondern auch auf Tötungs- und Körperverletzungsdelikte. Man sollte deshalb nicht jede geforderte Erweiterung der Strafarten wegen ihres fehlenden Bezugs zur begangenen Straftat aus der Diskussion ausschließen. So muss etwa das Fahrverbot nicht auf Verstöße im Straßenverkehr beschränkt bleiben, sondern kommt auch als allgemeine Strafe in Betracht. Doch auch diese Diskussion kann hier nicht fortgeführt werden. Das gilt auch für die schwer zu beantwortende Frage, ob es die Gerechtigkeit verbietet, auf Bagatelltaten mit Strafe statt mit Geldbußen zu reagieren. Wo ist die Untergrenze einer Strafe verdienenden Tat. Die im Ergebnis erfolglose Diskussion um die materielle Abgrenzung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten soll hier nicht noch einmal aufgerollt werden. Jedenfalls legt es die – auch „sozialethische“ – Strafe nahe, sie auch nur auf Taten mit „sozialethischer“ Relevanz anzuwenden. Auf Bagatellen angewendet, klingt sie hohl. Doch zurück zur Gerechtigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe. Angesichts ihrer Schwere kommt sie nur als Sanktion für schwere Verbrechen in Betracht. Ansonsten verliert sie ihren Gerechtigkeitsbezug und wäre „überzogen“. In verfassungsrechtlicher Terminologie geht es um den verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatz und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, beide in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, der „die Freiheit der Person“, die durch die Freiheitsstrafe „verletzt“ sein könnte, schützt. Unter Beachtung dieses Grundrechts und der genannten verfassungsrechtlichen Grundsätze kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem bereits angesprochenen Erfordernis, „dass Tatbestand und Rechtsfolge gemessen an der Idee der Gerechtigkeit sachgerecht aufeinander abgestimmt sein müssen“10. ___________ 10

BVerfG NJW 2009, 1061, 1063.

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Konkret auf die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der lebenslangen Freiheitsstrafe bezogen, ist diese besonders schwere Strafe „nur dann verhältnismäßig, wenn der zu Grunde liegenden Tat das Merkmal der besonderen Verwerflichkeit anhaftet“11. Damit macht das Bundesverfassungsgericht eine Anleihe an das in der Strafrechtsprechung und im überwiegenden Teil der Strafrechtswissenschaft vorherrschende Verständnis des geltenden Mordtatbestandes nach § 211 Abs. 2 StGB. In der Tat werden die einzelnen Mordmerkmale als Ausprägungen des Grundgedankens der Verwerflichkeit verstanden und so wurden sie auch vom Strafgesetzgeber konzipiert. Dass man diese Mord-Konzeption kritisieren kann und etwa eine Orientierung an der Gefährlichkeit der Tötungstat favorisiert, steht auf einem anderen Blatt. Dass die Verwerflichkeit moralisierend klingt, ist in einem Strafrecht, das zahlreiche Verbindungen von Recht und Moral kennt, auch kein durchschlagender Einwand. Zudem fordert der „sozialethische“ Gehalt der Strafe auch eine gewisse Präsenz der Moral auf der Seite der Straftat. Eine solche Moralisierung des Rechts muss nur die Tatbezogenheit beachten, aber die ist beim Mord ja durch die von ihm einbezogene Tötungstat gegeben. Die Schwierigkeiten beginnen aber zuzunehmen, wenn es um das Herausarbeiten der besonderen Verwerflichkeit einzelner Mordmerkmale geht. Das gilt allgemein für die „sonst niedrigen Beweggründe“, die eine „sittliche“ Bewertung als „niedrige“ verlangen, ebenso wie für den besonderen niedrigen Beweggrund „zur Befriedigung des Geschlechtstriebs“. Dem Bundesverfassungsgericht erscheint dieses Mordmerkmal „dem Grundsatz nach durchaus zur Abgrenzung besonders verwerflicher Tötungshandlungen geeignet“12. Zur Begründung stützt es sich auf die schon seit längerer Zeit bestehende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen. Der hatte wegen der besonderen Konstellation im „Kannibalen“-Fall – sexuelle Befriedigung wurde erst in der Betrachtung des Videos vom Tötungsvorgang gesucht – Anlass, sich des gemeinen Bandes, das alle bisher entschiedenen Konstellationen zusammenhält, zu vergewissern. Das führte zu dem der ständigen Rechtsprechung entsprechenden Satz: „Das Gesetz sieht … die Tötung zur Befriedigung des Geschlechtstriebs als besonders verwerflich an, weil der Täter das Leben eines Menschen der Befriedigung seiner Geschlechtslust unterordnet“13. Auf diese „Zweck-Mittel-Relation“ setzt nun auch das Bundesverfassungsgericht und erklärt sie zu einem „Gesichtspunkt“, den „der Gesetzgeber von Verfassungs wegen bei der Abgrenzung von Mord und Totschlag heranziehen darf“14. Dass er von der tragenden Kraft dieser Begründung möglicherweise doch nicht so ganz ___________ 11

BVerfG a.a.O. BVerfG a.a.O. 13 BGHSt 50, 80, unter Berufung auf BGHSt 19, 101, 105. 14 BVerfG a.a.O. 12

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überzeugt war, könnte man deshalb vermuten, weil noch eine zweite Begründung „nachgeschoben“ wird: Tötungen aus sexuellen Motiven sprächen „regelmäßig für eine besondere Gefährlichkeit des Täters“15. In welchem Verhältnis dieser Gesichtspunkt der – empirisch klingenden – „regelmäßigen Gefährlichkeit“ zum Gesichtspunkt der Verwerflichkeit steht, wird nicht mehr gesagt. Jedenfalls hat das Bundesverfassungsgericht im Anschluss an den Bundesgerichtshof mit dem „Unterordnungsargument“ normativ den Punkt getroffen, der es gerecht erscheinen lässt, eine vorsätzliche Tötung als Mord mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu ahnden.

III. Der legitime Bereich des Strafbaren Die Problematik des legitimen Bereichs des Strafbaren ist bereits oben (am Ende von I.) angesprochen worden. Sie wurde dort auf die Alternative Verfassungsgemäßheit oder Rechtsgutskonzept zugespitzt. Der Grund für diese Zuspitzung liegt in der neuen „Inzest“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26.2.200816, denn dort wird das Rechtsgutskonzept „massiv“ angegriffen und alles auf die Karte der Verfassungsgemäßheit, insbesondere auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip, gesetzt. Damit hat das Bundesverfassungsgericht nur das nachvollzogen, was sich auch schon in der Strafrechtswissenschaft seit etwa zehn Jahren vollzogen hat: weg vom unsicheren und freischwebenden Rechtsgutsprinzip, hin zum verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip. So kann ein erfahrener und nicht zu extremen Positionen neigender Strafrechtswissenschaftler in der Neuauflage des renommierten „Leipziger Kommentars“ zum Strafgesetzbuch konstatieren (und mit viel Zustimmung rechnen), dass das Rechtsgut als „gesetzgebungskritischer Begriff“ dem verfassungsrechtlich gestützten „Topos“ der Verhältnismäßigkeit „unterlegen“ sei.17 Dem historischen Verdienst des Rechtsgutskonzepts wird das nicht gerecht. Das Rechtsgutsprinzip verlangt für die Strafwürdigkeit oder Legitimität einer Strafvorschrift, dass hinter ihr ein zu schützendes Rechtsgut steht. Nur Verletzungen oder Gefährdungen eines Rechtsguts sollen strafbewehrt werden dürfen. Damit wird das Rechtsgutskonzept zu einem prägnanten und materiellen Prinzip der Kriminalpolitik. Der Kriminalpolitik reicht dieses eine Prinzip natürlich nicht, denn zur Strafwürdigkeit muss auch noch die Strafbedürftigkeit hinzukommen. Sie bemisst sich nach dem Subsidiaritätsprinzip, für das das Strafrecht die ultima ratio ist, also nicht zur Sanktionierung eines Verhaltens heran___________ 15

BVerfG a.a.O. NJW 2008, 1137 ff. 17 LK-StGB/Weigend, 12. Aufl., 2007, Einl. Rn. 7. 16

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gezogen werden darf, wenn dieses Verhalten auch mit milderen Sanktionen als der Strafe ebenso wirksam „bekämpft“ werden kann. Als weiterer Grundsatz der Kriminalpolitik ist auf die Fragmentarietät des Strafrechts hinzuweisen. Dieser Hinweis auf die fast überall bemühte fragmentarische Natur des Strafrechts darf schon deshalb im vorliegenden Zusammenhang nicht fehlen, weil sie das Strafrecht zur Zurückhaltung beim Einsatz des „scharfen Schwertes“ der Strafe mahnt und es verbietet, jede im Strafrecht entdeckte „Lücke“ mit der Begründung zu schließen, dass „Lücken“ eben geschlossen werden müssen. Der Hinweis auf die Fragmentarietät des Strafrechts kann in diesem Festschriftbeitrag aber vor allem deshalb nicht fehlen, weil sich der Empfänger dieser Festschrift 1972 „Zum fragmentarischen Charakter des Strafrechts“ geäußert hat. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden, doch muss wenigstens festgehalten werden, dass Maiwald die Fragmentarietät mit dem Rechtsgutskonzept in Verbindung bringt – in Abgrenzung zu den „nur“ unmoralischen Handlungen wie die bloße Lüge –, sich aber gleichzeitig gegen eine „Rundumverteidigung“ der gesetzlichen Rechtsgüter ausspricht.18 Damit ist auch schon ein erster wunder Punkt des Rechtsgutskonzepts angesprochen. Wer endlich ein Rechtsgut in Abhebung von reinen Moralwidrigkeiten herausgearbeitet hat, unterliegt der Versuchung, dieses Rechtsgut möglichst umfassend durch Strafrecht zu verteidigen. Dazu gehört es auch, den Schutz des Rechtsguts weit nach vorne zu verlegen, damit dieses Gut möglichst effektiv verteidigt werden kann. Auch dieser Versuchung kann das Rechtsgutskonzept nur widerstehen, wenn eine weitere Grenze für ein legitimes Strafrecht beachtet wird. Man kann hinsichtlich dieser Grenze von der Innerlichkeitsgrenze des Strafrechts sprechen. Sie verhindert den Zugriff auf die Gesinnung der Rechtsunterworfenen selbst dann, wenn eine rechtsfeindliche Gesinnung nachweisbar wäre. Was für das bloße Haben einer Gesinnung selbstverständlich sein sollte, sollte grundsätzlich auch für die bloße, nicht agitatorische Äußerung dieser Gesinnung gelten, denn auch durch diese Äußerung wird die äußere Handlungs-Freiheit anderer noch nicht verletzt oder gefährdet. Das sieht auch das Strafgesetzbuch so, wenn es das Auschwitzleugnen nicht als solches, sondern erst dann unter Strafe stellt, wenn es geeignet ist, den „öffentlichen Frieden“ zu stören (§ 130 Abs. 3 StGB). Die damit beabsichtigte Herstellung eines Bezugs zu einem Rechtsgut leidet allerdings darunter, dass es sich beim Rechtsgut des öffentlichen Friedens um ein sehr weit gefasstes Rechtsgut handelt. Solche diffusen Rechtsgüter gibt es im Strafrecht viele und man kann diese wegen ihrer Vagheit auch kritisieren, nicht bestreiten sollte man aber, dass die Suche nach einem Rechtsgut für ein legitimes Strafrecht unverzichtbar ist. Eine solche Suche wird bei der Anhörung vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundesta___________ 18

Maiwald, FS Maurach, 1972, S. 9 f.

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ges auch betrieben, wenn Sachverständige nach einem Rechtsgut für eine geplante Strafvorschrift suchen. Diese Suche kann leicht sein – Eigentumsschutz bei der neuen Graffiti-Strafvorschrift des § 303 Abs. 2 StGB – oder Schwierigkeiten bereiten – so beim neuen „Stalking“-Tatbestand des § 238 StGB, für den mit dem Rechtsgut des individuellen Lebensbereichs nur ein relativ offenes, unbestimmtes Gut gefunden wurde. Dennoch sollte die Suche nach zu schützenden Rechtsgütern nicht aufgegeben und von der Kriminalpolitik auch registriert werden. Wie gleich gezeigt werden kann, beteiligt sich auch das Bundesverfassungsgericht an dieser Suche. Zuvor muss jedoch – gerade im Hinblick auf die „Inzest“-Entscheidung dieses Gerichts – noch kurz an das historische Verdienst des Rechtsgutskonzepts erinnert werden. Seine praktische Bewährungsprobe bestand dieses Konzept nämlich gerade im Segment von Rechtsgutsverletzungen und Moralwidrigkeiten. Mit dem Rechtsgutskonzept gelang es, reine Moralwidrigkeiten, die nur moralisches Verhalten erfassen (und moralisch sanktionieren), aus dem Strafrecht zu entfernen. Am spektakulärsten war die (allerdings sukzessiv verlaufende) Streichung des berühmt-berüchtigten § 175 StGB a.F., der die Homosexualität unter Strafe stellte. Hinzu kam die eindeutig in Richtung Rechtsgüterschutz weisende Ablösung der Überschrift des 13. BT-Abschnitts des StGB: aus Verbrechen gegen die Sittlichkeit wurden Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Wer glaubte diese „Schlacht“ sei „geschlagen“, sah sich jetzt aber eines Besseren belehrt, als man von einer Verfassungsbeschwerde hörte, mit der sich ein wegen Geschwisterinzest nach § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB verurteiltes Geschwisterpaar gegen die Verurteilung u.a. deshalb wehrte, weil der Inzest eine reine Moralwidrigkeit sei. Diese Sicht wurde aber letztlich nur vom Vorsitzenden des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts geteilt.19 Trotz der überwältigenden Mehrheit des Senats, die § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärte, ist die Sicht des „Abweichlers“ beachtlich, weil er als Strafrechtswissenschaftler maßgeblich an der Erstellung des – personal ausgerichteten – Rechtsgutskonzepts mitwirkte und es bis heute verteidigt. Bei der – hier nur äußerlichen – Betrachtung der Begründung der Entscheidung fällt zunächst auf, dass sich das Gericht – wie bereits gesagt – an der Suche nach Rechtsgütern, deren Verletzung die Inzeststrafbarkeit legitimieren könnte, beteiligt. Nicht vollständig überzeugt zu sein scheint das Gericht vom „Schutz der in einer Inzestbeziehung ‚unterlegenen Partner‘“ und von der „Vermeidung schwerwiegender genetisch bedingter Erkrankungen bei Ab___________ 19 Abweichendes Votum Hassemer, NJW 2008, 1137, 1144: „Schutz einer gesellschaftlichen Moralvorstellung“.

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kömmlingen aus Inzestbeziehungen“20. Es setzt deshalb vor allem auf die „Bewahrung der familiären Ordnung vor schädigenden Wirkungen des Inzests“. Ob das der Sache nach trägt, soll hier offenbleiben. Das Augenmerk soll hier aber darauf gelenkt werden, dass das Gericht einräumt, dass solche „schädigenden Wirkungen“ empirisch nicht eindeutig nachzuweisen sind. Das provoziert natürlich Kritik. Aber zu Unrecht. Wenn grundgesetzlich anerkannte Güter wie die Familie nur gegen Angriffe geschützt werden dürften, deren schädigende Wirkung zweifelsfrei nachgewiesen ist, käme der Schutz wohl zu spät und griffe zu kurz. Die Entscheidung, welcher Grad des Nachweises für ein schützendes Strafgesetz verlangt werden muss, obliegt ohnehin dem Strafgesetzgeber und dem steht es auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts frei, § 173 StGB zu streichen oder zu reduzieren. Aus Sicht des Gerichts war es jedenfalls „weise“, sich mit der „Plausibilität“ schädlicher Wirkungen zufrieden zu geben. Aus „Raumnot“ nur noch ein letztes kritisches Wort zur „Inzest“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Es betrifft das hier interessierende Rechtsgutskonzept. Mit ihm wird unnötig schroff umgegangen. Schon über seinen „Begriff“ bestehe keine Einigkeit, außerdem sei es „naturalistisch“ und „überpositiv“21. Das alternative Pochen auf die Verfassung und auf das Prinzip der Verhältnismäßigkeit aber suggeriert eine nicht vorhandene Sicherheit. Wie wäre es sonst zu erklären, dass die Strafrechtswissenschaft – repräsentiert durch den oben zitierten Weigend – und das Bundesverfassungsgericht unter Berufung auf das gleiche Prinzip – das Verhältnismäßigkeitsprinzip – zu diametral entgegengesetzten Beurteilungen der Strafwürdigkeit des Inzests kommen: Legitimation nicht zu finden – mit dem Grundgesetz vereinbar? Dass auch Vertreter des Rechtsgutskonzepts zu entgegengesetzten Antworten auf die Frage kommen, ob hinter dem Inzest ein Rechtsgut steht oder nicht, muss freilich eingeräumt werden, macht dieses Konzept aber nicht dem Verhältnismäßigkeitsprinzip „unterlegen“. Im Hintergrund dieses Prinzips und dieses Konzepts steht ohnehin der Schutz der äußeren Freiheit, die ihre Ausprägung in den Grundrechten des Grundgesetzes findet. Das verbindet das Rechtsgutskonzept mit dem rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip.

___________ 20 21

BVerfG NJW 2008, 1137, 1139. BVerfG NJW 2008, 1137, 1138.

„Gewalt vor Recht“ statt „Recht vor Gewalt“ Zum ursprünglichen „natürlichen Erlaubnisgesetz“ in Kants Rechtsmetaphysik Von Wilfried Küper

I. Manfred Maiwald hat seine im Frühjahr 2003 gehaltene, viel bewunderte Göttinger Abschiedsvorlesung einem wahrhaft großen Thema gewidmet: „Recht und Macht“.1 Er zeichnet darin das „Spannungsverhältnis“ zwischen Macht und Recht „anhand einiger historischer Stationen nach, in denen die Problematik besonders deutlich hervorgetreten ist“.2 Dazu gehört ein Kapitel über „Recht und Macht am Beispiel der Revolution“.3 Hier beschreibt und analysiert Maiwald u.a. die – doppelte – Position Immanuel Kants zum „Revolutionsrecht“. Er bringt sie auf die anschauliche Formel: „Die mißlungene Revolution ist juristisch gesehen Hochverrat, und die Protagonisten werden hingerichtet oder wandern ins Gefängnis. Gelingt die Revolution, so schafft sie Recht – neues Recht –, und ihre Protagonisten sind gemäß diesem neuen Recht die legitimen politischen Führer.“4 Für den zweiten Teil dieser Formel zitiert Maiwald eine Partie aus Kants „Metaphysik der Sitten“ (1797/98, Rechtslehre), in der es heißt: „Übrigens, wenn eine Revolution einmal gelungen und eine neue Verfassung gegründet ist, so kann die Unrechtmäßigkeit des Beginnens und der Vollführung derselben die Untertanen von der Verbindlichkeit, der neuen Ordnung sich als gute Staatsbürger zu fügen, nicht befreien, und sie können sich nicht weigern, derjenigen Obrigkeit ehrlich zu gehorchen, die jetzt die Gewalt hat.“5

___________ 1

Maiwald, Recht und Macht, in: JZ 2003, 1073 – 1080. Maiwald, JZ 2003, 1073. 3 Maiwald, JZ 2003, 1076 ff. 4 Maiwald, JZ 2003, 1076. – Hervorhebungen, wie in diesem Beitrag generell, nicht im Original. 5 Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797/98), hier mit geringfügig veränderter Interpunktion zitiert nach der Ausgabe von W. Weischedel, Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, Bd. IV, 1956, S. 442. 2

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Wilfried Küper

Maiwald interpretiert die „Verbindlichkeit“, von der Kant spricht, mit Recht nicht als bloße Klugheitsregel, nach der es für die Bürger ratsam ist, sich der neuen Ordnung zu unterwerfen, um dem „Einsatz von Zwangsmitteln“ oder anderen Nachteilen zu entgehen. Er deutet die aus dem gewaltsamunrechtmäßigen Umsturz entstandene „Verbindlichkeit“ vielmehr als rechtliche Verpflichtung der Bürger zu „ehrlichem Gehorsam“ gegenüber der neuen Obrigkeit: „Kant beschreibt nicht nur ein Sein, d.h. die voraussichtlich eintretende Folge eines bestimmten Verhaltens, sondern er bezieht sich auf ein Sollen: Die Bürger sollen nach einer Revolution den neuen Gesetzen Folge leisten.“6 Da Maiwald vorzugsweise die Frage nach dem Grund – und den möglichen Grenzen – solcher Verbindlichkeit einer „auf der reinen Macht beruhenden neuen Ordnung“ interessiert, ist er auf den ersten Teil jener Formel nur am Rande mit dem Hinweis eingegangen, dass Kant ein Widerstandrecht des Volkes nicht anerkenne, selbst wenn die Gesetze ungerecht seien. Auch hierzu zitiert Maiwald – beiläufig – eine „berühmte Formulierung“ aus Kants „Metaphysik der Sitten“:7 „Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staats gibt es also keinen rechtmäßigen Widerstand des Volks; denn nur durch Unterwerfung unter seinen allgemeingesetzgebenden Willen ist ein rechtlicher Zustand möglich; also kein Recht des Aufstandes (seditio), noch weniger des Aufruhrs (rebellio), am allerwenigsten gegen ihn als einzelne Person (Monarch) ...“

Dieser Standpunkt Kants hätte sich durch ein weiteres Zitat, das Kants „normlogische“ Begründung für die Ablehnung eines Widerstandsrechts enthält, noch ergänzen und verdeutlichen lassen. Denn im Anschluss an die zitierte Passage fährt Kant fort:8 „Der geringste Versuch hierzu ist Hochverrat (proditio eminens), und der Verräter dieser Art kann als einer, der sein Vaterland umzubringen versucht (parricida), nicht minder als mit dem Tode bestraft werden. – Der Grund der Pflicht des Volks, einen, selbst den für unerträglich ausgegebenen Mißbrauch der obersten Gewalt dennoch zu ertragen, liegt darin: daß sein Widerstand wider die höchste Gesetzgebung niemals anders als gesetzwidrig, ja als die ganze gesetzliche Verfassung zernichtend gedacht werden kann. Denn um zu demselben befugt zu sein, müßte ein öffentliches Gesetz vorhanden sein, welches diesen Widerstand des Volks erlaubte, d.i. die oberste Gesetzgebung enthielte eine Bestimmung in sich, nicht die oberste zu sein, und das

___________ 6

Maiwald, JZ 2003, 1077. Maiwald, JZ 2003, 1077 mit Fn. 39; das Kant-Zitat hier nach der Ausgabe Weischedel (Fn. 5), S. 439. – Zum historischen Kontext dieser Ablehnung des Widerstandsrechts vgl. etwa M. Köhler, Die Lehre vom Widerstandsrecht in der deutschen konstitutionellen Staatsrechtstheorie der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1975, S. 27 ff., 39 ff. 8 Kant (Fn. 5), Metaphysik, S. 439 f. 7

„Gewalt vor Recht“ statt „Recht vor Gewalt“

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Volk als Untertan in einem und demselben Urteile zum Souverän über den zu ma9 chen, dem es untertänig ist; welches sich widerspricht ...“

Nach Kant würde also eine „Befugnis“ des Volkes zum Widerstand ein (öffentliches) „Gesetz“ erfordern, welches eine „Erlaubnis“ dazu enthielte. Ein solches „Erlaubnisgesetz“ wäre jedoch in zweifacher Hinsicht in sich widersprüchlich, weil sich die „oberste Gesetzgebung“ in dieser Qualität selbst negieren würde und weil sie das Volk als „Untertan“ des „Souveräns“ zugleich zum „Souverän über den Souverän“ erklären müsste. An anderer Stelle, in seiner früheren Schrift über den „Gemeinspruch“ (1793), hat Kant auch ein „Notrecht“ zum Widerstand – das jene „Erlaubnis“ begründen könnte – knapp zurückgewiesen, und zwar primär ebenfalls mit einem Argument des Selbstwiderspruchs, das er in der späteren „Metaphysik der Sitten“ (1797/98) nicht wieder aufgenommen hat: „Auch kann nicht etwa ein Notrecht (ius in casu necessitatis), welches ohnehin als vermeintes Recht, in der höchsten (physischen) Not Unrecht zu tun, ein Unding ist, hier eintreten und zur Hebung des die Eigenmacht des Volks einschränkenden Schlagbaums den Schlüssel hergeben ...“10

An Kants viel diskutierten Reflexionen zum Widerstandsrecht fällt auf, dass er eine Frage nicht stellt, zu der seine These von der nachrevolutionären Verbindlichkeit der „neuen Ordnung“ Anlass geben kann. Wenn nämlich diese neue Ordnung trotz ihres gewaltsam-rechtswidrigen Ursprungs einen für die Bürger verbindlichen „rechtlichen Zustand“ darstellt,11 die revolutionäre Gewalt also wiederum neues Recht und nicht nur neue Machtverhältnisse zu begründen vermag – wieso lässt sich aus solcher (Neu-)Begründung von „Recht“ nicht zugleich eine „Erlaubnis“ hierzu ableiten?

II. Eine dafür in Betracht kommende Regel der praktischen Vernunft, die Kant ausdrücklich „Erlaubnisgesetz“ nennt, hat wohl zuerst Reinhard Brandt in Kants Vorlesung über die „Metaphysik der Sitten“ aus dem Winter 1793/94 ___________ 9

Vgl. außerdem Kants Begründung in der vorausgegangenen Schrift „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.“ (1793), Ausgabe Weischedel (Fn. 5), Bd. VI, 1964, S. 156: „Also müßte es noch ein Oberhaupt über dem Oberhaupte geben, welches zwischen diesem und dem Volk entschiede; welches sich widerspricht.“ 10 Kant (Fn. 9), Gemeinspruch, S. 156 f. – Mit „Unding“ bezeichnet Kant auch sonst bisweilen etwas (Selbst)Widersprüchliches; vgl. C. C. E. Schmid, Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der Kantischen Schriften, 4. Aufl. 1798, Neudruck 1976 (hrsg. von N. Hinske), S. 377 f. 11 Zu Kants Begriff des „rechtlichen Zustandes“ bzw. „bürgerlichen Zustandes“ zuletzt subtil J. Hruschka, FS Küper, 2007, S. 183 ff.

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entdeckt.12 In dieser durch die Mitschrift des Vigilantius – er war Kants Rechtsberater – zuverlässig dokumentierten Vorlesung13 begegnet uns das später oft besprochene Kantische „Erlaubnisgesetz“14 in seiner ursprünglichen, elementaren Form: als Grundlage einer „Erlaubnis“ zur Anwendung sonst unerlaubter physischer Gewalt. Kant erörtert dort näher die „intrikate Frage“, ob u.U. ein „natürliches Erlaubnisgesetz“, eine – vernunftrechtliche – „lex permissiva“ zur Gewalt angenommen werden könne, ein Gesetz, demzufolge ausnahmsweise „Gewalt vor Recht gehen“, d.h. „dem Recht die Gewalt vorausgehen“ darf, während „der Regel nach das Recht die Gewalt begründen muß“.15 Die Funktion eines solchen Ausnahme-Erlaubnisgesetzes, das Kant schließlich bejaht, sieht er darin, dass beim Übergang vom „Naturzustand“ (status naturalis)16 in den bürgerlichen „Rechtszustand“ (status civilis), bei der „Rechtsstiftung“, das Verbot der Gewaltanwendung zugunsten einer „Erlaubnis“ außer Kraft gesetzt wird. Das Verbotsgesetz („Prohibitivgesetz“): „Gewalt muß17 ___________ 12

R. Brandt, Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre, in: R. Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung (Symposium Wolfenbüttel 1981), 1982, S. 233 ff. – Vgl. auch W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit – Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie (1984), 3. Aufl. 2007, S. 133 f., 395 f. (Fn. 134, 251). 13 Vigilantius, Bemerkungen aus dem Vortrage des Herren Kant über Metaphysic der Sitten (1793/94), in: Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Hrsg.), Kant’s Vorlesungen, Bd. IV: Vorlesungen über Moralphilosophie, 2. Hälfte, 1. Teil (AkademieAusgabe Bd. XXVII, IV. Abt., Vorlesungen), 1975, S. 479 ff. 14 Zur reichhaltigen Literatur, in deren Zentrum häufig die Bedeutung dieses Gesetzes in Kants „Eigentumslehre“ (Besitzlehre) steht, vgl. die Nachw. bei W. Küper, Immanuel Kant und das Brett des Karneades – Das zweideutige Notrecht in Kants Rechtslehre, 1999, S. 35 Fn. 84; ferner etwa St. Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins, 1988, S. 167 ff.; C. Langer, Reform nach Prinzipien – Untersuchungen zur politischen Theorie Immanuel Kants, 1986, S. 145 f.; zuletzt namentlich J. Hruschka, Law and Philosophy Bd. 23 (2004), 45 ff.; M. Kaufmann, FS J. Hruschka, 2005 (Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 13), S. 195 ff. 15 Kant bei Vigilantius (Fn. 13), S. 514 f. Der für den Zusammenhang wesentliche Text ist wieder abgedruckt bei Küper (Fn. 14), S. 58 ff. – Nach Vigilantius (S. 513) scheint Kant damit auf eine Frage Bezug zu nehmen, „die Hufeland aufgeworfen“ habe. In Hufelands damals berühmten naturrechtlichen Werken (Versuch über den Grundsatz des Naturrechts – nebst einem Anhange, 1785; Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften, 1790) habe ich freilich keinen Beleg dafür finden können. – Zu Gottlieb Hufeland (1760 – 1817) vgl. A. Ritter von Eisenhart, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 13, 1881, S. 296 ff.; Teichmann, in: F. von Holtzendorff (Hrsg.), Rechtslexikon, Bd. 2, 3. Aufl. 1881, S. 329 f. Zur Bedeutung Hufelands für die Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts eindrucksvoll E. F. Klein, Grundsätze der natürlichen Rechtswissenschaft – nebst einer Geschichte derselben, 1797, S. 363. 16 Zum „Naturzustand“ bei Kant vgl. aus der reichhaltigen Literatur namentlich R. Harzer, Der Naturzustand als Denkfigur moderner praktischer Vernunft – Zugleich ein Beitrag zur Staats- und Rechtsphilosophie von Hobbes und Kant, 1994, S. 81 ff., 113 ff. und passim. 17 I. S. von „darf“.

„Gewalt vor Recht“ statt „Recht vor Gewalt“

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nicht für Recht gehen“ erfahre eine Ausnahme, „wenn alle Menschen in einen Zustand gesetzt sind, wo sie sich durch wechselseitigen gleichen Widerstand alles Rechts berauben würden und die Existenz der Gesetze selbst aufheben“. Dann „reiben sie untereinander die Möglichkeit auf, in einen gesetzlichen Zustand überzugehen, und da bleibt nur die Gewalt des Stärkeren übrig; hier geht also Gewalt für Recht ...“18 In dieser Konstellation wird die Gewalt „exerziert, um ein Recht zu konstituieren, das vorher nicht existierte und auch ohne diese Gewalt nicht wirklich gemacht werden könnte. Sollte nun ein prohibitives Gesetz gegeben werden, vermöge dessen es nicht erlaubt wäre, Gewalt anzuwenden, damit die Menschen zum Genuß des status civilis kämen, so würde dies den gesetzlosen Zustand verteidigen ...; dies aber ist ein dem allgemeinen Imperativ der Sittlich19 keit zuwiderlaufender Zustand. Mithin muß man annehmen, daß die Natur es 20 zulasse, in der Art die freie Willkür der Menschen mit der allgemeinen Freiheit nach dem allgemeinen Gesetz in Übereinstimmung zu bringen; und also ist hier ein natürliches Erlaubnisgesetz zu der angewandten Gewalt vorhan21 den ...“ Wie in diesem Text schon erkennbar wird, setzt die Anwendung des „Erlaubnisgesetzes“ nicht nur einen „Naturzustand“ voraus, der nach dem „allgemeinen Imperativ der Sittlichkeit“ in einen Rechtszustand überführt werden muss; sie steht auch unter einer „Bedingung“, die Kant noch einmal eigens hervorhebt: dass nämlich „ohne Gewalt kein Recht gestiftet werden kann“,22 welches der Naturzustand beendet. Das Gewalt legitimierende Erlaubnisgesetz folgt insofern dem Prinzip der „Erforderlichkeit“ (ultima-ratio-Prinzip). – Im analytischen Vergleich mit Kants Vorstellung vom Recht als „Zwangsrecht“ – „Befugnis zu zwingen“23 – stellt sich dieses Erlaubnisgesetz als ein „Vermittlungsgesetz“ der praktischen Vernunft dar: Es vermittelt die im „Recht“ als ___________ 18

Kant bei Vigilantius (Fn. 13), S. 514. Eine frühe Formulierung des „Postulats“ in §§ 42, 44 der Rechtslehre: aus dem „Naturzustand“ heraus in einen „rechtlichen/bürgerlichen Zustand“ überzugehen; vgl. Kant, Metaphysik (Fn. 5), S. 424, 430. 20 Also in dieser Weise, mit diesem Mittel: durch Gewalt. 21 Kant bei Vigilantius (Fn. 13), S. 515. 22 Kant bei Vigilantius (Fn. 13), S. 515: Es „glaubt Herr Kant, daß man die Frage: an datur lex permissiva in jure naturale? nicht schlechthin verneinen kann und daß es ... darauf ankomme, ob die Bedingung existiere, unter welcher man annehmen könne, dass Gewalt für Recht gehe, in welchem Fall er ein natürliches Erlaubnisgesetz statuiert. Wenn nämlich der Fall so ist, daß ohne Gewalt kein Recht gestiftet werden kann, so muß dem Recht die Gewalt vorausgehen, statt dessen der Regel nach das Recht die Gewalt begründen muß.“ 23 Kant, Metaphysik (Fn. 5), S. 338: „Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden.“ 19

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Zwangsbefugnis zur Einheit zusammengeschlossenen Elemente „Gewalt“ (Zwang) und „Recht“ (Befugnis)24 in Konstellationen eines „Zwangs ohne Recht“ unter bestimmten Anwendungsvoraussetzungen durch die Umkehrung des Grundsatzes, dass „Gewalt“ durch „Recht“ begründet sein, der Gewalt das Recht „vorausgehen“ muss. Kann nur durch Gewalt ein rechtlicher Zustand geschaffen werden, so tritt kraft des „Erlaubnisgesetzes“ an die Stelle des Prinzips „Recht vor Gewalt“ dessen in die rhetorische Figur des „Chiasmus“25 gefasste Umkehrung „Gewalt vor Recht“. Die rechtlose Gewalt, der „Zwang ohne Recht“, legitimiert sich als „erlaubt“ durch die Konstituierung von „Recht“. Die praktische Anwendung dieses „Erlaubnisgesetzes“ exemplifiziert Kant u.a.26 an einem berühmten Notstandsfall: dem „Brett des Karneades“. Er führt den Fall, dass „zwei sich um ein Brett beim Schiffbruch schlagen“,27 in zwei verschieden beurteilten Varianten28 ein. Die erste Variante besteht darin, dass einer der Schiffbrüchigen das rettende Brett bereits in Besitz genommen hat und der andere ihn aus diesem Besitz gewaltsam verdrängt. Dies ist nach Kant nicht zulässig: „herunterschmeißen von dem in Besitz genommenen Brett“ darf keiner den anderen. Die zweite Variante – „solange keiner das Brett in Besitz hat“ – wird anders beurteilt. In diesem Fall, in dem eine „Kollision des Rechts“ noch nicht vorliege, komme es auf das „Recht des Stärkeren“ an.29 Wie dies mit dem „Erlaubnisgesetz“ zusammenhängt, erläutert Kant in einer Textpartie, in der für die zweite Variante die erwähnte „Bedingung“ (Erforderlichkeit) zumindest implizit bejaht wird: ___________ 24 Kant, Metaphysik (Fn. 5), S. 340: „Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei.“ 25 Die Figur des „Chiasmus“ verwendet Kant auch sonst manchmal, z.B. bei der Gegenüberstellung von „Billigkeit“ („Recht ohne Zwang“) und „Notrecht“ („Zwang ohne Recht“). Vgl. Kant, Metaphysik (Fn. 5), S. 341. 26 Vgl. aber auch unten Fn. 65. 27 Kant bei Vigilantius (Fn. 13), S. 515. Vgl. auch bereits S. 513: „ob es mir als Stärkerem erlaubt ist, bei gleicher Lebensgefahr den anderen von dem Brett zu stoßen und dadurch mein Leben zu retten“. 28 Zu den verschiedenen Varianten, die der „Karneades-Fall“ – schon in der weit zurückreichenden Überlieferung – enthält, vgl. Küper (Fn. 14), S. 32 f., und in: Die Vergeltung – Annette von Droste-Hülshoffs Ballade in strafrechtlich-rechtshistorischer Sicht, 2006, S. 8 ff. (Juristische Studiengesellschaft [Karlsruhe], Jahresband 2005); dort auch Näheres zur geschichtlichen Herkunft, mit weit. Nachw. – Zur (kontroversen) Beurteilung der Fallvarianten nach heutigem Recht etwa H. Koriath, JA 1998, 250 ff.; W. Küper, Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, 1979, S. 64 ff.; H. Otto, Jura 2005, 470 ff. (475 f.). Vgl. auch J. Isensee, FS Jakobs, 2007, S. 205 ff.; C. Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten, 2006, S. 31 ff., 539 ff. Aus philosophischer Sicht W. Lübbe, Lebensnotstand – Ende der Normativität?, in: Th. Buchheim u.a. (Hrsg.), Die Normativität des Wirklichen – Über die Grenze zwischen Sein und Sollen (FS R. Spaemann), 2002, S. 312 ff. 29 Kant bei Vigilantius (Fn. 13), S. 599.

„Gewalt vor Recht“ statt „Recht vor Gewalt“

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„Eben nun aus voriger Bedingung entscheidet sich die Existenz des Erlaubnisgesetzes in dem Fall, wenn die Erhaltung des Lebens zweier Menschen von dem Besitz einer Sache abhinge. Kann der andere ihn, der schon im Besitz der Sache ist, aus dem Besitz setzen, um sich sein Leben auf Kosten des Lebens des anderen zu sichern? Nach dem Naturrecht auf keinen Fall, weil eben der zu Depossedierende schon im Besitz war, wodurch er sein Leben schützt: die Not des anderen kann nie ein Zwangsrecht geben, insofern der Grund der Handlung nicht schon vorher auf einem rechtsgültigen Zwangsrecht beruhte; denn sonst würde der andere eben das Zwangsrecht haben müssen, und das ist unmöglich. Anders aber ist der Fall, wenn noch keiner von beiden im Besitz der Sache war, vielmehr beide sich bemühten, den Besitz zu ergreifen, wodurch das Leben von einem gerettet werden kann. Alsdann ist zwischen beiden kein Recht vorhanden, wodurch der eine vom anderen gezwungen werden könnte; es ist auch kein Mittel da, dem natürlichen Trieb zur Gewalt vorzubeugen; will man sie nicht gestatten, so verlieren beide das Leben, statt dessen wenigstens das Leben des einen nach dem allgemeinen Gesetz erhalten werden müsste ...; es muß also Gewalt erlaubt werden, um dadurch ein Recht zur Erhaltung des Lebens zu stiften. Es ist also auch hier die Maxime zum Grunde, daß zur Stiftung eines Rechts Gewalt 30 vor Recht gehe nach einem Erlaubnisgesetz.“

Die zweite Variante des Karneades-Falles, bei der noch keiner der beiden Schiffbrüchigen die lebensrettende Sache in Besitz genommen hat, wird von Kant ersichtlich in den „Naturzustand“ verwiesen, auf dessen Grundlage das Erlaubnisgesetz nach dem Prinzip „Gewalt vor Recht“ die Konstituierung von „Recht“ durch Gewalt gestattet, in concreto die „Stiftung“ eines Rechts zur Erhaltung des eigenen Lebens. Denn in dieser Fallvariante ist nach Kant zwischen beiden Personen noch „kein Recht“ als Zwangsrecht „vorhanden“ und „kein Mittel“ verfügbar gegen den „natürlichen Trieb zur Gewalt“ – deutliche Merkmale eines „Naturzustandes“. Der Sache nach argumentiert Kant denn auch in diesem Zusammenhang, wie schon an der früher zitierten Stelle31, mit den inadäquaten Folgen eines hypothetisch hinzugedachten Verbots der Gewalt und leitet daraus die „Erlaubnis“ ab. Die Verbotshypothese: „Will man sie [die Gewalt] nicht gestatten ...“ korrespondiert der hypothetischen Annahme: „Sollte nun ein prohibitives Gesetz gegeben werden, vermöge dessen es nicht erlaubt wäre, Gewalt anzuwenden ...“ Indessen führt Kants Grundüberlegung, dass ein Gewalt untersagendes „Prohibitivgesetz“ im Widerspruch zum „Imperativ der Sittlichkeit“ den Naturzustand verfestigen („verteidigen“) würde und deshalb zur Rechtsstiftung Gewalt zugelassen werden müsse, in der angesprochenen Konstellation des Karneades-Falles zu einem überraschenden Ergebnis: Zwar überwindet und beendet der gewaltsame Besitzerwerb den bisherigen „Naturzustand“ formal durch die Herstellung eines „Rechts zur Erhaltung des Lebens“, das vormals nicht existierte. Doch bildet der so begründete „Rechtszustand“, in dem der Erwerber nunmehr eine Besitzposition okkupiert hat, ___________ 30 31

Kant bei Vigilantius (Fn. 13), S. 516. Oben nach Fn. 18.

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„wodurch er sein Leben schützt“, lediglich eine Situation normativ ab, die faktisch ohnehin eintritt, wenn sich der im Naturzustand herrschende „Trieb zur Gewalt“ durchsetzt, und die rechtsstiftende „Erlaubnis“ zur Gewaltanwendung ist ersichtlich kein taugliches „Mittel“, diesem natürlichen Trieb „vorzubeugen“. Das „Erlaubnisgesetz“ legitimiert damit im Grunde nur das faktische Resultat jenes „natürlichen Triebes“, ohne einen substantiell neuen Rechtszustand zu ermöglichen und an dessen Stelle zu setzen. Es kommt deshalb nicht von ungefähr, dass Kant das entscheidende Gewicht auf einen anderen, als „allgemeines Gesetz“ ausgegebenen Grundsatz legt, der die Ausgangslage eines „Naturzustandes“ nicht mehr voraussetzt: den Grundsatz, dass unter der Hypothese eines prohibitiven Gewalt-Verbots – welches folgerichtig generell, also für beide Beteiligten gelten müsste – „beide das Leben verlieren“, d.h. keiner sich gewaltsam retten dürfte, während es doch gestattet sein müsse, „wenigstens das Leben des einen“ (also das eigene Leben des Gewalttätigen) „zu erhalten“. Dies ist im Karneades-Fall der eigentliche Inhalt des „Erlaubnisgesetzes“ der praktischen Vernunft.

III. In Kants späterer Fassung seiner sog. Notrechtslehre, wie er sie im Anschluss an die Schrift über den „Gemeinspruch“ (1793)32 in der „Metaphysik der Sitten“ (1797/98)33 dargestellt hat,34 kommt dagegen ein „Erlaubnisgesetz“ zur Gewaltanwendung nicht mehr vor. Kant hat die „besitzrechtlich“ differenzierende Beurteilung des Karneades-Falles dort nicht übernommen. Es wird nicht (mehr) danach unterschieden, ob einer der beiden Schiffbrüchigen das rettende Brett „schon in Besitz“ hat, „wodurch er sein Leben schützt“, und der andere ihn „herunterschmeißt“, oder ob beide sich erst um diesen Besitz „bemühen“. Auch von einem in der zweiten Variante vorausgesetzten „Naturzustand“ hören wir nichts mehr. Kant verwirft jetzt jedes Notrecht strikt und ausnahmslos, ohne eine „Erlaubnis“ anzuerkennen. Mit geradezu höhnischer Schärfe attackiert er die „Rechtslehrer“, die ein Notrecht zur gewaltsamen Tötung behauptet haben:35 ___________ 32

Kant, Gemeinspruch (Fn. 9), S. 156 f. mit Fn.*. Kant, Metaphysik (Fn. 5), S. 343 („Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre“). 34 Zu Kants Gemeinspruch-Schrift als Vorläuferin der späteren Notrechtspartie in der „Metaphysik der Sitten“ und zum Verhältnis beider Darstellungen näher Küper (Fn. 14), S. 20 ff. Vgl. auch W. Küper, FS E. A. Wolff, 1998, S. 285 ff., 295 ff. 35 Zu den hierfür in Betracht kommenden Autoren etwa W. Busch, Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants, 1979, S. 153; K. Rabe, Die Entwicklung des Notstandes von der Aufklärungszeit bis zum Reichsstrafgesetzbuch, 1930, S. 16 ff. 33

„Gewalt vor Recht“ statt „Recht vor Gewalt“

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„Dieses vermeinte Recht soll eine Befugnis sein, im Fall der Gefahr des Verlusts meines eigenen Lebens einem anderen, der mir nichts zu Leide tat, das Leben zu nehmen. Es fällt in die Augen, daß hierin ein Widerspruch der Rechtslehre mit sich selbst enthalten sein müsse – denn es ist hier nicht von einem ungerechten Angreifer auf mein Leben, dem ich durch die Beraubung des seinen zuvorkomme (ius inculpatae tutelae), die Rede, ... sondern von einer erlaubten Gewalttätigkeit gegen den, der keine gegen mich ausübte.“ Dem „Sinnspruch“ des vermeintlichen Notrechts, dass „Not kein Gebot“ habe, setzt Kant eine Maxime entgegen, die jenen Widerspruch 36 pointiert: „Es kann keine Not geben, welche, was unrecht ist, gesetzmäßig machte.“ Oder, wie es schon in der Schrift über den „Gemeinspruch“ heißt: Ein Notrecht wäre „als ein vermeintes Recht, in der höchsten (physischen) Not Unrecht zu tun, ein [wi37 dersprüchliches] Unding.“

Kant erkennt nunmehr die „Behauptung“ des angeblichen Notrechts (und die Parömie „Not hat kein Gebot“) nur als Chiffre für eine justizpraktische Entscheidung an – „wie vor Gericht die Sentenz gefällt werden würde“ –, in der die „Unstrafbarkeit“ der gewalttätigen Selbsterhaltung zur Geltung kommen muss, die nicht in „wunderlicher Verwechslung“ für „objektive Gesetzmäßigkeit“ gehalten werden darf. Diese praktische Rechtsbeurteilung einer keineswegs schon „unsträflichen“ (inculpabile) Tat als nur „unstrafbar“ (inpunibile) hat ihren Grund in der psychologischen Machtlosigkeit der gesetzlichen Strafdrohung, im Mangel ihrer individuellen Abschreckungswirkung: „Denn die durchs Gesetz angedrohete Strafe könnte doch nicht größer sein als die des Verlusts des Lebens ... Nun kann ein solches Strafgesetz die beabsichtigte Wirkung gar nicht haben; denn die Bedrohung mit einem Übel, was noch ungewiß ist (dem Tode durch den richterlichen Ausspruch), kann die Furcht vor dem Übel, was gewiß 38 ist (nämlich dem Ersaufen) nicht überwiegen.“ „Denn die Obrigkeit kann keine Strafe mit dem Verbot verbinden, weil diese Strafe der Tod sein müßte. Es wäre aber ein ungereimtes Gesetz, jemandem den Tod androhen, wenn er sich in gefährlichen 39 Umständen dem Tode nicht freiwillig überlieferte.“

Mit dem Hinweis auf die bloße „Unstrafbarkeit“, die aus dem Mangel wirksamer gesetzlicher Strafdrohung resultiere, nimmt Kant eine Lösung wieder auf, die er schon in der Metaphysik-Vorlesung (1793/94) für die erste Variante des Karneades-Falles vorgeschlagen hat: den Fall, dass einer der Beteiligten den anderen von dem schon in Besitz genommenen Brett „herunterschmeißt“. Der Handelnde könne dann, obwohl ihm die Not „kein Recht“ verleihe, „nicht gestraft“ werden, „weil es kein Gesetz geben kann, das die Unterlassung der Handlung cum effectu gebieten könnte“ – was Kant hier sogar mit der Wen-

___________ 36

Kant, Metaphysik (Fn. 5), S. 343. Kant, Gemeinspruch (Fn. 9), S. 156. 38 Kant, Metaphysik (Fn. 5), S. 343. 39 Kant, Gemeinspruch (Fn. 9), S. 157 Fn. *. 37

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dung umschreibt, dass die Handlung insofern „per casum necessitatis erlaubt“ werde:40 „Denn denjenigen mit dem Tode zu strafen, der sein eigenes Leben nicht anders als mit dem Verlust des Lebens des anderen retten kann, heißt, ihm nur die Wahl zwischen zwei Todesarten übrig lassen: entweder er wählt den Tod, indem er das Leben des anderen schont, und der ist gewiß, oder er nimmt dem anderen das Leben mit Erhaltung des seinigen und unterwirft sich der richterlichen Strenge; er wird das Letztere tun, da er dieser vielleicht durch die Flucht entgehen kann.“

Liest man die in der „Metaphysik der Sitten“ wie schon im „Gemeinspruch“ angedeuteten Fallbeschreibungen genau, so zeigt sich, dass Kant dort zwar nicht zwischen den in der Vorlesung besprochenen Varianten differenziert, jedoch ausdrücklich nur auf die erste Fallvariante Bezug nimmt, in der einer der Schiffbrüchigen das Brett schon in Besitz genommen hat,41 und an dieser Konstellation das vermeintliche Notrecht exemplifiziert. Denn der Täter stößt danach den „anderen“ („diesen“) Schiffbrüchigen „von dem Brett, worauf er sich gerettet hat, weg ..., um sich selbst zu retten“42 bzw. er stößt „einen anderen Schiffbrüchigen von seinem Brett ..., um sein eigenes Leben zu erhalten“43. Es bleibt deshalb zu erwägen, ob Kant hier vielleicht von der zweiten Fallvariante, in der sich beide um den Besitz des Brettes erst „bemühen“, nur absieht, sie ausspart, und insoweit die bisherige „Erlaubnis“ zur Gewaltanwendung nicht ausschließt.44 Die Ablehnung eines Notrechts würde sich dann auf jene erste Variante beschränken, während für die zweite das ursprüngliche „Erlaubnisgesetz“ zumindest nicht dementiert wäre. Diese Deutung brächte indessen in Kants sonst geschlossene Lehre vom nur „vermeinten“ Notrecht einen Fremdkörper hinein, der ihre Einheit – soweit sie die Ablehnung der „Gesetzmäßigkeit“ des Handelns betrifft – sprengen und sie gleichsam spalten würde. Das wäre unvereinbar mit dem erkennbar kategorischen Anspruch der gesamten Notrechtsreflexion, der sich deutlich darauf richtet, ein „Notrecht“ außerhalb der Notwehr („ius inculpatae tutelae“) als „Widerspruch in sich“ schlechthin aus der eigentlichen Rechtslehre auszuscheiden und als Fall bloßer „Unstrafbarkeit“ der Sphäre eines „Rechts im weiteren Sinn“ („ius latum“) zuzuweisen.45 Dieser Anspruch wird mit dem zusätzlichen Hin___________ 40

Kant bei Vigilantius (Fn. 13), S. 599 f. Vgl. dazu schon Küper (Fn. 14), S. 33; ders. (Fn. 34), FS E. A. Wolff, S. 300; jew. mit Hinw. auf abweichende (aber nicht überzeugende) Deutungen. 42 Kant, Metaphysik (Fn. 5), S. 343. 43 Kant, Gemeinspruch (Fn. 9), S. 157 Fn. *. 44 Zu dieser Frage bereits Küper (Fn. 14), S. 36 f. und in: (Fn. 34), FS E. A. Wolff, S. 302 f. 45 Zu dieser – hier nur angedeuteten – Interpretation der „Unstrafbarkeit“ genauer Küper (Fn. 14), S. 47 ff., 53 ff. Im Wesentlichen übereinstimmend, mit nur unerhebli41

„Gewalt vor Recht“ statt „Recht vor Gewalt“

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weis, die Not könne eine unrechtmäßige Handlung nicht „gesetzmäßig“ machen, so dezidiert vorgetragen, dass er die Ausnahme einer Not-„Erlaubnis“ nicht duldet, die im Notrechtstext denn auch gar nicht kenntlich gemacht ist. Systematisch würde eine solche Ausnahme zudem nicht in den „Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre“ gehören, wo Kant das vermeintliche Notrecht aus der eigentlichen Rechtslehre ausklammert, sondern in den Kontext der dem „strengen Recht“ gewidmeten Rechtslehre selbst,46 in der sie aber gar nicht vorkommt. Man wird somit davon ausgehen dürfen, dass Kant in seiner publizierten Notrechtslehre von der ursprünglichen Vorstellung eines „Erlaubnisgesetzes“, wonach im Notstandsfall u.U. „Gewalt vor Recht“ gehen kann, Abschied genommen hat.47 Die explizite Bezugnahme allein auf die erste Variante des Karneades-Falles, an der er vorzugsweise die Wirkungslosigkeit der gesetzlichen Strafdrohung veranschaulicht, ist danach nur ein Beispiel für das darüber hinaus generell zurückgewiesene Notrecht. Die „strafrechtliche“ Wendung, die Kant hier der Notrechtslehre gibt, unterstützt diese Folgerung: Wegen Zweckwidrigkeit des Strafdrohungsgesetzes „unstrafbar“ ist die gewaltsame Selbsterhaltung schließlich in beiden Konstellationen des Karneades-Falles.

IV. Wie erklärt sich diese Änderung der Kantischen Notrechtslehre? Reinhard Brandt, der „Entdecker“ des ursprünglichen Erlaubnisgesetzes in Kants Metaphysik-Vorlesung, hat die Abweichung auf einen interessanten Befund zurückgeführt. Kant habe nämlich seit seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795/96), in der er „die Rechtslehrer des Naturrechts auf den Begriff einer lex permissiva aufmerksam“ macht,48 die Funktion eines „Erlaubnisgesetzes“ anders verstanden als noch 1793/94 in der von Vigilantius berichteten Vorlesung: Das „Erlaubnisgesetz“ stifte danach nur mehr „einen Rechtsmodus der Duldung von unvermeidlichen, schon geschehenen, institutionell verfestigten Gewaltformen“; diese Dimension fehle aber „im Fall des Schiffbruchs, und hierin liegt der Grund der Ausklammerung des Notrechts aus dem Komplex des Erlaubnisgesetzes“.49 In der Tat hat Kants „Erlaubnisgesetz“ in der Friedens-Schrift einen anderen, ganz eigentümlichen Inhalt angenommen, in dem die ursprüngli___________ chen Abweichungen, neuerdings J. Hruschka (Fn. 28), FS Jakobs, S. 189 ff., 203 mit Fn. 81. 46 Ebenso Brandt (Fn. 12), S. 246: Das „Erlaubnisgesetz“ habe „seinen Ort in der Rechtslehre selbst“. 47 So auch Brandt (Fn. 12), S. 245 f. Vgl. ferner Kaufmann (Fn. 14), S. 211. 48 Kant, Zum ewigen Frieden – Ein philosophischer Entwurf (1795/96), Ausgabe Weischedel (Fn. 5), Bd. VI, 1964, S. 195 ff., 201 f. mit Anm. * zum „Erlaubnisgesetz“. 49 Brandt (Fn. 12), S. 246.

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che Funktion einer Gestattung rechtsstiftender „Gewalt vor Recht“ nicht mehr erkennbar ist: Kant versteht die grundlegenden „Präliminarartikel zum ewigen Frieden unter den Staaten“ zunächst als objektive Verbotsgesetze („leges prohibitivae“), bei denen es keinerlei Ausnahme und insofern keine „lex permissiva“ geben kann. Er teilt diese Verbotsgesetze dann jedoch in zwei Gruppen auf. Bei der ersten Gruppe handelt es sich um „leges strictae“, Prohibitivgesetze „von der strengen, ohne Unterschied der Umstände geltenden Art“; sie „dringen sofort auf Abschaffung“ bisher geübter Praktiken oder bestehender Verhältnisse,50 wie z.B. das Verbot eines Friedensschlusses „mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege“ (Artikel 1).51 Die zweite Gruppe der Prohibitivgesetze soll hingegen, wenngleich wiederum keine eigentlichen „Ausnahmen von der Rechtsregel“, so aber „in Rücksicht auf die Ausübung“ des jeweiligen Verbots „Erlaubnisse enthalten, die Vollführung aufzuschieben, ohne doch den Zweck aus den Augen zu verlieren“.52 Ein solches, durch „Erlaubnis“ modifiziertes Verbotsgesetz enthält etwa Artikel 3, der bestimmt: „Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören.“53 Derartige „Erlaubnisse“ sind vorläufige Aufschubs- und Verzögerungsgestattungen zur Vermeidung übereilter Änderungen eines Unrechtszustandes, deren sofortiger Vollzug die Erreichung des Verbotszwecks („der Absicht selbst“) gefährden würde: provisorisch wirkende Duldungserlaubnisse als Konzessionen an das zeitlich begrenzte Fortbestehen historisch tradierter Institutionen. Ihre Struktur ist dadurch gekennzeichnet, dass das ihnen zugrunde liegende „Verbot“ sich zwar weiterhin auf die Garantie eines vernunftrechtlich geforderten Zustandes in der „Zukunft“ richtet, nicht jedoch auf die Beseitigung überkommener VernunftWidersprüche schon in der (verbotswidrigen) Gegenwart. Das Verbot – so sagt Kant – „betrifft hier nur die Erwerbungsart, die fernerhin nicht gelten soll, aber nicht den Besitzstand, der ... zwar nicht den erforderlichen Rechtstitel hat, doch zu seiner Zeit, ... nach der damaligen öffentlichen 54 Meinung, ... für rechtmäßig gehalten wurde“. Wie Kants Anmerkung noch einmal erläutert, zielt „hier im Erlaubnisgesetz das vorausgesetzte Verbot nur auf die künftige Erwerbungsart ..., die Befreiung aber von diesem Verbot, d.i. die Erlaubnis, auf den gegenwärtigen Besitzstand“. Soweit dieser ein zwar „un-

___________ 50

Kant, Frieden (Fn. 48), S. 201. Kant, Frieden (Fn. 48), S. 196. 52 Kant, Frieden (Fn. 48), S. 201. 53 Kant, Frieden (Fn. 48), S. 197. 54 Kant, Frieden (Fn. 48), S. 201. 51

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rechtmäßiger“, aber „ehrlicher“ Besitz ist, darf er „nach einem Erlaubnisgesetz 55 des Naturrechts noch fernerhin fortdauern“. In seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ formuliert Kant damit einen besonderen, sehr speziellen Anwendungsfall des sog. „Erlaubnisgesetzes“. Die Rechtsfigur der „Erlaubnis“, die mit einer zeitlichen Projektion der (definitiven) Geltungskraft des jeweiligen Verbots von der Gegenwart in die Zukunft korrespondiert – und daraus sekundär abgeleitet wird –, dient einer „gemäßigten“, „evolutionären“ Verbotsdurchsetzung, deren Vollzug („Ausübung“) abrupte Änderungen bisher als legitim anerkannter Traditionen vermeidet und deren vernunftwidrige Unrechtmäßigkeit, die es ausnahmslos zu beseitigen gilt, vorläufig-provisorisch als noch „erlaubt“ toleriert. Man mag jene traditionellen Zustände oder Institutionen, weil sie dem mit dem Verbot bezweckten, endgültigen Rechtszustand widerstreiten, in einem weiten Sinn von „Gewalt“ als „institutionell verfestigte Gewaltformen“ bezeichnen,56 obwohl Kant selbst insoweit nicht von Gewalt spricht. Doch geht es jedenfalls nicht mehr um die Erlaubnislegitimation rechtsstiftender unmittelbarer Gewalt, sondern im Grunde um die Herstellung der Kompatibilität verschiedener Legitimitätsansprüche:57 des aus der Tradition des hergebrachten „ehrlichen Besitzes“ resultierenden Anspruchs auf den vorläufigen Fortbestand des Bestehenden einerseits und andererseits der zwingenden Forderung der Vernunft, die sich auf die Überwindung des als rechtsgemäß nur mehr „Tradierten“, in Wahrheit aber „Verbotenen“ richtet. Kants „Erlaubnisgesetz“ in dieser Gestalt ist die geniale naturrechtliche Invention, die solche Kompatibilität theoretisch leisten soll, ohne dass von der zwingenden Rechtsregel der „lex prohibitiva“ selbst eine „Ausnahme“ gemacht werden muss. Dieser neuartige Gedanke hat mit der ursprünglichen Funktion des Kantischen „Erlaubnisgesetzes“ nichts mehr gemein. Auch in der späteren „Metaphysik der Sitten“ gebraucht Kant an einigen Stellen den Begriff eines „Erlaubnisgesetzes“ oder einer „lex permissiva“, namentlich in seiner Lehre von Besitz und Eigentum. So könne man das in § 2 der Rechtslehre aufgestellte „Postulat“ – „einen jeden Gegenstand meiner Willkür als objektiv-mögliches Mein oder Dein anzusehen“ – ein „Erlaubnisgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft nennen“, das uns die „Befugnis“ gebe, „allen anderen eine Verbindlichkeit aufzulegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände zu enthalten, weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben“.58 Und nach § 16 hat die dort exponierte ursprüng___________ 55

Kant, Frieden (Fn. 48), S. 201 f. (Anm. *). Brandt (Fn. 12), S. 246 (vgl. oben vor Fn. 49). 57 Dazu bereits Küper (Fn. 14), S. 39. 58 Kant, Metaphysik (Fn. 5), S. 354 f. – Analyse des Postulats namentlich bei R. Zaczyk, Untersuchungen zum rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft in Kants Meta56

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lich-provisorische „Erwerbung des Bodens“ durch den als gültig anzuerkennenden Akt einseitiger Inbesitznahme die erforderliche „Gunst“ einer „lex permissiva“ für sich.59 Ohne dass hier auf die Bedeutung des „Erlaubnisgesetzes“ in diesen Zusammenhängen näher eingegangen werden kann,60 lässt sich doch feststellen, dass zentrales Thema ebenfalls nicht mehr die Konstituierung von Recht durch „Gewalt“ ist, jedenfalls nicht in dem Sinn, wie sie anlässlich des Karneades-Falles in Kants Metaphysik-Vorlesung gemeint ist und zugelassen wird. Kants Vorstellung vom „Erlaubnisgesetz“ hat sich also gewandelt. Aber bedeutet dies, dass er dessen ursprüngliche Funktion verabschiedet hat, oder handelt es sich nur um eine differenzierende Erweiterung? Für die zweite Möglichkeit spricht nicht allein, dass das „Erlaubnisgesetz“ in seiner Ursprungsfassung zu grundlegend und zu einleuchtend ist, um einen Verzicht auf das Prinzip „Gewalt vor Recht“ erklären zu können.61 Dafür spricht aber vor allem auch, dass in Kants „Metaphysik der Sitten“ zugleich der Grundtypus einer „Erlaubnis“ unüberhörbar wieder anklingt, die es gestattet, den Naturzustand durch „Gewaltanwendung“ in den bürgerlichen Rechtszustand zu überführen und so das „gesicherte Recht“ eines status civilis zu begründen. In diesem Sinn heißt es im „Folgesatz“ des § 8: „Wenn es rechtlich möglich sein muß, einen äußeren Gegenstand als das Seine zu haben, so muß es auch dem Subjekt erlaubt sein, jeden anderen, mit dem es zum Streit des Mein und Dein über ein solches Objekt kommt, zu nötigen, mit ihm zu62 sammen in eine bürgerliche Verfassung zu treten.“ Und ferner: Es muss – schon vor der bürgerlichen Verfassung – „ein äußeres Mein und Dein als möglich angenommen werden und zugleich ein Recht, jedermann, mit dem wir irgend auf eine Art in Verkehr kommen könnten, zu nötigen, mit uns in eine Verfassung zusammen zu treten, worin jenes gesichert werden kann“.

Kant spricht hier zwar nicht ausdrücklich von „Gewalt“; doch ist mit der „Nötigung“ ein Zwang zur Herstellung des bürgerlichen Rechtsverhältnisses gemeint, der die Gewalt einschließt. So sagt Kant denn auch an späterer Stelle (§ 44) deutlich, dass „ein jeder den anderen mit Gewalt antreiben darf“, aus ___________ physik der Sitten, in: C. Fricke u.a. (Hrsg.), Das Recht der Vernunft – Kant und Hegel über Denken, Erkennen und Handeln, 1995, S. 311 ff. 59 Kant, Metaphysik (Fn. 5), S. 378. Vgl. auch § 22 zum „natürlichen Erlaubnisgesetz“ bei dem „auf dingliche Art persönlichen Recht“ des Besitzes (S. 388 f.). 60 Dazu zuletzt Kaufmann (Fn. 14), S. 195 ff., 207 ff.; vgl. auch die weit. Nachw. oben Fn. 14. – In der „Einleitung“ (IV. Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten) kommt das „Erlaubnisgesetz“ nicht mit einem bestimmten Inhalt vor; es wird nur klargestellt, dass bei einer „sittlich gleichgültigen“ (indifferenten) Handlung kein Erlaubnisgesetz „erforderlich“ sei. Vgl. Kant, Metaphysik (Fn. 5), S. 329. 61 Auch Kersting (wie Fn. 12) hält das ursprüngliche „Erlaubnisgesetz“ offenbar für ein definitives Element der Kantischen Rechtslehre. 62 Kant, Metaphysik (Fn. 5), S. 366; dort auch das folgende Zitat aus § 9.

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dem „natürlichen Zustand“ (der „Rechtlosigkeit“) „nun in einen rechtlichen Zustand zu treten“.63 Dies ist ersichtlich wieder die Grundform des Gewalt legitimierenden, Recht begründenden „Erlaubnisgesetzes“. Wenn Kant somit dieses Gesetz in seiner ursprünglichen Bedeutung nicht aufgegeben hat, worin liegt dann der Grund für jene „Ausklammerung des Notrechts aus dem Komplex des Erlaubnisgesetzes“?64 Den psychologischen Grund, Kants Motiv für die Ablehnung einer Not-„Erlaubnis“ in der zweiten Variante des Karneades-Falles, kennen wir natürlich nicht, und wir können den Autor danach nicht mehr fragen. Doch kann man – wie Brandt – versuchen, den „inneren“, systematischen Grund dafür zu ermitteln. Es wurde in früherem Zusammenhang schon beobachtet, dass in der Metaphysik-Vorlesung die gewaltsame Konstituierung eines „Rechtszustandes“, die in der Stiftung des „Rechts zu Erhaltung des Lebens“ bestehen soll, nur formal gelingt; materiell betrachtet bestätigt der neue rechtliche Zustand, für den sich Kant auf das „allgemeine Gesetz“ beruft, dass „wenigstens das Leben des einen“ erhalten werden müsse, lediglich den bisherigen Naturzustand, stattet den dort herrschenden „natürlichen Trieb zur Gewalt“ mit der formellen Legitimation einer Gewalt„Erlaubnis“ aus. Ein wirklicher „Rechtszustand“ kann so nicht überzeugend gestiftet werden. Ihm fehlt zudem – und nicht zuletzt – das konstitutive Moment des „Gemeinschaftlichen“, das bei Kant sonst den legitimen Zwang zum Übergang in den bürgerlichen Zustand kennzeichnet.65 Die „Nötigung“ zielt hier darauf ab, mit dem Betroffenen gemeinsam („mit ihm zusammen“, „mit uns“) „in eine bürgerliche Verfassung zu treten“66 und so die Verbindlichkeit des Postulats durchzusetzen: „Du sollst, im Verhältnis eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins, mit allen anderen aus jenem [natürlichen Zustand] heraus in einen rechtlichen Zustand übergehen.“67 Dies ist im Karneades-Fall aber gar nicht möglich. Die gewaltsam-tödliche Okkupation des Besitzes an dem lebensrettenden Brett, die dem Schwächeren das Lebensrecht vorenthält, schließt ihn ___________ 63

Kant, Metaphysik (Fn. 5), S. 430. Oben bei Fn. 49. 65 Vgl. dazu auch Kants weiteres Beispiel für die Anwendung des ursprünglichen Erlaubnisgesetzes in der Metaphysik-Vorlesung von 1793/94: die „wahrscheinliche Entstehung der Staatsgesellschaft“. Im Anschluss an die Beschreibung von „Menschen in statu naturali“, die „in keinem rechtlichen Zustand“ seien, heißt es dort: „Es muß zuletzt Einer bleiben, der die Obermacht behauptet und der die Absicht hat, zur Organisierung seiner Herrschaft ein allgemeines Recht zu stiften.“ (Kant bei Vigilantius [Fn. 13], S. 514 f.). 66 Vgl. die Zitate oben bei Fn. 62, 63. 67 Kant, Metaphysik (Fn. 5), S. 424 (§ 42). Vgl. auch die Kennzeichnung des Rechtszustandes in § 41 (S. 422 f.): „Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann.“ 64

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vielmehr mit dem bloßen „Recht des Stärkeren“ von vornherein aus dieser Rechtsgemeinschaft aus – eine verkappte Fortsetzung des „Naturzusstandes“.

V. Kehren wir am Ende noch kurz wieder zum Ausgangspunkt zurück: zu Kants Auffassung vom „Revolutionsrecht“. Kant hat den vorrevolutionären Zustand, der durch revolutionären Widerstand verändert werden soll, mit dem Hinweis auf einen „Mißbrauch der obersten Gewalt“ angedeutet, welcher sogar „für unerträglich ausgegeben“ werden kann.68 Dieser Zustand des Machtmissbrauchs ist für Kant offenbar lediglich ein „fehlerhafter Rechtszustand“ – und insofern freilich ein „Unrechtszustand“ –, der vom „Souverän“ durch eine „Reform“ zu überwinden ist;69 er ist jedoch kein „Naturzustand“, der nach dem ursprünglichen Erlaubnisgesetz durch Gewalt beseitigt werden dürfte, um einen rechtlichen Zustand überhaupt erst zu konstituieren. Die Möglichkeit, dass der Machtmissbrauch zu Verhältnissen völliger Gesetz- und Rechtlosigkeit und damit zu einem Rückfall in den „Naturzustand“ führt, bleibt bei Kant außerhalb des Blickfeldes. Hätte er sie zugestanden und berücksichtigt, so wäre die Frage unvermeidlich geworden, ob nicht wenigstens in diesem Fall eine Not„Erlaubnis“ zum revolutionären Widerstand anzuerkennen ist, die nach dem Prinzip „Gewalt vor Recht“ Kants normlogisch-innerstaatlich begründetes Revolutionsverbot außer Kraft setzt. So aber entspricht die „Pflicht des Volks“, einen Missbrauch der obersten Gewalt „dennoch zu ertragen“, dem Grundgedanken eines durch „Aufschubserlaubnis“ modifizierten Verbotsgesetzes, wie es Kant in der Schrift „Zum ewigen Frieden“ vorgestellt hat: Ein an sich verbotener Unrechtszustand darf vorläufig – bis zur notwendigen Reform – noch „fernerhin fortdauern“. Mit der gelungenen Revolution verwandelt sich die vorrevolutionäre Pflicht des Volkes, den Missbrauch der Macht „zu ertragen“, in die rechtliche Verbindlichkeit, der neuen Obrigkeit „ehrlich zu gehorchen“. Man kann auch in diesem Wechsel des Rechtszustandes den Anwendungsfall eines „Erlaubnisgesetzes“ sehen, das die Veränderung überbrückt und ihre mögliche Widersprüchlichkeit aufhebt, freilich in einem ganz anderen Sinn als bei der ursprünglichen Funkti___________ 68 Kant, Metaphysik (Fn. 5), S. 440; dazu auch Kant, Gemeinspruch (Fn. 9), S. 156, sowie die Interpretation bei F. Gentz, in: D. Henrich (Hrsg.), Kant/Gentz/Rehberg – Über Theorie und Praxis, S. 89 ff., 107: „unmenschliche Bedrückung“, „blutigste Tyrannei“. 69 Dazu auch Kant, Metaphysik (Fn. 5), S. 441: „Eine Veränderung der (fehlerhaften) Staatsverfassung, die wohl bisweilen nötig sein mag [!] – kann also nur vom Souverän selbst durch Reform, aber nicht vom Volk, mithin durch Revolution verrichtet werden ...“.

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on dieses Gesetzes. Nach dem Prinzip „Gewalt vor Recht“ geht hier ebenfalls die „Gewalt“ – nunmehr sogar die als unrechtmäßig verbotene – „dem Recht voraus“ und begründet so mit dem Recht der „neuen Ordnung“ die Legitimität der neuen Obrigkeit. Ein so verstandenes „Erlaubnisgesetz“ verhindert, dass dem Geltungsanspruch des neu konstituierten Rechtszustandes mit dem Hinweis auf seinen „wilden Ursprung“, seine Herkunft aus verbotener Gewalt, die Legitimationsbasis entzogen werden kann.70 Zugleich ist in diesem „Erlaubnisgesetz“ die Einsicht aufgehoben, dass die verbotene Revolution ihrerseits einen präsumtiven Unrechtszustand des Machtmissbrauchs durch die Überführung in „neues Recht“ beendet hat. Was den neuen Rechtszustand betrifft, der durch eine gelungene Revolution begründet wird, so hat sich Kant nur zu dessen „Verbindlichkeit“ für die Staatsbürger geäußert, nicht aber zu etwa erforderlichen inhaltlichen Qualitäten dieses Zustandes selbst. Historische Erfahrung lehrt freilich, dass die „neue Ordnung der Dinge“ u.U. sogar schlechter sein kann als die frühere. Auch unter diesem Aspekt stellt sich deshalb die von Maiwald in seinen Betrachtungen über „Recht und Macht“ allgemein und grundsätzlich aufgeworfene Frage, ob die bürgerliche Verpflichtung zum Gehorsam „nur für solche rechtlichen Ordnungen gilt, die man – nach welchem Maßstab auch immer – als gerechte Ordnungen anzusehen hat, oder ob man jeder beliebigen Ordnung, auch einer höchst ungerechten, gehorchen muß“.71 Kant hat die postulierte „Verbindlichkeit“ mit keinem Vorbehalt versehen und so zugleich jede „Gegenrevolution“ dem Revolutionsverbot unterstellt. Da aber andererseits die für die Bürger verbindliche „neue Ordnung“ nicht schon per se den von der Vernunft geforderten „bürgerlichen Zustand“ gewährleistet, „darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt und durch hinreichende [äußere] Macht zuteil wird“,72 darf man annehmen, dass diese nachrevolutionäre Ordnung nur einen „provisorisch erlaubten“ Rechtszustand repräsentiert, der sich vor den inhaltlichen Anforderungen „rechtlich-praktischer Vernunft“73 erst noch zu bewähren hat.

___________ 70

Vgl. die ähnliche Überlegung bei Kersting (Fn. 12), S. 133 f. (Fn. 134), die sich dort freilich auf das „Erlaubnisgesetz“ in Kants Beispiel der „Staatsgründung“ (oben Fn. 65) bezieht. 71 Maiwald, JZ 2003, 1077. 72 Kant, Metaphysik (Fn. 5), S. 430. 73 Begriff Kants, Metaphysik (Fn. 5), S. 364. – Abschluss des Manuskripts: Februar 2009.

Zur Bedeutung des Unrechtsbegriffs im Strafrecht Von Fritz Loos Die Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld hatte Welzel 1966 als den „wichtigsten dogmatischen Fortschritt der letzten zwei bis drei Menschenalter“ bezeichnet1, und die große Mehrheit der deutschen Strafrechtslehrer versteht auch heute noch Unrecht und Schuld als Basisbegriffe der Strafrechtsdogmatik2. Die Welzelsche Aussage provoziert natürlich die Frage nach den Kriterien für die Annahme eines dogmatischen Fortschritts. Der Jubilar hat einerseits skeptisch darauf hingewiesen, dass „die heutige Verbrechenssystematik keine ewige Wahrheit ist“, aber andererseits zu den gesuchten Kriterien angemerkt, dass die tragenden Begriffe zur analytischen Funktion der Systematik beizutragen hätten3, 4. Generell scheint es plausibel, dass Begriffsbildungen umso weniger nur eine kurzfristige Erscheinung sind, je formaler sie sind. Beispiele sind die Unterscheidung von Tatbestand i.S. der allgemeinen Rechtslehre und Rechtsfolge oder der allgemeine Zurechnungsbegriff, die für inhaltlich unterschiedliche Rechtsordnungen adäquat zu sein scheinen5. Bei inhaltlichen Einsichten folgenden Begriffsbildungen ist die Geltung relativ zu den materialen Voraussetzungen, die jeweils zugrunde gelegt sind und dogmatisch entfaltet werden. Mit dem Wechsel dieser Voraussetzungen entfällt dann auch die aufschließende Kraft der Begrifflichkeit. Die Unterscheidung von Unrecht und Schuld könnte man als eine formale verstehen, wenn man das jedermann verbotene Verhalten der individuellen Zu___________ 1

Welzel, JuS 1966, 421. Repräsentativ für die überwiegende Meinung z.B. Frisch, in: Eser/Hassemer/ Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 165 f. m. Nachw. in Fn. 18, 19; vgl. dort auch Burkhardt, S. 126 m. Fn. 55. 3 Maiwald, FS Miyazawa, 1995, S. 465, 476. 4 Weitere Bemerkungen zur Aufgabe, Leistung und Entwicklung dogmatischer Begriffe und Systematik finden sich bei Maiwald, Dogmatik und Gesetzgebung im Strafrecht der Gegenwart, in: Behrends/Henckel (Hrsg.), Gesetzgebung und Dogmatik, 1989, S. 120, 120-122; ders., FS Sellert, 2000, S. 427, 451 ff. zur Entwicklung der allgemeinen Verbrechenslehre im 19. Jahrhundert; in rechtsvergleichender Hinsicht Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, S. 49. 5 Vgl. zum Formalismus in der Rechtswissenschaft Kelsen, FS Giacometti, 1953, S. 143 ff. 2

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rechnung6 gegenüberstellt. Der neuerdings wieder aufgeflammte Streit um die selbstständige strafrechtstheoretische Bedeutung des Unrechtsbegriffs7 lässt Zweifel an der Formalität der Unterscheidung, genauer an der Formalität eines selbstständigen Begriffs schuldunabhängigen Unrechts aufkommen. Solche Zweifel sind auch nach der Etablierung der Unrecht/Schuld-Unterscheidung durch einen Autor, der an der Durchsetzung und Stabilisierung dieser Unterscheidung maßgeblich beteiligt war, geäußert worden, nämlich von Mezger in seiner Untersuchung von 19248. Mezger hob die Relativität dieser Begriffsbildung zu theoretischen und vor allem praktischen Endzwecken hervor, und zwar durch den Verweis auf den symptomatischen Verbrechensbegriff von Tesar und Kollmann, der aus der spezialpräventiven Orientierung der Lisztschen Schule hervorgegangen war. Wenn das Verbrechen nur Symptom der Gefährlichkeit des Verbrechers ist, stehe die Schuld des Täters, d.h. in diesem Zusammenhang seine durch die Symptomtat hervorgetretene gefährliche Gesinnung9, im Vordergrund, der gegenüber die Bedeutung des Unrechts verblasse. Im heutigen Strafrecht bieten sich derartige Deutungen für das Jugendstrafrecht mindestens teilweise an (vgl. §§ 2 Abs. 1 S. 1, 17 Abs. 2 1. Alt. JGG). Allerdings zeigt sich schon, dass nicht nur bei der Tat, die nur Anlass ist, ein Unrechtskern erforderlich ist, sondern dieser auch bei der Gefährlichkeitsprognose eine Rolle spielt (vgl. § 2 Abs. 1 S. 1 JGG: „ … vor allem erneuten Straftaten … entgegenwirken.“); im Zusammenhang mit dem Begriff des Unrechts als Maßregelvoraussetzung ist auf beide Aspekte zurückzukommen. Für das geltende Erwachsenenstrafrecht i.e.S. kommt ein symptomatischer Verbrechensbegriff nicht in Frage. Das Tatschuldstrafrecht ist mindestens im Grundsatz10 nicht nur in § 46 Abs. 1 S. 1 StGB festgeschrieben, sondern es ist auch in den allgemeinen Regeln der Strafvoraussetzungen einschließlich der zu den Konkurrenzen vorausgesetzt. Auch in der Strafrechtslehre herrscht im Grundsatz kein Streit, bei aller Uneinigkeit über die anthropologischen Grund___________ 6 Dass die nähere inhaltliche Beschreibung des verbotenen Verhaltens damit noch ebenso wenig geleistet ist wie die Beschreibung der Voraussetzungen individueller Zurechnung, ist hier nur anzumerken. 7 Vgl. Pawlik, FS Otto, 2007, S. 133 m. Angaben zu den an der Verbrechenskategorie eines schuldunabhängigen Unrechts zweifelnden Autoren in Fn. 2 zu S. 133 einerseits, Kuhlen in einer Rezension zum ebenfalls „unrechtskritischen“ Tonio Walter, Der Kern des Strafrechts, 2006, in: ZStW 120 (2008), 140, 148 ff. andererseits. 8 Mezger, GS Bd. 89 (1924), S. 207. 9 Tesar, Die symptomatische Bedeutung des verbrecherischen Verhaltens, 1907, S. 267 (vgl. auch S. 199 ff.); dazu Mezger (Fn. 8), S. 250 f. – Für die Lisztsche Schule ist es bezeichnend, dass – anders als manche radikale Vertreter der défense sociale – zur Freiheitssicherung auf der Anlasstat bestanden wird (vgl. Tesar, S. 268 ff.). 10 Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass manche Regelungen wie die Vermeidbarkeit in § 17 S. 1 StGB oder die Strafbarkeit unbewusster Fahrlässigkeit mit einem strikt tatstrafrechtlichen Muster nicht ausreichend erklärt werden können.

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lagen, aber auch kriminalpolitischen Zweckausrichtungen des Schuldbegriffs. Insbesondere bewegt sich die Diskussion über die selbstständige strafrechtstheoretische Bedeutung des Unrechtsbegriffs, sehe ich richtig, in diesem Rahmen. Vielmehr resultiert die theoretische Kontroverse aus einem unterschiedlichen Verständnis von dem „letzten“ Zweck des Strafrechts, wobei es zumindest um Akzentuierungen bei mehreren möglichen Zwecken geht. Sehr vereinfacht formuliert, verliert der Unrechtsbegriff seinen grundbegrifflichen Charakter, wenn unter Zurückstellung des Schutzes konkreter Rechtsgüter die Sicherung der Normen, vor allem aber der Rechtsordnung als solcher zentrale Aufgabe des Strafrechts wird; am deutlichsten ist das die Position der Jakobs-Schule (Jakobs, Lesch, Pawlik)11. Demgegenüber beharren auf einer selbstständigen strafrechtstheoretischen Rolle des Unrechts diejenigen, welche die zentrale Aufgabe des Strafrechts im Schutz konkreter Rechtsgüter sehen. Das ist die überwiegende Position12, die natürlich die Notwendigkeit einer Begrenzung der Strafbarkeit durch die individuelle Zurechenbarkeit, in einer Extremversion als Voraussicht oder Voraussehbarkeit der Strafsanktion zur Sicherung der Handlungsfreiheit13, ebenso wenig verkennt wie die Gegenposition die Notwendigkeit einer Materialisierung des Strafrechts durch den Bezug auf konkrete Rechtsgüter. Der Streit hat weit in die Vergangenheit der Dogmengeschichte reichende Wurzeln, wobei die Kontroversen um das sog. objektive oder schuldlose Unrecht zwischen 1867, dem Erscheinungsjahr von Merkels „Grundeintheilungen des Unrechts“ einerseits, Jherings „Schuldmoment im römischen Privatrecht“14 andererseits und Naglers „Zur Lehre von der Rechtswidrigkeit“ in der BindingFestschrift von 1911 auch nur einen Ausschnitt darstellen. Denn Merkels Begründung seiner Lehre vom Unrecht als Widerspruch zum Recht als geistiger

___________ 11

Nachweise dazu im Folgenden. – Dass die Annahme der Unselbstständigkeit des Unrechtsbegriffs sich aus ganz unterschiedlichen Quellen speisen kann, zeigt sich daran, dass bei der Jakobs-Schule die Inspiration durch Hegel leitend ist, während bei Koriaths Einebnung der Zurechungsvoraussetzungen der Formalismus Kelsens leitend ist (Koriath, Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung, 1994, S. 146 ff., 231 ff., 254 ff.; vgl. auch ders., Kausalität und objektive Zurechnung, 2007, S. 21 ff.). 12 Vgl. z.B. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, §§ 24, 25, 31, 39; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, §§ 7 E, 14 A, 19 A; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT, 5. Aufl. 2004, § 7; Schünemann, FS Roxin, 2001, S. 1, 9 f., 23 f., 26 ff. 13 Vgl. Loos, in: Loos/Jehle (Hrsg.), Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart, 2007, S. 155, 161 ff. Damit soll aus einer agnostischen Position auch der Streit um Determinismus/Indeterminismus (vgl. nur Schünemann (Fn. 12), S. 11 Fn. 41) vermieden werden. 14 Die prominente Rolle Jherings in der Kontroverse ist freilich nicht ganz verständlich, da – abgesehen von dem Terminus „objektives Unrecht“ – Jhering mit seinem Beispiel vom unrechtmäßigen Besitz des Erben gerade nicht das Verhaltensunrecht erfasst (Jhering, Das Schuldmoment, S. 5-8). Wohl ebenso Tonio Walter (Fn. 26), S. 81 f.

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Macht, als Objektivation des Gemeinwillens15 knüpft an das Hegelsche Verständnis von Recht und Unrecht an16, während die Gegenposition wenn nicht schon in Stübel, so doch in Luden mehr oder weniger deutlich Vorläufer hat17. Der Streit um das objektive Unrecht ist vielfach ausführlich aus unterschiedlichen Positionen dargestellt worden, u.a. von Mezger18, Lampe19, Koriath20 und zuletzt Pawlik21, so dass nicht nur aus Raumgründen auf eine breite Wiederaufnahme verzichtet wird. Allerdings wird in der abschließenden (II.) Stellungnahme auf Argumentationsfiguren dieser alten Diskussion wie das Adressatenproblem und die (angebliche) Unterschiedlichkeit zivilen und strafrechtlichen Unrechts, die sich als Wiedergänger in wenig veränderter Form erweisen, zurückzukommen sein. Darüber hinaus kann an Gedanken von Beling und Nagler, die m.E. in der gegenwärtigen Diskussion nicht in gebührendem Maße berücksichtigt sind, angeknüpft werden. Den Ausgangspunkt soll aber ein Blick auf das positive Strafgesetz bilden, wobei ich Kuhlen einerseits, Pawlik andererseits folge, welche die gesetzlichen Regelungen, in denen von Rechtswidrigkeit oder Unrecht gehandelt wird, auf ihre Bedeutung für eine selbstständige Relevanz des Unrechtsbegriffs untersuchen, freilich mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen (I.).

I. Anhaltspunkte für eine gesetzliche Auszeichnung des Unrechtsbegriffs finden sich in § 17 S. 1, in dem von der fehlenden Einsicht des Täters, mit seiner Tat Unrecht zu tun, die Rede ist, sowie in §§ 26/27 Abs. 1, 35 Abs. 1 S. 1, 63/64 Abs. 1 StGB, die sich auf rechtswidrige Taten beziehen, die nach § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB straftatbestandsmäßig sein müssen und damit auch Strafunrecht sind22, 23. ___________ 15 Merkel, Strafrechtliche Abhandlungen I, Zur Lehre von den Grundeintheilungen des Unrechts und seine Rechtsfolgen, 1867, S. 42 ff., 46, 49 (Unrecht als Geltungsverneinung). 16 Darauf weist Pawlik (Fn. 7), S. 144 zutreffend hin. 17 Vgl. die Bemerkungen in Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 22 I; zu Luden als Vorläufer des Liszt-Belingschen Verbrechensbegriffs Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 77 Fn. 3, S. 111 Fn. 2 und neuerdings S. Mattasch, Der Tatbestand des Verbrechens bei Heinrich Luden, 2005, S. 114 ff., 130 ff. 18 Mezger (Fn. 8), S. 208 ff. 19 Lampe, Das personale Unrecht, 1967, S. 13 ff., 15 ff. 20 Koriath (Fn. 11), S. 254 ff. 21 Pawlik (Fn. 7), S. 135 ff., 144 ff. mit einer Kritik an Mezger und positiver Aufnahme Merkels und Bindings. 22 Maiwald, Dogmatik und Gesetzgebung (Fn. 4), S. 125 f. geht ganz allgemein davon aus, dass die Trias Tatbestandsmäßigkeit-Rechtswidrigkeit-Schuld vom Strafge-

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1. Beginnen wir mit dem Maßregelrecht, bei dem es sich anbietet, den virtuellen Dialog zwischen Kuhlen und Pawlik (vgl. Fn. 7) fortzuspinnen. Zur Vereinfachung orientieren wir uns an der Maßregel gegen einen schuldunfähigen psychisch Kranken nach § 63 StGB, wo die Probleme spezifisch deutlich werden. Kuhlen24 bezieht sich auf die Sanktionierung tatbestandsmäßigrechtswidriger Taten durch Maßregeln als Argument gegen die These Tonio Walters, der bildhaft in Anknüpfung an Merkel25 den Unzurechnungsfähigen ebenso wenig Unrecht tun lassen will „wie Sonne und Regen“26. Pawlik27 verneint demgegenüber die strafrechtstheoretische Bedeutung des in § 63 StGB erfassten Unrechts, weil Maßregeln präventiven Charakter haben, Schutz gegen künftige Gefahren gewähren sollen, wobei die rechtswidrige Tat nur Anlass, nicht Grund der Sanktion ist. Dieser Charakterisierung Pawliks kann man zustimmen, wobei im Hinblick auf den präventiven Charakter noch hinzugefügt werden kann und muss, dass zur Anlasstat die Prognosetat hinzukommen muss. Aber auch dieser Erläuterung kann Kuhlen immer noch entgegensetzen, dass die Zweispurigkeit die Maßregeln in das Strafrecht hinein nimmt und der Schutz gegen künftige rechtswidrige Taten (i.S. des § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB), die von einer bestimmten Person drohen, in beträchtlicher Anzahl über das Maßregelrecht und damit an die Anlasstat anknüpfend erfolgt28. Diese Auseinandersetzung ist offensichtlich nicht zu schlichten, da es auf eine den Umfang des Strafrechts festlegende Definition ankommt, die wiederum von der Bestimmung der Funktion des Strafrechts, Rechtsgüterschutz versus Normstabilisierung29, abhängt. ___________ setzbuch als grundlegende Systemkategorien rezipiert worden sind und listet im Einzelnen einschlägige Vorschriften auf. Notwehr einschließlich Nothilfe bleiben hier ausgeklammert (anders aber Kuhlen (Fn. 7) S. 149 und Pawlik (Fn. 7) S. 148 f.), weil strafrechtliches Unrecht hier nur möglicher Grund der Rechtfertigung ist. 23 Im Besonderen Teil beziehen sich auch noch die Bestimmungen über auxilia post factum (§§ 257, 259, 261 StGB) auf rechtswidrige Vortaten; eine Sonderrolle spielt § 258 Abs. 1 mit der Differenzierung zwischen Straf- und Maßregelvereitelung. Ich beschränke mich hier auf die Regelungen des Allgemeinen Teils; die Behandlung der auxilia post factum müsste im Anschluss an die Teilnahmebeurteilung behandelt werden (vgl. auch BGHSt 1, 47, 49 f.; 4, 76, 78 zur limitierten Akzessorietät und zum Vorsatzerfordernis vor BGHSt 9, 370). 24 Kuhlen (Fn. 7), S. 148 f. 25 Merkel (Fn. 15), S. 42 ff., 43 f. 26 Tonio Walter, Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 116. 27 Pawlik (Fn. 7), S. 149 f. 28 Sowohl zum zahlenmäßigen Verhältnis als auch zur rechtspolitischen Wünschbarkeit der Alternativen nach § 63 StGB einerseits, der Unterbringung nach landesrechtlichem Unterbringungsrecht andererseits LK-StGB/Schöch, 12. Aufl. 2008, § 63 Rn. 158 ff. 29 Siehe bei Fn. 11/12. Vgl. zur ordnungspolitischen Funktion des Strafrechts neuerdings Zabel, ZStW 120 (2008), 68, 98 ff., 103 ff.

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Pawlik30 führt aber noch einen weiteren Grund für die Ausklammerung der rechtswidrigen Tat nach § 63 aus der strafrechtlichen Grundbegrifflichkeit an, den anderen sachlichen Inhalt des Unrechts als Strafvoraussetzung einerseits, als Maßregelvoraussetzung andererseits an, nämlich den Verzicht auf subjektive Tatbestandsmerkmale bei krankheitsbedingten Irrtümern für § 63 StGB. Nach der heute herrschenden von Welzels finaler Handlungslehre inspirierten personalen Unrechtslehre sind aber Vorsatz und sonstige subjektive Tatbestandsmerkmale Elemente des Unrechts, so dass der die Maßregelsanktion auslösende Begriff der rechtswidrigen Tat ein anderer wäre als der Begriff des Unrechts, auf das sich die Schuld als Voraussetzung der Strafsanktion bezieht. Die Behandlung der krankheitsbedingten Irrtümer ist bekanntlich nicht unumstritten. Immerhin ist die von Pawlik befürwortete Position die des Bundesgerichtshofs31, der die Schutzfunktion der Maßregel des § 63 StGB auch auf die aus krankheitsbedingten Irrtümern resultierenden Gefahren erstrecken will; demgegenüber wird aber eingewandt, dass dadurch die Grenzen des auch subjektiv bestimmten Tatbestands aufgelöst würden32. Die schwierige Frage kann hier nicht nebenher entschieden werden, zumal auch die in der Praxis nicht leichten Beweisprobleme, ob ein Irrtum krankheitsbedingt gewesen ist, bedacht werden müssen. Nur angemerkt sei, dass bei der Prognosetat die Konstruktion eines Unrechts trotz Fehlens subjektiver Tatbestandsmerkmale aufgrund krankheitsbedingter Irrtümer in noch viel größere Feststellungsschwierigkeiten führen müsste. Wenn man Anlasstat und Prognosetat nicht begrifflich unterschiedlich fassen will33, spricht aus praktischen Erwägungen einiges gegen die Auffassung des BGH. Da die zuletzt erörterte Problematik zu keinem eindeutigen Ergebnis führt, vielmehr eher ein Beurteilungsspielraum – Komplettierung des Anwendungsspielraums der Maßregelsanktion des StGB und damit Zurückdrängung des weniger förmlichen landesrechtlichen Unterbringungsrechts34 versus striktere Konturierung der strafrechtlichen Tatbestände35 – aufgrund hier offen bleibender Erwägungen geschlossen werden muss, führt § 63 StGB letztlich nicht aus der eingangs beschriebenen Abhängigkeit von Ausgangsdefinitionen heraus. ___________ 30

Pawlik (Fn. 7), S. 150. BGHSt 3, 287, 289; 10, 355, 357 f. Zustimmend zuletzt LK-StGB/Schöch, 12. Aufl. 2008, § 63 Rn. 44 ff. m. Nachw. 32 SK-StGB/Horn, § 63 Rn. 4: Wer irrig annehme, die weggenommene Sache sei ihm geschenkt worden, begehe keinen Diebstahl, auch wenn der Irrtum krankheitsbedingt sei. Ähnlich Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 77 II 2a. 33 Für einheitliche Anforderungen nicht nur SK-StGB/Horn, § 63 Rn. 11, sondern auch LK-StGB/Schöch, 12. Aufl. 2008, § 63 Rn. 77. 34 Vgl. Fn. 28. 35 Dass die Argumente auf ganz unterschiedlichen begrifflichen Ebenen angesiedelt sind, wird natürlich nicht übersehen. 31

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2. Das stärkste gesetzliche Argument für die selbstständige strafrechtstheoretische Bedeutung des Unrechtsbegriffs bietet § 17 StGB, wonach die Sanktionierung durch Strafe im Rahmen der Schuld aktuelle oder potentielle Unrechtskenntnis voraussetzt. In Auseinandersetzung mit Lampe, der in Anknüpfung an die Diskussion aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den Begriff des Unrechts an die Motivationsfähigkeit binden wollte36, hat Armin Kaufmann37 klarzustellen versucht, dass eine Schuldkonzeption, die mindestens potentielle Unrechtskenntnis verlangt, nicht nur Unrecht als unabhängig vom Erkenntnisvorgang des Täters voraussetzt, sondern auch gegenüber der Motivationsfähigkeit unabhängig ist38. Dass § 17 StGB die Kategorie eines schuldunabhängigen Unrechts voraussetzt, wird von den Leugnern eines straftheoretischen Begriffs des Unrechts regelmäßig auch gar nicht in Zweifel gezogen39: Die Vorstellung, die der Täter von seinen Pflichten hat, kann den Inhalt dieser Pflichten nicht bestimmen. Damit wird der Streit ähnlich ins Definitorische verschoben wie schon der zu § 63 StGB. Geht es im (eigentlichen) Strafrecht nur um die Korrektur des Sinnausdrucks der Infragestellung der Norm als solcher, um den Verstoß gegen die „hinter der Verhaltensnorm [stehende] weitere: Habe keine Schuld“40, bleibt ein aus logischen Gründen nicht zu leugnender Begriff des Unrechts nur ein strafrechtlicher Hilfsbegriff41 (z.B. im Rahmen des § 17 StGB). Die Frage, ob das eine für das Strafrecht glückliche Begriffsbildung ist, wird unter II 2 dann aufgegriffen werden. Pawlik will, wenn ich ihn richtig verstehe, die Aussagekraft von § 17 StGB aber schon vor der definitorischen Problematik entschärfen, indem er auf die Möglichkeit hinweist, in die Konkretisierung der Verhaltensnorm als Gegenstand des Unrechtsbewusstseins über die unrechtskonstitutiven Elemente hinaus ___________ 36

Lampe, Das personale Unrecht, 1967, S. 103 f. Armin Kaufmann, FS Welzel, 1974, S. 393, 396 Fn. 4. 38 Der denkbaren Differenzierung zwischen der (generellen) Motivationsfähigkeit und der schuldinhaltlichen Bestimmung (mindestens potentielle Unrechtskenntnis) hält Armin Kaufmann entgegen, dass Schuld bei einer Regelung wie § 17 erfordere, dass der Täter sich von der erkannten (und nicht befolgten) Rechtspflicht hätte motivieren lassen können. Also ist Unrecht danach nicht nur von der inhaltlichen Zurechenbarkeit, sondern auch von der Zurechnungsfähigkeit unabhängig zu bestimmen. 39 Pawlik (Fn. 7), S. 150 f.; vgl. auch Jakobs, Der strafrechtliche Handlungsbegriff, 1992, S. 42 f. Jakobs und Pawlik argumentieren insoweit nicht anders als Armin Kaufmann. 40 Jakobs (Fn. 39), S. 43 f. 41 Jakobs, ZStW 107 (1995), 843, 864; vgl. ders., in: Christoph Engel und Wolfgang Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 103, 129. – Nicht einmal als Hilfsbegriff will Lesch, Der Verbrechensbegriff, 1999, S. 220, den Unrechtsbegriff gelten lassen, die angenommene dialektische Verschlingung mit der Zurechnungsfähigkeit kommt aber auch nicht ohne einen objektiven Unrechtsbegriff aus (Lesch, S. 220 f.). 37

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auch die einen Entschuldigungsgrund konstituierenden Elemente einzubeziehen42 und dann einen Irrtum über die rechtlichen Grenzen eines Entschuldigungsgrundes analog der Regelung in § 17 StGB zu behandeln. Der Versuch scheitert aber nicht nur positivrechtlich an § 35 Abs. 2 StGB43, sondern sachlich, wie Pawlik selbst hervorhebt, auch deswegen, weil der Irrtum über die Grenzen des (generell) Verbotenen und Nicht-Verbotenen eine andere Dignität hat als eine Verschiebung der (z.B. auf Unzumutbarkeit) abstellenden Nachsichtregelungen bei vorwerfbarer Unrechtsverwirklichung. Pawlik erkennt das auch an, wenn er die Verneinung einer individuellen Deutungskompetenz der Unzumutbarkeit einer Theorie der Entschuldigungsgründe als Gegenstand zuschiebt, womit aber der Unterschied zwischen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen44 eingeräumt ist. Damit ist die verbrechenstheoretische Irrelevanz des Unrechtsbegriffs wieder (nur) durch die Normgeltungsfunktion abgestützt45. 3. Die letzte gesetzliche Anknüpfung an die rechtswidrige Tat, die in §§ 26 f. StGB, soll hier nur andeutungsweise angesprochen werden46. Offenbar hängt in unserem Zusammenhang die Beantwortung der Frage, ob Anknüpfungspunkt für die Teilnahme schuldloses Unrecht sein kann, davon ab, ob Rechtsgüterschutz oder Geltungsstabilisierung Aufgabe des Strafrechts ist47, so dass Überlegungen zur richtigen Ausgestaltung der Akzessorietät nachrangig sind48. Nur angemerkt sei, dass die Gründung der Teilnahmestrafbarkeit auf die strenge Akzessorietät mir nur de lege ferenda vertretbar erscheint49, sowohl nach der Entstehungsgeschichte als auch nach der Wortverwendung im Strafgesetzbuch erscheint mir die limitierte Akzessorietät gesetzlich festgeschrieben50. Im Übrigen wirkt sich hier bei der Teilnahmestrafbarkeit der behandelte theoretische Streit (m.E. de lege ferenda) unmittelbar in praktischen Ergebnissen aus51. ___________ 42

Pawlik (Fn. 7), S. 150 f. Vgl. Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 22 Rn. 65. 44 Die grundsätzliche Differenz zwischen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen ist für Kuhlen (Fn. 7), S. 149 ein Argument für die selbstständige Bedeutung des Unrechtsbegriffs; darauf ist bei und in Fn. 68 zurückzukommen. 45 So auch Pawlik (Fn. 7), S. 149. 46 Ich will hier auch einer Untersuchung meines Doktoranden Andreas Poppe zur Dogmenhistorie der limitierten Akzessorietät nicht vorgreifen. 47 Auch die Annehmbarkeit oder Unannehmbarkeit von Strafbarkeitslücken hängt von der Bestimmung des Endzwecks von Strafrecht ab (siehe dazu die Argumentation von Tonio Walter (Fn. 26), S. 208 f.). 48 Insoweit stimme ich Pawlik (Fn. 7), S. 151 f. (m. Nachw.) zu. 49 Anders Pawlik (Fn. 7), S. 152 Fn. 126 m. Nachw. 50 Vgl. BGHSt 1, 368, 369 f.; 9, 370, 375 f. 51 Vgl. auch Fn. 47 zu Tonio Walter. 43

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II. Abschließend sollen zwei verschiedene Gesichtspunkte zu Aufgabe und Sinn eines eigenständigen strafrechtlichen Unrechtsbegriffs erörtert werden. Der erste betrifft die didaktische Funktion einer sachlich verstandenen Trennung von Unrecht und Schuld, die aber eine kriminalpolitische Pointe aufweist. Zuletzt sollen einige Gründe behandelt werden, die für einen dogmatischen Grundbegriff des Unrechts sprechen. 1. Einer der am nachdrücklichsten für die Unteilbarkeit von Unrecht und Schuld eingetretenen Autoren, Tonio Walter, hat sich selbst den Einwand gemacht, diese ganzheitliche Position stelle eine Parallele zur Pflichtwidrigkeitslehre Schaffsteins dar52. In etwas anderer Terminologie wäre damit der Streit um Nutzen und Nachteil des Trennungsdenkens wieder aufgelebt, der unter deutlich kriminalpolitischen Akzenten in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts, mit einem Hinweis auf diesen Streit in den 60er Jahren noch einmal um den einheitlichen Unrechtsbegriff (gegen die Aufspaltung in Tatbestand und Rechtswidrigkeit) geführt worden ist53. Offenbar gibt es in der Dogmengeschichte immer wieder sich abwechselnde Tendenzen zu ganzheitlichen Auffassungen des Verbrechens einerseits, zu analytische Teilmomente betonenden Auffassungen andererseits54. Das Trennungsdenken nimmt für sich in Anspruch, durch begriffliche Aufgliederung die Klarheit und Durchsichtigkeit juristischer Argumentation zu fördern und damit zu einer willkürfreien Rechtsanwendung beizutragen55, ohne dass damit die Produktion von rechtspolitisch wünschenswerten praktischen Ergebnissen schon garantiert ist56. Jakobs und seine Schüler unterlaufen aber diesen Einwand, indem sie ihrerseits den didaktischen Wert der Differenzierung zwischen Unrecht und Schuld, insbesondere ___________ 52

Tonio Walter (Fn. 26), S. 85 f. Es war Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 9. Aufl. 1965, S. 47 ff., 49 f., der in polemischer Überspitzung gegen Roxins Dissertation die Parallele zum Streit der 30er Jahre gezogen hatte (a.a.O. S. 49 Nachweise). 54 Vgl. dazu auch F.C. Schröder, FS Roxin, 2001, S. 33 ff. zu den neueren Bestrebungen, unterschiedliche Voraussetzungselemente im Tatbestandsbegriff zusammenzufassen (kritisch dazu a.a.O. S. 41 ff.), offenbar ein Gegenstück zur Aufladung des Schuldbegriffs. In Anknüpfung an den strafrechtlichen Hegelianismus des 19. Jahrhunderts hat Jakobs (Fn. 39), S. 41 ff. sämtliche Strafvoraussetzungen im Begriff der (zurechenbaren) Handlung zusammengefasst. Dass eine solche Begriffsbildung systematische Kraft haben kann (vgl. a.a.O. S. 12 f.: „Ein strafrechtlicher Handlungsbegriff muß … Gesellschaft und Strafe auf den Begriff bringen“), soll nicht bezweifelt werden. 55 Vgl. zu diesen Aufgaben der Dogmatik Maiwald, Dogmatik und Gesetzgebung (Fn. 4), S. 121, 124. 56 Wenn Tonio Walter (Fn. 26), S. 85 f. darauf hinweist, die gute rechtliche Gesinnung eines Autors zeige sich an den (politisch) wünschbaren Ergebnissen der Lösung seiner Beispiele, nicht so sehr an den zugrunde gelegten begrifflichen Strukturen, hat er ebenso Recht wie er das Thema der Kontrollierbarkeit der Rechtsgewinnung verfehlt. 53

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für die Fallbearbeitung konzedieren57. Dieser didaktische Wert sollte nicht gering geschätzt werden. Klarheit und Durchsichtigkeit juristischer Argumentationen, die eine Kontrollierbarkeit der Ergebnisse ermöglichen, sind wesentliche Voraussetzungen rechtsstaatlicher Rechtsanwendung. Die juristische als eine der drei alten Fakultäten hat nicht zuletzt durch die entsprechende didaktische Aufbereitung für die ihr anvertraute Praxis der Rechtsanwendung zu sorgen58. 2. a) Die Frage nach der Aufgabe des Strafrechts hat eine praktische und eine theoretische Dimension. Für die Gesetzgebungspraxis ist die Aufgabe des Strafrechts, Rechtsgüter zu schützen, kaum zweifelhaft, beispielhaft sei hier nur auf die immer neuen Aktivitäten zum Schutz von Kindern vor Aggressionen, insbesondere sexuellen verwiesen. Dass es Pflichten zum Einsatz des Strafrechts wegen des Grundrechtsschutzes gibt, ist der Kern des ersten Abtreibungsurteils59. Aber auch bei theoretisch-beschreibender Betrachtung60 kann man nicht verkennen, dass nicht nur Zivil- und Polizeirecht, sondern auch das Strafrecht im engsten Sinne61 dem Schutz von Rechten und Rechtsgütern dient. In einer von Grundrechten geprägten Verfassungsordnung kann keine Rechts___________ 57 Jakobs, ZStW 107 (1995), 843, 864; vgl. ders., in: Das Proprium (Fn. 41), S. 163, 122 f. (s. dazu auch den Aufbau des Lehrbuchs – Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991 – von Jakobs mit den Abschnitten 6-8, 11, gegenüber 17); zustimmend Pawlik (Fn. 7), S. 136. Mit dem zugestandenen didaktischen Wert der Unrechtsstufe soll natürlich gerade die strafrechtstheoretische Relevanz nicht akzeptiert werden, aber recht verstandene Didaktik baut auf sachlichen Anhaltspunkten auf, so dass, sehe ich richtig, noch ein Unterschied zu Koriaths Bemerkung, die Aufbaustufen stellten eine „Checkliste“ dar (Grundlagen [Fn. 11], S. 256), besteht. Wenn Lesch, Der Verbrechensbegriff, 1999, S. 224 f. den ökonomischen Wert des Regelaufbaus für bestimmte Fälle (mit Recht) bezweifelt, dürfte das nur für denjenigen Fallbearbeiter gelten, der aufgrund seines mindestens didaktischen Wertes den „Normalaufbau“ beherrscht. 58 Vgl. Jakobs (Fn. 41), S. 134 f. zur zwar fehlenden Wissenschaftlichkeit des Kommentars von Frank, aber der Erfüllung der praktischen Aufgabe einer der alten Fakultäten. 59 BVerfGE 39, 1, 36 ff. Daran ändert auch nichts die Erwägung des Gerichts, dass die Rechtswidrigkeit der Abtreibung klarzustellen geboten sei und es nicht darauf ankomme, ob statistisch durch sozialpolitische Maßnahmen bei Verzicht auf die Strafbarkeit bessere Erfolge zu erzielen sein könnten (a.a.O. S. 52 ff.). Die Grundrechtsargumentation zeigt, dass die Strafbewehrung auf den Lebensschutz ausgerichtet ist (insoweit auch nicht anders das die Strafpflicht ablehnende Sondervotum BVerfGE 39, 68, 73 ff.). 60 In der Tendenz sind die folgenden Überlegungen ähnlich denen von Schünemann (Fn. 12), S. 9 ff., 23 f., 26 ff. Während aber Schünemann stärker die kriminalpolitische Dimension der Sozialschädlichkeit bzw. des Rechtsgutsbegriffs herausstellt (S. 26 ff.), geht es mir (auch) darum, dass der Unrechtsbegriff seine strafrechtstheoretische Bedeutung nicht verliert, wenn man seine dogmatische Funktion als Strafvoraussetzung im Blick hat und insoweit ein Stück weit mit Jakobs mitgeht. 61 Damit soll auch eine Auffassung, die die Maßregelspur dem Polizeirecht außerhalb des Strafrechts zuschlägt (Jakobs, ZStW 107 [1995], 865; Pawlik [Fn. 7], S. 149 m. Fn. 113) erfasst werden.

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materie anders finalisiert sein62. Auch die Abwägung, ob statt einer Strafsanktion eine zivilrechtliche ausreichen könnte, wird in der Formulierung mindestens schwieriger, wenn man zivilrechtliche und strafrechtliche Unrechtsbestimmung nicht unter der Schutzaufgabe vergleichbar sieht63. Aber auch wenn man die Aufgabe des Strafrechts, Rechtsgüter zu schützen, als primäre Aufgabe außer Acht ließe und nur die Normbestätigung in Betracht zöge, darf die selbstständige Bedeutung des Unrechts nicht vernachlässigt werden. Die Treue zu Normen ist die Achtung für die durch die Normen gesicherten Schutzgegenstände, Normtreue ohne eine solche Orientierung am Normzweck verkommt zur bloßen Missachtung des staatlichen Rechts auf Botmäßigkeit64, zu einem inhaltlosen „Widerspruch gegen den Allgemeinwillen“ oder dem ebenso inhaltlosen „Angriff auf das Sollen selbst“65. Es ist dann auch nur konsequent, dass nicht mehr die aus den gesetzlichen Tatbeständen ableitbare einzelne Verhaltensnorm, sondern die Rechtsordnung insgesamt zur Achtung verlangenden Instanz wird. Das Pendant zum gerade kritisierten Fehlen des Orientierungspunktes der Normtreue ist die Ausschaltung der Unrechtsfunktion als Orientierungspunkt des verbotenen Verhaltens. Genauer ist hier zunächst die Orientierung durch den Tatbestand, in dem das verbotene Verhalten beschrieben ist, anzusprechen. Ehe die Jakobssche Norm „Habe keine Schuld“66 für den Rechtsunterworfenen/Bürger relevant werden kann, muss geklärt sein, durch welches falsche Verhalten er zugleich gegen diese Norm verstoßen und also schuldig werden kann. Dem entspricht die potentielle Informiertheit über das bei Strafe verbotene Verhalten, die Art. 103 Abs. 2 GG garantiert67. Für die gesellschaftliche Ordnung ist die inhaltliche Bestimmung der Grenzen zwischen unverbotenen und verbotenen Verhaltensweisen und – was das Strafrecht angeht – strafsanktionsfreiem und strafbewehrtem Verhalten ebenso fundamental wie die allge___________ 62 Daran ändert auch eine dualistische Rechtsgüterkonzeption zum Zwecke der Bildung von zu unterschiedlichen rechtlichen Konsequenzen führenden Deliktstypen nichts (vgl. Loos, FS Welzel, 1974, S. 879, 887 f. m. Fn. 42). 63 So schon besonders prägnant v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 18. Aufl. 1911, S. 121 Fn. 3, 194 f.; vgl. aber auch schon Merkel (Fn. 15), S. 32 ff. 64 Pawlik (Fn. 7), S. 147 bezieht sich auf die 2. Aufl. (1890) von Bindings Normen I, S. 243 ff., 298, der die Position des Erfordernisses der Schuld als Element des Unrechts mit der materialen Entleerung verbindet (vgl. auch Binding a.a.O. S. 99 ff. und Pawlik a.a.O. S. 143). 65 Das ist nicht nur wegen des obrigkeitsstaatlichen Ruchs dieser Formulierungen bedenklich (nur so aber Pawlik [Fn. 7], S. 147), sondern auch wegen der Entleerung des materialen Gehalts der Norm. Vgl. dazu den Text. 66 Jakobs (Fn. 39), S. 43 f. 67 Zum Verhältnis von Art. 103 Abs. 2 GG und handlungsfreiheitssicherndem Schuldprinzip vgl. Loos, in: Immenga (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung, 1980, S. 267 f.

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meine Bereitschaft, jeweilige staatlich auferlegte Pflichten als Person zu erfüllen. Für die Bestimmung des Begriffs des Verbrechens ist daher die im Unrechtsbegriff geleistete Festlegung des generell falschen Verhaltens ebenso fundamental wie die individuelle Missachtung der strafbewehrten Norm durch schuldhaft/zurechenbares Verhalten68. Gegenüber diesem Erfordernis der Festlegung der inhaltlichen Ordnung, welche das Strafrecht schützt, ist das von Merkel bis Tonio Walter immer wieder durchdeklinierte Adressatenproblem zweitrangig. Denn auch wenn man eine entsprechend zugespitzte Bestimmungsnorm nur an Zurechnungsfähige69 adressiert konzipieren könnte, bliebe die Notwendigkeit einer selbstständigen Beschreibung des generell Verbotenen als Aufgabe der Strafrechtsordnung unberührt. b) Die vorstehenden Überlegungen sind selbstverständlich alles andere als neu. Sie finden sich – keineswegs nur, aber in besonderer Klarheit und Eindringlichkeit – im Lehrbuch von Welzel, wobei diese Quelle in jüngerer Zeit durch den relativ späten Aufsatz aus dem Jahre 196670 verdeckt worden ist. Die Fundstelle ist § 10 I-III (Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit des strafrechtlichen Unrechts; Norm, Tatbestand und Rechtswidrigkeit; Die Rechtswidrigkeit als negatives Werturteil, Rechtswidrigkeit und Unrecht; Zur Dogmengeschichte des Tatbestandsbegriffs)71. Dabei wird der Bezug der Schuld auf das Unrecht72 (Schuld als persönliche Verantwortung für die rechtswidrige Tat), der Tatbestand als Verbotsmaterie der strafrechtlichen Bestimmungen sowie – da___________ 68 Wenn das strafrechtliche Unrecht (als Mitauslöser der Strafsanktion) die Grenze zwischen richtigem und falschem Verhalten bestimmt und sich daraus die Eigenschaft des Unrechtsbegriffs, ein strafrechtlicher Grundbegriff zu sein, herleitet, muss auch ein grundbegrifflicher Unterschied zwischen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen anerkannt werden (anders unter dem Aspekt des in beiden Fällen fehlenden Geltungsangriffs Pawlik [Fn. 7], S. 149). Insoweit wird auch das Notwehr- und insbesondere Nothilfeargument aufschlussreich und zeigt § 35 I 2 StGB, dass die Grenze zwischen falschem und richtigem Verhalten wieder sanktionsrelevant wird, wenn durch Sonderverpflichtungen die außergewöhnliche Belastung überspielt wird. Zur Bedeutung der Unterscheidung immer noch Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, 4. Aufl. 1956, S. 57 ff. 69 Oder die die gesamten (subjektiven) Zurechenbarkeitsvoraussetzungen Erfüllenden; das Schwanken zwischen diesen beiden Versionen ist in unserem Zusammenhang unerheblich. 70 Vgl. Fn. 1. Auf den Aufsatz beziehen sich Frisch (Fn. 2), S. 165 f. m. Fn. 19. und vor allem Pawlik (Fn. 7), S. 133 schon im Titel. 71 Der einschlägige Text ist von der 6. (1958) bis zur 11. Auflage (1969) praktisch unverändert geblieben; in der 9. Auflage ist § 10 pr. die Passage über die Unterscheidung von Unrecht und Schuld mit dem zustimmenden Hinweis auf Naglers Beitrag für die FS Binding (dazu alsbald im Text) hinzugefügt worden, ein Jahr (1965) vor der Publikation des JuS-Aufsatzes. Ich zitiere nach dieser 9. Auflage (Fn. 53). 72 Welzel (Fn. 53), S. 42 f.

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mit zusammenhängend – die Orientierungsfunktion für Bürger und Richter samt ihrer verfassungsrechtlichen Absicherung durch den Grundsatz gesetzlicher Bestimmtheit dargelegt73. Dogmenhistorisch wird das Verdienst Belings als Schöpfer des Tatbestandsbegriffs74 und Naglers als desjenigen, der die Unterscheidung von Unrecht und Schuld als Bildung allgemein gültiger Grundbegriffe der Strafrechtswissenschaft formuliert hatte, herausgestellt75. Die folgenden knappen Hinweise auf Beling und Nagler beabsichtigen natürlich nicht eine auch nur einigermaßen angemessene Würdigung, sondern wollen nur auf zwei wichtige Quellen eines systematisch eigenständigen Unrechtsbegriffs verweisen. Beling hat mit der Schöpfung des Tatbestandsbegriffs als eines aus den einzelnen Typen des Besonderen Teils abstrahierten Begriffs des Allgemeinen Teils76, der die farblose Formulierung der „mit Strafe bedrohten Handlung“ ersetzt77, die im Vorstehenden ausgesprochene Thematik des Inhalts, des Materiellen der Strafrechtsordnung verdeutlichen wollen. Zur Normentheorie Bindings, die zutreffend das Wesen des Verbrechens als formalen Ungehorsam gegen die Norm als staatliche Willensäußerung beschrieben habe78, soll die Tatbestandslehre das Materielle des Verbrechens, die „Körperhaftigkeit sozusagen“ herausarbeiten79. Auf diese inhaltliche Seite der Strafrechtsordnung als Beschreibung des verbotenen Verhaltens bezieht sich der nulla poena sine lege-Grundsatz, so dass Beling für die Tatbestandslehre in Anspruch nimmt, den im § 2 StGB (a.F.) vorrangig enthaltenen Bestimmtheitsgrundsatz sinnvoll umzusetzen und damit § 2 StGB (a.F.) erst richtig auszuschöpfen80. So

___________ 73

Welzel (Fn. 53), S. 43 f. Welzel (Fn. 53), S. 43, 47 ff. 75 Welzel (Fn. 53), S. 43 f. 76 Beling, Die Lehre vom Tatbestand, 1906, S. 3, 24 ff. 77 Beling (Fn. 76), S. 27 f. mit Bezug auf die Formulierungen im Lisztschen Lehrbuch (vgl. dort 18. Aufl. 1911, S. 120 f. Fn. 4, wo die Übereinstimmung in der Sache, aber auch die bedeutsame Klärung durch Beling herausgestellt wird). Vgl. Beling (Fn. 76), S. VI f., er sei nur „Wortführer für Auffassungen, die längst in der Luft schweben“. 78 Ob die Normentheorie – unabhängig von Bindings Position und der Frage ihrer richtigen Beschreibung – auch material ausgeformt werden kann, wird hier nicht erörtert. Vgl. Welzels (Fn. 53), S. 43-45, Benutzung der aus dem scholastischen Naturrecht entlehnten Termini Verbotsmaterie/Normmaterie. 79 Beling (Fn. 76), S. VI. A.a.O. betont Beling, dass die Tatbestandlichkeit nur neben die Normwidrigkeit treten könne; vgl. S. 127 f.: Der Begriff der Norm führt zum in den Rechtssätzen lebenden staatlichen Willen, der Geist des Verbrechens (unter Einschluß der Schuld) ist Widerspruch gegen den staatlichen normativen Willen, Ungehorsam gegen die Rechtsordnung als Ganze. v. Liszt (Fn. 63), S. 74 Fn. 2 meint dagegen, dass Beling in der Sache die formalistische Normentheorie preisgegeben habe. 80 Beling (Fn. 76), S. VI, 21 ff. 74

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definiert dann Beling den Tatbestand als „Umriss des Verbrechenstypus“, ohne den es kein Verbrechen gibt81. Naglers umfangreicher Rechtswidrigkeitsaufsatz in der Binding-Festschrift82 enthält zwei für die heutige Diskussion zur Bedeutung des Unrechtsbegriffs immer noch wichtige Aussagen, nämlich die über die Leitungsfunktion des Rechts einerseits, die über die logische Vorrangigkeit des Unrechtsbegriffs vor dem Schuldbegriff andererseits. Mit der Heraushebung der Leitungsfunktion des Rechts83 knüpft Nagler sachlich an Beling an, indem er die inhaltliche Seite der Rechtsordnung anspricht, die Aufklärung und Wissen der Rechtsgenossen über richtiges und falsches Verhalten84 als Voraussetzung der realen Macht, ihren Willen zu bestimmen, erfordert. Manche Formulierungen Naglers klingen wie eine Vorwegnahme der Annahme Mezgers, das Unrechtsurteil sei eine Konsequenz nicht einer Bestimmungsnorm, sondern einer Bewertungsnorm85, wenn das Unrechtsurteil als Missbilligung bezeichnet wird und als deren Gegenstand nicht nur menschliches Verhalten, sondern auch Zustände86. Die zentrale Aussage aber, dass Recht „zugleich“87 Belehrung, Leitung, Ordnung, Wissen sein muss, damit es bestimmend, imperativisch wirken könne, zeigt, dass auch die Beschreibung des Verstoßes gegen die Bestimmungsnorm, gegen den Imperativ ohne die inhaltliche Ausfüllung leer bleiben muss. Auch hier bedeutet das Unrechtsurteil die inhaltliche Kennzeichnung des normwidrigen Verhaltens. Wenn Nagler die begriffliche Absonderung der objektiven Widerrechtlichkeit, wir können heute umformulieren: des generellen Unrechts88 von der subjektiven oder besser individuellen Schuld für eine notwendige Denkmethode der Strafrechtswissenschaft erklärt89, ist das eine (generalisierte) Vorwegnahme der oben (unter I) zu § 17 StGB wiedergegebenen Erwägungen. Insoweit wird hier der formale Charakter der Relation Unrecht-Schuld90 behauptet. Das gälte übrigens auch für einen symptomatischen Verbrechensbegriff oder die Auffas___________ 81

Beling (Fn. 76), S. 110. Nagler, Der heutige Stand der Lehre von der Rechtswidrigkeit, FS Binding II, 1911, S. 273. 83 Nagler (Fn. 82), S. 314 f. 84 Dass die entsprechenden Regeln aufruhen auf der rechtlichen Ordnung insgesamt, insbesondere der Güterverteilung, braucht kaum angemerkt werden. 85 Mezger (Fn. 8), S. 241 ff., 245 ff., 247 f. (Perspektive des Unrechtleidenden). 86 Nagler (Fn. 82), S. 315 f., 317 f. 87 Nagler (Fn. 82), S. 314. 88 Vgl. Welzel (Fn. 53), S. 46. 89 Nagler (Fn. 82), 339 f. Zustimmend M.E. Mayer, Der allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 1. Aufl. 1915, S. 11 m. Fn. 14. 90 Vgl. oben im Text bei Fn. 6. 82

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sung von Jakobs, die von verschiedenen Ausgangspunkten her die inhaltliche Bedeutung des Unrechtsbegriffs abwerten. Dem ist hier mit Beling, Nagler und Welzel die zentrale materielle Bedeutung des Unrechtsbegriffs entgegengehalten worden. c) Diese materielle Bedeutung des Unrechtsbegriffs ist freilich am Belingschen Tatbestandsbegriff festgemacht worden. Damit ist der Unrechtsbegriff mindestens in zweierlei Hinsicht unterbestimmt91. Die „Wertfreiheit“ des Belingschen Tatbestandsbegriffs war im Grunde schon überwunden, wenn man die Tatbestandserfüllung mit Liszt als Rechtsgutsverletzung inhaltlich deutete92, die das Rechtswidrigkeitsurteil trägt, es sei denn, wegen Rechtsgüterkollisionen greift ein Erlaubnissatz ein93. Daraus resultieren freilich die damit verbundenen Unsicherheiten des dogmatischen (mit Hassemer: immanenten) Rechtsgutsbegriffs, der im Bereich des Institutionenschutzes als Sicherung von Geltungsansprüchen verstanden werden kann94. Dieser sekundäre oder tertiäre Schutzzweck ändert aber nichts daran, dass die gesetzlichen Tatbestände Normen äußeren Verhaltens begründen oder diese ihnen voraus liegen. Schließlich ist der Unrechtsbegriff, der hier verwendet wird, in der Weise unterbestimmt, wie es die oben vorgenommene Austauschung von objektiv/generell und subjektiv/individuell angezeigt hat. Seine Rolle als strafrechtlicher Grundbegriff kann er spielen, gleichgültig, ob objektiv-außenweltlich oder personal definiert, solange er die inhaltliche Bestimmung des strafsanktionierten Verhaltens leistet; ohne ihn wird die Strafrechtstheorie ärmer.

___________ 91

Die moderne Lehre von der objektiven Zurechnung bleibt ganz ausgeklammert. v. Liszt (Fn. 63), S. 143 f., freilich terminologisch anders; dazu Frisch (Fn. 2), S. 166. 93 Vgl. Schmidhäuser, Strafrecht AT, 1970, S. 225 ff.; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 12), § 7 Rn. 17 ff. 94 Loos (Fn. 62), S. 887 ff. mit Verweisen auf Tiedemann, S. 892 Fn. 57. 92

Reale und hypothetische Kausalität beim unechten Unterlassungsdelikt Von Giorgio Marinucci

I. Die im Zusammenhang mit dem unechten Unterlassungsdelikt aufgeworfenen Probleme sind ein weites Feld. In der heutigen Diskussion ist das zentrale dogmatische und kriminalpolitische Problem dasjenige der Kausalität beim unechten Unterlassungsdelikt; dieser Frage ist der Jubilar, dem diese Zeilen gewidmet sind, unter vergleichender Betrachtung der deutschen und italienischen Erfahrungen eingehend und vertieft nachgegangen.1 Die beiden Grundalternativen stellen sich stets wie folgt dar: Ist es erforderlich, dass die unterlassene Handlung, falls vollzogen, den konkreten Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte, oder soll es ausreichend sein, mit einem Urteil ex ante – oder, nach einer neueren Ansicht, ex post – zu ermitteln, dass die unterlassene Handlung, sofern vollzogen, das Risiko des Erfolgseintritts verringert hätte? Oft bleibt in der wissenschaftlichen Diskussion2 jedoch unbeachtet, was in der juristischen Praxis, zumindest in der italienischen, offensichtlich ist: nämlich die der hypothetischen Kausalität, die sich vollständig auf diejenige der echten Kausalität des konkreten Erfolges stützt, vorgelagerte Ebene. Nach der hypothetischen Kausalität des Unterlassens kann man nämlich erst fragen, nachdem man den Kausalverlauf, der in den konkreten Erfolg mündet, festgestellt hat: ein ‚zuerst‘ und ein ‚dann‘, welches nach einer offensichtlich logischzeitlichen Ordnung angelegt ist: Wenn man nicht weiß, wie die Dinge geschehen sind – was der Eintritt des konkreten Erfolges war, der sich hic et nunc verwirklicht hat –, kann man nicht auf hypothetische Weise danach fragen, wie

___________ 1

Maiwald, FS Küper, 2007, S. 329 ff. Zur Unterstreichung der doppelten Ebene der Untersuchung (reale und hypothetische Kausalität) beim unechten Unterlassungsdelikt vgl., in der italienischen Lehre, Santa Maria, in: Dolcini/Marinucci (a cura di), Codice penale commentato, vol. I, 1a ed., 1999, sub art. 40, S. 275; Marinucci/Dolcini, Manuale di diritto penale. Parte generale, 2a ed., 2006, S. 183. 2

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die Dinge geschehen wären, wenn die unterlassene Handlung vorgenommen worden wäre. Zu Beginn dieses Beitrags ist deshalb, soweit möglich, auf die zwei Ebenen und auf den logisch zeitlichen Ablauf, der die objektive Struktur des unechten Unterlassungsdeliktes bestimmt, einzugehen. Erst nach dieser einleitenden Erläuterung bzw. Klärung soll das Problem der hypothetischen Kausalität des Unterlassens erörtert werden. 1. In den nationalen Rechtsordnungen, die das unechte Unterlassen auf das unterlassene Verhindern eines Erfolges stützen, den es aufgrund einer rechtlichen Pflicht zu verhindern galt (Italien, Deutschland, Spanien, Portugal, Österreich)3, verlangt das Gesetz, dass die Feststellung des unechten Unterlassens durch eine Untersuchung erfolgt, die dem angedeuteten logisch-zeitlichen Ablauf folgt: Es macht nur Sinn, sich nach der hypothetischen Kausalität der den Erfolgseintritt verhindernden Handlung4, die der Garant unterließ, zu fragen, ___________ 3 Art. 40, comma 2 c.p. italiano: “Non impedire un evento che si aveva l’obbligo giuridico di impedire equivale a cagionarlo”; § 13 StGB: “Wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt […]”; art. 11 c.p. spagnolo: “Los delitos o faltas que consistan en la producción de un resultado sólo se entendrian cometidos por omisión quando la no evitación del mismo, al infringir un special deber jurídico del autor, equivalga, segun el sentido de la Ley, a su causación”; art. 11 n. 2 c.p. portoghese: “A commissão de um resultado por omissão só è punível quando sobre o omitente recai um dever jurídico que pessoalmente o obrigue a evitar esse resultado”; § 2 ÖStGB: “Bedroht das Gesetz die Herbeiführung eines Erfolges mit Strafe, so ist auch strafbar, wer es unterlässt, ihn abzuwenden, obwohl er zufolge einer ihn im besonderen treffenden Verpflichtung durch die Rechtsordnung dazu verhalten ist und die Unterlassung der Erfolgsabwendung einer Verwirklichung des gesetzlichen Tatbildes durch ein Tun gleichzuhalten ist”. 4 In der deutschen Literatur und Rechtsprechung wird die Beziehung zwischen Unterlassung und Erfolg überwiegend dahingehend verstanden, dass letzterer ohne die “unterlassenen Verhinderung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit” eingetreten wäre (vgl. zuletzt statt vieler, Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl., 2007, Vor § 13 Rn. 12; LK-StGB/Weigend, 12. Aufl. 2006, §13 Rn. 70 ff.); ähnlich in Österreich (vgl. statt vieler Nowakowski, Wiener Kommentar, 1982, 13. Lieferung, § 2, Rn. 28; Triffterer, Strafrecht, AT, 1985, S. 347; Kienapfel, Strafrecht, AT, 1985, S. 111; Foregger/Fabrizy, StGB, 7. Aufl., S. 32 f.); in Spanien (vgl. statt vieler Mir Puig, Derecho penal. P.G., 4a ed., 1996, S. 318 f.; zu einer eingehenden kritischen Darstellung der herrschenden Lehre: Gimbernat Ordeig, La causalidad en la omision impropria y la llamada “omision por comision”, ADPCP 2000, S. 34 ff.); und in Italien (vgl. statt vieler die Autoren, zitiert bei Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, S. 150 ff.). In der portugiesischen Literatur zeigt sich dagegen die Zustimmung von Jorge DeFigueiredo Dias, Direito penal. Parte Geral, I, 2a ed., 2007, S. 931 f., zur These Roxins über das Ausreichen der Risikoverringerung mit ex post Bewertung (vgl. unter IV). In anderen Rechtsordnungen, wenngleich es an ausdrücklichen Normen fehlt, überwiegt die Einordnung der Beziehung zwischen Unterlassung und Erfolg, ob der Erfolg bei unterlassener Verhinderung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eingetreten wäre: für die Schweiz vgl. statt vieler Trechsel/Noll, Schweizerische Straf-

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nachdem, jenseits vernünftiger Zweifel, die tatsächliche Kausalität festgestellt worden ist. Deshalb wird in erster Linie der naturwissenschaftliche Kausalzusammenhang, der in einem bestimmten Erfolg mündet, der hic et nunc eintritt, untersucht: Man weist zum Beispiel nach, dass ein Kind dadurch erstrickt ist, dass es ein kleines Spielzeug in den Mund genommen hat, oder dass ein Schwimmer dadurch vor einem Strandbad ums Leben kam, dass er im Meer ertrunken ist. Erst in zweiter Linie wird die hypothetische Kausalität der gebotenen unterlassenen Handlung des Garanten rekonstruiert und es wird gefragt, ob, denkt man sich diese Handlung hinzu, eine Reihe von Veränderungen der Gegebenheiten eingetreten wäre, die mit den wissenschaftlichen Gesetzen oder Erfahrungswerten übereinstimmen, die den konkreten Erfolg verhindert hätten, also den naturwissenschaftlichen Ablauf unterbrochen hätten. In unseren Beispielen würde geklärt, ob die rechtzeitige Intervention eines Arztes, den die Mutter des Kindes hätte rufen müssen, das Leben des Kindes gerettet hätte oder ob das Kind dennoch innerhalb weniger Minuten erstickt wäre. Ebenso wäre im zweiten Beispielsfall zu untersuchen, ob das sofortige Einschreiten des Bademeisters ein Ertrinken des Schwimmers verhindert hätte oder ob die weite Entfernung zum Strand und der Seegang des aufgewühlten Meeres jeden sofortigen Rettungsversuch vereitelt hätten, selbst wenn man ein Motorboot zu Hilfe genommen hätte. 2. Dem logisch-zeitlichen Ablauf (zunächst die Ermittlung der echten Kausalität eines bestimmten konkreten Ereignisses, dann die Feststellung der hypothetischen Kausalität) wird auch in den Rechtsordnungen gefolgt, die gegebenenfalls die Zustimmung zu der Theorie der Risikoverringerung gestatten: immer und ohne Unterschied geht es darum, hypothetisch festzustellen, ob die unterlassene Handlung, sofern vollendet, die Wahrscheinlichkeit des konkreten Erfolges, der hic et nunc eingetreten ist und der in all seinen räumlichzeitlichen Bedingungen und Modalitäten festgestellt wurde, verringert hätte. Es wäre hingegen überflüssig, nicht die Verringerung des Risikos, dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt eintritt, wie er sich in einem bestimmten Moment und an einem bestimmten Ort auf bestimmte Art und Weise verwirklicht hat, sondern – wie es Roxin in seiner Theorie der Risikoverringerung darzulegen scheint – die Risikoverringerung im Hinblick auf einen imaginären Erfolg, der sich zu einem signifikant späteren Zeitpunkt und auf andere Art und Weise verwirklicht haben könnte, festzustellen. 3. Diese zweistufige Prüfung ist, wie bereits erwähnt, in der italienischen Rechtslehre sehr einleuchtend, da diese Rechtsordnung das unechte Unterlas-

___________ recht, AT, 6. Aufl. 2004, S. 259 ff.; für die USA vgl. statt vieler La Fave-Scott Jr., Substantive Criminal Law, I, 1986, § 3.3., S. 293.

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sensdelikt auf das unterlassene Verhindern eines Erfolges gründet. Exempla docent. a) In einem Fall der Ausbreitung von Hepatitis B, bei dem neun Patienten, die in die Hämatologieabteilung eines Krankenhauses eingeliefert wurden, verstorben waren, war es nicht möglich, die Umstände der Ansteckung mit Hepatitis B nachzuprüfen, und folglich bestand auch keine Möglichkeit, die Ursachen dieser Todesfälle nachzuprüfen („Ansteckung? Therapierung? Blutentnahme? Sabotage?“). Deshalb konnte man nicht nach der Wirksamkeit des Unterlassens der den Erfolgseintritt verhindernden, dem Arzt obliegenden Handlung fragen, denn – so der Kassationshof – „die notwendige tatsächliche Voraussetzung für einen Nachweis der strafrechtlichen Verantwortung des Arztes kann nicht die Individualisierung sämtlicher Elemente der Kausalität des Erfolges ausklammern; nur wenn man die tatsächlichen und naturwissenschaftlichen Umstände des Ausbruchs und des weiteren Verlaufs der Krankheit kennt“ (eine im Verlauf des Prozesses nicht erlangte Erkenntnis), „ist es möglich, das fahrlässige (unterlassene) Verhalten, das dem Arzt zur Last gelegt wurde, zu analysieren, um eine kontrafaktische Bewertung vorzunehmen und nachzuweisen, dass, denkt man sich die erforderliche Handlung hinzu, der Erfolg ohne jeden vernünftigen Zweifel hätte verhindert werden können“.5 Da es nicht möglich war nachzuweisen, wie die ‚Dinge vor sich gegangen waren‘, war der Freispruch des Arztes in allen Instanzen die zwingende Folge. b) Im Jahr 2001 geschah am Mailänder Flughafen (Linate) ein schreckliches Flugzeugunglück. Der Ablauf der Katastrophe – die für etwa einhundert Personen tödlich endete – geht aus dem Urteil der ersten Instanz und demjenigen des Kassationshofes klar hervor. Ein Kommentator hat den Sachverhalt wie folgt zusammengefasst: „Die Piloten eines kleinen Privatflugzeugs (einer Cessna), die von einem Fluglotsen gebeten wurden, einer bestimmten Strecke zu folgen (der Verbindungsstraße R 5) irrten sich über die ihnen erteilten Anweisungen und begaben sich auf einen anderen als den ihnen vorgegebenen Weg: Anstatt nach links zu fahren, bog die Cessna nach rechts ab. Als die Piloten nach der Erlaubnis fragten, der Straße weiter zu folgen, erteilte der Fluglotse, der überzeugt war, das Flugzeug befinde sich auf der R 5, diese Erlaubnis, die sich als fatal erweisen würde. Die Straße (R 6), die die Piloten irrtümlicherweise gewählt hatten, kreuzte die Hauptstartbahn, auf der sich gerade eine Passagierflugzeug der SAS im Abflug befand. Die Piloten des Linienflugzeugs bemerkten erst in letzter Minute die Cessna auf der Startbahn und konnten den Zusammenstoß der beiden Flugzeuge nicht mehr verhindern, der den Tod sämtlicher Insassen beider Flugzeuge sowie einiger Angestellter eines Kaufhau___________ 5

Cass. Sez. IV, 25. Mai 2005, n. 25233; Lucarelli, in DeJure.

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ses/Lagers, an dem die Maschine der SAS zerschellte, verursachte.“6 Im Anschluss an diese unbestrittene Rekonstruktion des ‚wie die Dinge abgelaufen sind‘ (der reale Kausalverlauf, der in dem Unglück mündete) konnte, wie es tatsächlich in den unterschiedlichen Instanzen erfolgte, die Darstellung des ‚wie die Dinge abgelaufen wären‘ (dem hypothetischen Kausalverlauf) folgen, wenn die garantenpflichtigen Personen – im Zentrum und am Rande des italienischen Luftfahrtwesens – die erforderlichen Aufsichts- und Kontrollmaßnahmen, die, falls vollzogen, das Unglück des Flugzeugzusammenstoßes verhindert hätten, vorgenommen hätten. Die Verurteilung der Garanten besiegelte den positiven Ausgang der Prüfung der hypothetischen Kausalität im Strafprozess.7 c) Die Fälle, in denen für Tötungs- und Körperverletzungsdelikte im medizinsich-chirurgischen Bereich Strafen verhängt werden, sind häufig: In allen bislang entschiedenen Fällen zeigen sich stets deutlich die beiden Ebenen, das zunächst (die Rekonstruktion des tatsächlichen Kausalverlaufs in Bezug auf einen bestimmten Erfolg) und das dann (die Rekonstruktion der hypothetischen Kausalbeziehung zwischen der den Erfolgseintritt hindernden Wirkung und der unterlassenen, dem Arzt zur Last gelegten Handlung). In dem Fall des Todes einer Patientin durch die Ablösung der Plazenta, die durch einen hämorrhagischen Schock mit tödlichem Ausgang verursacht wurde, hat der Kassationshof den realen Kausalverlauf, der zum Tod führte, ohne jeden vernünftigen Zweifel festgestellt. Bevor er dazu überging, sich nach der hypothetischen Kausalität der unterlassenen Handlung der beschuldigten Ärzte zu fragen, schickte er allerdings voraus, dass man „in der Rekonstruktion der ursächlichen Beziehung nicht sämtliche die Ursache des Erfolges betreffenden Umstände ausblenden konnte (ergo, die Ursache für den Tod der Patientin): Nur wenn man den Beginn in all seinen tatsächlichen und naturwissenschaftlichen Aspekten und den späteren Verlauf der Krankheit ermittelt hat, ist es möglich die fahrlässig unterlassene Handlung, die dem Arzt oblag zu analysieren, um zu dem kontrafaktischen Urteil zu gelangen und auf der Grundlage statistisch und wissenschaftlich erwiesener Naturgesetze und eines Höchstmaßes an Erfahrung aus der klinischen Praxis festzustellen, ob, wenn man sich die gebotene Handlung hinzudenkt, das schädigende Ereignis ohne jeden vernünftigen Zweifel verhindert worden wäre oder ob es sich gleichwohl, wenn auch zu einem signifikant späteren Zeitpunkt oder mit geringerer Intensität, verwirklicht hätte.“8

___________ 6 Masera, Il disastro di Linate, nota a Trib. Milano, 14 marzo 2005, M., Corr. Merito 2006, S. 103. 7 Cass. Sez. IV, 19. Februar 2008; Gualano, Cass. Pen. 2009, S. 537 ff. 8 Cass. Sez. IV, 9. Februar 2006, n. 12894, V.P., in DeJure.

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d) Dem logisch-normativen Aufbau des ‚zunächst‘ und des ‚dann‘ folgen auch die vereinigten Strafsenate des Kassationshofes9 im Urteil Franzese, auf welches Maiwald die Aufmerksamkeit der deutschen Leser mit Recht gelenkt hat.10 Die ratio decidendi in diesem besonderen Fall spiegelt die oben genannte logisch-zeitliche Ordnung wider. Zunächst hält der Kassationsgerichtshof sachgemäß fest, dass die naturwissenschaftliche Ursache für den Tod eines Patienten von Seiten der Tatsacheninstanz festgestellt worden ist („andauernde Neutropenie“ gefolgt von einer „Abdominal-Sepsis“ durch ‚clostridium septicum‘, einer nicht besonders aggressiven Bakterie, die sich dennoch entwickelt und verbreitet, und akute Anämie auslöst, sobald der Organismus des Menschen entkräftet und immungeschwächt ist“, mit „der Entwicklung tödlicher Ansteckung “). Nachdem er „den Kausalverlauf mit dem konditionalistischen Ansatz unter Zugrundelegung der naturwissenschaftlichen Gesetze“11 rekonstruiert hat, kann der Kassationshof sodann mit dem nächsten Schritt fortfahren: Er schließt die Feststellung der hypothetischen Kausalität der gebotenen, durch einen Arzt unterlassenen Handlung ab und hält an der Verurteilung der Tatsacheninstanz fest, wonach der Arzt es unterlassen hatte, die Untersuchungen und Therapien vorzunehmen, die, wenn sie erfolgt wären, die „Neutropenie“ als Ursache des tödlichen Angriffs der Sepsis auf einen geschwächten Körper, erkannt und geheilt hätten. Wenn diese Untersuchungen und Therapien vorgenommen worden wären, „wäre die weitere tödliche Entwicklung des clostridium septicum verhindert worden und der Verlauf hätte ein positives Ende genommen.“12 ___________ 9

Cass. S.U., 10 Juli 2002, Franzese, Rivista italiana di diritto e procedura penale 2002, S. 1133 ff. 10 Maiwald, Risikoerhöhung (Fn. 1), S. 329 ff., 330, 340 ff. 11 Cass. S.U., 10. Juli 2002, Franzese (Fn. 9), S. 1142 f. 12 Cass. S.U., 10. Juli 2002, Franzese (Fn. 9), S. 1143. Das Urteil Franzese ist in der Lehre zurecht dafür kritisiert worden, dass es den Anspruch erhebt, auch für die unechten Unterlassungsdelikte andere mögliche (Ersatz-)Ursachen des Erfolges nachzuweisen: Diese Ausweitung der Untersuchung ist unangebracht, weil in den Hypothesen der unterlassenen Verhinderung des Erfolges kein Platz für die Suche nach alternativen Begründungen eines Kausalzusammenhangs ist, wenn man davon ausgeht, dass die Individualisierung der realen Ursache des Erfolges für jede spätere Untersuchung über die Effektivität der gebotenen, aber unterlassenen Handlung maßgeblich ist, wie genau der Fall, der Gegenstand des Urteils war, zeigt: Erst wurde entschieden, dass der Patient an einer Bauchinfektion, die einen geschwächten Organismus getroffen hat, verstorben ist. Nachdem entschieden war, dass dies die Todesursache war, ist der Gerichtshof sodann dazu übergegangen zu prüfen, ob der beschuldigte Arzt den Erfolgseintritt hätte verhindern können, wenn er am Patienten eine Reihe von Untersuchungen vorgenommen und die Therapien bereitgestellt hätte, welche die Regeln der ärztlichen Kunst vorsehen. Grundlegend zu dieser Kritik: Veneziani, Il nesso tra omissione ed evento nel settore

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II. 1. Nachdem nun die Einführung über die reale Kausalität abgeschlossen ist und wir nun zum nächsten Thema, nämlich demjenigen der hypothetischen Kausalität kommen, möchte ich darlegen, dass es das Urteil Franzese verdiente, von Maiwald zitiert zu werden, weil die vereinigten Strafsenate des Kassationshofes direkt zum Kern der traditionellen Alternative vorgedrungen sind: Verhindern des konkreten Erfolges, der durch diesen oder jenen realen Kausalfaktor verursacht wurde, oder Reduzierung des Risikos, dass der konkrete Erfolg eintritt. Mit einer Vielzahl dogmatischer und juristischer – auch verfassungsrechtlicher – Argumente ist der Gerichtshof, dem italienischen Recht getreu, der ersten Alternative gefolgt. Indem das Urteil Franzese einen Überblick über die in der älteren Rechtsprechung vertretenen Ansichten gegeben hat und der jüngeren Rechtsprechung gefolgt ist,13 hat es die „Erosion des kausalen Paradigmas der Unterlassung“ angeprangert, mit „besonderem Bezug zu den Bereichen der medizinischchirurgischen Tätigkeit, der Berufskrankheiten, der Umweltverschmutzung und der Produkthaftung“: Einer Erosion – wie die vereinigten Senate mit Weisheit hinzugefügt haben – bei der die „Theorie der objektiven Zurechnung des Erfolges“ genährt wird, für welche der Bezug zu der einfachen Möglichkeit oder auch zu der auf inadäquaten Faktoren beruhenden Wahrscheinlichkeit einer Rettung durch das gebotene Verhalten, in anderen Worten (…) die Verringerung des Risikos der Verletzung des geschützten Rechtsgutes charakteristisch ist“. „Man müsste daher auch verurteilen, ohne genau festzustellen, dass, wenn der Täter die gebotene Handlung vorgenommen hätte, der konkrete Schadenserfolg nicht eingetreten wäre oder zwar eingetreten wäre, aber entweder zu einem deutlich späteren Zeitpunkt oder in geringerer Intensität“.14 Sehr deutlich wird die Ablehnung der Lehre von der Risikoverringerung durch die vereinigten Senate bereits auf der dogmatischen Ebene. Es ist eine Theorie, wonach, wenn man ihr folgen wollte, die gesetzgeberische Einordnung der unechten Unterlassungsdelikte auf den Kopf gestellt würde, indem man sie von dem Erfolg trennte, der seinerseits zu einer objektiven Bedingung der Strafbarkeit abgestuft würde, und sie von Verletzungs- in Gefährdungsdelikte transformierte. Dies ist das vernichtende Urteil der vereinigten Senate: „die Abschwächung des Begriffes der strafrechtlich relevanten Ursache bezeichnet bei den unechten Unterlassungsdelikten letztendlich nur noch den Verhaltensunwert, wohingegen der Erfolg zur bloßen objektiven Bedingung der Strafbarkeit ___________ medico: struttura sostanziale e accertamento processuale, in: Studi in onore di Giorgio Marinucci, II, 2006, S. 1985 ff. 13 Vgl. unten Unterpunkt 2 ff. 14 Cass. S.U., 10. Juli 2002, Franzese (Fn. 9), S. 1137.

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degradiert wird und das Verletzungsdelikt zum bloßen Gefährdungsdelikt wird.“15 Die vereinigten Senate des Kassationshofes bedenken dann in unzeitgemäßer Weise nicht, wie es in Italien eine in der Minderheit befindliche Auffassung im Schrifttum anzunehmen scheint, die Bindung des Gesetzesinterpreten an die verfassungsrechtlichen Prinzipien vor allem an das Gesetzlichkeitsprinzip und das Analogieverbot: Sie bemerken nicht, dass sie die Normenhierarchie auf den Kopf stellen, wenn sie das Gesetz und die Verfassung dem sog. Richterrecht unterordnen.16 Sie prangern diesen Verfall sogar mit Worten an wie „schwere Verletzung der Grundsätze der Gesetzlichkeit, der Bestimmtheit und der Typisierung des Verbrechenstatbestandes“ ebenso wie „der Garantie der persönlichen Verantwortung (Art. 25 Abs. 2 und Art. 27 Abs. 1 der Verfassung)“, weil „dem Täter als eigene Tat ein Erfolg zugeschrieben wird, der vielleicht, aber nicht sicher durch sein Verhalten verursacht wurde“.17 Ebenso wenig sollte die Bindung an diese verfassungsrechtlichen Prinzipien einen Schritt zurückweichen gegenüber tatsächlichen und vermuteten Beweisschwierigkeiten und damit der verhängnisvollen, im Vordringen befindliche Tendenz (die in Italien auch auf diesem Gebiet verteidigt wird18) sekundieren, das materielle Strafrecht den praktischen Bedürfnissen der Beweiserhebung anzupassen.19 Schneidend ist die Entgegnung im Franzese-Urteil: „anspruchsvolle Beweisschwierigkeiten können, nach Ansicht der vereinigten Senate, niemals eine Herabsetzung der Anforderungen an den Nachweis des notwendigen Konditionalzusammenhangs und damit einen ‚weichen‘ Kausalitätsbegriff legitimieren, der, wenn man sich noch mal auf den Standpunkt der Theorie der Risikoerhöhung stellt, der von dem geltenden Strafrechtssystem zurückgewiesen wird, durch eine regelwidrige Expansion der Verantwortlichkeit für ein unterlassenes Verhindern des Erfolgseintritts, in einer Verletzung der Prinzipien der

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Ebenda. Diese Option, am Gipfel einer Serie von vorangegangenen Stellungnahmen, wurde kürzlich befürwortet von Fiandaca, Il diritto penale giurisprudenziale tra orientamenti e disorientamenti, 2008, S. 12. 17 Cass. S.U., 10. Juli 2002, Franzese (Fn. 9), S. 1137. 18 Fiandaca/Musco, Diritto penale. Parte generale, 5a ed., 2007, S. 244, vertreten die Auffassung, dass „die Theorie der Erhöhung (oder der fehlenden Verringerung) des Risikos […] dazu bestimmt zu sein scheint, in all den Bereichen der strafrechtlichen Verantwortung Terrain zu behalten oder zu gewinnen, in denen der Nachweis des Kausalzusammenhangs besonders problematisch ist […]; die Kausalität tendiert unvermeidlich durch die Logik der Wahrscheinlichkeit ersetzt zu werden“: sinnbildlich ist hier wohl der Bereich „der Verantwortlichkeit des Arztes […]“. 19 Vgl. Marinucci/Dolcini, Manuale (Fn. 2), S. 17 ff. 16

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Gesetzlichkeit, der Bestimmtheit der Tatbestände und der Garantie der persönlichen Verantwortlichkeit endete“.20 2. Die italienische Rechtsprechung, die im Franzese-Urteil mit Wohlwollen zitiert wurde, zeigt, wie die gefürchtete Ausdehnung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für ein Unterlassen, gerade auf dem heiklen Gebiet der medizinisch-chirurgischen Tätigkeit (dem bevorzugten Referenzgebiet der hiesigen Förderer der Theorie von der Risikoverringerung21), durch die uneingeschränkte Befolgung der gesetzlichen Vorschrift gebremst werden sollte: Der Zusammenhang zwischen Unterlassen und Erfolg zeigt sich nur, wenn die gebotene Handlung, falls vollzogen, den Erfolgseintritt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte. Nochmals exempla docent. a) In einem Fall hat der Kassationshof die Verurteilung eines Notdienstarztes bestätigt, nachdem er festgestellt hatte, dass eine rechtzeitige Einlieferung eines Patienten, der einen Herzinfarkt erlitten hatte, in ein Krankenhaus eine angemessene chirurgische Versorgung ermöglicht hätte, die mit hoher Wahrscheinlichkeit – zu 100 % oder nahezu 100 % – die Prognose des Patienten erheblich verbessert hätte und den tödlichen Erfolg, der nur wenige Tage später eintrat, verhindert hätte.22 b) In einem anderen Fall hat der Gerichtshof die Verurteilung eines Arztes durch Zurückverweisung aufgehoben, weil die Tatsacheninstanz keinen Sachverständigen zu einem entscheidenden Punkt der zum dem Tod einer Patientin führenden Ereignisse angehört hatte, da ohne jeden vernünftigen Zweifel hätte festgestellt werden müssen, dass die gebotene Handlung des Arztes, deren Unterlassung ihm vorgeworfen wurde, den Tod der Patientin, der durch eine zerebrale Anoxie, gefolgt von einer komplizierten Serie kardio-chirurgischer Eingriffe verursacht wurde, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte.23 c) Der Kassationshof hat in einem anderen Fall eine Verurteilung der Tatsacheninstanz ohne Zurückverweisung aufgehoben, in dem der Tod eines Patienten in Folge einer kardiorespiratorischen Krise eingetreten war und dem Arzt die unterlassene Einlieferung in ein Krankenhaus zur angemessenen Versorgung zur Last gelegt wurde: ein Fall, in dem der Oberste Gerichtshof, nachdem ___________ 20

Cass. S.U., 10. Juli 2002, Franzese (Fn. 9), S. 1139. Vgl. Fiandaca/Musco (Fn. 18), Diritto penale. Parte generale, S. 593: „die Schutzerwartungen, die durch die Hauptgüter des Lebens und der Gesundheit verstärkt werden, können die Bestätigung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auch in denjenigen Fällen rechtfertigend erscheinen lassen, in denen ein medizinischer Eingriff die Erfolgschancen nicht erhöht hätte“. 22 Cass. Sez. IV, 28. November 2000, Di Cintio, CED Cassazione, n. 218727. 23 Cass. Sez. IV, 28. September 2000, Baltrocchi, Foro it. 2001, II, S. 420 ff. 21

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die Sachverständigen der Anklage erklärt hatten, dass „ein geeignetes therapeutisches Einschreiten, wenn es das Leben von X nicht gerettet, so doch vielleicht um einige Tage, Wochen oder Monate verlängert hätte“, entgegnete, dass das ‚vielleicht‘ im Reich des Möglichen liegt, dass das ‚vielleicht‘ nicht Wahrscheinlichkeit an der Grenze zur Sicherheit ist, dass es prozentual nicht nahe der 100% ist“, die für die Begründung des Zusammenhangs zwischen Unterlassung und Erfolg verlangt werden. d) In einem weiteren Fall hat der Kassationshof die Verurteilung eines Arztes bestätigt, der es unterlassen hatte, einen Darmtumor zu diagnostizieren, und dadurch nicht die notwendigen chirurgischen und therapeutischen Maßnahmen ergriffen hatte, die, wenn sie vorgenommen worden wären, mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Patienten ein Weiterleben um einige Jahre ermöglicht hätten.24 e) Die Aufhebung des Urteils mit Zurückweisung zur neuen Prüfung an das Tatsachengericht, entschied der Kassationsgerichtshof in einem Fall, in dem den Ärzten unter anderem zur Last gelegt wurde einen Patienten, der an Atemnot aufgrund eines linksseitigen Hämathorax litt, nicht in ein Krankenhaus, das eine torax-chirurgische Abteilung hatte, eingeliefert zu haben. Es wurde die dem Urteil zu Grunde liegende Rechtsauffassung der Tatsacheninstanz gerügt, welche die Verurteilung auf eine „begrenzte, wenn nicht beträchtliche Wahrscheinlichkeit des Erfolgs“ stützte, obwohl „ein höherer Grad an Wahrscheinlichkeit, nicht weit entfernt vom Kriterium der Sicherheit“ notwendig gewesen wäre und es „kategorisch hätte ausgeschlossen werden müssen, dass eine behauptete Bedingung nur auf zweifelhafte Art (besser gesagt, durch den Nachweis einer „beträchtlichen Möglichkeit“ oder „begrenzten Wahrscheinlichkeit“ der Erfolgsverhinderung) die notwendige Bedingung des Erfolges darstellen konnte.25

III. Kommen wir zu den kritischen Folgerungen der Theorie von der Risikoverringerung zurück, die im Franzese-Urteil dargelegt wurden: Wie der deutsche Leser weiß, unterscheiden sich diese Folgerungen kaum von den Einwänden, mit denen die herrschende Lehre in Deutschland diese Theorie bekämpft: Es handelt sich um die Lehre, die aus der Übertragung der Theorie von der Risikoerhöhung von den Begehungsdelikten auf die unechten Unterlassungsdelikte hervorgegangen ist und die das Gesetzlichkeitsprinzip missachtet, indem sie ___________ 24

Cass. Sez. IV, 23. Januar 2002, Orlando, CED Cassazione, n. 228717. Cass. Sez. IX, 8. Januar 2002, n. 14339, Trunfio, Sistema Leggi d’Italia – Cassazione Penale. 25

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unter der Hand die Erfolgsdelikte in Gefährdungsdelikte umwandelt und zudem den Grundsatz in dubio pro reo verletzt, indem das Risiko, das die Wirksamkeit der unterlassenen Handlung nicht bewiesen werden kann, dem Beschuldigten auferlegt wird.26 Ähnlich zur deutschen herrschenden Lehre wird an der Theorie der Risikoverringerung zudem heftig kritisiert, dass sie die Verantwortlichkeit für die unterlassene Verhinderung des Erfolges in unzulässiger Weise ausdehnt, was auch in dem Franzese-Urteil angeprangert wurde. Bei den Begehungsdelikten wirkt die Theorie der Risikoerhöhung als additiv und begrenzend: Sie fügt sich als weiteres einschränkendes Kriterium der Kausalität ein;27 ihre Übertragung auf die unechten Unterlassungsdelikte als Theorie der Risikoverringerung führt hingegen nicht zu einer Begrenzung, sondern zu einer vollständigen Ersetzung der hypothetischen Kausalität des Unterlassens, indem sie den Bereich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit unter Missachtung des verfassungsrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips und des damit korrespondierenden Verbotes der Analogie zu Lasten des Täters ausweitet.28 Der Richter müsste in der Tat die Vorschrift so lesen als ob sie besagte, dass der Erfolgsverursachung nicht die unterlassene Abwendung des Erfolgseintritts, sondern die unterlassene Verringerung des Risikos der Erfolgsverwirklichung gleichwertig ist. Es könnten ähnliche Situationen angeführt werden, die auf einen gemeinsame ratio zurückgeführt werden könnten, aber es ist eine Gleichstellung, die dem Verbot der Analogie zulasten des Täters zuwiderläuft.29 Ein verfassungsrechtliches Hindernis, heute unüberwindbar in Deutschland wie in Italien, das nur durch einzelne deutsche Strafrechtslehrer (wichtig in Italien)30 unter dem Deckmantel einer allgemeinen Theorie der Auslegung beiseite geschoben wird, ohne der tragischen jüngeren Vergangenheit der beiden Länder nach der Abschaffung des Analogieverbotes im nationalsozialistischen Deutschland und die Verlockungen des faschistischen Italiens diesem Beispiel zu folgen31, zu ge___________ 26 Siehe statt vieler Herzberg, MDR 1971, 881, 882; Samson, FS Welzel, 1974, S. 579, 593; Wachsmuth/Schreiber, NJW 1982, 2094, 2096; Baumann/Weber, Strafrecht, AT, 9 Aufl. 1985, S. 240; Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 29. Abschn. Rn. 20; Freund, Erfolgsdelikte und Unterlassung, 1992, S. 130; NK-StGB/Seelmann, 2001, § 13 Rn. 61; Schönke/Schroeder/Stree, StGB, 2001, § 13 Rn. 61; Schünemann, JA 1975, 647, 655. Für weitere Nachweise vgl. oben Fn. 4. 27 Dies erkennen auch Fiandaca/Musco (Fn. 18), Diritto penale. Parte generale, S. 241. 28 Grundlegend Schünemann, StV 1985, 229, 233. 29 Ebenda S. 232. 30 Die Arbeiten Arthur Kaufmanns und seines Schülers Winfried Hassemer sind in Italien zusammengefasst worden, in der sorgfältigen Arbeit von Di Giovine, L’interpreta zione nel diritto penale tra creatività e vincolo alla legge, 2006. 31 Vgl. Marinucci, FS Tiedemann, 2008, S. 189 ff, 194 ff.

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denken und von der Wiederentdeckung der Besonderheiten des Strafrechts im Vergleich zu den anderen Fächern der Rechtsordnung in der Handhabung der Analogie Kenntnis zu nehmen: ein unauslöschbares Vermächtnis der Aufklärung in allen Verfassungen und einfachen Gesetzen Kontinentaleuropas.32

IV. Es bleibt noch der ‚dritte Weg‘ zu untersuchen, der kürzlich von Roxin vorgeschlagen wurde: die Risikoreduzierung aus der Perspektive ex post als „Modifizierung des Kausalverlaufes“33, die genau betrachtet nicht auf den konkreten Erfolg abstellt, der sich hic et nunc verwirklicht hat, sondern auf einen gedachten Erfolg, der sich anschließend auf andere Art und Weise als der tatsächliche Erfolg verwirklicht hätte. Dies zeigt der Beispielsfall, mit dem er seinen Ansatz untermauert: „Hätte die gebotene und mögliche Transplantation das Leben des Patienten zunächst gerettet, ist deren Unterlassung als Tötung zuzurechnen, auch wenn die Möglichkeit bestehen bleibt, dass eine Abstoßung des transplantierten Organs am Ende doch zum Tode des Patienten geführt hätte.“34 Nach dem Ansatz Roxins wäre deshalb das Ende des Zurechnungszusammenhangs über die sog. Risikoreduzierung aus der Sicht ex post, dies sei noch einmal betont, nicht der Erfolg, der sich hic et nunc verwirklicht hat – „der Tod eines Patienten, der an einer schweren Kardiopathie leidet und eine Transplantation braucht, wegen Herzversagen am Tag X“ –, sondern ein insgesamt vorgestellter Erfolg, der sich später und auf andere Art und Weise verwirklichen könnte – „der Tod des Patienten durch Abstoßung des transplantierten Organs“. Dies bricht jedoch mit der logischen Struktur – das ‚zunächst‘ und das ‚dann‘ –, die oben herausgearbeitet worden ist: Man kann sich erst nach der hypothetischen Kausalität der unterlassenen Handlung fragen (nach dem ‚wie die Dinge geschehen wären‘), wenn man den realen Kausalverlauf aufgeklärt hat (das ‚wie die Dinge gelaufen sind‘), der in den konkreten Erfolg mündete, der sich in einem bestimmten Moment an einem bestimmten Ort auf eine bestimmte Weise verwirklicht hat: eine reale Kausalität, die sich offensichtlich nicht auf einen vorgestellten Erfolg beziehen kann, der sich zu einem späteren Zeitpunkt und auf andere Weise verwirklicht haben könnte und der – im Beispielsfall Roxins – der Tod des Patienten durch Abstoßung des transplantierten Organs ist. ___________ 32 Nur der große Binding, erklärter Gegner der Aufklärung und ihrer Früchte für Gesetzgebung und Verfassung, hatte die Statur, als „sehr verspotteter Freund der Analogie“, die Eigentümlichkeiten des Strafrechts, die überall kodifiziert sind, im Vergleich zu den anderen Fächern der Rechtsordnung zu kritisieren: Marinucci, FS Tiedemann, 2008, S. 189, 193. 33 Roxin, Strafrecht, AT, II, 2003, S. 645 ff. 34 Ebenda S. 646.

Reale und hypothetische Kausalität beim unechten Unterlassungsdelikt

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Letztendlich erweist sich der dritte, von Roxin vorgeschlagene Weg (Risikoverringerung ex post betrachtet) entweder als der bekannte Weg des unterlassenen Verhinderns des Erfolges (die Organtransplantation hätte das Leben des herzkranken Patienten gerettet und die unterlassene Transplantation bedeutet ganz genau die unterlassene Verhinderung seines Todes) oder es ist nur ein scheinbarer Ausweg aus der gewohnten Alternative: Verhindern des Erfolges gegenüber der Risikoverringerung aus der Sicht ex ante.

V. Was treibt Teile der Literatur dazu, die Theorie der Risikoverringerung, de jure condito, zu unterstützen, oder geradewegs, wie es Schaffstein de jure condendo vorschlug, auf die Kausalität zu verzichten, indem die Erfolgsdelikte in Gefährdungsdelikte umgewandelt werden?35 Diese Frage hat Roxin einleuchtend beantwortet: Es gibt „ein kriminologisches Bedürfnis zu bestrafen“36, das in Fällen der Fahrlässigkeit ohne jeden Zusammenhang zum Erfolg unbefriedigt bleibt.37 Es bedarf einer Rückkehr zum crimen culpae. Roxin selbst ist diesem Gedanken Anfang der siebziger Jahre näher getreten, als er eine allseits bekannte Problemkonstellation untersuchte – die Beziehung zwischen der Sorgfaltspflichtverletzung und dem Erfolg beim Fahrlässigkeitsdelikt – und die Straffreiheit beklagte, die sich nach der herrschenden Lehre ergab, die den Beweis verlangte (und verlangt), dass die Beachtung der Sorgfaltspflicht den Erfolgseintritt verhindert hätte. Nach Roxin sollte hingegen die Erhöhung des Risikos, die durch ein sorgfaltswidriges Verhalten verursacht wurde, für den Fahrlässigkeitsvorwurf ausreichen.38 Dabei war es wenig bedeutsam, dass es sich um ein Verständnis der fahrlässigen Erfolgsdelikte handelte, das von einem Rückbesinnen auf die Logik des versari in re illicita durchzogen wäre, wie es von mehreren Seiten gezeigt wurde (mehrfach vom Verfasser,39 auch in einem Beitrag,40 der die Ehre hatte von Maiwald kritisch analysiert zu werden41),

___________ 35

Schaffstein, FS Honig, 1970, S. 169, 172. Roxin (Fn. 33), Strafrecht, AT II, S. 644. 37 Ebenda, S. 643. Zur Beziehung die zwischen der Fahrlässigkeit und dem Erfolg bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten bestehen muss vgl. Marinucci/Dolcini (Fn. 2), Manuale S. 275 ff. 38 Roxin, ZStW 74 (1962), 411 (auch bei Roxin, Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1972, S. 147 ff.). 39 Marinucci, La colpa per inosservanza di leggi, 1965, S. 264, 275. 40 Marinucci, Il reato come “azione”, 1971, S. 163 f. Für diese Kritik, statt vieler Rehberg, Zur Lehre vom “erlaubten Risiko”, 1962, S. 122; Ulsenheimer, JZ 1969, 364, 365. 36

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weil mit der Theorie der Risikoerhöhung der vom Gesetz geforderte Zusammenhang zwischen Fahrlässigkeit und Erfolg aufgelöst wurde, um ein bloßes crimen culpae, d.h. die einfache Verletzung einer Sorgfaltspflicht zu bestrafen, auch wenn diese für den gesetzlichen Erfolg „irrelevant“ ist. Die kriminalpolitischen Motive zeigen sich auf der anderen Seite auch in anderen Formen und Zusammenhängen. Das Bedürfnis nach Bestrafung ist in der Tat so stark, dass es viele deutsche Kommentatoren des bekannten Lederspray-Falls dazu veranlasst, die Entscheidung des Bundesgerichtshofes als konzeptionell falsch zu kritisieren, weil sie mit der Logik der hypothetischen Kausalität bei den unechten Unterlassungsdelikten als unterlassene Verhinderung des Erfolgs mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unvereinbar ist, es aber gleichwohl aus kriminalpolitischer Sicht für richtig gehalten wird, insoweit eine ad hoc Ausnahme von der conditio-sine-qua-non-Formel anzunehmen.42

VI. Der Königsweg, um dieses dringende Bedürfnis nach Bestrafung zu befriedigen, ohne die Gestalt der unechten Unterlassungsdelikte zu verdrehen, geht den Weg de lege ferenda. Schünemann hat diesen Weg bereits 1979 für die Unternehmenskriminalität eingeschlagen, indem er die Schaffung neuer Deliktstypen angeregt hat, um die Reichweite der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für ein Unterlassen im Hinblick auf durch die unternehmerische Tätigkeit verursachte Erfolge auszuweiten, deren Verhinderung durch den Pflichteninhaber im Einzelfall sehr schwierig gewesen wäre und zudem erhebliche Beweisprobleme aufwirft.43 Diesen Vorschlag einer lex specialis hat Schünemann 1985 um die Forderung nach einer entsprechenden Regelung für Arztfehler ergänzt, deren strafrechtliche Relevanz – unter Berücksichtigung der besonderen Probleme medizinisch-chirurgischer Tätigkeit – auf die Fälle der Unterlassensverantwortlichkeit des Arztes für leichtfertiges Verhalten zu beschränken sei.44 In das gleiche Fahrwasser hat sich kürzlich Roxin begeben – gleichsam an der Überzeugungskraft seines „dritten Weges“ zweifelnd – sei es wegen der von Schünemann angeführten Fallkonstellationen, sei es wegen der gesamten ___________ 41

Maiwald, Abschied vom strafrechtlichen Handlungsbegriff? Zugleich eine Stellungnahme zur Schrift von Giorgio Marinucci: Il reato come “azione”, ZStW 86 (1974), 626, 648. 42 Meyer, NJW 1992, 3193, 3197; Hilgendorf, NStZ 1994, 561, 563; Kuhlen, NStZ 1990, 566, 570; Beulke/Bachmann, JuS 1992, 737, 743. 43 Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 207. 44 Schünemann, StV 1985, 229, 233.

Reale und hypothetische Kausalität beim unechten Unterlassungsdelikt

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Bandbreite der Unterlassung von gebotenen Handlungen, indem er Erwägungen zur Einführung neuer Deliktstypen ad hoc anstellt. Roxin hat in der Tat die Frage aufgeworfen, ob „es nicht kriminalpolitisch wünschenswert wäre, alle Fälle zu bestrafen, in denen ein Garantenunterlassen auch nur ex ante eine realistische Chance der Erfolgsabwendung geboten hätte“: „Besonders dringlich“ sei das Problem in den Fällen „der Vernachlässigung von Aufsichts- und Kontrollpflichten in Betrieben“; in diesem Zusammenhang werden des Weiteren der Bereich der ärztlichen Versäumnisse und, ganz allgemein, die Gesamtheit des garantenpflichtwidrigen Unterlassens erwähnt.45 Dies ist ein überzeugendes Ergebnis46 in den Rechtsordnungen, die das unechte Unterlassen auf die rechtliche Pflicht den Erfolg zu verhindern gründen: Auf die richtigen Gleise von wünschenswerten, zukünftigen gesetzgeberischen Entscheidungen führt eine Kontroverse zurück, die unter dem Schleier einer anderen Auslegungsoption, das verfassungsmäßige Prinzip strenger Gesetzesbindung missachtet, nur um ein unerfülltes Bedürfnis des Strafens zu befriedigen.

___________ 45

Roxin, Strafrecht (Fn. 33), AT II, S. 648. In der italienischen Literatur haben ähnliche Reformvorschläge unterbreitet: Pulitanò (Fn. 12), Diritto penale, 2005, S. 263, und Veneziani, Il nesso tra omissione ed evento, S. 2000. 46

Was nützt, was schadet, was ist ohne Effekt? – Die jugendstrafrechtlichen Sanktionen auf dem Prüfstand Von Bernd-Dieter Meier

I. Grundlagen der wissensbasierten Kriminalprävention 1. Berufspraxis und Kriminologie § 2 Abs. 1 JGG definiert als das vorrangige Ziel der Anwendung des Jugendstrafrechts, erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenzuwirken. Darüber, wie dies im Einzelnen geschehen soll, verhält sich das Gesetz nicht, und auch aus der Begründung zum 2. JGGÄndG1 ergeben sich hierzu keine Hinweise. Das Gesetz stellt eine Reihe von Reaktionsmöglichkeiten auf das Bekanntwerden eines Tatverdachts zur Verfügung und überlässt die Auswahl der richtigen, d.h. der das Ziel des Jugendstrafrechts bestmöglich verwirklichenden Reaktion ebenso wie deren konkrete Ausgestaltung dem Rechtsanwender, also der Polizei, der Jugendstaatsanwaltschaft, dem Jugendgericht, der Jugendbewährungshilfe und dem Jugendstrafvollzug. Die jugendstrafrechtliche Praxis verfährt in der Regel so, dass sie die Auswahl und Ausgestaltung der jeweils in Betracht kommenden Reaktion zunächst an den – wenigen – rechtlichen Maßgaben orientiert, die das JGG bereithält – etwa an den §§ 5, 10, 13, 17, 45 und 47 –, und im Übrigen auf die Erfahrungen vertraut, die sie im Umgang mit straffälligen Jugendlichen gesammelt hat. Die persönlichen und beruflichen Erfahrungen, das Wissen um die Anzeichen für die Entwicklung krimineller Karrieren, aber auch das Wissen um stabilisierende Elemente, um den vorübergehenden Charakter der meisten Erscheinungsformen von Jugendkriminalität, kurz: die im Beruf gewachsene, durch Kenntnisse und Erfahrungen bestimmte Sichtweise auf den straffällig gewordenen Jugendlichen versetzt die jugendstrafrechtliche Praxis in die Lage, in den meisten Fällen plausible und häufig auch richtige, also weiteren Straftaten des Jugendlichen tatsächlich entgegenwirkende Entscheidungen zu treffen. Die skizzierte Vorgehensweise soll hier nicht kritisiert werden. Sie ist das Kennzeichen der Praxis, die sich den Luxus des wissenschaftlich-theoretischen Blicks auf den Umgang mit straffällig gewordenen Jugendlichen schon aus ___________ 1

BT-Drucks. 16/6293, 9 f.

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Zeitgründen nicht leisten kann. In der Praxis sieht Vieles anders aus als es sich der Theoretiker vorstellt. Indes ist die Praxis mit dem Problem konfrontiert, dass sie mit ihren Entscheidungen zwar häufig richtig liegt, dass es aber auch eine große Zahl von Entscheidungen gibt, in denen sie das in § 2 Abs. 1 JGG formulierte Ziel nicht erreicht. Die 2003 von Jehle, Heinz und Sutterer veröffentlichte Rückfallstatistik zeigt, dass bezogen auf das Basisjahr 1994 nach einer jugendstrafrechtlichen Entscheidung – gleich ob es sich um eine Verfahrenseinstellung oder eine förmliche Sanktion gehandelt hat – 45,3 % der Jugendlichen innerhalb von 4 Jahren erneut auffällig wurden.2 In knapp der Hälfte der entschiedenen Fälle wurden in der Praxis also Maßnahmen angewandt, bei denen sich im Nachhinein die Frage stellt, ob sie richtig waren oder ob nicht andere Reaktionen zu besseren Ergebnissen geführt hätten. Dieser Blick auf die Konsequenzen des jugendstrafrechtlichen Handelns, auf das Legalverhalten des Jugendlichen innerhalb eines für alle Jugendlichen gleichen Beobachtungszeitraums, ist der Praxis in der Regel aber verschlossen. Er ist das Privileg des kriminologisch-wissenschaftlichen Zugangs zu den jugendstrafrechtlichen Sanktionen, der die unterschiedlichen Umgangsweisen der Justiz mit straffälligen Jugendlichen nach einheitlichen Maßstäben miteinander vergleicht und so zu Erkenntnissen über die Effizienz der einzelnen Sanktionen und die hierfür maßgeblichen Begleitbedingungen gelangt.

2. Der Stand der empirisch-kriminologischen Evaluationsforschung Das Kennzeichen der gegenwärtigen kriminologisch-wissenschaftlichen Herangehensweise besteht darin, dass man sich des harten, in der Evaluationsforschung etablierten methodischen Instrumentariums bedient, um zu empirisch fundierten Aussagen über die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen zu gelangen. „Was nützt, was schadet, was ist ohne Effekt?“ – diese Fragestellung, die die Überschrift zu diesem Beitrag bildet, ist in der kriminologischen Sanktionsforschung vergleichsweise jung. Sie ist kein „Eigengewächs“ der Kriminologie, sondern sie ist aus den Naturwissenschaften übernommen worden, wo sie insbesondere in der Medizin und der Arzneimittelforschung eine große Rolle spielt. Für die Zulassung eines neuen Medikaments am Markt kommt es nicht darauf an, welche Erfahrungen mit dem Medikament in einzelnen Kliniken gesammelt wurden; maßgeblich sind die Ergebnisse systematisch durchgeführter Testreihen, die an Kliniken in Experimenten, namentlich in Doppelblindversuchen erzielt worden sind. Diese methodologisch harte Herangehensweise, vor allem die Forderung nach einer experimentellen Ausgestaltung der Untersu___________ 2 Jehle/Heinz/Sutterer, Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen, 2003, S. 57.

Jugendstrafrechtliche Sanktionen

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chungskonzeption in den 1990er Jahren auf sozialwissenschaftliche Fragestellungen, insbesondere das Problemfeld der Kriminalprävention übertragen zu haben, ist das Verdienst der nordamerikanischen Kriminologie. Eine herausgehobene Stellung nimmt insoweit der „Maryland Report“ ein, der 1997 von einer Forschergruppe aus der University of Maryland vorgelegt wurde. Gegenstand des Berichts war eine Sekundäranalyse von mehr als 600 empirischen Arbeiten zu Fragen der Kriminalprävention. Die methodologische Qualität der Untersuchungen wurde nach einer 5-stufigen Skala, der Maryland Scientific Methods Scale, bewertet und zur Grundlage der Aussagen über die Wirksamkeit der betreffenden Maßnahmen gemacht. Bekannt geworden ist der Maryland Report unter dem Titel der ersten Auflage: „Preventing Crime: What Works, What Doesn’t, What’s Promising“ – das Thema des Beitrags ist diesem Titel nachgebildet.3 Eine Neuauflage des Berichts erschien 2002 unter dem Titel „EvidenceBased Crime Prevention“.4 Eine der Autorinnen des Maryland Reports, MacKenzie, legte 2006 eine weitere, nur auf die präventive Wirksamkeit der strafrechtlichen Sanktionen bezogene Auswertung vor.5 In der Evaluationsforschung – gleich, ob es um die Wirkung von Arzneimitteln oder von jugendstrafrechtlichen Reaktionen geht – sind Experimente oder zumindest Quasi-Experimente unverzichtbar. Nur wenn man die Wirkung, die mit einer Maßnahme erzielt wird, mit der Wirkung, die bei Nichtanwendung der Maßnahme eintritt, vergleichen kann, lassen sich über die Wirkung (oder Nichtwirkung) begründete Aussagen treffen. Methodologisch kommt es entscheidend auf zweierlei an: Es muss zwei Gruppen geben, in denen die untersuchte Maßnahme entweder angewandt oder nicht angewandt wird (Untersuchungs- und Kontrollgruppe), und diese beiden Gruppen müssen miteinander vergleichbar sein. Die methodologische Hauptschwierigkeit besteht dabei in der Regel in der Gewährleistung der zweiten Voraussetzung, der Vergleichbarkeit von Untersuchungs- und Kontrollgruppe.

3. Beispiel Diversionstag Das Problem sei anhand eines Beispiels aus Nordrhein-Westfalen verdeutlicht. Für den Umgang mit auffällig gewordenen Jugendlichen gibt es dort seit geraumer Zeit die Einrichtung des „Diversionstags“, der von der Polizei organisiert wird. Ein solcher Diversionstag findet mit bis zu 30 Jugendlichen und ihren Eltern statt. Anwesend sind Vertreter der Polizei, des Jugendamts und der ___________ 3 Sherman/Gottfredson/MacKenzie/Eck/Reuter/Bushway, Preventing Crime: What Works, What Doesn’t, What’s Promising, 1997. 4 Sherman/Farrington/Welsh/MacKenzie, Evidence-Based Crime Prevention, 2002. 5 MacKenzie, What Works in Corrections, 2006.

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Staatsanwaltschaft. Die Jugendlichen werden in einem mehrstufigen Verfahren angehört und vernommen. Am Ende entscheidet die Staatsanwaltschaft in enger Abstimmung mit Polizei und Jugendamt, wie in den betreffenden Fällen weiter verfahren werden soll.6 Das Verfahren hat den Vorteil, dass der Jugendliche über die strafrechtlichen Konsequenzen seiner Tat schnell Gewissheit erlangt. In der Praxis wird immer wieder beobachtet, dass sich die Diversionstage positiv auswirken; nur wenige Jugendliche werden nach einem solchen Tag noch einmal auffällig. Für die Verantwortlichen ist dieser Befund sehr befriedigend, und es entspricht auch der allgemeinen Vorstellung, dass die Reaktion nur schnell genug erfolgen muss, damit Jugendliche hieraus die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Ein wissenschaftlicher Beweis für die spezialpräventive Wirksamkeit ist damit jedoch noch nicht erbracht. Der wissenschaftliche Beweis setzt voraus, dass die Legalbewährung der Jugendlichen, die einen solchen Diversionstag durchlaufen, verglichen wird mit der Legalbewährung von Jugendlichen, die ihn nicht durchlaufen, wobei aber die Schwierigkeit sofort deutlich wird: Mit welchen Jugendlichen genau soll der Vergleich durchgeführt werden? Jugendliche, die angeklagt werden, scheiden aus der Betrachtung aus, denn angeklagt werden vor allem Jugendliche, die schwerere Taten begangen haben, die bereits vorauffällig gewesen sind oder die den Tatvorwurf bestreiten. Wenn die Rückfallhäufigkeit bei Anklage höher ist als in den Diversionsfällen – die Diversionsfälle also „besser abschneiden“ –, wundert dies nicht, denn die Anklage wird aus kriminologischer Sicht vor allem bei solchen Jugendlichen erhoben, bei denen die Rückfallwahrscheinlichkeit von vornherein höher eingeschätzt wird; der spätere Rückfall bestätigt quasi nur die von vornherein ungünstige Prognose der Staatsanwaltschaft. Verglichen werden können die Jugendlichen, die in Nordrhein-Westfalen zu den Diversionstagen geladen werden, also nur mit Jugendlichen, deren Verfahren zwar ebenfalls mit einer Einstellung endet, bei denen die Einstellungsvoraussetzungen aber nicht über die Diversionstage, sondern anders, herkömmlich geschaffen werden, bei denen also insbesondere kein schnelles, abgestimmtes Verfahren erfolgt. Eine solche Vergleichsgruppe ist schwer zu bilden. Wenn man die Verfahren in zwei Städten miteinander vergleicht – Städte, in denen die Diversionstage stattfinden, mit Städten, in denen die Einstellungsvoraussetzungen herkömmlich festgestellt werden –, dann ist nicht gesagt, dass die beiden Städte auch in ihrer Kriminalitätsstruktur miteinander vergleichbar sind. In der einen Stadt mag die Gewaltkriminalität herausstechen, in der anderen vielleicht die Btm-Kriminalität, in der einen mögen die Jugendlichen eher in prekären Verhältnissen leben, während die andere Stadt über einen hohen Anteil gut ___________ 6

41 f.

Achenbach, DVJJ-Journal 2000, 384 ff.; Meffert/Hegemann DVJJ-Journal 2003,

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situierter Jugendlicher verfügt. Man kann diese Unterschiede zwar auf statistischem Weg ausgleichen, indem man in beiden Städten nur solche Gruppen miteinander vergleicht, die dieselben Merkmale aufweisen, also z.B. nur nach der Rückfallhäufigkeit in einzelnen Deliktsgruppen oder sozialen Schichten fragt; methodologisch spricht man insoweit von „quasi-experimentellen“ Untersuchungsanordnungen. Das Problem besteht bei dieser Vorgehensweise jedoch darin, dass man niemals alle denkbaren weiteren Einflussfaktoren gleichzeitig berücksichtigen kann; der Vergleich bleibt immer für den Einwand anfällig, dass bestimmte Umstände unberücksichtigt bleiben müssen. Vorzugswürdig ist deshalb eine ganz andere Herangehensweise. Methodologisch ist anerkannt, dass die beste Voraussetzung für den Vergleich dann gegeben ist, wenn die Gruppenaufteilung nicht von bestimmten Gegebenheiten abhängig gemacht wird – bspw. Diversionstage in der einen, herkömmliches Verfahren in der anderen Stadt –, sondern wenn die Zuweisung zur Untersuchungs- und zur Kontrollgruppe nach Zufallskriterien durchgeführt wird. In diesem Fall, und zwar nur in diesem Fall, kann man nämlich die Annahme vertreten, dass sich auch sämtliche übrigen Einflussfaktoren nach Zufall verteilen, so dass etwaige Unterschiede, die sich zwischen der Untersuchungs- und der Kontrollgruppe beobachten lassen, allein auf der Maßnahme beruhen können, deren Wirksamkeit geprüft wird. Die Zufallszuweisung gilt als der methodologische „Goldstandard“ der empirischen Wirkungsforschung. Solche Zufallszuweisungen sind in der Sanktionsforschung nur selten zulässig. Die Reaktion auf Straftaten orientiert sich in der Regel an Recht und Gesetz, nicht am Zufall. Dennoch ist es gelegentlich möglich, ein Zufallsdesign auch für die Evaluation der Rechtsfolgen des Strafrechts einzusetzen. So werden die nordrhein-westfälischen Diversionstage gegenwärtig vom Kriminologischen Seminar der Universität Bonn evaluiert. Hier ist es gelungen, die Justizverwaltung von folgendem Vorgehen zu überzeugen: Vorausgesetzt, dass ein straffällig gewordener Jugendlicher überhaupt für die Diversion in Betracht kommt, ist für die Vorgehensweise der Staatsanwaltschaften der Geburtsmonat des Jugendlichen maßgeblich: Bei geraden Geburtsmonaten wird der Jugendliche den Diversionstagen zugewiesen, bei ungeraden Monaten werden die Diversionsvoraussetzungen auf anderem, herkömmlichen Weg geschaffen. Man darf gespannt sein, ob die Diversionstage bei dieser Untersuchungskonzeption besser abschneiden als die herkömmliche Vorgehensweise. Wenn, und zwar wiederum nur wenn dies der Fall ist, ist die Überlegenheit der Diversionstage auch wissenschaftlich bewiesen.

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4. Die Maryland Scientific Methods Scale Wenn man sich aus kriminologisch-wissenschaftlicher Sicht mit der Wirksamkeit der strafrechtlichen Sanktionen beschäftigt, dürfen die methodischen Grundlagen der herangezogenen Untersuchungen heute nach alledem nicht mehr unberücksichtigt bleiben. Ebenso wenig wie es damit getan ist, für die Beurteilung der Wirksamkeit allein auf die Validität einzelner Beobachtungen oder Erfahrungen aus der Berufspraxis zu vertrauen, darf man allein auf die Ergebnisse solcher empirischer Studien vertrauen, die über kein ausreichend valides Untersuchungsdesign verfügen. Bei der Einordnung der wissenschaftlichen Qualität ist die bereits erwähnte Maryland Scientific Methods Scale hilfreich, die im Maryland Report zur Grundlage der Aussagen und Empfehlungen gemacht wurde (Übersicht 1). Übersicht 1 Methodologische Qualität der Untersuchungskonzeption von Rückfallstudien (in Anlehnung an die Maryland Scientific Methods Scale7) Niveau 1:

Studien, in denen der Zusammenhang zwischen einer Maßnahme und dem Legalverhalten ohne Vergleichsgruppe untersucht wird.

Niveau 2:

Studien mit Vergleichsgruppe, wobei die Vergleichbarkeit der Gruppen jedoch nicht abgesichert oder statistisch kontrolliert wird.

Niveau 3:

Studien mit Vergleichsgruppe, wobei die Vergleichbarkeit der Gruppen durch das Design der Studie oder die statistische Analyse gewährleistet wird.

Niveau 4:

Studien mit Kontrollgruppe, wobei zusätzlich der Einfluss von Moderatorvariablen statistisch kontrolliert wird.

Niveau 5:

Studien, in denen die Zuweisung zur Untersuchungs- und Kontrollgruppe nach Zufallsprinzipien vorgenommen wird.

Um als „wirksam“ eingeordnet zu werden, musste eine kriminalpräventive Maßnahme im Maryland Report in wenigstens zwei unabhängig voneinander durchgeführten Untersuchungen zu signifikant besseren Ergebnissen geführt haben als die Nichtanwendung der Maßnahme, wobei die Konzeptionen der Untersuchungen wenigstens ein mittleres Qualitätsniveau (Niveau 3) aufweisen mussten.8 Überträgt man das Kriterium auf die hier interessierende Frage nach der präventiven Effizienz von Projekten zur Eindämmung der Jugendgewalt, scheiden bei dieser Herangehensweise zahlreiche Untersuchungen aus der wei___________ 7 MacKenzie (Fn. 5), 29; vgl. auch Farrington et al., in: Sherman/Farrington/Welsh/ MacKenzie (Fn. 4), 13 ff.; Heinz, in: Lösel/Bender/Jehle (Fn. 8), 501. 8 Sherman/Farrington/Welsh/MacKenzie (Fn. 4), 18.

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teren Betrachtung aus. Dies darf jedoch nicht als Nachteil angesehen werden, da der Verlust in der Breite des Materials durch die methodische Stärke der verbleibenden Studien wieder wettgemacht wird.

II. Wirksamkeit von Prävention im Kontext des Jugendstrafverfahrens 1. Erfolgskriterium Legalverhalten Ehe genauer auf die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen eingegangen werden kann, sei noch ein kurzer Blick auf das Erfolgskriterium geworfen, das für die Beurteilung der Wirksamkeit zugrunde zu legen ist. Nach § 2 Abs. 1 JGG ist es das vorrangige Ziel des Jugendstrafrechts, erneuten Straftaten des Jugendlichen entgegenzuwirken. Anders als im Erwachsenenstrafrecht geht es im Jugendstrafrecht also – von Ausnahmen abgesehen, vgl. § 17 Abs. 2, 2. Alt. JGG – weder primär um den Schuldausgleich, d.h. um die Behandlung des Jugendlichen nach dem, was er „verdient“, noch um die Befriedigung der Interessen der Allgemeinheit, namentlich der des Opfers und/oder der Medien. Anders als im Jugendhilferecht ist es im Jugendstrafrecht aber auch nicht das Ziel, die Entwicklung des Jugendlichen zu fördern und ihn zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu erziehen (vgl. § 1 Abs. 1 SGB VIII). Das Jugendstrafrecht begnügt sich expressis verbis mit weniger: Ihm kommt es lediglich auf das strafnormkonforme Verhalten des Jugendlichen an, wobei man freilich abstrakt-theoretisch darüber streiten kann, ob die intendierte Verhaltenssteuerung erreichbar ist, wenn der Jugendliche nicht auch wie im KJHG vorgesehen in seiner Entwicklung gefördert wird. Besteht das vorrangige Ziel in der jugendgemäßen Spezialprävention, der Befähigung zu einem Leben ohne Straftaten, lässt sich das Erreichen dieses Ziels vergleichsweise einfach überprüfen: Tritt der Jugendliche innerhalb eines festgelegten Zeitraums mit weiteren Straftaten in Erscheinung, hat die Sanktion ihr Ziel ersichtlich verfehlt. Die Legalbewährung – oder komplementär: der Rückfall – gilt in der Sanktionsforschung deshalb zu Recht als das entscheidende Kriterium für die Beurteilung der spezialpräventiven Effizienz der strafrechtlichen Rechtsfolgen der Tat. Dabei wird für die Feststellung, ob ein Jugendlicher rückfällig geworden ist, in der Regel nicht auf Dunkelfelderhebungen zurückgegriffen, sondern es wird wegen der größeren Validität darauf abgestellt, ob die Strafverfolgungsorgane Kenntnis von einer weiteren Tat erlangt haben. Deutsche Untersuchungen stellen dabei meist darauf ab, ob es zu weiteren Eintragungen im Bundeszentralregister (Erziehungsregister) gekommen ist. Mit diesem Indikator wird die Rückfälligkeit unabhängig davon erfasst, ob das wegen der Rückfalltat eingeleitete Verfahren nach §§ 45, 47 JGG eingestellt

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worden ist; Einstellungsentscheidungen und Verurteilungen werden im Erziehungsregister gleichermaßen erfasst. Ausweislich der Eintragungen im Erziehungsregister ist der Rückfall gerade bei Jugendlichen und Heranwachsenden kein seltenes Ereignis. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass nach der Rückfallstatistik von Jehle, Heinz, Sutterer knapp die Hälfte der formell oder informell sanktionierten Jugendlichen innerhalb von 4 Jahren erneut auffällig wird. In der Quote von 45,3 % drücken sich die Risikobereitschaft und die Unsicherheit aus, die hinter den meisten Jugendstraftaten – und auch der meisten Rückfalltaten – stehen und die für die Lebensphase Jugend typisch sind. Für viele Jugendliche haben die Strafrechtsnormen und die Entscheidungen der Strafverfolgungsorgane noch nicht die Bedeutung, die sie für Erwachsene haben. Die weitere Aufschlüsselung in der Rückfallstatistik zeigt dabei, dass sich die Rückfallquoten auf die einzelnen Sanktionsformen und Erledigungsarten sehr unterschiedlich verteilen. Sie sind mit knapp 80 % am höchsten nach der Verbüßung von Jugendstrafe und sind mit 40 % am geringsten, wenn das Verfahren auf dem Diversionsweg eingestellt wird. Diese Zahlen können für sich genommen nicht interpretiert werden, insbesondere können sie nicht als Beleg für die Effizienz – oder Ineffizienz – der jeweiligen Sanktions- und Erledigungsarten herangezogen werden. Da jede der genannten Reaktionsformen schon kraft Gesetzes an unterschiedliche Ausgangsbedingungen anknüpft, fehlt es für Aussagen über die präventive Effizienz an der Vergleichbarkeit der einzelnen Gruppen. Die mit der Sanktionsart korrelierenden Rückfallquoten kennzeichnen jedoch die kriminologische Ausgangslage, an die die weiteren Überlegungen zur Wirksamkeit der jugendstrafrechtlichen Sanktionen anknüpfen können.9

2. Täter-Opfer-Ausgleich In der Diskussion über die Frage, wie sinnvoll auf Jugendkriminalität, namentlich Jugendgewalt reagiert werden kann, spielt der Täter-Opfer-Ausgleich eine große Rolle. Indem der Täter-Opfer-Ausgleich nicht auf der abstrakten Ebene des Gesetzesverstoßes ansetzt, sondern das Tatgeschehen und die konkret spürbaren Folgen für das Opfer zum Thema macht, wählt er für die Reaktion einen Weg, der auf den ersten Blick gerade für jugendliche Gewalttäter besonders geeignet erscheint. Durch die Konfrontation mit dem Opferleid und die Notwendigkeit, sich mit den aus der Tat resultierenden Emotionen und Forderungen des Opfers auseinanderzusetzen, eröffnet er für den Täter die Möglichkeit, anhand des konkreten Falls die Sinnhaftigkeit der verletzten Normen zu ___________ 9 Jehle, in: Heinz/Jehle (Hrsg.), Rückfallforschung, 2004, S. 170; ders., in: Lösel/ Bender/Jehle (Hrsg.), Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik, 2007, S. 242 f.

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erkennen und diese Erkenntnis seinem weiteren Verhalten zugrunde zu legen. In dem Prozess der normativen Sozialisation, also des Hineinwachsens in die normativen Strukturen der Gesellschaft, kann der Täter-Opfer-Ausgleich damit ein wichtiges Element bilden; er kann Lernprozesse auslösen und damit dazu beitragen, dass sich der Jugendliche künftig straffrei führt.10 Tabelle 1 Legalbewährung nach Täter-Opfer-Ausgleich im Jugendstrafrecht Rückfall Autoren (SMS)

Maßnahme

UG (%)

N

KG (%)

N

Zeitraum (Monate)

Keudel 2000 (1)

TOA, Einstellung gem. §§ 45 ff. JGG; nur Jgdl.

42,0

157

Busse 2001 (3)

TOA gem. § 45 II JGG vs. formelle Sanktion; nur KV

56,0

91

81,7* 60

36

Dölling/Hartmann/ Traulsen 2002 (4)

Erfolgreicher TOA 62,4 vs. geeignete Fälle ohne Überweisung an TOA-Einrichtung

85

65,0

> 60

36

140

SMS: Scientific Method Score UG: Untersuchungsgruppe KG: Kontrollgruppe * : Signifikanzniveau p < 0,05.

Soweit die Theorie. Doch welche Ergebnisse haben jedoch die bislang durchgeführten Evaluationen erbracht? Die Befunde sind ernüchternd. Zur Legalbewährung nach Täter-Opfer-Ausgleich im Jugendstrafrecht liegen bislang drei Untersuchungen vor, von denen nur zwei ein wenigstens mittleres methodisches Qualitätsniveau aufweisen (Tab. 1). In der Untersuchung von Busse wurden Fälle, in denen das Verfahren nach einem erfolgreichen – freiwilligen – Täter-Opfer-Ausgleich nach § 45 Abs. 2 JGG eingestellt worden war, mit Fällen verglichen, in denen der Täter verurteilt und förmlich sanktioniert worden war. Die Unterschiede waren signifikant, und zwar auch dann, wenn man nur solche Täter miteinander verglich, die dieselbe Vorstrafenbelastung aufwiesen. Selbst Täter mit zwei oder mehr Voreintragungen im Erziehungsregister schnitten in der Legalbewährung nach einem Täter-Opfer-Ausgleich signifikant besser ab als nach der förmlichen Sanktionierung.11 Indes wird man kaum davon ausgehen dürfen, dass die beiden Gruppen wirklich miteinander vergleichbar ___________ 10 11

Rössner, in: Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, 2. Aufl., 2007, S. 129 f. Busse, Rückfalluntersuchung zum Täter-Opfer-Ausgleich, 2001, S. 154 ff.

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waren. So lässt sich bspw. feststellen, dass in der Gruppe der verurteilten Jugendlichen der Anteil der gefährlichen Körperverletzungen deutlich – wenn auch nicht signifikant – höher lag als in der Gruppe der Jugendlichen, die das Ausgleichsverfahren durchlaufen hatten12; angeklagt wurde also vor allem bei schwereren Delikten. Das schwache Design der Untersuchung von Busse schließt es deshalb aus, den Befunden eine allzu weitreichende Bedeutung beizumessen. Das Design der Studie von Dölling et al. war deutlich überlegen, denn hier wurden Fälle, in denen der Ausgleich erfolgreich durchgeführt worden war, mit Fällen verglichen, die zwar zur Einleitung eines Täter-Opfer-Ausgleichs geeignet gewesen wären, die von den Staatsanwaltschaften jedoch auf anderem Weg erledigt wurden. Die empirischen Befunde waren allerdings weniger günstig für den Täter-Opfer-Ausgleich als in der Untersuchung von Busse. Die von Dölling et al. in den beiden Gruppen ermittelten Rückfallquoten lagen sehr nah beieinander; von einer präventiven Überlegenheit des Täter-Opfer-Ausgleichs, soweit es den Anteil der Rückfälligen betrifft, konnte keine Rede sein. Signifikante Unterschiede zeigten sich lediglich in der Zahl der weiteren Auffälligkeiten: Während ein Jugendlicher aus der Vergleichsgruppe in der Folgezeit mit 2,1 weiteren Taten auffiel, lag der Durchschnittswert für die Jugendlichen in der Untersuchungsgruppe nur bei 1,4 weiteren Taten; dieser Unterschied war sehr signifikant.13 Man wird dem Täter-Opfer-Ausgleich sicherlich nicht gerecht, wenn man ihn nur unter dem Gesichtspunkt der Legalbewährung betrachtet. Beim TäterOpfer-Ausgleich geht es vor allem darum, die beiden unmittelbar am Tatgeschehen beteiligten Personen stärker in die Konfliktlösung einzubeziehen und ihnen in Grenzen einen autonomen Gestaltungsspielraum zuzubilligen. Insbesondere das Opfer soll hiervon profitieren; es soll sich mit seinen Interessen und Bedürfnissen gegenüber dem Täter artikulieren können und gestärkt aus dem Verfahren hervorgehen.14 Mit diesen Funktionen hat der Täter-OpferAusgleich einen eigenständigen Wert im strafrechtlichen Kontrollprozess, und zwar auch und gerade im Umgang mit den Folgen von Gewaltkriminalität. Betrachtet man den Täter-Opfer-Ausgleich jedoch allein unter dem Gesichtspunkt seines Nutzens für die Prävention, so wird man ihn bei der derzeitigen Befundlage kaum als Maßnahme ansehen dürfen, die nachweisbar „wirkt“. Nach den harten Kriterien des Maryland Reports wird der Täter-Opfer-Ausgleich wohl eher als „promising“ – „vielversprechend“ – einzustufen sein. Hinzuweisen ist freilich darauf, dass die Maßnahme im internationalen Raum z.T. günstiger be___________ 12 Busse (Fn. 10), S. 98 ff.; vgl. zur Kritik auch Heinz, in: Lösel/Bender/Jehle (Fn. 8), S. 502 f. 13 Dölling/Hartmann/Traulsen, MschrKrim 85 (2002), 189. 14 Bals, MschrKrim 89 (2006), 132.

Jugendstrafrechtliche Sanktionen

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urteilt wird. Eine 2006 vorgelegte Meta-Evaluation von 15 Studien zum Rückfall nach Täter-Opfer-Ausgleich im Jugendbereich gelangte zu dem Ergebnis, dass durch die Teilnahme am Ausgleichsverfahren die Rückfallquote aufs Ganze gesehen um beachtliche 34 % gesenkt werde.15

3. Anti-Aggressivitätstraining Einen ganz anderen Ansatzpunkt für die Prävention wählt das AntiAggressivitätstraining, das auch unter Namen wie Anti-Gewalt- oder Antagonistentraining bekannt geworden ist und das in unterschiedlichen Formen sowohl intramural16 als auch ambulant von der Jugendgerichtshilfe, der Bewährungshilfe oder freien Trägern eingesetzt wird. Zielgruppe sind die mehrfach auffälligen Gewalttäter. Beim Anti-Aggressivitätstraining wird der Täter von einem oder mehreren Trainern (den „Antagonisten“) über Monate hinweg immer wieder mit seinen Taten und deren Folgen konfrontiert. Nachdem die individuelle Gewaltbiographie und die individuellen gewaltauslösenden Faktoren erarbeitet worden sind, werden die Sichtweisen und Gewaltrechtfertigungen des Täters in Gruppensitzungen solange hinterfragt, bis der Täter die Tatfolgen anerkennt und Verantwortung für die Taten übernimmt. Im Mittelpunkt steht bei vielen Projekten der „heiße Stuhl“: Während einer 1- bis 2-stündigen tribunalartigen Sitzung wird der Täter von den Trainern und den anderen Gruppenmitgliedern eingekreist, provoziert und verbal an seinen individuellen Schwachstellen attackiert, um bei ihm Betroffenheit, Ekel und Abscheu vor den eigenen Taten auszulösen. Erreicht werden soll die Verbesserung der Empathie für die Opfer und die Verringerung des individuellen Aggressionsniveaus; der Täter soll lernen, dass der Verzicht auf Gewalt nicht ein Zeichen von Feigheit und Schwäche, sondern Ausdruck von Souveränität und Stärke ist. Das Konzept wurzelt in den nordamerikanischen Glen Mills Schools.17 Der konfrontative Ansatz ist in Deutschland umstritten18 und wird auch in rechtlicher Hinsicht nicht als unproblematisch angesehen.19

___________ 15

Bradshaw/Roseborough/Umbreit, Conflict Resolution Quarterly 24 (2006), 87 ff. Übersicht bei Bosold/Prasse/Lauterbach, ZJJ 2006, 27 ff. 17 Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Die Glen Mills School, 2002. 18 Kritisch Walter, ZfStrVo 1999, 23 ff.; Plewig ZJJ 2007, 363 ff. 19 Hein, Rechtliche Grenzen von Anti-Aggressivitäts-Trainings, 2007. 16

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Bernd-Dieter Meier Tabelle 2 Legalbewährung nach Anti-Aggressivitäts-Training im Jugendstrafrecht Rückfall

Autoren (SMS)

Maßnahme

UG

N

KG

N

Zeitraum (Monate)

37,0 (%, nur Gewalt)

73

34,2 (%, nur Gewalt)

73

< 12 bis >144

0,79 Rau 2006 (2) Ambulantes AAT vs. ande- (aM Delikte/ Jahr) re Form der Sanktionierung (STK, Arrest)

25

1,04 (aM Delikte/ Jahr)

19

> 12 bis 77

Ohlemacher Intramurales u.a. 2001 (4) AAT vs. andere Form der intramuralen Behandlung

SMS: Scientific Method Score UG: Untersuchungsgruppe KG: Kontrollgruppe aM: arithmetisches Mittel.

Obwohl Anti-Aggressivitäts-Trainings in den deutschen Haftanstalten seit mehr als 20 Jahren praktiziert werden, liegen zur kriminalpräventiven Wirksamkeit bislang erst zwei Evaluationen vor (Tab. 2). In der Untersuchung von Ohlemacher et al. wurde das Anti-Aggressivitätstraining in der Jugendanstalt Hameln evaluiert, derjenigen Anstalt, in der das Training seit 1987 durchgeführt wird und die in diesem Bereich über die größte Erfahrung verfügt. Verglichen wurde die Legalbewährung von 73 Trainingsabsolventen mit der Legalbewährung von 73 „statistischen Zwillingen“, die während einer vergleichbaren Zeit in Hameln wegen eines Gewaltdelikts eingesessen und andere Behandlungsmaßnahmen erhalten hatten (Sozialtherapie, Gesprächskreis „Tötungsdelikte“). Die Rückfallrate war in beiden Gruppen nahezu identisch: In der Gruppe der Trainingsabsolventen wurden innerhalb des Beobachtungszeitraums 37,0 % mit einem Gewaltdelikt rückfällig; in der Kontrollgruppe waren es 34,2 %. Der Unterschied, der nicht signifikant war, deutete also auf ein sogar noch etwas besseres Abschneiden der Kontrollgruppe hin. Lediglich im Hinblick auf die Rückfallintensität zeigten sich Unterschiede zugunsten des AntiAggressivitätstrainings: In der Untersuchungsgruppe wurde der Täter seltener mit einem schwereren Delikt rückfällig als in der Kontrollgruppe. Allerdings waren die Unterschiede auch insoweit nicht signifikant. In der methodisch schwächeren Studie von Rau wurde die Wirksamkeit von ambulanten Trainingsmaßnahmen evaluiert, die von der Bewährungshilfe oder der Jugendgerichtshilfe durchgeführt worden waren. Die Kontrollgruppe wurde aus Probanden gebildet, die für das Anti-Aggressivitätstraining zwar geeignet

Jugendstrafrechtliche Sanktionen

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gewesen wären, die aus Kapazitätsgründen jedoch zurückgewiesen wurden. Bei ihnen wurden in der Regel andere Rechtsfolgen verhängt, die z.T. ebenfalls mit einer Behandlung verbunden waren (z.B. in Form eines als Weisung angeordneten sozialen Trainingskurses). Die in den beiden Gruppen beobachteten Rückfallquoten wurden von Rau nicht mitgeteilt. Angegeben wurde jedoch, dass in der Untersuchungsgruppe nach der Maßnahme jährlich im Durchschnitt nur noch weitere 0,79 Straftaten erfolgten, in der Kontrollgruppe hingegen 1,04 Straftaten; der Unterschied war nicht signifikant. Der kriminalpräventive Nutzen des Anti-Aggressivitätstrainings ist nach alledem wissenschaftlich nicht erwiesen. Obwohl die Maßnahme weit verbreitet ist und sich mit ihrem „delikts- und defizitspezifischen Ansatz“ explizit darum bemüht, an die individuellen Ursachen des Gewalthandelns anzuknüpfen, ist sie nach den harten Kriterien des Maryland Reports „ohne Effekt“. Die Gründe hierfür liegen weitgehend im Dunkeln. Möglicherweise geht die Nichtnachweisbarkeit signifikanter Effekte darauf zurück, dass in beiden Untersuchungen auch die jeweiligen Kontrollgruppen spezialpräventiv wirksame Behandlungsmaßnahmen erhalten hatten, so dass zwei gleichermaßen wirksame Behandlungsansätze miteinander verglichen wurden. Möglicherweise lässt sich aber auch die Zielgruppe der mehrfach auffälligen Gewalttäter allein mit Grenzziehung und Konfrontation nicht erreichen; vielleicht bedarf es gerade bei dieser Zielgruppe auch einer Arbeit an den erkennbaren Risikofaktoren für die Gewalttätigkeit und einer Stärkung der individuellen prosozialen Handlungskompetenz. Soweit es die US-amerikanischen Glen Mills Schools betrifft, in deren Tradition die Anti-Aggressivitätstrainings stehen, sind diese bislang noch nicht methodisch ausreichend evaluiert worden. Ein pauschaler Vergleich mit den Rückfallquoten nach deutschem Jugendvollzug zeigt jedoch keine Überlegenheit der Glen Mills Schools.20

4. Erziehungslager, Boot Camps Als Anfang des Jahres 2008 im Zusammenhang mit dem ersten hessischen Wahlkampf in der breiteren Öffentlichkeit über mögliche Maßnahmen gegen Jugendgewalt diskutiert wurde, wurde in den Medien, gelegentlich aber auch von Politikern, auf das in Nordhessen angesiedelte Erziehungslager des früheren Boxers Kannenberg verwiesen.21 Grundidee des Lagers, das Kannenberg selbst als „Trainingscamp“ bezeichnet, ist es, straffällig gewordene Jugendliche während der Aufenthaltsdauer von 6 Monaten durch einen eng strukturierten ___________ 20 21

Walter, in: Deutsches Jugendinstitut (Fn. 17), 59 ff. von Wolffersdorff, ZJJ 2008, 76.

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Tagesablauf und viel Sport zu einem Leben ohne Straftaten zu bringen.22 Wissenschaftliche Beschreibungen des Projekts liegen nicht vor. Nach der im Internet verfügbaren Konzeption ist der Tagesablauf gefüllt mit zahlreichen Sporteinheiten (u.a. 6.00 bis 6.30 Uhr Frühsport, 11.30 bis 12.00 Uhr 500 Liegestütze, ab 14.00 Uhr 10 km-Lauf, ab 21.00 Uhr Nachtlauf), einem zweistündigen „Ü-Training“, dessen Bedeutung unklar bleibt, sowie einem einstündigen „Respekttraining“, in dem ein respektvollerer Umgang in der Gruppe sowie gegenüber den „Respekttrainern“ eingeübt wird. Eine schulische Betreuung (Schulpflicht?), Arbeit, Aus- oder Weiterbildung sind nicht vorgesehen; über sonstige Formen der individualtherapeutischen Behandlung oder der sozialen Hilfe werden keine klaren Aussagen gemacht. Zu den „Grundregeln“ der Einrichtung gehört, dass der eng strukturierte Tagesablauf „strikt eingehalten“ wird. Bei Regelverletzungen wird die ganze Gruppe in die Pflicht genommen („Fehlt ein Jugendlicher oder kommt er zu spät, absolviert die ganze Gruppe ein kurzes Training [Laufen, Liegestütze, Kniebeuge etc.].“) Kannenberg ist nach Medienberichten von dem Erfolg seiner Maßnahme überzeugt; 80 % seiner Probanden sollen nicht wieder rückfällig werden. 2005 wurde Kannenberg mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes geehrt. Nach den bisherigen Ausführungen liegt auf der Hand, dass es allein mit der Behauptung der Wirksamkeit eines Projekts nicht getan ist; das Projekt muss evaluiert und die Wirksamkeit nachgewiesen werden. Eine Evaluation des nordhessischen „Trainingscamps“ ist zwar angedacht, bislang aber noch nicht erfolgt. Bis auf Weiteres fällt das Projekt in der Sprache des Maryland Reports deshalb in die Kategorie „unknown“. Aus den USA ist freilich eine Maßnahme bekannt, die dem nordhessischen Erziehungslager ähnelt und die bereits mehrfach evaluiert worden ist. Die Rede ist von boot camps, in denen die Jugendlichen während der Dauer von 3 bis 4 Monaten militärischem Drill unterworfen werden. Der 16-stündige Tagesablauf ist von militärischem Reglement geprägt und sieht für die Jugendlichen so gut wie keine Freizeit vor. Die Jugendlichen sind dauerhaft der Konfrontation durch ihren Vorgesetzen (drill instructor) ausgesetzt, sie werden schikaniert, beschimpft und entwürdigt. So wird ihnen bspw. nach ihrer Aufnahme ins Lager unter andauernden Beschimpfungen eine Stunde lang die zentrale Regel des Camps ins Gesicht geschrieen „I will obey all orders quickly, willingly and without question“, wobei bemerkenswert ist, dass der Gesetzgeber zum Schutz der Trommelfelle einen Mindestabstand von 4 Inch (= 10,15 cm) vorgeschrieben hat.23 Vor allem aber werden die Jugendlichen extremer körperlicher Belastung ausgesetzt. Ebenso wie im nordhessischen Erziehungslager gilt bei alle___________ 22 23

http://www.durchboxen.de/. Gescher, DVJJ-Journal 2000, 23.

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dem auch in boot camps die Regel, dass für individuelles Fehlverhalten die Gruppe bestraft wird („somebody plays, everybody pays“24). Die empirischen Befunde ergeben zunächst kein klares Bild. Zwar gibt es nach der Sekundäranalyse von MacKenzie Studien, nach denen die Rückfallquote durch die Maßnahme verringert werden konnte. Aber es gibt auch Studien, in denen das boot camp zu höheren Rückfallquoten geführt hatte; der boot camp-Aufenthalt hatte also negative Auswirkungen gezeigt, er hatte „geschadet“.25 Die genauere Analyse zeigt indes, dass die Maßnahmen, die unter der Oberbezeichnung des „boot camps“ laufen, keineswegs eine einheitliche Struktur aufweisen. Die Rückfallquote ist augenscheinlich dann geringer, wenn die Jugendlichen während ihres Aufenthalts im boot camp nicht nur militärischem Drill unterworfen, sondern auch in sozialtherapeutische Trainingsmaßnahmen eingebunden werden – so jedenfalls das Ergebnis einer Studie in zwei englischen boot camps, die insgesamt weniger militaristisch ausgerichtet zu sein scheinen als ihre nordamerikanischen Pendants.26 Auch gibt es Hinweise darauf, dass die psychosoziale Nachbetreuung der Jugendlichen eine Rolle spielt; boot-camp-Programme mit einer solchen Nachbetreuung schneiden besser ab als solche ohne.27 MacKenzie gelangte vor diesem Hintergrund zu dem Schluss, dass allein das militärische Setting bei den Jugendlichen nicht zu einer Verhaltensänderung führe; präventiv sei es für sich genommen unwirksam.28 Überträgt man diese Einschätzung – bei allen Vorbehalten – auf das „Trainingscamp“ in Nordhessen, wird man auch hier zu der Bewertung gelangen können, dass es allein mit Drill und körperlicher Anstrengung wohl nicht getan ist; wirksame Kriminalprävention setzt allem Anschein nach mehr voraus, wobei in erster Linie an ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Eingehen auf die Jugendlichen und ihre individuellen Problemlagen zu denken ist.

5. Wirksame Behandlungsmaßnahmen Es ist keineswegs so, dass jugendliche Straftäter ihr Verhalten nicht ändern könnten und dass die im Zusammenhang mit einer Verurteilung erfolgende Sanktionierung hierauf keinen Einfluss nehmen könnte; der vor einer Generation noch populäre Gedanke des „nothing works“ ist heute widerlegt. Die nordamerikanische Forschung zeigt, dass es auch und gerade für den Umgang mit ___________ 24

Polsky/Fast, Child & Youth Care Forum 22 (1993), 405. MacKenzie (Fn. 5), S. 288 ff. 26 Farrington et al., Evaluation of two intensive regimes for young offenders, 2002. 27 Wells/Minor/Angel/Stearman, Youth Violence and Juvenile Justice 4 (2006), S. 219 ff. 28 MacKenzie (Fn. 5), S. 296. 25

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schwierigen, vielfach auffälligen Jugendlichen Behandlungsmaßnahmen gibt, die selbst bei Zugrundlegen harter Kriterien als „wirksam“ einzustufen sind. MacKenzie nennt als Beispiel hierfür die „multisystemische Therapie“, die in den USA offenbar weit verbreitet ist, für die es in Deutschland aber keine Anwendungsbeispiele gibt.29 Der Grundgedanke besteht darin, den straffälligen Jugendlichen nicht isoliert, sondern in seiner Eingebundenheit in ein soziales Netzwerk wahrzunehmen, in der Eingebundenheit in Familie, Freunde, Schule und Nachbarschaft. Die multisystemische Therapie geht davon aus, dass sich die Verhaltensprobleme des Jugendlichen in allen diesen Bereichen entwickeln können und Behandlungsmaßnahmen deshalb das gesamte Netzwerk des Jugendlichen einbeziehen müssen. Die Maßnahmen, die in Deutschland wohl unter den Begriff der „intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung“ i.S. des § 35 SGB VIII zu subsumieren wären, richten sich deshalb nicht nur an den Jugendlichen, sondern auch an die Eltern, Geschwister, Lehrer und Nachbarn, die bei auftretenden Problemen beraten und im Interesse des Jugendlichen unterstützt werden. Die multisystemische Therapie ist in den USA in zahlreichen Studien, die den höchsten methodischen Standards genügen, positiv evaluiert worden. Dass die multisystemische Therapie im Vergleich zu anderen Maßnahmen so positiv abschneidet, kann nicht überraschen. Auch bei der Prävention von Gewalt an Schulen haben sich bspw. Mehr-Ebenen-Konzepte bewährt, bei denen Mitschüler, Lehrer und Eltern in die Intervention eingebunden werden.30 Augenscheinlich liegt hierin ein allgemeines Prinzip: Um präventiv wirksam zu sein, scheint es nicht zu genügen, dass mit der Maßnahme allein an die Person des Täters angeknüpft wird; vielmehr muss offenbar auch das Umfeld in die Präventionsbemühungen einbezogen werden. Wenn dies aber so ist – die Frage, ob es so ist, sei hier ausdrücklich offen gelassen –, dann scheinen hier freilich auch Grenzen auf, die sich bei Interventionen im Kontext von Strafverfahren nur schwer überwinden lassen: Das Grundkonzept des Strafrechts ist es, das geschehene Unrecht individuell zuzurechnen und für die Folgen der Tat allein den Täter in die Pflicht zu nehmen. Schon Maßnahmen wie der Täter-OpferAusgleich sprengen dieses Konzept und können deshalb von Rechts wegen nur dann durchgeführt werden, wenn das Opfer hiermit einverstanden ist. Wenn mit der Maßnahme aber noch darüber hinausgegriffen und das gesamte Umfeld des Täters in die Maßnahme einbezogen wird, dann wird der strafrechtliche Charakter der Maßnahme verwischt und es besteht trotz der zu vermutenden präventiven Effektivität die Gefahr des Akzeptanzverlusts für die Sanktion. Vielleicht mag hierin der Grund dafür liegen, warum die in den USA gepriesene ___________ 29

MacKenzie (Fn. 5), S. 174 ff.; vgl. hierzu auch Heekerens, ZJJ 2006, 113 ff. Bannenberg/Rössner/Kempfer, ZJJ 2004, 159 ff. unter Bezugnahme auf Wilson/ Gottfredson/Najaka, Journal of Quantitative Criminology 17 (2001), 247 ff. 30

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multisystemische Therapie in Deutschland im strafrechtlichen Kontext unbekannt ist. Dies bedeutet nicht, dass Maßnahmen der tertiären Prävention niemals wirksam sein und die Stufe des „Vielversprechend“ wie beim Täter-OpferAusgleich nicht überspringen könnten. Die nordamerikanische Forschung zeigt, dass es im Kontext der strafrechtlichen Sanktionen weitere wirksame Maßnahmen gibt. Eine Meta-Analyse, die sich ausschließlich mit mehrfach auffälligen jugendlichen Straftätern beschäftigte und dabei zwischen ambulanten und stationären Sanktionen unterschied, gelangte zu klaren Befunden: Im Zusammenhang mit ambulanten Sanktionen waren vor allem solche Behandlungsmaßnahmen erfolgreich, die auf die individuelle Beratung und Betreuung der Jugendlichen, auf die Vermittlung von sozialen Kompetenzen oder auf verhaltensbezogene Trainingsprogramme setzten; im Zusammenhang mit stationären Sanktionen schnitten vor allem solche Programme gut ab, in denen es um die Vermittlung sozialer Kompetenzen und um die Stärkung der Eltern ging.31 Wiedergutmachungsmaßnahmen hatten – ganz in Übereinstimmung mit der oben vorgenommenen Einschätzung als „promising“ – weniger deutlich nachgewiesene positive Wirkungen. Programme hingegen, in denen es um Abschreckung oder allein um die Vermittlung beruflicher Fähigkeiten ging, waren nicht nur wirkungslos, sondern schnitten sogar noch schlechter ab als die in den jeweiligen Kontrollgruppen angewandten Maßnahmen, sie hatten einen negativen Effekt. Verallgemeinernd und auf die im Strafrecht diskutierten Zwecksetzungen bezogen kann man auch sagen: Präventiv gelangen Resozialisierungsmaßnahmen mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen zu nachweisbar besseren Ergebnissen als auf Abschreckung der Jugendlichen setzende Strategien, oder noch etwas allgemeiner ausgedrückt: Die positive Spezialprävention wirkt nachweisbar besser als die negative Spezialprävention.

III. Schlussbemerkung Der richtige Umgang mit straffällig gewordenen Jugendlichen stellt hohe Anforderungen. Selbst wenn eine Behandlungsmaßnahme ausgewählt wird, die sich in der empirischen Forschung bewährt hat, also eine Maßnahme, von der aus kriminologischer Sicht gesagt werden kann, dass sie „wirkt“, ist der Erfolg für die Prävention damit noch nicht garantiert. Die kriminologischwissenschaftliche Herangehensweise an die Unterscheidung von wirksamen, unwirksamen und kontraproduktiven, geradezu schädlichen Interventionen, bezieht sich immer nur auf die Unterschiede, die nach einer Maßnahme zwischen ___________ 31 Lipsey/Wilson, in: Loeber/Farrington (Hrsg.), Serious & Violent Juvenile Offenders, 1998, S. 329 ff., 332; vgl. auch MacKenzie (Fn. 5), S. 171 ff.

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Untersuchungs- und Kontrollgruppe beobachtet werden können. Je größer die Unterschiede sind und je sicherer sie festgestellt werden können, desto positiver fällt die Einschätzung zur Wirksamkeit aus. Maßnahmen jedoch, mit denen sich der Rückfall gänzlich ausschließen lassen könnte, gibt es nicht; sie bleiben eine Wunschvorstellung. Dies gilt insbesondere im Bereich der Jugendkriminalität. Straffälligkeit und Rückfall sind altersbezogene Erscheinungen, die ihren Schwerpunkt in der Phase der Adoleszenz, also etwa zwischen dem 14. und 20. Lebensjahr haben; nach diesem Zeitpunkt gehen die strafrechtlichen Auffälligkeiten und auch der Rückfall ganz unabhängig von den jeweils verhängten Sanktionen zurück. Entscheidend ist deshalb, dass auch bei wiederholter und schwerer Kriminalität der Blick auf das Alter und den Entwicklungsstand des Jugendlichen nicht verloren geht und nur solche Maßnahmen ergriffen werden, von denen man mit einer gewissen Berechtigung sagen kann, dass sie die Wahrscheinlichkeit weiterer Taten verringern. In der Entscheidung zum Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für den Jugendstrafvollzug vom 31.5.2006 hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich angemahnt, die Entscheidungen der Justiz am Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu orientieren.32

___________ 32

BVerfGE 116, 69 (90).

Internationale Verbrechen und Grundsätze des Strafrechts* Von Vincenzo Militello 1. In dem neuen „Rechtsraum“ um das internationale Strafrecht herum bildet das Verhältnis zwischen den jeweiligen Verbrechen und den strafrechtlichen Grundsätzen einen wichtigen Schwerpunkt bei der nicht einfachen Suche nach dem Gleichgewicht zwischen grundlegenden Garantien und Schutz der betroffenen Primärgüter. In der Tat taucht die Kategorie der internationalen Verbrechen in den ersten Entscheidungen der internationalen Gerichte nur durch einen Bruch der strafrechtlichen Grundsätze wie dem des Rückwirkungsverbots auf1; die folgende Entwicklung zeigt jedoch eine Tendenz zur Wiederherstellung der Vorherrschaft dieser Grundsätze über die von der internationalen Gemeinschaft empfundene Notwendigkeit, die schwersten Verletzungen unter Strafe zu stellen. Mit dem „Erwachsenwerden“ des internationalen Strafrechts durch das Rom-Statut wird dieses Verhältnis eindeutiger bestimmt und verbindlicher insofern, als es auf normativer Ebene sowohl im Hinblick auf den entsprechenden Rahmen als auch auf die möglichen Inhalte formalisiert wurde. Heute nämlich verortet sich diese Relation zwischen den core crimes Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen (Art. 6, 7 und 8) und den „allgemeinen Grundsätzen des Strafrechts“, wie sie im dritten Teil des Statuts (Art. 22-23) analytisch festgelegt sind. Die jeweiligen Inhalte nähern sich nicht so sehr den vorherigen internationalen Quellen an – welche immerhin analoge, wenn auch fragmentarische und oft wenig bestimmte Normen enthalten2 – als vielmehr den traditionellen allgemei___________ * Übersetzung aus dem Italienischen: Jutta Hohe; Redaktion:Vincenzo Militello und Thomas Richter. 1 Der derogatorische Charakter im Vergleich zu den strafrechtlichen Grundsätzen, insbesondere zu dem des Rückwirkungsverbots, ergab sich als den Begriff des internationalen Verbrechens qualifizierendes Merkmal: Sperduti, Crimini internazionali, in: Enciclopedia del Diritto, Bd. XI, 1962, S. 341. 2 Hier sei nur auf den Grundsatz „nullum crimen sine lege“ laut Art. 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention verwiesen, der zugegebenermaßen auch das ungeschriebene Recht legitimiert und einen allgemeinen Verweis auf das Völkerrecht als legitime Quelle der strafrechtlichen Materie enthält: vgl. Bernardi, Nessuna pena senza legge (art. 7), in: Bartole/Conforti/Raimondi (Hrsg.), Commentario alla Convenzione Europea per la tutela dei diritti dell’uomo e delle libertà fondamentali, 2001, S. 251 f.,

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nen Teilen der modernen Strafrechtssysteme, welche in kodifizierten Rechtsordnungen sicherlich ausführlicher dargelegt3, durchaus aber auch im sog. Common Law bekannt sind. Unabhängig vom Gelingen eines solch faszinierenden Experiments für die Strafrechtsvergleichung4 scheint ein Punkt unwiderlegbar zu sein: In den Art. 22-23 des Statuts haben die Grundsätze des internationalen Strafrechts endlich zu einer positiven, eigenständigen Dimension gefunden, weit entfernt auch von dem weitestgehenden Verweis auf die Rechtsgrundsätze im traditionellen Völkerrecht; da diese auf eine spezifische positive Dimension nicht beschränkt sind, besteht die Gefahr, dass sie einen gewissermaßen naturrechtlichen Wert beibehalten.5 Die Bezugnahme auf die allgemeinen Teile der nationalen Strafrechtssysteme ist aber bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen internationalen Verbrechen und strafrechtlichen Grundsätzen nicht gleichbedeutend mit einer Art Projektion der seit langem schon in den Strafrechtssystemen des Civil Law verankerten Beziehung zwischen den einzelnen Deliktsbeschreibungen (Besonderer Teil) und den für alle Delikte gemeinsam geltenden Regeln (Allgemeiner Teil) auf die internationale Ebene. ___________ S. 267 f. Hinsichtlich der „Kürze“ und Lückenhaftigkeit der allgemeinen Teile innerhalb der Statuten der strafrechtlichen Ad-hoc-Gerichte seit Nürnberg s. Bassiouni, Introduction to International Criminal Law, 2003, S. 259; ders., Diritto penale internazionale, in: Enciclopedia del Diritto Annali, Bd. I, 2007, S. 500. Im Übrigen existierte schon seit längerem die Notwendigkeit, die allgemeinen Grundsätze zu ordnen: z. B. überschrieb der “Draft Code of Crimes Against the Peace and Security of Mankind” aus dem Jahre 1991 das zweite Kapitel des 1. Teils mit „General Principles“, obgleich Struktur und Inhalt noch weitgehend unbefriedigend waren (vgl. Wise, The Structure of the Draft Code, und Van den Wyngaert, The Structure of the Draft Code and the General Part, jeweils in: Bassiouni (Hrsg.), Commentaries on the International Law Commission’s 1991 Draft Code of Crimes Against the Peace and Security of Mankind, 1993, S. 35 f. und S. 53 f. 3 Zur Unterscheidung zwischen allgemeinem und besonderem Teil des Strafrechts auch hinsichtlich der Gesetzlichkeit und ihrer Erfordernisse im Römischen Statut vgl. z. B. Mantovani, Sui principi generali del diritto internazionale penale, in: Riv. it. dir. proc. pen. 2003, 43; s. auch Weigend, FS Roxin, 2001, S. 1377. 4 Schabas, An Introduction to the International Criminal Court, 2. Aufl. 2004, S. 91, der hier Elemente aus den Systemen des common law, des römisch-germanischen Rechts, der Sharia und anderen strafrechtlichen Systemen sieht. 5 Siehe hierzu auf historischer Ebene Bobbio, Principi generali del diritto, in: Novis.Dig.it., Bd. XIII, 1969, S. 892. Kürzlich, im Sinne der Möglichkeit, die Grundsätze des internationalen Rechts auch aus Dokumenten des sog. soft-law bspw. im Hinblick auf die Menschenrechte vgl. Ambos, Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts. Ansätze einer Dogmatisierung, 2002, S. 23. Zum Raum der allgemeinen Rechtsgrundsätze innerhalb des derzeitigen allgemeinen internationalen Strafrechts vgl. Art. 38 Abf. 1 c) des Statuts des Internationalen Gerichtshofes, auf den auch Art. 21 des Römischen Statuts mit integrativer Funktion Bezug nimmt: Von einer mittlerweile marginal gewordenen Funktion spricht Schabas (Fn. 4), S. 73; von einem letzten Ausweg (extrema ratio) Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 32.

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Einerseits erschöpft keine dieser letztgenannten Bestimmungen zur Begründung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit die normative Breite der strafrechtlichen Grundsätze allgemeinen Charakters, welche die wesentlichen Züge eines bestimmten Strafrechtssystems kennzeichnen.6 Andererseits sind diese Grundsätze selbst nicht nur in der Minderzahl gegenüber den Regeln des allgemeinen Teils, die sich auch in den einfachsten kodifizierten Strafrechtssystemen finden, sondern sie drücken auch Grundnotwendigkeiten aus, die das gesamte System durchdringen und demnach auch den speziellen Teil der Beschreibung der einzelnen Verbrechen betreffen. Auch kann nicht übersehen werden, dass der für ein nationales Strafrechtssystem grundlegende Charakter der Grundsätze dazu führt, dass ihnen in vielen der heutigen Rechtsordnungen ein verfassungsmäßiger Wert beigemessen und ihre Vorherrschaft im Falle eines Konflikts mit den „einfachen“ gesetzlichen Normen sichergestellt wird. Dieser unterschiedliche Status ist sicherlich im Hinblick auf die im dritten Teil des Rom-Statuts spezifizierten Grundsätze nicht anzutreffen, für welche keinerlei erschwertes Vorgehen im Vergleich zu den Änderungen anderer Normen desselben Textes vorgesehen ist (Art. 121123). Die im allgemeinen Teil behandelten traditionellen Schwerpunkte können jedenfalls hilfreich sein, um im dritten Teil des Statuts jene Grundsätze über das Rechtsgüterschutzsystem des aktuellen internationalen Strafrechts herauszufinden. So kann der methodologische Irrtum vermieden werden, demzufolge man bezüglich der wesentlichen Profile der internationalen strafrechtlichen Verantwortlichkeit von spezifischen Dogmatiken ausgeht, mit allen daraus resultierenden Unsicherheiten im Hinblick auf das anzuwendende Modell.7 Stattdessen können die strafrechtlichen Merkmale des Rom-Statuts durch das Vergrößerungsglas der strafrechtlichen Grundsätze betrachtet werden; insbesondere vier grundlegende Prinzipien treten hier auf: Personalität, Schuld, Gesetzlichkeit und Rechtsgüterschutz (oder auch „offensività“, „harm principle“). Im Folgenden werde ich mich zunächst besonders mit dem ersteren Prinzip beschäftigen, da es für die gesamte Verlaufsgeschichte des internationalen ___________ 6 Nicht überzeugend ist also die Gleichsetzung zwischen Regeln und Grundsätzen des Strafrechts, wie sie – auch wenn nur auf terminologischer Ebene (allgemeine Regeln des Strafrechts/General Principles of Criminal Law) von Ambos (Fn. 5), S. 54 angewandt wird. 7 Die gleichzeitige Präsenz von differenzierten Verbrechenstheorien schon innerhalb einer einzigen nationalen Rechtsordnung macht die Auswahl äußerst schwierig, zumindest, wenn der ontologisierende Ansatz nicht akzeptiert wird, welcher nur eine einzige Verbrechenstheorie für exakt hält und alle anderen in das Reich des Irrtums verweist (dieser Gedanke wird von Hirsch in zahlreichen Beiträgen vertreten, z. B. besonders entschieden in: Gibt es eine national unabhängige Strafrechtswissenschaft?, FS Spendel,1992, S. 43).

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Strafrechts bedeutungsvoll ist (s. u. 2.-6.); sodann nehme ich auf den Grundsatz der Schuld Bezug, der das Verhältnis zwischen individueller Selbstbestimmung und strafrechtlicher Verantwortung hervorhebt (s. u. 7.). Von hier aus wird eine Verbindung mit der Gesetzlichkeit hergestellt, jenes grundlegenden Erfordernisses jedweder modernen strafrechtlichen Dimension (s. u. 8.), während der Rechtsgüterschutz, als Synthese des Wertehorizonts, in dem sich das internationale Strafrecht bewegt, den Abschluss bildet (s. u. 9.). Ein Ansatz, der, auch wenn er sicherlich nicht die gesamte Komplexität eines solch neuen normativen Systems erfassen kann, doch immerhin einen Zugangsschlüssel und eine Orientierungshilfe darstellen mag; eine entsprechende Entscheidung zwecks Einführung des deutschsprachigen Beobachters in das italienische Strafrechtssystem hat kürzlich Manfred Maiwald getroffen8: ihm sei der vorliegende Beitrag9 in aufrichtiger Dankbarkeit gewidmet. 2. Unter den allgemeinen Grundsätzen des dritten Teils des Statuts kommt – sowohl aus historischen Gründen als auch im Hinblick auf das gegenwärtige Bild der Materie – dem Prinzip der Personalität der internationalen strafrechtlichen Verantwortlichkeit besondere Bedeutung zu. Es ist niedergelegt in Art. 25 des Statuts, der übrigens mit „Individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit“ überschrieben ist, obgleich in den ersten beiden Absätzen der Norm bereits ausdrücklich auf den prägnanteren Begriff der „Person“ verwiesen wird. Jenseits der ausgewählten Terminologie stellt die Behauptung des ernannten Grundsatzes keine wirkliche Innovation innerhalb des Statuts dar: Seit den Zeiten des Nürnberger International Military Tribunal bezieht sich das moderne internationale Strafrecht auf die Einzelperson jenseits der jeweiligen kollektiven Organismen wie der Staaten. In jener älteren Jurisprudenz diente dieser Verweis der Ausweitung der Verantwortlichkeit: insbesondere erlaubte er ein Hinausgehen über die militärische Niederlage des nationalsozialistischen Staates, um die einzelnen Verantwortlichen für die schweren Verbrechen zu finden, da es allzu abstrakt erschien und letztendlich unproduktiv war, sie der gesamten staatlichen Gemeinschaft zuzurechnen. So wurden die Grundlagen für die Verbindung zum Strafrecht gelegt: Hier führte das vorrangige Ziel, die Bürger zum ___________ 8 Als krönenden Abschluss eines Vergleichs mit dem italienischen System über 40 Jahre hinweg s. Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, S. 37 f., wo unter den „Grundprinzipien des italienischen Strafrechts“ auch die der Gesetzlichkeit (mit den jeweiligen Spezifikationen des Bestimmtheitsgebotes und des Rückwirkungsverbotes) und der „Offensività“ (Rechtsgüterschutz) betrachtet worden sind. 9 Die Arbeit beschäftigt sich mit einem Thema, das bereits Gegenstand einiger meiner Vorträge am ISISC von Syrakus und der Universität Florenz war. Eine frühere und kürzere Version erschien in englischer Sprache (The Personal Nature of “Individual Criminal Responsibility” and the ICC Statute, in: Journal of International Criminal Justice 2007, S. 941 f.).

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Schutz einiger gesellschaftlich relevanter Güter und Werte hin zu orientieren, seit langem schon dahin, die Verantwortlichkeit auf solche Taten zu beschränken, die zumindest in gewissem Maße vom zu bestrafenden Subjekt kontrolliert werden können. Das bedeutet aber nicht, dass der hier betrachtete Grundsatz die Verantwortlichkeit nur auf international relevante Straftaten beschränkt, die von einem Individuum als Einzelperson begangen werden. Das übliche Bild der hier betrachteten Verbrechen steht vielmehr im Zusammenhang mit organisierten Machtgruppen: Zwecks besserer Beschreibung wurde der Terminus der Makrokriminalität geprägt, der nicht nur die Schwere der Taten und die Breite der entsprechenden Konsequenzen ausdrückt, sondern auch die Komplexität der zusammenhängenden Organisationsstrukturen.10 Selbst in Art. 25 (obgleich dessen Titel auf die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit hinweist) werden nicht nur die seitens eines Einzelindividuums begangenen Straftaten vorgesehen, sondern im dritten Absatz auch deren verschiedene, von mehreren Subjekten begangene Formen geregelt. Vorzugswürdig erscheint es daher, den hier untersuchten Grundsatz nicht auf das Individuum (bei dem man an ein isoliertes Subjekt denken könnte), sondern auf die Person zu beziehen: ein Begriff, der einerseits auf numerischer Ebene neutraler, und andererseits bzgl. der von dem Verhältnis zwischen Subjekt und begangener Tat abgeleiteten Bedeutungen prägnanter ist. Von Personalität der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu sprechen, erleichtert außerdem die Verbindung zu dem noch allgemeineren Grundsatz der Selbstbestimmung, laut dessen jede/r für die von ihm/ihr vorgenommenen Verhaltensentscheidungen verantwortlich ist und nicht für solche, die in den Verantwortungsbereich anderer fallen. Die internationale Strafnorm würde jede Einflussmöglichkeit über das menschliche Verhalten vereiteln, wenn sie auf ein Subjekt angewandt würde, das in die begangenen Taten keinerlei eigenen, persönlichen Beitrag eingebracht hat oder sie nicht zumindest persönlich, also durch eine von ihm gewählten Verhaltensentscheidung, vermeiden konnte. ___________ 10

Es handelt sich um einen sehr weit gefassten Begriff: Einer seiner ersten Verwender – Jäger, Makrokriminalität, 1989, S. 11 – bezog ihn auf „die schweren Formen kollektiver Gewalt, deren Zerstörungspotential besonders gefährlich ist“ und fuhr mit Beispielen fort: „Verbrechen im Zusammenhang mit dem Krieg, Massen- und Völkermord, nukleare Zerstörungen, Formen des Totalitarismus, Terrorismus von Gruppen und Staaten, Verfolgung von Minderheiten, Religions- und Kulturkonflikte, Guerrillakämpfe, Revolutions- und Gegenrevolutionsbewegungen und akute massenpolitische Situationen“. Über die Schwierigkeiten, die ein solch gewöhnliches Gesicht der internationalen Verbrechen mit sich bringen kann vgl. z. B. Damaška, L’incerta identità delle Corti penali internazionali, in: Criminalia 2006, S.15; Maugeri, La responsabilità da comando nello Statuto della Corte penale internazionale, 2007, S. 2 f.; Manacorda, Imputazione collettiva e responsabilità personale, 2008, S. 21, 25 f., 42, 60 (mit spezifischem Verweis auf Jägers „Makrokriminalität“), 141.

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3. Die Arten persönlicher Beiträge zur Begehung eines internationalen Verbrechens, die Art. 25 Abs. 3 Rom-Statut analytisch vorsieht, scheinen jedoch auf drei grundlegende Positionen zurückzugehen: 1. als Täter, 2. als Teilnehmer zusammen mit einem oder mehreren Täter, 3. als Beteiligter bei der zumindest versuchten Begehung einer Straftat seitens einer durch ein gemeinsames Aktionsprogramm vereinten Gruppe von Personen. In der genannten Norm werden auch andere Verbrechensformen geregelt, aber diese Fälle sind nicht von der Anzahl der Teilnehmer abhängig. Die dafür relevanten Variablen betreffen daher nicht die Frage der Aufteilung der jeweiligen Bereiche strafrechtlicher Verantwortlichkeit, wo der Grundsatz der Personalität eine zentrale Rolle spielt. Das ist besonders klar in Bezug auf die Regeln über den Versuch eines Verbrechens und den entsprechenden Rücktritt (sub f), gilt aber auch für die Strafbarkeit der Anstiftung zum Völkermord (sub e). Insbesondere die Frage des Versuchs betrifft im Wesentlichen die Breite des strafrechtlich relevanten Bereichs, nicht im Hinblick auf die Anzahl der Subjekte, sondern vielmehr auf den Grad der jeweils betrachteten Rechtsgutsverletzung. Und das nicht nur, weil der Versuch jedes (und daher auch internationalen) Verbrechens selbstverständlich auch von einem einzelnen Täter begangen werden kann, sondern vor allem weil es um die Frage der Ausdehnung der Strafbarkeit bezüglich einer Verhaltensweise geht, welche zwar noch nicht die Verletzung des geschützten Gutes beinhaltet, dieses aber in Gefahr bringt. Auch die Tatsache, dass die Anstiftung zum Völkermord als eigenständiger Tatbestand vorgesehen ist, betrifft nicht das Problem der Aufteilung der Verantwortlichkeit unter mehreren Subjekten: eine solche besondere Bestimmung hat spezifische Relevanz nur dann, wenn das Verbrechen von dem angestifteten Subjekt nicht begangen worden ist, nicht einmal in der Form eines Versuchs, – sonst wäre der Anstifter bereits als Teilnehmer oder als Mitglied einer kriminellen Vereinigung zu bestrafen. Aus diesem Grunde wäre es angemessener, die Anstiftung zum Völkermord als besonderen Tatbestand vorzusehen, der also eher neben dem entsprechenden Verbrechen (Art. 5) denn als allgemeine Regel der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit gemäß Art. 25 zu verorten wäre. Jenseits dieser Einschränkungen der Reichweite des in Art. 25 Abs. 3 niedergelegten Grundsatzes bleibt die Aufzählung der in den ersten vier Unterpunkten vorgesehenen Subjekte doch sehr detailliert: Demnach ist strafrechtlich verantwortlich

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(Buchstabe a) – wer das Verbrechen selbst begeht, d. h. ohne dass eine in der Folge spezifizierte Person daran beteiligt wäre (Täter), – wer das Verbrechen zusammen mit einer anderen Person begeht (Mittäter), – wer das Verbrechen durch einen anderen begeht, d. h. sich seiner als Instrument zur Durchführung des Verbrechens bedient (mittelbarer Täter oder Täter hinter dem Täter) (Buchstabe b) – wer das vollendete oder versuchte Verbrechen anordnet (Anstifter innerhalb hierarchisch angelegter Strukturen), – wer einen anderen zum vollendeten oder versuchten Verbrechen auffordert oder anstiftet (Anstifter außerhalb hierarchischer Strukturen) (Buchstabe c) – wer bei vollendeter oder versuchter Begehung des Verbrechens Beihilfe oder sonstige Hilfe, einschließlich der Bereitstellung der Mittel, leistet (Gehilfe) (Buchstabe d) – wer auf irgendeine Weise zur Begehung oder versuchten Begehung des Verbrechens durch eine in gemeinsamer Absicht handelnde Gruppe von Personen beiträgt, wenn dieser Beitrag des einzelnen mit dem Ziel geleistet wird, das strafbare Handeln oder die strafbare Absicht der Gruppe zu fördern, oder zumindest in Kenntnis der strafbaren Absicht der Gruppe, geleistet wird. Die ersten sechs in Art. 25 Abs. 3 aufgezählten Fälle gehen grundsätzlich auf die beiden angesprochenen Positionen des Täters und des Teilnehmers zurück, auch wenn hier einige Präzisierungen nötig werden. Beispielsweise ist man ein Mittäter (Buchstabe a Nr. 2) nur in dem – sicherlich nicht häufig auftretenden – Fall, dass die Subjekte einen Beitrag leisten, der dem eines anderen entspricht, während normalerweise gerade die Besonderheiten der individuellen Beiträge die Position des Täters von jener der verschiedenen Teilnehmer unterscheiden. Zweitens ist die ausdrückliche Bestimmung der Figur des mittelbaren Täters gerechtfertigt, wenn das von ihm als Werkzeug benutzte Subjekt aus irgendeinem Grunde nicht verantwortlich ist; hierdurch kann vermieden werden, dass diese Lücke die Verantwortlichkeit desjenigen verhindert, der den anderen als Werkzeug zum Verbrechen benutzt hat: Art. 25 Abs. 3 a) sieht jedoch die Begehung des Verbrechens durch eine andere Person auch in den Fällen vor, in denen diese verantwortlich ist. So werden die Grenzen dieser Figur übermäßig

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ausgeweitet, umso mehr, als das Verhältnis zwischen diesem Fall und den Figuren des Täters oder des Teilnehmers nicht klar umrissen wird. Außerdem ist die – mit Ausnahme der Gleichsetzung in Art. 25 Abs. 3 b) – getrennte Begriffsbestimmung der Aufforderung und Anstiftung, um nicht als redundant angesehen zu werden11, dahingehend zu interpretieren, dass sich die erste Modalität auf Fälle von ausdrücklicher Anstiftung (in Wort oder Schrift) beschränkt, während sich die Anstiftung im engeren Sinne nur auf die Fälle bezieht, in denen die Einflussnahme auf den Willen eines anderen in impliziter und indirekter Form erfolgt. Die beiden Begriffe ihrerseits sind nicht notwendigerweise als in der gleich danach unter Buchstabe c) erwähnten Begünstigung (abetting) inbegriffen zu verstehen.12 Logischer scheint es, Aufforderung und Anstiftung wie in Buchstabe b) als Beiträge zu verstehen, in denen die kriminelle Absicht eines anderen herausgestrichen oder zumindest verstärkt wird, während sich die andere Begriffsbestimmung allein auf die Fälle beschränkt, in denen das Ziel der Begünstigung dort hinzukommt, wo der andere bereits seine kriminelle Absicht formuliert hat, welche dann mit Hilfe des Teilnehmers realisiert wird. 4. Die Entscheidung des Statuts für eine analytische Aufzählung der Konstellationen, die für die Teilnahme an internationalen Verbrechen strafrechtlich relevant sind, wurde hin und wieder als Konsequenz der Behauptung des sog. differenzierten Modells der Teilnahmelehre innerhalb der wichtigsten Strafrechtssysteme interpretiert; daher wurde die Schlussfolgerung gezogen, dass die supranationale Quelle des Statuts das – anders geartete – Einheitsmodell nicht annehmen könne, welches alle Beiträge zur Durchführung eines Verbrechens auf die gleiche Ebene stellt.13 In diesem Zusammenhang erscheint das erstere Modell auf komparatistischer Ebene sicherlich weit verbreitet (es findet sich z. B. in den Strafgesetzbüchern Deutschlands, Frankreichs, Spaniens, Portugals, Hollands, Kroatiens und der Schweiz), während das Einheitsmodell zur Regression tendiert (es ist noch präsent im österreichischen, norwegischen und italienischen StGB, wird hier aber zunehmend in den jüngeren StGB-Entwürfen durch das andere ersetzt). Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Unterscheidung zwischen den hier diskutierten Modellen nicht nur von der Beschreibung der verschiedenen Verhaltensweisen der Tatbeteiligung abhängt, sondern auch von der ihnen ___________ 11 Nach Ambos ist dagegen der Terminus „anstiften“ in der Tat weiter gefasst und umfasst demnach auch die Aufforderung [siehe Individual Criminal Responsability, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute, 1999, S. 480]. 12 Dies behauptet hingegen Schabas, General Principles of Criminal Law in the International Criminal Court Statute (Part III), in: European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 1998, S. 412; ders. (Fn. 4), S. 102. 13 In diesem Sinne Ambos (Fn. 11), S. 477.

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beigemessenen Relevanz im Hinblick entweder auf die jeweilige Strafbarkeit (weiter gesteckt für Täter und Anstifter, enger gefasst für die Mittäter) oder auf das Strafmaß, das bereits auf der normativen Ebene dem individuellen Beitrag zum Verbrechen Rechnung trägt. Darüber hinaus ist in den differenzierten Systemen die Verantwortlichkeit des Teilnehmers akzessorisch zu der des Täters; wo daher diese fehlt, kann es auch jene nicht geben. Nichts davon steht im Römischen Statut, das weder zwischen der Reichweite der Verantwortlichkeit zwischen den jeweiligen in Art. 25 Abs. 3 geregelten individuellen Beiträge unterscheidet, noch sie in ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis stellt, noch sie im Hinblick auf das jeweilige Strafmaß differenziert, sondern sich bei der Strafzumessung auf den allgemeinen Hinweis beschränkt, die „persönlichen Umstände des Täters“ zu berücksichtigen.14 Die analytischen Beschreibungen in Art. 25 Abs. 3 erscheinen demnach nicht so sehr als Rezeption des differenzierten Modells der Tatbeteiligung, etwa bzgl. einer größeren Nähe dieser Lösung zum Prinzip der Personalität der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Vielmehr scheint die Formulierung des genannten Art. 25 Abs 3 Ausdruck eines anderen grundlegenden Prinzips des Strafrechts zu sein, nämlich dem der Gesetzlichkeit, und der damit verbundenen Forderung nach einer genauen Beschreibung der strafrechtlich relevanten Tatbestände. 5. Der Grundsatz der Personalität der internationalen strafrechtlichen Verantwortlichkeit erfordert hingegen eine gesonderte Betrachtung der letzten in Art. 25 Abs. 3 enthaltenen Begriffsbestimmungen. Sie betrifft die Teilnahme an einem Verbrechen, das von einer in gemeinsamer Absicht handelnden Personengruppe begangen wurde. Solch ein Verhältnis zwischen dem Verbrechen und dem handelnden Subjekt geht über dasjenige zwischen Täter und Teilnehmer an einer Einzeltat hinaus. Es handelt sich nämlich um eine auf kriminologischer Ebene autonomen Konstellation, wo die Fälle, in denen mehrere Personen an einer einzelnen kriminellen Episode beteiligt sind, sich von denen unterscheiden, in denen ein fortdauernder Komplex krimineller Aktivitäten ins Werk gesetzt wird. Zudem gewinnt die Materie einerseits stetig an Bedeutung gegenüber den gegenwärtigen Erscheinungsformen der Kriminalität, wo organisierte Gruppen immer häufiger in der Lage sind, nationale Grenzen zu überwinden, andererseits erhält sie spezifische Relevanz im internationalen Strafrecht, das sich – wie bereits aufgezeigt – mit der Bekämpfung der „Makrokriminalität“ befasst, wo Organisationsstrukturen operieren, die teilweise bis in die Staatsge___________ 14 Der Vorrang des Einheitsmodells für die Mittäterschaft am Verbrechen im Römischen Statut wird behauptet von Eser, Individual Criminal Responsability, in: Cassese/Gaeta/Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, 2002, S. 786 f. In dem Sinne hingegen, dass beim Verweis auf die persönlichen Umstände des Angeklagten das differenzierte Modell auf das Strafmaß Einfluss nimmt vgl. Maugeri (Fn. 10), S. 576 f., der sich für die Annahme des differenzierten Modells im Statut ausspricht (S. 640).

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füge hinein aktiv sind. Auch darf die Fragwürdigkeit der damit verbundenen Probleme nicht übersehen werden, insofern, als die kriminalpolitischen Entscheidungen zur organisierten Kriminalität seit langem einen Indikator des Verhältnisses von Autorität und Freiheit schon innerhalb der nationalen strafrechtlichen Systeme darstellen: Eine Problematik, die, auf supranationale Dimension verlagert, nur an Bedeutung gewinnen kann. Abgesehen von technischen Unzulänglichkeiten des Art. 25 Abs. 3 d) erscheint die hier vorgesehene Lösung zumindest im Hinblick auf ihre kriminalpolitische Wirksamkeit inadäquat und nicht völlig in Einklang mit dem Prinzip der Personalität der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Auf technischer Ebene liegen die auffälligsten Unzulänglichkeiten einerseits in dem zweideutigen Verhältnis zwischen den im dritten Absatz des Art. 25 vorgesehenen verschiedenen Figuren und andererseits in der ungenauen Beschreibung der Kennzeichen der kriminellen Gruppe. Was ersteren Aspekt anbelangt, so eröffnet die Norm – nachdem sie, wie wir gesehen haben, die Teilnahme am Verbrechen auch auf die Formen der Anstiftung und Begünstigung ausgeweitet hat – die vierte Begriffsbestimmung mit dem Verweis auf „jede sonstige Weise“ der Teilnahme an dem von der Gruppe begangenen Verbrechen. Ob sich über die Kennzeichen der im ersten Teil der Norm vorgesehenen Figuren hinaus eine weitere Teilnahmeform ergeben könnte , scheint zweifelhaft: Wie wir gesehen haben, sieht das System eine ganze Reihe von Figuren vor, bei denen die Begünstigung schon als „Beihilfe oder sonstige Hilfe“ vorgesehen ist; ein Raum für noch eine weitere Form der Teilnahme scheint demnach schwer vorstellbar, wenn man das Prinzip der Personalität der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ernst nimmt und nicht ein Verhalten bestrafen will, das nach sozialen Gesichtspunkten nicht strafwürdig erscheint.15 Darüber hinaus wird in der Normfassung dieses Risiko nicht ausgeglichen durch die Bindung zwischen jedem einzelnen individuellen Beitrag und einer spezifischen Gefährlichkeit der Gruppe, wobei z. B. die Existenz einer auf dauerhafte kriminelle Tätigkeit ausgerichteten Organisation gefordert werden könnte. Ganz im Gegenteil; es genügt der Norm bereits, dass das Verbrechen, an dem der einzelne teilnimmt, von einer in gemeinsamer Absicht handelnden Personengruppe begangen wird: Es fehlt sowohl eine Mindestanzahl von Personen für die Zusammensetzung der Gruppe als auch der Hinweis, dass die gemeinsame Absicht ausdrücklich kriminell sein soll oder zumindest mit der

___________ 15

Entsprechende Zweifel bei Maugeri (Fn. 10), S. 631.

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Durchführung des mit Hilfe des Einzelnen begangenen Verbrechens verbunden sein muss.16 Nicht überzeugend ist der Gedanke, dass eine solch unglücklich gewählte Formel der Preis sei, um die Vorbehalte gegenüber der durch das Common Law definierten conspiracy zu überwinden: Nach diesem traditionellen crime der angelsächsischen Rechtssysteme wird jedwede Vereinbarung zwischen zwei oder mehr Personen zur Begehung einer rechtswidrigen Tat oder auch zum Erreichen eines rechtmäßigen Ziels mit rechtswidrigen Mitteln unter Strafe gestellt.17 Auch in der Tradition des Civil Law existiert mit der französischen association des malfaiteurs (Art. 450-451 frz. StGB) ein Modell, das die Vereinigung mehrerer Personen unter Strafe stellt, welche rechtswidrige Ziele verfolgen bzw. rechtswidrige Mittel zu deren Erreichung anwenden. Es scheint vielmehr, als habe man um jeden Preis die spezifische Beteiligung des einzelnen an einer kriminellen Vereinigung – die gerade im Falle der Makrokriminalität üblich sind – auf eine allgemeine Figur der Teilnahme reduzieren wollen. Hingegen hätte man den Mut haben müssen, die kriminelle Vereinigung, die eines der im Statut genannten Verbrechen zu begehen beabsichtigt, als solche unter Strafe zu stellen, ohne mit einer weiteren Hypothese von Teilnahme an einem von der Gruppe begangenen Verbrechen einen zweideutigen Ausweg zu suchen. Noch lässt sich als Entschuldigung die Tatsache anführen, dass die betreffende Formel jene reproduziert, die bereits von der Antiterrorismus-Konvention der UNO 1997 angenommen wurde.18 Es darf nicht vergessen werden, dass zur Zeit der Römischen Konferenz die Verhandlungen für die UNO-Konvention gegen das transnationale organisierte Verbrechen bereits fortgeschritten waren; hier spielt die Definition der kriminellen Vereinigung ei-

___________ 16 Ebenfalls nicht überzeugend ist der Versuch (De Martino, La disciplina del concorso di persone, in: Cassese/Chiavario/de Francesco, Problemi attuali della giustizia penale internazionale, 2005, S. 207 f.), auf interpretatorischer Ebene die „Gruppe“ an der nach der Formel des Art. 25 Abs. 3, d) teilgenommen wird, auf „eine in gewissem Maße organisierte, auch wenn nicht zusammengeschlossene Pluralität“ zu beschränken. Angesichts des Fehlens jedweder Charakterisierung einer solchen „Organisation“ (die, wie der Autor im Übrigen zugesteht, auch die Schwelle der kriminellen Vereinigung nicht integrieren könnte) riskiert man, die typisierende Funktion des subjektiven Elements [Kenntnis der Absicht der Gruppe, das Verbrechen zu begehen: Art. 265 Abs. 3 d) ii)] zu überschätzen und eine Art externe Mittäterschaft bei einem gemeinschaftlich begangenen Verbrechen zu begründen (so ausdrücklich ders., S. 219), für das jedoch keine Strafbarkeit existiert [kritisch hierzu auch Maugeri (Fn. 10), S. 634]. 17 So hingegen Ambos (Fn. 11), S. 483 f.; Eser (Fn. 14), S. 802. 18 Die Ableitung wird hingegen erwähnt von Ambos (Fn. 11), S. 483 f.; Eser (Fn. 14), S. 802.

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ne Schlüsselrolle und hätte durchaus gewinnbringend in die Fassung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs eingebracht werden können.19 6. Eine letzte Überlegung hinsichtlich der Personalität der internationalen strafrechtlichen Verantwortlichkeit betrifft den letzten Absatz von Art. 25, in welchem die Verantwortung des einzelnen Subjekts als eigenständig im Gegensatz zu derjenigen des Staates, dessen Bürger es ist, geregelt wird; die Verantwortlichkeit des Staates gründet sich auf andere völkerrechtlichen Quellen. Aus der strengen Trennung zwischen individueller und staatlicher Verantwortlichkeit folgt, dass der Grundsatz der Personalität, welcher für erstere gilt, in seiner sozusagen naturalistischen Bedeutung verstanden werden soll, da die Zuschreibung des Handelns des Bürgers an den jeweiligen Staat nicht von der gespielten Rolle abhängt. Auf diese Weise wird jedoch das System des Statuts inadäquat für eine effiziente Bekämpfung einiger Formen des von den Mächtigen begangenen Verbrechens; darüber hinaus behindert sie eine Betrachtung der Verantwortung von juristischen Personen, die auf Makro-Organisationen zurückgreifen können. Der Ausschluss dieser aus der Reichweite des Statuts trotz der Anerkennung von Formen der Verantwortlichkeit der kollektiven Organisationen in verschiedenen nationalen Strafrechtssystemen und trotz der ausdrücklichen, im Zuge der Vorverhandlungen (beispielsweise von Frankreich) vorgebrachten Forderung ist nicht nur auf praktische und kontingente Gründe zurückzuführen.20 Sie scheint eher und in erster Linie eine Folge von theoretischen Argumenten, die sich aus einem allgemeinen Bild des Strafrechtssystems ergeben, das die strafrechtlich verantwortliche Person auf das Individuum „aus Fleisch und Blut“ begrenzt. Zu einer kritischen Überprüfung dieses Punktes wäre eine separate Vertiefung dieser heiklen und schwierigen Materie vonnöten; an dieser Stelle lässt sich nur darauf hinweisen, dass die sogenannten „Kosten des Grundsatzes societas delinquere non potest“ proportional ansteigen, wenn heute eine Parallelanalyse in Bezug auf das internationale Strafrecht durchgeführt würde. 7. Auch das Schuldprinzip kann letztlich auf das Prinzip der Selbstbestimmung als ratio der internationalen strafrechtlichen Verantwortlichkeit zurückgeführt werden. Wie schon angedeutet, liegt hier ein gemeinsamer Ursprung mit dem Grundsatz der Personalität der strafrechtlichen Verantwortlichkeit vor; ___________ 19

Siehe Militello, Participation in an Organized Criminal Group as International Offence, in: Albrecht/Fijnaut (Hrsg.), The Containment of Transnational Organized Crime. Comments of the UN Convention of December 2000, 2002, S. 97 f. 20 Ambos (Fn. 11), S. 477 f., erinnert diesbezüglich an die kurze Zeit, die der Konferenz von Rom zu Verfügung stand, um die schwer wiegenden Probleme im Zusammenhang mit der Schaffung eines den kollektiven Subjekten angemessenen Systems zu lösen.

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die Berührungspunkte zwischen den beiden Grundsätzen dürfen jedoch nicht zu Verwechslungen führen: Im Gegensatz zu letzterem, welcher den Rahmen der Verantwortlichkeit in Bezug auf die Anzahl der an dem Verbrechen beteiligten Subjekte definiert, betrifft die Schuld die Haltung, mit der das Subjekt das Verbrechen begangen hat. Auch hier präsentiert sich das Statut als Fortschritt in Bezug auf die vorhergehenden internationalen Quellen, widmet es doch dem Profil der subjektiven Deliktsmerkmale eine spezifische Norm (Art. 30), welche die vom Statut vorausgesetzte Deliktstruktur klärt.21 Deren objektive Deliktsmerkmale sollen mit Vorsatz (intent) und Wissen (knowledge) verwirklicht werden, wobei intent als der Wille zum Verhalten und knowledge als Bewusstsein des normalen Verlaufs der Ereignisse unter bestimmten Voraussetzungen definiert sind. Ausgeschlossen scheint hingegen die recklessness einschließlich des so genannten bedingten Vorsatzes, die allerdings nicht ausdrücklich in der allgemeinen Definition des subjektiven Elements erwähnt wird.22 Was die Fahrlässigkeit anbelangt, so kommt ihr eine klar umgrenzte, wenn auch wichtige Bedeutung zu: Sie dient zur Begründung der Verantwortlichkeit von militärischen und allgemein hierarchisch organisierten Führern für die von ihren Untergebenen begangenen Verbrechen.23 Obgleich nicht generell erwähnt in Art. 30, welcher die subjektiven Deliktsmerkmale regelt, indem er sie dem materiellen Element zur Seite stellt und diesem entgegen setzt, kennzeichnet die Fahrlässigkeit die besondere Struktur der Verantwortung, die für Militärkommandanten ausdrücklich in Art. 28 vorgesehen ist. In diesem Zusammenhang erscheint die Konfiguration einer solchen Verantwortung, nämlich als fahrlässige Nichtausübung von Kontrolle, grundsätzlich vertretbar, da im militärischen Umfeld eine hierarchische Struktur gegeben ist, und damit eine Pflicht des Ranghöheren zur Vermeidung unkontrollierten Handelns seitens seiner Untergebenen. Mit dem Schuldprinzip verbunden sind weiterhin diejenigen Normen, die die Verantwortlichkeit wegen Zurechnungsfähigkeit ausschließen, bspw. im Fall von Minderjährigen (Art. 26), oder bei Vorliegen eines Geisteszustandes, der es dem Subjekt verwehrt, die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens zu erkennen.24 Ebenso bedeutsam für eine weitergehende Behauptung des Schuldprin___________ 21 Manacorda (Fn. 10), S. 138 f. bescheinigt dem Statut einen „gewissen Fortschritt“ im Vergleich zu den früheren Anstrengungen in der Materie. 22 In der spezifischen Begriffsbestimmung des Kriegsverbrechens gemäß Art. 8 kann übrigens die mildere Formulierung des subjektiven Elements der “recklessness” einen Anwendungsbereich eröffnen, vgl. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2008, S. 270. 23 Eine mittlerweile weit verbreitete These: vgl. schon Ambos (Fn. 5), S. 700; kürzlich Maugeri (Fn. 10), S. 399 f. 24 Siehe hierzu Sicurella, Le principe nulla poena sine culpa dans le statut de la Cour pénale internationale, in: Chiavario (Hrsg.), La justice pénale internationale entre passé

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zips ist sodann die Norm über den Irrtum, welcher sowohl in der Form des Tatbestandsirrtums als auch in jener des Verbotsirrtums anerkannt wird. So wird also auch im internationalen Strafrecht die Gültigkeit des traditionellen Grundsatzes ignorantia legis non excusat überwunden, auch wenn die Schwere der im Statut vorgesehenen mala in se sowie die internationale Verbreitung dieses neuen Instruments zu deren Bekämpfung dazu führen, dass die Fälle, wo die Schuld wegen fehlenden Bewusstsein um die Rechtswidrigkeit des Verhaltens ausgeschlossen werden muss, als objektiv selten angesehen werden. Hingegen können einige Formen des Ausschlusses der Verantwortlichkeit, in denen der Wille zur Selbstbestimmung das Ergebnis von Nötigung ist (z. B. duress in Art. 31 d) nicht direkt zum vom Statut festgeschrieben Schuldprinzip gezählt werden. In der Tat hat das Statut vermieden, ausdrücklich die Unterscheidung zwischen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen anzunehmen, welche die grundlegende Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld reflektiert. Die allgemeine Überschrift „Gründe für den Ausschluss der Verantwortlichkeit“ scheint eine bewusst neutral gehaltene Wortwahl, mit der man einen spezifischeren Aufbau vermeiden wollte, der nur schwer von allen Rechtssystemen akzeptiert werden konnte. Im Übrigen produziert die unterschiedliche rechtliche Natur nicht unerhebliche Konsequenzen, zumindest in denjenigen Systemen, wo sie bekannt ist: bspw. die Möglichkeit, Notwehr bei entschuldigten Handlungen zu üben, nicht hingegen bei gerechtfertigten Taten, und umgekehrt die Möglichkeit, die Rechtfertigung auf die Beteiligten auszudehnen, nicht aber die Entschuldigung. Angesichts des Fehlens von spezifischen Normen für solche Fälle kann die Lösung nicht von den personellen Präferenzen des Interpreten – entweder für den Rechtsgutgedanken oder für das Schuldprinzip – abhängig gemacht werden. Das Bezugskriterium ist vielmehr auch hier durch Art. 22 Abs. 2 Satz 2 gegeben, laut dem im Zweifelsfall der für den Angeklagten günstigeren Interpretation Priorität eingeräumt werden soll. 8. Aus der Verbindung zwischen dem Schuldprinzip und dessen substanzieller Grundlage der Selbstbestimmung ergibt sich ein als choosing system aufgebautes internationales Strafrecht. Dies bezieht auch die wesentlichen Züge des Gesetzlichkeitsprinzips und der damit verbundenen Profile ein: Auch nach dem internationalen Strafrecht ist zur Orientierung eines menschlichen Verhaltens eine vorherige Norm unerlässlich, die die Tat unter Strafe stellt. Das Statut kommt dieser Forderung detailliert entgegen, indem es insbesondere fordert: x

hinsichtlich der Tatbestände: – die ausdrückliche Tatbestimmung (Art. 22 Abs. 1), ___________ et avenir, 2003, S. 259, 266 f. ; jüngst Sicurella, Per ma teoria della colperolezza nello Statuto della Corte Penale Internazionale, 2008, S. 233 f.

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– x

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die Bestimmtheit dieser Definitionen, zusammen mit dem sich daraus ergebenden Analogieverbot, sowie die bereits erwähnte Verpflichtung zur Interpretation in favor rei in Zweifelsfällen (Art. 22 Abs. 2), das Rückwirkungsverbot sowie, im Gegensatz hierzu, die Rückwirkung der Normen zugunsten des Angeklagten (Art. 24 Abs. 1 und 2);

hinsichtlich der zu verhängenden Strafen: – die ausdrückliche Bestimmung (Art. 23), – das Rückwirkungsverbot der für den Angeklagten ungünstigeren, sowie die Rückwirkung der für ihn günstigeren Strafen (implizit in Art. 24 Abs. 1 und 2).

Angesichts dem in Art. 22, 23 und 24 des Statuts niedergelegten Normenkomplex besteht kein Zweifel, dass das im internationalen Strafrechtsystem geltende Gesetzlichkeitsprinzip insgesamt eine sehr viel festere Definition erhält als diejenige, die in den vorhergehenden übernationalen Rechtsquellen vorhanden ist, und sich eher an die Konzeption annähert, die ihm in zahlreichen nationalen Strafrechtssystemen zu eigen ist. Zur Sicherstellung der wesentlichen Forderungen des Gesetzlichkeitsprinzips beschränkt Art. 22 die Tatbestände, für die eine Person strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann, auf diejenigen Verhaltensweisen, die zum Zeitpunkt ihrer Durchführung von dem Statut unter Strafe gestellt waren. Im Gegensatz zu ihrer traditionell materiellen Natur wird die Regel unter prozessualem Gesichtspunkt ausgedrückt (gefordert wird, dass „das Verbrechen in die Zuständigkeit des Gerichtshofes fällt“): Eine Verschiebung der Ebenen, die jedoch eine Parallele und eine interne Verweisung auf die entsprechende Norm enthält, welche diese Zuständigkeit im Hinblick auf eine beschränkte Anzahl von Verbrechen definiert (Art. 5). In Übereinstimmung mit dem Bestimmtheitsgebot werden die Verhaltensweisen definiert, welche unter die drei Kategorien von internationalen Verbrechen im Zuständigkeitsbereich des Gerichtshofes fallen (Art. 6-8). Es handelt sich um Typologien von Verbrechen, deren jeweilige Elemente in einem ausdrücklich vom Statut angenommenen Verzeichnis weiter spezifiziert sind, welches als generelle Interpretations- und Anwendungshilfe (Elements of crime: Art. 9) gedacht ist und dem die gleiche Bedeutungskraft zuerkannt wird wie den Normen des Statuts innerhalb der Hierarchie der anwendbaren Quellen [Art. 21 Abs. 1 a)]. Es handelt sich also um ein System von internationalen Verbrechen und Strafen, das den Garantien des nullum crimen-Prinzips der nationalen Rechtsysteme vollkommen entspricht, obgleich keine der in Art. 21-22 genannten Quellen ein Gesetz im Sinne der nationalen Rechtssysteme sei. Im Vergleich zu der viel stärkeren Betonung der materiellen Gerechtigkeit als entscheidendem Kriterium in der Rechtsprechung von Nürnberg wird hier dem Gesetzlichkeitsprinzip deutlich mehr Wert beigemessen – ein Ergebnis des dichten Geflechts an

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Abkommen und anderen internationalen Dokumenten, die das Gesetzlichkeitsprinzip enthalten und die in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch nicht existierten. All dies darf aber die Kennzeichen des internationalen Rechts nicht vernachlässigen: auch im Statut werden schriftliche und nichtschriftliche Quellen geregelt, wenn auch – auf diesem Gebiet – mit größerer Formalisierung im Vergleich zu der früheren Situation. Die allgemeine Angabe der Rechtsquellen im Statut verhindert übrigens nicht, dass auf dem spezifischen Gebiet der Definition der Verbrechen und der Bestimmung der entsprechenden Strafen die spezielle, in Art. 22 und 24 aufgestellte Regel gilt: lediglich auf die drei bereits bestimmten Verbrechenskategorien wird das Normensystem des Statuts angewendet; für den Fall künftiger Abänderungen ist eigens ein ad hoc-Verfahren vorgesehen, das Öffentlichkeit und Rechtssicherheit garantiert (Art. 121 und 123). Zur Begründung der internationalen strafrechtlichen Verantwortlichkeit kann demnach nicht auf die gesamte Hierarchie der in Art. 21 genannten Quellen zurückgegriffen werden. Darüber hinaus gilt diese Beschränkung nicht nur für die analytische Beschreibung der strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen, wie in Art. 6-8 dargelegt und weiterhin spezifiziert im Verzeichnis der Elemente der entsprechenden Verbrechen, sondern sie muss auch als für alle allgemeinen Regeln des dritten Teils des Statuts gültig verstanden werden, zumindest soweit sie ungünstige Konsequenzen für den Angeklagten nach sich ziehen. Die Tatsache, dass der dritte Teil des Statuts weit entfernt davon ist, alle Zurechnungskriterien auszuschöpfen, ist nicht ausreichend für die Überwindung der Aufspaltung zwischen Art. 21 mit seiner Vielzahl an für anwendbares Recht legitimierten Quellen und Art. 22, der die Normen für die Begründung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit spezifiziert.25 Der einzige Bereich mit direkter strafrechtlicher Relevanz, in dem die Vielfalt der anwendbaren Rechtsquellen die Möglichkeit behält, das bereits im Statut Vorgesehene zu integrieren, ist derjenige der strafrechtlichen Konsequenzen: Trotz der perfekten Symmetrie der Titel in Art. 22 und 23 hat das nullum crimen sine lege eine andere Reichweite als das nulla poena sine lege, was auf die unterschiedliche Formulierung der beiden normativen Inhalte zurückzuführen ist. Die Beschränkung auf die relevanten Verbrechen sichert die gleichen substanziellen Garantien wie das Gesetzlichkeitsprinzip selbst in der Tradition des Civil Law; der Hinweis auf die Möglichkeit, in Übereinstimmung mit den Vorschriften des Statuts bestraft zu werden, bringt hingegen das breitere Spektrum der in Art. 21 angegebenen Quellen wieder ins Spiel. Daraus ergibt sich, ___________ 25 Nicht überzeugend ist daher der Versuch, dem Art. 21 Abs. 1 c) eine integrative Kraft zuzusprechen, und zwar bzgl. des allgemeinen Teils, mit dem Catenacci, “Legalità” e “tipicità del reato” nello Statuto della corte penale internazionale, 2001 seine Untersuchung abschließt.

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dass auch die in Art. 21 Abs. 1 b) und c) vorgesehenen Nebenquellen zur Anwendung kommen können, wenn auch außerhalb der ausdrücklich im Statut spezifizierten (und im Übrigen in Art. 77 und 78 klar umrissenen) Strafen. Eine Diskrepanz, die auf der Ebene der technischen Formulierung durch eine zweigleisige Operation überwindbar wäre: Einerseits durch die Aufwertung des engen Zusammenhangs zwischen der Definition der Verbrechen und den entsprechenden Strafen, und andererseits durch die Überwindung der derzeitigen verfahrensrechtlichen Version des nullum crimen bei der Begründung der internationalen strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Es handelt sich um eine (Neu-) Formulierung des Gesetzlichkeitsprinzips unter materiellen Gesichtspunkten in dem Sinne, dass die Definitionen der Verbrechen und der entsprechenden Sanktionen auf das beschränkt werden müsste, was im Statut oder in seinen künftigen Abänderungen ausdrücklich festgelegt ist. Ohne auf eine unmögliche Gleichstellung zwischen der internationalen Quelle und dem Gesetz (man denke nur an die – innerhalb der gegenwärtigen internationalen Ordnung unrealisierbare – Funktion, den Minderheiten eine Kontrolle über die Strafwürdigkeit einer Handlung zu gestatten) abzuzielen, kann eine solche Perspektive auf internationaler Ebene die entsprechenden Ansprüche an Garantien und Sicherheiten für den einzelnen erfüllen, wie sie dem Gesetzlichkeitsprinzip zugrunde liegen. Es wäre jedoch oberflächlich, das Problem auf den technischen Ansatz zu beschränken und dabei den schwierigen politischen Konsens außer Acht zu lassen, den das Thema erfordert: Es darf nicht vergessen werden, dass das gesamte internationale Strafrechtsystem darauf abzielt, die von den formalistischen Exzessen der nationalen Gesetze eingerichteten Schranken zu überwinden, welche nur zu oft zur Verschleierung von Gräueltaten und schweren Verstößen gegen die Menschlichkeit genutzt werden. Die ratio essendi der internationalen Strafjustiz besteht in der Bekämpfung dessen, was Radbruch 1947 schon so treffend mit der Formel „ein unerträglich ungerechtes Recht“ umrissen hat. Obgleich das Statut innerhalb der schnellen Entwicklung der Materie einen Fixpunkt bei der Formalisierung des entsprechenden Systems und der Beschränkung seiner Eingriffe auf das Individuum darstellt, so bleibt doch die Basisforderung nach dem Schutz der Opfer bestehen: Ihren deutlichsten Niederschlag findet diese Vorlage in Art. 21 Abs. 3, wo die Klausel der umfassenden Vereinbarkeit der Statutsnormen mit den „international anerkannten Menschenrechten“ eingeführt wird. Dies wiederum setzt einen Prozess der konstanten Integration zwischen den im Statut niedergelegten Regeln und dem in ständiger Bewegung befindlichen Korpus der Menschenrechte in Gang.26 ___________ 26 Bzgl. einer solchen Verbindung vgl. z. B. Picotti, I diritti fondamentali come oggetto e limite del diritto penale internazionale, in: Indice Penale 2003, S. 259 f.; im spe-

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9. Der Verweis auf die Menschenrechte als Schutzobjekt des internationalen Strafrechts erlaubt die Verbindung mit dem letzten hier zu berücksichtigenden Grundsatz, d.h. den Rechtsgüterschutz. Auf nationaler Ebene hat sich die entsprechende Problematik, ausgehend von der ursprünglichen Beschränkung des strafrechtlichen Eingriffs auf Verletzungen und Gefährdungen von Rechtsgütern, auf eine Filterfunktion in der Auslegung und Anwendung der strafrechtlichen Normen ausgedehnt. Die Projektion auf die internationale Ebene hingegen scheint in erster Linie die Begründungsfunktion des strafrechtlichen Eingriffs akzentuiert zu haben, welcher entstanden ist aus der Notwendigkeit zu vermeiden, dass schwerste Verbrechen straflos bleiben, die als gemeinsames Erbe der Menschheit verstanden werden: Einen Verweis auf diese Funktion der Legitimation des Systems findet sich in der Präambel des Statuts (Abs. 4 und 5). Auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten scheint der Rechtschutz-Grundsatz im Statut beachtet worden sein: die Strafwürdigkeit der hier vorgesehenen Verbrechen kann heutzutage nicht bezweifelt werden. Auch die Beschreibung der einzelnen rechtswidrigen Verhaltensweisen bezieht sich hauptsächlich auf solche, die sich nicht auf den reinen Ausdruck von Gedanken beschränken, sondern einen Bedeutungskern bzgl. der Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung enthalten. Beispielhaft hierfür ist der im Artikel über Völkermord (Art. 6) enthaltene Verweis auf eine Reihe von Verhaltensweisen, die an sich schon individuelle Güter verletzen, darüber hinaus jedoch auch mit der Absicht begangen werden, die – nationale, ethnische, rassische oder religiöse – Zugehörigkeitsgruppe der Opfer zu zerstören: Auf diese Weise wird dem Verbrechen eine typisch kollektive Dimension zugeschrieben, welche letztlich zu einer teleologischen Beschränkung des Täters selbst führt. Um ein Ergebnis von solch breiter Tragweite zu erreichen, scheinen sich die strafrelevanten Verhalten auf solche Fälle beschränken zu müssen, in denen sie nicht von dem als uti singulo Handelnden ins Werk gesetzt werden, sondern von demjenigen, der zumindest als Mittäter bei der kollektiven Durchführung der einzelnen in Art. 6 vorgesehenen, durch das gemeinsame Ziel der Zerstörung der gegnerischen Gruppe gekennzeichneten Verhalten in Erscheinung tritt. Was hingegen das Profil der Anwendung der internationalen Strafnormen betrifft, soll der Richter die konkrete Verletzung oder Gefährdung der jeweiligen Rechtsgüter durch das tatbestandmäßige Verhalten feststellen. In Bezug auf diese zweite mögliche Bedeutung des Gedankens des Rechtsgüterschutzes ist anzuerkennen, dass aufgrund der Schwere der internationalen Verbrechen sowie ihrer detaillierten Beschreibung im Statut und im Verzeichnis der Verbre___________ zifisch europäischen Kontext Militello, Die Grundrechte zwischen Grenzen und Legitimierung eines strafrechtlichen Schutzes auf europäischer Ebene in: Arnold u.a. (Hrsg.), FS Eser, 2005, S. 807 f.

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chenselemente die Möglichkeit unwahrscheinlich scheint, eine Diskrepanz zwischen Tatbestandsmäßigkeit (als Übereinstimmung mit der normativen Beschreibung des Verhaltens) und Verletzung oder Gefährdung des geschützten Rechtsgutes in der konkreten Situation herauszufinden. Selbst wenn die Anstiftung zu einem nicht ausgeführten Verbrechen [Art. 25 Abs. 3 e)] unter Strafe gestellt wird, so sind der Tatbestand, auf den verwiesen wird, sowie die verbotene Verhaltensweise so gewaltig (die Anstiftung zum Völkermord muss direkt und öffentlich erfolgt sein), dass die tatbestandsmäßige Handlung von dem Gedanken des Rechtsgüterschutzes nicht abweichen kann. Falls der Richter Zweifel haben sollte, ob ein konkretes Verhalten bereits die Verletzung des geschützten Rechtsgutes beinhaltet, ist das Instrument zur Lösung solcher Fälle in Art. 22 Abs. 2 des Statuts vorgegeben. Wie schon erwähnt, wird hier nach dem Bestimmtheitsgebot und dem damit verbundenen Analogieverbot festgelegt, dass die Interpretation im Zweifelsfall dem Kriterium des favor rei folgen muss: Das bedeutet auch, dass dem Täter solche Verhaltensweisen nicht angelastet werden können, bei denen es zweifelhaft bleibt, ob sie tatsächlich das geschützte Rechtsgut verletzen. Lückenhafter ist hingegen der Einfluss, den der Gedanke des Rechtsgüterschutzes auf die im dritten Teil des Statuts enthaltenen allgemeinen Rechtsbegriffe hatte: Hier fällt die Schwierigkeit, Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Rechtstraditionen zu finden, besonders ins Auge. Besonders auffallend ist in diesem Zusammenhang das Fehlen sowohl einer Definition des objektiven/materiellen Verbrechenselements, als auch der Präzisierung der Unterlassungsrelevanz im Statut. Das hindert nicht, dass die Tradition des liberalen Strafrechts in anderen Punkten grundsätzlich aufgenommen worden ist; so ist beispielsweise die Definition des Versuchs in der französischen Tradition verankert, welche den Beginn der Durchführung fordert, ja sogar einen bedeutenden Teil dieser verlangt. Andererseits kann auch der – dem Versuch entgegengesetzte – Strafausschluß im Falle des Rücktritts auf eine identische ratio zurückgeführt werden: Gerade wenn es um den Rechtsgüterschutz geht, ist es durchaus zweckmäßig, bis zum letzten Moment vor der eigentlichen Verletzung ein Verhalten zu stimulieren, das diesen Erfolg verhindern kann. Man könnte noch einen Schritt weitergehen und zwei weitere Regeln des Statuts auf das Prinzip des Rechtsgüterschutzes zurückführen. Es handelt sich um Regeln, die im Übrigen recht unterschiedlich zu denen der nationalen Rechtsordnungen sind: einmal diejenige, welche das öffentliche Amt als Immunitätsgrund in Fällen von internationalen Verbrechen nicht anerkennt (Art. 27), und zum anderen diejenige, welche die in Art. 5 beschriebenen Tatbestände für unverjährbar erklärt (Art. 29). In der Tat ist es die besondere, bereits in der Präambel festgeschriebene Natur und Schwere der internationalen Verbrechen, die den Grund dafür zu liefern scheint, dass im Hinblick auf die

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Verantwortlichkeit Grenzen ausgeschlossen sind, wie sie hingegen innerhalb der nationalen Rechtsordnungen Gültigkeit haben. Dieselbe Erklärung kann aber nicht herangezogen werden, um die Verantwortlichkeit eines Untergebenen zu begründen, der einen rechtswidrigen Befehl ausführt. Diese Verantwortung gründet sich eher auf die Grundsätze der Personalität und der Selbstbestimmung, nach denen ein jeder für die Konsequenzen des eigenen Verhaltens verantwortlich ist und die im System des Statuts am tiefsten verankert sind. Es könnte noch vieles andere betrachtet werden, um den Beitrag der strafrechtlichen Grundsätze zu umreißen, die das Bild der internationalen Verbrechen in der Zeit nach dem Rom-Statut prägen. Die hier betrachteten Konturen des Themas weisen darauf hin, dass die im dritten Teil des Statuts enthaltenen Normen wohl kritische Punkte des allgemeinen Teils des internationalen Strafrechts berühren, jedoch weit entfernt davon sind, diesen mit einer den nationalen Strafrechtssystemen vergleichbaren Präzision zu entwickeln, zumindest, soweit sie in der Form des Strafgesetzbuches verankert sind.27 In einigen Fällen sind die Normen des Statuts dermaßen durch die spezifischen Notwendigkeiten des besonderen strafrechtlichen Systems konditioniert, dass einige Inhalte der traditionellen Regeln nationaler Herkunft (z. B. bei der Verjährung und der Straflosigkeit) verändert werden. Das Bemühen, beiden Bereichen – dem internationalen einerseits und dem strafrechtlichen andererseits – gemeinsame Grundsätze zu finden, zielt also auf die Verringerung des Risikos, dass einer der beiden sich weiterentwickelt, ohne dem anderen Rechnung zu tragen und so das fragile Gleichgewicht zwischen Begründung und Grenzen der Verantwortlichkeit zu verlieren. Ein solches Gleichgewicht muss hingegen stetig verfolgt werden, wenn uns wirklich daran gelegen ist, dass das Strafrecht – sowohl international als auch innerstaatlich – weiterhin als rechtsstaatliche Garantie gilt und nicht zu einem Instrument der Unterdrückung verkommt.

___________ 27

Diese Meinung teilte kürzlich z. B. auch Satzger (Fn. 22), S. 226.

Untaugliche Bereiterklärung zur Verbrechensbegehung und Bereiterklärung zur untauglichen Verbrechensbegehung Von Wolfgang Mitsch

I. Einleitung Trotz genereller Publikationsflut im strafrechtswissenschaftlichen Bereich1 gibt es vereinzelt Themen, zu denen man in der strafrechtlichen Literatur wenig Informationen bekommt. Das ist vor allem bei geringer praktischer Relevanz verständlich und für das Funktionieren der Strafrechtspflege gewiss unschädlich. Der Strafrechtswissenschaftler und Autor hat sogar einen Grund zur Freude, wenn er auf ein derartiges Thema stößt, während er sich gerade darum bemüht, ein noch nicht zu sehr abgegriffenes Thema für eine eigene Publikation zu finden. Wie wohl jeder an dem vorliegenden Werk beteiligte Autor und sicher auch Herr Maiwald selbst bestätigen kann, gehört zu den beschwerlichen Obliegenheiten der ansonsten sehr erfreulichen und angenehmen Aufgabe des Festschriftbeitragschreibens – neben der am Ende stehenden Einhaltung der Manuskriptabgabefrist – die am Anfang stehende Suche nach einem geeigneten Thema2. Da der Gegenstand des Textes nicht nur zu dem Jubilar „passen“, sondern möglichst auch noch etwas Neues und Originelles darstellen sollte, ist das Auffinden eines fachliterarisch bisher wenig behandelten Objekts in einer solchen Situation äußerst hilfreich. Mir scheint, dass die Bereiterklärung zur Begehung eines Verbrechens ein solches Objekt ist, sofern man es mit der Thematik des untauglichen Versuchs verknüpft. Denn beim Schreiben einer Musterlösung für eine im universitären Unterricht gestellte Strafrechtsklausur fühlte ich mich bei der Bewältigung eines mit § 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB zusammenhängenden Problems von der einschlägigen Literatur etwas alleingelassen3. Eigene Bemühungen um die Lösung des Problems führten zu einem – vorläufigen – ___________ 1

Arzt, GS Armin Kaufmann, 1989, S. 839 ff.; F. C. Schroeder, FS Tröndle, 1989, S. 77 ff. 2 Kühl, FS Gössel, 2002, S. 191. 3 Es ging um die Bereiterklärung zur Inbrandsetzung eines dem Erklärungsadressaten gehörenden (ehemaligen Wohn-)Hauses, dessen „Wohnungs“-Funktion der Erklärungsadressat ohne Wissen des Erklärenden durch Entwidmung (Wessels/Hettinger, Strafrecht Besonderer Teil 1, 32. Aufl. 2008, Rn. 963) aufgehoben hatte; § 30 Abs. 2 Alt. 1 iVm § 306 a Abs. 1 Nr. 1 StGB.

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Ergebnis4, von dessen Richtigkeit ich noch nicht restlos überzeugt bin. Vielleicht regt ja der vorliegende Beitrag auch andere an, die Diskussion aufzunehmen und nach weiterem dogmatischen Erkenntnisgewinn zu streben. Mit Manfred Maiwald darüber in einen fruchtbaren Gedankenaustausch eintreten zu können, bin ich mir ziemlich sicher. Nimmt doch die Dogmatik des Allgemeinen Strafrechts im vielfältigen Spektrum seiner Interessen und Publikationen eine herausragende Stellung ein.

II. Der untaugliche Versuch der Beteiligung Bereiterklärung zur Begehung eines Verbrechens bzw. zur Anstiftung zu einem Verbrechen ist Teil des allgemein mit „Versuch der Beteiligung“ überschriebenen § 30 StGB. Eine reine Versuchsstruktur liegt hingegen nur der in Absatz 1 geregelten versuchten Anstiftung zugrunde5. Denn nur bei dieser Alternative des § 30 StGB hat das objektiv tatbestandsmäßige Verhalten die Gestalt eines „unmittelbaren Ansetzens“ iSd § 22 StGB. Auch eindeutig auf Versuch bezogene Textelemente finden sich allein in § 30 Abs. 1 StGB. Vor allem der explizite Verweis auf § 23 Abs. 3 StGB in § 30 Abs. 1 S. 3 StGB ist ein deutliches Signal in diese Richtung. Dennoch ist es nicht schief, auch die Varianten des § 30 Abs. 2 StGB als besondere Erscheinungsformen versuchter Straftatbegehung zu bezeichnen6. Denn sowohl der Bereiterklärung als auch der Erbietensannahme und der Verabredung ist das versuchstypische Deliktsmerkmal7 der objektiven Unvollendetheit bei gleichzeitiger subjektiver Vollendungsantizipation („überschießende Innentendenz“) gemein: Von allen Beteiligten gewollt war ein vollendetes Verbrechen, objektiv ist es dazu aber nicht gekommen. Nach Art des Strafgesetzbuches der Russischen Förderation von 1996 (§§ 29 Abs. 2, 30 StGB R.F.) könnte man sämtliche Varianten des § 30 StGB gemeinsam mit dem Versuch des § 22 StGB als Erscheinungsformen der „unvollendeten Straftat“ zusammenfassen. § 30 Abs. 2 StGB braucht aus den Überlegungen zum untauglichen Versuch der Beteiligung also nicht von vornherein ausgeschlossen zu werden. ___________ 4

Mitsch, JA 2009, 115 ff. Didaktisch sichtbar gemacht z. B. bei Hoffmann-Holland, Strafrecht Allgemeiner Teil 2007, S.129; Jäger, Examens-Repetitorium Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2007, Rn. 276; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 38. Aufl. 2008, Rn. 886; Zieschang, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2005, S. 175; vgl. auch Kütterer-Lang, JuS 2006, 206. 6 Nach Kütterer-Lang, JuS 2006, 206 normiert § 30 Abs. 2 StGB „vollendete Formen der Beteiligung im Vorbereitungsstadium“. 7 Wessels/Beulke (Fn. 5), Rn. 595: „Kennzeichnend für den Versuch ist ein Mangel am objektiven Unrechtstatbestand bei voller Erfüllung der subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen.“ 5

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An den untauglichen Versuch ist immer zu denken, wenn es um einen Gesetzestext geht, der die Vokabel „Versuch“ enthält oder sich – ohne dieses Wort zu verwenden – der Sache nach mit dem Versuch befasst8. Erstaunlich ist allerdings, dass trotz der immensen Faszination, die von dem Phänomen untauglicher Versuch auf die Strafrechtswissenschaft ausstrahlt, dieser Ausdruck in Gesetzestexten überwiegend keinen direkten Niederschlag findet. Das trifft jedenfalls auf das deutsche Strafrecht und – die Schweiz ausgenommen – die wenigen mir bekannten ausländischen Strafgesetze zu (Schweiz: Art. 23 SchwStGB; Österreich: § 15 ÖstStGB9; Italien: Art. 56 I Codice penale italiano; Frankreich: Art. 121-5 Code Pénal10; Spanien: Art. 16 Abs. 1 CP11). Zwar ist die in § 23 Abs. 3 StGB beschriebene Tat eindeutig ein untauglicher Versuch; und dass § 24 Abs. 1 S. 2 und § 24 Abs. 2 S. 2 StGB neben anderen auch Fälle des Rücktritts von einem untauglichen Versuch betrifft, steht ebenfalls außer Zweifel12. Aber das sind alles sekundäre Normen, von denen rückgeschlossen werden kann, dass in den primären Versuchsvorschriften §§ 22, 23 Abs. 1 StGB außer dem tauglichen auch der untaugliche Versuch gemeint ist, der untaugliche Versuch nach deutschem Strafrecht also grundsätzlich strafbar ist13. Wegen dieser Zurückhaltung des Gesetzgebers bei der Normierung des untauglichen Versuchs ist es kein Wunder, dass nicht nur die Frage nach der Strafbarkeit des von einem untauglichen Subjekt begangenen Versuchs14, sondern auch das Vorliegen eines strafbaren Unternehmensdelikts umstritten ist, wenn der in § 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB erwähnte „Versuch“ ein untauglicher ist15. Die Frage nach der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs im Rahmen des § 30 StGB ist jedenfalls in Bezug auf die versuchte Anstiftung nach § 30 Abs. 1 StGB zu bejahen16. Anders wäre die Verweisung in § 30 Abs. 1 S. 3 StGB auf ___________ 8 Das trifft auf alle Vorschriften zu, die sich auf die „Tat“ oder die „rechtswidrige Tat“ beziehen. Beispielsweise erfassen §§ 26, 27 StGB Teilnahme an vollendeten und versuchten Taten; vgl. Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, vor § 25 Rn. 9. 9 Brockhaus, Die strafrechtliche Dogmatik von Vorbereitung, Versuch und Rücktritt im europäischen Vergleich, 2006, S. 224 ff. 10 Brockhaus (Fn. 9), S. 79 ff. 11 Brockhaus (Fn. 9), S. 167 ff. 12 Wessels/Beulke (Fn. 5), Rn. 646. 13 Lackner/Kühl (Fn. 8), § 23 Rn. 5: „Abs 3 setzt einen strafbaren untauglichen Versuch voraus“; LK-StGB/Hillenkamp, 12. Aufl. 2006, § 22 Rn. 183, Wessels/Beulke (Fn. 5), Rn. 620. 14 Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 22 Rn. 46; Lackner/Kühl (Fn. 8); § 22 Rn. 13. 15 Burkhardt, JZ 1971, 352 (356); Fischer (Fn. 14), § 11 Rn. 28; LK-StGB/Hilgendorf (Fn. 13), § 11 Rn. 84; NK-StGB/Lemke, 2. Aufl. 2005, § 11 Rn. 47; Schönke/ Schröder/Eser, StGB, 27. Aufl. 2006, § 11 Rn. 49. 16 LK-StGB/Schünemann (Fn. 13), § 30 Rn. 31; MK-StGB/Joecks, 2003, § 30 Rn. 31; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil Teilband 2, 7. Aufl. 1989, § 53 Rn. 14; Schönke/Schröder/Cramer/Heine (Fn. 15), § 30 Rn. 8.

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§ 23 Abs. 3 StGB nicht zu verstehen. Damit ist jedoch noch nichts vorgreifliches und endgültiges darüber ausgesagt, ob dies auch für die Alternativen des § 30 Abs. 2 StGB gilt und – wenn ja – welche Konstellationen der Vollendungsuntauglichkeit davon betroffen sind. Zu beachten ist nämlich, dass im Kontext des § 30 StGB der Variantenreichtum erheblich größer ist als im Kontext des Alleintäterversuchs gem. § 22 StGB (ausführlich dazu unten III. 3.). Schon im Rahmen des § 30 Abs. 1 StGB lassen sich als spezielle – beim Täterversuch begrifflich so nicht denkbare – Fallmuster die Untauglichkeit des Anzustiftenden (omnimodo facturus17, Extraneus bei vom Anstifter gewollten Sonderverbrechen18) sowie die auf vielerlei Gründen beruhende Untauglichkeit der vom Anstifter gewollten Haupttat (z.B. Haupttat wäre: kein Verbrechen, nicht tatbestandsmäßig, nicht rechtswidrig; tatsächlich nicht ausführ- oder vollendbar) konstruieren. Durch Einbeziehung der versuchten Kettenanstiftung lässt sich das Fallmaterial noch vermehren. Eine weitere Anreicherung der Problematik ergibt sich schließlich, wenn die Untauglichkeit mit dem Fehlen oder Vorhandensein eines verbrechensrelevanten besonderen persönlichen Merkmals iSd § 28 StGB zusammenhängt (z.B. versuchte Anstiftung eines vermeintlichen Amtsträgers zu einer Aussageerpressung; versuchte Anstiftung zu einer Tötung, die für den Angestifteten Tötung auf Verlangen wäre)19. Für die Übertragung des Regelungsgehalts, den die Verweisung in § 30 Abs. 1 S. 3 StGB der versuchten Anstiftung zuordnet, auf die Fälle des § 30 Abs. 2 StGB soll eine weitere in den Gesetzestext eingebaute Verweisung verantwortlich sein: Die Worte „Ebenso wird bestraft“ am Anfang des § 30 Abs. 2 StGB werden dahingehend gedeutet, dass das Strukturelement der Vollendungsuntauglichkeit auch mit der Strafbarkeit in diesen Fällen kompatibel sei20. Bevor auf Einzelheiten eingegangen wird, ist jedoch schon an dieser Stelle auf eine in mehreren Kommentaren zu lesende Aussage hinzuweisen, die der Berücksichtigungsfähigkeit des untauglichen Versuchs in § 30 zu widersprechen scheint: „Versuch und Vorbereitung von Handlungen nach Abs 2 sind nicht strafbar“21. Soll etwa der untaugliche Versuch einer Bereiterklärung zur Verbrechensbege___________ 17

Letzgus, Vorstufen der Beteiligung, 1972, S. 32; Thalheimer, Die Vorfeldstrafbarkeit nach §§ 30, 31 StGB, 2008, S. 41. 18 Maurach/Gössel/Zipf (Fn. 16), § 53 Rn. 35; Thalheimer (Fn. 17), S. 24, 41. 19 Dessecker, JA 2005, 549 (553); LK-StGB/Schünemann (Fn. 13), § 30 Rn. 37; Roxin, JA 1979, 169 (173); Schröder, JuS 1967, 289 (292). 20 Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2008, § 43 Rn. 14; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2008, § 20 Rn. 252; Roxin, JA 1979, 169 (172); Thalheimer (Fn. 17), S. 82; LK-StGB/Schünemann (Fn. 13), § 30 Rn. 69 (Verabredung), aber Rn. 78: Straflos ist die versuchte Verabredung; Rn. 87 a. E. (Bereiterklärung), Rn. 96 (Annahme des Erbietens). 21 Lackner/Kühl (Fn. 8), § 30 Rn. 7; ebenso Fieber, Die Verbrechensverabredung, § 30 Abs. 2, 3. Alt. StGB, 2001, S. 81; Fischer (Fn. 14), § 30 Rn. 13; Kütterer-Lang, JuS 2006, 206; NK-StGB/Zaczyk (Fn. 15), § 30 Rn. 60.

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hung strafbar sein, obwohl der taugliche Versuch straflos ist? Das kann nicht richtig sein. Wenn es also zutrifft, dass der Versuch der Handlungen des § 30 Abs. 2 StGB nicht strafbar ist, dann muss der „Ebenso“-Verweisung in § 30 Abs. 2 StGB ein anderer Sinn innewohnen als die Pönalisierung der untauglich versuchten Bereiterklärung. Zu vermuten ist, dass diese Verweisung nur Fälle betrifft, die ungeachtet des Untauglichkeits-Elements den Charakter einer vollendeten Bereiterklärung haben (näher dazu unten III. 4.).

III. Der untaugliche Versuch der Bereiterklärung 1. Tauglicher und untauglicher Versuch Wenn man zwischen tauglichen und untauglichen Versuchen unterscheidet, dann muss es zwei grundlegend unterschiedliche Kategorien von Gründen geben, die für den Nichteintritt der Vollendung ausschlaggebend sind. Denn rückblickend erweist sich beim Ausbleiben der Vollendung22 die vorausgehende Versuchstat immer als eine Tat, der letztendlich die Vollendungstauglichkeit fehlte23. Dass die Tat nur versucht und nicht vollendet wurde, hat einen Grund. Und weil es diesen Grund schon gegeben hat, bevor ansonsten das Vollendungsziel erreicht worden wäre, war die Tat vollendungsuntauglich. Eine Differenzierung zwischen tauglichen und untauglichen Versuchen wäre demnach nicht möglich, gäbe es nicht eine Klasse von Gründen, die zwar die Vollendung verhindern, nicht aber die Vollendungstauglichkeit des Versuchs ausschließen. Im Wesentlichen sind es zwei Kriterien, die im vorliegenden thematischen Zusammenhang für eine Klassifizierung von Versuchen herangezogen werden könnten: Zum einen die Beherrschung des Vollendungshindernisses durch den Täter und zum anderen der Zeitpunkt der Entstehung des Vollendungshindernisses. Das erste Kriterium bestimmt nicht über Tauglichkeit oder Untauglichkeit des Versuchs. Zwar trifft es zu, dass bei einem untauglichen Versuch der Grund für die Nichtvollendung immer unabhängig ist von Willen und Handeln des Täters. Es gibt aber auch Versuche, die keine untauglichen sind, obwohl die Nichtvollendung nicht auf Verhalten des Täters beruht. In einem solchen Fall spricht man von einem – objektiv – fehlgeschlagenen Versuch24. Das entscheidende Abgrenzungskriterium ist also der Zeitpunkt, ab dem feststeht, dass die Tat auf der Grundlage des Tatplanes (des Täters „Vorstellung von der Tat“, ___________ 22 Auf den Versuch als bloßes Durchgangsstadium zur Vollendung trifft dies naturgemäß nicht zu, vgl. Herzberg, JuS 1996, 377 (379). 23 Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 26 Rn. 28; Fischer (Fn. 14), StGB, § 22 Rn. 39; LK-StGB/Hillenkamp (Fn. 13), § 22 Rn. 179. 24 Wessels/Beulke (Fn. 5), Rn. 628; unrichtig Kütterer-Lang, JuS 2006, 206 (207): „... objektiv fehlgeschlagenen – also untauglichen – Versuch ...“.

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§ 22 StGB) nicht zur Vollendung gelangen kann. Liegt das Vollendungshindernis bei Versuchsbeginn (unmittelbares Ansetzen, § 22 StGB) noch nicht vor, sondern entsteht es erst später, handelt es sich um einen ex ante betrachtet tauglichen Versuch. Untauglich ist also ein Versuch, der bereits im Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens auf ein unüberwindliches Vollendungshindernis stößt, bei dem also von vornherein feststeht, dass die Tat den Vollendungspunkt nicht erreichen wird25. Evidente Fälle des untauglichen Versuches sind das Fehlen tatsächlicher oder rechtlicher Tatbestandsverwirklichungsvoraussetzungen in Bezug auf das Objekt der Tat, das Mittel der Tatbegehung sowie die Person des Täters selbst26. Inwieweit erst nach Überschreiten der Versuchsschwelle sichtbar gewordene Vollendungshindernisse im Keim schon vor Versuchsbeginn angelegt waren, dem Versuch also das Attribut „untauglich“ verliehen haben, ist eine Frage naturwissenschaftlicher Erkenntnis, deren Beantwortung folglich der Beschränktheit menschlichen Erkenntnisvermögens korrespondiert und daher nicht in jedem Fall in befriedigender Weise möglich ist. Es kann also durchaus sein, dass Versuche, die wegen des augenscheinlich der Beendigung des Versuchsverhaltens nachfolgenden Scheiterns der Tat als tauglich eingestuft werden, in Wirklichkeit auf Grund dem menschlichen Auge und Verstand verborgener Kausalzusammenhänge von vornherein zum Scheitern verurteilt und daher untauglich waren. Als Beispiel aus der aktuellen Rechtsprechung sei die „Krankenpfleger-Entscheidung“ des BGH genannt27: Der Patient verstarb, nachdem der Krankenpfleger lebensgefährliche – also zur Tötung geeignete – Handlungen ausgeführt hatte. Ursache des Todes war jedoch die Erkrankung des Patienten, an der dieser schon lange vor der Tat des Krankenpflegers litt. War der Tötungsversuch des Krankenpflegers deswegen ein von vornherein untauglicher? Im Zeitpunkt der Tatbegehung war wohl noch nicht erkennbar, ob der Patient infolge seines Grundleidens oder – vorzeitig – wegen der Manipulationen des Täters sterben würde. Jedenfalls war ex ante nicht ausgeschlossen, dass die Handlungen des Täters einen „überholenden“ Kausalverlauf in Gang gesetzt haben, der zum Tod des Patienten führt, bevor sich dessen Krankheit todbringend auswirken würde. Also doch ein tauglicher Versuch? Abgrenzungsschwierigkeiten dieser Art dürften mit ein Grund dafür sein, dass der Gesetzgeber einer uneinheitlichen Behandlung von tauglichem und untauglichem Versuch wenig zugeneigt ist. ___________ 25

Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 23), § 26 Rn. 28; LK-StGB/Hillenkamp (Fn. 13), § 22 Rn. 179; NK-StGB/Zaczyk (Fn. 15), § 22 Rn. 34. 26 LK-StGB/Hillenkamp (Fn. 13), § 22 Rn. 179; Schönke/Schröder/Eser, StGB (Fn. 15), § 22 Rn. 60. 27 BGH NStZ 2008, 93.

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2. Vollendete und (tauglich) versuchte Bereiterklärung a) Inwieweit in das Bereiterklärungs-Delikt des § 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB das Element des untauglichen Versuchs überhaupt integriert werden kann und sich daraus gegebenenfalls sogar Strafbarkeit ergibt, kann nur ermittelt werden, wenn zunächst einmal Klarheit darüber hergestellt ist, wie eine formell vollendete und wie eine formell versuchte Bereiterklärung aussieht. Der Gesetzestext macht einem schon die Bestimmung der vollendeten Bereiterklärung nicht leicht, weil der Wortlaut des § 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB die Tatbestandsmerkmale nur fragmentarisch abbildet. Außer Zweifel steht nämlich z.B, dass es noch nicht strafbar ist, auf ein Blatt Papier den Satz zu schreiben „Ich werde morgen den O töten“ oder diesen Satz im Badezimmer dem eigenen Spiegelbild mündlich zu Gehör zu bringen. Die Bereiterklärung muss an einen Erklärungsadressaten zumindest gerichtet28, nach engerer Auffassung diesem sogar zugegangen sein29, was sich beides aus dem Text der Vorschrift nicht unmittelbar und zwingend erschließt. Mit Schweigen beantwortet das Gesetz demnach auch die sich sogleich aufdrängende Frage, wer als Erklärungsadressat berücksichtigungsfähig ist und wer nicht. Ruft jemand einem wildfremden Dritten zu: „Ich werde morgen den O töten!“, so hat die Bereiterklärung zwar einen Adressaten, erfüllt aber dennoch nicht den Tatbestand des § 30 Abs. 2 Alt. 1 i.V.m. § 212 StGB30. Warum das so ist und welche Person als Erklärungsadressat in Frage kommt, erfährt der Leser des Gesetzes jedoch nicht. Zur Vollendung der Bereiterklärung gehört also neben dem Erklärungsakt und dem Erklärungsinhalt (Begehung eines Verbrechens oder Anstiftung zu einem Verbrechen) ein geeigneter Erklärungsempfänger. Liegen diese drei Merkmale vor, ist das Bereiterklärungs-Delikt formell vollendet. b) Ein bloß versuchtes Bereiterklärungs-Delikt zeichnet sich somit dadurch aus, dass einerseits wenigstens eines der soeben erwähnten Tatbestandsmerkmale nicht erfüllt ist, andererseits jedoch das Verhalten des Täters als unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung des Bereiterklärungs-Tatbestandes qualifiziert werden kann. Einen Fall des tauglichen Versuchs kann man sich als Vertreter eines Zugangserfordernisses31 etwa so vorstellen, dass die Bereitschaftserklärung auf den Weg zu ihrem Empfänger gebracht worden ist, diesen jedoch ___________ 28

Fischer, StGB (Fn. 14), § 30 Rn. 10; Lackner/Kühl (Fn. 8), § 30 Rn. 6; Schönke/Schröder/Cramer/Heine, StGB (Fn. 15), § 30 Rn. 23. 29 MK-StGB/Joecks (Fn. 16), § 30 Rn. 44; NK-StGB/Zaczyk (Fn. 15), § 30 Rn. 38, 40; SK-StGB/Hoyer, 7. Aufl. (Stand: Januar 2001), § 30 Rn. 40; diff. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 65 III 3; Otto, Grundkurs Strafrecht Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004, § 22 Rn. 88; Schröder, JuS 1967, 289 (291); Thalheimer (Fn. 17), S. 81. 30 Letzgus (Fn. 17), S. 88; Schröder, JuS 1967, 289 (291). 31 Siehe o. Fn. 29.

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nicht erreicht hat. Es fehlt also noch am Erklärungs-Erfolg. Soweit Zugang beim Adressaten nicht für erforderlich erachtet wird, kann der taugliche Versuch darin bestehen, dass die Bereiterklärung noch nicht vollständig artikuliert oder noch nicht aus der Hand gegeben wurde. Mängel hinsichtlich der anderen Tatbestandsmerkmale führen hingegen typischerweise zu einem untauglichen Versuch (dazu sogleich 3.). Die Frage nach der Strafbarkeit derartiger Vorgänge wird in der Literatur einhellig verneint32. Das ist richtig, da § 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB die Strafbarkeitsvoraussetzungen abschließend beschreibt. Für eine Strafbarkeitsausdehnung über diesen Normtext hinaus gibt es keine rechtliche Grundlage. § 30 StGB bewirkt selbst bereits eine erhebliche und im Detail nicht unbedenkliche33 Strafbarkeitsausdehnung34 über den primär durch den BT abgesteckten und sekundär durch § 22 StGB und §§ 25 Abs. 2, 26, 27 StGB erweiterten Bereich hinaus35. Mit § 30 StGB wird das Strafrecht auf Ausschnitte des Straftatvorbereitungsstadiums vorverlagert36. Eine noch weitergehende Vorverlagerung wäre verfassungsrechtlich inakzeptable Strafrechtshypertrophie. Insbesondere lässt sich § 30 Abs. 2 StGB nicht mit §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 „zusammenspannen“37, obwohl alle Varianten des § 30 StGB Verbrechensqualität haben38. Denn wenn § 23 Abs. 1 StGB die Strafbarkeit des Versuchs eines Beteiligungsversuchs anordnete, dann müsste aus demselben Grund der „Versuch des (Täter-)Versuchs“ – gewissermaßen ein „Ketten-Versuch“39 – erst recht strafbar sein. Das aber ist zweifellos nicht der Fall40. Der „Tatbestand“, zu dessen Verwirklichung der Versuchstäter gem. § 22 StGB unmittelbar ansetzen muss, ist der im BT beschriebene Vollendungstatbestand, nicht der durch die Strafaus___________ 32

Dreher, GA 1954, 11 (18); Fischer, StGB (Fn. 14), § 30 Rn. 13. Vgl. z.B. LK-StGB/Schünemann (Fn. 13), § 30 Rn. 12. 34 LK-StGB/Schünemann (Fn. 13), § 30 Rn. 1; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Band II, 2003, § 28 Rn. 1 („potenzierte Strafausdehnung“). 35 HK-GS/Letzgus, 2008, § 30 Rn. 5; Letzgus (Fn. 17), S.118. 36 Letzgus (Fn. 17), S. 120; LK-StGB/Schünemann (Fn. 13), § 30 Rn. 2 a; MKStGB/Joecks (Fn. 16), § 30 Rn. 10; Schönke/Schröder/Cramer/Heine, StGB (Fn. 15), § 30 Rn. 2. 37 NK-StGB/Zaczyk (Fn. 15), § 30 Rn. 60. 38 LK-StGB/Hilgendorf (Fn. 13), § 12 Rn. 26; NK-StGB/Lemke (Fn. 15), § 12 Rn. 13; SK-StGB/Hoyer (Fn. 29), § 12 Rn. 7; Schönke/Schröder/Eser, StGB (Fn. 15), § 12 Rn. 13. 39 Eine fragwürdige Konstruktion eines solchen Ketten-Versuchs ist die von einigen befürwortete Strafbarkeit des Herbeiführens einer actio-libera-in-causa-Situation als unmittelbares Ansetzen zur alic-Tat, Roxin, FS Lackner, 1987, S. 307 (314); dagegen zutr. Schönke/Schröder/Eser, StGB (Fn. 15), § 22 Rn. 56. 40 Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 23), § 26 Rn. 13; Keller, Rechtliche Grenzen der Provokation von Straftaten, 1989, S. 178. 33

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dehnungsnorm § 22 StGB vorgelagerte Versuchstatbestand41. Nach zutreffender h.M. ist nicht einmal der Versuch eines echten Unternehmensdelikts mit Verbrechenscharakter – z.B. §§ 307 Abs. 1, 309 Abs. 1 StGB – strafbar42, obwohl der Tatbestand, zu dessen Verwirklichung der Unternehmenstäter im Versuchsstadium unmittelbar ansetzen würde, der eines (formell) vollendeten Delikts ist, § 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB43. Zumindest vor dem Hintergrund der §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB konsequent ist hingegen die von der h.M. bejahte Strafbarkeit des Versuchs bei verselbstständigten Vorbereitungstaten wie § 80 StGB und § 310 Abs. 1 StGB44.

3. Untauglichkeits-Fälle Die Untauglichkeit des Versuchs kann ihren Grund in der Insuffizienz der Tat hinsichtlich Erklärungsakt (einschließlich Erklärungserfolg), Erklärungsinhalt und Erklärungsadressat haben. In Anbetracht der vereinzelten Abhängigkeit des Verbrechenscharakters von besonderen persönlichen Umständen (§ 28 StGB)45 sind sogar Fälle denkbar, in denen die Untauglichkeit mit der Person des Erklärenden zusammenhängt. a) Beispiele für die letztgenannte Konstellation liefern in erster Linie die Amtsdelikte46. Ein Nichtamtsträger, der seinen eigenen Status überschätzend sich Amtsträgereigenschaft zuschreibt und mit dieser Fehlvorstellung die Bereitschaft zur Begehung einer Aussageerpressung oder Rechtsbeugung bekundet, könnte im Tatausführungsstadium als untaugliches Subjekt allenfalls einen untauglichen Versuch der Aussageerpressung oder Rechtsbeugung begehen. b) Untauglichkeit des Erklärungsakts ist etwa die Artikulation in einer Sprache, die niemand oder zumindest der Erklärungsadressat nicht verstehen kann ___________ 41 Keller (Fn. 40), S. 175 ff.: „Ergänzungstatbestand“; a.A. SK-StGB/Hoyer (Fn. 29), § 30 Rn. 2, der die Nichtanwendbarkeit des § 22 StGB aus § 30 StGB im Wege eines Umkehrschlusses ableitet. 42 Fischer, StGB (Fn. 14), § 11 Rn. 28 a; LK-StGB/Hilgendorf (Fn. 13), § 11 Rn. 84; LK-StGB/Hillenkamp (Fn. 13), Vor § 22 Rn. 125; Lackner/Kühl (Fn. 8), § 11 Rn. 19. 43 Berz, Formelle Tatbestandsverwirklichung und materialer Rechtsgüterschutz, 1986, S. 129. 44 Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 23), § 26 Rn. 13; Lackner/Kühl (Fn. 8), § 80 Rn. 5, § 310 Rn. 4; Schönke/Schröder/Stree/Sternberg-Lieben, StGB (Fn. 15), § 80 Rn. 9; Schönke/Schröder/Cramer/Heine, StGB (Fn. 15), § 310 Rn. 9. 45 LK-StGB/Schünemann (Fn. 13), § 30 Rn. 37. 46 Betroffen sind auch Banden- und Gewerbsmäßigkeitsdelikte (z.B. §§ 244 a Abs. 1, 260 a Abs. 1 StGB), sofern man die Bandenmitgliedschaft als besonderes persönliches Merkmal qualifiziert; so z.B. Fischer, StGB (Fn. 14), § 244 Rn. 22.

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oder ungünstige akustische Wahrnehmungsvoraussetzungen bei der Verständigung zwischen Erklärendem und Erklärungsempfänger. c) Das Merkmal Erklärungsadressat ist für die Untauglichkeit verantwortlich, wenn die Person, an die der Erklärende seine Willensbekundung richtet, entweder gar nicht existiert47 oder nicht die Eigenschaften hat, die ein Erklärungsadressat haben muss, also z.B. an der angekündigten Tat des Erklärenden keinerlei Interesse hat. d) Um einen untauglichen Erklärungsinhalt handelt es sich, wenn die erklärungsgegenständliche Tat objektiv entweder tatsächlich nicht ausführbar ist oder nicht die erforderliche rechtliche Qualität hat, also entweder kein Verbrechen, nicht tatbestandsmäßig oder nicht rechtswidrig ist48. Die Untauglichkeit des Erklärungsinhalts ist die einzige Variante, die in der Literatur eine etwas ausführlichere Ansprache findet. So erwähnt Schünemann im Leipziger Kommentar den Fall, dass sich jemand zur Ermordung eines Menschen bereit erklärt, der im Zeitpunkt der Zusage schon tot ist. Der Erklärende mache sich aus § 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB strafbar49. Auf die oben skizzierten Fallgruppen a und c geht die Literatur nicht ein. Zur Fallgruppe b präsentiert Zaczyk – einer der wenigen Autoren, die der Berücksichtigung des untauglichen Versuchs in § 30 StGB tendenziell ablehnend gegenüberstehen – ein eindrucksvoll kurioses50 – § 30 Abs. 1 StGB betreffendes – Beispiel51. Der Grund für die Zurückhaltung der Literatur ist leicht zu erahnen. Allen Fällen der Gruppen a bis c gemeinsam ist nämlich, dass das Untauglichkeitselement den Kommunikationsvorgang der Bereiterklärung selbst betrifft und nicht die in der Zukunft liegende Tat, die als Inhalt der Erklärung verbal antizipiert wird. Es handelt sich also um Fälle, in denen das Defizit in der objektiven Substanz des Bereiterklärungsdelikts steckt. Dagegen ist bei untauglichem Erklärungsinhalt ein Teil des Delikts betroffen, das im Zeitpunkt der Tatbegehung – der Verlautbarung der Tatbegehungsbereitschaft – ohnehin nur in versubjektivierter Form, in der Künftiges geistig vorwegnehmenden Vorstellung der Beteiligten, existiert52, mag auch das Vollendungshindernis bereits objektiv bestehen. Die Fälle des untauglichen Erklärungsakts, des untauglichen Erklärungsadressaten ___________ 47 NK-StGB/Zaczyk (Fn. 15), § 30 Rn. 30 a.E.: Anstiftungsversuch gegenüber einer Schaufensterpuppe. 48 Vereinzelt wird sogar verlangt, dass die vom Erklärenden angekündigte Tat eine schuldhafte sein wird. 49 LK-StGB/Schünemann (Fn. 13), § 30 Rn. 87; ebenso Roxin (Fn. 34), § 28 Rn. 76; Schröder, JuS 1967, 289 (293); Thalheimer (Fn. 17), S. 82; 41 (bzgl. § 30 Abs. 1 StGB). 50 Thalheimer (Fn. 17), S. 43. 51 NK-StGB/Zaczyk (Fn. 15), § 30 Rn. 30. 52 Schönke/Schröder/Cramer/Heine, StGB (Fn. 15), § 30 Rn. 3; Schröder, JuS 1967, 289 (292).

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und auch des untauglichen Erklärenden unterscheiden sich daher strukturell nicht von vergleichbaren Fällen tauglicher Versuche. Dass diese nicht strafbar sind, wurde oben festgestellt. Daraus folgt zwingend, dass auch die entsprechenden Fälle des untauglichen Versuchs nicht strafbar sein können53. Demgegenüber könnte es sich bei der defektfreien Bereiterklärung bezüglich einer objektiv untauglichen Tat um einen Fall vollendeter Bereiterklärung handeln. Dann stünde eine Strafbarkeit nicht im Widerspruch zu der generellen Straflosigkeit der versuchten Bereiterklärung.

4. Untauglicher Erklärungsinhalt a) Die Bereiterklärung zu einer untauglichen Verbrechensbegehung ist ein Vorgang, dessen strafrechtliche Relevanz als strafbare Tat i.S.d. § 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB zweifellos zur Voraussetzung hat, dass zumindest der Erklärende selbst die Untauglichkeit nicht erkennt54. Teilt jemand einem anderen mit, er werde einen gewissen O „töten“, von dem er weiß, dass O bereits tot ist, dann macht der Erklärende sich ebenso wenig aus § 30 Abs. 2 Alt. 1 i.V.m. § 212 StGB strafbar, wie er sich nicht aus §§ 212, 22 StGB strafbar machen würde, wenn er einen Pistolenschuss auf den von ihm als solchen erkannten Leichnam abgeben würde. Nicht einmal die irrige Annahme, der Schuss auf die Leiche sei ein Verbrechen55, könnte daran etwas ändern, weil eine derartige Fehlvorstellung wahndeliktischen Charakter hätte und deshalb strafrechtlich irrelevant wäre. Die evidente Richtigkeit des Ergebnisses bedarf keiner aufwendigen Begründung, denn es fehlt zumindest der auf der subjektiven Tatbestandsebene erforderliche Tatvollendungsvorsatz56. Eher irreführend und ohne eindeutige dogmatische Aussagekraft ist hingegen die in diesem Zusammenhang üblicherweise angebrachte Bemerkung, die Bereiterklärung müsse „ernst gemeint sein“57. Das Beispiel wirft jedoch zugleich die Frage auf, ob nicht schon die objektive Tatbestandsmäßigkeit der Bereiterklärung defizitär und dies der primäre

___________ 53

NK-StGB/Zaczyk (Fn. 15), § 30 Rn. 60. BGHSt 4, 254; Fischer, StGB (Fn. 14), § 30 Rn. 4. 55 Eine solche Tat könnte Vergehen nach § 168 Abs. 1 StGB sein, sofern sie „beschimpfender Unfug“ ist. 56 Frister, Strafrecht Allgemener Teil, 3. Aufl. 2008, Kap. 29 Rn. 40; Letzgus (Fn. 17), S. 183; Roxin, JA 1979, 169 (171); Schönke/Schröder/Cramer/Heine, StGB (Fn. 15), § 30 Rn. 27; HK-GS/Letzgus (Fn. 35), § 30 Rn. 80. 57 Dreher, GA 1954, 11 (15, 19); Fischer, StGB (Fn. 14), § 30 Rn. 10; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 27/10; Maurach/Gössel/Zipf (Fn. 16), § 53 Rn. 12; SK-StGB/Hoyer (Fn. 29), § 30 Rn. 41; Schröder, JuS 1967, 289 (294); Thalheimer (Fn. 17), S. 78. 54

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und durchschlagende Grund ihrer Straflosigkeit ist58. Möglicherweise scheitert bei untauglichem Erklärungsinhalt die Strafbarkeit einer vom Erklärenden „ernst gemeinten“ Erklärung daran, dass sie wegen ihres Inhalts nicht „ernst zu nehmen“ ist. Soll es wirklich eine grundsätzlich strafbare und nur auf der Sanktionsseite gem. § 23 Abs. 3 StGB entpönalisierbare Tat sein, wenn jemand 45 Jahre nach dem Attentat von Dallas verkündet, er habe vor, demnächst USPräsident John F. Kennedy zu ermorden? Damit wird sichtbar, dass das Phänomen des untauglichen Erklärungsinhalts zuallererst verlangt zu klären, aus wessen Perspektive denn zu bestimmen ist, ob und dass die Bereiterklärung eine Tat betrifft, die von vornherein zur Hervorbringung eines tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Verbrechens untauglich ist. Wessen Wahrnehmung, Wissen und Verständnis entscheidet darüber, ob der Erklärende die Bereitschaft zur Begehung einer tauglichen oder einer untauglichen Tat kundgibt? Da der Erklärende selbst seine antizipierte Tat für tauglich halten muss, kommen dafür nur der Erklärungsempfänger und/oder ein objektiver Dritter in Betracht. Die Konstellationen, um deren strafrechtliche Beurteilung es hier also nur noch gehen kann, sehen demnach so aus, dass ein hinsichtlich der Untauglichkeit ahnungsloser Erklärender mit einem ebenso ahnungslosen oder mit einem die Untauglichkeit kennenden Erklärungsempfänger kommuniziert. Im erstgenannten Fall ist die Tat in den Augen des imaginären Dritten untauglich, während die beiden an dem Erklärungsakt beteiligten Kommunikationspartner übereinstimmend von einer tauglichen Tat ausgehen. An das obige Beispiel der „Leichentötung“ anknüpfend halten Erklärender und Erklärungsempfänger den tatsächlich bereits verstorbenen O irrig für lebendig. In der zweiten Variante geht nur der Erklärende von einem noch lebenden Tötungsopfer aus, während der Erklärungsempfänger – ebenso wie der „imaginäre Dritte“ – über den Tod des O schon informiert ist. Die oben zitierten Autoren Schünemann, Roxin und Thalheimer gehen in ihren kurzen Bemerkungen zu dem Beispiel auf den Kenntnisstand des Erklärungsempfängers nicht ein. Entweder fehlte ihnen das Bewusstsein, dass es auf diesen Umstand ankommen könnte oder sie hielten ihn mangels Relevanz für nicht erwähnenswert mit der unausgesprochenen Konsequenz, dass der ahnungslose Erklärende sowohl einem wissenden als auch einem unwissenden Adressaten gegenüber eine strafbare Bereiterklärung abgeben kann. b) Da dem Gesetzeswortlaut des § 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB zu diesem Punkt keine erkenntnisfördernden Hinweise entnommen werden können und auch die Verweisung „Ebenso wird bestraft“ unterschiedlichen Deutungen Raum gibt, muss der Strafzweck des § 30 StGB unter besonderer Berücksichtigung der 1. Alternative des zweiten Absatzes zu Rate gezogen werden. Die Strafbarkeit ___________ 58 Anders Schönke/Schröder/Cramer/Heine, StGB (Fn. 15), § 30 Rn. 26: „reines Vorsatzproblem“.

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der auf eine untaugliche Verbrechenstat gerichteten Bereiterklärung muss eine tragfähige Strafrechtslegitimation haben, um als zutreffend aus § 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB gewonnenes Ergebnis Anerkennung beanspruchen zu können. Zu fragen ist also nach der Strafwürdigkeit des Verhaltens59. Vor dem Hintergrund der grundsätzlichen und generellen Straflosigkeit von Verbrechensvorbereitungen60 hat die Bestimmung des Strafgrundes in erster Linie darzulegen, warum gerade die Existenz eines Erklärungsempfängers die Durchbrechung dieses Grundsatzes rechtfertigt. Worin besteht der entscheidende strafwürdigkeitsrelevante Unterschied zwischen der Herrichtung eines Gefängnisses, mit der jemand einen geplanten erpresserischen Menschenraub aufwendig und zielstrebig – aber straflos – vorbereitet und der an einen tauglichen Adressaten gerichteten Ankündigung, zum Zwecke der Lösegelderpressung einen Menschen entführen zu wollen? Warum ist der einen geplanten Mord vorbereitende Kauf einer Schusswaffe61 nicht wegen Verbrechensvorbereitung strafbar, wohl aber die Zusage an den Urheber des Tötungsauftrages, die Tat begehen zu wollen?62 Überwiegend wird die Kriminalisierung der versuchten Beteiligung differenzierend erklärt, wobei zwei Gruppen aus den Fällen des § 30 Abs. 1 und des § 30 Abs. 2 Alt. 2 StGB einerseits und den Fällen des § 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB und § 30 Abs. 2 Alt. 3 StGB andererseits gebildet werden63. Die Strafwürdigkeit der Bereiterklärung (§ 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB) – sowie der Verabredung (§ 30 Abs. 2 Alt. 3 StGB) – wird auf den Gedanken der Gefahrerhöhung durch Willensbindung zurückgeführt64. Mit der Bereiterklärung gegenüber dem Adressaten gehe der Täter eine Art Verpflichtung ein, die ihn an den Erklärungsempfänger binde und es ihm im weiteren Verlauf des Geschehens erschwere, von dem Tatplan Abstand zu nehmen und die Tat entgegen der ursprünglichen Bereiterklärung doch nicht zu begehen65. Die Hemmung, den anderen zu ent___________ 59

HK-GS/Letzgus (Fn. 35), § 30 Rn. 4. Fischer, StGB (Fn. 14), § 22 Rn. 5; LK-StGB/Hillenkamp (Fn. 13), Vor § 22 Rn. 5; Jescheck/Weigend (Fn. 29), § 65 I 2; Lackner/Kühl (Fn. 8), Vor § 22 Rn. 3; Letzgus (Fn. 17), S. 120; Schönke/Schröder/Eser, StGB (Fn. 15), Vor § 22 Rn. 13. 61 Die auf §§ 51, 52 WaffG beruhende Strafbarkeit des Erwerbes einer Schusswaffe ist keine Ausnahme von der prinzipiellen Straflosigkeit der Totschlagsvorbereitung, weil unerlaubter Umgang mit Waffen strafbar auch dann ist, wenn er nicht der Vorbereitung einer anderen Straftat dient. 62 Letzgus (Fn. 17), S. 123. 63 LK-StGB/Schünemann (Fn. 13), § 30 Rn. 3; Roxin (Fn. 34), § 28 Rn. 5; ders., JA 1979, 169 (170). 64 Kühl (Fn. 20), § 20 Rn. 245; Roxin (Fn. 34), § 28 Rn. 5; ders., JA 1979, 169 (171); Schönke/Schröder/Cramer/Heine, StGB (Fn. 15), § 30 Rn. 1; Schröder, JuS 1967, 289 (291); SK-StGB/Hoyer (Fn. 29), § 30 Rn. 37; Thalheimer (Fn. 17), S. 75. 65 Jescheck/Weigend (Fn. 29), § 65 I 2. 60

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täuschen, sich selbst als wortbrüchig oder feige zu desavouieren und die Furcht vor eventuell zu erwartenden Repressalien und Sanktionen seitens des Erklärungsempfängers oder Dritter sind Motivationsfaktoren, die für eine Verfestigung der Tatbegehungsbereitschaft beim Erklärenden sorgen können. Nachvollziehbar ist, dass auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit des Festhaltens an dem Tatentschluss und seiner Realisierung durch tatbestandsverwirklichende Handlungen erhöht wird. Infolge der konspirativen Bindung an den Willen einer anderen Person ist der Erklärende in seiner eigenen Entscheidung nicht mehr in dem Maße frei, wie er es als Einzelakteur ohne Tatbeteiligte wäre. So einleuchtend der Befund als solcher auch ist, liegt seine Schwäche als Begründung der Strafbarkeit gleichwohl auf der Hand: Eine Steigerung der objektiven Gefährdetheit des ausersehenen Tatobjekts bewirkt die Eingehung einer Komplizenschaft mit einem anderen nicht66. Insbesondere ist die Verengung des eigenen Entscheidungsspielraums infolge der Bindung an den Erklärungsempfänger weder der mittelbaren Täterschaft noch der actio libera in causa vergleichbar. Wer sich auf einen Unrechtspakt einlässt, setzt damit noch keinen Kausalverlauf in Gang, von dem er mitgerissen wird und in dem er keine geschehensbeherrschende Rolle als verantwortlich entscheidender und handelnder Akteur mehr spielt. Zu einer Gefahrsteigerung kommt es erst mit dem Beginn der Ausführung des Auftrags, wozu auch vorbereitende Maßnahmen (z.B. Kauf einer Schusswaffe) gehören, die ihrerseits jedoch gerade nicht strafbar sind. Der höhere Grad an Tatbegehungsbereitschaft ist ein Faktum im subjektiven Bereich, in etwa vergleichbar mit der Differenz zwischen dolus eventualis und Absicht67. Für eine Vorverlagerung der Strafbarkeit in den Vorbereitungsbereich lässt sich daraus aber keine Legitimation ableiten. Schließlich kann auch ein krimineller Einzelgänger weit vor Überschreiten der Versuchsgrenze hochgradig zwingende und treibende Tatbegehungsgründe haben, die ihn frühzeitig an einen Tatplan fesseln und eine Abstandnahme nahezu unmöglich machen68. Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an Fälle der Tötung zur Verdeckung einer anderen Straftat, § 211 Abs. 2 StGB. Dennoch wird Strafbarkeit erst mit Eintritt in das Versuchsstadium begründet. Vor diesem Hintergrund ist die Vorverlagerung der Strafbarkeit in das Bereiterklärungsstadium ernstlichen Bedenken ausgesetzt. Einem derartig frühen Zugriff des Strafrechts steht die Unvereinbarkeit mit dem Verhältnismäßigkeitsgebot auf die Stirn geschrieben. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung sind daher nicht aus der Luft gegriffen. Vor einem Spruch des ___________ 66

Schröder, JuS 1967, 289: „Der deliktische Unwert ... resultiert ... nicht so sehr aus der objektiven Gefährlichkeit des einzelnen Verhaltens ...“. 67 Demgegenüber erkennt Letzgus (Fn. 35, § 30 Rn 8) die konspirative Verbindung als „objektiv feststellbares und messbares Gefährlichkeitskriterium“ an. 68 Letzgus (Fn. 17), S. 176.

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Bundesverfassungsgerichts hat die Strafrechtspflege jedoch von der Beachtlichkeit des § 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB auszugehen. Die Strafbarkeit der „vollendeten“ Bereiterklärung ist insoweit geltendes Recht. In Bezug auf die Vorschrift allgemein und im Hinblick auf den Fall einer Bereiterklärung zur Begehung einer vollendungsuntauglichen Tat im besonderen folgt aus der verfassungsrechtlichen Fragwürdigkeit das Erfordernis einer restriktiven Auslegung69. Jedenfalls bei Tatkonstellationen, deren Strafbarkeit nicht einmal in der Strafwürdigkeitsbegründung, die der Strafbarkeit der Bereiterklärung zur Begehung einer tauglichen Verbrechenstat zugrunde liegt, Rückhalt findet, muss diese Auslegung zur Verneinung von Strafbarkeit führen. Dabei besteht das Hauptproblem der Auslegungsbemühungen darin, dieses Ergebnis mit der doppelten Verweisung in § 30 StGB (Verweisung von Absatz 2 auf Absatz 1, Verweisung in Absatz 1 auf § 23 Abs. 3 StGB) in Einklang zu bringen (dazu unten 5.). An dieser Stelle gewinnt nun der Kenntnisstand des Bereiterklärungsempfängers möglicherweise ausschlaggebende Bedeutung. Ausgehend von der Prämisse, dass die Strafwürdigkeit der Bereiterklärung mit der Selbstbindung des Erklärenden gegenüber dem Adressaten zu erklären ist, muss geklärt werden, ob diese Bindung unabhängig ist von dem Wissen des Erklärungsempfängers um die Untauglichkeit der geplanten Tat. c) Als empirischer Befund ist die motivationsrelevante Verbindung der eigenen Tatbegehungsbereitschaft mit einer korrespondierenden Tatbegehungserwartung des Bereiterklärungsadressaten unabhängig davon, ob der Erklärungsadressat die Begehung der Tat wirklich erwartet bzw. die Begehung einer vollendungstauglichen Tat erwartet70. Denn die Einengung der Entscheidungsfreiheit des Bereiterklärenden wird durch dessen eigene Vorstellung, der Erklärungsadressat erwarte die Einhaltung des Versprechens, bewirkt. Beruht diese Annahme auf einem Irrtum, entfaltet sie ihre Wirkung als zur Tatbegehung drängender Motivationsfaktor gleichwohl. Die Vorstellung des Bereiterklärenden, der Adressat werde sich auf die Tatbegehungszusage verlassen und gegebenenfalls ihre Einhaltung einfordern, ist sogar das ausschlaggebende und letztlich einzige Faktum, auf das sich der Grund, der für die Strafwürdigkeit der Bereiterklärung angegeben wird, stützt. Als Konsequenz daraus ist nicht gemäß § 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB strafbar, wer – mit Tatbegehungsvorsatz (!) – einem anderen gegenüber zusagt, ein Verbrechen zu begehen und gleichzeitig annimmt, der Erklärungsadressat werde die Erklärung gar nicht verstehen oder nicht ernst nehmen, obwohl der Adressat objektiv sehr wohl auf die Verwirklichung der Bereiterklärung vertraut. Da dem Erklärenden in einem solchen Fall der Vorsatz bezüglich eines wirksamen „Zugangs“ seiner Erklärung beim Ad___________ 69 Dessecker, JA 2005, 549 (554); Letzgus (Fn. 17), S. 98; LK-StGB/Schünemann, § 30 Rn. 43. 70 Letzgus (Fn. 17), S. 186.

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ressaten fehlt, handelt es sich um eine straflose fahrlässige Bereiterklärung. Basiert die behauptete Strafwürdigkeit der Bereiterklärung also allein auf dem Gefühl der Gebundenheit gegenüber einem anderen, wäre es konsequent, die Strafbarkeit der Bereiterklärung in sämtlichen Fällen zu bejahen, in denen eine wirkliche Bindung des Erklärenden an die Tatbegehungserwartung des Erklärungsadressaten fehlt, der Erklärende sich diese jedoch irrig vorstellt. Selbst die irrtümliche Annahme des Zugangs der Erklärung bei einem – gar nicht (mehr) existenten oder tatsächlich nicht – tauglichen Adressaten würde Strafbarkeit der Bereiterklärung begründen. Unter diesen Umständen ist die Bereiterklärung jedoch zweifellos nicht strafbar. Dem behaupteten Strafwürdigkeitsgrund des § 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB korrespondiert also keine lückenlose Strafbarkeit. Es gibt Fälle, die die strafwürdigkeitsrelevanten Tatsachen aufweisen und dennoch den Tatbestand strafbarer Bereiterklärung zur Verbrechensbegehung nicht erfüllen. Erklären lässt sich dies entweder mit einer vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten Fragmentarität des § 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB, einer in Literatur und Rechtsprechung mehr oder weniger unreflektierten tatbestandsrestringierenden Auslegung des § 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB oder einer bedeutsam reduzierten Strafwürdigkeit der Fälle, in denen die Bereiterklärung nicht strafbar sein soll. Richtig ist letzteres. Aus der Perspektive des gefährdeten Rechtsgutsobjekts – und diese Perspektive ist in einem dem Rechtsgüterschutz seine Legitimation verdankenden Strafrecht die maßgebliche – wird die Strafwürdigkeitsdifferenz schnell offenbar. Der Grad der Gefährdung dieses Objekts, der im Bereiterklärungsstadium naturgemäß ohnehin sehr niedrig ist, variiert je nachdem, ob das Gebundenheitsgefühl des Bereiterklärenden eine tatsächliche Verankerung in einer korrespondierenden Tatbegehungserwartung des Erklärungsadressaten hat oder sich auf bloß eingebildete Tatbegehungserwartung bezieht. Im ersten Fall besteht die Gefahr, dass sich der an der Tatbegehung interessierte Erklärungsadressat dem Erklärenden gegenüber auf die Tatbegehungszusage beruft, ihre Einhaltung und Einlösung einfordert und somit einem inzwischen vielleicht wankelmütig gewordenen Noch-nicht-Täter die Abstandnahme von der Tatbegehungsbereitschaft, also den Rücktritt, erschwert. Solange es zu einer derartigen Erinnerung oder Mahnung des Erklärungsempfängers nicht gekommen ist, stellt sich zwar die innerpsychische Verfassung des Bereiterklärenden nicht anders dar als bei von Anfang an fehlender Tatbegehungserwartung des Erklärungsempfängers. Der Erklärende steht unter dem intrinsischen Eindruck der Vorstellung, der Erklärungsempfänger könne jederzeit die Einlösung des gegebenen Versprechens verlangen. Aber die Strafwürdigkeitsbeurteilung kann nicht allein auf die innere Befindlichkeit des Bereiterklärenden abheben. Äußere Umstände, die zusammen mit der Bereiterklärung und dem durch sie erzeugten Bindungsgefühl des Erklärenden die Wahrscheinlichkeit einer Verbrechensbegehung erhöhen und damit die Gefährdungslage des Rechtsgutsobjekts verstärken, sind mit in Rechnung zu stellen. Das Erfordernis eines tatsächlich

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existenten Erklärungsempfängers und eines tatsächlichen Zugangs der Bereiterklärung bei diesem ist so zu erklären. Dieser höhere Grad an Gefährdung des bedrohten Rechtsgutsobjekts fehlt aber nicht nur, wenn die Bereiterklärung gar keinen tauglichen Adressaten erreicht, sondern auch dann, wenn der Adressat weiß, dass die in Aussicht gestellte Tat nicht möglich ist oder zumindest nicht erfolgreich vollendet werden kann. Ein derartiger Adressat wird von dem irrenden Erklärenden nicht verlangen, die zugesagte Tat zu begehen. Selbst wenn er es doch täte, würde er dies in dem Bewusstsein tun, dass dadurch die „Gefahr“ für das – vielleicht gar nicht existierende (siehe „Leichentötung“) – Rechtsgutobjekt, die schon durch die Tatbegehungsbereitschaft des Erklärenden geschaffen worden ist, nicht erhöht werden kann. Erhöht würde dadurch nur die Gefahr der Begehung eines von vornherein untauglichen Versuchs durch den Bereiterklärenden. Für strafwürdigkeitsbegründend erachten kann eine solche Gefahr nur, wer noch der „Schuldteilnahmetheorie“ anhängt und auch in dem agent provocateur einen strafbaren Anstifter sieht. Dasselbe geringe Gefahrerhöhungspotential hat die Bereiterklärung gegenüber einem Erklärungsempfänger, der ebenso wie der Erklärende die Untauglichkeit des Projekts nicht kennt und deshalb tatsächlich die Begehung einer tauglichen vollendeten Tat erwartet71. Dieser wird ebenfalls nur bewirken können, dass der Erklärende das von vornherein auf Begehung eines untauglichen Versuchs gerichtete Versprechen einlöst. Allerdings wäre dieser Bereiterklärungsadressat für den Erklärenden ein Partner, der – wie der potentielle Täter selbst – bis zuletzt an die Durchführbarkeit des Tatprojekts glaubt und daher die Einhaltung des gegebenen Versprechens auf Grund eigenen Tatbegehungsinteresses fordern würde. Im Unterschied zu dem über die Untauglichkeit informierten Erklärungsempfänger ist der insoweit uninformierte Erklärungsempfänger für den Erklärenden ein taugliches Medium zu einer gesteigerten Selbstbindung. Während von einem die Untauglichkeit kennenden Erklärungsempfänger nur noch zu erwarten ist, dass er den Erklärenden aus irrationalen Erwägungen oder etwa zum Zwecke polizeilicher Überführung in flagranti zur Tatbegehung drängt, wirkt der über die Untauglichkeit irrende Erklärungsempfänger als der Motivationsverstärker, der in der Strafwürdigkeitserklärung des Vorfelddelikts die zentrale Rolle spielt. Diesem Erklärungsempfänger gegenüber ist die Selbstbindung durch Bereiterklärung gelungen, dem anderen gegenüber ist sie fehlgeschlagen. Bei genauem Hinsehen handelt es sich bei der Bereiterklärung gegenüber einem die Untauglichkeit erkennenden Erklärungsempfänger nicht nur um einen Fall untauglichen Erklärungsinhalts, sondern zusätzlich um einen Fall eines untauglichen Erklärungsadressaten. Daher ist diese fehlgeschlagene Bereiterklärung ebenso straflos wie z. B. eine Erklärung, die den ihr zugedachten Empfänger gar nicht erreicht hat. Dagegen ist die Strafbar___________ 71

Letzgus (Fn. 17), S. 186.

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keit der Bereiterklärung gegenüber einem hinsichtlich der Untauglichkeit ebenso wie der Erklärende selbst ahnungslosen Erklärungsempfänger auf der Basis der für § 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB entwickelten Strafwürdigkeitsformel konsequent. Solange die Vollendungsuntauglichkeit kein allgemeines – also Versuchsstrafbarkeit ausschließendes – Strafbarkeitshindernis ist, zwingt sie auch im Kontext des § 30 StGB nicht zu einer Verneinung von Strafbarkeit72. Auf eine andere dogmatische Argumentations-Ebene gebracht, entspringt das hier gefundene Ergebnis folgender – dem gesamten § 30 Abs. 2 StGB immanenten – Regelhaftigkeit: Strafbar nach § 30 Abs. 2 StGB ist jemand, der sich im Vorbereitungsstadium eines künftigen Verbrechens zu mindestens einer anderen Person in eine Beteiligten-Konstellation positioniert. Die andere Person muss daher die Voraussetzungen erfüllen, die das Strafrecht an die Strafbarkeit der ersteren Person wegen Beteiligung stellt. Gemäß §§ 25 Abs. 2, 26 und 27 StGB muss der Partner desjenigen, um dessen Strafbarkeit als Beteiligter es geht, mit Vollendungsvorsatz handeln73. Wenn man an die inoffizielle Denomination des § 30 StGB als „Versuch der Beteiligung“ anknüpfend die Fälle des § 30 StGB als Beteiligung im Vorbereitungsstadium qualifiziert74, ist es somit konsequent, für jeden strafbaren Beteiligten einen Partner zu verlangen, der seinerseits das Beteiligtenkriterium vollendungsvorsätzlichen Handelns aufweist75. Dagegen ist mit einem Partner, der weiß, dass die geplante Tat nicht zur Vollendung gelangen kann, eine Beteiligungs-Konstellation nicht herstellbar. Wer gegenüber einem derartigen Adressaten eine Bereiterklärung abgibt, wer ein von einem derartigen Anbieter stammendes Erbieten annimmt und wer sich mit einem derartigen Verabredungspartner zusammentut, ist in Ermangelung eines tauglichen Co-Subjekts selbst kein Beteiligter und folglich nicht aus § 30 Abs. 2 Alt. 1, 2 und 3 StGB strafbar76. d) Zwischen den beiden Eckpunkten „unbegrenzte Strafbarkeit der auf eine untaugliche Tat gerichteten Erklärung“ (Roxin, Schünemann, Thalheimer) einerseits und „ausnahmslose Straflosigkeit bei untauglichem Erklärungsinhalt“ (Letzgus) andererseits hat sich als vorzugswürdig also folgende vermittelnde Lösung herausgestellt: Der sich zur Begehung eines vollendungsuntauglichen Verbrechens Bereiterklärende ist aus § 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB strafbar, wenn sein Kommunikationspartner, der Erklärungsempfänger, ebenso irrig von der ___________ 72

Thalheimer (Fn. 17), S. 42; generell die Strafwürdigkeit untauglicher Bereiterklärungen verneinend aber Letzgus (Fn. 17), S. 186. 73 Daran scheiterte z.B. eine an § 25 Abs. 2 StGB anknüpfende Strafbarkeit im „Haustürklingel-Fall“ BGHSt 39, 236. 74 Schröder, JuS 1967, 289: Sonderfälle der Vorbereitung einer Deliktsteilnahme. 75 Maurach/Gössel/Zipf (Fn. 16), § 53 Rn. 3. 76 Für Strafbarkeit der untauglichen Erbietens-Annahme aus § 30 Abs. 1 StGB Roxin, JA 1979, 169 (172).

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Vollendungstauglichkeit der in Aussicht gestellten Tat ausgeht, wie er selbst77. Dagegen ist der Bereiterklärende straflos, wenn der Empfänger seiner Erklärung weiß, dass die angekündigte Tat kein vollendetes, sondern nur ein untauglich versuchtes Verbrechen sein kann. Dieses Ergebnis ist für beide Erscheinungsformen des Bereiterklärens – das Initiativ-Erbieten78 und die reaktive Annahme einer Aufforderung79 – gleichermaßen gültig. Daraus folgt, dass der Adressat einer von einem agent provocateur stammenden Aufforderung zur Begehung eines objektiv untauglichen Verbrechens die Strafzone erst mit unmittelbarem Ansetzen (§ 22 StGB) erreicht. Die Annahme der provokativen Aufforderung begründet ebenso wenig Strafbarkeit wie die Aufforderung selbst.

5. Die beiden Verweisungen in § 30 StGB Bevor der Vorschlag dieses Ergebnisses aus der Hand gegeben und der kriminalrechtlichen community zur kritischen Würdigung angeboten werden kann, ist jedoch noch ein Prüfstand zu passieren, der oben schon als Hauptgrund der – weitgehend undifferenzierten – Anerkennung des untauglichen Tatprojekts als strafbarkeitsbegründender Inhalt einer Bereiterklärung ausgemacht worden ist: Wie verhält sich die hier präferierte Einschränkung der Strafbarkeit mit dem offenbar uneingeschränkten Import des § 23 Abs. 3 StGB in den Anwendungsbereich des § 30 StGB durch die zweifache Verweisung in § 30 Abs. 1 S. 3 StGB und in § 30 Abs. 2 StGB („Ebenso …“)? Unstreitig verbindet die „Ebenso-Verweisung“ die drei Varianten des § 30 Abs. 2 StGB mit der Strafandrohung in Absatz 1 Satz 1 („… wird … bestraft ...“) sowie mit der Milderungsanordnung in Absatz 1 Satz 2. Bleibt die Frage, ob auch die auf § 30 Abs. 1 Satz 3 beruhende Einbeziehung des § 23 Abs. 3 StGB in den Bereich des § 30 Abs. 1 StGB über die „Ebenso-Verweisung“ in den Absatz 2 verlängert wird. Dies ist grundsätzlich zu bejahen. Anderenfalls wäre es nicht möglich, in den Fällen des § 30 Abs. 2 StGB auf den kollektiven groben Unverstand sämtlicher oder einzelner Beteiligter mit Absehen von Strafe zu reagieren80. Unschädlich wäre das nur, wenn derartige Fälle ohnehin keine Strafbarkeit begründeten. Zwar wäre ein solches Ergebnis wünschenswert, der geltenden Gesetzeslage entspricht es jedoch nicht. Die Verweisung auf § 23 Abs. 3 StGB bewirkt somit die Vergrößerung des Entscheidungsspielraums im Rechtsfolgen___________ 77

Schröder, JuS 1967, 289 (293): Entscheidend ist allein, dass die Beteiligten von der Möglichkeit der Begehung des Verbrechens ausgegangen sind. 78 Letzgus (Fn. 17), S. 87; NK-StGB/Zaczyk (Fn. 15), § 30 Rn. 33; Thalheimer (Fn. 17), S. 72. 79 Letzgus (Fn. 17), S. 93; SK-StGB/Hoyer (Fn. 29), § 30 Rn. 37; Thalheimer (Fn. 17), S. 72. 80 NK-StGB/Zaczyk (Fn. 15), § 30 Rn. 61.

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Bereich des § 30 Abs. 2 StGB (Rechtsfolgenverweisung). Daraus folgt, dass die Bezugnahme auf § 23 Abs. 3 StGB auch Einfluss auf die Strafbarkeitsvoraussetzungen des § 30 Abs. 2 StGB hat (Rechtsgrundverweisung)81. Wenn grober Unverstand die Rechtsfolge des § 23 Abs. 3 StGB auslösen soll, muss zunächst einmal trotz der immanenten Untauglichkeit eine Strafbarkeit begründet worden sein82. Demnach gibt es also Fälle strafbarer Verabredung usw. mit Untauglichkeits-Komponente. Wie diese Fälle konkret beschaffen sind und in welchem Umfang überhaupt Untauglichkeit einer Strafbarkeit aus § 30 Abs. 2 StGB nicht entgegensteht, wird durch die Verweisung auf § 23 Abs. 3 StGB jedoch nicht präjudiziert. Inwieweit nach § 30 StGB auch untaugliche Bereiterklärungen bzw. Bereiterklärungen zur Begehung untauglicher Taten strafbar sind, muss aus § 30 StGB selbst erschlossen werden. Zu diesem Erkenntnisprozess kann § 23 Abs. 3 StGB nichts beitragen.

IV. Schluss Auch die hier teilweise anerkannte Vorverlagerung der de-lege-lataStrafbarkeit bei Beteiligung an untauglichen Versuchen ist eine letztendlich unbefriedigende Strafrechtsüberdehnung83. Gegenüber der Planung einer Tat, der von vornherein das Potential einer vollendeten Straftat fehlt, besteht kein Interventionsbedürfnis. Da in Ermangelung einer wirklichen Gefahr84 für präventive Maßnahmen auf polizeirechtlicher Grundlage kein Anlass besteht, wäre das Strafrecht hier nicht einmal ultima ratio, sondern sogar prima oder unica ratio85. Strafgrund könnte nicht das Bedürfnis nach Verhinderung der geplanten Rechtsgutsverletzung, sondern nur ein Bedürfnis nach Verhinderung der untauglichen Planverwirklichung oder nach Verhinderung der untauglichen Planung selbst sein. Dass ein derartiges Bedürfnis besteht bzw. dass es stark genug ist, um die Anwendung des Strafrechts zu rechtfertigen, lässt sich aber nicht ernsthaft vertreten. Die richtige Konsequenz wird daraus bei § 138 StGB gezogen: Das „Vorhaben“ einer Katalogtat, die so, wie der Vorhabende sie auszuführen vorhat, gar nicht den Tatbestand erfüllen kann, begründet keine Anzeigepflicht86. Ein untauglicher Versuch ist kein anzeigepflichtiger Vorhabensge___________ 81

Thalheimer (Fn. 17), S. 82; zweifelnd NK-StGB/Zaczyk (Fn. 15), § 30 Rn. 61. Anders NK-StGB/Zaczyk (Fn. 15), § 30 Rn. 61 mit dem Vorschlag, „... generell in jedem Fall des § 30 auch ein Absehen von Strafe ... vornehmen zu können.“ 83 NK-StGB/Zaczyk (Fn. 15), § 30 Rn. 30; Verständnis für diese Einschätzung auch bei Thalheimer (Fn. 17), S. 42. 84 Thalheimer (Fn. 17), S. 43. 85 Lagodny, JZ 1997, 48 (49): „polizeirechtlich verbietbares Verhalten“. 86 Gössel/Dölling, Strafrecht Besonderer Teil 1, 2. Aufl. 2004, § 58 Rn. 2; Lackner/ Kühl (Fn. 8), § 138 Rn. 2; LK-StGB/Hanack, 11. Aufl. 1996, § 138 Rn. 12; Maurach/ 82

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genstand. Der bevorstehende „rechtserschütternde Eindruck“ des bevorstehenden untauglichen Versuchs87 reicht also nicht aus, um eine strafbewehrte Anzeigepflicht zu tragen, deren Sinn allein die Verhinderung dieses rechtserschütternden Eindrucks sein könnte. Dann kann erst recht nicht der viel schwächere rechtserschütternde Eindruck, den die von vornherein zum Scheitern verurteilte Planung eines untauglichen Verbrechens zu erzeugen imstande ist, eine strafbewehrte Pflicht legitimieren88. Untaugliche Verbrechen sollten daher vollständig aus dem Strafbarkeitsbereich des § 30 StGB ausgegrenzt werden.

___________ Schroeder/Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil (Teilband 2), 9. Aufl. 2005, § 98 Rn. 12; MK-StGB/Hohmann, 2005, § 138 Rn. 7; NK-StGB/Ostendorf (Fn. 15), § 138, Rn. 13; Otto, Grundkurs Strafrecht, Die einzelnen Delikte, 7. Aufl. 2005, § 67 Rn. 29; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben, StGB (Fn. 15), § 138 Rn. 2; SK-StGB/Rudolphi (Fn. 29), § 138 Rn. 4 b. 87 Dazu Lagodny, JZ 1997, 48 (49). 88 NK-StGB/Zaczyk (Fn. 15), § 30 Rn. 30; a.A. Thalheimer (Fn. 17), S. 44.

Neutrale Verhaltensweisen und Unterlassungen im Insiderstrafrecht Von Carsten Momsen

I. Einführung Strafrecht ist ultima ratio1! Ein Strafrecht, welches den Bürgern ihre Handlungsfreiheit belässt und zudem in einem Gefüge verschiedener Regelungsmechanismen nur ein Instrument der Sozialkontrolle ist2, ist daher notwendigerweise fragmentarisch.3 Ein Gesetzgeber, der diese Grundsätze beherzigt, wird nur solche Straftatbestände schaffen, die einerseits eng genug gefasst sind, um Verhaltensweisen, die nicht sozialschädlich sind, unsanktioniert zu lassen und die andererseits in Ihrer bereichsspezifischen Gesamtheit die notwendigen Lücken für das sozial erwünschte bzw. tolerierte Verhalten der Menschen belassen. Strafrecht kann so entweder zu einer unangebrachten Beschneidung der Handlungsfreiheit führen oder sich von vornherein als bloßes symbolisches Strafrecht selbst entwerten, wenn allgemein akzeptierte und ggf. durch außerstrafrechtliche Verhaltenscodices sogar geforderte Verhaltensweisen unter Strafe gestellt werden. Trotz dieser scheinbar doch so einleuchtenden Erkenntnisse gelingt die legislative Umsetzung neuer Normen häufig nicht zufriedenstellend, da sie zu viele, insbesondere auch sozial tolerable, gelegentlich sogar erwünschte Verhaltensweisen nach ihrem Wortlaut pönalisieren und infolgedessen in oft mühevoller Kleinarbeit von Rechtsprechung und Wissenschaft im Wege teleologischer Reduktion handhabbar gemacht werden müssen. Es stellt sich daher die Frage nach den Gründen, die dazu führen, dass Tatbestände bei ihrer Einführung gleichwohl zu weit geraten, d.h. einen bestimmten Lebensbereich zu umfassend regulieren.

___________ 1

Roxin, AT 1 2/28; Jakobs AT 2/26. Rössner, FS Roxin, 2001, S. 977 ff.; ders., in: Höffe (Hrsg.), Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, 1999, S. 121 ff. 3 Maiwald, FS Maurach, 1972, S. 9 ff. 2

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Dies gilt gegenwärtig in besonderer Weise für den Bereich des Wirtschaftsstrafrechts4. Dies liegt zu keinem geringen Teil daran, dass im ökonomischen Sinne „wirtschaftliches“ Verhalten regelmäßig bedingt, dass dem guten Geschäft einer Partei das schlechte Geschäft der anderen Partei notwendig gegenübersteht, ein Phänomen, welches sich aus juristischer Perspektive allzu leicht als „Schaden“ (unzutreffend) einordnen lässt. Zudem ist das Wirtschaftsleben von Informationsungleichgewichten gekennzeichnet, welche häufig starke bzw. schwache Marktpositionen begründen. Zu allgemein gehaltene Tatbestände pönalisieren daher nicht selten lediglich „wirtschaftliches“ Verhalten und geraten zudem in Friktionen mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG5. Im Nebenstrafrecht lassen sich diese Fragen beispielhaft an den Insiderhandelsverboten des WpHG aufzeigen. Hier kommen als tatbestandsmäßige Handlungen eine Vielzahl von Verhaltensweisen in Betracht, welche nicht nur äußerlich bereichsspezifisch unauffällig sind, sondern teilweise auch tradierten geschäftlichen Gepflogenheiten entsprechen oder sogar von der Rechtsordnung im Übrigen verlangt werden. Zudem ist die Strafbarkeit des Unterlassens nicht eingeschränkt, was jedenfalls nach dem Gesetzeswortlaut zu der Situation führen kann, dass eine Rechtspflicht zur Durchführung eines schlechten Geschäfts entstehen würde. Im Folgenden sollen Grundlinien zu einer teleologischen Reduktion der Insiderverbote anhand beispielhafter Konstellationen neutraler Verhaltensweisen sowie aus den Grenzbereichen der Unterlassensstrafbarkeit ___________ 4 Zum Begriff und seiner Reichweite vgl. Wabnitz/Janovski/Dannecker, Kap. 1 Rd. 5 ff. mit umfangr. Nachweisen. 5 Dazu Dannecker, ZStW 117, 697 ff.; Jung, Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität als Prüfstein des Strafrechtssystems, 1979; Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, S. 41 ff. Dieser Befund lässt sich sowohl für neuere Tatbestände des Kernstrafrechts, etwa §§ 261 (näher BVerfGE 110, 226 m. Anm. Dahs/Krause/Widmaier, NStZ 2004, 261; Arzt, in: Diedrichsen/Dreier (Hrsg.), Das missglückte Gesetz, 1997, S. 19; Fischer, StGB, § 261 Rn. 4d, 35 m.w.N.), 264 (näher Fischer, StGB, § 264 Rn. 3; Beck-OK/Momsen, § 264 Rn. 4 jeweils m.w.N.) und außerhalb des Wirtschaftsstrafrechts auch der jüngst eingeführte § 238 StGB (kritisch zur Bandbreite der umfassten Handlungen etwa Mitsch, Jura 2007, 401; Rackow, GA 2008, 552; Neubacher, ZStW 118, 855, 870; Valerius, JuS 2007, 319, 324 sowie Fischer, StGB, § 238 Rn. 6, 6a m.w.N.) als auch für solche des Nebenstrafrechts, bspw. § 34 AWG (Wabnitz/Janovski/Harder, Kap. 21 Rd. 23; Holthausen/Hucko, NStZ-RR 1995, 225 ff.) erheben. Wie bereits Tiedemann in seiner Schrift zu den „Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht“, 1969, S. 172 ff., deutlich gemacht hat, bedürfen die Tatbestände des Nebenstrafrechts besonderen Augenmerks in Bezug auf die Einhaltung des Bestimmtheitsgrundsatzes aus Art. 103 Abs. 2 GG (dazu bspw. Dannecker, ZStW 117, 697 ff.; Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, S. 41 ff.). Auch Manfred Maiwald hat auf die Problematik in verschiedenen Zusammenhängen hingewiesen (bspw. Auslegungsprobleme im Tatbestand der Geldwäsche, FS Hirsch, 1999, S. 631 ff.; Handeln und Unterlassen – Handeln für einen anderen, in: Juristische Fakultät der Universität Selcuk (Hrsg.): Diskussionsbeiträge zum Entwurf des türkischen Strafgesetzbuches, 1998, S. 143 ff.).

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herausgearbeitet werden, die zugleich über den Bereich des WpHG hinausweisen.

II. Insiderhandel als „wirtschaftliches Verhalten“? 1. Exemplarische Fallgestaltungen André Kostolany berichtet in einem seiner Bücher6 folgende Anekdote: während des 2. Weltkrieges interessierte er sich für europäische Regierungsanleihen. Besonders interessant erschienen ihm solche, deren Schuldnerländer von der deutschen Armee besetzt waren. Nachdem er ein kleines Paket von Schuldnerscheinen des Königreiches Dänemark zum Kurs von 30:40 gekauft hatte und der Kurs langsam stieg, sah er sich vor die Entscheidung gestellt, die Papiere entweder zum anvisierten Kurs von 60:70 zu verkaufen, oder aber schlicht einige Monate bis zum Rückzahlungstermin zu warten, zur Bank zu gehen, um sie dort zu hundert einzulösen. Das Risiko (anders wäre ein derartig hoher Abschlag auch nicht zu erklären gewesen) lag nun aber in der am Markt bestehenden Unsicherheit, ob die dänische Regierung zahlen würde oder nicht. Daraufhin schlug er seinem Nachbarn, dem Schwiegersohn des Königs von Dänemark, ein „Geschäft“ vor. Dieser sollte nach Washington reisen, um dort den Botschafter Dänemarks zu treffen und ihn danach zu fragen, ob die fraglichen Anleihen am 1. Dezember 1941 bezahlt werden sollten oder nicht. Und tatsächlich erhielt Kostolany an vereinbartem Tage einen Anruf seines Nachbarn, welcher ihm die überraschende Nachricht übermittelte, die Anleihen würden nicht bezahlt werden. Dank dieser Information konnte Kostolany nicht nur seine gehaltenen Papiere zu einem günstigen Kurs von 90 einen Monat vor Fälligkeit verkaufen, sondern auch weitere „leer“ verkaufen. Zwar hielt sich der Kurs noch einige Zeit, doch nach erfolgter Nachricht stürzten die Papiere auf 40 Prozent ab. Kostolany hatte damit doppelt verdient7, indem er zum ersten zu einem guten Kurs von 90 verkauft hatte und zum zweiten danach auf fallende Kurse „spekuliert“ hatte. Etwas anders sieht es bei einem mittlerweile klassischen Fall aus, welcher 1963/64 sich bei dem seinerzeit größten Schwefellieferanten der Welt, die Texas Gulf Sulphur Company (TGS) zutrug. Bei Probebohrungen, deren Ergebnis zunächst geheim gehalten wurde, entdeckte man große Vorkommen an produktionswichtigen Edelmetallen. Sofort erwarben einige leitende Unternehmensangehörige Aktien zu ca. 17 $. Auch einer der beteiligten Geologen gab Ver___________ 6

Vgl. André Kostolany, Kostolanys Börsenseminar, S. 145 f. Nach eigenem Bekunden musste Kostolany allerdings auch aufgrund von Insiderinformationen unzählige Male Verluste hinnehmen. 7

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wandten Kaufempfehlungen. Bis die TGS die betreffenden Landgebiete erworben hatte, wurden alle Meldungen über die Vorkommen nachdrücklich dementiert. Gleichwohl erwarben weitere unternehmensnahe Insider noch Aktien zu Kursen von bis zu 30 $. Noch während der Pressekonferenz, auf der die Unternehmensleitung die Fakten offen legte, erteilte ein „director“8 per Telefon Kaufaufträge im Namen von Verwandten. Ein anderer instruierte die Bank, bei der er angestellt war, ihren Kunden sofortige Kaufempfehlungen auszusprechen. Am Tag der Pressekonferenz stieg der Börsenkurs noch auf 37 $, in den nächsten Tagen bis auf 71 $.9 Schließlich sei noch auf das sog. „Scalping“ hingewiesen. Beispielhaft ist der folgende Fall: 1999 empfahl ein Börsenjournalist10 in einer Börsensendung im Fernsehen Papiere, die er zuvor selbst erworben hatte. Das Fernsehpublikum folgte in großer Zahl der Empfehlung. Daraufhin stieg der Kurs des Papiers deutlich an und P. verkaufte seine Aktien11. Hierdurch schnitt P den Vorlauf der Kursbewegung exklusiv für sich ab. Er zog nach landläufiger Ansicht den Anlegern, die seiner Empfehlung folgten, das „Fell über die Ohren“12 – wenngleich zu diskutieren sein wird, ob dieser Eindruck wirklich zutrifft13.

2. Die wirtschaftliche und rechtliche Bedeutung des Insiderhandels – das Rechtsgut der Insiderhandelsverbote Insiderhandel ist nach dem Willen des deutschen wie auch des europäischen Gesetzgebers grundsätzlich strafbar14, ggf. außerhalb des Insiderstrafrechts im engeren Sinne unter dem Rubrum der sogenannten Marktmanipulation. Allein, ___________ 8 Die Funktion des „directors“ entspricht hier in etwa der eines Aufsichtsratsmitglieds nach deutschem Recht. 9 Mennicke, Sanktionen gegen Insiderhandel, 1996, S. 47 ff. 10 Fall „Prior“, LG Frankfurt a.M. NJW 2000, 301. 11 Soesters, Insiderhandelsverbote, 2002, S. 176, Handelsblatt vom 5. Februar 1999, S. 12; LG Frankfurt a.M. NJW 2000, 301. 12 So die übliche Ableitung des Wortes „Scalping“. 13 Ganz ähnlich gelagert ist der Fall „Opel“, LG Stuttgart wistra 2003, 153; BGH wistra 2004, 109, aus dem Jahr 2002. 14 Initiiert durch die Insider-Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaft vom 13. November 1989 (89/592/EEC) wurden am 1. August 1994 in das Wertpapierhandelsgesetz (= WpHG) Strafvorschriften gegen Insiderhandel aufgenommen. Aufgrund der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates über InsiderGeschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauchsrichtlinie) trat am 30. Oktober 2004 das Gesetz zur Verbesserung des Anlegerschutzes (Anlegerschutzverbesserungsgesetz = AnSVG) in Kraft. Hierdurch wurden wesentliche Bestimmungen des Wertpapierhandelsgesetzes geändert, worauf in der folgenden Darstellung noch zurückzukommen.

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dass hier u.U. ein rüpelhaftes Geschäftsgebaren vorliegt, genügt allein jedoch nicht zur Begründung der Strafwürdigkeit. Vielmehr muss das Verhalten des Insiders Rechtsgüter anderer schädigen bzw. gefährden15. Voraussetzung dafür wäre jedenfalls, dass Insidergeschäfte sich bei einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise als regelwidrig darstellen, mit anderen Worten, dass sie irreguläre und von den Mechanismen des Kapitalmarkts nicht intendierte negative Auswirkungen auf den Markt als solchen oder auf einzelne Marktteilnehmer haben. Grundsätzlich könnte man sich doch auf den eingangs angedeuteten Standpunkt stellen, dass der wirtschaftliche Wettbewerb gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass eine Partei aufgrund welcher Umstände auch immer ein gutes Geschäft macht, die andere Seite hingegen nach objektiven Maßstäben notwendigerweise ein schlechtes. Wessen Schutz also bezwecken die Insiderhandelsverbote? Die Schwierigkeiten, das Verbot des Insiderhandels mit dem Schutz von Individualrechtsgütern der beteiligten Parteien zu legitimieren, zeigen sich besonders deutlich, wenn man die wirtschaftliche Besonderheit des Insiderhandels berücksichtigt: Namentlich ein dem Betrugstatbestand angenäherter Schutz des individuellen Vermögens stieße hier schnell an seine Grenzen. Denn gerade aufgrund der Anonymität im Börsenhandel bezöge sich eine mögliche Fehlvorstellung des Outsiders nicht notwendig auf das Verhalten des Insiders – in der Regel macht sich der an der Börse Handelnde keine Gedanken über seinen potentiellen Geschäftspartner, der ihm ohnehin häufig nur über einen Dritten vermittelt wird – den Makler16. Auch irrt sich der Outsider – anders als beim Betrug – nicht über die wirtschaftlichen Konsequenzen seines Geschäfts. Bliebe die Insidertatsache auf „Dauer“ verborgen, so wären vermutlich alle Beteiligten mit dem Handel dauerhaft „zufrieden“, denn es hätte sich schlimmstenfalls ein scheinbar marktübliches Risiko realisiert, bestenfalls behielte der Outsider den Glauben, seinerseits ein gutes Geschäft gemacht zu haben – dann nämlich, wenn zwar ein, aber nicht der höchstmögliche Gewinn erzielt wurde. Erst nachträglich stellt sich für den Outsider heraus, dass ein günstigeres Geschäft möglich gewesen wäre. Ihm entgeht so gesehen ein gar nicht eingeplanter Gewinn. Hier von einem strafschutzwürdigen Vermögensnachteil zu sprechen, erscheint problematisch. Regelmäßig dürfte die Annahme eines Schadens aber auch daran scheitern, dass der Umfang der durch die Insiderinformation bedingten Kursbewegung zum Tatzeitpunkt nicht weit genug konkretisierbar ___________ 15 Zur Strafwürdigkeit vgl. Altpeter, Strafwürdigkeit und Straftatsystem, 1990, S. 2, 252 ff., 283; Bloy, Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, 1976, S. 231; ders., Beteiligungsform, 1985, S. 30 ff.; Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 16 ff.; Günther, JuS 1978, 12 ff.; Momsen-Pflanz, Doping, 2005, S. 175 ff.; MüllerDietz, Strafe und Staat, 1973, S. 32 ff.; Bettermann/Nipperdey/Scheuner/Sax, Grundrechte III/2, 1959, S. 923 ff. 16 Zu den sog. „face-to-face“ Geschäften vgl. Assmann/Schneider/Assmann/Cramer, § 14 Rn. 28.

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ist, um eine Expektanz des Outsiders im Sinne einer bestimmbaren, konkreten Vermögensgefährdung darzustellen. Daher kommt es bei Insidergeschäften nicht ohne weiteres zu einem, dem Betrug vergleichbaren Vermögensschaden, was vor dem Hintergrund der jüngsten Rechtsprechung zur Vermögensgefährdung17 um so mehr gilt. Im Falle des „Scalpings“ verursacht der Handelnde de facto lediglich eine bestimmte Kursbewegung, von der unter Umständen alle entsprechend handelnden Anleger sogar profitieren, so dass es auch insoweit häufig schwer fällt, einen konkreten Schaden zu benennen18. Unterstellt man, dass diejenigen wirtschaftstheoretischen Modelle nicht zutreffen, welche dem Insiderhandel eine positive Wirkung auf die Kapitalallokation an den Wertpapiermärkten zuschreiben wollen19, so erleidet ein Finanzplatz, auf dem keine Insiderhandelsverbote bestehen, bereits dadurch Wettbewerbsnachteile, dass entsprechende Verbote auf anderen Kapitalmärkten vorhanden sind20. Der tiefere Grund für diese apodiktische Aussage soll nach verbreiteter Ansicht in dem Vertrauensverlust liegen, den der betreffende Finanzplatz und die mit ihm verbundenen Kapitalmärkte erleiden. Von entscheidender Bedeutung für die Bestimmung des Rechtsguts ist daher der Umstand, dass eine Marktwirtschaft vom Funktionieren des Marktes abhängig ist21. Daher muss auf der Soll-Seite gewissermaßen mehr als nur ein „schlechtes Geschäft für einen anderen Marktteilnehmer“ stehen – die Funktion des Wertpapiermarktes selbst muss gestört oder bedroht sein.

___________ 17

BGH, Beschluss vom 18.2.2009 – 1 StR 731/08. Bedenkt man weiterhin, dass das Interesse an der Vertraulichkeit von Informationen durch die §§ 201 ff. StGB weitgehend geschützt ist, so kommt als Rechtsgut allein ein Interesse der Allgemeinheit in Betracht. 19 Heise, Insiderhandel, 2000, S. 40 ff.; Soesters (Fn. 11), S. 32; Mennicke (Fn. 9), S. 70 ff.; Manne, Insider-Trading and the Stock Market, 1966, S. 80 ff. 20 Ulsenheimer, NJW 1975, 1999 f.; Hopt/Will, Europäisches Insiderrecht, 1973, S. 49 ff. Vgl. auch Soesters (Fn. 11), S. 35. Die Insider-Richtlinie spricht in der Präambel vom „reibungslosen Funktionieren“ des (Sekundär-)Markts für Wertpapiere als hauptsächlich verfolgtem Ziel – ähnlich die Begr. zum Zweiten Finanzmarktförderungsgesetz, BR-Drs. 793/93 (5.11.1993), S. 100. Dazu ausf. Mennicke (Fn. 9), S. 99 ff., 118 ff. Zur Kritik am Vertrauensschutzargument vgl. die Nachweise bei Mennicke (Fn. 9), 102 ff. Zu bedenken ist zumindest, dass das Vertrauen der Anleger schon angesichts der Inhomogenität der Akteure an den Kapitalmärkten allenfalls eine ideelle Größe sein kann, ein schutzwürdiges Rechtsgut wohl allenfalls bei nicht professionellen Kleinanlegern – und selbst hier darf nach den Entwicklungen der sog. „Finanzkrise“ seit Herbst 2008 daran gezweifelt werden, ob es ein belastbares Vertrauen in die Kapitalmärkte überhaupt gibt. Die geringe Dichte dieses Schutzguts muss jedenfalls ein weiteres Argument für eine Einschränkung der Strafbarkeit sein, soweit sie daran geknüpft wird. 21 Soesters (Fn.11), S. 42 ff.; Mennicke (Fn. 9), S. 98 ff. 18

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Ein Kapitalmarkt lebt von den prinzipiell gleichen Zugangschancen aller potentiellen Marktteilnehmer. Ob der Zugang zu einem Markt tatsächlich offensteht, beurteilt sich im Ursprung danach, ob der betreffende Teilnehmer eine den übrigen Teilnehmern vergleichbare Chance erhält, Gewinn zu erzielen. Gleichwohl erscheint es nicht als selbstverständlich, dass der Gesetzgeber ein Rechtsgut „Chancengleichheit auf den börsenmäßig organisierten Kapitalmärkten“ als strafschutzwürdig kreieren kann. Denn anders als etwa der Straßenverkehr, ist der Börsenhandel ein Segment gesellschaftlicher Aktivität, welchem der Einzelne sich ohne jede Schwierigkeit entziehen kann, die Teilnahme am Wertpapiergeschäft mit seinen latenten Risiken ist in jedem Sinne freiwillig. Die Begründung für die Legitimität strafrechtlicher Regelung liegt daher nicht in dem Allgemeininteresse, ein für individuelle Rechtsgüter abstrakt gefährliches Verhalten zu unterbinden – wie etwa im Fall des § 316 StGB. Vielmehr ist zweierlei zu beachten: Zunächst hat die Allgemeinheit ein – nicht nur fiskalisches – Interesse an Konkurrenzfähigkeit der inländischen Börsen einerseits und der internationalen Konkurrenzfähigkeit inländischer Börsenprodukte andererseits, was eine formale Ordnungsmäßigkeit des Börsenhandels voraussetzt22. Daneben hat der Staat selbst zum Entstehen eines Regelungsbedürfnisses insoweit beigetragen, dass es zur staatlichen Förderung von entsprechenden Kapitalanlagemöglichkeiten beispielsweise im Gefolge der Umstrukturierungsversuche der Sozialversicherungssysteme gekommen ist. Richtet sich aber die Empfehlung potentiell an jedermann und wird der Gang an den Kapitalmarkt für den Privatanleger mit staatlichen Mitteln angereizt, so hat der Staat dann für ein ordnungsgemäßes Verteilungsverfahren im Zusammenhang mit den geförderten Anlageformen zu sorgen. Last not least ist der Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit selbst (nicht nur) im Zusammenhang mit der Gewährung staatlicher Leistungen ein Allgemeininteresse, dessen Grundvoraussetzungen auch durch den Strafgesetzgeber geschützt werden dürfen. Dabei liegt m. E. die Begründung der Strafwürdigkeit in der Nähe der Diskussion, die im Zusammenhang mit Submissionsabsprachen geführt wurde, denn auch bei § 298 StGB kann unter Umständen nur das Verteilungsverfahren beschädigt werden, ohne dass der Ausschreibende einen Schaden erleidet. Allerdings darf der – aus der Verteilungsgerechtigkeit ableitbare – Begriff der „Chancengleichheit“ nicht so verstanden werden, dass jeder Anleger auch ___________ 22

Ziouvas, Das neue Kapitalmarktstrafrecht, 2005, S. 24 ff., 105 ff.; Assmann/ Schneider/Assmann/Cramer, § 38 Rn. 4a ff.; KöK-WpHG/Altenhain, § 38 Rn. 2 ff. jeweils m.w.N.

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tatsächlich über den gleichen Wissensstand verfügen muss. Eine derartige Vorstellung wäre der Realität des Börsenhandels fremd23. Verschiedene Wissensstände sind solange unproblematisch, wie sie auf eigenen Analysen öffentlich zugänglicher Informationen beruhen und insoweit eine Gleichheit der Ausgangsvoraussetzungen besteht. Beim Insiderhandel aber entsteht das Ungleichgewicht gerade dadurch, dass ein Marktteilnehmer über nicht öffentlich zugängliche Informationen verfügt und dadurch den Grundsatz der Chancengleichheit bereits im Ausgangspunkt eliminiert. Nicht das individuelle Interesse des Geschäftspartners sondern das Allgemeininteresse an der Funktionsfähigkeit und Chancengleichheit auf den Kapitalmärkten ist daher das Rechtsgut des Insider-Strafrechts24. Substrat dieses Rechtsguts muss jedoch ein schutzwürdiges individuelles Vertrauens- bzw. Anlegerinteresse sein25.

3. Die besonderen persönlichen Merkmale der Insiderstellung §§ 13 I, II, 14 I; 38 WpHG Der personale Anwendungsbereich der Insiderhandelsverbote wird durch die Grundüberlegung bestimmt, dass ein effektiver Schutz der Chancengleichheit am Kapitalmarkt gerade durch die Anonymität des Börsenhandels erheblich erschwert wird. Um Umgehungsgeschäfte mit Hilfe von Strohmännern möglichst auszuschließen, muss daher der potentielle Kreis der Täter vergleichsweise weit gefasst werden. Im Gegenzug ist dann allerdings – auch über die neu aufgenommenen Safe-Harbour Regeln wie etwa in § 20a hinaus – eine restriktive Auslegung der Tathandlungsmodalitäten vorzunehmen, welche gerade in Bezug auf die Strafbarkeit von Unterlassungen bedeutsam ist. Die nach alter Rechtslage übliche Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärinsidern spielt nach neuem Recht hinsichtlich des Erwerbs bzw. Veräußerns von Insiderpapieren keine Rolle mehr26. Dennoch kommt der Unterscheidung genannter Personengruppen auch nach neuer Gesetzeslage Bedeutung zu27. So kommt es beim vorsätzlichen Verstoß gegen § 14 I Nr. 2, 3 WpHG darauf an, ob ein solcher von einem Primärinsider ___________ 23

Soesters (Fn. 11), S. 62. Ziouvas, Das neue Kapitalmarktstrafrecht, 2005, S. 243 f. 25 Vgl KöK-WpHG/Altenhain, § 38 Rn. 1 ff. 26 Der Verbotstatbestand des § 14 I WpHG enthält insofern keine Unterscheidung mehr. 27 Um die fortbestehende Statusdifferenz zu kennzeichnen wird daher im Folgenden weiterhin von Primär- und Sekundärinsidern gesprochen. 24

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begangen wurde (dann liegt der Straftatbestand des § 38 I Nr. 2 WpHG vor) oder ob die verbotenen Mitteilungen und Empfehlungen von einem Sekundärinsider erfolgten (in diesem Falle greift lediglich die als Ordnungswidrigkeit ausgestaltete Vorschrift des § 39 II Nr. 3, 4, IV WpHG ein). Der Grund für eine derartige Differenzierung28 liegt nach Ansicht des Gesetzgebers29 im geringeren Unrechtsgehalt des Verstoßes des Sekundärinsiders. Dies erscheint vor folgendem Hintergrund einsichtig: der Primärinsider nutzt eine professionelle, informationsbezogene Machstellung bewusst aus, um sich Vorteile zu verschaffen, er führt – etwas überspitzt gesagt – die Störung der Chancengleichheit selbst herbei. Diese Möglichkeit steht dem Sekundärinsider von vornherein nicht offen. Die „Primärinsider“ lassen sich, entsprechend der Aufführung in § 38 I Nr. 2 WpHG in statusbedingte (Nr. 2a), beteiligungsbedingte (Nr. 2b), beschäftigungsbedingte (Nr. 2c) und deliktische (Nr. 2d) Primärinsider unterscheiden. Während die drei erstgenannten Personengruppen nach altem Recht ebenso in § 13 I Nr. 1-3 a.F. aufgeführt waren, ist die Personengruppe des deliktischen Primärinsiders durch das AnSVG neu hinzugekommen. Statusbedingter „Primärinsider“ ist jeder, der aufgrund seiner mitgliedschaftlichen Stellung als Geschäftsführungs- oder Aufsichtsorgan oder als persönlich haftender Gesellschafter des Emittenten oder eines mit ihm verbundenen Unternehmens Kenntnis von der Insiderinformation hat30. Beteiligungsbedingte Primärinsider kennen die Insiderinformation infolge ihrer unmittelbaren Beteiligung am Kapital des Emittenten oder eines verbundenen Unternehmens. Die dritte Gruppe der materiell betrachtet „Primärinsider“ sind schließlich die in Nr. 2c genannten beschäftigungsbedingten Insider. Hierzu zählt jeder, der aufgrund seines Berufs oder seiner Tätigkeit bestimmungsgemäß Kenntnis von der Insiderinformation hat. Berufsbezogene Insider können beispielsweise Mit-

___________ 28

Die Differenzierung wurde in einer mit der Marktmissbrauchsrichtlinie zu vereinbarenden Weise von der Ebene der Verhaltensnorm (§§ 13, 14 a.F.) auf diejenige der Sanktionsnorm (§§ 38, 39 n.F.) verlagert. 29 Vgl. BT-Drucks. 15/3174, S. 41. 30 Vgl. Dierlamm, NStZ 1997, 519, 520; Schröder, GmbHR 2007, 907, 908 f. Hier kann unter Umständen § 14 StGB zur Anwendung gelangen, etwa dann, wenn persönlich haftende Gesellschafterin eines Emittenten eine GmbH ist. Umstritten ist in diesem Zusammenhang, ob das fehlerhaft und gegebenenfalls auch das nicht bestellte Mitglied erfasst sein soll (vgl. KöK-WpHG/Altenhain, § 38 Rn. 55 ff.). Persönlich haftende Gesellschafter können auch verbundene Unternehmen sein. Verbundene Unternehmen sind entsprechend § 15 AktG selbstständige Unternehmen, deren Kapital miteinander verflochten ist, sowie abhängige und beherrschende Unternehmen wie auch Bestandteile eines Unternehmensvertrags.

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arbeiter von Banken oder Wertpapiermaklern sein wie auch Börsenjournalisten31 oder Verwalter von Wertpapierfonds oder Portefeuilles. Ausgeschlossen sind Personen, die zufällig oder bei Gelegenheit ihrer Tätigkeit Kenntnis erlangt haben, wie etwa der Chauffeur des Vorstands, der die Unterhaltung seiner Fahrgäste belauscht. Betrachtet man die Struktur der lit. a und b, so liegt es nahe, auch lit. c über eine Anknüpfung des Täters an das betreffende oder verbundene Unternehmen einzugrenzen. Dann wäre zwar der angestellte Chauffeur, nicht aber der Taxifahrer ein möglicher Täter, was aber wiederum nicht unproblematisch erscheint. „Bestimmungsgemäß“ ist daher zu interpretieren als vertragstypische inhaltliche Anbindung an den Unternehmensbereich, auf den sich die Insidertatsache bezieht. Mit dem deliktischen „Primärinsider“ hat Artikel 2 I c) der Marktmissbrauchsrichtlinie das Spektrum der Insider um eine neue Facette erweitert. Durch diese Variante sollen auch diejenigen Fälle erfasst werden, in denen Straftäter ihr Wissen um den Einfluss der von ihnen vorbereiteten oder begangenen Straftat auf Börsenkurse zu entsprechenden Börsengeschäften nutzen. Neben den in diesem Zusammenhang „klassischen“ Delikten wie Betriebsspionage, Ausspähen von Daten oder etwa den Bestechungsdelikten kommen auch geplante terroristische Anschläge in Betracht – man denke etwa an die Auswirkungen der Terroranschläge von New York auf die Weltbörsen und die sich daraus potentiell ergebenden gewaltigen Spekulationsmöglichkeiten für die terroristischen Organisationen selbst oder diesen nahe stehende Dritte. Zusammenfassend ist das gemeinsame Kriterium für die Einstufung als „Primärinsider“ – jedenfalls für die ersten drei Gruppen – die nicht nur zufällige Nähe zu den informationsrelevanten Aufgabenfeldern in einem Unternehmensbereich, auf den sich die Insidertatsache bezieht. Aufgrund dieser Nähe wird eine professionelle Sensibilität im Umgang mit Informationen erwartet. Dies gilt aber aufgrund der professionell bewusst begründeten Nähe32 zu vertraulichen Informationen auch dann, wenn diese sich erst „unvorhersehbarer Weise“ als Insidertatsache entpuppen. Das muss sich beispielsweise der Geologe im Fall Gulf Sulphur entgegenhalten lassen. Damit sind als sogenannte bzw. de facto „Sekundärinsider“ im Sinne des § 39 II Nr. 3, 4 WpHG vor allem „Zufallsinsider“ erfasst, wie der genannte Chauffeur und auch der Taxifahrer, als auch die sogenannten „Tippempfänger“, ___________ 31 Vgl. Assmann, AG 1997, 50, 53 f.; Eichele, WM 1997, 501, 505 f.; a.A. Wohlers/ Mühlbauer, wistra 2003, 41 ff. 32 Stellt man in dieser Weise auf die bewusste Begründung einer Nähebeziehung zur Insiderinformation ab, so erscheint es folgerichtig, dass nur die vorsätzliche Tat den Unrechtsstatus des Primärinsiders begründet.

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also Personen, welche von einem Insider die Empfehlung erhalten, bestimmte Transaktionen durchzuführen, ohne dass der Insider die Insiderinformation selbst inhaltlich preisgibt. Ein solcher könnte der Chauffeur etwa dann sein, wenn sein Chef ihm während der Fahrt den „wohlmeinenden Rat“ gibt, doch mal ein paar Aktien des Unternehmens zu erwerben. Gleiches gilt für die Verwandten des „directors“ bei Gulf Sulphur. Dadurch, dass § 39 II auch eine leichtfertige Begehungsweise kennt, ist auch hier der Primärinsider einzubeziehen, der bei vorsätzlicher Tatbegehung allerdings, wie bereits festgestellt, nach § 38 I Nr.2 strafbar ist. Die Einordnung in den vom Unrecht her leichter wiegenden Bereich der Ordnungswidrigkeit erscheint schon deshalb sinnvoll, als diese Personen regelmäßig die Nähe zur Insiderinformation gerade nicht bewusst begründet haben. Nachdem damit die potentiellen Akteure benannt sind, ist die eingangs genannte Frage zu klären, welche der möglichen Verhaltensweisen tatsächlich die Schwelle der Strafwürdigkeit erreichen.

4. Unterlassene Geschäfte (Sowohl Primär- als auch Sekundär-)Insidern ist es verboten, unter Verwendung der Kenntnis von einer Insiderinformation Insiderpapiere für eigene oder fremde Rechnung oder für einen anderen zu erwerben oder zu veräußern. „Veräußern“ meint die vollständige Durchführung einer Wertpapiertransaktion, also nicht nur das schuldrechtliche Verpflichtungsgeschäft sondern darüber hinaus die Verschiebung der Verfügungsgewalt an den Papieren33, zumindest müsse nach Ansicht der BaFin durch die Gestaltung des abgeschlossenen Vertrages sichergestellt sein, dass der erwartete Gewinn realisiert werden könne34.

a) Die Gleichwertigkeit des Unterlassens von Wertpapiertransaktionen Probleme bereitet zunächst die Einbeziehung des Unterlassens einer an sich geplanten (Wertpapier-)Transaktion aufgrund des Erhalts der Insiderinformation – wenn also beispielsweise ein Angestellter der Wertpapierabteilung einer Bank kurz davor steht, ein größeres Aktienpaket abzustoßen. Plötzlich erhält er Kenntnis von einer Insiderinformation, welche dazu führen wird, dass die ___________ 33

Der (sachenrechtliche) Vollerwerb der einen Seite sowie der Rechtsverlust auf der anderen Seite sind indes nicht erforderlich, um das Tatbestandsmerkmal auszufüllen; näher Soesters (Fn. 11), S. 151 f. 34 KöK-WpHG/C. Pawlik, § 14 Rn. 39; Park, JuS 2007, 621, 623.

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betreffende Aktie in Kürze einen signifikanten Kursanstieg erleben wird. Um seinen Gewinn zu maximieren, storniert er daraufhin den geplanten Verkauf und beschließt, die weitere Kursentwicklung abzuwarten. Fraglich ist, ob der dem Wortlaut nach erforderlichen Verschiebung der Wertpapiere die Nichtvornahme der Transaktion entsprechen kann. Denn der Tatbestand ist insoweit verhaltensgebunden. Betrachtet man den Fall unter dem Rechtsgut der Chancengleichheit an den Wertpapierbörsen, so scheint zunächst nichts gegen eine Gleichbehandlung mit einem durch Insiderwissen inspirierten aktiven Geschäftsabschluss zu sprechen. Denn in beiden Varianten verwendet der Insider seinen exklusiven Informationsvorsprung für ein Handelsverhalten, welches ihm anderenfalls nicht gezielt möglich gewesen wäre. Geht man von der Definition des „Erwerbens oder Veräußerns“ aus, so wäre prinzipiell ein in die Außenwelt tretender rechtsgeschäftlicher Vorgang vorauszusetzen35 – eine bloße innerliche, stillschweigende Abstandnahme von der noch nicht äußerlich erkennbaren Überlegung zum Handeln kann demgegenüber schwerlich den gleichen Unrechtsgehalt aufweisen. Hinzu käme, dass es praktisch nicht nachweisbar wäre, dass oder gar warum ein Geschäft nicht vorgenommen wurde36. Gleichwohl sind natürlich auch Fälle denkbar, in welchen der Insider eine bereits abgegebene Kauf- oder Verkaufsorder zurückzieht, ehe auf seinen Kurs gehandelt worden ist, also die Order ausgeführt wurde. In diesem Falle wäre „etwas“ in die Außenwelt getreten und man könnte sogar am Unterlassenscharakter des Verhaltens zweifeln, da ja die „Rücknahme“ ein positives Tun darstellen würde37. Im Ergebnis würde sich der Unrechtskern des Vorwurfs jedoch auf die unterlassene Ausführung der „bereits in die Wege geleiteten“ Order beziehen. Blickt man auf die Praxis des professionellen Wertpapierhandels, dem die Mehrzahl der Insider angehören dürfte, so ist das Unterlassen eines Geschäfts, das sogenannte „Halten einer Wertpapierposition“, jedoch eine taktisch gleichwertige Maßnahme gegenüber dem kurzfristigen „Schließen“ und späterem erneuten „Öffnen der Position“, also etwa dem Verkauf von Wertpapieren und ihrem Rückkauf nach kurzer Marktbeobachtung. Hier bestand nach einhelliger Ansicht jedoch kein Zweifel, dass § 14 I Nr. 1 WpHG (a.F.) anzuwenden war, wenn das missbräuchliche Ausnutzen einer In___________ 35

Dazu krit. Schröder, NJW 1994, 2879, 2880; vgl. Claussen, ZBB 1992, 281. Assmann/Schneider/Assmann/Cramer, § 14 Rn. 9; Assmann, AG 1994, 247. 37 Ablehnend unter Hinweis auf das Analogieverbot, da kein Erwerb vorliege, Schröder, NJW 1994, 2879, 2880. 36

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siderinformation Ursache des Verhaltens war. Vielmehr wird seit Einführung des Begriffes „unter Verwendung“ in genanntem Tatbestand sogar diskutiert, ob überhaupt eine kausale Verknüpfung zwischen Kenntnis und Handel erforderlich sein soll38. Verlangt man keine Kausalität, wären Transaktionen, zu denen der Täter bereits entschlossen ist, per se inkriminiert, was nicht überzeugt. Geht man – ein diesbezügliches Kausalitätserfordernis unterstellend – davon aus, dass derartige Vorgänge nicht gänzlich unbeweisbar sind – und die forensische Praxis kennt entsprechende Fälle – dann spräche der Gesichtspunkt des effektiven Rechtsgüterschutzes für eine Strafbarkeit des Unterlassens, denn das Vertrauen der Anleger in die Effektivität und die Chancengleichheit an den Wertpapiermärkten wird gleichermaßen beschädigt39.

b) Bereichsspezifische Garantenstellung qua Insiderstellung? Dann müsste der Insider auch eine Garantenstellung für das Funktionieren des Kapitalmarkts innehaben. Dieser Punkt bleibt selbst in der monographischen Literatur eigenartigerweise häufig ausgeklammert, obwohl er keineswegs selbstverständlich zu bejahen ist. Bei einem Zufallsinsider im Sinne des § 14 II dürfte die Annahme einer Garantenstellung nicht in Betracht kommen, da beispielsweise der bereits mehrfach in Erscheinung getretene Chauffeur in keiner Weise für das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts verantwortlich ist. Handelt es sich bei dem Insider hingegen um einen berufsbezogenen Insider, etwa einen Börsenmakler oder den Mitarbeiter der Wertpapierabteilung einer Bank, so könnten sich aus den hier üblicherweise in den Vertrag aufgenommenen Vertrauenspflichten Garantenstellungen für das Funktionieren des Kapitalmarkts ableiten lassen. Jedoch ist das Konstrukt einer Garantenstellung des Einzelnen für ein solches Rechtsgut der Allgemeinheit nicht frei von Bedenken: Soll der Einzelne verpflichtet werden, aktiv zugunsten der Allgemeinheit einzuschreiten? – nicht nur, wie vom „Liebesparagraphen“ 323c gefordert, zugunsten eines anderen hilfsbedürftigen Bürgers! Soll er also nicht nur – wie üblicherweise – verpflichtet sein von der aktiven Beeinträchtigung von Rechtsgütern der Allgemeinheit Abstand zu nehmen? Derartige aktive Hilfspflichten obliegen zuvorderst Amtsträgern in Ausübung ihres Dienstes. Allerdings handeln ___________ 38

Vgl. zum Streitstand: KöK-WpHG/C. Pawlik, § 14 Rn. 16 ff. Im Ergebnis ebenso Soesters (Fn. 11), S. 153 ff.; auf die missbräuchliche Verwendung von Informationen abstellend BT-Ds 12/6679 (27.1.1994), S. 33. 39

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sie als Stellvertreter des Staates. Wechselte man die Perspektive vom Wirtschafts- ins Umweltstrafrecht, so wäre zu fragen, ob nicht nur der zuständige Beamte der Gewässerschutzbehörde gegen den Gewässerverunreiniger einzuschreiten hätte, sondern auch die Privatperson, die von einer solchen Verschmutzung Kenntnis erlangt – und es ginge dabei nicht nur um eine Anzeigepflicht im Sinne des § 138 StGB. Man könnte eine entsprechende Verhaltensnorm aus der Ausgestaltung des jeweiligen Arbeits- bzw. Dienstvertrags abzuleiten versuchen. Dafür spräche die häufig erfolgende Bezugnahme auf die „Regeln des Wertpapierhandels“ sowie die Unterwerfung unter die jeweilige Börsenordnung. Dagegen spricht jedoch, dass hier in aller Regel rein privatrechtliche Vertragsbeziehungen bestehen. Garantenstellungen sind aber nach zutreffender überwiegender Ansicht nicht unmittelbar aus außerstrafrechtlichen Rechtsquellen abzuleiten. Sie müssen immer das Nadelöhr der strafrechtlichen Wertung des § 13 StGB passieren. Daher ist in diesen Fällen zu differenzieren: Eine Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 StGB gilt als besonders qualifizierte Garantenbeziehung zu dem fremden Vermögen. Sie ist in der Regel auf die Mehrung des fremden Vermögens gerichtet und bietet Raum für eigenverantwortliche Entscheidungen40. Sie und die in ihr regelmäßig enthaltene Garantenpflicht, welche auch eine mögliche Unterlassenstrafbarkeit begründen kann, bestehen jedoch im Verhältnis zum Kunden und dessen individuellen Vermögen41. Aus dieser Beziehung lässt sich nicht ohne weiteres eine parallel strukturierte Pflicht zum Schutz des Allgemeinrechtsguts „Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts“ ableiten.

c) Zusätzliche Anforderungen an eine Garantenstellung Wenn sich eine Garantenstellung nicht ohne weiteres aus der Einordnung als Insider ergibt, sind die üblichen Kriterien, die gem. § 13 StGB angelegt werden, auch hier zu überprüfen. Insbesondere wäre wohl danach zu fragen, ob der Rechtsgutsträger, hier also der Staat als der für die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts Verantwortliche im Vertrauen auf den Pseudogaranten – also den berufsbezogenen Insider wie etwa den Wertpapierhändler – eigene Schutzmaßnahmen unterlassen hat42. Dies erscheint angesichts einer von den genannten Personenkreisen unabhängig operierenden Börsenaufsicht jedenfalls zweifel___________ 40

Schönke/Schröder/Lenckner, § 266 Rn. 28a; SK-StGB/Samson, § 266 Rn. 23. Schönke/Schröder/Lenckner, § 266 Rn. 25. 42 Schönke/Schröder/Stree, § 13 Rn. 27. 41

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haft43. Bereits aus diesem Grund ist mit der Anwendung des Strafrechts auf unterlassene Transaktionen Zurückhaltung zu üben44. Davon unabhängig fragt sich jedoch, ob hier überhaupt die gemäß § 13 StGB notwendige Gleichwertigkeit ggü. der aktiven Rechtsgutsbeschädigung durch die Vornahme der Verwertungshandlung gegeben sein kann. Dies erscheint fragwürdig: Denn um eine Störung der Chancengleichheit zu vermeiden, würde den Primärinsider dann eine kaum zu begründende Rechtspflicht zur Geschäftsdurchführung – und das bedeutet: eine Rechtspflicht zur Selbstschädigung – treffen.

5. Neutrale Handlungen a) Die Ausführung von Kundenaufträgen durch Wertpapierhändler Anders sieht es hingegen bei der Ausführung von Kundenaufträgen durch den Wertpapierhändler einer Bank aus. Auch hier wäre das Handeln für einen anderen formell tatbestandsmäßig. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollte ursprünglich jedoch danach differenziert werden können, ob der Wertpapierhändler lediglich eine Weisung des Kunden ausführt, ohne sein vorhandenes Insiderwissen einfließen zu lassen – dann wäre er straflos. Wenn er dagegen entweder wisse, dass der Kunde selbst unzulässig eine Insiderinformation verwende oder aber er in Kenntnis einer Insidertatsache nur interessenwahrend, d.h. bei der konkreten Durchführung des Auftrags selbstständig vorgehe – dann sei in beiden Fällen Strafbarkeit zu bejahen45. In der Literatur wurde dagegen nach alter Rechtslage mit unterschiedlichen Begründungen überwiegend für die Straflosigkeit plädiert46. Dabei sollte es auch nach aktuellem Recht bleiben. Zwar erlaubt der Verwendungsbegriff auch insoweit eine Grenzausweitung, jedoch muss es auch hier darum gehen, sog. „berufstypisches Verhalten“ von der Strafbarkeit auszunehmen. Erkennt man im Gegensatz zu einer nach wie vor weit verbreiteten Strömung in der Literatur an, dass allein eine subjektive Abgrenzung danach, ob der Wertpapierhändler eine Straftat seines Kunden im weiteren Sinne fördern will, keine ausreichende Rechtssicherheit für künftiges Verhalten schaffen kann, so muss man sich um Abgrenzungskriterien auf der Ebene des objektiven Tatbestands, genauer ge___________ 43 Anderes könnte allenfalls dort gelten, wo es hinsichtlich des Erhalts bestimmter Informationen Offenlegungs- oder Meldepflichten gäbe. 44 Vgl. im Ergebnis auch KöK-WpHG/Altenhain, § 38 Rn. 38 m.w.N. 45 BT-Ds 12/6679 (27.1.1994), S. 47; Haouache, Börsenaufsicht, 1996, S. 105. 46 Assman/Schneider/Assmann/Cramer, § 14 Rn. 36; Assmann, WM 1996, 1337; Cramer, AG 1997, 60, umfassende Nachweise bei Soesters (Fn. 11), S. 159 ff.

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sagt bei der Bestimmung der Reichweite des Verbots anhand objektiver Kriterien bemühen47. Wann also ist ein Insidergeschäft objektiv „berufstypischunvermeidbar“? Hier dürfte es sachgerecht sein, nach der Art der Kundenorder zu differenzieren. Erlaubt diese dem Wertpapierhändler durch selbstständige Entscheidungen auszufüllende Verhaltensspielräume, wie etwa die Order „bis zu einem Datum möglichst günstig verkaufen“, so kommt eine Strafbarkeit des Händlers in Betracht, wenn er eine ihm selbst als Insiderinformation bekannte Tatsache – und sei es zum Besten seines Kunden – verwertet. Erlaubt die Order hingegen keine entsprechenden Spielräume, so stellt der Wertpapierhändler letztlich nur seine börsentechnischen Fähigkeiten zur Verfügung. Ein eigener Angriff auf das geschützte Rechtsgut der Chancengleichheit an den Wertpapiermärkten liegt dann nicht vor. Alternativ ist daher eine Beihilfestrafbarkeit in Betracht zu ziehen: Der Vorwurf zielte darauf, dem Kunden die Durchführung von dessen Insidergeschäft ermöglicht zu haben. Dann wäre jedoch die Frage zu beantworten, ob es sich bei dem Gehilfenbeitrag des Wertpapierhändlers um eine strafbare Beihilfe oder aber um eine neutrale, straflose Handlung handelt. Dies wäre wiederum maßgeblich nach dem bereits dargelegten Kriterium für die Bewertung von an sich unauffälligen Handlungen, welche die fremde Tat de facto fördern, zu beurteilen: Die faktisch vorliegende und normativ gewährte Entscheidungsbefugnis des Gehilfen über die Vornahme der Förderungshandlung. Verfügt also der Wertpapierhändler aufgrund der Organisationsstruktur seines Unternehmens einerseits – und der Art des Kundenauftrags andererseits – über eigene Entscheidungsmöglichkeiten, den Auftrag auszuführen oder abzulehnen, dann kommt eine Strafbarkeit nach § 27 StGB in Betracht. Ist die Entscheidung für die Ausführung des Auftrags demgegenüber – und sei es durch eine in unserer Gesellschaft bestehende feste Erwartungshaltung – strukturell determiniert, so liegt eine tendenziell straflose neutrale Handlung vor. Eine Ausnahme wäre dort zu machen, wo der Wertpapierhändler Kenntnis im Sinne sicheren Wissens davon hat, dass der Kunde eine Insiderinformation verwertet. Denn, wie die Fahrlässigkeitsdogmatik zeigt, wirkt sicheres Sonderwissen in der Weise in die Handlungssituation hinein, dass die Verhaltensnorm nur mit Blick auf den besonderen Kenntnisstand konkretisiert werden kann48. ___________ 47 Den Meinungsstreit ausführlich darstellend und im Ergebnis der herrschen subjektiven Abgrenzung folgend Soesters (Fn. 11), S. 159 ff. mit vielen Nachweisen. 48 Man denke sich den Fall, dass ein Autofahrer regelmäßig zu einer bestimmten Zeit auf einem bestimmten Straßenabschnitt – etwa vor einer Schule – patrouilliert, um bei

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Gleichermaßen inakzeptabel wäre es etwa, dem Verkauf eines Hammers in sicherer Kenntnis des Umstands, dass mit ihm ein Mord begangen werden soll, wegen seiner rein äußerlichen Unauffälligkeit straflos zu stellen. Dementsprechend wäre es nicht zu vermitteln, wenn man nun für den Bereich des Wertpapierhandels eine abweichende Sonderdogmatik schaffen wollte. Grundsätzlich gilt jedoch: Ist der Verhaltensnormverstoß des Täters oder hier des Gehilfen von dessen freier Entscheidung abhängig, so kommt eine Bestrafung in Betracht. Ist dieser Verhaltensnormverstoß demgegenüber konditional durch Anweisungen oder interne Normen (vor-)programmiert, so scheidet eine Bestrafung tendenziell aus, es ist sogar an der Verhaltensnormwidrigkeit zu zweifeln, wenn andere – außerstrafrechtliche – Verhaltensnormen gerade befolgt werden. Auf dieser Grundlage ist nun die Frage des strafrechtlich vorgeworfenen Verhaltens zu klären, denn hier wird diskutiert, ob nicht eigentlich ein Unterlassungsdelikt vorläge. Blickt man auf das inkriminierte Verhalten, so liegt dies unabhängig von der Qualität der Beteiligung in der Durchführung, nicht aber der Unterlassung des fremden Geschäfts. Der gleichwohl regelmäßig ohne nähere Begründung erhobene Unterlassensvorwurf muss unterstellen, dass der Beitrag des Wertpapierhändlers seiner sozialen Bedeutung nach gegen Null gesetzt werden könnte. Er würde sich dann in wertender Betrachtung in der bloßen Nicht-Hinderung des Kunden erschöpfen – vergleichbar dem Geschehenlassen einer Naturkatastrophe. Nur auf der Basis dieses wenig überzeugenden Ergebnisses bestünde Anlass, die Garantenpflicht des Wertpapierhändlers zu hinterfragen. Diese müsste hier anders als in den zuvor erörterten Konstellationen einer Beschützergarantenstellung für das Funktionieren des Wertpapiermarkts als eine Hütergarantenstellung für einen dolosen Kunden als Gefahrenquelle ausgerichtet sein. Die bereits beschriebene Garantenstellung im Verhältnis zum Kunden kann zwar als Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 StGB ausgeprägt sein. Dann jedoch ist ihre inhaltliche Ausrichtung eine andere: Sie ist Schutzpflicht für das Kundenvermögen und nicht Hüterpflicht gegenüber Rechtsverletzungen durch von Seiten des Kunden drohende Insidergeschäfte. Fraglich bleibt dann aber immer noch, ob eine solche Verhinderungspflicht für fremdes eigenverantwortliches Verhalten nicht viel zu weit greift und ob die Äquivalenz angesichts des unterschiedlichen Interesses im Hinblick auf den Gewinn aus dem Insidergeschäft nicht gerade gegen eine Gleichartigkeit des verwirklichten Unrechts im Sinne des § 13 StGB spricht.

___________ ansonsten und äußerlich sorgfaltsgerechtem Verhalten, ein ihm verhasstes Kind zu überfahren, welches, wie er sicher weiß, regelmäßig, ohne Acht zu geben, aus dem Schulgebäude über die Straße läuft. Dieser Fall liegt ersichtlich anders, als der des Autofahrers, welcher – nur zufällig des Weges kommend – in einen ansonsten identischen Unfall verwickelt wird.

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b) Das Verwenden der Insiderinformation durch Börsenmakler Ein weiteres Problem liegt im „Verwenden“ der Insidertatsache für den Erwerb oder die Veräußerung. Da die Erlangung eines Vermögensvorteils nicht vorausgesetzt ist, stellt sich die Frage, wie mit Berufsgruppen umzugehen ist, die naturgemäß über Insiderinformationen verfügen und Transaktionen zwischen Dritten vermitteln. Namentlich Börsenmakler würden dem Wortlaut der Norm zufolge strafbar sein können. Sie verfügen häufig über insiderrelevante Daten und vermitteln in Kenntnis dieser Informationen Transaktionen zwischen den Marktteilnehmern (§ 29 I BörsG), so dass regelmäßig das Tatbestandsmerkmal des Erwerbens oder Veräußerns für einen Dritten erfüllt wäre. Bejahte man die Strafbarkeit, so würde man dieser Berufsgruppe nicht nur ihre Arbeitsgrundlage entziehen, sondern zugleich die Funktionsfähigkeit der Kapitalmärkte empfindlich treffen. Diese dysfunktionale Konsequenz ist, wie auch aus der Gesetzesbegründung hervorgeht49, nicht intendiert. Anzuwenden ist bereits der objektive Tatbestand daher nur dann, wenn der Makler außerhalb seines beruflichen Tätigkeitsfelds auf eigene Rechnung handelt. Dementsprechend sind Börsenmaklern Eigengeschäfte grundsätzlich verboten.

c) Scalping Als weiteren Problembereich ist auf das bereits angesprochene „Scalping“ einzugehen, den Fall also, in dem der Börsenjournalist von seiner für Dritte ausgesprochenen Handelsempfehlung profitiert, indem er selbst zuvor ein entsprechendes Eigengeschäft tätigt.50, 51. Wiederum kann angesichts der überaus kontroversen Diskussion hier nur der Weg zu einer Lösung aufgezeigt werden: Die seinerzeit vom BGH angestellte Überlegung, der „Scalper“ sei schon kein Insider52, weil er nicht mit sich selbst in Kontakt kommen könne, überzeugt nicht, da das Gesetz ersichtlich auf den Kontakt zu einer Insiderinformation und nicht zu einer Person abstellt. Ebenso wenig zum Ziel führt die Erwägung, die bloße Empfehlung sei eine Meinungsäußerung und keine Tatsache53, denn wenn der Täter Kenntnis von einer kurz ___________ 49

BT-Ds 12/6679 (27.1.1994), S. 47. LG Frankfurt a.M. NJW 2000, 301; Vogel, NStZ 2004, 252 f. 51 Ein vergleichbares Verhalten wird auch von dem eingangs zitierten André Kostolany berichtet, betreffend Aktien des Alcan-Konzerns, die nach der Ausstrahlung eines Werbespots für eine Aluminiumkarosserie eines Fahrzeugs mit Kostolany um ca. 24% stiegen und die dieser in seinem eigenen Portefeuille besaß – Der Spiegel, 1998, Heft 41, S. 103. 52 Volk, BB 1999, 70. 53 Dazu Volk, BB 1999, 67 f. 50

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bevorstehenden Empfehlung eines Dritten hätte, läge unzweifelhaft eine Insiderinformation vor. Die notwendige Restriktion ist daher wiederum über die Tathandlung, nicht aber über die Sonderstellung des Täters vorzunehmen. Entsprechend ist auch § 4 Absatz 2 Nr. 3 der Marktmanipulations-Konkretisierungs-Verordnung zu interpretieren: Als sonstige, zur Markmanipulation geeignete täuschungsäquivalente Handlung wird ausdrücklich das Nutzen regelmäßiger Medienzugänge durch Kundgabe einer Insiderinformation oder eines eine solche betreffenden Gerüchts erfasst, sofern einerseits der Täter bereits zuvor eine Position über das betreffende Finanzierungsinstrument eingegangen ist und andererseits er seinen Interessenkonflikt nicht spätestens zugleich mit der Kundgabe offenbart hat. Richtig an dieser Regelung ist zweifellos, dass es für die Strafbarkeit darauf ankommen muss, ob der „Scalper“ eine von ihm durch seine Medienpräsenz selbst geschaffene Insidertatsache der Sache nach verwenden kann. Denn § 20a muss in Bezug auf den Unrechtskern an die Insiderhandlungen im klassischen Sinne angelehnt werden Hier ist m.E. wiederum vom geschützten Rechtsgut der Chancengleichheit auf den Wertpapiermärkten her zu argumentieren: Für das „Verwenden“ kommt es daher54 auf die Schaffung eines Chancenungleichgewichts durch den Informationsvorsprung an. Solange also die Empfehlung eines Wertpapiers ausgesprochen wird, nachdem der „Scalper“ einen Kauf- (oder Verkaufs-)entschluss gefasst hat, liegt ein Verwenden vor. Springt der „Scalper“ hingegen lediglich auf die von ihm selbst geschaffene Kursbewegung auf, so mag dies anrüchig sein, nicht aber strafbar! § 4 der Konkretisierungsverordnung ist ersichtlich von dem Wunsch getragen, durch das alleinige Anknüpfen an der zeitlichen Reihenfolge ein objektives Kriterium zu gewinnen und den Beweisschwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, welche entstehen, wenn es auf die Reihenfolge der Entschlüsse – zur Empfehlung und zur Eingehung der Position – maßgeblich ankommt. Damit aber gerät die Regelung m.E. zu schablonenhaft und lässt wenig Raum für einzelfallbezogene Aspekte, wie bspw. den Fall, dass der Scalper zwar über eine Position vor der Medienkundgabe verfügt, gleichwohl kein Interessenkonflikt vorliegt, weil die Information allen Anlegern zugute kommt, diese aber unter Umständen bei Mitteilung des eigenen Engagements erheblich an Glaubhaftigkeit verlieren würde und gerade dadurch den Outsidern Verluste entstehen, weil sie aus eben diesen Bedenken nicht der Information des Scalpers folgen.

___________ 54 Zum Vorliegen einer Aufklärungspflicht über eigenen Wertpapierbesitz: Soesters (Fn. 11), S. 184.

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In einem anderen Punkt geht der neue § 20a Absatz 1 Nr. 3, Absatz 6 in Verbindung mit § 4 Absatz 3 Nr. 2 der Konkretisierungsverordnung55 den richtigen Weg, wenn es einschränkend sinngemäß heißt: „Bei Journalisten, die in Ausübung ihres Berufs handeln, ist eine solche Verbreitung von Informationen (...) unter Berücksichtigung der für ihren Berufsstand geltenden Regeln zu beurteilen (also straflos), es sei denn, dass diese Personen aus unrichtigen oder irreführenden Angaben direkt oder indirekt einen Nutzen ziehen oder Gewinne schöpfen“. Die Verknüpfung des berufstypischen Verhaltens, auch wenn es eine Marktbeeinflussung darstellt, mit einem „berufsuntypischen“ privaten Engagement in das betreffende Papier weist auch hier den richtigen Weg zu einer Klarstellung auf objektiver Ebene. Kritisch ist unter diesem Blickwinkel daher auch der Weg, Scalping überhaupt als Marktmanipulation im Sinne § 20a WpHG einzuordnen. Denn dies führt strukturell in eine falsche Richtung. Zum einen darf bereits die Praktikabilität der damit entstehenden Pflicht zur „Offenlegung eigener Geschäfte vor jeder Empfehlung“ als taugliche Verhaltensnorm für beispielsweise Börsenjournalisten bezweifelt werden. Daneben fragt sich, ob die Protagonisten dieser Regelung56 die Konsequenzen beispielsweise im Bereich des Betrugs bedacht haben. Denn mit dem Vorliegen einer Täuschung über das eigene Engagement des Scalpers, welche sicherlich bei einer entsprechenden Normierung ursächlich für Irrtum und Vermögensverfügung des Anlegers werden kann, würde der Eintritt eines Vermögensschadens gleichwohl allein von der weiteren Kursentwicklung abhängen. Zwar wäre auch hier häufig ein Ursachenzusammenhang als durchgehende Bedingungskette zu konstruieren, trotzdem bleibt die Strafbarkeit letztlich objektiv an vom Täter kaum zu steuernde Kausalzusammenhänge geknüpft. Zurechnungsprobleme entstehen hier nicht nur im Hinblick auf das freiverantwortliche Verhalten anderer Anleger, die ja genau zu dem betreffenden Kurs handeln wollen, sondern auch auf die vom Scalper definitiv nicht zu steuernden Imponderabilien der tatsächlichen Kursbewegung. Häufig würde zwar eine Strafbarkeit auf der „subjektiven Seite“, namentlich an dem Erfordernis der so genannten „Stoffgleichheit“ scheitern, gleichwohl könnte sie abhängig vom Handelsvolumen des betreffenden Papiers in bestimmten – im Ergebnis – unkalkulierbaren Konstellationen auch vorliegen – sicherlich kein Gewinn an Rechtssicherheit! Diese wird auch nicht dadurch erhöht, dass § 20a Absatz 1 Nr. 3 in Verbindung mit der Konkretisierungs-Verordnung eine Vielzahl von lediglich näherungsweise täuschungsäquivalenten Verhaltensweisen erfasst, die lediglich ge___________ 55

Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch), L 96/20 – Art. 1 Nr. 2 c) und Art. 2. 56 So Vogel, NStZ 2004, 254.

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eignet sein müssen, auf den Marktpreis eines Finanzinstruments einzuwirken. Die alten Probleme der Erheblichkeitsschwelle haben sich damit eher noch verschärft. Daher erscheint die Abgrenzung auch auf dem Boden der Marktmanipulation nach dem Kriterium des Berufstypischen erfolgversprechender, denn: Die Kursmanipulation ist für den Börsenjournalisten berufstypisch und verhaltensnormkonform – das private Engagement ist es nicht! Allein an letzterem sollte die Strafbarkeit anknüpfen.

d) Das Weitergabe- und Empfehlungsverbot (§ 14 I Nr. 2, 3 WpHG) für Anlageberater Problematisch sind Konstellationen, in denen ein Anlageberater, beispielsweise bei einer Bank über Insiderwissen verfügt und von einem Kunden gebeten wird, eine Empfehlung auszusprechen – diese Empfehlung aber unter Außerachtlassung der Insidertatsache eine andere wäre, als bei deren Beachtung. Die hier auftretende Kollision zwischen dem Empfehlungsverbot und der Pflicht, die Vermögensinteressen des Kunden zu waren – die unter dem Gesichtspunkt der Untreue selbst strafbewehrt sein kann – lässt sich nicht wie vielfach vorgeschlagen auf der Rechtfertigungsebene lösen. Aufgrund der Pflichtenstruktur kommt hier die bisweilen erörterte Nothilfe zugunsten des Kunden nicht in Betracht, da der Anlageberater durch das Unterlassen der Empfehlung zugleich der Angreifer auf die Vermögensinteressen des Kunden wäre und als solcher natürlich nicht das Notwehrrecht gegen sich selbst in Anspruch nehmen kann. Die für den rechtfertigenden Notstand notwendige Güterabwägung scheitert hingegen an dem fehlenden deutlichen Überwiegen der Vermögensinteressen des Kunden über das Allgemeininteresse an der Chancengleichheit auf den Wertpapiermärkten. Daher ist ein Anlageberater im Ergebnis nicht dazu berechtigt, eine Empfehlung unter Ausnutzung einer Insiderinformation abzugeben. Er kann, um seiner Betreuungspflicht zu genügen, die Beratung auf einen Nichtinsider übertragen57. Daher gibt es keine professionelle Verpflichtung zur Empfehlung eines Insiderpapiers.

___________ 57

Zutreffend Soesters (Fn. 11), S. 198 ff.

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e) Die „Due Dilligence“ Prüfung bei Unternehmenskäufen (M&A) Abschließend sei noch kurz auf eine Problematik hingewiesen, welche durch die Neufassung des Verwendungsverbots im Bereich von Unternehmenskäufen entsteht58. Zu deren Vorbereitung wird in aller Regel eine genaue Prüfung aller für den Wert des Unternehmens relevanter Umstände durchgeführt, zu denen insbesondere auch die Bewertung offener und versteckter Risikopotentiale – welche häufig per se Insiderinformationen darstellen – gehört. Handelt es sich zudem bei dem aufzukaufenden Unternehmen um eine börsennotierte Gesellschaft (und wird der Kauf nicht als Asset-Deal sondern als Share-Deal, d.h. als Beteilungskauf abgewickelt), so „verwendet“ der Unternehmenskäufer unzweifelhaft Insiderinformationen für den Kauf von entsprechenden Finanzinstrumenten – den Papieren des zu kaufenden Unternehmens, wenn er die unter der Bedingung einer erfolgreichen Due Dilligence Prüfung getroffene Kaufentscheidung endgültig umsetzt. Gerade aufgrund der Einbeziehung leichtfertigen Handelns gem. § 38 Absatz 1 Nr. 1, Absatz 4, lassen sich auf der subjektiven Ebene praktisch keine Schranken gegenüber einer generellen Strafbarkeit derartiger wirtschaftlich erwünschter Verhaltensweisen mehr einziehen. Auch insoweit verstärkt die durch das AnSVG bewirkte Entgrenzung der Insiderverbote das Bedürfnis nach einer Herausnahme sozialkonformer Verhaltensweisen aus dem Bereich des Insiderstrafrechts. M.E. liegt auch hier der richtige Weg in einer bereichsspezifischen Reduktion des Tatbestandes um die neutralen bzw. berufstypischen Handlungen. Konkret: Unter der Prämisse, dass die aufgezeigten Abläufe bei Unternehmenskäufen sozialkonform sind, ist die Verwendung der Insiderinformation für den Kauf der Papiere des Übernahmekandidaten und eventuell verbundener Unternehmen strafrechtlich betrachtet neutral – auch dann, wenn der Käufer damit gegenüber den übrigen Anteilseignern einen Informationsvorsprung besitzt und verwendet. Hier eine Pflicht zu statuieren, bspw. zunächst kurssteigernde vertrauliche Informationen zu veröffentlichen, führt nicht nur in Friktionen mit dem strafrechtlichen Verbot des Verrats von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen sondern ist betriebswirtschaftlich schlicht absurd.

III. Fazit Die Wahrung der Chancengleichheit an den börsenmäßig organisierten Wertpapiermärkten darf nicht dazu führen, wirtschaftliche Handlungsfreiheit umfassend abzuschnüren. Zwar mag man die sehr weit gefassten Tatbestände ___________ 58

Näher Schneider, DB 2005, 2678.

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als probates Mittel ansehen, um auch künftig im Sinne Merton’s „innovative“ Verhaltensmuster59 erfassen zu können, ohne jedes Mal die betreffenden Normen ergänzen zu müssen, jedoch müssen im Wege konkretisierender Auslegung Freiräume sinnvoller wirtschaftlicher Betätigung sichergestellt werden: Zunächst ist nicht jeder Akteur innerhalb eines tatbestandlich erfassten Bereichs Garant für die Rechtmäßigkeit der ihn betreffenden wirtschaftlichen Abläufe, konkret begründet die Stellung als Insider nicht automatisch eine Garantenpflicht zum Schutze des bereichsspezifischen Rechtsguts „Chancengleichheit“. Dies gilt auch dann, wenn der Betroffene die besonderen persönlichen Merkmale aufweist, welche ihn als potentiell geeigneten Täter eines Sonderdelikts qualifizieren. Garant kann mithin nur sein, wer eine über die über die tatbestandlich vertypte Rollenbeschreibung hinausgehende besondere und konkrete Verantwortungsbeziehung zu dem konkret betroffenen Rechtsgut aufweist. Nur in diesen Konstellationen kann sich ggf. auch eine Pflicht begründen lassen, eigene Interessen aktiv zu schädigen. Hervorstechendes – tatbestandsreduzierendes – Kriterium ist jedoch die Berufstypizität des Verhaltens. Erfüllt der Insider dem Wortlaut nach eine tatbestandlich beschriebene Handlung, so bleibt der Tatbestand gleichwohl bereits objektiv unanwendbar, wenn die Entscheidung über die Vornahme der Handlung fest durch Organisationsstrukturen oder gesetzliche Regelungen60 vorgegeben ist. Anderenfalls würde dem Einzelnen auch insoweit unter Strafe eine Pflicht aufgebürdet, Straftaten anderer gegen die Allgemeinheit aktiv zu verhindern! Dies ist üblicherweise die Aufgabe des Staates selbst. Gleiches gilt, wenn die Verwendung von Insiderinformationen einem unternehmensrechtlich im Übrigen anerkannten und allgemein als üblich vorausgesetzten Verhaltensmuster folgt. Hier würde die Einbeziehung aller vom Wortlaut umfassten Verhaltensweisen unternehmerisch sinnvolles Verhalten teilweise abschnüren. Neben den gesetzlich benannten Safe-Harbour-Regelungen sind bildhaft gesprochen auch die durch neutrales oder berufstypisches Verhalten gekennzeichneten Bereiche als durch Tatbestandsreduktion geschützte Ankerplätze anzuerkennen! ___________ 59

Merton, in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, 3. Aufl. 1979, S. 283 ff.; Jung, Kriminalsoziologie, 2. Aufl. 2007, S. 75-77; Schwind, Kriminologie, 19. Aufl. 2009, § 7 Rn. 6 ff. 60 Dies gilt bspw. für die Pflicht des Vorstands zur Auskunftserteilung in der Hauptversammlung gem. § 131 AktG, sofern jedenfalls die abstrakte Möglichkeit einer zeitnahen Kenntnisnahme durch die Bereichsöffentlichkeit, etwa durch Presseberichterstattung aus der laufenden Versammlung, besteht; a.A. Assmann, AG 1997, 50, 57, der für ein grundsätzliches Auskunftsverweigerungsrecht des Vorstands nach § 131 Abs. 3 Nr. 5 AktG plädiert.

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Der Strafgesetzgeber ist nur zur Gewährleistung der Chancengleichheit auf den Kapitalmärkten legitimiert, hat also den im Grundsatz fairen Wettbewerb sicher zu stellen – nicht aber diesen Wettbewerb an den Börsen dirigierend zu steuern oder ihn gar zu sedieren, denn auch im Wirtschaftsleben muss gelten: Strafrecht ist ultima ratio!

Probleme des § 201a StGB Von Uwe Murmann Mit der Einführung des am 6. August 2004 in Kraft getretenen § 201a StGB1, der als „Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen“ überschrieben ist, hat der Gesetzgeber eine schon lange erhobene, dann aber wieder verstummte Forderung erfüllt2. Wie so häufig bei neueren Gesetzgebungsvorhaben bedurfte es eines äußeren, öffentlichkeitswirksamen Anstoßes, um Aktivitäten des Gesetzgebers auszulösen und dann auch – ebenfalls typisch für diese Art von Gesetzen – binnen Kurzem das Gesetzgebungsverfahren zum Abschluss zu bringen. Der äußere Anstoß kam in diesem Fall vom Bundesbeauftragten für den Datenschutz, der in seinem Tätigkeitsbericht für die Jahre 1999 und 2000 seiner Sorge wegen der Veröffentlichung von Fotos im Internet Ausdruck verlieh.3 Mit Hilfe neuer technischer Geräte, z.B. (in Mobiltelefone integrierter) Digitalkameras, sei es immer einfacher geworden, von den Betroffenen unbemerkte Aufnahmen zu machen und zu veröffentlichen. „Dabei bewegen sich diese Personen nur zum Teil in der Öffentlichkeit, zum Teil aber in Bereichen, wo sie sich bewusst der Öffentlichkeit entziehen wollen und deshalb auch gar nicht mit der Aufnahme von Bildern rechnen können bzw. müssen. Dazu zählen z.B. eine Privatwohnung, Umkleidekabinen in Schwimmbädern oder Geschäften. Es kann nicht angehen, dass so etwas weiterhin straffrei ist.“4 Zutreffend vorausgesetzt ist in diesen Ausführungen des Bundesbeauftragten, dass solche Aufnahmen in die Rechte der Betroffenen eingreifen, nämlich in die Privatsphäre und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bezogen auf Bildaufnahmen als Ausprägungen des aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten allgemeinen Persönlichkeitsrechts5. ___________ 1 36. Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. Juli 2004; BGBl. I, 2012 vom 5. August 2004. 2 Zur älteren Entwicklung Eisele, JR 2005, 6; zum Gesetzgebungsverfahren im Einzelnen Kächele, Der strafrechtliche Schutz vor unbefugten Bildaufnahmen (§ 201a StGB), 2007, S. 47 ff. 3 BT-Dr 14/5555, S. 22, 57; bekräftigt im Tätigkeitsbericht für die Jahre 2001 und 2002, BT-Dr 15/888, S. 50 f. 4 BT-Dr 14/5555, S. 22, 57. 5 Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 201a Rn. 1.

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Dass der Gesetzgeber auf solche Kritik an der Gesetzeslage fast schon reflexartig mit einem neuen Straftatbestand reagiert, ist nicht weiter erstaunlich. Tatsächlich lagen binnen kurzem Entwürfe mehrerer Bundestagsfraktionen, sowie des Landes Baden-Württemberg, des Bundesrates und schließlich ein fraktionsübergreifender Entwurf von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP vor6. Das angedeutete Zustandekommen der Regelung ruft sogleich Sorgenfalten in die Gesichter von Wissenschaftlern und Praktikern. Man fühlt sich an das 6. StrRG erinnert, dessen theoretische Durchdringung und praktische Anwendbarkeit durch handwerkliche Fehler des Gesetzgebers erschwert worden sind.7 Es wird sich zeigen, dass diese Assoziation so falsch nicht ist8. Mit den folgenden Anmerkungen möchte ich mich auf den im Mittelpunkt der Vorschrift stehenden Abs. 1 konzentrieren, der vor allem das unbefugte Herstellen von Bildaufnahmen behandelt, wobei mit dem hier nicht weiter untersuchten „Herstellen“ das Speichern des Bildes auf einem Bild- oder Datenträger gemeint ist. Innerhalb des so gesteckten Rahmens soll (I.) das Tatbestandsmerkmal der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs thematisiert werden. Sodann wird es (II.) um das tatbestandliche Erfordernis gehen, dass sich der Abgebildete in einer Wohnung oder in einem gegen Einblick besonders geschützten Raum befinden muss. Diese Themenbereiche stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern es wird sich zeigen, dass die Begrenzung des räumlichen Schutzbereichs mit Blick auf die erforderliche Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs kritisch zu hinterfragen ist.

I. Das Erfordernis der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs § 201a Abs. 1 StGB verlangt, dass durch die Bildaufnahme der höchstpersönliche Lebensbereich des Betroffenen verletzt wird. Der Tatbestand ist damit – entgegen der Auffassung des Gesetzgebers9, der von einem Gefährdungstatbestand spricht10 – als Erfolgsdelikt ausgestaltet11. Tatbestandlicher Erfolg ist ___________ 6 Überblick bei Linkens, Der strafrechtliche Schutz vor unbefugten Bildaufnahmen, Diss. Bonn 2005, S. 53 ff.; Sauren, ZUM 2005, 427 f. 7 Vgl. z.B. Hettinger, FG für Rainer Paulus, 2009, S. 73 ff. 8 Vgl. auch Borgmann, NJW 2004, 2135; Bosch, JZ 2005, 377. 9 Der Wille des „Gesetzgebers“ (zum methodischen Problem von dessen Bestimmung Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 149 f.) hat vorliegend insbesondere in dem letztlich Gesetz gewordenen fraktionsübergreifenden Entwurf und der Begründung hierzu Ausdruck gefunden (BT-Dr 15/2466). 10 BT-Dr 15/2466, S. 4; ebenso Koch, GA 2005, 592 f.; Bosch, JZ 2005, 378: abstraktes Gefährdungsdelikt, „weil bereits mit der Perpetuierung des eigenen Bildes die Ge-

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die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs des Betroffenen. Dieser Erfolg ist mit der Verletzung des tatbestandlich geschützten Rechtsguts identisch12. Darin liegt im Vergleich zu anderen Erfolgsdelikten eine Besonderheit13: Während regelmäßig solche Erfolge – etwa der Tod oder die körperliche Verletzung oder der an fremdem Eigentum eingetretene Schaden – tatbestandlich gefordert sind, bei deren Eintritt der Gesetzgeber von einer Beeinträchtigung des hinter dem jeweiligen Tatbestand stehenden Rechtsguts ausgeht, ist bei § 201a Abs. 1 StGB die Verletzung des Rechtsguts selbst Tatbestandsmerkmal. Das Erfordernis einer Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs des Betroffenen führt zum einen dazu, dass der Schutzbereich des § 201a StGB enger ist als bei den sonstigen Vorschriften des 15. Abschnitts, insbesondere enger ist als der strafrechtliche Schutz gegen Verletzungen der Vertraulichkeit des Wortes und des Briefgeheimnisses. Denn diese Tatbestände dienen dem Schutz des persönlichen Lebens- und Geheimnisbereichs, während § 201a StGB lediglich den höchstpersönlichen Lebensbereich schützen will14. Vor allem aber führt diese Gesetzgebungstechnik dazu, dass jede weitere tatbestandliche Beschränkung des Schutzbereichs den Tatbestand in der Weise beschneidet, dass das geschützte Rechtsgut, also der höchstpersönliche Lebensbereich, nur lückenhaft gegen Angriffe durch Bildaufnahmen geschützt wird. Die zusätzliche Einschränkung, auf die noch einzugehen sein wird, liegt hier darin, dass nur solche Bildaufnahmen einer anderen Person strafrechtlich erfasst sind, „die sich in einer Wohnung oder einem gegen Einblick besonders geschützten Raum befindet“. Um das Problematische dieser Einschränkung zu verdeutlichen, ist es zunächst erforderlich, dem Rechtsgut des „höchstpersönlichen Lebensbereichs“ ___________ fahr seiner jederzeitigen Verwendbarkeit begründet ist“, womit umgekehrt ein Erfolgsdelikt deshalb nicht vorliegen soll, weil keine Kenntnisnahme vorausgesetzt wird; SSWStGB/Bosch, im Erscheinen, § 201a Rn. 11. Das verkennt aber, dass § 201a StGB „vor besonders intensiven Eingriffen in das Recht am eigenen Bild als Teilbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts“ schützen soll (ebenfalls SSW-StGB/Bosch, § 201a Rn. 1) und damit die Bildaufnahme als solche schon rechtsverletzenden Charakter hat. 11 Zutreffend Heuchemer/Paul, JA 2006, 618; Hoyer, ZIS 2006, 4; Kindhäuser, Strafrecht BT, 3. Aufl. 2007, § 28 Rn. 35. 12 A.A. LK-StGB/Kindhäuser, 3. Aufl. 2006, § 201a Rn. 1: „Die Vorschrift schützt den engsten räumlichen Lebensbereich … vor der Verletzung durch Bildaufnahmen“. Diese Auffassung, die mit dem Gesetzeswortlaut nicht in Einklang steht, müsste in der (von Kindhäuser, a.a.O., Rn. 4, 5, 7 wohl auch gezogenen) Konsequenz zu einer Einschränkung des Schutzes auf die Personen führen, die sich in den zu ihrem Schutz bestimmten Räumen befinden. 13 Kühl, AfP 2004, 196. 14 Kritisch zu dieser Einschränkung Kühl, AfP 2004, 193.

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Konturen zu geben. Das ist schon deshalb nicht ganz einfach, weil der Begriff im deutschen Recht bislang nicht vorkommt15. Außer Zweifel dürfte aber stehen, dass der höchstpersönliche Lebensbereich einen Ausschnitt aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) bezeichnet. Mit der Höchstpersönlichkeit des geschützten Bereichs ist eine Stufung angesprochen, die ersichtlich an das Bild unterschiedlicher Sphären der Persönlichkeitsentfaltung anknüpft. Damit wird durch das Schutzgut die begrifflich und inhaltlich unübersichtliche Diskussion um die Sphärentheorie in den Tatbestand des § 201a StGB transportiert16. Eine weitere Komplizierung liegt in der Frage, ob sich der höchstpersönliche Lebensbereich in bereits vorhandene Kategorien der Sphärentheorie (oder: eine der Sphärentheorien) einordnen lässt oder eine neue, eigenständige Sphäre darstellt. Der Gesetzgeber ging davon aus, dass der Begriff enger sein sollte als der des „persönlichen Lebensbereichs“ wie er in § 68a Abs. 1 StPO17 (Fragen an den Zeugen) und § 171b Abs. 1 GVG18 (betrifft den Ausschluss der Öffentlichkeit zum Schutz der Privatsphäre) vorkommt19. Inhaltlich sollte Identität mit dem geläufigeren Begriff der „Intimsphäre“ bestehen20, der aber deshalb nicht übernommen wurde, weil der Gefahr einer nicht gewollten Verengung auf die Bereiche Sexualität und Nacktheit ausgewichen werden sollte21. Der Gesetzgeber ging davon aus, dass vor allem Krankheit, Tod und Sexualität dem höchstpersönlichen Lebensbereich zuzuordnen seien. Zum höchstpersönlichen Lebensbereich gehören nach der Vorstellung des Gesetzgebers weiterhin bestimmte Tatsachen aus dem Familienleben, nämlich solche, „die die wechselseitigen Bindungen, Beziehungen und Verhältnisse innerhalb der Familie betreffen.“22 Diese Sichtweise ist mit Blick auf Art. 6 GG grundsätzlich plausibel. Das BVerfG23 hat dem für die Herstellung von Foto___________ 15

Bosch, JZ 2005, 379: „sinnentleerte Kompromissformel“. Überblick bei Kächele (Fn. 2), S. 64 ff. 17 Dazu Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl. 2008, § 68b Rn. 4: „Den persönlichen Lebensbereich betreffende Tatsachen stehen im Gegensatz zu den Umständen, die nur das Berufs- oder Erwerbsleben betreffen. Gemeint ist der private Bereich, der jedermann zur Entfaltung seiner Persönlichkeit gewährleistet werden muß. Dazu gehören insbesondere private Eigenschaften und Neigungen des Zeugen, sein Gesundheitszustand, seine religiöse und politische Einstellung, aber auch Tatsachen aus seinem Familienleben.“ 18 Praktisch gleichlautend wie zu § 68a StPO Meyer-Goßner, StPO, § 171b GVG Rn. 3. 19 BT-Dr 15/2466, S. 4. 20 BT-Dr 15/1455, S. 5. 21 BT-Dr 15/2466, S. 4. 22 Dagegen, weil damit der angemessen restriktive und inhaltlich bestimmte Bereich der Intimsphäre überschritten werde, Koch, GA 2005, 596. 23 BVerfG NJW 2000, 1021, 1023 (Caroline von Monaco). 16

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grafien aus dem Privatleben Prominenter insbesondere für solche Fälle nähere Gestalt gegeben, in denen das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern durch die Bildaufnahmen betroffen ist. Der Schutzgehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts erfahre eine Verstärkung durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, der den Staat verpflichte, die Entfaltungsvoraussetzungen des Kindes auch und gerade im Umgang mit seinen Eltern zu sichern. Dazu gehöre es auch, diesen Bereich von Eingriffen durch Fotoreporter freizuhalten. Allerdings ist die Einordnung familiärer Beziehungen in den Bereich der Intimsphäre nicht selbstverständlich24; die vom Gesetzgeber in Bezug genommene Entscheidung des BGH betrifft den persönlichen (nicht den höchstpersönlichen) Lebensbereich25. Andererseits hat das BVerfG in seiner Entscheidung zum Großen Lauschangriff die Kommunikation unter Familienangehörigen und engen Vertrauten in Abhängigkeit von deren Inhalt dem Kernbereich des Privatlebens zugeordnet26, was dann auch für ähnlichen Sinn tragende Bildaufnahmen gelten müsste27. Die Zuordnung zur Intimsphäre wird danach, wie dies die Gesetzesbegründung ja auch andeutet, nur dann gerechtfertigt sein, wenn eine Situation einen Sinngehalt trägt, der besondere Schutzbedürfnisse zugunsten der Beteiligten auslöst28. Nicht ausreichend ist danach etwa, wenn ein Ehepaar gemeinsam am Frühstückstisch sitzt. Vergleichsweise unproblematisch erscheint es wiederum, wenn nach Auffassung des Gesetzgebers auch „die innere Gedanken- und Gefühlswelt mit ihren äußeren Erscheinungsformen wie vertraulichen Briefen und Tagebuchaufzeichnungen“ dem höchstpersönlichen Lebensbereich (bzw. der Intimsphäre) zuzuordnen sein soll29. Nun ist offenkundig, dass weder Briefe noch Tagebücher als

___________ 24

Zutreffend Hoyer, ZIS 2006, 3. Kühl, § 201a Rn. 3, folgert aus der Einbeziehung familiärer Beziehungen, „dass man trotz der Begrenzung auf den höchstpersönlichen Lebensbereich gewillt ist, auch den weiteren persönlichen Lebensbereich zu schützen“. Vgl. m.w.N. Wolter, in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus. Symposium für Bernd Schünemann zum 60. Geburtstag, 2005, S. 225 ff. 25 BGHSt 30, 212, 214. Zur Inkonsistenz der Gesetzesbegründung Kächele (Fn. 2), S. 93 f. 26 BVerfGE 109, 279, 319 f. 27 Zutreffend Kächele (Fn. 2), S. 94. 28 In diesem Sinne Flechsig, ZUM 2004, 610, der zwischen allgemein zum häuslichen und privaten Bereich gehörenden Angelegenheiten und den wechselseitigen persönlichen Beziehungen, die zum Kernbereich zu zählen seien, unterscheidet. 29 BT-Ds 15/2466, S. 5. Selbstverständlich ist selbst bei diesen, auf den ersten Blick eindeutigen Beispielen, die Zuordnung zur Intimsphäre nach der Rechtsprechung freilich nicht, wie die Tagebuchentscheidung des BVerfG (E 80, 367, 376 f.) gezeigt hat; dazu noch unten.

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praktische Beispiele für Bildaufnahmen der Person taugen30. Andere, bildlich festhaltbare Ausdrucksformen der inneren Gedanken- und Gefühlswelt sind jedoch vielfältig vorstellbar. Das gilt z.B. für Bekundungen von Trauer und Schmerz, von Melancholie oder auch von Freude. Ob sie allerdings dem höchstpersönlichen Lebensbereich zugeordnet werden können, ist häufig zweifelhaft. Hier wirkt sich der Umstand aus, dass ein Bild vielfach ein weniger komplexer, das Innerste nicht mit gleicher Deutlichkeit spiegelnder Träger der Gedanken des Abgebildeten ist, als dies etwa bei einem Tagebuch der Fall ist. Über die eher kasuistischen Erschließung der gemeinten Lebensbereiche führt der – vom Gesetzgeber eingeführte31 – Gedanke hinaus, dass sich der höchstpersönliche Lebensbereich als der Bereich verstehen lässt, der einer Abwägung mit Belangen der Allgemeinheit grundsätzlich nicht zugänglich ist. Das BVerfG spricht von einem „verfassungsrechtlichen Gebot unbedingter Achtung einer Sphäre des Bürgers für eine ausschließlich private – eine ‚höchstpersönliche‘ Entfaltung.“ Und führt weiter aus: „Zur Entfaltung der Persönlichkeit im Kernbereich privater Lebensgestaltung gehört die Möglichkeit, innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art zum Ausdruck zu bringen, und zwar ohne Angst, dass staatliche Stellen dies überwachen.“32 Diesem Verständnis entspricht auch der Umstand, dass der Gesetzgeber auf eine Interessenabwägungsklausel, wie sie in § 201 Abs. 2 S. 3 StGB für die Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes normiert ist33, verzichtet hat. Damit ist noch nicht gesagt, dass gegenläufige Interessen Dritter oder der Allgemeinheit sich nicht Geltung verschaffen können. Methodisch stehen dafür zwei Wege offen: Zum einen wird der unantastbare Kernbereich vielfach nicht statisch bestimmt, sondern als Resultat eines Abwägungsvorgangs34. So kann ein Lebensbereich, der im Verhältnis zu Strafverfolgungsbelangen unantastbar ist, Eingriffen zur Gefahrenabwehr durchaus offen stehen. Und wenn in einem Tagebuch das problematische Verhältnis zu Frauen thematisiert wird, so soll es nach Auffassung des BVerfG einen aus der Intimsphäre hinausweisenden Sozialbezug aufweisen, wenn ihm für die Aufklärung eines schweren Sexualdelikts ___________ 30 Hoyer, ZIS 2006, 2. Eingehende Problematisierung der Frage, ob sich der höchstpersönliche Charakter des im Bild Festgehaltenen aus der Aufnahme selbst ergeben muss oder ob es etwa ausreicht, wenn das Bild eine schreibende Person zeigt, ohne dass der Betrachter erkennen kann, dass es sich um ein Tagebuch handelt, bei Rahmlow, HRRS 2005, 91 f. 31 BT-Ds 15/2466, S. 5; vgl. z.B. auch Flechsig, ZUM 2004, 609. 32 BVerfGE 109, 279, 313; 120, 274, 335. 33 Dazu Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT I, 9. Aufl. 2003, § 29 Rn. 68. 34 Zur Begründung näher Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 285 ff.; vgl. auch Wolter (Fn. 24), in: Hefendehl (Hrsg.), S. 228, 230.

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Beweiswert zukommt35. Auch die Begehung einer strafbaren Handlung ist aufgrund ihrer sozialen Bedeutung nicht höchstpersönlich, selbst wenn sie in einem entsprechenden Kontext steht – wie etwa die Tötung des Partners beim Geschlechtsakt36. Hier wird also nicht ein Eingriff in die Intimsphäre zur Abwägung gestellt, sondern diese Sphäre erhält ihre Konturen bereits unter Berücksichtigung der Sozialbindung. Der zweite Weg zur Berücksichtigung gegenläufiger Interessen wird durch das in § 201a Abs. 1 StGB verankerte Erfordernis „unbefugten“ Handelns gewiesen. An diesem Erfordernis zeigt sich, dass absolute Unantastbarkeit nicht gemeint sein kann37. Eine Befugnis kann nämlich nicht nur aus einer Einwilligung, sondern auch aus den allgemeinen Rechtfertigungsgründen, z.B. § 34 StGB, resultieren38. Abwägungsfest ist der höchstpersönliche Lebensbereich also nur im Verhältnis zu allgemeinen Informationsinteressen, wie sie insbesondere auch von der Presse verfolgt werden39. Es entspricht der Typisierungsfunktion des Tatbestandes, dass das Unwerturteil nur für diese „Normalfälle“ und vorbehaltlich des Vorliegens von Ausnahmesachverhalten gefällt wird. Als höchstpersönlicher Lebensbereich bleibt also der Bereich der Privatsphäre, der gegenüber allgemeinen Informationsinteressen abwägungsfest ist, der also auch bei Prominenten, deren Leben Gegenstand allgemeiner Neugier ist, unverbrüchlich bleibt. Diese Interpretation entspricht auch der bereits erwähnten sachlichen Deckungsgleichheit mit der Intimsphäre40. Demgegenüber dürfte es ohne konstitutive Bedeutung sein, ob eine Abbildung geeignet ist, einen „sozialen Geltungsschaden“ zu Lasten des Opfers zu begründen41. Denn damit wird der Tatbestand auf Fälle verengt, in denen sich ___________ 35

BVerfGE 80, 367, 376 f. Zutreffend Koch, GA 2005, 604; Hesse, ZUM 2005, 435; verkannt von Obert/ Gottschalck, ZUM 2005, 439; Tillmanns/Führ, ZUM 2005, 442. 37 Vgl. Wolter (Rn. 24), in: Hefendehl (Hrsg.), S. 228. 38 Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 201a Rn. 16; Kühl, § 201a Rn. 9. 39 Die sich hier im Übrigen, soweit es das Herstellen von Bildaufnahmen betrifft, nicht auf die Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) berufen kann, da der grundrechtliche Schutzbereich nur die Informationsbeschaffung aus allgemein zugänglichen Quellen umfasst, nicht die Eröffnung einer Informationsquelle; dazu Flechsig, ZUM 2004, 608; Wendt, AfP 2004, 185. 40 Borgmann, NJW 2004, 2134; LK-StGB/Kindhäuser, § 201a Rn. 7; Kächele (Rn. 2), S. 94; Rengier, Strafrecht, BT/II, 9. Aufl. 2008, § 31 Rn. 14. Für die Gleichsetzung mit der Intimsphäre, allerdings unter Ausschluss von schutzwürdigen Tatsachen aus dem Familienleben, Koch, GA 2005, 596 f. A.A. Kühl, § 201a Rn. 3; SSW-StGB/ Bosch, § 201a Rn. 12. 41 In diesem Sinne eingehend (unter Bezugnahme auf § 187 StGB) Hoyer, ZIS 2006, 4 ff.; zustimmend Joecks, StGB, 7. Aufl. 2007, § 201a Rn. 4. 36

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das Opfer in einer „kompromittierenden Lebenssituation“ befindet42. Höchstpersönlich können aber auch positive Emotionen oder sonstige Gegebenheiten sein, deren sich der Betroffene nicht zu schämen braucht. Krankheit und Todesnähe bedürfen zur Begründung ihrer Höchstpersönlichkeit nicht des Vehikels eines drohenden Vertrauensverlusts in die Leistungsfähigkeit des Opfers, der dann wiederum die soziale Stellung des Opfers belaste43. Unübersehbar ist, dass der skizzierte höchstpersönliche Lebensbereich trotz der genannten Bemühungen um Präzisierung in seinen Randzonen alles andere als klar ist. Das hat der Vorschrift bereits den Vorwurf mangelnder Bestimmtheit im Sinne von Art. 103 Abs. 2 GG eingebracht44. Berechtigt ist dieser Vorwurf nicht45: Der Verweis auf den bereits vorgeformten Begriff der Intimsphäre, auf die Rechtsprechung des BVerfG zum Kernbereich privater Lebensgestaltung und darauf, dass der höchstpersönliche Lebensbereich als Einengung des gesetzlich bereits verwendeten Begriffs des persönlichen Lebensbereichs anzusehen ist, dürfte den Umfang dessen, was mit dem freilich auslegungsbedürftigen Begriff des höchstpersönlichen Lebensbereichs gemeint ist, hinreichend konturieren. Ein Weiteres ist zu bedenken: Ausgehend von der wohl nicht ernsthaft bezweifelten Einsicht, dass auch unter der Geltung des Bestimmtheitsgrundsatzes begriffliche Unschärfen unvermeidbar sind46, stellt sich die Frage nach der erforderlichen Bestimmtheit richtigerweise als Frage nach dem Umfang legitimierbarer Unschärfen. Zwar verlangt der Bestimmtheitsgrundsatz nach herkömmlichem Verständnis, dass die Merkmale des Straftatbestandes so konkret umschrieben sind, dass sich ihr Sinn und Bedeutungsgehalt durch Auslegung ermitteln lässt47, aber das kann, wenn der Auslegungsbedarf überhaupt einmal eingeräumt ist, nur bedeuten, dass in Randbereichen die Annahme von Strafbarkeit nur als Entscheidung für eine von mehreren Auslegungsmöglichkeiten verstanden werden kann48. Für den Bürger bedeutet dies praktisch, dass er Strafbarkeit nur dann zuverlässig vermeiden kann, wenn er ___________ 42

Hoyer, ZIS 2006, 4. So aber Hoyer, ZIS 2006, 5. 44 Borgmann, NJW 2004, 2134; SSW-StGB/Bosch, § 201a Rn. 12; Kargl, ZStW 117 (2005), 343; Mitsch, Jura 2006, 119; Obert/Gottschalck, ZUM 2005, 436, 438 f.; Sauren, ZUM 2005, 430; Schertz, AfP 2005, 427; Tillmanns/Führ, ZUM 2005, 444; zweifelnd Eisele, JR 2005, 11. Auch das OLG Koblenz, Beschl. v. 11.11.2008, 1 Ws 535/08 spricht von einem „dem Gebot der Normenklarheit wenig Rechnung tragenden Tatbestand“. 45 Zutreffend Duttge, in: Duttge/Tinnefeld (Hrsg.), Gärten, Parkanlagen und Kommunikation, 2006, S. 130 f.; Koch, GA 2005, 603; Wendt, AfP 2004, 190. 46 BVerfGE 4, 352, 357; 45, 363, 370 ff. 47 BVerfGE 73, 206, 234; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 47. 48 BVerfGE 73, 206, 235; 92, 1, 12; BVerfG NJW 1998, 2589, 2590; dort auch jeweils zur Relevanz der Erkennbarkeit des Strafbarkeitsrisikos. 43

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die problematische Handlung nicht vornimmt. Die darin liegende Freiheitseinschränkung als Folge der Randunschärfe von strafrechtlichen Tatbeständen ist nun besonders problematisch, wenn an der Scheidelinie von Strafbarkeit und Straflosigkeit zugleich die Grenze zwischen nach der Rechtsordnung erlaubtem und verbotenem Verhalten verläuft. Die sichere Vermeidung von Strafbarkeit führt in diesen Fällen für den Bürger nämlich zu der Zumutung, dass er eine u.U. erlaubte Handlung nicht vornehmen dürfte. Die Frage nach der Legitimität tatbestandlicher Unschärfen stellt sich weniger scharf dort, wo das Verhalten auch nach der Auslegung, die zur Straflosigkeit gelangt, doch jedenfalls ein verbotenes bliebe49. So liegt es hier: Auch dann, wenn die Bildaufnahme einer Person diese nicht in ihrem höchstpersönlichen Bereich verletzt, wird regelmäßig ein unerlaubtes Verhalten vorliegen, etwa wenn eine Privatperson in ihrem schlicht-persönlichen Bereich abgelichtet wird50. Danach spricht alles dafür, dass der neue § 201a StGB insoweit dem Bestimmtheitserfordernis genügt.

II. Der Aufenthalt des Betroffenen in einer Wohnung oder einem gegen Einblick besonders geschützten Raum Greift man nun die Überlegung wieder auf, dass der höchstpersönliche Lebensbereich sich vor allem dadurch auszeichnet, dass er gegenüber allgemeinen Informationsinteressen, insbesondere der Medien, abwägungsfest ist51, so muss die Einschränkung des Anwendungsbereichs der Vorschrift auf Wohnungen und gegen Einblick besonders geschützte Räume umso größeres Kopfzerbrechen bereiten. Mit der Wohnung sollte der Schutzbereich der Vorschrift auf solche Räume eingeengt werden, die das Zentrum des höchstpersönlichen Lebensbereichs einer Person bilden.52 Bei den gegen Einblick besonders geschützten Räumen – wie der „höchstpersönliche Lebensbereich“ ein Tatbestandsmerkmal ohne Vorbild im Gesetz53 – war z.B. an Toiletten und Umkleidekabinen in Schwimmbä___________ 49

Dieser Gedanke ist freilich deutlich abzugrenzen von seiner Radikalisierung bei Binding, Handbuch des Strafrechts, 1885, S. 236: „Die Straferduldungspflicht wird principiell begründet durch das Delikt und nicht durch die ihm vielleicht gewidmete Strafdrohung.“ 50 Deshalb dürfte auch das von Medienvertretern häufig gezeichnete Bild des verunsicherten Journalisten nicht treffen. Dieser wird regelmäßig wissen, dass er, deutlich bevor er den strafbaren Bereich betritt, bereits das Persönlichkeitsrecht seines Opfers verletzt. 51 Gola, RDV 2004, 216. 52 Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/I, 32. Aufl. 2008, Rn. 545b. 53 Kargl, ZStW 117 (2005), 331.

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dern oder Kaufhäusern gedacht54. Ohne weitere Reflexion über den Begriff des „Raumes“ ist der Gesetzgeber weiterhin davon ausgegangen, dass auch der durch eine dichte Hecke gegen Einblicke geschützte Garten einen solchen Raum darstellt55. Überdehnt ist der Wortlaut jedenfalls dann, wenn bei einer sich in der Öffentlichkeit bewegenden Frau auch der Bereich „unter dem Rock“ erfasst sein soll56. Der Sinn, den der Gesetzgeber in dieser Einschränkung auf Wohnungen und bestimmte Räume gesehen hat, erschließt sich nur auf den ersten Blick leicht. Naheliegend ist der Gedanke, das durch die Vorschrift geschützte höchstpersönliche Leben finde eben nur dort statt oder sei zumindest an diesen Örtlichkeiten besonders schutzwürdig57. Das Opfer werde gerade hier „in seiner berechtigten Erwartung enttäuscht, vor Bildaufnahmen sicher zu sein“58. In diesem Sinne lesen sich auch manche Stellen der Gesetzesbegründung: „Erfasst sind nur Bildaufnahmen, die vom Betroffenen in seinem persönlichen Rückzugsbereich – der Wohnung oder einem sonst besonders geschützten Raum – gefertigt werden.“59 Der Gesetzeswortlaut stützt ein solches Verständnis allerdings nicht. Denn danach kommt es schon nicht ohne weiteres darauf an, ob die Wohnung oder der geschützte Raum gerade dem Schutz des höchstpersönlichen Lebensbereichs dessen dienen, der durch das Foto verletzt wird60. Dies entsprach auch der Vorstellung des Gesetzgebers, der ausdrücklich „fremde Wohnungen“ in den Schutzbereich einbezogen wissen wollte61 und dabei offenbar nicht das Spannungsverhältnis zum intendierten Schutz des persönlichen Rückzugsbereichs des Betroffenen bemerkt hat62. Die Literatur schließt meist ohne weiteres

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Problematisiert wird hingegen das (mit mehreren Patienten belegte) Krankenzimmer; Flechsig, ZUM 2004, 610. 55 Schertz, AfP 2005, 425. Dass die „Verwendung des Begriffes Raum in dieser Hinsicht schwer fällt“ meint auch Sauren, ZUM 2005, 429. 56 Flechsig, ZUM 2004, 610; zutreffend kritisch SSW-StGB/Bosch, § 201a Rn. 6; Rahmlow, HRRS 2005, 88. 57 Dagegen stellt es eine Verzeichnung des Schutzbereichs von § 201a StGB dar, wenn Rahmlow, HRRS 2005, 84 f. meint, diese diene dem Schutz vor „Bildaufnahmen von einer Person, die sich in einer nichtöffentlichen Situation befindet“. 58 So Koch, GA 2005, 598. 59 BT-Drs. 15/2466, S. 4, auch S. 5. 60 Borgmann, NJW 2004, 2135; Eisele, JR 2005, 8; Joecks, StGB, § 201a Rn. 2; Kühl, AfP 2004, 194; Sauren, ZUM 2005, 429; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, § 201a Rn. 5; vgl. auch Borgmann, NJW 2004, 2135; Heuchemer/Paul, JA 2006, 617. 61 BT-Dr 15/1891, S. 7; 15/2466, S. 5. 62 Zutreffend SSW-StGB/Bosch, § 201a Rn. 7.

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an diese Sichtweise an63. Danach könnte sich z.B. der Gastgeber strafbar machen, der seine Gäste bei einer Feier in volltrunkenem Zustand fotografiert64. Ein weiteres Beispiel: Wer als Gast in eine fremde Wohnung eingeladen wird, sich dort entgegen jeder Konvention mit einem anderen Gast ins Schlafzimmer zurückzieht und schließlich vom Gastgeber „erwischt“ in verfänglicher Situation abgebildet wird, könnte Opfer einer Tat nach § 201a Abs. 1 StGB sein. Dabei ist es offenkundig, dass der fremden Wohnung für den Gast gerade nicht die Funktion eines Rückzugsbereichs zukommt65. Die fremde Wohnung ist für ihn – weniger wohl als mancher öffentlich zugängliche Ort – kein Bereich, in dem er in seinen höchstpersönlichen Lebensäußerungen besonders geschützt ist. Eine Entkoppelung der generellen Schutzfunktion eines Raumes von der Person des konkreten Opfers muss in der Konsequenz sogar zur Ausdehnung des Schutzbereichs auf solche Personen führen, die sich rechtswidrig in den Räumen aufhalten; die Bildaufnahme des Wohnungseinbrechers könnte danach den Tatbestand des § 201a Abs. 1 StGB erfüllen66. Auch für den Fall des Baden-Württemberger Frauenarztes, der gynäkologische Untersuchungen ohne Wissen seiner Patientinnen mit der Videokamera aufgezeichnet hat67, ist der Bezug der Räumlichkeit zu dem Eingriff in den höchstpersönlichen Lebensbereich durchaus zweifelhaft68. Zwar ist völlig klar, dass die Patientinnen durch die Aufnahmen in ihrem höchstpersönlichen Lebensbereich beeinträchtigt waren. Auch bieten solche Behandlungsräume dem höchstpersönlichen Lebensbereich der Patientinnen Schutz, soweit es um Eingriffe von außen geht. Aber die Räume schützen gerade nicht gegen den behandelnden Arzt; im Verhältnis zu ihm bieten nicht die Räume, sondern die berufliche Stellung als Arzt und die damit verbundene Pflichtenlage einen gewissen Schutz, der Grundlage für ein Vertrauensverhältnis ist. Es ist dieses Vertrauensverhältnis, das der Arzt verletzt hat, nicht ein räumlicher Schutzbereich. In

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Fischer, StGB, § 201a Rn. 10; Flechsig, ZUM 2004, 610; Heuchemer/Paul, JA 2006, 617; Hesse, ZUM 2005, 433; Linkens (Fn. 6), S. 83 f.; Joecks, StGB, § 201a Rn. 2; Kargl, ZStW 117 (2005), 332, 339 f.; Kühl, § 201a Rn. 2; Obert/Gottschalck, ZUM 2005, 437; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, § 201a Rn. 5. 64 Mitsch, Jura 2006, 118 findet das – zu Recht – nicht einleuchtend. Borgmann, NJW 2004, 2135 hält es für unklar, „inwieweit sich ein Gastgeber seines Rechts begibt, in seiner eigenen Wohnung Fotos von seinen Gästen zu machen“. 65 Weshalb Gola, RDV 2004, 216, meint, bei einer Party oder Familienfeier sei „die Nichtöffentlichkeit jedenfalls für die Teilnehmer aufgehoben“. 66 Fischer, StGB, § 201a Rn. 10; Rahmlow, HRRS 2005, 86. 67 Siehe zum Fall Werwigk-Hertneck, ZRP 2003, 293. 68 Kritisch auch Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, § 201a Rn. 5.

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der Literatur scheint aber die Anwendung von § 201a Abs. 1 StGB auf diesen Fall einhelliger Auffassung zu entsprechen.69 Schließlich können Wohnungen und gegen Einblick geschützte Räume ihre Schutzfunktion auch relativ bezogen auf bestimmte Personen verlieren. Das gilt insbesondere im Verhältnis zu dem Gast, der sich berechtigt in der Wohnung oder den betreffenden Räumen befindet. Das Gesetz lässt Einschränkungen seines Anwendungsbereichs in Richtung auf den geladenen Gast nicht erkennen. Fertigt er ein den höchstpersönlichen Lebensbereich seines Gastgebers verletzendes Foto, so lässt sich kaum bestreiten, dass die Tat in der Wohnung des Verletzten begangen wurde70. Insofern werden aber teleologische Reduktionen diskutiert71. Es ist also alles andere als ausgemacht, dass die Einschränkung auf Wohnungen und gegen Einblick besonders geschützte Räume ihre Begründung darin finden, dass diese Örtlichkeiten den Betroffenen als Rückzugsbereiche höchstpersönlicher Lebensäußerungen (gerade im Verhältnis zum Täter) dienen72. Damit stellt sich die Frage, ob die Einschränkung auf Wohnungen und die genannten Räumlichkeiten unter dem Aspekt des Schutzes des höchstpersönlichen Lebensbereichs überhaupt sachgerecht ist73. Tatsächlich spielt sich das höchstpersönliche Leben nicht nur in Wohnungen und in den geschützten Räumen ab; es liegt vielmehr auf der Hand, dass der Kernbereich privater Lebensgestaltung weder auf diese Örtlichkeiten beschränkt ist noch beschränkt werden kann74.

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Eisele, JR 2005, 8; Kächele (Fn. 2), S. 89; Kargl, ZStW 117 (2005), 331 f., 337; Koch, GA 2005, 593, 599; Kühl, in: Hefendehl (Hrsg.) (Fn. 24), S. 217; Linkens (Fn. 6), S. 83; Rengier, Strafrecht, BT II, 9. Aufl. 2008, § 31 Rn. 9, 15; HK-GS/Tag, 2008, § 201a Rn. 6 (zum parallelen Beispiel eines filmenden Masseurs). 70 Eisele, JR 2005, 8; HK-GS/Tag, § 201a Rn. 6. Vgl. auch Mitsch, Jura 2006, 119 zur entsprechenden Situation unter Personen, die sich gemeinsam berechtigt in einem gegen Einblick besonders geschützten Raum befinden, wenn der eine den anderen ablichtet. 71 Kühl, in: Hefendehl (Hrsg.) (Fn. 24), S. 217; ders., AfP 2004, 194; zustimmend Kächele (Fn. 2), S. 89. 72 A.A. Borgmann, NJW 2004, 2134: angemessene Einschränkung, „um den Gerichten brauchbare Anwendungskriterien an die Hand zu geben“. Gegen eine Interpretation der Einschränkung auf besonders geschützte Räume als Auslegungshilfe für das Verständnis des „höchstpersönlichen Lebensbereichs“ auch Bosch, JZ 2005, 379. 73 Kritisch Fischer, StGB, § 201a Rn. 2, 9; Kühl, § 201a Rn. 2; Kühl, AfP 2004, 194; Linkens (Fn. 6), S. 86; Mitsch, Jura 2006, 118, 120. Dezidiert bejahend Borgmann, NJW 2004, 2134; Eisele, JR 2005, 8; Kächele (Fn. 2), S. 97 f.; Koch, GA 2005, 598. 74 Vgl. BVerfGE 101, 361, 382 ff.; Heuchemer/Paul, JA 2006, 618. Dagegen identifiziert Flechsig, ZUM 2004, 606, in der Öffentlichkeit hergestellte Bildaufnahmen mit solchen, die „Alltagshandlungen“ zum Gegenstand haben.

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So können höchstpersönlicher Natur z.B. Vorgänge sein, die zwar außerhalb der geschützten Räume, aber dennoch in Abgeschiedenheit stattfinden. Gegenstand der zivilgerichtlichen Rechtsprechung war auch bereits der Fall, dass Bilder aus dem Leben einer Familie in einem Gartengrundstück gemacht worden waren, das zwar nicht den nach § 201a StGB erforderlichen Sichtschutz aufwies, aber infolge seiner Weitläufigkeit den Einsatz eines extrem starken Teleobjektivs verlangte75. Höchstpersönliches spielt sich aber unter Umständen auch vor Aller Augen ab, wenn etwa das schwerverletzte Unfallopfer im Straßengraben mit dem Tode ringt. Geht man von der Einsicht aus, dass der höchstpersönliche Lebensbereich längst nicht nur durch Aufnahmen in den geschützten Räumen verletzt werden kann, so ist die Sachgerechtigkeit der gesetzlichen Beschränkung auf diese Räume zumindest zweifelhaft76. Der Gesetzgeber hat allerdings für die Beschränkung des strafrechtlichen Schutzes auf bestimmte Örtlichkeiten auf das Übermaßverbot verwiesen77. Vorliegend überrascht die Einschränkung des Tatbestandes auf „Wohnungen“ und „gegen Einblick besonders geschützte Räume“ aber zum einen deshalb, weil die Wertigkeit des Rechtsguts – gerade mit Blick auf die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs des Opfers – einen Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht gerade nahelegt. Vor allem aber impliziert der Hinweis auf das Übermaßverbot, dass Eingriffen in geschützten Räumen ein größeres Gewicht zukommt. Das mag zwar im Einzelfall so sein, ist aber durch die gesetzgeberische Entscheidung für das Erfordernis einer Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereich, das Abstufungen hinsichtlich der Intensität der Eingriffe nicht vorsieht, gerade nicht vorausgesetzt. Es werden also gleich gewichtige Eingriffe einmal unter Strafe gestellt und einmal nicht; mit dem Übermaßverbot lässt sich dieser Befund ersichtlich nicht erklären. Für eine Einschränkung der Strafbarkeit mag man noch anführen, dass strafrechtlicher Schutz fragmentarisch ist und es häufig gute Gründe dafür gibt, beim Umfang des Strafrechts Lückenlosigkeit nicht anzustreben78. Auch wenn man – wie der Jubilar – in der fragmentarischen Natur des Strafrechts den „Respekt vor dem Menschen als sittlicher Person und damit vor der Freiheit des ___________ 75 BGH NJW 2005, 215; zu Recht gegen die Subsumtion unter das Merkmal „gegen Einblick besonders geschützter Raum“ Koch, GA 2005, 600; Rahmlow, HRRS 2005, 87. 76 Duttge (Fn. 45), S. 124 ff.; Heuchemer/Paul, JA 2006, 618; SSW-StGB/Bosch, § 201a Rn. 1: Die Beschränkung auf bestimmte räumliche Schutzbereiche sei „gleichheitswidrig, unbestimmt und konzeptionell verfehlt“; Schertz, AfP 2005, 427; ersichtlich skeptisch auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz in seinem Tätigkeitsbericht für 2003 und 2004, S. 99. 77 BT-Ds 15/2466, S. 4. 78 Dazu im Kontext des § 201a StGB Kühl, AfP 2004, 191 ff.; ders., in: Hefendehl (Hrsg.) (Fn. 24), S. 218 ff.; allgemein Maiwald, FS Maurach, 1972, S. 9 ff.

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Einzelnen angesichts der eigenen Unzulänglichkeit“ angesprochen sieht und eine Beschränkung auf das fordert, „was zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung unerlässlich ist“79, spricht wenig für eine Beschränkung des Schutzes auf das Herstellen von Bildaufnahmen in Wohnungen und besonders geschützten Räumen. Lückenhaftigkeit soll danach zwar auch dann geboten sein, wenn das straflose Verhalten seinem Unrechtsgehalt nach durchaus Strafe legitimieren würde. Als (erforderlicher80) Sachgrund für die Selbstbeschränkung des Strafgesetzgebers kommt insbesondere die empirische Randständigkeit der in Rede stehenden Angriffsform in Betracht. Aber davon, dass außerhalb bestimmter Räume hergestellte Bildaufnahmen, die den höchstpersönlichen Lebensbereich des Abgebildeten verletzen, praktisch von marginaler Bedeutung sind, wird man kaum sprechen können. Es ist nach alledem eine nur schwer einzusehende Ungleichbehandlung, wenn zwar der die Treppe heruntergestürzte Wohnungsinhaber, der nunmehr schwer verletzt am Boden liegt, vor sensationslüsternen Fotografen geschützt ist, nicht aber der im Sterben liegende Motorradfahrer, der in einer Kurve schwer gestürzt ist81. Die beschränkte Rationalität der Einschränkung hat sich auch in einer der ersten Entscheidungen zu § 201a StGB gezeigt: Das OLG Koblenz hatte im Rahmen eines Klageerzwingungsverfahrens über einen Fall zu entscheiden, in dem ein Besucher einer öffentlichen Saunalandschaft mit seinem Fotohandy nackte Frauen zum Zwecke seiner sexuellen Erregung fotografierte. Das OLG ist der Auffassung, ein gegen Einblick besonders geschützter Raum liege nicht vor, weil der Saunabereich jedem, der Eintritt zahlt, zugänglich sei und damit nicht zum letzten Rückzugsbereich des Menschen gehöre82. Das entspricht auch der Auffassung des Gesetzgebers, der Räumlichkeiten, die einer (beschränkten) Öffentlichkeit zugänglich sind, nicht einbezogen wissen wollte83. Der Schutzbereich endet damit freilich nicht nur im Verhältnis zu anderen Saunabesuchern, sondern auch im Verhältnis zum Voyeur, der ein Loch in die Sichtschutz bietende Wand der Saunalandschaft bohrt. Geht man davon aus, dass die in der Sauna präsentierte Nacktheit grundsätzlich dem höchstpersönlichen Lebensbereich zugehört, dann ist es aber alles andere als plausibel, dass dieser Bereich zwar beim Aufenthalt in der Privatsauna84, nicht aber beim Aufenthalt in der öffentlichen Sauna geschützt ist. Soweit es die in einer Privatsauna berechtigt Anwesenden anbelangt, sind die Selbstschutzmöglichkeiten sogar deutlich besser als in einer öf-

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Maiwald, FS Maurach, 1972, S. 22 f. Zutreffend dazu, dass der fragmentarische Charakter des Strafrechts keine willkürliche Wahl der Fragmente erlaubt Kühl, in: Hefendehl (Hrsg.) (Fn. 24), S. 218. 81 Vgl. auch Kühl, AfP 2004, 194. 82 OLG Koblenz, Beschl. v. 11.11.2008 – 1 Ws 535/08. Anders sei dies bei einer privaten Sauna, in der es allein vom Willen der berechtigt Anwesenden abhänge, ob und von wem sie dort ohne Überwindung von Sichtschutzeinrichtungen gesehen werden. 83 BT-Dr 15/2466, S. 5. 84 Die Privatsauna sei ein gegen Einblick besonders geschützter Raum, weil es hier allein vom Willen der berechtigt Anwesenden abhänge, ob und von wem sie dort ohne Überwindung von Sichtschutzeinrichtungen gesehen werden; OLG Koblenz, Beschl. v. 11.11.2008 – 1 Ws 535/08. 80

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fentlichen Sauna. Und dem von außen eindringenden Voyeur sind die Saunagäste gleichermaßen ausgeliefert. – In der Literatur wird teilweise die Auffassung vertreten, öffentliche Saunen seien in den Schutzbereich einzubeziehen85, was dann zu einer ebenfalls nicht einleuchtenden Verstärkung des Schutzes gegenüber den anderen Gästen führt, denen gegenüber der Sichtschutz ja gerade keine Wirkung entfaltet.

Der an der Tatbestandseinschränkung geübten Kritik ist der Gesetzgeber freilich auch unter Hinweis auf das Bestimmtheitsgebot entgegengetreten86: Wollte man die Beschränkung auf bestimmte Räume aufgeben, so würden auch neutrale Alltagshandlungen erfasst87. Als Beispiele hierfür werden Fernsehsendungen wie „Verstehen Sie Spaß?“ oder „Vorsicht! Kamera“ genannt und in der Begründung zum Bundesratsentwurf wird auf Fotoaufnahmen am Badestrand hingewiesen, auf denen z.B. nackte Personen als „Beiwerk“ mitabgebildet werden88. Überzeugend sind diese Bedenken nicht: Der Notwendigkeit zu bestimmen, wann eine Verletzung des „höchstpersönlichen Lebensbereichs“ vorliegt, entgeht man nicht durch die Einschränkung des Anwendungsbereichs der Vorschrift auf bestimmte Räume89. Davon geht ersichtlich auch das Gesetz aus90. „Alltagshandlungen“ finden innerhalb wie außerhalb von Wohnungen und gegen Einblick besonders geschützten Räumen statt91. Vielfältige Lebensäußerungen in den eigenen vier Wänden, z.B. Essen, Lesen oder Schlafen, werden grundsätzlich nicht zum höchstpersönlichen Lebensbereich gehören92,93. Es ___________ 85 So Rengier, Strafrecht, BT II, 9. Aufl. 2008, § 31 Rn. 12; zweifelnd Heuchemer/Paul, JA 2006, 618. 86 Ebenso Borgmann, NJW 2004, 2134; Rahmlow, HRRS 2005, 86. 87 BT-Dr 15/2466, S. 4. 88 BT-Dr 15/1891, S. 6; ebenso Eisele, JR 2005, 8. 89 Kächele (Fn. 2), S. 95; Kühl, § 201a Rn. 3. 90 Zutreffend Duttge (Fn. 45), S. 115; Koch, GA 2005, 598; Wendt, AfP 2004, 189. 91 Fischer, StGB, § 201a Rn. 14; Heuchemer/Paul, JA 2006, 619; Kühl, § 201a Rn. 3; Obert/Gottschalck, ZUM 2005, 438; Rengier, Strafrecht, BT II, 9. Aufl. 2008, § 31 Rn. 15. 92 Zutreffend (in der Sache aber kritisch) Mitsch, FS Schwind, 2006, S. 608. Andere Einschätzung bei Schertz, AfP 2005, 428: „Es erscheint daher zweifelhaft, wie eine heimliche Bildaufnahme, insbesondere in einer Wohnung, den höchstpersönlichen Lebensbereich nicht verletzen kann“; ähnlich SSW-StGB/Bosch, § 201a Rn. 13: „Regelvermutung“; Wolter in: Hefendehl (Hrsg.) (Fn. 24), S. 230 ff. 93 Zweifelhaft ist insoweit AG Kamen, Urteil vom 4.7.2008 – 16 Ds 104 Js 770/0767/08, zu einem Fall, in dem der Täter eine Kamera in einer Wohnung so installiert hatte, dass er feststellen konnte, wann das Opfer an seinen Computer ging. Dieser Vorgang dürfte kaum höchstpersönlich sein. Der Täter hatte freilich zusätzlich den Computer so präpariert, dass er sämtlichen „Chat-Verkehr“ des Opfers auf seinem Computer verfolgen konnte. Aber die Art und Weise, wie das Opfer den Computer nutzte, war aus den Bildern offenbar nicht erkennbar. Die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereiches muss sich aber schon aus den Bildaufnahmen als solchen ergeben.

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wird nicht generell der Eingriff in den höchstpersönlichen Bereich unter Strafe gestellt – was in der Konsequenz danach verlangt hätte, auf eine Abbildung des Betroffenen in den Räumen zu verzichten94 – sondern es kommt auf die Bildaufnahme der Person an – eine Einschränkung, die ihren Sinn nur dann erhält, wenn gerade diese Darstellung die Verletzung begründet. Dementsprechend stellen sich die Abgrenzungsfragen auch für Vorgänge innerhalb der geschützten Räume. So wird in der Literatur die Frage diskutiert, ab welchem Grad an Nacktheit der höchstpersönliche Lebensbereich eines Solariumbesuchers betroffen ist95. Welches Kleidungsstück muss abgelegt sein? Die Grenze ist offenbar – auch innerhalb des geschützten Raumes – fließend. Diese Unschärfe und Konturierungsbedürftigkeit des Begriffs des höchstpersönlichen Lebensbereichs verliert nicht deshalb an Gewicht, weil durch eine Beschränkung auf bestimmte Räume die Anzahl der Zweifelsfälle gesenkt wird. Mit all dem ist gar nicht zu bestreiten, dass der Wohnung und den besonders geschützten Räumen für die Persönlichkeitsentfaltung herausragende Bedeutung zukommt. Die Person ist auf Rückzugsbereiche, in denen Höchstpersönliches von Eingriffen unbeeinträchtigt gelebt werden kann, unbedingt angewiesen96. Deshalb wird insbesondere die Wohnung der Bereich sein, in dem höchstpersönliche Lebensäußerungen am häufigsten vorkommen. Wichtiger noch: Es wird oftmals für den höchstpersönlichen Charakter eines Verhaltens einen Unterschied machen, ob es in der Abgeschiedenheit der Wohnung oder vor Aller Augen in der Öffentlichkeit stattfindet. Die öffentliche Präsentation mag aus einer individuellen Anschauung eine Stellungnahme machen, die über die Person hinaus in den gesellschaftlichen Raum weist. So wird es bei Beantwortung der Frage, ob eine Alltagshandlung vorliegt, vielfach darauf ankommen, ob eine Aufnahme innerhalb oder außerhalb von geschützten Räumen gemacht wurde. Die Umarmung eines Paares auf einem Marktplatz hat einen anderen Bedeutungsgehalt als das gleiche Verhalten im heimischen Schlafzimmer. Steht aber einmal fest, dass mit einem Foto in den höchstpersönlichen Lebensbereichs eingegriffen wird, so kann von einer Alltagshandlung keine Rede mehr sein. Das gilt auch dann, wenn dieser Eingriff etwa im Rahmen von „Verstehen Sie Spaß?“ erfolgt. Für die Einschränkung des Tatbestandes auf bestimmte Räume wird schließlich geltend gemacht, man müsse in der Öffentlichkeit eher mit Fotografen rechnen und könne sich entsprechend einstellen97. Auch dieses Argument überzeugt nicht. Es ist schon empirisch nicht immer zutreffend, wenn man an das ___________ 94

So § 146 Abs. 2 Nr. 2 AE-BT; dafür Wolter in: Hefendehl (Hrsg.) (Fn. 24), S. 231. Borgmann, NJW 2004, 2134; Gola, RDV 2004, 216; Sauren, ZUM 2005, 430. 96 BVerfGE 109, 279, 311 ff. 97 BT-Dr 15/2466, S. 4; Eisele, JR 2005, 8; Flechsig, ZUM 2004, 606. 95

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Beispiel des gestürzten Motorradfahrers denkt, der offenbar keine Möglichkeiten hat, sich der Fotografen zu erwehren98. Und normativ gilt: Wenn das Verhalten des Fotografen rechtlich unerlaubt ist, dann kann das faktisch größere Risiko weder den Täter entlasten noch das Opfer mit Selbstschutzpflichten belasten99. Findet die Beschränkung des Anwendungsbereichs des § 201a Abs. 1 StGB auf Ablichtungen von Personen, die sich in einer Wohnung oder einem gegen Einblick besonders geschützten Raum befinden, weder mit Blick auf das Rechtsgut des § 201a StGB noch mit Blick auf die Anforderungen des Übermaßverbots, des fragmentarischen Charakters des Strafrechts oder des Bestimmtheitsgrundsatzes eine plausible Erklärung und führen auch viktimodogmatische Erwägungen nicht weiter, so stellt sich die Frage, wie mit der gesetzlichen Regelung nun umzugehen ist. Eine sinngebende Interpretation dieser Regelung muss von der Möglichkeit ausgehen, die Ablichtung einer Person innerhalb der geschützten Räume für besonders unwertig zu halten. Dieser Unwert kann nach dem bisher Gesagten aber noch nicht darin erblickt werden, dass der höchstpersönliche Lebensbereich per se innerhalb der geschützten Räume angesiedelt ist oder außerhalb dieser Räume an Schutzwürdigkeit verliert. Es bleibt danach nur eine Interpretation, die in der Überwindung des Schutzes, den die genannten Räume bieten, einen besonders intensiven Angriff auf den höchstpersönlichen Lebensbereichs erblickt. Wenn also dem Fotografieren innerhalb der geschützten Räume ein besonderer Unwert zukommen soll, dann setzt dies voraus, dass der Schutz, den die genannten Räume für die personale Entfaltung bieten, gerade zu Lasten des Betroffenen überwunden wird100. Dabei ___________ 98 Kargl, ZStW 117 (2005), 342; Kühl, in: Hefendehl (Hrsg.) (Fn. 24), S. 218; ders., AfP 2004, 194; Mitsch, FS Schwind, 2006, S. 607. 99 Duttge (Fn. 45), S. 126; Kühl, in: Hefendehl (Hrsg.) (Fn. 24), 2005, S. 217; ders., AfP 2004, 194. Eine Pervertierung der Selbstschutzmöglichkeiten stellt es z.B. dar, wenn Hesse, ZUM 2005, 436 meint, dem Gesetzgeber bliebe ein Eingreifen erspart, wenn sich Prominente mit einem Gerät ausstatten, das Infrarotstrahlen aussendet und so den Scharfstellmechanismus von Bildkameras dahingehend beeinflusst, dass keine scharfen Bilder mehr hergestellt werden können. 100 A.A. Kühl, § 201a Rn. 3; ders., in: Hefendehl (Hrsg.) (Fn. 24), S. 217; ders., AfP 2004, 194; Eisele, JR 2005, 8 unter Hinweis auf den geschützten persönlichen Rückzugsbereich. Aber zumindest soweit es fremde Wohnungen betrifft, stellt die Tat gerade keinen Eingriff in diesen Bereich dar. Im Ergebnis ähnlich Gola, RDV 2004, 216. Dagegen bleiben Heuchemer/Paul, JA 2006, 618, auf halbem Wege stehen, wenn sie den „gegen Einblick besonders geschützten Raum“ dadurch bestimmen, dass die Einblicknahme „einen erheblichen sozialen Tabubruch darstellen“ müsse. Denn diese Bestimmung zielt auf die abstrakte Charakterisierung der Räume, vermag aber nicht zu berücksichtigen, wenn z.B. die persönlichkeitsverletzende Aufnahme vom Inhaber der betroffenen Räume oder von einem Gast gemacht wird (obwohl damit in concreto der Ein-

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kann mit der Überwindung eines Schutzes freilich nicht notwendig die Überwindung eines Sichtschutzes vorausgesetzt werden. Denn auf einen solchen kommt es bei den „absolut geschützten“101 Wohnräumen gerade nicht an. Hier wird vielmehr eine soziale Barriere verletzt, wenn der Täter etwa ohne Mühe durch das geöffnete Wohnzimmerfenster fotografiert. An der Schutzfunktion zugunsten des Betroffenen fehlt es in dem bereits genannten Fall des Gastes, der die für ihn fremden Räume zur höchstpersönlichen Entfaltung missbraucht. Wer sich in fremde Räume begibt, hat keinen gegenüber einem Aufenthalt in der Öffentlichkeit gesteigerten Anspruch auf Schutz vor seinem Gastgeber. Auch im Fall des Frauenarztes, der seine Patientinnen filmt, schützen die Räume nicht vor dem Fehlverhalten des Arztes. Es ist freilich ersichtlich ein unbefriedigendes Ergebnis, dass gerade diese Konstellation, in der das Verhalten des Täters besonders verwerflich erscheint, nicht von § 201a StGB erfasst sein soll. Aber wenn das Erfordernis des besonders geschützten Raumes – wie dies ja auch dem Gesetzgeber vorgeschwebt hat – seine Rechtfertigung darin finden soll, dass der Betroffene in seinem persönlichen Rückzugsbereich abgelichtet wird102, dann trifft dies auf die Patientin, soweit es ihr Verhältnis zum Arzt anbelangt, offenbar nicht zu. Aber auch derjenige, dessen Schutz die Räume grundsätzlich dienen, kann sie dieser Schutzfunktion partiell berauben. Der in die Wohnung oder zu einer Grillparty in den von einer dichten Hecke umsäumten Garten eingeladene Gast überwindet keinen Zugang zu dem besonders geschützten Bereich. Der Gastgeber hat es hier vielmehr in besonderer Weise in der Hand, durch die Auswahl der Eingeladenen seinen höchstpersönlichen Lebensbereich zu schützen. Fertigt dennoch ein Gast Bildaufnahmen aus diesem Bereich, so stellt dies in erster Linie einen Bruch des vom Gastgeber eingeräumten Vertrauens dar. Gerade bezogen auf die (eigenen) Räume greift also der Hinweis auf bestehende Möglichkeiten des Selbstschutzes. Zusammenfassend: Der besondere Unrechtsgehalt, der im Fotografieren des Opfers in der geschützten persönlichen Sphäre zu erblicken ist, wird nur durch den verwirklicht, der durch sein Handeln in den geschützten Bereich ohne den Willen des Opfers eindringt. Nicht schon die Aufnahmen aus diesem höchstpersönlichen Lebensbereich, sondern nur die unter unerlaubtem Eingriff in den geschützten Raum zustande gekommenen Aufnahmen sind tatbestandsmäßig. ___________ blicksschutz nicht einmal überwunden werden muss). Ähnlich Koch, GA 2005, 600, der den besonders geschützten Raum durch das Erfordernis erheblicher Anstrengungen zur Überwindung des vorhandenen Sichtschutzes konkretisieren will. 101 Eisele, JR 2005, 8. 102 BT-Drs. 15/2466, S. 4, 5.

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Das hat der Gesetzgeber, soweit er fremde Wohnungen in den Schutzbereich einbezogen wissen wollte103, offenbar anders gesehen. Nach dessen Willen sollte es ausreichen, wenn der Betroffene in den geschützten Räumen abgelichtet wird, ganz unabhängig davon, ob der Täter mit einem starken Teleobjektiv von außen durch ein Fenster fotografiert, als geladener Gast seine Handykamera verwendet oder der Gastgeber selbst der Täter ist. Die Stellungnahme zugunsten der Einbeziehung fremder Wohnungen gerät freilich in Konflikt mit dem erklärten Ziel des Gesetzgebers, den persönlichen Rückzugsbereichs des Betroffenen zu schützen104. Der Umgang mit einem sich selbst widersprechenden gesetzgeberischen Willen ist ein Methodenproblem der subjektiven Auslegung. Grundsätzlich sprechen für eine Verbindlichkeit des gesetzgeberischen Willens, gerade bei Gesetzen neueren Datums, gute Gründe, insbesondere das Gewaltenteilungsprinzip105. Der Gesetzgeber hat freilich in jüngerer Zeit mitunter Regelungen getroffen, die jenseits diskutabler rechtspolitischer Positionen und deren adäquater Umsetzung Fehlleistungen darstellen, die sich sinnvoller Interpretation schlechterdings verschließen106. So musste der BGH zu § 244 Abs. 1 Nr. 1 a StGB feststellen, dass die Fassung dieser Vorschrift missglückt ist und „von vornherein keine Auslegung“ zulasse, „die unter Anwendung allgemeiner und für jeden Einzelfall gleichermaßen tragfähiger rechtstheoretischer Maßstäbe für alle denkbaren Sachverhaltsvarianten eine in sich stimmige Gesetzesanwendung gewährleisten könnte“107. Der vom Gesetzgeber erteilte Auslegungshinweis war (offensichtlich) untauglich108. Verfehlt der Gesetzgeber das Niveau der an ihn gestellten Anforderungen derart nachhaltig, so stößt die subjektive Theorie an die Grenzen objektiver Unmöglichkeit. So wird man es auch dort sehen müssen, wo der Gesetzgeber hinsichtlich eines Tatbestandsmerkmals eine Interpretation für richtig gehalten hat, die mit seiner Intention hinsichtlich der gesetzlichen Regelung insgesamt nicht in Einklang zu bringen ist. Damit stellt sich abschließend die Frage nach der interpretatorischen Umsetzung des hier verfolgten Anliegens. Zwei Wege erscheinen gangbar: Entweder die Einschränkung der Begriffe „Wohnung“ und „gegen Einblicke besonders geschützter Raum“ oder eine einschränkende Interpretation der Tathandlung. In beiden Fällen geht es um eine teleologische Reduktion des Tatbestandes. Dabei erscheint der Weg über die Interpretation der geschützten Örtlichkeiten109 als ___________ 103

Dazu oben bei Fn. 61. Dazu oben bei Fn. 59. 105 Vgl. näher Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 628, 631. 106 Beispiele bei Hettinger (Fn. 7), S. 73 ff. 107 BGH HRRS 2008 Nr. 648 Rn. 27; dazu zuletzt Hettinger (Fn. 7), S. 74 f. 108 BGH HRRS 2008 Nr. 648 Rn. 20. 109 In diesem Sinne Kühl, in: Hefendehl (Hrsg.) (Fn. 24), S. 217. 104

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der weniger überzeugende. Denn dies würde in eine relative Bestimmung von ihrem Wortsinn nach stärker statisch geprägten Begriffen führen. So wäre der gleiche Raum u.U. im Verhältnis zum unerwünschten Eindringling geschützte und im Verhältnis zum geladenen Gast keine geschützte Örtlichkeit. Sachgerecht erscheint danach eine Auslegung, die im Erfordernis der Überwindung des Schutzes, den die jeweilige Örtlichkeit dem Berechtigten bietet, eine Anforderung an die Tathandlung sieht. Der Wortlaut der Vorschrift steht dieser Interpretation nicht entgegen, wenn sie auch nicht in ihm angelegt ist. Die hier vorgeschlagene Interpretation engt den Tatbestand zwar zusätzlich ein. Diese Einschränkung gewährleistet jedoch, dass der, unter dem Aspekt des Schutzes des höchstpersönlichen Lebensbereichs, sachwidrigen Beschränkung auf bestimmte Räumlichkeiten mit Blick auf die besondere kriminelle Energie, die der Täter durch einen Eingriff in die geschützten Räume offenbart, ein unrechtsbezogener Sinn unterlegt wird.

Die Rezeption des westlichen Strafrechts in Japan und ihre Akzeptanz in der japanischen Gesellschaft Von Akihiro Onagi Der Autor hat zwei Forschungsaufenthalte am Lehrstuhl des Jubilars verbracht und hatte auch Gelegenheit, einen Aufsatz des Jubilars über die Lehre von der objektiven Zurechnung und über die strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen gegen das organisierte Verbrechen ins Japanische zu übersetzen. Auf diese Weise hat der Autor in gewissem Maße dazu beigetragen, den japanischen Kollegen Einblicke in die juristische Denkweise des Jubilars zu geben. Dagegen hatte der Autor bisher nur wenig Gelegenheit, dem Jubilar die japanische Rechtslage, insbesondere mit Rücksicht auf die japanische Kultur, vorzustellen. Mit dem vorliegenden Beitrag werden die Leser erfahren, wie die japanische Strafrechtswissenschaft und -praxis den westlichen Einflüssen und der japanischen Kultur bei der Auslegung der Strafgesetze Rechnung trägt.

I. Einleitung Die Geschichte des modernen Strafrechts in Japan begann erst im Jahre 1880, in dem das erste japanische StGB unter dem französischen Einfluss, insbesondere des Code pénale Napoleon von 1810, entstand. Gleich nach dem Inkrafttreten des japanischen StGB wurde das Reform und die Gesetzgebung eines neunen japanischen StGB diskutiert. Das zur Zeit geltende japanische StGB entstand im Jahre 1907 und ist im folgenden Jahr in Kraft getreten. Es wurde nach dem Vorbild des deutschen RStGB von 1871 konzipiert, so dass es strukturell viele Gemeinsamkeiten gibt.1 Vor diesem Hintergrund übt die deut___________ 1 Zur japanischen Rechtsgeschichte siehe v. Otto, Geschichte des japanischen Strafrechts, 1913; Tjong, ZStW 84 (1972), 1088 ff.; Dando, GA 1959, 357; Miyazawa, ZStW 88 (1976), 813, 815 ff.; Nishihara, Die Rezeption des deutschen Strafrechts durch Japan in historischer Sicht, in: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, 1989, S. 13 ff.; Onagi, Die Notstandsregelung im japanischen und deustchen Strafrecht im Vergleich, 1993, S. 24 ff.; Miyazawa, Deutsche Einflüsse auf die japanische Kriminalpolitik in ihren Anfängen, in: Kühne/Miyazawa (Hrsg.), Neue Strafrechtsentwicklungen im deutsch-japanischen Vergleich, 1995, S. 1 ff.; Lenz, Strafrechtsentwicklung in Japan und der Volksrepublik China, 1995, S. 12 ff., 55 ff.; Onagi, Rechtfertigung und Entschuldigung – Verbrechensaufbau im japanischen Strafrecht, in: Bloy/Momsen/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, 2003, S. 91 f.

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sche Strafrechtswissenschaft bis heute einen nicht unbedeutenden Einfluss auf die japanische Strafrechtswissenschaft aus.2 Bemerkenswert ist natürlich, dass die japanische Kultur zum damaligen Zeitpunktt, nicht nur rechtlich, sondern auch in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, fundamentale Unterschiede zur westlichen Kultur aufwies. Die japanische Regierung hat die Übernahme der westlichen Kultur als einen wichtigen Schritt auf die Bühne der internationalen Politik gesehen und trotz der kulturellen Unterschiede das westliche Rechtssystem übernommen. Die Frage, ob diese politische Entscheidung richtig oder falsch war, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden, obwohl man sich leicht vorstellen kann, dass die japanische Geschichte ganz anders verlaufen wäre, falls die damalige Regierung die westliche Kultur und auch das westliche Rechtssystem abgelehnt hätte. In dem vorliegendem Beitrag möchte ich vielmehr skizzenhaft schildern, inwieweit das japanische Strafrecht den Eigenheiten der japanischen Kultur verhaftet geblieben ist.

II. Tötungstatbestände Eine Besonderheit des japanischen StGB zeigt sich bei den vorsätzlichen Tötungsdelikten. Das japanische StGB umfasst lediglich vier Tatbestände: Tötung (§ 199), Vorbereitung (§ 201), Teilnahme an Selbstmord und Tötung auf Verlangen (§ 202) sowie Versuch (§ 203). Darüber hinaus gab es bis zum Jahr 1995 auch eine Regelung über die Tötung von Angehörigen (§ 200), die durch die Reform des StGB abgeschafft wurde.

1. Einfache Tötung § 119 regelt „Wer eine Person tötet, wird mit dem Tode oder mit lebenslänglichem Zuchthaus oder mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft.“3 Viele Staaten haben in bezug auf die Tötung zwei Tatbestände (Mord und Totschlag). Anders als derartige Vorschriften enthält das japanische StGB nur ___________ Zum alten japanischen StGB siehe auch Berner, GS 1881, 381, 383; Mayer, GA 1882, 30 ff.; Loenholm, Japan, in: v. Liszt u.a., Die Strafgesetzgebung der Gegenwart, II. Band, 1899, S. 355. 2 Zur historischen Entwicklung des Einflusses deutschen Strafrechtswissenschaft in Japan siehe Nishihara (Fn. 1) S. 13; Fukuda, Die Beziehungen zwischen der deutschen und japanischen Strafrechtswissenschaft, in: Hirsch/Weigend (Fn. 1), S. 58. 3 Nach der Übersetzung in Saito/Nishihara, Das abgeänderte Japanische Strafgesetzbuch vom 10. August, 1953, Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung Nr. 65, 1954, S. 29.

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den Tatbestand der einfachen „Tötung“. Dagegen ist der Strafrahmen sehr weit und der Richter hat daher einen großen Spielraum bei der Strafzumessung. Rein formell gesehen, kann darin ein Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip, d.h. Grundsatz „nulla poena sine lege“, gesehen werden, weil der Strafrahmen zu weit und damit zu unbestimmt gefasst ist. Es ist damit nicht klar geregelt, ob eine einfache Tötung ausreicht, um die Todesstrafe zu verhängen. Andererseits wird dem Richter ein breiter Ermessensspielraum eingeräumt, damit er von Fall zu Fall eine richtige und gerechte Strafe bemessen kann. Nicht nur der Tatbestand der vorsätzlichen Tötung, sondern auch viele andere Tatbestände des japanischen StGB gewähren dem Richter einen solchen Ermessensspielraum. Dies geschah aus dem Gedanken des Positivismus.

2. Selbstmord a) Die herrschende Meinung Nach dem Wortlaut des § 199 des japanischen StGB umfasst der Tatbestand auch den Selbstmord, weil nach der Formulierung des Gesetzes nicht die Tötung „eines anderen“ erforderlich ist. Ungeachtet der Gesetzesfassung vertritt die h. M. die Auffassung, dass der Selbstmord nicht tatbestandsmäßig ist. Der Grund dafür ist einerseits, dass beim Selbstmord ein Unrechtstypus ausgeschlossen ist, und andererseits die vom Rechtsgefühl bestimmte Erwägung, dass es unannehmbar, inhuman und unsympathisch, den Suizidenten als tatbestandsmäßig handelnden Täter zu behandeln. Dementsprechend interpretiert die h. M. den § 199 des japanischen StGB dahingehend, dass dieser ausschließlich die Fremdtötung erfasst. Die Tradition der japanischen Rittersitte „Harakiri4“, „mit dem Schwert eigenen Bauch zu zerreißen“, wird dann in diesem Sinne nicht als unehrenhaft behandelt. Diese Sitte ist natürlich heutzutage kaum verbreitet.

b) Die abweichende Meinung Dagegen wird von einer Gegenansicht die Auffassung vertreten, dass auch der Selbstmord tatbestandsmäßig ist. Als Grund könnte man zunächst anführen, dass der Selbstmord von keiner religiösen Sicht her als „richtig“ angesehen wird. Sowohl die westliche, also christliche, als auch die konfuzianische und auch die buddhistische Anschauung tolerieren den Selbstmord nicht. Insbeson___________ 4

Das Wort „Harakiri“ verwenden wir Japaner nicht. Das ist wohl aus Englisch. In Japanisch ist die Bezeichnung „Seppuku“ üblich oder ggf. „Hara wo kiru“, wörtlich „den Bauch zu schneiden“.

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dere ist es nach dem Konfuzianismus eine große Schande, wenn man den von den Eltern genommenen, also geschenkten, Körper beschädigt und der Selbstmörder verstößt demzufolge gegen das Gebot, die eigenen Eltern zu respektieren. Über diesen ethischen Grund hinaus führt diese Ansicht an, dass § 202 des japanischen StGB die Teilnahme am Selbstmord unter Androhung von Strafe verbietet. § 202 lautet: „Wer eine Person zum Selbstmord anstiftet oder ihr beim Selbstmord Hilfe leistet, oder auf ihr Verlangen oder mit ihrer Zustimmung tötet, wird mit Zuchthaus oder Gefängnis von sechs Monaten bis zu sieben Jahren bestraft.“5 Wenn der Selbstmord nicht tatbestandsmäßig wäre, warum sollte dann die Teilnahme an einem Selbstmord strafbar sein? Nach der Gegenansicht soll der Selbstmord tatbestandsmäßig und rechtswidrig und dementsprechend auch die Teilnahme am Selbstmord – nach dem limitierten Akzessorietätsprinzip – strafbar sein. Andererseits ist auch diese Auffassung Einwänden ausgesetzt. § 203 jap.StGB bestimmt die Strafbarkeit des Versuchs. Bei einer konsequenten Anwendung dieser Vorschrift sollte der fehlgeschlagene Selbstmord als Tötungsversuch strafbar sein. Der Selbstmord ist auch in Japan eine bedeutsames soziales Problem. Nach der polizeilichen Statistik nahmen sich im Jahr 2008 insgesamt 32.000 Personen das Leben. Die Zahl der fehlgeschlagenen Selbstmorde ist hingegen statistisch nicht erfasst, aber Schätzungen zufolge beträgt die Zahl mindestens das 10-fache der vollendeten Selbstmorde. Es ist natürlich unrealistisch, diese fehlgeschlagenen Selbstmorde als Tötungsversuchs zu bestrafen. Auch unter rechtspolitischen Aspekten ist die Verfolgung dieser in der Regel schwacher und besonders hilfsbedürftiger Personen fraglich. Um sie nicht zu bestrafen, wird daher vertreten, dass der Suizident nicht schuldfähig ist, da er anderenfalls keinen Selbstmord versucht hätte. Auf diese Weise kann die Straflosigkeit des fehlgeschlagenen Selbstmordes begründet werden, während die Teilnahme an den Selbstmord strafbar bleibt. Entscheidend ist der rechtliche Charakter des § 202 des japanischen StGB. Wie schon erwähnt, regelt dieser Paragraph nach der abweichenden Meinung eine Selbstverständlichkeit. Dagegen stellt der Tatbestand nach der herrschenden Meinung eine Sondervorschrift gegenüber dem limitierten Akzessorietätsprinzip dar, weil die Teilnahme danach auch dann zu bestrafen ist, wenn der Haupttäter, also der gestorbene oder mit seinem Vorhaben gescheiterte Selbstmörder, nicht tatbestandsmäßig handelt. Nach dieser Meinung bedarf es einer Ausnahmeregelung für die Bestrafung der Teilnehmer an einem Selbstmord, weil das Leben ein sehr wichtiges und unersetzbares Rechtsgut ist. ___________ 5

Nach der Übersetzung in Saito/Nishihara (Fn. 3), S. 29.

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3. Die Tötung von Angehörigen Bis zum Jahre 1995 enthielt das japanische StGB eine Bestimmung zur Strafbarkeit der Tötung von Angehörigen. § 200 lautete: „Wer eine Person, die mit ihm selbst oder seinem Ehegatten in aufsteigender gerader Linie verwandt ist, tötet, wird mit dem Tode oder mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft.“6 Es handelte sich also um eine Qualifikation der einfachen vorsätzlichen Tötung. Der Grundgedanke der Vorschrift stammt aus dem Feudalismus und der konfuzianistischen Weltanschauung, nach der man die Älteren hoch achten und respektieren soll. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges begann in bezug auf die Demokratisierung Japans eine Diskussion, ob diese Vorschrift abzuschaffen ist. Vergleichbare Qualifikationstatbestände gab es auch bei der Körperverletzung mit Todeserfolg, bei der Aussetzung und der Freiheitsberaubung. Im Jahre 1968 hat eine Angeklagte ihren Vater getötet. Die Tat wurde allerdings vor dem Hintergrund begangen, dass die Täterin vom eigenen Vater sexell missbraucht und zum Beischlaf gezwungen worden war und daraus fünf Kinder hervorgegangen waren.7 § 200 bestimmte als mögliche Strafen allein die Todesstrafe und die Freiheitstrafe mit lebenslänglichem Zuchthaus. Auch wenn man Strafmilderungsgründe berücksichtigt, ließ das Gesetz eine Strafaussetzung zur Bewährung nicht zu. Für die Angeklagte war jedoch eine ganz normale Freiheitsstrafe nicht angemessen. Angesichts der Revision der Angeklagten hat der Japanische Oberste Gerichtshof erklärt, daß § 200 des japanischen StGB gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt und aus diesem Grund verfassungswidrig ist, und die Angeklagte wegen einer einfachen Tötung (§ 199 jap. StGB) zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt und dabei die Strafe zur Bewährung (mit einer Bewährungszeit von 3 Jahren) ausgesetzt.8 Insgesamt sitzen 15 Richter im Japanischen Obersten Gerichtshof. Die Entscheidung wurde von einer Mehrheit von 14 Richtern getragen, ein Richter vertrat eine abweichende Auffassung. Von den 14 Richtern waren 8 Richter der Ansicht, dass § 200 des japanischen StGB verfassungswidrig ist, weil die darin angedrohte Strafe zu schwer ist und damit keine Möglichkeit zur Strafaussetzung gegeben ist. Mit anderen Worten, die verfasungsrechtliche Würdigung hätte auch anders ausfallen können, wenn § 200 die Möglichkeit einer Strafmilderung vorgesehen hätte. Somit bleibt die Frage offen, ob der quali___________ 6

Nach der Übersetzung in Saito/Nishihara (Fn. 3), S. 29. Außerdem waren 2 Kinder tot geboren worden und die Tochter hatte sechsmal einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. 8 Entscheidung des japanischen Obersten Gerichtshofs vom 4. April 1973, Keishu Bd. 27, Nr. 3, 265. 7

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fizierte Tatbestand der Angehörigentötung als solcher gegen Gleichheitsgrundsatz verstößt. Die Vorschrift blieb trotz ihrer Verfassungswidrigkeit zunächst unberührt und ist erst im Jahre 1995 abgeschafft worden.

4. Das Problem der Definition menschlichen Lebens Das japanische StGB enthält keine Definition des Lebens. Der Beginn des Menschenlebens ist in Bezug auf die Tötung nicht so problematisch. Im Einzelnen werden zu dieser Frage unterschiedliche Ansichten vertreten, teils bejaht man eine Geburt als Beginn des menschlichen Lebens bereits dann, wenn ein Körperteil des Kindes aus der Mutter auftaucht9, teils wird verlangt, dass das gesamte Kind den Körper der Mutter vollständig verlassen hat. Demgegenüber ist die Problematik die Bestimmung des Todeszeitpunktes schwieriger. Wie schon oben erwähnt, enthält das japanische StGB keine Vorschrift über den Tod des Menschen. Die traditionelle Auffassung geht dahin, dass der Stillstand des Herzens und der Atmung und der Reaktion der Pupille als Todeseintritt zu verstehen ist. Darüber hinaus wird aber auch vertreten, dass das Erlöschen der Hirnfunktion für die Annahme des Todeseintritts entscheidend ist. Heutzutage sind die Anhänger des Hirntodes unter den Strafrechtswissenschaftlern immer häufiger anzutreffen, aber die Anhänger der traditionellen Auffassung sind auch nicht wenige. Auf der politischen Bühne gab es eine heftige Diskussion über das Für und Wider der unterschiedlichen Ansichten, die maßgeblich von der jeweiligen Weltanschauung bestimmt wird. Einige (insbesondere Ältere) sagten und sagen sogar immer noch, dass die Organtransplantation aus einem lebendigen Menschen unannehmbar ist. Aber es gilt gerade zu entscheiden, ob die betreffende Person (noch) lebendig oder nicht (mehr) lebendig ist. Die Vertreter der oben genannte Position folgen also einem Vorurteil und möchten hartnäckig an ihrer eigenen Wertung festhalten. Im Jahre 1997 entstand das Gesetz zur Organtransplantation, das an das Kriterium des Hirntodes anknüpft. Eine Entnahme von Organen ist danach nur zulässig, wenn – das Organ zum Zweck der Organtransplantation verwendet wird, – die Person, deren Tod festgestellt ist, mit der Organentnahme einverstanden war, – die Angehörigen nicht widersprechen. ___________ 9 So die japanische Rechtsprechung, s. die Entscheidung des japanischen Reichsgerichts vom 13. Dezember 1919, Keiroku Bd. 25, 1367.

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Somit wird das Hirntod als Kriterium zur Bestimmung des Lebensendes verstanden, aber nur in einem begrenzten Bereich. Mit anderen Worten, das traditionelle Kriterium spielt immer noch eine Rolle, so dass es im Strafrecht zwei Kriterien zur Bestimmung des Todeseintritts gibt. Darüber hinaus diskutiert man jetzt, ob die Organspende eines Minderjährigen rechtlich anzuerkennen ist, weil es viele Kinder gibt, die aufgrund einer Erkrankung dringend auf eine Organtransplantation angewiesen sind. Nach dem geltenden Gesetz besitzt der Minderjährige keine Fähigkeit zum Einverständnis, so dass die Organspende eines Minderjährigen definitiv ausgeschlossen ist.10 Seit mehreren Jahren diskutiert das Parlament über eine Lockerung der rechtlichen Voraussetzungen für die Transplantation von Organen Minderjähriger auf der Grundlage von drei verschiedenen Gesetzesentwürfen. In diesem Sommer wurde ein weiterer Gesetzesentwurf vorgelegt, so dass nunmehr über vier verschiedene Entwürfe diskutiert wird. Anders als bisher ist die Diskussion jetzt konstruktiver, aber es ist nicht sicher, ob eines Gesetzesreform zustandekommt. Die Ziele der Reform sind klar: Erstens geht es darum, bei Minderjährigen die Entnahme von Organen zur Organtransplantation zu ermöglichen, zweitens darum, Angehörige des Organspenders bei der Transplantaion zu bevorzugen.

III. Strafrechtlicher Schutz vor der Geburt Durch die hochentwickelte medizinische Technologie kann man schon vor dem Geburt in die Lebensprozess eingreifen. Problematisch ist dann die rechtliche Behandlung des befruchteten Eis. Zunächst ist die Frage zu klären, wie das befruchtetes Ei rechtlich zu schützen ist. Nach dem derzeit geltenden Strafgesetz ist das werdende Leben erst nach der Nidation geschützt, obwohl der Schwangerschaftabbruch durch die Sonderregelung im „Mutter-SchutzGesetz“ in weitem Umfang zulässig ist und somit von der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs kaum mehr die Rede ist. In Bezug auf den Schutz des befruchteten Eis sind es zwei Alternativen denkbar: erstens, auf strafrechtlichen Schutz zu verzichten, oder zweitens, das befruchtete Ei als eine fremde Sache zu schützen. Weil ein Eigentümer des Eis grundsätzlich vorstellbar ist, ist der strafrechtliche Schutz des Eis nicht unbedeutsam. Jedoch lehnt die h.M. den Schutz als Sache ab, weil es nicht um eine Sache, sondern um den Beginn menschlichen Lebens geht. Die abweichende Meinung ist dagegen zu begründen; nichts ist besser als gar nichts! ___________ 10

Über die Gesamtheit des Problems der Transplantation in Japan siehe Kawaguchi/Seelmann, Rechtliche und ethische Fragen der Transplantationstechnologie in einem interkulturellen Vergleich, 2003.

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Akihiro Onagi

Über das Klonverbot und die Herstellung embryonaler Stammzellen gibt es neuerdings eine heftige, aber überwiegend politische Diskussion. Durch das ganz komplizierte Klontechnikengesetz (Gesetz zur Regulierung der Klontechniken beim Menschen und anderer ähnlicher Techniken vom 6. Dez. 2000) ist die Verpflanzung des geklonten Eis in den Uterus verboten, während die Frage der Herstellung der embryonalen Stammzelle noch nicht entschieden ist.11 In diesem Bereich kollidieren viele verschiedene Interessen, u.a. rechtsethischer, politischer, und natürlich ökonomischer Herkunft, so dass ein Ausweg nur schwer zu finden ist. Angesichts der Globalisierung sollte man auf eine globale einheitliche Regelung hinwirken. Ansonsten ist zu befürchten, dass die Regelungen aus wirtschaftlichen Gründen gelockert werden und bzw. oder einer Ausbeutung der Bevölkerung armer Staaten Vorschub geleistet wird. Es bedarf also umgehender globaler Regulierung.

IV. Strafrechtlicher Schutz nach dem Tod Es ist klar, daß nach dem Tod kein Leben mehr zu schützen ist. In diesem Sinne spielt der Tötungstatbestand keine Rolle mehr. Dagegen ist der Tote ggf. auch nach dem Tod strafrechtlich geschützt. Erstens geht es um die Leichenbeschädigung im § 190 des japanischen StGB, wobei die sittliche Ordnung als geschütztes Rechtsgut angeführt wird, mithin nicht der Tote selbst geschützt ist. Demgegenüber ist der Diebstahl einer Sache des Toten nach Rechtsprechung und herrschender Lehre strafbar, solange der Täter zunächst vorsätzlich – d.h. nur mit Tötungsvorsatz – das Opfer tötet, aber erst danach eine Zueignungsabsicht fasst und schließlich aufgrund dieser Willensbestimmung eine Sache vom Toten wegnimmt. Hierbei geht die Rechtsprechung12 und das Schrifttum von einem Gewahrsam des Toten aus. Und dies gilt nur gegenüber dem Täter. Dagegen ist der Gewahrsam des Toten gegenüber dem Dritten nicht anzunehmen. Beispielsweise ist die Wegnahme einer Sache des Toten nicht als Diebstahls, sondern nur als Fundunterschlagung zu bestrafen, wenn der Dritte die Tötungstat im Schatten eines Baums beobachtet und sich anschließend entschlossen hat, eine Sache des Opfers wegzunehmen. In diesem Sinne ist nach der Rspr. und h. M. eine Relativität des Gewahrsams anzunehmen.

___________ 11 Näher dazu: Onagi, Von der Keimbahntherapie zum Menschenpark? Begründbarkeit des Verbots reproduktiven Klonens, in: Schreiber/Lilie u.a. (Hrsg.), Globalisierung der Biopolitik, des Biorechts und der Bioethik?, 2007, S. 119. 12 Entscheidung des japanischen Obersten Gerichtshofs vom 8. April 1966, Keishu Bd. 20, Nr. 4, 207.

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Problematisch ist, wie lange dieser Gewahrsam nach dem Tod andauern soll.13 Zudem ist fraglich, ob der Begriff des Gewahrsams nicht objektiv zu bestimmen ist. Darüber hinaus sollte nach dieser Logik auch ein Hausfriedensbruch angenommen werden, wenn der Täter nach dem Tod des Opfers in dessen Wohnung eindringt.14 Auch die Ehre des Toten ist nach h.M. zu schützen. § 230 Abs. 1 des japanischen StGB regelt: „Wer die Ehre eines Verstorbenen verletzt, wird nur dann bestraft, wenn die Veröffentlichung verleumderisch ist.“15 Anders als § 189 deutsche StGB „Verglimpfing des Andenkens Verstorbener“ geht es hierbei ausschließlich um die Ehre des Toten. Der Tote ist also auch im Himmel geschützt!

V. Schluss Hier habe ich hauptsächlich anhand des Tötungstatbestandes des japanischen StGB versucht, eine vergleichende Darstellung über das japanische StGB mit dem westlichen Strafrecht und der japanischen Kultur zu führen.16 Es gibt noch interessante Topoi wie z. B. die Vergewaltigung in der Ehe, die Körperverletzung mit Einwilligung usw. Insgesamt gesehen findet das Japanische als selbstständiger Faktor bei der Interpretation und sogar bereits bei der Gesetzgebung viel Berücksichtigung. Das japanische StGB ist zwar ein westliches Gesetz, aber ist doch eigenständig auszulegen. Vor 100 Jahren erfolgte die Kodifikation unter dem Einfluss der westlichen Kultur, diese war aber zugleich mit einer Reihe von Modifikationen verbunden.

___________ 13

Unterschiedlich behandelt das Gericht den Gewahrsam des Toten. Teils wird nur der Gewahrsam unmittelbar nach dem Tod, teils noch nach 9 Stunden nach dem Tod, teils sogar über 4 Tage nach dem Tod angenommen. 14 Vgl. den ähnlichen Fall, in dem der Täter aber von Anfang an beabsichtigt hatte, nach der Tötung des Opfers in dessen Wohnung einzudringen, die über 500 km entfernt vom Tatort gelegen war, Entscheidung des japanischen Oberlandesgerichts Tokio vom 21. Januar 1982, Keigetsu Bd. 14, Nr. 1-2, 1. 15 Nach der Übersetzung in Saito/Nishihara (Fn. 3), S. 33. 16 Inzwischen ist das Reformgesetz zum Organtransplantationsgesetz entstanden. Demnach ist der Hirntod als Todeskriterium anerkannt, allerdings ist den Angehörigen ein Veto bei der Hirntoddiagnostik eingeräumt. Und die Entnahme ist nur mit Einwilligung der Angehörigen erlaubt, es sei denn, dass die betroffene Person dies vorher ausdücklich abgelehnt hatte. In Bezug auf die Organentnahme bei Kindern gibt es keine Beschränkungen mehr, während nach dem bisherigen Gesetz nur die Entnahme bei über 15-Jährigen aufgrund einer gültigen Willenserkärung möglich war. Und schließlich haben die Angehörigen das Vorrecht, bei der Transplantation bevorzugt zu werden. Die Änderungen werden im Juli 2010 in Kraft treten.

Strafrechtliche Terrorismusbekämpfung durch Pönalisierung von Vorbereitungshandlungen Von Peter Rackow

I. Einleitung Nüchtern betrachtet verstehen sich besondere „Terrorismusverbote“ bzw. strafrechtliche Terrorismusbekämpfungsmaßnahmen nicht von selbst, da das Verüben terroristischer Akte als Mord, Körperverletzung, usw. (ohnehin) verboten ist1. Gleichwohl möchte der Gesetzgeber nicht darauf vertrauen, dass terroristische Akte bereits aus diesem Grund unterbleiben2 und so findet sich neben anderen die Strategie, bereits solche Handlungen unter Strafe zu stellen, die der Durchführung einer zukünftigen (terroristischen) Tat dienen, ohne aber bereits ein unmittelbares Ansetzen zu dieser darzustellen. Bereits die Gesetzesbezeichnung zeigt, dass die Regelungen des Gesetzes zur Verfolgung der Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten3 im Wesentlichen ebendieser Strategie der Kriminalisierung von Vorbereitungshandlungen folgen. Durch § 89a StGB (Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) und § 89b StGB (Aufnahme von Beziehungen zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) sollen Handlungen diesseits des Versuchs konkreter Taten erfasst werden, die bislang (insbesondere) nicht nach den §§ 129a ff. und § 30 StGB unter Strafe standen4. Dass eine Strafbarkeitslücke für Vorbereitungshandlungen von „Einzeltätern“ besteht, erscheint dabei als zentrale Erwägung5, jedoch lässt sich aus der Straflosigkeit solcher Handlungen ohne weiteres nicht darauf schließen, dass sie sich berechtigterweise unter Strafe stellen lassen. Sein mag dies, bedarf aber substanzieller Begründung, die – wie im Weiteren zu zeigen sein wird – auf die Gefährlichkeit der fraglichen Handlungen zu beziehen ist und sich nicht in der Evokation von Risikoszenarien er___________

Der Beitrag wurde im April 2009 abgeschlossen. Er ist in größter Dankbarkeit Professor Dr. Manfred Maiwald gewidmet, meinem verehrten akademischen Lehrer. 1 Vgl. etwa Kühne, FS Schwind, 2006, S. 103; Weigend, FS Nehm, 2006, S. 151. 2 Vgl. hier auch die Hinweise zum amerikan., französ. u. engl. Recht bei Sieber, ZStW 119 (2007), 1, 45 f. u. passim. 3 Vgl. den Regierungsentwurf, BT-Drs. 16/11735. 4 BT-Drs. 16/11735, S. 1. 5 BT-Drs. 16/11735, S. 2.

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schöpfen darf. Umgekehrt würde man bei einer gleichsam rein formalen Aussage stehen bleiben6, kritisierte man die Vorbereitungsverbote des GVVG unter Verweis auf die (regelmäßige) Straflosigkeit der Vorbereitung einer Straftat durch einen Einzeltäter, kommt es insoweit doch auf die Perspektive an: Von der Gewalttat her stellt sich bspw. die Beschaffung eines Tatmittels als Vorbereitung dar, ohne dass damit aber zwangsläufig ausgeschlossen wäre, dass sich sachliche Gründe dafür finden lassen, sie als für sich strafwürdig zu bewerten. Im gegebenen Rahmen lassen sich nicht sämtliche Probleme aufgreifen, die das GVVG aufwirft7. Stattdessen soll die Frage der Pönalisierbarkeit von Handlungen, die jemandem die Ausführung einer für einen späteren Zeitpunkt mehr oder minder konkret ins Auge gefassten Tat lediglich ermöglichen oder erleichtern sollen, im Mittelpunkt der nachfolgenden Überlegungen stehen. Die §§ 89a und 89b StGB erneuern diese Frage in der Form, in der sie im April 2009 diskutiert werden und die den weiteren Erwägungen zugrunde liegt, in einer zugespitzten Form8, da sich gegenüber der Bestrafung von Vorbereitungshandlungen von Einzeltätern das grundlegende Bedenken aufdrängt, dass ein Einzeltäter jederzeit von seinen Planungen abrücken kann.

II. Legitimität des Verbots der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten als Interventionsermöglichungsstrafnorm? Die Vorbereitungsverbote des GVVG stellen nun zwar nicht die ersten Strafgesetze dar, bei deren Analyse sich der Eindruck einstellt, dass ihnen die Idee der Ermöglichung möglichst frühzeitiger behördlicher Eingriffe (jedenfalls ein stückweit) zugrunde liegt9; indes scheint die Vorstellung, dass ihr eigentli___________ 6

Vgl. Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT, 5. Aufl. 2003, § 11 Rn. 7. So kann etwa (über die Frage der Legitimierung der Vorbereitungsverbote unter dem Aspekt des Schutzes der inneren Sicherheit hinaus) die Bestimmtheit des Merkmals der schweren staatsgefährdenden Gewalttat nicht vertieft werden. 8 § 91 StGB, der in Ergänzung des § 130a StGB die „Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat“ unter Strafe stellt, wirft Fragen eigener Art auf, die allerdings aus dem Problemfeld der Pönalisierbarkeit von Vorbereitungshandlungen im vorstehend skizzierten Sinne hinausführen. Diese dritte materiell-strafrechtliche Vorschrift des GVVG soll und kann daher im Weiteren ebenso wenig für sich behandelt werden wie die strafprozessualen Neuregelungen. 9 Vgl. etwa die kritischen Ausführungen von Weber, in: Jescheck (Hrsg.), Die Vorverlegung des Strafrechtsschutzes durch Gefährdungs- und Unternehmensdelikte, 1987, S. 1, 29 ff. mit Blick auf u. a. §§ 129 und 129a StGB. Nehm, NJW 2002, 2665, 2670 dagegen sieht in den §§ 129, 129a, 129b StGB mit ihrer Kombination eines niedrigschwelligen Anfangsverdachts mit „weitreichenden prozessualen Eingriffsbefugnisse[n]“ eine wertvolle „Brücke zwischen Prävention und Repression“. Der Gedanke einer strukturell ganz ähnlichen Brückenfunktion hat jüngst im Rahmen der Diskussion um die Schaf7

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cher Wert darin liegt, als Interventionshebel zu fungieren, in der Entwurfsbegründung der Bundesregierung in einer recht unverstellten Weise auf10: „So wäre es schwer vermittelbar, wenn Strafverfolgungsbehörden zunächst von der Festnahme einer Person, die bereits konkrete Anschlagsvorbereitungen getroffen hat (sich zum Beispiel explosionsgefährliche Stoffe in erheblichem Umfang beschafft hat), absehen müssten, da das Stadium des strafbaren Versuchs möglicherweise noch nicht erreicht und somit eine Verurteilung im Falle eines Zugriffs fraglich wäre“.

Es deutet sich eine Sichtweise an, in deren Logik die Frage der späteren Verurteilung ein Hindernis für den (aus bestimmten eigenständigen Gründen) sachgerechten „Zugriff“ bilden kann. Wo aber die Festnahme des Täters ein Anliegen mit eigenem Wert bildet und die Ermöglichung der Strafverfolgung als ein Gesichtspunkt erscheint, der hiermit in Konflikt geraten kann, droht eine Verwischung der Grenzen zwischen Strafrecht und Gefahrenabwehr11. Verengt man die Perspektive indes allzu sehr auf dasjenige, was mittelbar bewirkt werden soll, die Schaffung von Anknüpfungspunkten für den möglichst frühzeitigen Eingriff in die Vorbereitung von Anschlägen, so droht die Frage aus dem Blick zu geraten, ob durch diejenigen Regelungen, die hierzu geschaffen werden, tatsächlich (bereits) strafwürdiges Verhalten verboten wird. Die besondere Brisanz dieses Problems rührt daher, dass das Anliegen der effektiven Verhinderung von schweren Gewalttaten außer Frage steht12. Nichtsdestotrotz folgt aus der Unangreifbarkeit eines bestimmten Zwecks nicht zwangsläufig, dass dieser mit einem bestimmten Mittel, hier mit dem des Strafrechts verfolgt werden kann. Ob bzw. innerhalb welcher Grenzen sich Strafgesetze legitimieren lassen, die Verhaltensweisen verbieten, die sich im Hinblick auf durch den Betreffenden ins Auge gefasste (terroristische) Straftaten etwa nach den §§ 211, 212 StGB oder nach den §§ 306 ff. StGB als bloße Vorbereitungshandlungen ___________ fung eines Stalkingverbots eine erhebliche Rolle gespielt (vgl. pars pro toto nur Bieszk/Sadtler, NJW 2007, 3382, 3386, die den [eigentlichen] Wert eines strafbewehrten Stalkingverbots darin erblicken, dass „eine präventive Handhabe geschaffen“ wird, und Kerbein/Pröbsting, ZRP 2002, 76, 77, die das Strafrecht als „probates Interventionsmittel“ begreifen). Bereitwilligkeit, die Strukturen des Strafrechts, dort wo man es denn für richtig hält, präventiven Bedürfnissen gegenüber zu öffnen, findet sich also beileibe nicht nur bei Verfechtern einer „harten Linie“ gegenüber dem „Terrorismus“. Fundierte Kritik an § 238 StGB übt bspw. Timmermann, StraFo 2007, 358, 360. 10 BT-Drs. 16/11735, S. 9. Sehr deutlich in Bezug auf den Referentenentwurf zum GVVG Weißer, ZStW 121 (2009), 131, 153: „… Hauptziel ist die Lieferung von Anknüpfungspunkten für eine Verhinderung terroristischer Vorhaben, also eine reine Straftatprävention“. 11 Deckers/Heusel, ZRP 2008, 169, 170 in Bezug auf den Referentenentwurf: entspr. Kritik übt die Bundesrechtsanwaltskammer, BRAK-Stellungnahme-Nr. 46/2008, S. 3. Zur „Vermischung von Strafrecht und Polizeirecht“ im Allgemeinen vgl. etwa Heinrich, ZStW 121 (2009), 94, 121 f. m. w. N. 12 Weißer, ZStW 121 (2009), 131, 154; Radtke/Steinsiek, ZIS 2008, 383, 384.

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darstellen, hängt davon ab, wie man sich die Wirkweise und Funktion und damit die Rechtfertigung strafrechtlicher Verbote erklärt. Mit Blick auf den zutreffenden Gedanken der präventiven Wirkung der Strafe ist es insoweit zwar in der Tat schwierig, Strafe und Strafrecht unter allen Gesichtspunkten als ausschließlich retrospektiv zu verstehen; eine Gegenüberstellung eines retrospektiven Strafrechts auf der einen und präventiv ausgerichteter Maßnahmen (nicht-strafrechtlicher Natur) auf der anderen Seite würde zwar vergleichsweise klare Zuordnungen ermöglichen, doch ergäbe sich eine derartige Ausschließlichkeit nur dort, wo man sich von Strafrecht und Strafe von vornherein keine sozialen Wirkungen verspricht, die sich zwangsläufig in der Zukunft entfalten und damit einem retrospektiven Blick entziehen13. So richtig es danach nun auch ist, dass ein relativ-straftheoretisch begründetes Strafrecht stets präventive Effekte erzielen will14, so wenig ließe sich die Kriminalisierbarkeit von Vorbereitungshandlungen bereits damit begründen, dass die entsprechenden Vorfeldtatbestände gleichsam als Interventionsermöglichungsnormen behördliche Eingriffe in Straftatvorbereitungen ermöglichen und insoweit der „Prävention“ dienen. Dass das Strafrecht und seine Anwendung dazu beitragen, dass zukünftige Straftaten unterbleiben, verspricht man sich herkömmlich davon, dass die auf eine zurückliegende Straftat bezogene Strafe den Täter oder Dritte von zukünftigen Straftaten abhält. Solchermaßen individual- bzw. generalpräventive Wirkungen (retrospektiv ausgerichteter Strafe) unterscheiden sich aber grundlegend von der unmittelbar-handgreiflichen Verhinderung bestimmter schwerer Straftaten, durch Festnahme des Täters in spe, welche (erst) dadurch möglich wird, dass man bestimmte Vorbereitungshandlungen bei Strafe verbietet, um dann auf Verstöße (bzw. den Verdacht von Verstößen15) mit behördlichen Interventionen reagieren zu können. Ein derartiger Mechanismus baute auf eine Form der – wenn man so will – Prävention durch Intervention, die aus dem herkömmlichen strafrechtlichen Referenzrahmen hinausführen müsste, bedarf doch auch ein general- bzw. spezialpräventiv begründetes Strafrecht (im Unterschied zum Maßregelrecht) der Integration des ___________ 13

Eine unsachgemäße Simplifizierung stellt es deshalb dar, wenn im europarechtlichen Schrifttum die Einfrierung des Vermögens von Terrorismusverdächtigen durch EG-Verordnungen in apodiktischer Weise für kompetenziell unproblematisch erklärt wird, weil es beim „Blacklisting“ allein um Prävention gehe. Exemplarisch Hörmann, EuR 2007, 120, 130 f. u. Ohler, EuZW 2008, 630, 630: Da die Maßnahmen „ausschließlich präventiver Natur“ seien, müsse kein „gerichtlicher Nachweis geführt werden, dass die betreffende Person tatsächlich an der Terrorismusfinanzierung mitwirkt“. 14 Vgl. etwa Hassemer, StV 2006, 321, 322; mit Blick auf das GVVG: Radtke/Steinsiek, ZIS 2008, 383, 387. 15 Vgl. Nehm, NJW 2002, 2665, 2670 dazu, dass die §§ 129, 129a und 129b StGB den GBA durch die Kombination einer relativ niedrigen Anfangsverdachtsschwelle mit relativ weitgehenden Eingriffsbefugnissen zu einer „wesentlichen Säule der Aufklärung und der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus“ machen.

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Schuldprinzips, welches präventionslimitierend die Rückanbindung der Strafe an die Straftat gewährleistet16. Ist es demgemäß bei aller präventiven Erwägungen aber doch gerade auch ihre Rückbezüglichkeit auf die schuldhaft begangene rechtswidrige Tat, die das Wesen der Strafe ausmacht, so lassen sich solche Eingriffe nicht mehr als Strafrecht erklären, die sich (unabhängig beispielsweise von der beliebig manipulierbaren formalen Verankerung der Eingriffsgrundlage in einem „Straf“-Gesetz) in der Sache nicht mehr als eine tatbezogene Reaktion plausibel erklären lassen, die im Hinblick auf den Unwert seiner Handlung dem Täter Gerechtigkeit zukommen lässt, sondern die Handlung stattdessen zum Anlass nehmen, den Betreffenden sozusagen prospektiv durch (strafprozessuale?) behördliche Intervention von der Umsetzung bestimmter Vorhaben abzuhalten17. Die Legitimität strafrechtlicher Verbote der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten ließe sich danach nicht bereits auf die (in der Gesetzesbegründung mit Macht an die Oberfläche drängende) Erwägung stützen, dass derartige Verbote (strafprozessuale) Eingriffe ermöglichen, welche die Ausführung entsprechender Pläne effektiv vereiteln können.

III. Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten als „Beeinträchtigung“ der inneren Sicherheit? Neben der Verlockung, Vorbereitungsverbote kurzerhand als Interventionsermöglichungsregelungen zu erklären bzw. legitimieren, steht diejenige, den Blickwinkel, unter dem sich die Normen als erklärungsbedürftige Vorfeldstrafgesetze darstellen, mit der Begründung für unmaßgeblich zu erklären, dass die „Vorbereitung“ nach richtigem Verständnis bereits eine evidente Verletzung (oder jedenfalls greifbare Gefährdung) eines Rechtsguts darstellt, welches denjenigen vorgelagert ist, die im Falle der Umsetzung der vorbereiteten Tat verletzt oder konkret gefährdet würden. Zweifel daran, dass sich die verbotene (Vorbereitungs-)Handlung bereits in irgendeiner greifbaren Weise auf fassbare Rechtsgüter (insbesondere diejenigen der Attentatsopfer) auswirkt, würden dann dadurch ausgehebelt, dass man die Handlung als Beeinträchtigung eines ___________ 16 Vgl. Maiwald, in: Immenga (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung, 1980, S. 291, 292, 294 f., 297 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., 2006, § 3 Rn. 51; Hassemer, StV 2006, 321, 329 f., 332; Roxin, in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.), Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts, 2005, S. 175, 177 betont gerade im Kontext der Diskussion um ein „Risikostrafrecht“, dass Strafe nur legitim ist, wenn sie unter präventiven Gesichtspunkten notwendig und dabei im Hinblick auf die durch den Täter begangene Tat gerecht ist. Überlegungen zu einem „,Interventionsrecht‘“, „das zwischen Zivil- und Öffentlichem Recht angesiedelt ist“, finden sich bei Hassemer, ZRP 1992, 378, 383. 17 Grdl. Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 315; vgl. hier auch Sieber, ZStW 119 (2007), 1, 46 mit Blick auf die Pönalisierbarkeit „des Aufenthalts in einem Terrorismustrainingslager“.

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überindividuellen Rechtsguts bewertet. Mag sich aber durch Rechtsgutsvorverlagerung eine beeinträchtigende Qualität der Handlung generieren lassen, so wäre hiermit eine überzeugende Lösung, in deren Konsequenz sich die Bedenken gegenüber Vorfeldkriminalisierungen letztlich als ein bloßes Missverständnis erweisen würden, nur dann gefunden, wenn man sich des gesetzgebungskritischen Potenzials des Rechtsgutskonzepts hinreichend sicher sein dürfte. Es kann nämlich nicht in letzter Konsequenz in die Hand des Gesetzgebers gelegt sein, durch die Schaffung (immer) abstrakterer, der Verletzung eines „,Kern-Rechtsguts‘“ (immer weiter) vorgelagerter Rechtsgutspostulate letztlich beliebig weit ins „Vorfeld“ ausgreifen zu können18. Dass die Sorge, die (alleinige) Rechtfertigung von Verboten der Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten im Hinblick auf das Rechtsgut der inneren Sicherheit könne in Beliebigkeit führen, nicht aus der Luft gegriffen scheint, zeigt sich in der Begründung des Regierungsentwurfs; dort liest man (zu § 89a Abs. 1)19: „Die innere Sicherheit wird in der Regel beeinträchtigt sein, wenn die vorbereitete Tat, so wie der Täter sie sich vorstellt, nach den Umständen geeignet wäre, das innere Gefüge eines Staates zu beeinträchtigen. Dabei reicht es jedoch aus, wenn durch die Tat zwar nicht die Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen in Mitleidenschaft gezogen wird, aber die Tat durch den ihr innewohnenden Verstoß gegen Verfassungsgrundsätze ihren besonderen Charakter gewinnt. Das kann insbesondere dann der Fall sein, wenn das Vertrauen der Bevölkerung erschüttert wird, vor gewaltsamen Einwirkungen in ihrem Staat geschützt zu sein“.

Es soll sich also vom Wirkpotenzial der vorbereiteten Tat – und zwar nach Maßgabe der Vorstellung des Täters! – darauf schließen lassen, dass bereits ihre Vorbereitung die innere Sicherheit „beeinträchtigt“. Setzt man dies konsequent um, müsste eine Beeinträchtigung (wohl) bereits dort in Betracht kommen, wo sich jemand bspw. die medienwirksame Tötung vieler zufälliger Opfer vorstellt, während die ins Auge gefasste Tat aus bestimmten Gründen nur zu oberflächlichen Verletzungen weniger Personen führen könnte. Nun soll an dieser Stelle weder die Berechtigung überindividueller Rechtsgüter als solcher in Frage gestellt werden noch der Standpunkt eingenommen werden, dass es ausgeschlossen wäre, ein Rechtsgut der inneren Sicherheit in dieser Art zu bestimmen20; bekanntlich hat kürzlich das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass es Sache des Gesetzgebers sei, „die mit den Mitteln des Strafrechts zu schützenden Güter festzulegen“, wobei er keinen Beschränkungen auf „angeblich vorfindliche oder durch Instanzen jenseits des Gesetzgebers ___________ 18 Instrukt. Duttge, FS Weber, 2004, S. 285, 294 f.; Hirsch, FS Tiedemann, 2008, S. 145, 161 f.; vgl. auch Neubacher, ZStW 118 (2006), 855, 861 f.; zurückhaltend auch Sieber, ZStW 119 (2007), 1, 46 m. w. N. 19 BT-Drs. 16/11735, S. 12. 20 Zur Systematisierung des BT bzw. Gesetzesauslegung mag ein derart weites Verständnis durchaus tauglich sein. Vgl. etwa Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, StGB, 27. Aufl. 2006, Vor §§ 13 ff. Rn. 9 m. w. N.

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,anerkannte‘ Rechtsgüter“ unterliege21. Ein nennenswertes gesetzgebungsbegrenzendes Potenzial würde indes einem derart offen verstandenen Rechtsgut der inneren Sicherheit ersichtlich nicht innewohnen und suchte man sich Regelungen wie denjenigen der §§ 89a und 89b StGB unter dem Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes „gesetzgebungskritisch“ zu nähern, so könnte die Verankerung dieser Vorschriften allein im Anliegen eines Schutzes der „öffentlichen Sicherheit“ bzw. der „Sicherheit des Staates“ vor Beeinträchtigungen22 aufgrund des Abstraktionsgrades derartiger Konzepte daher für sich ihre Legitimität auch nicht gewährleisten23. Es erscheint daher unverzichtbar, eine Verbindung der pönalisierten Verhaltensweisen mit einem fassbaren, mit einem konkreten Rechtsgut zu verlangen24.

IV. Zur Gefährlichkeit von Handlungen zur Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten Maßgeblich für die Feststellung einer derartigen „Verbindung“ kann nun, setzt man am Gedanken des Rechtsgüterschutzes an25, nur die Gefährlichkeit der (Vorbereitungs-)Handlung sein, der Grad des ihr bereits innewohnenden „Schädigungspotenzials“ für greifbare Rechtsgüter26. Allein der Hinweis dar___________ 21 BVerfG NJW 2008, 1137, 1138. Wenn sich auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Inzestentscheidung a. a. O. einer abschließenden rechtspolitischen und dogmatischen Bewertung des Gedankens des Rechtsgüterschutzes enthalten hat, so hat es doch pikanterweise den Standpunkt eingenommen, dass das Rechtsgüterschutzkonzept kein Instrument darstellt, dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich veranlasste Grenzen zu stecken. 22 BT-Drs. 16/11735, S. 12. 23 Mit Recht spricht Duttge, FS Weber, 2004, S. 285, 294 vom „hochabstrakten und nahezu beliebig ausfüllbaren Topo[s] der ,öffentlichen Sicherheit und Ordnung‘“. 24 Duttge, FS Weber, 2004, S. 285, 295 hat diesbezüglich die hilfreiche Leitlinie formuliert, dass jedenfalls dort die Legitimation eines (Vorfeld-)Tatbestands zweifelhaft ist, wo „das tatbestandlich erfaßte Verhalten hinsichtlich eines anerkannten ,KernRechtsguts‘ keinerlei spezifisches Schädigungspotential auf[weist]“; Hirsch, FS Tiedemann, 2008, S. 145, 162 spricht von einer „Gefährlichkeit für ,gesicherte‘ Rechtsgüter“. 25 Dies soll im Weiteren die eigene gedankliche Grundlage darstellen, ohne dadurch die Auseinandersetzung mit abweichenden Ansätzen zu sperren, die im Haupttext erfolgen wird. 26 Vgl. Fn. 24; auch Weißer, ZStW 121 (2009), 131, 161. Vor diesem Hintergrund führt der Versuch, die Frage in einer generellen Weise zu beantworten, ob man strafrechtliche Vorbereitungsverbote ausdrücklich den abstrakten Gefährdungsdelikten zuschlagen kann oder ob man sie von diesen abgrenzt und stattdessen „sachlich als Vorbereitungen strafbarer Angriffe“ (Merkel, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 1889, S. 42; zw. indes Binding, Die Normen und ihre Übertretung I, 4. Aufl. 1922, S. 409 Fn. 37. Für eine Unterscheidung auch Lagodny [Fn. 17], S. 208) betrachten sollte, nicht recht weiter. Dort nämlich, wo sich nicht davon sprechen lässt, dass eine bei Strafe verbotene Vorbereitungshandlung ein spezifisches Schädigungspotenzial (im Hinblick auf

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auf, dass die Handlungen, die die Vorbereitungsverbote des GVVG erfassen sollen, in der Vergangenheit nicht bei Strafe verboten waren27, hilft dabei ebenso wenig weiter wie die begründungslose Unterstellung ihrer (gesteigerten) Gefährlichkeit28.

1. Notwendigkeit der Entscheidung zur weiteren Verfolgung des Tatplans als prinzipieller Kontraindikator des Schädigungspotenzials von Vorbereitungshandlungen? Dafür, dass ein solches Potenzial nicht besteht, lässt sich für Vorbereitungshandlungen von Einzeltätern mit erheblicher argumentativer Wucht darauf verweisen, dass die Durchführung der Tat, uneingeschränkt davon abhängt, dass der Betreffende an seinem Plan festhält, dass er seine Vorbereitungen weiter vorantreibt und zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Tat schreitet. Dieses grundlegende Bedenken, welches sich auch bzw. gerade dann aufdrängt, wenn man sich das strafbare Unrecht nicht als Rechtsgutsverletzung bzw. -gefährdung erklärt, spielt in der Diskussion um das GVVG eine zentrale Rolle. Zwangsläufig ablehnend muss das Urteil über dessen Vorbereitungsverbote ausfallen, wenn man von der Vorstellung ausgeht, dass sich strafrechtlich relevante (abstrakt) gefährliche Handlungen stets dadurch auszeichnen, dass sie Bedingungen schaffen, „durch die das Umschlagen in eine erheblichere konkrete Gefahr oder Verletzung typischerweise eröffnet wird, – und zwar auf eine Weise, daß auch selbstbestimmt-gefahrenhinderndes Handeln des Täters oder anderer ausgeschlossen ist oder nur noch zufällig erscheint“29. Von dem rigorosen Standpunkt aus, dass überall dort noch kein strafrechtliches Unrecht vorliegt, wo die gesetzten „Gefahrbedingungen“ nicht „ohne weitere selbstbestimmte Handlungen des Täters oder anderer Personen in Verletzungen umschlagen

___________ das durch die vorbereitete Tat verletzte oder konkret gefährdete Rechtsgut) in sich trägt, mag man die fragliche Norm immer noch als ein „Vorbereitungsdelikt“ charakterisieren, jedoch lässt sich das fragliche Verbot dann jedenfalls nicht wegen der (abstrakten) Gefährlichkeit der Handlung für individuelle oder ggf. für definierbare überindividuelle Rechtsgüter legitimieren (vgl. hier auch Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 312). 27 Vgl. BT-Drs. 16/11735, S. 1. 28 Vgl. insow. Kauder, der in einem kurzen rechtspolitisch ausgerichteten Beitrag (ZRP 2009, 20) von „der besonderen Gefährlichkeit solcher konkreten Vorbereitungshandlungen“ (S. 20), „der hohen Gefährlichkeit der Vorbereitungshandlungen von terroristischen Anschlägen“ (S. 21), vom „besonderen Gefährdungspotenzial[], das der Vorbereitung terroristischer Anschläge eigen ist“ (S. 21) spricht, ohne einen (über den problematischen Präventionsaspekt hinausweisenden) Sachgrund dafür herauszuarbeiten, dass den pönalisierten Handlungen tatsächlich „eine hohe generelle Gefahr der Schadensrealisierung inne“ wohnt (S. 22). 29 Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 32; Köhler folgend Gierhake, ZIS 2008, 397, 402.

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können“, muss sich nämlich beispielsweise ein Verbot, eine Gewalttat dadurch vorzubereiten, dass man sich Waffen verschafft, als inakzeptabel darstellen30. Nun lassen sich Fälle der Schaffung von Gefahrenpotenzialen in der Tat danach unterscheiden, ob die Entladung des Potenzials von einer (weiteren) menschlichen Entscheidung abhängt oder nicht. Entschiede man sich, das Verhalten beispielsweise desjenigen, der in der Absicht, einen Selbstmordanschlag zu verüben, zunächst entsprechende technische Fertigkeiten erwirbt, als (abstrakt) gefährlich zu bezeichnen, so wäre damit in der Tat eine andere Form gefährlichen Verhaltens gemeint als bei demjenigen, der ein in § 306a StGB genanntes Gebäude in Brand steckt31. Daraus, dass sich die skizzierten Fallgruppen voneinander unterscheiden lassen, folgt aber noch nicht, dass bzw. inwieweit die Frage, nach dem zwischengeschalteten menschlichen Entschluss unter strafrechtlicher Perspektive bedeutsam ist. Ob dem so ist, hängt vom zugrunde gelegten Verständnis vom strafrechtlichen Unrecht ab. Erklärt man sich dieses nun als eine „Rechtsverhältnisverletzung“32, so lässt sich hiervon die Forderung ableiten, dass sich die Straftat im Verhältnis zu anderen Personen oder den „Gemeinschaftsformen“ der Person als eine grundlegende Beeinträchtigung von deren Selbstständigkeit auswirken muss. Maßgeblich für eine solche scheint dann in der Tat weniger eine graduiert denkbare Gefährdung von Rechtsgütern, stellen diese sich doch lediglich als Objektivationen der (wechselseitigen) Freiheit dar, der „rechtliche[n] Selbstständigkeit“, sondern vielmehr die Verletzung des Freiheitsverhältnisses dadurch zu sein, „daß der freie Mitkonstituent des Rechtsverhältnisses mit gleicher Allgemeinheit den Gegensatz konstituiert – das Recht als ,Recht‘ verletzt“33. Es liegt dann jedenfalls nicht fern, eine derartige Verletzung des Rechts „als Recht“ überall dort zu verneinen, wo die schlussendliche Entladung eines Gefahrenpotenzials noch von einer (sozusagen: unwiderruflich rechtsverhältnisverletzenden) Betätigung eines „,böse‘-unrechtsbezogene[n] Willen[s]“34 abhängt. Ansetzend an dem Argumentationsfixpunkt eines Strafrechtsverständnisses, das das Unrecht als eine Rechtsverhältnisverletzung begreift, lässt sich ein durch trennscharf-kategorische Abgrenzungen charakterisierter Bezugsrahmen bilden, aus dem die Frage danach, ob es nicht doch Fallgruppen geben kann, in denen sich die Bedeutung des Aspekts der Notwendigkeit

___________ 30 Gierhake, ZIS 2008, 397, 402: „Aus diesem Grund ist das im neuen § 89a-E kodifizierte Unrecht keines, das richtigerweise mit der Sanktion Strafe … belegt werden kann“. 31 Im ersten Fall hängt die Verdichtung des geschaffenen Gefahrenpotenzials zu einer konkreten Gefahr und weiter zu einer Rechtsgutsverletzung davon ab, dass der Täter sich entscheidet, tatsächlich den Auslöser zu betätigen; im zweiten Fall spielt ein „zwischengeschaltete[r], freie[r] Entschluss einer selbstbestimmten Person“ (Gierhake, ZIS 2008, 397, 402) keine Rolle (mehr): ob sich nämlich die abstrakte Gefahr der Inbrandsetzung von (Wohn-)Gebäuden konkretisiert, hängt nur noch von der Beschaffenheit des Gebäudes, vom Wind, vom verwendeten Brandbeschleuniger usw., insbesondere davon ab, ob sich Menschen in dem Gebäude aufhalten. Köhler (Fn. 29), S. 32 spricht mit Blick auf die zweitgenannten Fälle von „abstrakte[r] Gefährdung strengeren Begriffs“. Vgl. auch Heinrich, ZStW 121 (2009), 94, 124 f. mit der Unterscheidung von abstrakten Gefährdungsdelikten und „Präventivmaßnahmen“ danach, ob die weitere Entwicklung vom „Zufall“ oder von einem „willentlichen Akt[]“ des Täters abhängt 32 Vgl. Gierhake, ZIS 2008, 397, 398 mit umfangreichen Nachweisen. 33 Köhler (Fn. 29), S. 22 ff. (Hervorh. durch Verf.). 34 Köhler (Fn. 29), S. 23.

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des Unterbleibens eines „selbstbestimmt-gefahrenhinderndes Handeln[s]“35 des Betreffenden relativiert, hinausführen muss. Diesbezügliche Differenzierungen passen nicht zu einer Sichtweise die überall dort kategorisch das Vorliegen von Strafunrecht verneint, wo „weitere selbstbestimmte Handlungen des Täters oder anderer Personen“ erforderlich sind, um Gefahrbedingungen „in Verletzungen“ umschlagen zu lassen36. Stattdessen liegt in der Konsequenz einer derartigen Sichtweise, dass eben erst dort, wo die weiteren Handlungen nicht mehr frei, nicht mehr selbstbestimmt sind, ihnen vorgelagerte (Vorbereitungs-)Handlungen unter Strafe gestellt werden dürfen37.

Der Frage, ob es nicht diesseits von Fällen, in denen zwar weitere menschliche Handlungen erforderlich sind, um ein Gefährdungspotenzial zur Entladung zu bringen, diese weiteren Handlungen aber nicht mehr „selbstbestimmt“ sind, Konstellationen geben kann, in denen Vorbereitungshandlungen einerseits weitere nachfolgende selbstbestimmte Handlungen des Täters oder dritter Personen erfordern38, damit es zu konkreten Gefährdungen bzw. Verletzungen kommt, dabei aber gleichwohl ein Gefahrenpotenzial schaffen, welches „naturgesetzliche[n] Gefährdungspotenzial[en]“ unter strafrechtlichem Gesichtspunkt gleichkommt, sollte sich die Diskussion nicht im Wege der Anhebung der Abstraktionshöhe entziehen. Gierhake indes schließt diese Möglichkeit vor dem aktuellen Hintergrund der Vorbereitungsverbote des GVVG aus, da man ansonsten eine „Strukturgleichheit“ der Schaffung menschlich beherrschter bzw. beherrschbarer mit der Schaffung naturgesetzlicher Gefährdungspotenziale behaupten würde39. Jedoch ist dieser Vorwurf nicht ganz präzise: Behauptet würde nämlich nur, dass die betrachteten Fallgruppen unter einem bestimmten Aspekt zweckmäßigerweise miteinander verglichen werden dürfen und zwar unter dem der Gefährlichkeit. Setzt man nun aber an der rechtsgüterschützenden Funktion des Strafrechts an, so ist dieser Gesichtspunkt zentral. Belangreich erscheint im gegebenen Kontext, dass einem Grundverständnis vom strafrechtlichen Unrecht als Rechtsgutsverletzung bzw. -gefährdung (und vom Strafrecht ___________ 35

Köhler (Fn. 29), S. 23. Gierhake, ZIS 2008, 397, 402. 37 Von diesem Standpunkt aus sind folgerichtig § 30 StGB und solche (abstrakten) Gefährdungsdelikte abzulehnen, bei denen die Entladung des geschaffenen Gefahrenpotenzials von weiteren selbstbestimmten Handlungen des Täters oder Dritter abhängt. Vgl. Köhler (Fn. 29), S. 32 f., 545, 547 und passim. 38 Vgl. hier Radtke/Steinsiek, ZIS 2008, 383, 387 mit dem Hinweis darauf, „dass das Strafrecht präventive Wirkung nur bei Personen entfalten kann, die durch den Befehl der dem Strafrecht zugrunde liegenden Verhaltensnorm überhaupt noch erreichbar sind. Das kann nach dem Aufenthalt in einem Ausbildungslager zweifelhaft sein. Zumindest im Fall von religiös motivierten Selbstmordattentätern werden diese, sobald sie einmal zur Tat fest entschlossen sind, nur noch schwerlich für die Verhaltensgebote des staatlichen Rechts zugänglich sein, weil sie ohnehin mit ihrem Tod rechnen und diesen bei entsprechender Indoktrination als heroischen Akt sehen“. 39 Gierhake, ZIS 2008, 397, 402. 36

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als dem Schutz der Rechtsgüter dienend), eine mehrdimensionalere Auseinandersetzung mit dem Sachproblem der Pönalisierung von Vorbereitungshandlungen offensteht. Es liegt nämlich einerseits auf der Hand, dass es für den Grad der Gefährlichkeit der fraglichen Handlung (für ein „Kern-Rechtsgut“) einen maßgeblichen Aspekt darstellt, ob durch diese ein Geschehen in Gang gesetzt wird, dessen Schadensträchtigkeit von (weiterem) menschlichen Verhalten unabhängig ist40. Betrachtet man Vorbereitungsverbote wie diejenigen des GVVG unter dem Blickwinkel des Rechtsgüterschutzes, so erscheint es andererseits nicht unter allen Umständen zwingend, dort, wo noch selbstbestimmte menschliche Handlungen nachfolgen müssen, damit sich das geschaffene Gefahrenpotenzial entlädt, die abstrakte Gefährlichkeit der jeweiligen Handlungen unter Verweis hierauf kategorisch zu verneinen. Ein rechtspolitisch eher unverfängliches Beispiel41 einer dogmatisch voraussetzungsvollen Regelungstechnik bilden in diesem Zusammenhang die Besitzdelikte des Waffengesetzes42. Vor deren Hintergrund ist zu bedenken, dass die konsequente Umsetzung des Gedankens, dass überall dort, wo es der Täter (oder ein Dritter) noch in der Hand hat, ob sich Gefahrenpotenziale konkretisieren und in Verletzungen umschlagen, noch kein strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt, nicht nur die Pönalisierung des Waffentrainings des Attentäters kategorisch ausschließen müsste; hierüber hinaus verböte es sich weiterhin, ihn nach § 51 Abs. 1 WaffG zu bestrafen, wenn er eine Maschinenpistole erwirbt, in seinem Haushalt lagert oder beim Einkaufen mitführt. Wiederum hätte es ja der Täter (oder beispielsweise der Einbrecher, der die Waffe aus dem Haushalt des Besitzers wegnimmt) noch im unmittelbarsten Sinne des Wortes in der Hand, ob sich ihr Gefahrenpotenzial, dessentwegen jeder Umgang mit „Vollautomaten“ bei Strafe verboten ist43, verwirklicht. Weiterhin ließen sich die waffenrechtlichen Verbote mit ihrer Differenzierung zwischen Waffen, die legal besessen werden dürfen, jedoch unter Verschluss gehalten werden müssen, und bestimmten anderen Waffentypen, bei denen jeglicher Umgang unter Strafe steht, auch nicht allein mit dem Interesse daran erklären, dass keine Waffen ggf. über Dritte in den Besitz von steuerungsunfähigen Personen gelangen. Stattdessen verhält es sich so, dass der bloße Besitz (bestimmter) Schusswaffen in sich derart gefährlich ist44, dass er legitimerweise bei Strafe verboten werden kann. Jedenfalls (manche) Waffen provozieren wegen ihrer Eigenarten ihren Besitzer oder Dritte zur schadensverursachenden Verwendung45. Das Strafrecht berücksichtigt daher mit Recht die gefährliche Faszination, die (Schuss-)Waffen als hochwirksame und dabei hochgradig sym-

___________ 40

Vgl. etwa Koriath, GA 2001, 50, 68; Heinrich, ZStW 121 (2009), 94, 124. Vgl. Nestler, in: Inst. f. Kriminalwissenschaften, Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 66 u. 70; Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 770. 42 Vgl. etwa Eckstein, Besitz als Straftat, 1999, S. 75. 43 Vgl. Potrykus, Waffenrecht, 8. Aufl. 2007, Vor § 51 Rn. 8 m. w. N. 44 Vgl. erneut Potrykus (Fn. 43). 45 So mit Recht Schroeder, ZIS 2008, 444, 445; auch Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 770 f.; Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten, 2007, S. 219 stellt ab auf die „jederzeitige Aktualisierbarkeit besonders gefährlicher Güter“. 41

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bolträchtige Instrumente der Multiplikation eigener Macht bzw. der Verwandlung empfundener Ohnmacht in Allmacht ausstrahlen46.

2. Bestimmung des Schädigungspotenzials (eventuell von Alltagshandlungen) nach Maßgabe von Interna als Gesinnungsstrafrecht? Entscheidet man sich nach alldem, die Legitimität von Vorbereitungsverboten (wie sie das GVVG vorsieht) danach zu bewerten, ob die pönalisierten Handlungen in sich bereits eine relevante Gefährlichkeit für bzw. ein Schädigungspotenzial in Bezug auf fassbare Rechtsgüter bergen, so ergibt sich eine weitere grundsätzliche Frage, zu der diesseits der Detailbetrachtung einzelner Verbote Stellung bezogen werden soll; diejenige nämlich, inwieweit bei der Bestimmung der Gefährlichkeit subjektive Daten herangezogen werden können. Entscheidet sich der Gesetzgeber für Vorbereitungsverbote, so ergibt sich zwangsläufig das Problem, dass sich diesen Verboten umso weniger (allein) anhand der äußeren Tatseite Kontur verleihen lässt, je weiter in ein Vorfeld diesseits der Versuchsschwelle ausgegriffen wird47. Bei der Würdigung von Vorbereitungsverboten steht man daher vor einer Problemlage, die auf die allgemeine Frage, ob es grundsätzlich begründbar ist, die Gefährlichkeit einer Handlung (auch) nach Maßgabe sie tragender bzw. begleitender Interna zu bewerten, und die besondere Frage, ob sich die Gefährlichkeit einer Vorbereitungshandlung (allein) daraus ergeben kann, dass sie in einem Planungszusammenhang steht, zurückgeführt werden kann. Erstere Frage ist grundsätzlich zu bejahen, zweite zu verneinen. Dass sich bei der Bestimmung der Grenzen strafbewehrter Verhaltenspflichten ein Rückgriff auf Interna kategorisch verböte, ist ein Gedanke, der bekanntlich durch Jakobs in einer besonders griffigen Form formuliert worden ist: Erlaubt sei die „Frage nach den Interna […] nur zur Interpretation sowieso schon störender Externa“48. Ein „Verhalten, das erst auffällt, wenn man die Interna des Täters kennt, [darf] […] nie als Delikt behandelt werden; denn Strafgrund wären ansonsten einzig die Interna“49. Geht man davon aus, dass in einer inakzeptablen Weise nur wegen einer missliebigen

___________ 46 Sinn (Fn. 45) spricht von (strafwürdiger) „potentielle[r] Macht“. Bezeichnenderweise spielt Gierhake, ZIS 2008, 397, 401 die Bedeutung der „nebengesetzlichen Spezialregeln zum Umgang mit Waffen und gefährlichen Stoffen“, von denen „man einmal ab[sehen]“ könne, herunter. 47 Vgl. insow. etwa Heinrich, ZStW 121 (2009), 94, 120, der kritisiert, dass durch den geplanten § 89a StGB (des Ref.-Entwurfs) „als entscheidendes strafbegründendes Merkmal die ,Absicht‘ des Täters in den Mittelpunkt gestellt [würde], zu einem späteren Zeitpunkt Delikte zu begehen, die derzeit noch nicht einmal im Ansatz konkretisiert sind“. 48 Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 761. 49 Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 762.

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Gesinnung gestraft wird, wo (allein) böse Gedanken geahndet werden („cogitationis poenam nemo patitur“), weil die Strafe entweder an gar keine Handlung anknüpft oder an eine solche, in der sich der böse Wille des Handelnden nicht betätigt hat50, so folgt hieraus, dass es einem Tatstrafrecht einerlei sein muss, ob seine Pflichten um ihrer selbst willen befolgt werden oder ob derjenige, der die ihm auferlegte Pflicht befolgt, diese dabei nicht anerkennt51. Setzt man dann allerdings bei der Frage der Legitimität strafrechtlicher Normen, bei der Berechtigung der „Pflichten“, die dem Einzelnen aufgebürdet werden, weniger bei dem Gedanken tätiger Normdesavouierung an (welche wohl in der Tat nur dort ihre Wirkung entfalten wird, wo der aktuelle Normverstoß äußerlich erkennbar ist), sondern vielmehr am Rechtsgüterschutz, so drängt sich die Erwiderung auf, dass sich der Strafgrund eben doch nicht in den Interna erschöpft, sondern stattdessen in der intolerablen Gefährlichkeit der Handlung liegt, soweit die fraglichen Interna einen tauglichen Maßstab zu deren Bestimmung bieten.

Dort, wo es sich so verhält, dass ein Zusammenhang zwischen einem Internum und der Gefährlichkeit der fraglichen Handlung besteht, ist es prinzipiell legitim, die Grenzen von (strafbewehrten Verhaltens-)Pflichten (auch) unter Heranziehung dieses subjektiven Datums zu definieren. Entgegen Jakobs lässt sich daher in dem vielzitierten Lehrbuchbeispiel des Verkaufs eines Brötchens durch einen Bäcker an einen Kunden, von dem der Bäcker weiß, dass dieser mit dem Backwerk einen Giftmord begehen wird52, das Sonderwissen heranziehen, um den Bereich des dem Bäcker zustehenden erlaubten Risikos zu präzisieren. Der Gegenstand dieses Wissens betrifft nämlich einen Umstand, der für die Gefährlichkeit des Brötchenverkaufs relevant ist53. Ferner kann, da Sonderwissen dem Wissenden ohne weitere Anstrengungen zur Verfügung steht, von dem Betreffenden verlangt werden, sein Handeln hieran auszurichten54. Dass die fragliche (Vorbereitungs-)Handlung nicht „auffällt“, dass sie sich als „Alltagshandlung[]“55 darstellen mag oder als eine Handlung, die in „ihrem äußeren Er___________ 50 Maiwald, FS Jescheck I, 1985, S. 405, 422 f. mit dem Beispiel eines Chirurgen, der eine gefährliche Operation an einem Patienten, den er hasst, in kunstgerechter Weise in der Hoffnung vornimmt, dass der Patient versterben möge. 51 Ohne Belang muss also sein, ob die „Triebfeder“ des Handelnden „die Idee der Pflicht selbst“ oder irgendeine andere ist, Kant, Metaphysik der Sitten, VorländerAusgabe, 1913, S. 21; vgl. hierzu Welzel, FS v. Gierke, 1950, S. 290, 293 ff.; Loos, FS Oehler, 1985, S. 227, 232 u. 235. 52 Jakobs, ZStW 89 (1977), 4, 27 Fn. 82. 53 Genau genommen wird ein Internum daher auch nur zur Aufdeckung einer der Handlung objektiv anhaftenden (wenn auch nicht jedermann ohne weiteres erkennbaren) Eigenschaft herangezogen. 54 Vgl. Greco, ZStW 117 (2005), 519, 537 u. 541; Rackow, Neutrale Handlungen als Problem des Strafrechts, 2007, S. 102 ff., insbes. 123 f. 55 Vgl. nur Deckers/Heusel, ZRP 2008, 169, 173 mit der effektvollen Befürchtung, dass sich der Bürger fragen müsse, „ob er sich den – repressiven – Staat durch Wohlverhalten noch vom Leib halten kann“, wenn nunmehr „Alltagshandlungen … als strafwürdig angesehen werden können, wenn sie in einen ,terroristischen Kontext‘‘ gestellt wer-

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scheinungsbild … mit der sozialen Ordnung völlig in Einklang“ steht56, ist (für ihre Gefährlichkeit) belanglos57. Geht es allerdings nicht um die Interpretation einer Handlung anhand von Sonderwissen des Handelnden, dessen Gegenstand gefährlichkeitsrelevante Umstände sind, sondern um zukunftsgerichtete Planungen, um böse Absichten, so ist größere Zurückhaltung geboten. Absichten, die eine bestimmte Handlung begleiten, werden diese nämlich in der Regel bereits nicht gefährlicher machen als nach der objektiven Seite identische Handlungen (die ohne die entsprechende Absicht vorgenommen werden) und hinzu tritt, dass es nicht angehen kann, die strafwürdig gesteigerte Gefährlichkeit einer bestimmten Handlung allein damit zu begründen, dass sie aus Sicht des Handelnden der Vorbereitung einer Straftat dient. Argumentierte man nämlich, dass eine Handlung, die einen Deliktsplan ein stückweit voranbringt, bereits deshalb unter dem Gefährlichkeitsaspekt verboten werden könne, weil sie für zumindest dasjenige Rechtsgut, das von der Tat betroffen sein soll, eine (gewisse) Gefahr schafft bzw. (ein wenig) vergrößert, so wäre, da sich dies von jeder (Vorbereitungs-)Handlung sagen ließe, das Verbot bei Lichte betrachtet eben doch nicht an bestimmte Eigenarten der Handlung geknüpft (sondern an das Vorhandensein bestimmter böser Absichten) und die grundsätzliche Straflosigkeit alleintäterschaftlicher Vorbereitungshandlungen wäre Makulatur58. Dass sie sich in einen Planungszusammenhang fügt, vermag daher eine (nach ihren weiteren objektiven und subjektiven Eigenschaften) ungefährliche Handlung nicht in eine gefährliche Handlung zu verwandeln, ohne dass dadurch indes ausgeschlossen wäre, dass es besonders gelagerte Fälle geben mag, in denen eine Handlung, die in sich bereits ein definiertes Maß an Gefährlichkeit trägt, durch die Absicht, von der sie getragen wird, zu einer gesteigert gefährlichen Handlung wird, die nicht lediglich als Ordnungswidrigkeit (sondern als Straf-

___________ den“. Übersehen wird dabei freilich die fehlende normative Kraft des Begriffs des Alltags bzw. der „Alltagshandlung“, vgl. u. Fn. 57. 56 Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 6), § 11 Rn. 8. 57 Eingehend dazu, dass äußerliche Ordnungsmäßigkeit oder Alltäglichkeit einer Handlung für deren strafrechtliche Bewertung irrelevant ist, Rackow, Neutrale Handlungen als Problem des Strafrechts, 2007, S. 29 ff. m. w. N. 58 Vgl. auch Neuhaus, Die strafbare Deliktsvorbereitung unter besonderer Berücksichtigung des § 234a Abs. 3 StGB, 1993, S. 101 sowie – mit Blick auf den Referentenentwurf zum GVVG – Weißer, ZStW 121 (2009), 131, 149. Fragwürdig (unter dem Gesichtspunkt der Gefährlichkeit der verbotenen Handlungen) daher bspw. S. 5 (1) des engl. Terrorism Act 2006: „A person commits an offence if, with the intention of (a) committing acts of terrorism, or (b) assisting another to commit such acts, he engages in any conduct in preparation for giving effect to his intention.“ S. 5 (2) stellt klar: „It is irrelevant for the purposes of subsection (1) whether the intention and preparations relate to one or more particular acts of terrorism, acts of terrorism of a particular description or acts of terrorism generally.“ S. 5 (3) sieht „imprisonment for life“ vor.

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tat) behandelt werden darf59 bzw. wegen der Absicht ein qualifiziertes Maß strafrechtlichen Unrechts in sich birgt60. Beispielhaft: Verschafft sich jemand (für welche Zwecke auch immer) einen Pilz, von dem nur er als exzeptioneller Pilzkundler weiß, dass dieser ständig hochtoxische Sporen streut, so dürfte das Sonderwissen des Betreffenden dazu herangezogen werden, bereits den Umgang mit dem Pilz als im strafrechtlichen Sinne (abstrakt-)gefährlich zu bewerten. Die Beschaffung eines Eimers zum Transport des Pilzes ist dagegen keine Handlung, die in sich eine Gefährlichkeit birgt61. Dies unabhängig davon, ob sie sich in den Plan einfügt, mit Hilfe des Pilzes um dessen Gefährlichkeit der Betreffende Sonderwissen hat, einen Giftanschlag zu verüben, ob sie in ebendieser Absicht erfolgt.

3. §§ 30, 129 ff. StGB als definitive Grenze von Vorbereitungsverboten Die sachlichen Bedenken gegenüber den Vorbereitungsverboten des GVVG nehmen im kritischen Schrifttum des Öfteren die Form eines an der lex lata ausgerichteten Vergleichs mit den §§ 30, 129 ff. StGB an, doch droht die Sichtweise, dass abstrakt-gefährliche Handlungen, die („terroristische“) Gewalttaten vorbereiten, stets in einem herkömmlichen Sinne „organisiert“ vonstatten gehen, so dass die §§ 30, 129a, b StGB die strafwürdigen Fälle ohnehin umfassend abdecken62 und jenseits ihrer Anwendungsfelder ein „anderer, äquivalenter Gefährdungsgrund“ fehlen muss, der die Pönalisierung von Vorbereitungshandlungen „nicht organisationsgebundene[r], ,klassischer‘ Einzeltäter“ deshalb rechtfertigen könnte, weil er „der Eigendynamik der Gruppe als einer ,verschworenen‘ Gemeinschaft“ gleichkommt63, bei einer allzu holzschnittartigen Gegenüberstellung des autonom handelnden Alleintäters und des verstrick-

___________ 59 Ein Beispiel bildet insoweit das Verhältnis der Vorschriften des § 127 OWiG und des § 149 StGB. Vgl. Weber, in: Jescheck (Hrsg.) (Fn. 9), S. 15. 60 So liegt es in den Fällen, in denen jemand bei einem Diebstahl (§ 244 Abs. 1 Nr. 1a StGB) oder einer ggf. nach § 250 Abs. 1 Nr. 1a StGB qualifizierten Raub- bzw. Erpressungstat einen „Alltagsgegenstand“ in der Absicht bei sich führt, diesen im Bedarfsfalle zu Verletzungszwecken einzusetzen. Das Gefahrenpotenzial wird in den umstrittenen Fällen nämlich objektiv gesteigert, wenn der Betreffende mit Verwendungsvorbehalt handelt (überz. Hardtung, StV 2004, 401, 402). 61 Geschieht die Beschaffung im Wege des Kaufs, so hätte der Verkäufer des Eimers demgemäß auch keine Strafe wegen Teilnahme an einer Vorbereitungshandlung zu gewärtigen, sondern – kommt es zur Haupttat – wegen Beihilfe zu einem Tötungsdelikt. Vgl. Rackow, Neutrale Handlungen als Problem des Strafrechts, 2007, S. 115 f. 62 So Deckers/Heusel, ZRP 2008, 169, 170. 63 Backes, StV 2008, 654, 659.

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ten Verschwörers stehen zu bleiben64. So etwa, wenn man am „,Einzelkämpfer‘“ ansetzt, „der nicht einmal zu einem anderen einzelnen Träger von Bestrebungen Kontakte unterhält“65. Die Vorstellungen vom Alleintäter einerseits, der in idealtypischer Autonomie, unbeeinflusst von anderen darüber befindet, den Entschluss zu einer Gewalttat zu fassen, die ins Auge gefasste Tat in gegebenenfalls komplexester Weise vorzubereiten, zu einem bestimmten späteren Zeitpunkt die Tat ins Werk zu setzen und schließlich zum Ende zu bringen, und vom Konspirierenden andererseits, der sich in einem Kellergewölbe mit seinen Mitverschwörern auf ein kriminelles Unterfangen verständigt und fortan das Geschehen nicht mehr allein in der Hand hält, sich stattdessen einer unseligen Eigendynamik der Dinge ausgesetzt sieht, beziehen sich auf Idealtypen. Dass dort, wo die Voraussetzungen der §§ 129a ff., 30 StGB nicht vorliegen, es per se ausgeschlossen sein soll, dass sich „Einzeltäter“ auf kommunikativem Wege in ihr Vorhaben verstricken, sich in einer Weise, die ein gefährliches eigendynamisches Potenzial aufweist, an dieses binden, ist ebenso sehr eine auf begründungsbedürftigen (Vor-)Wertungen beruhende Behauptung wie diejenige einer Strafbarkeitslücke. Ein Gesichtspunkt, unter dem die zitierte Gegenüberstellung sogar als rückwärts gewandt erscheint, besteht in der Ubiquität computervermittelter Kommunikation, angesichts derer man vermuten darf, dass der „Allein“-Täter, der eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet beim Durchlaufen der Phasen der Entschlussfassung, Tatvorbereitung bis hin zur Durchführung i. d. R. in einem mehr oder weniger ausgeprägtem Maße in computervermitteltem wechselseitig-kommunikativem Kontakt mit anderen steht und seine Pläne mehr oder weniger konkret kommuniziert. Vom idealtypischen Verschwörer unterscheidet sich der vernetzte Täter wiederum dadurch, dass derartige Kontakte mit anderen Gleichgesinnten zwar bestärkend wirken, ohne dabei aber die Schwelle zur Verabredung einer konkret umrissenen Tat zu überschreiten, an der sich alle mittäterschaftlich beteiligen sollen66; des Weiteren wird die Tat des vernetzten Täters zwar ganz im Sinne einer Vereinigung i. S. v. § 129a StGB sein, der dezentral-vernetzte Täter wird die Äußerungen der Exponenten der Vereinigung als maßgeblich erachten, ohne dabei aber Handlungen zu unternehmen, die sich als mitgliedschaftliche Beteiligung an der Vereinigung darstellen bzw. als deren Unterstützung. Computervermittelte Kommunikation alleintäterschaftlicher Tatplanungen zeichnet sich weiterhin nicht zuletzt durch ein Element der Anonymität aus, welches eine Selbstbindung des „Allein“-Täters begünstigt. Dass im Rahmen computervermittelter Kommunikation bspw. durch Internetchats nur sehr wenige Informationen über die Nutzer ausgetauscht werden, führt nämlich zur Deindividuation. Die situativ saliente Identität bekommt in der Anonymität des Internets Entfaltungsmöglichkeiten, die ihr im Rahmen herkömmlicher Kommunikationsformen nicht offen ständen, weil der Kommunizierende es weitestgehend in der Hand hat, was für

___________ 64

Eine andere Frage ist es freilich, ob die Vorbereitungsverbote des GVVG taugliche Merkmale aufweisen, um die Identifikation des „kommunizierenden Einzeltäters“ zu ermöglichen. 65 So Backes, StV 2008, 654, 656 f. 66 Vgl. nur Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 30 Rn. 12 m. w. N.

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(zutreffende oder unzutreffende) Informationen er über sich verbreiten, welches (Selbst-)Bild er vermitteln möchte67. Demgemäß wird bspw. derjenige, der sich mit dem Gedanken trägt, durch gewalttätige Aktion ein Fanal gegen diese oder jene Ungeheuerlichkeit zu setzen, es leichter haben, in einem Web-Forum Gleichgesinnter mit seiner Idee zu reüssieren als im Rahmen einer (evtl. konspirativen) Face-to-FaceSituation, bei der persönliche Defizite etc., die der Umsetzung des Vorhabens entgegenstehen könnten, zutage treten würden. Unter dem Aspekt der abstrakten Gefährlichkeit von Vorbereitungshandlungen des vernetzten Täters stellt die gesteigerte private Selbstaufmerksamkeit des computervermittelt Kommunizierenden daher einen belangreichen Gesichtspunkt dar. Da nämlich der computervermittelt Kommunizierende viel weniger Informationen über seine Kommunikationspartner beachten muss, wird aus seiner Sicht seine eigene Position, seine Selbstdarstellung, seine „private Selbstaufmerksamkeit“ eine besondere Bedeutung erlangen.

4. Zwischenfazit Für die (regelmäßige) Straflosigkeit von Handlungen, die Einzeltäter zwecks Vorbereitung von Straftaten unternehmen, sprechen grundsätzliche Erwägungen, jedoch kommt es für den konkreten Einzelfall darauf an, ob der fragliche Akt nicht bereits als solcher Straftatqualität aufweist. Legt man insoweit zugrunde, dass strafbewehrte Verbote bestimmter Handlungen dort in Betracht kommen, wo diese – wie vorstehend entfaltet – ein intolerables Maß an Gefährlichkeit für (greifbare) Rechtsgüter aufweisen, so können Handlungen, die nach der Vorstellung des Handelnden der Vorbereitung einer zukünftigen rechtswidrigen Tat dienen, ohne dass sie jedoch als ein unmittelbares Ansetzen zu dieser zu werten wären, bereits als solche in einem Maße abstrakt gefährlich sein, welches ihre Pönalisierung rechtfertigt, wenn sie entweder – geht es um tatmittelbezogene Handlungen – im Umgang mit solchen Sachen bestehen, die in sich ein hinsichtlich eines greifbaren Kernrechtsguts spezifisches Schädigungspotenzial aufweisen, oder – geht es um nicht-sachbezogene Vorbereitungen – wenn diese so beschaffen sind, dass sie den Handelnden an sein kriminelles Vorhaben binden. Konstellationen der erstgenannten Fallgruppe liegen etwa dort vor, wo sich eine Vorbereitungshandlung auf Sachen bezieht, die wie bspw. radioaktives Material ein beherrschungsbedürftiges Gefahrenpotenzial bergen, das zu seiner Entladung keiner weiteren menschlichen Handlungen bedarf, die auf Schädigung ausgerichtet sind68. Hier erfordert nämlich jeder Umgang ein Gefahrbeherrschungsregime69 gegenüber Strahlungsaustritt, Selbstentzündung und dergleichen mehr, welches stets scheitern kann. Des Weiteren lässt sich die strafrechtliche Erfassung solcher Vorbereitungs-

___________ 67

Vgl. hierzu Hartmann, in: Mangold/Vorderer/Bente (Hrsg.), Lehrbuch der Medienpsychologie, 2004, S. 681 u. passim m. w. N. zum fachwissenschaftl. Schrifttum. 68 Vgl. auch Radtke/Steinsiek, ZIS 2008, 385, 389: „Umgangsverbot … aufgrund ihrer unmittelbaren Gefährlichkeit“. 69 Vgl. insow. auch Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, 2000, S. 336 f.

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handlungen begründen, die im Umgang mit Sachen bestehen, die zwar nicht schon ohne weitere auf Schädigung ausgerichtete Handlungen des Täters oder Dritter schädlich wirken, jedoch ihrer Art nach für irgendwelche Verwendungszwecke, die nicht in konkreter Gefährdung bzw. Verletzung bestehen, regelmäßig nicht, sondern allenfalls in besonders gelagerten Ausnahmefällen in Betracht kommen. So liegt es beispielsweise bei zur Geldfälschung geeigneten Sachen; ein Herstellen von „Druckstöcke[n]“ (§ 149 Abs. 1 Nr. 1 StGB) wirkt sich zwar ohne weiteres nicht nachteilig auf die Sicherheit und Funktionsfähigkeit des Geldverkehrs aus. Hierzu bedarf es weiteren planvollen Handelns des Täters (oder eines Dritten)70. Da aber mit einem Druckstock kaum anderes anzufangen ist als Falschgeld herzustellen, lässt sich davon sprechen, dass bereits der Umgang mit Geldfälschungsutensilien „die Schadensneigung objektiv in sich“ trägt71. Wichtige Beispiele bilden insbesondere die Strafvorschriften des Waffengesetzes, die allerdings mit Blick auf die Benutzung von Schusswaffen in Schützenvereinen und die Möglichkeit (selbst illegal besessene) Waffen nur zum strafrechtlich sanktionierten Zweck der Notwehr zu verwenden, problematischer erscheinen72.

Schließlich erscheint es nicht undenkbar, dass eine nicht-tatmittelbezogene Handlung, die nach der Vorstellung des Handelnden der Vorbereitung der Durchführung einer zukünftigen rechtswidrigen Tat dient, bereits für sich ein spezifisches Schädigungspotenzial in sich birgt, weil sie zu einer Bindung des Betreffenden an seinen Plan führt. Am klarsten kommt dieser Gedanke de lege lata in der freilich nicht unumstrittenen Vorschrift des § 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB zum Ausdruck: Wenn es hier (im Unterschied zu den Modalitäten des § 30 Abs. 1 und 2 Alt. 2 StGB) auch gerade nicht so liegt, dass ein gefahrenträchtiger Geschehensablauf angestoßen und qua Involvierung einer zweiten Person letztlich aus der Hand gegeben wird73, legt die lex lata zugrunde, dass gleichwohl bereits strafwürdiges Verhalten des Erklärenden vorliegt, weil dieser sich in einem abstrakt gefährlichen Maße74 gegenüber dem Erklärungsempfänger bindet75. Nun wird mit beachtlichen Gründen bezweifelt, ob allein die (einseitige) Bereiterklärung eine diesbezügliche strafwürdige Gefährlichkeit in sich trägt. Erkennt man aber den Gedanken grundsätzlich an, dass zumindest die (wechselseitige) einvernehmliche Kommunikation zu einer gefährlichen Selbstverpflichtung des Betreffenden führen kann, weil er nicht feige oder wortbrüchig erscheinen oder das Ansehen seines Kommunikationspartners ver___________ 70 Ein „naturgesetzliche[s] Gefährdungspotenzial“ (Gierhake, ZIS 2008, 397, 402) wird in den Fällen des § 149 Abs. 1 Nr. 1 StGB eindeutig nicht geschaffen. 71 Weber in: Jescheck (Hrsg.) (Fn. 9), S. 1, 15; Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 770 spricht von „Prototypen von Deliktswerkzeugen“; diese kann „man privat zu legalen Zwecken nicht oder allenfalls in seltenen Fällen verwenden“. 72 Vgl. o. im Haupttext zu Fn. 41 ff. 73 Deutlich etwa SK-StGB/Hoyer, 7. Aufl. Januar 2001, § 30 Rn. 11 („der präsumtive Täter behält den Kausalverlauf trotz seiner Erklärung weiter vollständig in der Hand“). 74 Vgl. BGH NStZ 1998, 347, 348 zu § 30 Abs. 1 S. 1 StGB. 75 Vgl. etwa SK-StGB/Hoyer (Fn. 73), § 30 Rn. 11; LK-StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 30 Rn. 3.

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lieren will76, so relativiert sich die Durchschlagskraft einer Kritik an den Vorbereitungsverboten des GVVG, die auf die prinzipielle Straflosigkeit der Vorbereitungshandlungen von Alleintätern verweist. Wenn sich Strafbarkeitslücken offenkundig nicht allein damit begründen lassen, dass bestimmte Fälle bislang nicht strafrechtlich erfasst waren, so scheint es daher umgekehrt zu kurz gesprungen, eine sachliche Berechtigung ihrer Pönalisierung unter Hinweis darauf, dass die §§ 30, 129 ff. StGB eine gewissermaßen eherne Grenze der Erfassung von Vorbereitungshandlungen markierten, kategorisch auszuschließen. Es drängt sich (unter dem Aspekt abstrakter Gefährlichkeit) nämlich nicht auf, dass die Verständigung über die Ermordung eines persönlichen Feindes des Auftraggebers eine strafwürdige eigendynamische Bindung des Killers in spe an den Plan begründen soll, während die mehr oder weniger feierliche Kommunikation des Vorhabens, Ausländer, Schwarze, Obdachlose, Frauen, Lehrer, Muslime usw. zu töten, gegenüber einem charismatischen Kommunikationspartner in einem entsprechend ausgerichteten Internetchat das Strafrecht de lege lata et ferenda nichts anzugehen habe, weil ja die Opfer noch nicht individualisiert sind77. Das Problem, das insbesondere § 89a Abs. 1, 2 Nr. 1 StGB aufwirft, besteht dann aber darin, Eigenschaften fassbar zu machen, die einer (Vorbereitungs-)Handlung eine derartige abstrakt-gefährliche Eigendynamik verleihen.

V. Die Vorbereitungsverbote im Einzelnen Misst man nun die Vorbereitungsverbote des GVVG daran, ob die erfassten Handlungen bereits ein spezifisches Schädigungspotenzial für die (Kern-) Rechtsgüter Leben und persönliche Freiheit (vgl. § 89a Abs. 1 S. 2 StGB) bergen, so macht die Heterogenität der Verbotsmodalitäten eine differenzierte Betrachtung nötig, bei der die Gesetzesbegründung nicht sonderlich weiterhilft. Über die bereits angesprochene Behauptung hinaus, dass überall dort, wo die vom Täter ins Auge gefasste Tat im Fall ihrer Umsetzung das Vertrauen der Bevölkerung darauf erschüttern würde, vor gewaltsamen Einwirkungen sicher geschützt zu sein, regelmäßig bereits die Tatvorbereitung die innere Sicherheit beeinträchtigt78, finden sich recht pauschale Verweise auf bereits bestehende ___________ 76

Instruktiv SK-StGB/Hoyer (Fn. 73), § 30 Rn. 11. In erstgenannter Situation (vgl. etwa den Fall LG Zweibrücken NStZ-RR 2002, 136 zu § 30 Abs. 1 StGB) droht zwar ohne Konkretisierung des Opfers in der Tat schwerlich die Tötung beliebiger Personen, dagegen ist bei Tätern, denen es nicht zuletzt auf die kommunikativ-symbolische Wirkung ihrer Taten geht, die Individualität des Opfers nachrangig, entscheidend stattdessen, dass dieses für etwas Hassenswertes steht. 78 Vgl. o. bei Fn. 19. 77

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Vorbereitungsverbote79, bei denen indes darzutun wäre, dass diese den Verboten des GVVG tatsächlich vergleichbar sind und sie ihrerseits plausibel gerechtfertigt werden können. Bei Lichte betrachtet unterscheiden sich manche der vergleichsweise herangezogenen Tatbestände erheblich von den Vorbereitungsverboten des GVVG, während andere für sich zweifelhaft erscheinen und es schwerlich eine überzeugende Argumentation darstellt, zur Begründung neuer Strafvorschriften auf bereits existierende Vorschriften zu verweisen, die keineswegs über jeden Zweifel erhaben sind: So pönalisiert § 80 StGB (Vorbereitung eines Angriffskrieges) zwar einerseits nicht nur abschließend umrissene (Vorbereitungs-)Handlungen, setzt aber andererseits voraus, dass es zur konkreten Gefahr eines Kriegsausbruchs kommt80; § 87 StGB setzt voraus, dass der Täter sich gegenüber einem Dritten bindet („wer einen Auftrag einer Regierung … dadurch befolgt, dass er“). Bei den §§ 83 und § 234a Abs. 3 StGB handelt es sich um eher exotische Blüten des Strafgesetzbuchs. So stellt denn § 83 StGB ein ausgesprochen schwieriges Vorbild dar, dessen (eigene) Legitimationsproblematik überdeutlich darin zu Tage tritt, dass er zu mühseligen Versuchen geradezu nötigt81, dem verbotenen Verhalten mit der Forderung nach einer „gewissen Gefährlichkeit der Vorbereitungshandlung“ (unterhalb einer konkreten Gefährdung) Kontur zu verleihen82. Taugliche Vergleichsposten stellen dagegen die §§ 149, 152a, 275 StGB dar, zumal sie spezifische Vorbereitungshandlungen unter Strafe stellen, die bereits ihrer äußeren Umschreibung nach kaum anderen Zwecken dienen können, als demjenigen der Durchführung der Haupttat. Verwandt mit diesen Strafgesetzen ist die weitere durch die Gesetzesbegründung in Bezug genommene Vorschrift des § 310 StGB; über den Gesichtspunkt der Typizität der verbotenen Vorbereitungshandlungen hinaus, lässt sich zugunsten der Pönalisierbarkeit der „Vorbereitung eines Explosions- oder Strahlungsverbrechens“ argumentieren, dass der verbotene Umgang sich auf Sachen bezieht, die (abgesehen von den „besonderen Vorrichtungen“) bereits in sich ein abschirmungsbedürftiges Gefahrenpotenzial bergen.

1. Vorbereitungshandlungen in Bezug auf Tatmittel Ein im Kern durchaus plausibles Vorbereitungsverbot, welches mit § 310 StGB vergleichbar ist, enthält § 89a Abs. 1, 2 Nr. 2 StGB. Erfasst ist hier nämlich der Umgang mit Sachen, die (wie radioaktive Stoffe) bereits für sich gefährlich sind oder zumindest eine Gefahr der schadensverursachenden Verwen___________ 79

BT-Drs. 16/11735, S. 9: „Der beschrittene Weg ist im deutschen Strafrecht nicht

neu“. 80

Vgl. nur Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 80 Rn. 9; Radtke/Steinsiek, ZIS 2008, 383, 385. 81 Vgl. insow. schon Henke, ZStW 66 (1954), 390, 391 („dringendes rechtsstaatliches Anliegen“); zust. Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, 1970, S. 300. 82 Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT II, 9. Aufl. 2005, § 83 Rn. 11 m. w. N.; monografisch zu § 234 StGB Neuhaus, Die strafbare Deliktsvorbereitung unter besonderer Berücksichtigung des § 234a Abs. 3 StGB, 1993.

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dung durch Dritte in sich tragen, die die strafrechtliche Regelung des Umgangs mit ihnen durchaus nahelegt (Sprengstoffe und Sprengvorrichtungen); bzgl. des Umgangs mit Schusswaffen lässt sich argumentieren, dass sie in ungeeignete Hände Dritter gelangen können oder denjenigen, der mit ihnen umgeht zu Gewalttaten zu provozieren vermöchten83. Problematischer stellt sich die Einbeziehung von „zur Ausführung der Tat erforderlichen besonderen Vorrichtungen“ dar84. Was die an den Umgang mit Schusswaffen und Sprengmitteln anknüpfenden Begehungsweisen anbelangt, überschneiden sich diese des Weiteren mit Verboten des Waffen- und des Sprengstoffrechts und auch mit § 310 StGB, so dass sich fragt, ob es gerechtfertigt ist, dass bspw. der Umgang mit Sprengstoffen gem. § 40 Abs. 1 Nr. 1 SprengG mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe und der Umgang mit (bestimmten) Schusswaffen nach § 52 Abs. 1 WaffG mit Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und fünf Jahren geahndet wird, während § 89a StGB Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren vorsieht85. Bedenkt man aber, dass der Umgang (auch ohne entsprechenden Tatplan) wegen seiner abstrakten Gefährlichkeit unter Strafe steht, die nicht zuletzt auch daher rührt, dass der Besitzer der Schusswaffe sich versucht sehen könnte, auf diese als bequemes Tatmittel zur Begehung von Schädigungshandlungen zuzugreifen, so erscheint es einleuchtend, dass die mit dem Umgang verbundene Gefahr relativ größer ist, wenn er sogar schon eine entsprechende Absicht gefasst hat. § 89a Abs. 1, 2 Nr. 2 StGB ließe sich danach in seinen Kernanwendungsfällen – sieht man einmal von der letzten Modalität des Umgangs mit „besonderen Vorrichtungen“ ab – der Sache nach als Qualifikation vorhandener waffen- bzw. sprengstoffstrafrechtlicher Vorschriften erklären86. Problematischer steht es indes um das Verhältnis zu § 310 StGB: Wo nämlich – und dies wird bei terroristischen Anschlagsvorbereitungen vielfach der Fall sein – der Täter beispielsweise mit Sprengstoffen umgeht, um seine Tat vorzubereiten, liegen fürderhin § 89a Abs. 1, 2 Nr. 2 StGB und § 310 Abs. 1 Nr. 2 StGB nebeneinander vor und hier wie dort ist tatbestandliche Voraussetzung, dass der Umgang der Vorbereitung einer zukünftigen Straftat dient, die sich einmal – unter dem Aspekt des § 310 StGB nämlich – als Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion und einmal als schwere staatsgefährdende Gewalttat im Sinn des § 89a Abs. 1 Nr. 1 StGB darstellen muss. Der bei § 89a Abs. 1, 2 Nr. 2 StGB im Vergleich zu § 310 Abs. 1

___________ 83

Vgl. oben bei Fn. 45. Es ergeben sich insoweit nämlich Bedenken unter dem Aspekt des Bestimmtheitsgrundsatzes (Backes, StV 2008, 654, 658; Radtke/Steinsiek, ZIS 2008, 383, 388) und aufgrund der erheblichen Weite dieser Verbotsmodalität droht die Erfassung von Verhaltensweisen, denen es an dem zu fordernden spezifischen Schädigungspotenzial fehlt; dieses mag man für Zündvorrichtungen bejahen, jedoch ermöglichte der offene Wortlaut (wohl) bereits die Subsumtion des Erwerbs eines KFZ (Bsp. bei Radtke/Steinsiek, a. a. O.) (oder eines Rucksacks), in dem später eine Bombe platziert werden soll. Derartige Konstellationen wird man im Hinblick darauf, dass Automobile (oder Gepäckstücke) in sich keine Gefahr für die Verwendung bei Anschlägen bergen, jedenfalls im Wege restriktiver Auslegung aus dem Tatbestand heraushalten müssen. 85 Vgl. auch Radtke/Steinsiek, ZIS 2008, 383, 385 u. 393. 86 Vgl. hier die ähnl. Überlegungen von Weber, in: Jescheck (Hrsg.) (Fn. 9), S. 1, 15 in Bezug auf das Verhältnis zwischen § 127 OWiG u. § 149 StGB. 84

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StGB um fünf Jahre weitere Strafrahmen hängt daher in durchaus angreifbarer Weise allein am Bezugsobjekt des Tatplans87.

2. Vorbereitungshandlungen in Bezug auf Mittel zur Herstellung von Tatmitteln Erhebliche Bedenken erweckt dagegen § 89 Abs. 1, 2 Nr. 3 StGB, wonach es verboten sein soll, sich solche „Gegenstände oder Stoffe“ zu verschaffen oder zu verwahren, „die für die Herstellung von Waffen, Stoffen oder Vorrichtungen der in Nummer 1 bezeichneten Art wesentlich sind“. In gesteigert begründungsbedürftiger Weise werden Handlungen, die der Vorbereitung von Vorbereitungshandlungen dienen, jenen einschränkungslos gleichgestellt. Allein dies erscheint zumindest als eine Unwucht. Schwerer noch wiegt die mangelnde Trennschärfe der Modalität. In der Gesetzesbegründung liest man88: „Die Beschränkung auf wesentliche Gegenstände oder Stoffe vermeidet, dass auch der Erwerb oder Besitz beispielsweise eines einzelnen Gegenstandes mit einem alltäglichen Verwendungszweck (z. B. ein Wecker oder ein Handy) bereits vom Tatbestand erfasst wird. Zur Erfüllung dieser Tatbestandsalternative müssen vielmehr solche Gegenstände oder Stoffe in staatsschutzrelevanter Zielsetzung beschafft oder verwahrt werden, die im Falle ihrer Zusammenfügung oder technischen Manipulation ein taugliches Kampfmittel oder eine taugliche Vorrichtung im Sinne der Nummer 2 ergeben. Das Fehlen von Kleinteilen von untergeordneter Bedeutung (z. B. einer oder mehrerer Schrauben, eines oder mehrerer Drähte) verhindert indes nicht die Vollendung des Tatbestands. Ob Gegenstände für die Herstellung wesentlich sind, ist vielmehr stets im Rahmen einer wertenden Gesamtschau im Einzelfall zu beurteilen“.

Diese Ausführungen helfen wenig weiter, denn offensichtlich kann ein Wecker oder ein Handy bei entsprechender Manipulation eine taugliche Zündvorrichtung abgeben bzw. zum integralen Bestandteil einer solchen werden. Problematisch ist aber vor allem, dass der ausfüllungsbedürftige Begriff der „Wesentlichkeit“ durch eine einzelfallbezogene wertende Betrachtung erschlossen werden soll. Diese dürfte unvermeidlich derartige Abgrenzungsunsicherheiten mit sich bringen, dass die Bestimmtheit der Norm sich jedenfalls in Zweifel ziehen lässt89. Dies gilt besonders dort, wo es um den Umgang mit „Gegenstände[n]“ geht, „die für die Herstellung von … Vorrichtungen … wesentlich sind“. Durch die Verschränkung zweier bereits je für sich in ihrer tatbestandlichen ___________ 87 Krit. dann auch Backes, StV 2008, 654, 658 mit dem Hinweis, dass der Referentenentwurf nicht deutlich werden lasse, „wodurch sich die Vorbereitung eines Explosions- oder Strahlungsverbrechens durch Jedermann von der Vorbereitung durch einen Terroristen objektiv unterscheidet“. 88 BT-Drs. 16/11735, S. 14. 89 Vgl. hier auch Radtke/Steinsiek, ZIS 2008, 383, 383 in Bezug auf den Referentenentwurf.

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Abgrenzbarkeit zweifelhafter Merkmale ergibt sich eine gewissermaßen multiplizierte Bestimmtheitsproblematik. Hinzu tritt noch, dass die Unschärfen, die § 89 Abs. 1, 2 Nr. 3 StGB in sich trägt, diese Norm geradezu zu einem (strafprozessualen) Interventionshebel prädestinieren, indem sie ein denkbar weites Feld für Ermittlungen (und ein noch viel weiteres Feld für Vorermittlungen) eröffnet. Des Weiteren ist angesichts der Weite des Tatbestands nicht erkennbar, dass durch § 89 Abs. 1, 2 Nr. 3 StGB (lediglich) der Umgang mit solchen Gegenständen und Stoffen verboten würde, die ihrer Art nach in sich ein hinsichtlich eines greifbaren Kernrechtsguts spezifisches Schädigungspotenzial aufweisen; und es ist ebenso wenig ersichtlich, dass sich derjenige, der Handlungen im Sinne der betrachteten Modalität vornimmt, hierdurch stets kommunikativ auf sein Vorhaben festlegt.

3. Vorbereitungshandlungen in Bezug auf den Erwerb von Fähigkeiten im Umgang mit Tatmitteln Von Anfang an hat die Modalität des § 89a Abs. 1, 2 Nr. 1 StGB, der zufolge es verboten sein soll, sich im Umgang mit u. a. Schusswaffen unterweisen zu lassen bzw. andere zu unterweisen, im Mittelpunkt des Interesses (und der Kritik am GVVG) gestanden. Dass der Gesetzentwurf von der abstrakten Gefährlichkeit derartiger Handlungen für Individualrechtsgüter ausgeht, lässt sich daraus ersehen, dass § 89b Abs. 1 StGB bereits die Vorbereitung derartiger Vorbereitungshandlungen in Form der Aufnahme von Beziehungen zu einer terroristischen Vereinigung mit dem Ziel, sich unterweisen zu lassen, bei Strafe verbieten soll, weil dadurch „eine abstrakte Gefahr für Leib und Leben der potentiellen Opfer begründet“ werde90. Bzgl. der sozusagen aktiven Variante der Unterweisung ließe sich eine gewisse Parallele mit den Fällen des § 30 Abs. 1 StGB herstellen91, wäre vorausgesetzt, dass der Unterwiesene, dem „gefährliche“ Kenntnisse durch den Täter vermittelt werden, plant, diese für eine Gewalttat einzusetzen. Dann nämlich ließe sich argumentieren, dass der Unterweisende einen Geschehensablauf anstößt, dessen Weiterentwicklung er nicht in der Hand hält, weil sie in diejenige des Unterwiesenen gelegt ist. Indes muss sich das Waffentraining im Rahmen der aktiven Variante lediglich aus der Sicht des Unterweisenden als eine Vorbereitungshandlung darstellen, so dass – nimmt man die Norm beim Wort(laut) – sich auch ein Bundeswehrausbilder strafbar machen würde, wenn er insgeheim plant, seine Rekruten (später) für terroristische Anschläge zu gewinnen. Im Ergebnis misslungen ist aber auch die ___________ 90 91

BT-Drs. 16/11735, S. 10. Vgl. zu diesen etwa LK-StGB/Schünemann (Fn. 75), § 30 Rn. 3.

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passive Variante92: Maßgeblich dafür ist, da auch alltäglich-unverdächtiges Verhalten gefährlich sein kann93, zwar noch nicht, dass der Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten auch in gänzlich Unauffälligem bestehen kann94. Jedoch muss ein Strafgesetz, welches die Vorbereitung einer Straftat durch einen Einzeltäter im Wege des Erwerbs von Wissen unter Strafe stellt, besondere Bedenken hervorrufen, denn Kenntnisse und Fertigkeiten, die jemand zur Vorbereitung einer Straftat erwirbt, können ohne seinen Willen zumindest schwerlich in die Hände Dritter geraten95. Die Entwurfsbegründung jedenfalls bleibt die klare Benennung eines (im Hinblick auf die §§ 30, 129 ff. StGB) „äquivalente[n] Gefährdungsgrund[es]“96 weitestgehend schuldig. Die Einbindung der Vorbereitungshandlungen von „Alleintätern“ in zunehmend dezentrale Strukturen und die Bedeutung des Internets wird nur angedeutet97 und eher zwischen den Zeilen taucht der Gedanke auf, dass man davon ausgeht, dass den pönalisierten Vorbereitungshandlungen eine größere zur Tat hindrängende Eigendynamik innewohnt als beispielsweise den Vorbereitungen, die ein Alleintäter unternimmt, der sich kühl kalkulierend aus Geldnot entschlossen hat, seinen Erbonkel zu töten. Die Bewertung der Modalität des § 89a Abs. 1, 2 Nr. 1 StGB fällt daher im Ergebnis negativ aus. Einerseits erscheint es – wie dargelegt – durchaus denkbar, dass Vorbereitungshandlungen vorkommen, die nicht im Umgang mit gefährlichen Tatmitteln bestehen und des Weiteren auch nicht im herkömmlichen Sinne in ein Komplott bzw. eine kriminelle oder terroristische Vereinigung eingebunden sind und gleichwohl einen vergleichbaren Gefährlichkeitsgrad aufweisen, weil sie Teil eines Prozesses der wirksamen Selbstverstrickung des Betreffenden in seinen Plan darstellen. Andererseits birgt § 89a Abs. 1, 2 Nr. 1 StGB keinen tauglichen Anknüpfungspunkt für die Feststellung einer derartigen gefährlichen Eigendynamik.

___________ 92

Bei dieser kann es von vornherein nicht darum gehen, bestimmtes Wissen zu verbieten, zumal sich der Besitz einmal erworbenen Wissens im Unterscheid beispielsweise zum Besitz einer illegalen Schusswaffe (vgl. insow. Struensee, FS Grünwald, 1999, S. 713, 719) nicht willkürlich aufgeben lässt (ultra posse nemo obligatur). 93 Vgl. oben bei Fn. 55 ff. 94 Vgl. Wasser/Piaszek, DRiZ 2008, 315, 316: „Besuch einer Flugschule“. 95 Dies jedenfalls dann, wenn man von konstruierten Beispielen absieht, in denen der Betreffende im Schlaf über die Bedienung von Waffen spricht oder dergleichen mehr, und auch außer Betracht lässt, dass die Preisgabe besonderer Fertigkeiten abgenötigt werden kann. 96 Backes, StV 2008, 654, 659. 97 BT-Drs. 16/11735, S. 1.

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4. Vorbereitungshandlungen in Bezug auf die Vorbereitung des Erwerbs von Fähigkeiten im Umgang mit Tatmitteln und in Bezug auf die Beschaffung von Finanzmitteln Problematischer noch muss prima facie die Bewertung des § 89b StGB ausfallen, zumal diese Regelung gewissermaßen die Vorbereitung der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat unter Strafe stellen soll. Andererseits muss man auch sehen, dass die „Aufnahmen von Beziehungen“ sich unter einem wichtigen Gesichtspunkt, der § 89b StGB an die §§ 30 Abs. 2, 129 ff. StGB heranführt, von § 89a Abs. 1, 2 Nr. 1 StGB unterscheidet: Wenn auch ein Verstoß gegen § 89b StGB eine Kommunikation der ferneren Absichten des Täters nicht ausdrücklich voraussetzt, so wird eine solche in den Kernanwendungsfällen doch zustande kommen, denn immerhin dürfte jedenfalls eine gewisse Übereinstimmung zwischen dem Ausbildungswilligen und einem Repräsentanten der Vereinigung kommuniziert werden. § 89b StGB enthält insoweit ein konspiratives Moment98, welches prinzipiell als Grundlage der Pönalisierbarkeit in Betracht kommt. An diesem Element der Kommunikation zwischen dem „Ausbilder“ in spe und dem Auszubildenden ließe sich (wenn überhaupt im Wege teleologischer Auslegung) eine abstrakte Gefährlichkeit der Handlung festmachen. Einen kommunikativen Kern weist schließlich auch § 89a Abs. 1, 2 Nr. 4 StGB auf. Wer „nicht unerhebliche Vermögenswerte sammelt, entgegennimmt oder zur Verfügung stellt“, wird seinem Interaktionspartner gegenüber nämlich ein Wort dazu verlieren, welchem Zweck die Sammlung dient bzw. er wird umgekehrt wissen wollen, zu welchem Zweck er eigentlich beiträgt. Wenn nun auch Geldmittel keine Gefährlichkeit in sich tragen99, so lassen sich doch Konstellationen denken, in denen derjenige, der Geldmittel sammelt bzw. entgegennimmt, sich den gutwilligen Spendern gegenüber in einem gesteigerten Maße verbunden fühlt, das gesammelte Geld tatsächlich für den ausdrücklich oder in schlüssiger Form kommunizierten Zweck zu verwenden. Soweit der Spendensammler sich indes nicht (mit-) täterschaftlich an der finanzierten Tat beteiligt, stellt das Sammeln sich als eine Vorbereitungshandlung zu einer Beihilfe dar; liegt damit aber gerade keine Bindung an eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vor, deren Begehung der Betreffende tatherrschaftlich in den Händen hält, so dürfte es an einem legitimen Vorbereitungsverboten vergleichbaren Gefährdungspotenzial fehlen.

___________ 98 99

Radtke/Steinsiek, ZIS 2008, 383, 390 mit Bezug auf den Referentenentwurf. Radtke/Steinsiek, ZIS 2008, 383, 389.

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VI. Fazit Betrachtet man die Vorbereitungsverbote des GVVG unter einer sozusagen herkömmlich strafrechtlichen Perspektive, so kann das Ergebnis nach alledem nur sehr zurückhaltend ausfallen. Zwar macht die Heterogenität der Regelungen eine differenzierte Betrachtung erforderlich und man dürfte aus verschiedenen Gründen über das Ziel hinaus schießen, wollte man die Pönalisierbarkeit von Handlungen, die ein Alleintäter zur Vorbereitung seiner Tat vornimmt unter allen Umständen verneinen. Derartige Handlungen können bereits in sich ein relevantes Schädigungspotenzial bergen, welches es rechtfertigt, sie bei Androhung von Strafe zu verbieten. Dieses Potenzial kann darin gründen, dass die fragliche Handlung im Umgang mit Sachen besteht, die eine Schadensneigung aufweisen. Die Vorbereitungsverbote des § 89a Abs. 1, 2 Nr. 2 StGB lassen sich in ihrer Mehrzahl auf dieser Linie erklären; allerdings war das von ihnen erfasste Verhalten in der Vergangenheit im Wesentlichen bereits durch Strafnormen des Waffen- und des Sprengstoffrechts bzw. nach § 310 StGB erfasst. Über den Gesichtspunkt des Umgangs mit gefährlichen Sachen hinaus erscheint es nicht unter allen Umständen ausgeschlossen, dass ein abstrakt gefährliches Schädigungspotenzial, welches strafrechtlicher Erfassung offen steht, dadurch geschaffen wird, dass sich jemand, obwohl er i. S. d. der §§ 25 ff. StGB als Alleintäter einzuordnen ist, durch kommunikative Interaktion in (s)einen Tatplan verstrickt. Insbesondere (aber nicht nur) mit Blick auf die Bedeutung der Internetkommunikation geht Kritik an den Vorbereitungsverboten des GVVG, die in einer allzu holzschnittartigen Weise einen Täter, der in keiner Weise seine Planungen kommuniziert, sich deshalb in keiner Weise irgendwelchen Kommunikationspartnern gegenüber an diese gebunden fühlt und daher frei ist, jederzeit allein nach seinem Belieben von seinen Plänen Abstand zu nehmen, demjenigen gegenüberstellt, der in eine terroristische Organisation verstrickt ist (§§ 129 ff. StGB) bzw. unter den Voraussetzungen des § 30 StGB handelt, an der Realität des kommunizierenden (Allein-)Täters vorbei. Andererseits – und insoweit trifft die Kritik im Ergebnis eben doch ins Schwarze – fehlt der Modalität des § 89a Abs. 1, 2 Nr. 1 StGB ein Merkmal, an dem eine derartige Bindung festgemacht werden könnte, wohingegen die §§ 89b und 89a Abs. 1, 2 Nr. 4 StGB immerhin gewisse Möglichkeiten für eine auf Fälle kommunikativer Bindung beschränkte Auslegung bieten. Definiert man diesen in einem hergebrachten Sinne, so sperren sich nach alldem wesentliche Teile der Vorbereitungsverbote des GVVG gegen ihre Einordnung in einen strafrechtlichen Bezugsrahmen. Die Folgefrage, ob es angezeigt ist, über diesen Bezugsrahmen hinauszugehen, kann an dieser Stelle nicht mehr aufgegriffen werden. Allerdings erscheint die Bemerkung veranlasst, dass die Legitimationsgefahren und Risiken, die eine Anpassung des

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Strafrechts an Bedürfnisse möglichst effektiver (und frühzeitiger) Prävention bzw. Risikosteuerung mit sich zu bringen droht, keineswegs auf die leichte Schulter genommen werden sollten.

Notwendigkeiten und Grenzen eigener Strafzumessung durch Revisionsgerichte Von Henning Radtke

I. Einführung Strafzumessung gilt gemeinhin als Domäne des Tatrichters. Dessen Strafzumessungsentscheidung ist durch das Revisionsgericht lediglich in begrenztem Umfang überprüfbar.1 Hat der Tatrichter den für die Strafzumessung relevanten Sachverhalt ausreichend und rechtsfehlerfrei festgestellt, den abstrakten Strafrahmen zutreffend bestimmt und das Verbot der Doppelverwertung (§ 46 Abs. 3 StGB) beachtet, unterliegt die tatrichterliche Bestimmung der Strafhöhe grundsätzlich keiner revisionsgerichtlichen Kontrolle.2 Der BGH betont in ständiger Rechtsprechung, dass eine ins Detail gehende Kontrolle der tatrichterlicher Strafzumessung durch das Revisionsgericht nicht möglich ist, weil allein der Tatrichter (auch) aufgrund des in der Hauptverhandlung gewonnen persönlichen Eindrucks vom Angeklagten zu einer umfassenden Würdigung des Täters und seiner Tat in der Lage ist, auf der die Bestimmung der Strafhöhe beruht.3 Der langjährige Revisionsrichter Manfred Maiwald, dem dieser Beitrag in Dankbarkeit für die Unterstützung und Förderung während meiner Göttinger Assistentenzeit gewidmet ist, weiß aber, dass die Revisionsgerichte nach Möglichkeiten gesucht und solche gefunden haben, die Tatrichter dennoch, wenn es geboten erscheint, an die „kurze (Strafzumessungs)Leine“ zu nehmen. Selbst die Bestimmung der Strafhöhe ist längst kein vollständig revisionsfreier Raum des Tatrichters mehr. Jedenfalls dann, wenn die tatrichterliche Strafzumessung unvertretbar hoch oder niedrig ausfällt und sich dadurch von ihrem Zweck, einen gerechten Schuldausgleich herbeizuführen, löst, handelt es sich um einen revisiblen Rechtsfehler,4 der zur Aufhebung des Urteils des Tatrichters im Strafausspruch führt. Der Umfang der revisionsgerichtlichen Kontrolldichte tatrichterlicher Strafzumessungsentscheidungen ist jedoch lediglich eine Ebene ___________ 1

Siehe nur KK-StPO/Kuckein, 6. Aufl. 2008, § 337 Rn. 32 m.w.N. Zum Umfang der Überprüfung ausführlich Goydke, FS Meyer-Goßner, 2001, S. 541, 542 ff. 3 Exemplarisch BGHSt 34, 345, 349. 4 BGHSt 17, 35, 37; BGHSt 29, 319, 320. 2

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des Verhältnisses von Tatgericht und Revisionsgericht bei der Strafzumessung. Die zweite Ebene betrifft die Zulässigkeit eigener Strafzumessungsentscheidungen der Revisionsgerichte. Ausgangspunkt der darauf bezogenen nachfolgenden Betrachtungen wird der 2004 durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz5 eingeführte § 354 Abs. 1a S. 1 StPO sein. Dieser räumt dem Revisionsgericht die Möglichkeit ein, das tatgerichtliche Urteil trotz eines Rechtsfehlers bei der Strafzumessung aufrechtzuerhalten, sofern die dort verhängte Rechtsfolge nach der Bewertung des Revisionsgerichts angemessen ist. Bereits diese sehr grobe Beschreibung des Anwendungsbereichs von § 354 Abs. 1a S. 1 StPO deutet die damit verbundenen Verschiebungen gegenüber den überkommenen Funktionen von Tat- und Revisionsgericht bei der Strafzumessung an; die bisher durch § 354 Abs. 1 StPO eingeräumten Möglichkeiten des Revisionsgerichts, in der Sache selbst zu entscheiden, haben eine Ausweitung erfahren. Angesichts der u.a. möglicherweise mit dem Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) kollidierenden Verschiebungen zwischen Tat- und Revisionsgerichten kann die recht zügig nach Einführung des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO erfolgende verfassungsgerichtliche Überprüfung der Vorschrift kaum überraschen. In seinem Beschluss vom 14. Juni 20076 äußerte der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts zwar Zweifel an der Vereinbarkeit von § 354 Abs. 1a StPO mit dem Recht auf ein faires Verfahren und dem Recht auf den gesetzlichen Richter, erklärte die Norm aber nicht für verfassungswidrig. Stattdessen gab er „lediglich“ eine verfassungskonforme Auslegung vor. In der Entscheidung wird grundlegend ausgeführt, welche Anforderungen die genannten Justizgrundrechte nach Auffassung des Gerichts an das Revisionsverfahren im Kontext einer eigenen Strafzumessungsentscheidung des Revisionsgerichts stellen. Das Bundesverfassungsgericht fordert damit eine Handhabung von § 354 Abs. 1a StPO ein, die dem recht häufigen Zugriff der Revisionsgerichte auf diesen nach dem In-Kraft-Treten des 1. Justizmodernisierungsgesetzes enge Grenzen setzen könnte. Angesichts der angedeuteten Entwicklungen soll nachfolgend der genannte Beschluss des Bundesverfassungsgerichts näher, auch in seinen Konsequenzen für die revisionsgerichtliche Praxis, analysiert werden. Dazu bedarf es einer kurzen Darstellung der Entstehungsgeschichte des § 354 Abs. 1a StPO und seiner Anwendung in der Praxis vor dem hier besprochenen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts und eines knappen Überblicks über die Rezeption der Entscheidung in der Strafrechtswissenschaft.

___________ 5 6

Vom 24.8.2004, BGBl. I S. 2198. BVerfGE 118, 212 ff.

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II. Der Beschluss des BVerfG vom 14. Juni 2007 1. Vorgeschichte Vor der Einführung des § 354 Abs. 1a StPO konnte das Revisionsgericht im Falle eines fehlerhaften tatgerichtlichen Rechtsfolgenausspruchs nur dann von einer Zurückverweisung an das Tatgericht absehen, wenn auszuschließen war, dass ohne den Rechtsfehler eine andere, mildere als die festgesetzte Strafe verhängt worden wäre. Das Revisionsgericht musste also das Beruhen (i.S. von § 337 StPO) des Strafausspruchs auf dem Rechtsfehler ausschließen können. Mit § 354 Abs. 1a StPO wollte der Gesetzgeber die Kompetenz der Revisionsgerichte in diesem Bereich „behutsam“ und „punktuell“ erweitern.7 Die neue Vorschrift bezweckt erklärtermaßen eine Erhöhung der Verfahrensökonomie.8 Sie ermöglicht eine Aufrechterhaltung des Urteils auch in Fällen, in denen eine weitere Hauptverhandlung überflüssig erscheint, weil ein Fehler ohne neue Tatsachenfeststellungen nach Aufhebung und Zurückverweisung bereits in der Revisionsinstanz selbst behoben werden kann.9 Darauf, ob der Tatrichter ohne den Fehler auf dieselbe Strafe erkannt hätte, kommt es nicht (mehr) an.10 Erachtet das Revisionsgericht die verhängte Strafe trotz des Rechtsfehlers bei ihrer Zumessung im Ergebnis als angemessen, ist eine Zurückverweisung also entbehrlich. Die Rechtsprechung hat von der ihr durch § 354 Abs. 1a StPO eingeräumten Möglichkeit regen Gebrauch gemacht und sie im Ergebnis als Bestätigung ihrer bisherigen Praxis gewertet.11 Der BGH machte die Anwendung des § 354 Abs. 1a StPO vom Einzelfall abhängig. Eine Aufrechterhaltung des tatrichterlichen Strafausspruchs trotz Rechtsfehler bei der Strafzumessung bejahte er beispielsweise in Fällen einer fehlerhaften Verwertung von Strafzumessungsgründen gem. § 46 Abs. 1 und 2 StGB, einem Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot gem. § 46 Abs. 3 StGB, einer unzutreffenden Bestimmung des Strafrahmens oder bei fehlerhafter Behandlung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung.12 Für eine Zurückverweisung sprächen jedoch eine besondere Notwendigkeit eines persönlichen Eindrucks vom Angeklagten und etwaige zu erwartende neue tatsächliche Erkenntnisse.13 In der Literatur hatte diese

___________ 7

BT-Drucks. 15/999, S. 2, 14; BT-Drucks. 15/3482, S. 22; vgl. auch BGHSt 49, 371 ff. 8 BT-Drucks.15/3482, S. 2, 15. 9 BGH NJW 2005, 912, 913 unter Verweis auf BT-Drucks. 15/3482, S. 60. 10 BT-Drucks. 15/3482, S. 21 f. 11 Vgl. BGH NJW 2005, 1813 f. 12 Ausführlich zu diesen Fallgestaltungen Maier/Paul, NStZ 2006, 82, 83 f. 13 BGH NJW 2005, 1813, 1814.

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recht weitreichende Anwendung14 des § 354 Abs. 1a StPO überwiegend Kritik erfahren.15

2. Verfassungsgerichtliche Rechtsprechung Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte in dem genannten Beschluss vom 14. Juni 2007 über zwei Individualverfassungsbeschwerden zu befinden. Die Revision des ersten Beschwerdeführers war vom OLG Brandenburg verworfen worden, obwohl dieses – anders als das Berufungsgericht – den Vorwurf des bewusst fahrlässigen Handelns nicht aufrechterhalten hatte. Das OLG hatte die verhängte Strafe ungeachtet dessen jedoch als angemessen i.Sd. § 354 Abs. 1a S. 1 StPO bewertet. Über die Wertung „angemessen“ hinaus gehende Strafzumessungserwägungen enthielt der Verwerfungsbeschluss des OLG nicht. Der zweite Beschwerdeführer war wegen Betrugs in Tateinheit mit Beihilfe zur Untreue verurteilt worden. Der BGH hatte diesen Tatvorwurf zwar beschränkt und den Schuldspruch entsprechend geändert, die Revision des Beschwerdeführers aber trotzdem unter Anwendung des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO verworfen. Gerade diese zweite Ausgangsentscheidung verdeutlichte die Reichweite u.a. auf § 354 Abs. 1a StPO gestützter eigener Sachentscheidungen von Revisionsgerichten. Der BGH machte nicht nur von der vorgenannten Vorschrift Gebrauch, sondern kombinierte diese neu geschaffene Möglichkeit zu eigener Sachentscheidung mit der in der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung seit langem anerkannten, auf die analoge Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO gestützte – verfassungsgemäße16 – sog. Schuldspruchberichtigung. Im zweiten Ausgangsverfahren war der Angeklagte damit trotz einer Beschränkung des Schuldspruchs zu derselben Strafe verurteilt worden, die der Tatrichter in Bezug auf den umfassenderen Schuldspruch für angemessen erachtet hatte. Wie oben bereits angedeutet prüfte das Bundesverfassungsgericht, ob die angegriffenen Revisionsentscheidungen das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG und die Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 103 Abs. 1 S. 1 GG) verletzten. Dabei ging es zunächst der Verfassungsmäßigkeit des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO selbst nach. Prüfe das Revisionsgericht die Angemessenheit einer vom Tatgericht fehlerhaft begründeten Strafe anhand der Urteilsurkunde, sei dafür zwingend eine Wertung der festgestellten Strafzumessungsfaktoren i.S.d. § 46 StGB erforderlich. § 354 Abs. 1a S. 1 StPO er___________ 14

Enger als der BGH aber OLG Celle NStZ 2005, 163 f. Etwa Eisenberg/Haeseler, StraFo 2005, 221 f.; Franke, GA 2006, 261 ff.; Hamm, StV 2008, 205, 207; Leipold, StrFo 2005, 305 ff.; Ventzke, NStZ 2005, 461 f. 16 Siehe BVerfG NStZ 2001, 187, 188; BVerfG StV 2007, 393, 399. 15

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mögliche dem Revisionsgericht damit eine eigene Strafzumessung.17 Zwar breche diese Norm mit der Tradition des deutschen Strafprozesses, Strafzumessung nur unter Geltung des Unmittelbarkeits- und Mündlichkeitsgrundsatzes zu erlauben.18 Strafzumessung werde jedoch mittlerweile als Rechtsanwendung charakterisiert. Die eigene Strafzumessungskompetenz der Revisionsgerichte sei daher nicht von vornherein abzulehnen. Sie stelle nichts anderes als die praktische Umsetzung der den Revisionsgerichten vom Gesetzgeber eingeräumten rechtlichen Kontrollbefugnis dar.19 Allerdings genüge die Zumessung der Strafe durch das Revisionsgericht nur dann den Anforderungen des Rechts auf ein faires Verfahren, wenn sie auf Grundlage eines lückenlosen und auch ansonsten nicht korrekturbedürftigen Sachverhalts vorgenommen werde. Ob ein solcher vorliege, könne das Revisionsgericht selbst nicht feststellen, da ihm die Durchführung einer Beweisaufnahme verwehrt sei.20 Diese Schwierigkeiten führten jedoch nicht zur Verfassungswidrigkeit des § 354 Abs. 1a StPO.21 Vielmehr sei die Norm verfassungsgemäß auszulegen. Das Revisionsgericht habe den Revisionsführer darauf hinzuweisen, dass und weshalb es eine Entscheidung nach § 354 Abs. 1a StPO anvisiere.22 So werde dem Angeklagten die Möglichkeit gegeben, Stellung zu nehmen und ggf. neue, strafzumessungsrelevante Tatsachen vorzutragen bzw. rechtliche Gründe gegen die geplante Strafzumessung des Revisionsgerichts vorzubringen. Ein derartiger Hinweis sei nur entbehrlich, wenn – etwa wegen eines mit Gründen versehenen Antrags der Staatsanwaltschaft bei dem Revisionsgericht, auf den das Revisionsgericht seine Entscheidung stützen will – angenommen werden könne, dass der Angeklagte Kenntnis von einer im Raum stehenden Strafzumessung des Revisionsgerichts habe. Das Hinweis- und Anhörungsverfahren müsse darüber hinaus prinzipiell nicht mündlich erfolgen, sondern könne auch im Schriftwege durchgeführt werden. Die vom Angeklagten vorgebrachten Einwände seien vom Revisionsgericht auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. Komme dieses zu dem Schluss, dass stichhaltige Gründe vorlägen, die einer eigenen Strafzumessung im Wege stehen, müsse es die Sache zurückverweisen und sei an einer „Durchentscheidung“ gehindert. Habe das Revisionsgericht vom § 354 Abs. 1a StPO Gebrauch gemacht, sei diese Entscheidung jedenfalls dann zu begründen, wenn sich die für die Straf___________ 17

BVerfGE 118, 212, 228. Zu der ursprünglichen Konzeption des Gesetzgebers der RStPO siehe Hahn/ Mugdan, Die gesetzlichen Motive zu den Reichsjustizgesetzen, Band 3, Abt. 1, 2. Aufl., 1865, S. 258 f. 19 BVerfGE 118, 212, 230. 20 BVerfGE 118, 212, 232. 21 BVerfGE 118, 212, 234. 22 BVerfGE 118, 212, 235 f. 18

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zumessung relevanten Umstände in ihrer konkreten Gewichtung nicht bereits aus anderen Quellen, z. B. aus den Feststellungen und Wertungen der Tatgerichte, aus der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft bzw. des Angeklagten oder aus einem Hinweis des Revisionsgerichts, ergeben.23 Maßgeblich sei stets, dass dem Angeklagten ermöglicht werde, die Gründe für die Strafzumessung und damit die Wahrung schuldangemessenen Strafens nachzuvollziehen. Die Prüfung der Garantie des Art. 101 Abs. 1 S. 2 fällt im Vergleich zu den Überlegungen hinsichtlich des Rechts auf ein faires Verfahren eher knapp aus. Der 2. Senat führt aus, das Recht auf den gesetzlichen Richter sei zwar verletzt, wenn von mehreren als zuständig in Betracht kommenden Gerichten eines die Zuständigkeit selbst festlegen dürfe. Von dieser Regel sei aber eine Ausnahme zu machen, wenn übergeordnete Interessen dafür sprächen, ein Organ der Rechtspflege über die Zuständigkeit bestimmen zu lassen. In Bezug auf § 354 Abs.1a StPO seien als derartige Interessen die Prozessökonomie und die Fähigkeit der Strafrechtspflege zu sowohl materiell gerechten als auch zeitgerechten Entscheidungen anzuerkennen.24 Beide Verfassungsbeschwerden waren im Ergebnis erfolgreich und führten zur Aufhebung der Revisionsurteile sowie zur Zurückverweisung an die Revisionsgerichte. Das OLG Brandenburg hatte seine Entscheidung, nach § 354 Abs. 1a S. 1 StPO zu verfahren, nicht – wie nach der dargelegten verfassungskonformen Auslegung des Bundesverfassungsgerichts erforderlich – hinreichend begründet. Auch im zweiten Verfahren war nach Einschätzung des Verfassungsgerichts die Revision des Beschwerdeführers nach § 354 Abs. 1a S. 1 StPO zu Unrecht verworfen worden. Der BGH hatte nicht nur den Strafausspruch sondern auch den Schuldspruch geändert. § 354 Abs. 1a S. 1 StPO sei jedoch ausschließlich bei einer Gesetzesverletzung bei Zumessung der Rechtsfolgen anwendbar. Eine Anwendung auf Beschlüsse, die auch den Schuldspruch änderten, scheide angesichts des eindeutigen Wortlauts der Norm aus. Durch die (dementsprechend rechtswidrige) Annahme eigener Zuständigkeit durch den BGH sei dem Beschwerdeführer der gesetzliche Richter entzogen worden. Der Problematik einer gleichzeitigen Änderung von Strafausspruch und Schuldspruch kann und soll im Rahmen dieses Beitrags als Platzgründen jedoch nicht weiter nachgegangen werden.25 Die Entscheidung des 2. Senats zu § 354 Abs. 1a StPO knüpft an eigene Rechtsprechung zu den Grenzen revisionsgerichtlicher Strafzumessungsentscheidungen an. Bereits auf der Grundlage des früheren Rechts war vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Gehalts der einfachgesetzlichen Auf___________ 23

BVerfGE 118, 212, 238. BVerfGE 118, 212, 239 f. 25 Hierzu ausführlich Paster/Sättele, NStZ 2007, 609, 614-616. 24

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gabenverteilung zwischen Tat- und Revisionsgerichten beanstandet worden, wenn Revisionsgerichte Gesamtstrafen aufrechterhalten hatten, obwohl für die Bildung dieser Gesamtstrafe bedeutsame Einzelstrafen weggefallen waren.26

3. Rezeption in der Literatur Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung ist in der Literatur auf überwiegend kritische Resonanz gestoßen.27 Dabei wendet sich die Hauptstoßrichtung der Kritik gegen die grundsätzliche Bestätigung der Verfassungsmäßigkeit von § 354 Abs. 1a S. 1 StPO einerseits und andererseits gegen das vom Verfassungsgericht im Kontext der (vermeintlich) verfassungskonformen Auslegung vorgegebene Verfahren, welches das Revisionsgericht vor einer Bestätigung des Ergebnisses der Rechtsfehler enthaltenden tatrichterlichen Strafzumessungsentscheidung einzuhalten hat.

a) Voraussetzungen verfassungskonformer Auslegung Zwar findet die Prämisse des Bundesverfassungsgerichts, dass das Recht auf ein faires Verfahren eine Entscheidung über die Strafzumessung nur auf Grundlage eines vollständigen und aktuellen Sachverhalts erlaube, noch breite Zustimmung.28 Gerade von diesem Ausgangspunkt aus wird aber der Zugriff auf eine verfassungskonforme Auslegung von § 354 Abs. 1a S. 1 StPO für methodisch nicht möglich gehalten.29 Eine verfassungskonforme Auslegung kommt dann in Betracht, wenn die Auslegung einer Rechtsvorschrift nach Heranziehung der anerkannten Auslegungskriterien Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesetzessystematik und Gesetzeszweck mehrere Deutungen zulässt, von denen aber nur eine mit der Verfassung in Einklang steht.30 Ihre Grenze findet die verfassungskonforme Auslegung aber dort, wo sie dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzes widerspricht. Im Wege der Auslegung darf einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz kein entgegengesetzter Sinn verliehen werden, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt oder das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentli___________ 26

BVerfG NStZ 2004, 273; siehe auch BVerfG v. 2.6.2006 – 2 BvR 906/06; zu dieser verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Ignor, FS Dahs, 2005, S. 281, 298 ff.; Junker, StraFo 2004, 132. 27 Gaede, GA 2008, 394 ff.; Dehne-Niemann, ZIS 2008, 239 ff.; Peglau, JR 2008, 80 ff.; Maier, NStZ 2008, 227 ff.; Paster/Sättele, NStZ 2007, 609 ff. 28 Gaede, GA 2008, 394, 399; Paster/Sättele, NStZ 2007, 609, 611. 29 Gaede, GA 2008, 394, 407 f. 30 BVerfGE 83, 201, 204; BVerfGE 88, 145, 166.

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chen Punkt verfehlt werden.31 An diesen vom Verfassungsgericht selbst formulierten methodischen Voraussetzungen verfassungskonformer Auslegung setzt die Kritik an. Es wird prognostiziert, dass § 354 Abs. 1a S. 1 StPO nach den verfassungsgerichtlichen Vorgaben in der Praxis deutlich seltener Anwendung finden werde.32 Vor allem das über den Gesetzeswortlaut hinaus geforderte Hinweis- und Anhörungsverfahren mache ein Vorgehen nach dieser Norm für die Revisionsgerichte unattraktiv. Die neue Interpretation des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO laufe somit der Intention des Gesetzgebers des 1. Justizmodernisierungsgesetzes, justizielle Ressourcen zu schonen und das Verfahren schneller und ökonomischer zu gestalten, zuwider.33 Dehne-Niemann kritisiert insofern, das Bundesverfassungsgericht habe die selbst gesetzten Grenzen verfassungskonformer Auslegung überschritten und im Wege einer „verfassungsgerichtskonformen Auslegung“34 als Ersatzgesetzgeber gewirkt. Ebenso wie Gaede35 hält er § 354 Abs. 1a S. 1 StPO wegen der durch ihn verursachten Vermischung tatrichterlicher und revisionsrichterlicher Kompetenzen insgesamt für verfassungswidrig.36 Vorzugswürdig wäre es nach deren Ansicht gewesen, die Norm für nichtig zu erklären. Das Recht auf ein faires Verfahren fordere die Positivierung des Verfahrensrechts und damit eine bestimmte Gewährleistung der gebotenen Verfahrensrechte des Angeklagten.37 Die Statuierung eines mit Pflichten verbundenen Hinweis- und Anhörungsverfahrens durch eine mehrdeutige Gerichtsentscheidung ändere aus diesem Grund ohnehin nichts an der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren durch § 354 Abs. 1a StPO.

b) Bedeutung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) Auch die Verneinung einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter stößt in der Rechtslehre auf Widerspruch.38 Ansatzpunkt für diese Kritik ist nicht der Umstand, dass der 2. Senat entsprechend der bisherigen Recht___________ 31 Siehe BVerfGE 18, 97, 111; BVerfGE 54, 277, 299 f.; BVerfGE 71, 81, 105; BVerfG NVwZ-RR 2002, 117 f. 32 Maier, NStZ 2008, 226, 227; Gaede, HRRS 2007, 292: Die Entscheidung „dürfte den Charme der Norm erheblich mindern“; Dehne-Niemann, ZIS 2008, 239, 254: „faktisch kaltgestellt“; Peglau, JR 2008, 80: Die Vorschrift „wird … nur noch einen Bruchteil ihres jetzigen Anwendungsbereichs erhalten“; Paster/Sättele, NStZ 2007, 609, 612. 33 Maier, NStZ 2008, 227; Gaede, GA 2008, 394, 407; Dehne-Niemann, ZIS 2008, 239, 254; Peglau, JR 2008, 80, 82. 34 ZIS 2008, 239, 255. Hervorhebung aus dem Original übernommen. 35 GA 2008, 394, 408. 36 In eine ähnliche Richtung KK-StPO/Kuckein, § 354 Rn. 26c. 37 GA 2008, 394, 408. Insofern verweist Gaede auf EGMR Coeme u.a.v. Belgien, Rep. 2000-VII, (§§ 98 ff., 102 f.). 38 Ausführlich hierzu Dehne-Niemann, ZIS 2008, 239 ff.

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sprechung des Bundesverfassungsgerichts verfassungsimmanente Schranken des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG anerkannt hat. Vielmehr wird geltend gemacht, die Prozessökonomie sei nicht geeignet, als derartige Schranke zu wirken. Sie stelle keinen Wert an sich dar, sondern fungiere lediglich als Mittel zum Schutz der Rechte des Beschuldigten. Damit verfolge sie dasselbe Ziel wie die Garantie des gesetzlichen Richters. Infolge dieser gleichlaufenden Schutzrichtungen könne die Verfahrensbeschleunigung keine Beschränkung der aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG resultierenden Rechte zur Folge haben.39 Aus ähnlichen Gründen wird die vom 2. Senat befürwortete Beschränkung der Garantie des gesetzlichen Richters durch das Erreichen materiell und zeitgerechter Entscheidungen abgelehnt. Beide Positionen stellten konkretisierende Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips dar. Die eine Position unter Berufung auf die andere beschränken zu wollen, bedeute, „rechtsstaatliche Gewährleistungen gegeneinander auszuspielen“.40 Mithin seien keine verfassungsimmanenten Schranken ersichtlich, die das Recht der Beschwerdeführer auf den gesetzlichen Richter begrenzen könnten. Der Gesetzgeber sei bzw. bleibe verpflichtet, die Zuweisung der Entscheidungszuständigkeit „möglichst eindeutig“ zu bestimmen.41 Die Zuständigkeit allein vom Vorliegen einer „angemessenen Rechtsfolge“ abhängig zu machen, genüge diesen Anforderungen nicht.42

c) Revisionsgerichtliches „Prüfverfahren“ Auch die vom 2. Senat geforderte Prüfung der Plausibilität von Tatsachen, die im Rahmen des Anhörungsverfahrens vorgebracht wurden, ist angesichts der vagen Kriterien nicht ohne Widerspruch geblieben. So besteht weitgehend Unklarheit darüber, welchen Maßstab nach Maßgabe des Verfassungsrechts das Revisionsgericht bei der Überprüfung der Plausibilität eines rechtlich erheblichen Vorbringens eigentlich anzulegen hat. So lehnt Gaede ein „Glaubhaftmachungsverfahren“ ausdrücklich ab. Die Revisionsgerichte besäßen schlechthin keine Beweiserhebungsmöglichkeiten. Daher könnten sie nur „mutmaßen und letztlich spekulieren“, ob die vorgetragenen Tatsachen wahr seien oder nicht.43 Demgegenüber wollen andere44 darauf abstellen, ob der Angeklagte die betreffenden Tatsachen glaubhaft gemacht hat. Hierfür stünden ihm dieselben strafprozessualen Mittel zur Verfügung, wie sie beispielsweise im Ablehnungsver___________ 39

Dehne-Niemann, ZIS 2008, 239, 245. Dehne-Niemann, ZIS 2008, 239, 244. 41 Gaede, GA 2008, 394, 408; Dehne-Niemann, ZIS 2008, 239, 245. 42 Gaede, GA 2008, 394, 408. 43 GA 2008, 394, 406. 44 KK-StPO/Kuckein, § 354 Rn. 26 f.; Paster/Sättele, NStZ 2007, 609, 613. 40

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fahren und im Verfahren zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Anwendung fänden.45 Streitig ist auch, welche Konsequenzen das als plausibel erachtete Vorbringen neuer, strafzumessungsrelevanter Tatsachen für das weitere Vorgehen des Revisionsgerichts nach sich zieht. Während die einen der Auffassung sind, das Revisionsgericht müsse in solchen Fällen zwingend an das Tatgericht zurückverweisen,46 halten andere auch eine Bestätigung der Angemessenheit der Strafe durch das Revisionsgericht für möglich,47 wenn die vorgetragenen neuen Strafzumessungstatsachen nicht zu einer abweichenden Bewertung führen.

III. Bewertungen Die überkommene Aufgabenverteilung zwischen Tatgerichten einerseits und Revisionsgerichten andererseits, insbesondere im Hinblick auf Strafzumessungsentscheidungen,48 ist im Hinblick auf die allgemein zu Recht angenommene Bedeutung des persönlichen Eindrucks von dem Angeklagten ohne Zweifel sachgerecht. Ob und inwieweit diese Aufgabenverteilung und die mit ihr einhergehende Grundentscheidung, Kriminalstrafe grundsätzlich nur in einem Verfahren verhängen zu lassen, in dem der (Tat)Richter den Angeklagten selbst erlebt hat, verfassungsrechtlich garantiert ist, ist dagegen keineswegs zweifelsfrei. Immerhin lässt das geltende Recht in begrenztem, wenn auch vielleicht nicht genügend begrenztem Umfang49 etwa die Verhängung von Freiheitsstrafe zu, selbst wenn der Tatrichter keinen persönlichen Eindruck vom Angeklagten gehabt sondern ausschließlich auf der Grundlage der Akten entschieden hat (§ 407 Abs. 2 S. 2 StPO). Die kriminalpolitische Sinnhaftigkeit und die Kompatibilität dieser Möglichkeit des Strafbefehlsverfahren mit Grundentscheidungen im Sanktionenrecht (etwa § 47 Abs. 1 StGB) mag mit (sehr) guten Gründen bezweifelt werden.50 Die Verfassungswidrigkeit einer allein auf Aktenbasis getroffenen richterlichen Entscheidung auf Verhängung von Freiheitsstrafe ist bisher allerdings soweit ersichtlich nicht behauptet worden und ließe sich auch nicht tragfähig begründen. Die Bestätigung einer wenn auch mit Rechtsfehlern behafteten tatrichterlichen Strafzumessungsentscheidung, der ein persönlicher Eindruck des Angeklagten zugrunde lag, durch ein Revisionsgericht nach Maß___________ 45

Paster/Sättele, NStZ 2007, 609, 613. Gaede, GA 2008, 394, 406; ders., HRRS 2007, 292, 293; Paster/Sättele, NStZ 2007, 609, 612; so nun auch BVerfG NStZ 2007, 710. 47 Maier, NStZ 2008, 226, 228. 48 Siehe Bloy, JuS 1986, 585, 593; KK-StPO/Kuckein, Vor § 333 Rn. 1 und § 354 Rn. 26c; LR-StPO/Hanack, 25. Aufl., Vor § 333 Rn. 2 und 5 jeweils m.w.N. 49 Vgl. Loos, FS Remmers, 1995, S. 565, 574 ff. 50 Siehe nur KK-StPO/Fischer, § 407 Rn. 8a. 46

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gabe des diesem erlaubten Prüfungsumfangs dürfte ohne einen eigenen Eindruck des Angeklagten damit kaum per se verfassungswidrig sein. Wegen verfassungs- und völkerrechtlicher Vorgaben können allenfalls die Bedingungen zu diskutieren sein, unter denen ein Revisionsgericht trotz einer rechtsfehlerhaften Strafzumessung durch das Tatgericht von Aufhebung und Zurückverweisung absieht, um selbst die tatrichterliche Sanktionsentscheidung im Ergebnis zu bestätigen. Nochmals: Dem Grundgesetz lässt sich eine Vorgabe, für eine bestimmte Verteilung der Aufgaben zwischen Tatgericht und Revisionsgericht nicht entnehmen, wenn und soweit die Zuweisung der jeweiligen Zuständigkeit Art. 101 Abs. 1 GG genügt.

1. Strafzumessung als Rechtsanwendung Strafzumessung wird mittlerweile seit mehreren Jahrzehnten als Rechtsanwendung verstanden.51 Zwar wohnt ihr notwendigerweise ein Wertungsakt inne. Es kommt aber auf die Subsumtion eines festgestellten Strafzumessungssachverhalts unter vom Gesetzgeber formulierte Strafzumessungskriterien an.52 Insofern hat das Bundesverfassungsgericht eine Kontrolle der Strafzumessung auf Rechtsfehler durch die Revisionsgerichte zu Recht nicht beanstandet. Geht man von dieser Charakterisierung der Strafzumessung aus, ist nicht ersichtlich, weshalb § 354 Abs. 1a S. 1 StPO schon per se wegen eines Eingriff in die Struktur des Revisionsrechts verfassungswidrig (gewesen) sein sollte.53 Verfassungsrecht, das der Legislative eine Erweiterung der Kompetenzen der Revisionsgerichte zu eigener Sachentscheidung mit dem Ziel der Förderung der Prozessökonomie bereits dem Grunde nach versagen sollte, vermag ich nicht zu erkennen. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht selbst die unmittelbare demokratische Legitimation des Gesetzgebers und die Kompetenz für die grundlegenden Entscheidungen im Gemeinwesen hervorgehoben und diesem eine „Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsverantwortung“ zuerkannt.54 Dass es sich bei der Förderung der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege55 um ein von vornherein außerhalb dieses Gestaltungsfreiraums liegendes Ziel handelt, lässt sich angesichts der eigenen verfassungsrechtlichen Fundierung des Topos ___________ 51

Siehe nur LK-StGB/Theune, 12. Aufl., § 46 Rn. 5 m.w.N. BGHSt 5, 57, 59. 53 So oder ähnlich aber KK-StPO/Kuckein, § 354 Rn. 26c; Gaede, GA 2008, 394 ff.; Dehne-Niemann, ZIS 2008, 293 ff.; s. o. II. 3. vor dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts NK-StGB/Streng, 2. Aufl., § 46 Rn. 195; Franke, GA 2006, 261 ff.; Ignor, FS Dahs, S. 281, 305 f. 54 BVerfGE 77, 84, 104; ähnlich BVerfGE 36, 1, 14; s. auch BeckOK-GG/ Morgenthaler, Art. 93 Rn. 5. 55 Zu dieser ausführlich Landau, NStZ 2007, 121, 124 ff. 52

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nicht annehmen. Selbstverständlich reicht die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers aber nur soweit, wie keine (Justizgrund)Rechte des Angeklagten unverhältnismäßig eingeschränkt werden. Inwieweit dieser im Falle der Anwendung des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO in seiner „alten Lesart“ eine Rechtsverletzung zu befürchten hat(te), wird im Folgenden unter Diskussion der jeweils einschlägigen Argumente des Bundesverfassungsgerichts zu prüfen sein.

2. Eigene Strafzumessung durch das Revisionsgericht gem. § 354 Abs. 1a S. 1 StPO bei Änderung nur des Strafausspruchs a) Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren Das Bundesverfassungsgericht stützt seine über den Wortlaut des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO hinausgehende Interpretation auf das Postulat, für den Prozess der Straffindung bedürfe es eines lückenlosen, wahrheitsorientiert ermittelten und aktuellen Strafzumessungssachverhalts.56 Aus diesem Grunde sei dem Angeklagten die Gelegenheit zu geben, zur Strafzumessung durch das Revisionsgericht bzw. zu einer Entscheidung nach § 354 Abs. 1a S. 1 StPO Stellung zu nehmen.57 Dem ist in Bezug auf einen zutreffenden Strafzumessungssachverhalt und wegen Art. 103 Abs. 1 GG auch auf die Gelegenheit für den Angeklagten, zu den strafzumessungsrelevanten Tatsachen Stellung zu nehmen, uneingeschränkt zuzustimmen. Ein verfassungsrechtlich zwingender Grund, zur Gewährleistung dessen ein gesetzlich nicht vorgesehenes Hinweis- und Anhörungsverfahren vorzusehen, lässt sich aber nicht angeben. Hat das Tatgericht den Strafzumessungssachverhalt nach den Regeln des Strengbeweises rechtsfehlerfrei festgestellt, dann dienen diese und nur diese Feststellungen in den hier allein fraglichen Konstellationen auch dem Revisionsgericht als Grundlage für seine Strafzumessung. Denn die rechtsfehlerfreien Tatsachenfeststellungen des Tatrichters sind für das Revisionsgericht unüberprüfbar.58 Nur diese Umstände darf und muss das Revisionsgericht seiner eigenen Entscheidung gemäß § 354 Abs. 1a S. 1 StPO zu Grunde legen. Das Revisionsgericht hat in Bezug auf strafzumessungsrelevante Umstände weder ein Recht zur „Neuermittlung“ von Tatsachen noch obliegt ihm eine entsprechende Pflicht; auch § 354 Abs. 1a S. 1 StPO statuiert eine solche nicht. Die revisionsgerichtliche Prüfung darf sich lediglich mit der Anwendung der relevanten Strafzumessungsregeln auf den festgestellten Sachverhalt durch das Tatgericht auseinandersetzen. Weist ___________ 56

BVerfGE 118, 212, 230. BVerfGE 118, 212, 235 f. 58 Kühne, Strafprozessrecht, 7. Auflage 2007, Rn. 1071; Beulke, Strafprozessrecht, 10. Auflage 2008, Rn. 559. 57

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die die Strafzumessung betreffende Rechtsanwendung einen Rechtsfehler auf, darf nach § 354 Abs. 1a S. 1 StPO das Revisionsgericht eine eigene Bewertung der Angemessenheit der vom Tatrichter verhängten Strafe vornehmen. Alleinige Grundlage dieser Bewertung sind die tatgerichtlichen Feststellungen zur Strafzumessung, zu denen sich der Angeklagte vor dem Tatrichter hat äußern können. Ein gesondertes Hinweis- und Anhörungsverfahren ist insoweit von Verfassungs wegen nicht geboten. Bedeutung könnte einem solchen Verfahren lediglich dann zukommen, wenn das Revisionsgericht seine im Ergebnis die tatrichterliche Strafzumessung bestätigende Entscheidung gemäß § 354 Abs. 1a S. 1 StPO auf strafzumessungsrelevante Tatsachen stützten will, die der Tatrichter gar nicht oder nicht in der jetzt angenommenen Weise festgestellt hat. Selbst in dieser Konstellation erzwingen aber weder das Gebot des rechtlichen Gehörs noch der Fairnessgrundsatz ein verfassungsunmittelbares Hinweis – und Anhörungsverfahren. Bereits nach „nur wortlautgetreuer“ Interpretation des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO steht es dem Angeklagten bzw. seinem Verteidiger offen, zu einem als rechtsfehlerhaft kritisierten Strafausspruch Stellung zu nehmen. Er hat sowohl in der Revisionsbegründung als auch in der Erwiderung auf den Verwerfungsantrag der Staatsanwaltschaft bei dem Revisionsgericht die Möglichkeit, neue, strafzumessungsrelevante Tatsachen geltend zu machen. In derartigen Fällen ist das Revisionsgericht gehalten, die Sache an das Tatgericht zur (Nach)Ermittlung besagter Umstände zurückzuverweisen.59 Führt der Verteidiger zu der Entscheidungsvariante des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO aber nichts weiteres aus, kann dies wie auch sonst in Fällen eines nachträglich vom Verteidiger als lückenhaft erkannten Vortrags keine Rechtsverletzung mit sich bringen.60 Das Revisionsgericht ist daher zu dem gesonderten Hinweis, eine Entscheidung nach § 354 Abs. 1a S. 1 StPO sei geplant, ebenso wenig verpflichtet wie zur Information des Verteidigers über sämtliche ihm im Rahmen des Revisionsverfahren nützenden Vorschriften und Entscheidungsvarianten. Lässt sich damit nach der hier vertretenen Auffassung eine verfassungsunmittelbare Hinweis- und Anhörungspflicht verfassungsrechtlich nicht zwingend fordern, sei noch darauf hingewiesen, dass die praktische Erfüllung dieser Pflicht dem Zweck des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO zuwider liefe. Bei dessen Anwendung nach diesen Vorgaben könnte weder von Ressourcenschonung und noch von einer Beschleunigung des Strafverfahrens die Rede sein.61 Dem Angeklagten müsste nach dem Hinweis auf die geplante Entscheidung nach § 354 Abs. 1a S. 1 StPO eine angemessene Frist zur Äußerung eingeräumt wer___________ 59 BGH StV 2006, 401 f.; BGH NJW 2005, 1813, 1814; BGH NStZ 2005, 285; BGH NStZ-RR 2007, 152. 60 Vgl. BGH v. 27.2.2007 – 5 StR 459/06. 61 BT-Drucks. 15/3482, S. 21.

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den.62 Im Anschluss wäre eine neuerliche Beratung des Revisionsgerichts erforderlich, in der das Vorbringen des Angeklagten gewürdigt wird. Verführe das Revisionsgericht dann nach § 354 Abs. 1a S. 1 StPO, müsste es diese Entscheidung begründen.63 Damit gehen die Forderungen des Bundesverfassungsgerichts nicht nur über das zum Schutz des Rechts des Angeklagten auf ein faires Verfahren Erforderliche hinaus, sondern laufen auch der im Wortlaut des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO Ausdruck finden Intention des Reformgesetzgebers zuwider. Auf eine „verfassungskonforme“ Auslegung lässt sich das vom Bundesverfassungsgericht eingeforderte Hinweis- und Anhörungsverfahren damit nicht stützen.64

b) Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter Demgegenüber ist dem Bundesverfassungsgericht in der Annahme der Vereinbarkeit von § 354 Abs. 1a S. 1 StPO mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 2 S. 1 GG zuzustimmen. Zwar trifft den Gesetzgeber die Pflicht, gerichtliche Zuständigkeiten derart generell-abstrakt gesetzlich zu normieren, dass der im Einzelfall zuständige Richter möglichst eindeutig bestimmt ist.65 § 354 Abs. 1a S. 1 StPO scheint diese Anforderungen vordergründig nicht zu erfüllen. Denn die Vorschrift stellt für den Fall einer trotz eines Rechtsfehlers des Tatrichter bei der Strafzumessung als angemessen erachteten Strafe in das Ermessen des Revisionsgerichts, ob dieses in der Sache selbst entscheidet oder diese an das Tatgericht zurückverweist. Die Bestimmung zumindest des Umfangs der eigenen Befugnis zur Sachentscheidung nach Ermessen eines der nach gesetzlichen Anordnung zuständigen Gerichte, birgt an sich die Gefahr einer gewissen Entwertung der Garantie des gesetzlichen Richters.66 Diese mögliche Beeinträchtigung könnte aber durch die vom Gesetzgeber als Ziel des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO genannte Prozessökonomie überwogen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat diese gesetzgeberische Erwägung aufgenommen und betont, § 354 Abs. 1a S. 1 StPO bezwecke „die Erhaltung der Fähigkeit der Strafrechtspflege zu sowohl materiell gerechten als auch zeitgerechten Entscheidungen“.67 Zwar ist es verfassungsrechtlich nicht unbedenklich, Beschränkungen der Garantie des gesetzlichen Richters mit dem Ziel des ___________ 62

Paster/Sättele, NStZ 2007, 609, 613 schlagen in Anlehnung an § 349 Abs. 3 S. 2 StPO eine Frist von (mindestens) zwei Wochen vor. 63 BVerfGE 118, 212, 238 f. 64 Insoweit ist der von Seiten der Literatur geübten Kritik zuzustimmen, s. o. Fn. 28. 65 BVerfGE 6, 45, 50 f.; 30, 149, 152 f.; 95, 322, 327 ff. 66 So zu Recht BVerfGE 118, 212, 240. 67 BVerfGE 118, 212, 240.

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Erreichens materiell gerechter Entscheidungen rechtfertigen zu wollen.68 Ob die Prozessökonomie aber tatsächlich von vornherein ungeeignet ist, die Beeinträchtigung anderer Rechtspositionen zu rechtfertigen, ist nicht ausgemacht. Jedenfalls in den hier fraglichen Konstellationen liegt allenfalls eine marginale Kollision mit dem Gebot des gesetzlichen Richters vor. Die Befugnis des Revisionsgerichts, außerhalb der bis zu der Reform durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz bereits in § 354 Abs. 1 StPO normierten Fallgruppen eigener Sachentscheidung, bei als im Ergebnis angemessen bewerteter tatrichterlicher Strafzumessung von (teilweiser) Aufhebung und Zurückverweisung abzusehen, beruht auf der Rechtsanwendung eines Rechtsbegriffs, der eine einzelfallbezogene, willkürliche Handhabung weitestgehend ausschließen lässt. Immerhin setzen auch die überkommenen Fallgruppen der eigenen Sachentscheidung in § 354 Abs. 1 StPO, wie sich insbesondere an den einzelnen Verfahrenshindernissen zeigt, einen Akt der richterlichen Rechtsanwendung voraus, der darüber bestimmt, ob das Revisionsgericht selbst entscheidet oder Aufhebung und Zurückverweisung zu erfolgen hat. Zudem ist das Revisionsgericht in keiner Weise mit der Sache vorbefasst gewesen. Die Gefahr einer Parteilichkeit oder Unsachlichkeit des über die Zuständigkeit entscheidenden Gerichts dürfte daher ausgeschlossen sein.69 Die in § 354 Abs. 1a S. 1 getroffene Regelung ist daher mit Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar und bewegt sich innerhalb der dem Gesetzgeber von Verfassung wegen eingeräumten „Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsverantwortung“.

IV. Ausblick Wertet man die revisionsgerichtliche Rechtsprechung in Strafsachen aus der Zeit nach dem 14. Juni 2007 aus, werden unterschiedliche „Umgehungsstrategien“ der Fachgerichte sichtbar, die jedoch im Kern darauf abzielen, § 354 Abs. 1a S. 1 StPO nicht mehr zur Anwendung zu bringen sondern bei tatrichterlichen Rechtsfehlern in der Strafzumessung zu prüfen, ob das angefochtene Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht. In der Sache bedeutet das eine Rückkehr zu der vor der Einführung des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO bestehenden Rechtslage. So führte der 4. Strafsenat des BGH im November 2007 aus, eine eigene Sachentscheidung des Revisionsgerichts komme im Anschluss an BVerfGE 118, 212 ff. regelmäßig nicht mehr in Frage, wenn die tatsächlichen Grundlagen für eine Strafzumessung fehlten oder wenn eine umfassende neue Gesamtabwägung mit eigener Gewichtung aller maßgeblichen Strafzumessungsgesichts___________ 68 Ausführlich zu dem Aspekt der materiellen Gerechtigkeit Dehne-Niemann, ZIS 2008, 239, 244 f. 69 Ebenso Paster/Sättele, NStZ, 2007, 609, 614.

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punkte erforderlich erscheine. Das sei jedenfalls dann der Fall, wenn der Strafzumessung im angefochtenen Urteil allgemein ein rechtsfehlerhafter Maßstab zu Grunde liege.70 An anderer Stelle wird § 354 Abs. 1a StPO bei Rechtsfehlern in der Strafzumessung zwar zitiert. Für seine Anwendung71 wird aber der Sache nach darauf abgestellt, ob auszuschließen ist, dass sich der Rechtsfehler bei der Strafzumessung in einer anderen als der vom Revisionsgericht festgesetzten Art und Weise ausgewirkt hat.72 Teils werden parallele Erwägungen im Zusammenhang mit einer entsprechenden Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO angestellt.73 In einem Fall, in dem gleichzeitig der Schuldspruch geändert worden war, prüfte der BGH ebenfalls, ob auszuschließen sei, dass das Tatgericht auf eine „noch niedrigere“ Strafe erkannt hätte und hielt trotz Teileinstellung gem. § 154 Abs. 2 StPO den Strafausspruch aufrecht.74 Wie bereits angesprochen lässt sich also beobachten, dass die Revisionsgerichte wieder dazu übergegangen sind, die „Beruhensfrage“ zu stellen und in der Sache nach wie vor dem 1. Justizmodernisierungsgesetz §§ 354 Abs. 1 analog, 337 StPO anzuweisen. Die Durchführung eines Hinweis- und Anhörungsverfahrens, wie vom Bundesverfassungsgericht als Voraussetzung für die Anwendung von § 354 Abs. 1a S. 1 StPO gefordert, lässt sich der jüngeren veröffentlichten Rechtsprechung der Revisionsgerichte nicht entnehmen. Die Vermutung, der § 354 Abs. 1a StPO würde nach der Statuierung höherer verfahrensmäßiger Anforderungen durch den Beschluss des 2. Senats seltener Anwendung finden als vorher,75 hat sich also – abgesehen von seiner inhaltlich unangebrachten Zitierung in einzelnen Entscheidungen – bestätigt. Das in der Praxis der Revisionsgerichte verbreitete Vorgehen nach §§ 354 Abs. 1 analog, 337 StPO war in der Rechtswissenschaft allerdings schon vor dem In-Kraft-Treten des 1. Justizmodernisierungsgesetzes beanstandet worden. Diese Kritik setzt sich nun, da die „Beruhenslösung“ einen zweiten Frühling er___________ 70 BGH NStZ 2008, 233 f.; NStZ-RR 2008, 182; ähnlich zurückhaltend OLG Nürnberg, Beschluss v. 21.5.2008 – 2 St Ss 11/08, BeckRS 10602. 71 Und zwar die beider Sätze, d. h. auch einer Herabsetzung der Strafe gem. Satz 2, die sich folgerichtig an denselben Maßstäben zu orientieren hat wie die Aufrechterhaltung der Strafe nach Satz 1, BVerfG NStZ 2007, 710. 72 BGH, Beschluss v. 19.3.2009 – 4 StR 53/09, BeckRS 2009 10583; BGH NStZRR 2009, 74 (im Zusammenhang mit § 354 Abs. 1a S. 2 StPO); OLG Brandenburg, Beschluss v. 9.1.2009 – 1 Ss 74/08, 1 Ws 203/08, BeckRS 2009 05969: Anwendung des § 354 Abs. 1a StPO „entsprechend“. 73 OLG Celle, Beschluss v. 11.2.2009 – 32 Ss 225/08, BeckRS 2009 06274. 74 KBGH ZIS 2008, 583. Hier stützt der BGH die Aufrechterhaltung der Strafe direkt darauf, dass das Tatgericht sicher keine niedrigere Strafe verhängt hätte. Der Senat erachtete besagte Strafe „aber auch unter Zugrundelegung des geänderten Schuldspruchs für angemessen i.S.d. § 354 Abs. 1a S. 1 StPO.“ Kritisch insofern Dehne-Niemann, ZIS 2008, 538, 539 f. 75 Nachweise wie Fn. 32.

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lebt, fort.76 Dehne-Niemann macht sogar geltend, die „Beruhenslösung“ erfordere ebenso wie die Vorgehensweise über § 354 Abs. 1a S. 1 StPO eine eigene Strafzumessung des Revisionsgerichts. Daher müsste auch bei einer Aufrechterhaltung des Strafausspruchs nach Maßgabe von §§ 354 Abs. 1 analog, 337 StPO ein Hinweis- und Anhörungsverfahren durchgeführt und die eigene Sanktionsentscheidung des Revisionsgerichts begründet werden. Mit anderen Worten müssten die Voraussetzungen erfüllt sein, die der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 14. Juni 2007 an eine Strafzumessungsentscheidung des Revisionsgerichts geknüpft hat.77 Angesichts dieser Angriffe von Seiten der Literatur erscheint umso interessanter, wie das Bundesverfassungsgericht mit der „fragwürdigen Brüskierung“78 durch die Wiederbelebung der Lösung über §§ 354 Abs. 1 analog, 337 StPO umgehen wird. Zwar ist die vor Einführung des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO übliche Praxis der Revisionsgerichte, den Strafausspruch trotz Rechtsfehlers in der Strafzumessung bzw. trotz Änderung des Schuldspruchs aufrechtzuerhalten, sofern auszuschließen war, dass das Tatgericht auf eine niedrigere Strafe erkannt hätte, vom Bundesverfassungsgericht gebilligt worden.79 Dass dieses nach der Betonung der Notwendigkeit eines lückenlosen, wahrheitsorientiert ermittelten und aktuellen Strafzumessungssachverhalts im Beschluss vom 14. Juni 2007 auch jetzt noch zu demselben Ergebnis gelangte, ist jedoch nicht sicher. Wünschenswert wäre es aber, wenn das Bundesverfassungsgericht die Anforderungen, die die Justizgrundrechte an das Strafverfahren bzw. an das Revisionsverfahren stellen, in Zukunft nicht überspannen, sondern in einer Art und Weise beurteilen würde, die sowohl den Rechten des Angeklagten als auch den praktischen Bedürfnissen der Justiz gerecht wird. Jedenfalls auf der Grundlage rechtsfehlerfreier Feststellungen des Tatrichters zum Strafzumessungssachverhalt bestehen weder gegen die Anwendung von § 354 Abs. 1a S. 1 StPO noch gegen die überkommene „Beruhenslösung“ durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken.

___________ 76 Dehne-Niemann, ZIS 2008, 538 ff.; Gaede, HRRS 2007, 292, 293; diesbezgl. weniger kritisch Peglau, JR 2008, 80, 82; Maier, NStZ 2008, 227. 77 ZIS 2008, 583, 584 f. 78 Dehne-Niemann, ZIS 2008, 583, 584; Gaede, HRRS 2007, 292, 293. 79 BVerfGK 3, 20 f.; s. auch BVerfGK 2, 207.

Zur Entwicklung der Vorschriften über die Unmittelbarkeit in der Strafprozessordnung Von Peter Rieß

I. Einleitung Im „reformierten Strafprozess“, der mit der 1879 in Kraft getretenen Reichsstrafprozessordung1 als dem reichseinheitlichen Schlussstein in der Überwindung des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses seinen Abschluss fand, gehört der Grundsatz der Unmittelbarkeit, verbunden mit den Maximen der Mündlichkeit und der Konzentration zu den tragenden Strukturprinzipien für die Hauptverhandlung, die wiederum als Kernstück und Höhepunkt des gesamten Strafverfahrens verstanden wurde.2 Bereits der damalige Gesetzgeber setzte jedoch die Unmittelbarkeitsmaxime nicht idealtypisch um, sondern beschränkte sie in erster Linie auf das Verhältnis von Zeugen- zum Urkundenbeweis und versah sie mit einer Reihe von Ausnahmen und Einschränkungen. Ihre systemspezifische Ausprägung erhielt sie in den §§ 249 – 256 StPO.3 Sie gelten in deutlich veränderter Form noch heute. Gerade wegen dieser Änderungen wird die Tragfähigkeit des Unmittelbarkeitsgrundsatzes als leitendes Prinzip unseres Strafverfahrens zunehmend bezweifelt. Frister4 hat die Ersetzung der §§ 250 – 256 StPO durch eine das Beweisantragsrecht ergänzende knappe Neufassung vorgeschlagen und Weigend5 tritt für eine grundlegende Neustrukturierung ein, die sich an den Bedürfnissen des Einzelfalles orientiert. Diese Diskussion soll nachfolgend nicht weitergeführt werden. Mein Beitrag verfolgt das bescheidenere Ziel, die Entwicklung der das Unmittelbarkeitsprinzip enthaltenen gesetzlichen Vorschriften seit dem Inkrafttreten der StPO dar___________ 1

Vom 1. 2. 1877 (RGBl. S. 253). So etwa Roxin, Strafverfahrensrecht, § 42 A bis zur 20. Aufl. 1987; deutliche Relativierung in der (aktuellen) 25. Aufl. 1998. 3 Die Entwicklung bis zur Verabschiedung der StPO von 1877 sowie der Beratungsgang hierbei sind ausführlich bei Geppert, Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, 1979, behandelt; s. ferner Stüber, Die Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, 2005; SK-StPO/Velten, 60. Lief. 2008, Vor § 250. 4 Frister, FS Fezer, 2008, S. 211 ff. 5 Weigend, FS Eisenberg, 2009, S. 657 ff. 2

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zustellen und legt hierbei den Schwerpunkt auf die Kernregelungen in den §§ 249 – 256 StPO.6 Einbezogen werden die in der Zeit von 1895 bis 1939 vorgelegten umfassenderen amtlichen Reformentwürfe, insbesondere deshalb, weil sie gegenüber der lange Zeit sehr zurückhaltenden Gesetzesentwicklung variabler sind und teilweise ein möglicherweise noch heute nutzbares Innovationspotential enthalten.

II. Die Ursprungsfassung der §§ 249 – 256 StPO Die die Reichweite des Unmittelbarkeitsprinzips in der Strafprozessordung im Kern bestimmenden gesetzlichen Vorschriften finden sich in den (heutigen) §§ 249 – 256 StPO.7 Sie hatten bei ihrem Inkrafttreten folgenden Wortlaut: § 248: Urkunden und andere als Beweismittel dienende Schriftstücke werden in der Hauptverhandlung verlesen. Dies gilt insbesondere von früher ergangenen Strafurteilen, von Straflisten und von Auszügen aus Kirchenbüchern und Personenstandsregistern und findet auch Anwendung auf Protokolle über die Einnahme des richterlichen Augenscheins. § 249: Beruht der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person, so ist letztere in der Hauptverhandlung zu vernehmen. Die Vernehmung darf nicht durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls ersetzt werden. § 250: (1) Ist ein Zeuge, Sachverständiger oder Mitbeschuldigter verstorben oder in Geisteskrankheit verfallen, oder ist sein Aufenthalt nicht zu ermitteln gewesen, so kann das Protokoll über seine frühere richterliche Vernehmung verlesen werden. Dasselbe gilt von dem bereits verurteilten Mitschuldigen. (2) In den im § 222 bezeichneten Fällen8 ist die Verlesung des Protokolls über die frühere Vernehmung statthaft, wenn letztere nach Eröffnung des Hauptverfahrens, oder wenn sie in dem Vorverfahren unter Beobachtung der Vorschrift des § 1919 erfolgt ist. (3) Die Verlesung kann nur durch Gerichtsbeschluss angeordnet, auch muss der Grund derselben verkündet und bemerkt werden, ob die Beeidigung der vernommenen Person stattgefunden hat. An den Bestimmungen über die Notwendigkeit der Beeidigung wird hierdurch für diejenigen Fälle, in denen die nochmalige Vernehmung ausführbar ist, nichts geändert.

___________ 6

Eine knappe Darstellung zu einigen Randbereichen unter V. Zur Entstehungsgeschichte und der Entwicklung bei den die Konzentrationsmaxime konstituierenden Vorschriften über die Unterbrechung der Hauptverhandlung s. Mandla, Die Unterbrechung der strafrechtlichen Hauptverhandlung, 2005, S. 106 ff. 7 Bis zur Neubekanntmachung 1924 nach der Emminger-Reform als §§ 248 – 255 StPO. 8 Entsprach weitgehend dem heutigen § 223. 9 § 191 betraf die Zeugenvernehmung in der Voruntersuchung; sein Inhalt entsprach etwa dem heutigen § 168c Abs. 2, 4 und 5.

Unmittelbarkeit in der Strafprozessordnung

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§ 251: Die Aussage eines vor der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen, welcher erst in der Hauptverhandlung von seinem Recht, das Zeugnis zu verweigern, Gebrauch macht, darf nicht verlesen werden. § 252: (1) Erklärt ein Zeuge oder Sachverständiger, dass er sich einer Tatsache nicht mehr erinnert, so kann der hierauf bezügliche Teil des Protokolls über seine frühere Vernehmung zur Unterstützung seines Gedächtnisses verlesen werden. (2) Dasselbe kann geschehen, wenn ein in der Vernehmung hervortretender Widerspruch mit der früheren Aussage nicht auf andere Weise ohne Unterbrechung der Hauptverhandlung festgestellt oder gehoben werden kann. § 253: (1) Erklärungen des Angeklagten, welche in einem richterlichen Protokolle enthalten sind, können zum Zwecke der Beweisaufnahme über ein Geständnis verlesen werden. (2) Dasselbe kann geschehen, wenn ein in der Vernehmung hervortretender Widerspruch mit der früheren Aussage nicht auf andere Weise ohne Unterbrechung der Hauptverhandlung festgestellt oder gehoben werden kann. § 254: In den Fällen der §§ 252, 253 ist die Verlesung und der Grund derselben auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder des Angeklagten im Protokoll zu erwähnen. § 255: (1) Die ein Zeugnis oder Gutachten enthaltenden Erklärungen öffentlicher Behörden mit Ausnahme von Leumundszeugnissen, desgleichen ärztliche Atteste über Körperverletzungen, welche nicht zu den schweren gehören, können verlesen werden. (2) Ist das Gutachten einer kollegialen Fachbehörde eingeholt worden, so kann das Gericht die Behörde ersuchen, eines ihrer Mitglieder mit der Vertretung in der Hauptverhandlung zu beauftragen und dem Gerichte zu bezeichnen.

Verglichen mit der gegenwärtigen Fassung10 sind damit auch im Wortlaut unverändert die (heutigen) §§ 250, 252, 253, 254 und 255 sowie § 249 Abs. 1 und § 256 Abs. 2 StPO. Die – wie zu zeigen sein wird – beträchtlichen inhaltlichen Veränderungen sind durch den Ausbau weniger Ausnahmevorschriften erreicht worden,

III. Gesetzesentwicklung Geändert worden sind § 251 und § 256 Abs. 1, hinzugekommen sind § 249 Abs. 2 und § 255a StPO. Diese Gesetzesänderungen stammen ganz überwiegend aus jüngerer bis jüngster Zeit. Sie erfolgen punktuell, lockern ausnahmslos den in der Ursprungsfassung verhältnismäßig weit gespannten Grundsatz des Vorrangs des Zeugenbeweises vor dem Urkundenbeweis in unterschiedlicher Weise auf und reduzieren im Urkundenbeweis das Verlesungsgebot. Legislatorisches Motiv ist regelmäßig das (praktische) Bedürfnis nach Verfahrensvereinfachung und Justizentlastung. ___________ 10

Nach dem Gesetzesstand vom Ende der 16. Legislaturperiode im September 2009.

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1. Urkundenverlesung und Selbstleseverfahren Die Ursprungsfassung des § 249 StPO blieb bis Ende 1978 unverändert. Durch das StVÄG 197911 wurde Absatz 2 in folgender Fassung angefügt: (2) 1Von der Verlesung einer Urkunde oder eines anderen als Beweismittel dienenden Schriftstücks kann abgesehen werden, wenn die Staatsanwaltschaft, der Verteidiger und der Angeklagte hierauf verzichten. 2Der wesentliche Inhalt soll mitgeteilt werden. 3Die Richter müssen vom Wortlaut Kenntnis genommen haben; Schöffen ist hierzu jedoch erst nach Verlesung des Anklagesatzes Gelegenheit zu geben. 4Die Beteiligten müssen Gelegenheit gehabt haben, vom Wortlaut Kenntnis zu nehmen. 5Die Feststellungen hierüber und der Verzicht sind in das Protokoll aufzunehmen. 6Auf Verlesungen nach den §§ 251, 253, 254 und 256 findet Satz 1 keine Anwendung.

Ihre jetzige Fassung erhielt die Vorschrift weitgehend 1987 durch das StVÄG 198712. Es entfielen namentlich das Verzichtserfordernis, die Bestimmung über die Mitteilung des wesentlichen Inhalts der Urkunde sowie die zeitliche Begrenzung der den Schöffen zu gebenden Gelegenheit zur Kenntnisnahme. Ende 1994 wurden durch das VerbrBekG13 in der die Unanwendbarkeit bestimmenden Rückausnahme die §§ 251 und 256 StPO gestrichen.

2. Vernehmungsersatz durch Urkundenverlesung (§ 251 StPO) Obwohl § 250 StPO mit seinem grundsätzlichen Verbot der Ersetzung des Personalbeweises durch den Urkundenbeweis bis heute unverändert geblieben ist, wird seine Reichweite durch die ihn einschränkenden Ausnahmeregelungen, vor allem durch § 251 StPO, bestimmt. Insoweit hat sich die Rechtslage erheblich verändert. Die ziemlich restriktive Ursprungsfassung blieb bis 1943 unverändert. Danach erhielt die Vorschrift durch die 3. VereinfVO14 folgende Fassung: § 251: (1) Die Vernehmung eines Zeugen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten darf durch die Verlesung der Niederschrift über seine frühere richterliche Vernehmung ersetzt werden,

___________ 11

Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 (StVÄG 1979) v. 5.10.1978 (BGBl. I S. 1645), Art. 1 Nr. 21. 12 Strafverfahrensänderungsgesetz 1987 (StVÄG 1987) v. 27.1.1987 (BGBl. I S. 475), Art. 1 Nr. 16. 13 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozessordnung und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz) v. 28.10.1994 (BGBl. I S. 3186), Art. 4 Nr. 6. 14 Dritte Verordnung zur Vereinfachung der Strafrechtspflege v. 29.5.1943 (RGBl. I S. 342), Art. 4. Es handelt sich um die zeitlich erste Änderung der Vorschriftengruppe und die einzige im gesamten Zeitraum von 1879 – 1945.

Unmittelbarkeit in der Strafprozessordnung

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1. wenn der Zeuge, Sachverständige oder Mitbeschuldigte verstorben oder in Geisteskrankheit verfallen ist oder sein Aufenthalt nicht zu ermitteln ist; 2. wenn dem Erscheinen des Zeugen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten in der Hauptverhandlung für eine längere oder ungewisse Zeit Krankheit, Gebrechlichkeit oder andere, nicht zu beseitigende Hindernisse entgegenstehen; 3. wenn dem Zeugen oder Sachverständigen das Erscheinen in der Hauptverhandlung wegen des damit verbundenen Zeitverlustes oder wegen der Schwierigkeit der Verkehrsverhältnisse nicht zugemutet werden kann; 4. wenn der Staatsanwalt, der Verteidiger und der Angeklagte mit der Verlesung einverstanden sind. (2) Ist ein Zeuge, Sachverständiger oder Mitbeschuldigter verstorben oder kann er aus einem anderen Grund in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden, so dürfen auch Niederschriften über eine anderweite Vernehmung sowie Urkunden, die eine von ihm stammende schriftliche Äußerung enthalten, verlesen werden. (3) [wie geltende Fassung] (4) [wie geltende Fassung]

Das VereinhG15 übernahm 1950 die Vorschrift weitgehend unverändert, lediglich Absatz 1 Nr. 3 erhielt folgende Fassung: 3. [wenn] dem Zeugen oder Sachverständigen das Erscheinen in der Hauptverhandlung wegen großer Entfernung unter Berücksichtigung der Bedeutung seiner Aussage nicht zugemutet werden kann.

Die Erweiterungen gegenüber dem Wortlaut der Ursprungsfassung16 liegen namentlich darin, dass die formellen Voraussetzungen bei der Verlesbarkeit richterlicher Vernehmungen teilweise gelockert und diese im allseitigen Einverständnis ermöglicht (Absatz 1 Nr. 4) und bei Unerreichbarkeit auch die Verlesung nichtrichterlicher Protokolle zugelassen wurde (Absatz 2). In dieser Form galt § 251 StPO bis Ende 1986, also mehr als 35 Jahre. Durch das StVÄG 198717 wurde in Absatz 2 folgender, erstmals auf die Mitwirkung eines Verteidigers abstellender neuer Satz 1 eingefügt: 1

Hat der Angeklagte einen Verteidiger, so kann die Vernehmung eines Zeugen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten durch die Verlesung einer Niederschrift über eine andere Vernehmung oder einer Urkunde, die eine von ihm stammende schriftliche Erklärung enthält, ersetzt werden, wenn der Staatsanwalt, der Verteidiger und der Angeklagte damit einverstanden sind.

___________ 15 Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12.9.1950 (BGBl. S. 455), Art. 3 Nr. 113; s. zu diesem und seiner Bedeutung näher Rieß, FS Helmrich, 1994, S. 127 ff. 16 Sie waren teilweise bereits in der Rechtsprechung entwickelt worden. 17 Fn. 12, Art. 1 Nr. 17.

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2004 erhielt die Vorschrift durch das 1. JuMoG18 ihre derzeitige Fassung. Die inhaltliche Erweiterung liegt (allein) darin, dass (Absatz 1 Nr. 3) der Urkundenbeweis uneingeschränkt zum Beweis über das Vorliegen und die Höhe eines Vermögensschadens zugelassen wird. Darüber hat die Regelung eine neue Systematik dahingehend erhalten, dass in Absatz 1 generell die Ausnahmen vom Verwertungsverbot des § 250 StPO bestimmt werden und dies in Absatz 2 für richterliche Vernehmungen erweitert wird, was angesichts der von 1877 bis 1943 bestehenden alleinigen Privilegierung richterlicher Vernehmungen bemerkenswert erscheint.

3. Verwertung von Video-Aufzeichnungen (§ 255a StPO) § 255a StPO wurde 1998 durch das ZSchG19 geschaffen und ist in seiner Reichweite und dogmatischen Einordnung erkennbar durch den dieser Gesetzgebung zugrunde liegenden speziellen Anlass geprägt. Die Regelung ist seither dreimal geändert worden. Reine Anpassungsänderungen an die Neuordnung von Tatbeständen im materiellen Strafrecht erfolgten Ende 2003,20 darüber hinausgehende Anwendungserweiterungen des Absatzes 2 im Jahre 2005 und im Jahre 2009.21

4. Verlesbarkeit von Gutachten (§ 256 StPO) § 256 StPO blieb in seiner Ursprungsfassung bis Ende 1974 unverändert; sein Absatz 2 ist bis heute nicht geändert worden. Der Wortlaut des Absatzes 1 wurde zunächst durch das 1. StVRG22 dahingehend erweitert, dass den in ihm genannten öffentlichen Behörden die Ärzte eines gerichtsärztlichen Dienstes gleichgestellt wurden und dass folgender Satz angefügt wurde: ___________ 18 Erstes Gesetz zur Modernisierung der Justiz (1. Justizmodernisierungsgesetz) vom 24.8.2004 (BGBl. I S. 2198), Art. 3 Nr. 12. 19 Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung und der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte (Gesetz zum Schutz von Zeugen bei Vernehmungen im Strafverfahren und zur Verbesserung des Opferschutzes; Zeugenschutzgesetz – ZSchG) vom 30.4.1998 (BGBl. I S. 820), Art. 1 Nr. 6. 20 Gesetz zur Änderung von Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften vom 27.12.2003 (BGBl. I S. 3007), Art. 3 Nr. 7. 21 37. Strafrechtsänderungsgesetz vom 11.2.2005 (BGBl. I S. 239), Art. 2 Nr. 5 (Einbeziehung der §§ 232 – 233a StGB); 2. Opferrechtsreformgesetz vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2280), Art. 1 Nr. 35 (Anhebung der Altersgrenze von 16 auf 18 Jahre). 22 Erstes Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG) vom 9.12.1974 (BGBl. I S. 3393), Art. 1 Nr. 75.

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1

Dasselbe gilt für Gutachten über die Auswertung eines Fahrtschreibers, die Bestimmung der Blutgruppe oder des Blutalkoholgehalts einschließlich seiner Rückrechung sowie für ärztliche Berichte zur Entnahme von Blutproben.

Seine jetzige Fassung erhielt Absatz 1 2004 durch das 1. JuMoG.23 Erhebliche sachliche Erweiterungen enthalten dabei die Verwertbarkeit24 der Gutachten aller allgemein vereidigter Sachverständiger und aller Erklärungen (Dokumentationen) der Strafverfolgungsbehörden (im Klartext: der Polizei) über Ermittlungsmaßnahmen außer von Vernehmungsniederschriften. Einschränkungen können (und müssen) künftig allein aus der Amtsaufklärungspflicht hergeleitet werden.

IV. Reformvorschläge in den amtlichen Entwürfen Alle bis 193925 entwickelten amtlichen Entwürfe mit umfangreicheren Änderungen des Strafverfahrensrechts26 enthalten Änderungsvorschläge zu den hier zu behandelnden Vorschriften. Die im Entwurf 1895 und im Entwurf 1930 sind punktueller Art. Dagegen haben die übrigen drei Entwürfe jeweils den Ge___________ 23

Fn. 18, Art. 3 Nr. 13. Der Gesetzeswortlaut spricht von „Verlesung“, doch bleibt zu berücksichtigen, dass das Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 StPO hierfür seit 1994 (s. oben bei Fn. 10) zur Verfügung steht. 25 Seither sind solche Entwürfe in diesem Bereich nicht mehr vorgelegt worden. Auch in den von privaten Gremien vorgelegten größeren Entwürfen ist diese Thematik bisher nicht behandelt worden. 26 Herangezogen und ausgewertet sind folgende Entwürfe: Entwurf 1895: Gesetz betreffend Änderungen und Ergänzungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozessordnung, (Reichstagsverhandlungen, 12. Legislaturperiode, II Session, Aktenstück Nr. 7, Bericht der XI. Kommission, Aktenstück Nr. 294, Beschlüsse des Reichstages in zweiter Beratung, Aktenstück 587). Entwurf 1909: Entwurf einer Strafprozessordnung und einer Novelle zum GVG (Reichstagsverhandlungen, 12. Legislaturperiode, II Session, Aktenstück Nr. 7), Nachdruck in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Materialien zur Strafrechtsreform, 1960, Bd. 12, mit Bericht der 7. Kommission des Reichstages (Reichstagsverhandlungen, 12. Legislaturperiode, II Session, Aktenstück Nr. 638), Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 13. Entwurf 1919: Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen, Nachdruck in Materialien zur Strafrechtsreform Bd. 14 und bei Schubert/Regge, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts, 1. Abt., Bd. 4 (1999), S. 51 ff. Entwurf 1930: Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz (Reichstagsvorlage), Nachdruck in Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 14 und bei Schubert/Regge, 1. Abt. Bd. 5. Entwurf 1939: Entwurf einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung; Abdruck bei Schubert/Regge, 3. Abt. Bd. 1 (1991), S. 297 ff.; in weiteren Bänden auch die Protokolle der (damaligen) amtlichen Strafprozesskommission. Der Entwurf ist seinerzeit nicht veröffentlicht worden. Ein im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Strafrechtsreform 1960 hergestellter Nachdruck ist nicht in die Zählung der Materialien aufgenommen und nur beschränkt verteilt worden. 24

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samtkomplex neu regeln wollen, und zwar mit einer unterschiedlichen Grundposition und – auch soweit diese gegenüber der Ursprungsfassung nicht tief greifend in Frage gestellt worden ist – mit einem teilweise erheblich abweichenden Sprachgebrauch und einer unterschiedlichen Systematik. Deshalb werden nachfolgend die Vorschläge dieser drei Entwürfe zunächst im zusammenhängenden Wortlaut wiedergegeben. In einem zweiten Unterabschnitt wird (kurz) dargestellt, welche Lösungen zu den einzelnen Sachbereichen vorgeschlagen worden sind.

1. Wortlaut der Entwürfe 1909, 1919 und 1939 a) Entwurf 1909 Der Entwurf 1909 enthielt eine vollständige Neufassung der StPO. Er ist im Reichstag von der zuständigen Justizkommission von März 1910 bis Anfang 1911 durchberaten und teilweise geändert worden. Die Beratungen im Plenum des Reichstages wurde 1911 abgebrochen und nicht wieder aufgenommen.27 Bei den Regelungen zum Unmittelbarkeitsprinzip orientierte sich der Entwurf an der überkommenen Konzeption, die in der Begründung nicht näher gerechtfertigt wird; jedoch werden teilweise Präzisierungen, auch in systematischer und sprachlicher Hinsicht, vorgenommen. In der Fassung der Beschlüsse der Justizkommission des Reichstages war folgende Fassung vorgesehen: § 56: (1) Zeugen, die das Zeugnis verweigern dürfen, können das Recht noch während oder nach der Vernehmung geltend machen sowie einen Verzicht darauf jederzeit widerrufen. (2) Hat der Zeuge schon ausgesagt, so darf der Inhalt der Aussage im weiteren Verfahren nicht berücksichtigt werden. § 239: Urkunden und andere Schriftstücke müssen verlesen werden, soweit ihr Inhalt zum Beweise dienen soll.28 Wenn keiner der Prozessbeteiligten widerspricht, kann stattdessen der Vorsitzende den Inhalt mitteilen. § 240: Personen, deren Wahrnehmung zum Beweise dienen sollen, müssen vernommen werden, soweit nicht dieses Gesetz ein anderes bestimmt; stattdessen schriftliche Erklärungen oder Protokolle über frühere Vernehmungen zu verlesen, ist unzulässig. § 241: Das Protokoll über einen richterlichen Augenschein kann verlesen werden, wenn die gesetzlichen Vorschriften beobachtet sind. § 242: Ist die Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen in der Hauptverhandlung unmöglich oder besonders erschwert und ist er aus diesem Grunde nach

___________ 27

Siehe näher m. w. N. LR-StPO/Kühne, 26. Aufl. 2006, Einl. Abschn. F Rn. 20. Nach der Regierungsvorlage sollte Satz 1 lauten: „Urkunden und andere Schriftstücke, deren Inhalt zum Beweise dienen soll, müssen verlesen werden.“ 28

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den §§ 219 oder 234 von einem Richter vernommen worden,29 so kann das Gericht anordnen, dass das Protokoll verlesen wird. War ein Prozessbeteiligter oder der Verteidiger nicht rechtzeitig von Ort und Zeit der Vernehmung30 benachrichtigt worden, so darf das Protokoll nur mit seiner Zustimmung verlesen werden. § 243: (1) Ist ein Zeuge oder Sachverständiger verstorben oder sein Aufenthalt nicht zu ermitteln oder ist wegen seines Zustandes die Vernehmung in absehbarer Zeit nicht möglich, so kann, wenn er schon von einem Richter vernommen war, das Gericht anordnen, dass das Protokoll verlesen wird. (2) Das Gleiche gilt von Personen, die beschuldigt sind, an einer Tat, die den Gegenstand der Untersuchung bildet, beteiligt zu sein, oder die deswegen bereits verurteilt sind. § 244: (1) Hat ein Zeuge oder Sachverständiger bei einer früheren Vernehmung Tatsachen bekundet, deren er sich in der Hauptverhandlung nicht mehr erinnert, so kann ihm, um sein Gedächtnis zu unterstützen, die frühere Aussage vorgehalten werden. Das Gleiche gilt, wenn seine Aussage mit der früheren Aussage in Widerspruch steht. (2) Ist der Zeuge oder Sachverständige von einem Richter vernommen worden, so kann, soweit erforderlich, das Gericht anordnen, dass das Protokoll verlesen wird, um den Inhalt der früheren Aussage festzustellen. § 245: (1) Hat der Angeklagte bei einer früheren Vernehmung Tatsachen eingeräumt, die er in der Hauptverhandlung bestreitet, so kann ihm die frühere Aussage vorgehalten werden. Das Gleiche gilt, wenn bei der Vernehmung des Angeklagten ein anderer Widerspruch mit der früheren Aussage hervortritt. (2) Ist der Angeklagte von einem Richter vernommen worden, so kann, soweit erforderlich, das Gericht anordnen, dass das Protokoll verlesen wird, um den Inhalt der früheren Aussage festzustellen. § 246: Die Verlesung ist in den Fällen der §§ 242, 243, des § 244 Abs. 2 und des § 245 Abs. 2 nur zulässig, wenn bei der Vernehmung die gesetzlichen Vorschriften beobachtet worden sind; der Grund der Verlesung ist im Beschluss anzugeben. Bei der Verlesung ist mitzuteilen, ob der Zeuge oder Sachverständige vereidigt worden oder weshalb die Vereidung unterblieben ist. § 247: (1) Schriftliche Erklärungen öffentlicher Behörden können verlesen werden, auch soweit sie ein Zeugnis oder Gutachten enthalten. Das von einer Fachbehörde eingeholte Gutachten kann verlesen werden, auch wenn zur Vertretung des Gutachtens ein Mitglied der Behörde als Sachverständiger vernommen wird. (2) Um den Leumund oder die Führung einer Person festzustellen, dürfen Zeugnisse und andere schriftliche Erklärungen nicht verlesen werden, auch wenn sie von öffentlichen Behörden herrühren. (3) Schriftliche Erklärungen eines Arztes über das Ergebnis einer Untersuchung dürfen verlesen werden, soweit sie sich nicht auf den Geisteszustand einer Person bezie-

___________ 29

Nach der Regierungsvorlage sollte dieser Satzteil lauten: „und ist er in Voraussicht dieses Umstandes schon vorher von einem Richter vernommen worden.“ 30 Nach der Regierungsvorlage sollte es lauten: „von dem Termine für die Vernehmung“.

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hen; betrifft das Verfahren ein Verbrechen, so darf die Erklärung nur verlesen werden, wenn sie sich auf eine Körperverletzung bezieht, die keine schwere ist.

b) Entwurf 1919 Der Entwurf 1919 stellt in seinen verfahrensrechtlichen Vorschriften den bis heute konsequentesten Versuch einer Abkehr von den inquisitorischen Elementen der StPO dar. Diesem Grundgedanken entspricht es, dem Unmittelbarkeitsprinzip besondere Bedeutung zu verleihen.31 Der Entwurf ist bereits im Reichsrat gescheitert und in das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren nicht eingebracht worden.32 Er wollte den hier dargestellten Bereich, teilweise und soweit nicht die veränderte Grundkonzeption berührt war unter wörtlicher Übernahme des Entwurfs 1909, folgendermaßen regeln: § 72: (1) Zeugen, die das Zeugnis verweigern dürfen, können das Recht noch während oder nach der Vernehmung geltend machen sowie einen Verzicht darauf jederzeit widerrufen. (2)Verweigert der Zeuge sein Zeugnis, so dürfen in der Hauptverhandlung schriftliche Erklärungen des Zeugen oder Niederschriften über seine frühere Vernehmung nicht verlesen und Zeugen über die schriftlichen Erklärungen oder niedergeschriebenen Aussagen nicht vernommen werden. § 236: (1) Verweigert der Angeklagte bei seiner Vernehmung über die Anklage seine Aussage, so dürfen weder Niederschriften über frühere Vernehmungen verlesen noch Zeugen über die niedergeschriebenen Aussagen vernommen werden. (2) Bestreitet der Angeklagte bei seiner Vernehmung Tatsachen, die er bei einer früheren Vernehmung eingeräumt hat, oder tritt ein anderer Widerspruch mit einer früheren Aussage hervor, so kann ihm die frühere Aussage vorgehalten werden. Im übrigen dürfen dem Angeklagten belastende Umstände nicht vorgehalten werden. Es ist auch unzulässig, Niederschriften über frühere Vernehmungen des Angeklagten zu verlesen oder Zeugen über die niedergeschriebenen Aussagen zu vernehmen; dies gilt nicht für eine gemäß § 190 Abs. 233 bewirkte Vernehmung, wenn die Feststellung des Inhalts der früheren Aussage erforderlich ist und bei der Vernehmung die gesetzlichen Vorschriften beobachtet sind. [§ 237: betr. Amtsaufklärung und Beweisantragrecht]

___________ 31

So ausdrücklich die Entwurfsbegründung, Allg, Teil Abschn. B VI (S. 21 ff.). Insgesamt dazu m. w. N. LR-StPO/Kühne (Fn. 27), Rn. 30 ff.; ferner RentzelRothe, Der Goldschmidt-Entwurf, Inhalt, reformgeschichtlicher Hintergrund und Schicksal, 1995; Vormbaum, Die Lex Emminger vom 4. Januar 1924, 1988, S. 46 ff. 33 § 190 Abs. 2 sollte folgendermaßen lauten: „Gibt der Beschuldigte bei seiner Vernehmung Tatsachen an, von denen die Erhebung der Anklage abhängt, so kann die Staatsanwaltschaft beantragen, dass er darüber vom Amtsrichter vernommen werde. Der Amtsrichter darf den Beschuldigten erst vernehmen, nachdem dieser dem Amtsrichter ausdrücklich seine Zustimmung zu der Vernehmung erteilt hat.“ 32

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[§ 238: betr. Aussetzung bei verspätetem Bekanntwerden von Tatsachen und Beweismitteln] § 239: Ist ein Zeuge oder Sachverständiger zu vernehmen, dem es unmöglich oder besonders erschwert ist, an Gerichtsstelle zu erscheinen, so kann das Gericht ihn außerhalb der Gerichtsstelle von einem beauftragten oder ersuchten Richter vernehmen lassen. [§ 240: betr. Kreuzverhör] § 241: (1) Hat ein Zeuge oder Sachverständiger bei einer früheren Vernehmung Tatsachen bekundet, deren er sich in der Hauptverhandlung nicht mehr erinnert, so kann ihm, um sein Gedächtnis zu unterstützen, die frühere Aussage vorgehalten werden; eine Verlesung der Niederschrift über die frühere Vernehmung oder eine Vernehmung von Zeugen über die niedergeschriebene Aussage ist unzulässig. (2) Das Gleiche gilt, wenn die Aussage mit der früheren Aussage in Widerspruch steht. § 242: Bestrafungen, die ein Zeuge erlitten hat, sind, soweit die Feststellung nicht zur Beseitigung von Zweifeln über die Zulässigkeit der Vereidigung geboten ist, nur insoweit festzustellen, als es das Gericht zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Aussage für unerlässlich hält. [§ 243: betr. Entfernung des Angeklagten, Entlassung von Zeugen und Sachverständigen] § 244: Urkunden sind zu verlesen, soweit ihr Inhalt zum Beweise dienen soll. Der Vorsitzende kann stattdessen den Inhalt mitteilen, wenn nicht ein Beteiligter widerspricht oder bis zur Beendigung der Schlussvorträge die Verlesung verlangt. § 245: Personen, deren Wahrnehmung zum Beweise dienen sollen, sind zu vernehmen, soweit nicht dieses Gesetz etwas anderes bestimmt; es ist unzulässig, stattdessen schriftliche Erklärungen oder Niederschriften über frühere Vernehmungen zu verlesen oder Zeugen über die schriftliche Erklärung oder die niedergeschriebene Aussage zu vernehmen. § 246: Die Niederschrift über einen richterlichen Augenschein kann verlesen werden, wenn die gesetzlichen Vorschriften beobachtet sind. § 247: (1) Ist die Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen in der Hauptverhandlung unmöglich oder besonders erschwert und ist er in Voraussicht dieses Umstandes schon von einem Richter vernommen worden, so kann das Gericht anordnen, dass die Niederschrift verlesen wird. War ein Beteiligter oder der Verteidiger nicht rechtzeitig von Ort und Zeit der Vernehmung benachrichtigt worden, so darf die Niederschrift nur mit seiner Zustimmung verlesen werden. (2) Ist ein Zeuge oder Sachverständiger verstorben oder sein Aufenthalt nicht zu ermitteln oder ist wegen seines Zustandes die Vernehmung in absehbarer Zeit nicht möglich, so kann, wenn er schon von einem Richter vernommen war, das Gericht anordnen, dass die Niederschrift verlesen wird. Das Gleiche gilt von Personen, die beschuldigt sind oder beschuldigt waren, an einer Tat, die den Gegenstand der Untersuchung bildet, beteiligt zu sein. § 248: Die Verlesung ist in den Fällen des § 247 nur zulässig, wenn bei der Vernehmung die gesetzlichen Vorschriften beobachtet worden sind; der Grund der Verle-

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sung ist im Beschluss anzugeben. Bei der Verlesung ist mitzuteilen, ob der Zeuge oder Sachverständige vereidigt worden oder weshalb die Vereidung unterblieben ist. § 249: (1) Schriftliche Erklärungen öffentlicher Behörden können verlesen werden, auch soweit sie ein Zeugnis oder Gutachten enthalten. Das von einer Fachbehörde eingeholte Gutachten kann verlesen werden, auch wenn zur Vertretung des Gutachtens ein Mitglied der Behörde als Sachverständiger vernommen wird. (2) Um den Leumund oder die Führung einer Person festzustellen, dürfen Zeugnisse und andere schriftliche Erklärungen nicht verlesen werden, auch wenn sie von öffentlichen Behörden herrühren. (3) Schriftliche Erklärungen eines Arztes über das Ergebnis einer Untersuchung dürfen verlesen werden, soweit sie sich nicht auf den Geisteszustand einer Person beziehen; betrifft das Verfahren ein Verbrechen, so darf die Erklärung nur verlesen werden, wenn sie sich auf eine Körperverletzung bezieht, die keine schwere ist.

c) Entwurf 1939 Eine demgegenüber großzügigere Auffassung vertrat der Entwurf 193934, auch wenn er grundsätzlich am Unmittelbarkeitsprinzip festhielt.35 Er sah folgende Regelungen vor: § 66 Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme: (1) Zeugen und Sachverständige werden in der Hauptverhandlung vernommen. (2) Der Augenschein wird in der Hauptverhandlung vorgenommen, soweit er nicht nach § 10 oder § 4536 in einer vorbereitenden Beweisaufnahme stattgefunden hat. (3) Schriftstücke und Druckschriften, die wegen ihres Inhalts als Beweismittel dienen, werden in der Hauptverhandlung verlesen. Der Vorsitzer kann stattdessen den wesentlichen Inhalt mitteilen, wenn die Erforschung der Wahrheit nicht darunter leidet. § 67 Ausnahmen von der Unmittelbarkeit: (1) Statt der Vernehmung eines Zeuge oder Sachverständigen darf eine schriftliche Erklärung oder die Niederschrift über eine frühere Vernehmung nur verlesen werden, soweit es die §§ 68 bis 72 gestatten und die Erforschung der Wahrheit nicht darunter leidet.

___________ 34 Zu diesem und seiner Bedeutung näher m. w. N. LR-StPO/Kühne (Fn. 27), Rn. 64 ff.; ferner Wolf-Peter Koch, Die Reform des Strafverfahrensrechts im Dritten Reich unter besonderer Berücksichtigung des StPO-Entwurfs 1939, Diss. ErlangenNürnberg, 1972; Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, 1988, S. 981 ff. 35 Vgl. Entwurfsbegründung zu den §§ 66 – 72: „Mündlichkeit und Unmittelbarkeit bilden auch künftig die Grundpfeiler der Hauptverhandlung. Der Entwurf vermeidet aber jede Übertreibung dieser Grundsätze. Er ist bestrebt, möglichst alle Erkenntnisquellen für die Ermittlung der Wahrheit auszuschöpfen. So ergibt sich eine gewisse Lockerung der zu starren Vorschriften des geltenden Rechts (§§ 249 – 256 StPO)“. 36 Zu § 45 s. unten Fn. 60. § 10 ermöglichte für das Ermittlungsverfahren die „Vorwegnahme einer Beweisaufnahme des Hauptverfahrens“ und bestimmte hierfür vergleichbare Mitwirkungsbefugnisse.

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(2) Die Niederschrift über einen Augenschein, den ein Richter nach § 10 oder § 45 aufgenommen hat, darf verlesen und von ihm erläutert werden, wenn die Erforschung der Wahrheit nicht darunter leidet. § 68 Verlesung schriftlicher Erklärungen: (1) Schriftliche Erklärungen von Dienststellen des Staates und der Partei, die ein Zeugnis oder Gutachten enthalten, dürfen verlesen werden. Dies gilt auch von Strafregisterauszügen, Äußerungen der Strafvollzugsbehörden und kriminalbiologischen Gutachten. (2) Zeugnisse über den Leumund des Angeklagten dürfen nicht verlesen werden. (3) Steht eine Köperverletzung, die nicht gefährlich oder schwer ist, in Frage, so darf ein schriftliches Zeugnis oder Gutachten eines Arztes verlesen werden. § 69 Verlesung von Niederschriften über eine vorbereitende Beweisaufnahme: (1) Die Niederschrift über die richterliche Vernehmung eines Zeuge oder Sachverständigen darf verlesen werden, wenn die Voraussetzungen des § 10 oder des § 45 vorliegen und bei der Vernehmung nach den §§ 10, 11, 4737 verfahren worden ist. (2) Der Grund der Vernehmung wird bekanntgegeben; dabei wird festgestellt, ob der Vernommene vereidigt oder weshalb dies unterlassen worden ist. Die Vereidigung wird nachgeholt, wenn sie bei einer Vernehmung in der Hauptverhandlung geboten wäre und noch ausführbar ist. § 70 Verlesung der Aussagen nicht vernehmbarer Personen: (1) Ist ein Zeuge oder Sachverständiger oder ein Mitbeschuldigter verstorben oder war es nicht möglich, seinen Aufenthalt zu ermitteln, oder kann er aus einem anderen Grunde in absehbarer Zeit weder vor dem erkennenden Gericht noch nach § 45 vernommen werden, so darf die Niederschrift über seine frühere Vernehmung oder eine von ihm stammende schriftliche Äußerung verlesen werden. Soweit dazu Anlass besteht, sind Zeugen über den Hergang und den Inhalt der früheren Vernehmung zu hören. (2) Dasselbe gilt, wenn ein Zeuge, ein Mitbeschuldigter oder der Angeklagte die Aussage verweigert. (3) Für die Verlesung gilt § 69 Abs. 2 entsprechend. § 71 Verlesung zur Beweisaufnahme über ein Geständnis: Erklärungen, die der Angeklagte bei einer Vernehmung abgegeben hat, dürfen zum Beweise darüber, ob er ein Geständnis abgelegt hat, verlesen werden. § 72 Verlesung zur Unterstützung des Gedächtnisses und zur Klärung von Widersprüchen: Erklärt der Angeklagte, ein Zeuge oder Sachverständiger, dass er sich einer Tatsache nicht mehr erinnern könne, oder ergibt sich bei seiner Vernehmung ein Widerspruch zu einer Aussage, die er früher gemacht hat, so dürfen Erklärungen, die er bei seiner früheren Vernehmung abgegeben hat, verlesen werden, um sein Gedächtnis zu unterstützen oder um den Widerspruch festzustellen oder aufzuklären. § 73 Dienstliche Äußerung: Soll ein Richter, ein Staatsanwalt oder ein Schriftführer, der zur Mitwirkung in der Hauptverhandlung berufen ist, über Vorgänge vernommen werden, die den Gegenstand des Verfahrens betreffen und die er bei seiner amtlichen Tätigkeit wahrgenommen hat, so kann der Vorsitzer, statt ihn zu vernehmen, anordnen, dass er sich dienstlich äußert.

___________ 37 Zu § 47 s. unten Fn. 60. § 11 betraf die (ausnahmsweise) eidliche richterliche Vernehmung im Ermittlungsverfahren.

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2. Reformvorschläge zu den einzelnen Bereichen Sortiert nach den verschiedenen Sachgesichtspunkten bietet die Geschichte der Reformentwürfe ein interessantes Arsenal unterschiedlicher Gestaltungsmöglichkeiten bei der Umsetzung des – im Prinzip niemals in Frage gestellten – Unmittelbarkeitsprinzips für die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung. Die neuere Gesetzgebungsentwicklung hat darauf kaum zurückgegriffen. Keine reformgeschichtlichen Vorbilder haben namentlich –

das Selbstleseverfahren in § 249 Abs. 2 StPO,



die nach dem Beweisthema bestimmte Verlesbarkeit (§ 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO),



die Erweiterung der Verlesungsmöglichkeit beim verteidigten Angeklagten (§ 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO),



die Verwertbarkeit von Video-Aufzeichnungen (§ 255a StPO) sowie



der weite Umfang der Verlesbarkeit von Gutachten (§ 256 Abs. 1 StPO).

Umgekehrt haben auch nahe liegende – teilweise auch die Verbesserung der Formulierungen betreffende – Änderungsvorschläge keine Beachtung gefunden. Im Einzelnen ergibt sich dabei folgendes Bild:

a) Urkundenverlesung (§ 249 StPO) Fast alle Entwürfe haben auf die kasuistische Aufzählung der Ursprungsfassung verzichtet38 und dies durch eine generalisierende Fassung, verbunden mit dem Hinweis, dass es sich um eine Verlesung zu Beweiszwecken handeln müsse, ersetzt.39 Dabei ist für die Verlesbarkeit von Protokollen von Augenscheinseinnahmen jeweils eine selbstständige Regelung vorgeschlagen worden.40 Alle Entwürfe haben die Möglichkeit eröffnen wollen, dass der Vorsitzende statt der Verlesung den wesentlichen Inhalt mitteilt, allerdings mit unterschiedlichen Voraussetzungen. Der Entwurf 1909 und der Entwurf 1919 sahen hierbei die Möglichkeit des Widerspruches vor, der Entwurf 1919 darüber hinaus die, die Verlesung bis zur Beendigung der Schlussvorträge zu verlangen. ___________ 38

Lediglich der Entwurf 1930 (Art. 70 Nr. 140) wollte sie um die Verlesbarkeit von Protokollen über die Leichenschau und Leichenöffnung und um nichtrichterliche Augenscheinseinnahmen ergänzen, weil er eine Protokollierung für entsprechende staatsanwaltschaftliche Maßnahmen vorschlug. 39 Entwurf 1909, § 239; Entwurf 1919, § 244; Entwurf 1939, § 66 Abs. 3. 40 Entwurf 1909, § 241; Entwurf 1919, § 246, verbunden mit der ausdrücklichen Voraussetzung der Wahrung der gesetzlichen Vorschriften; Entwurf 1939, § 67 Abs. 2 mit der zusätzlichen Ermächtigung, den Augenschein zu erläutern.

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Der Entwurf 1939 verwies einschränkend auf die Erfordernisse der Wahrheitserforschung.

b) Grundsatz des Vorrangs des Personalbeweises (§ 250 StPO) Der in der Ursprungsfassung enthaltene und bis heute (formal) beibehaltene Grundsatz findet sich als solcher in allen Entwürfen; er wird jeweils mit einem Hinweis auf die im Gesetz geregelten Ausnahmen verbunden, aus dem sich deren abschließender Charakter ergibt,41 so dass der eigentliche Gehalt aus diesen Regelungen folgt. Der Entwurf 1919 verbietet als einziger zusätzlich zur Verlesung die Vernehmung von Zeugen über den Inhalt der früheren Vernehmung oder der schriftlichen Erklärung.

c) Ersetzung des Personalbeweises durch Urkundenbeweis (§ 251 StPO) Die Entwürfe 1909 und 191942 sowie der zu diesem Punkt eine Neufassung vorschlagende Entwurf 193043 hielten an der Grundkonzeption der Ursprungsfassung fest; sie beschränkten also die Verlesungsmöglichkeit auch in den Fällen der Unmöglichkeit der Vernehmung auf richterliche Protokolle und banden diese in den Fällen der Vernehmungserschwerung (§ 250 Abs. 1 der Ursprungsfassung) in etwas unterschiedlicher Form an die Einhaltung der Voraussetzungen der kommissarischen Vernehmung.44 Beide Entwürfe wollten in diesem Fall bei Nichteinhaltung der Benachrichtigungsvorschriften die Verlesbarkeit von einer Zustimmung des von dem Verstoß Betroffenen abhängig machen. In den Fällen der Unmöglichkeit der Vernehmung wollte der Entwurf 1939 die Verlesbarkeit auch nicht richterlicher Protokolle und sonstiger schriftlicher Erklärungen gestatten,45 was die Neufassung des § 251 im Jahre 1943 umsetz-

___________ 41

Entwurf 1909, § 240, Entwurf 1919, § 245; Entwurf 1939, § 66 Abs. 1, ferner § 67 Abs. 1, § 68 Abs. 1, verbunden mit dem Hinweis, dass die Wahrheitserforschung darunter nicht leiden dürfe. 42 Entwurf 1909, §§ 242, 243; Entwurf 1919, § 247. 43 Entwurf 1930, Art. 70 Nr. 141 der (erweiternd) in Absatz 1 lediglich den Begriff „in Geisteskrankheit verfallen“ durch „ist wegen seines Zustandes die Vernehmung vor dem erkennenden Gericht nicht möglich“ ersetzen wollte und im übrigen nur redaktionelle Änderungen und Folgeänderungen enthielt. 44 Ebenso für diesen Fall § 69 des Entwurfs 1939. 45 Entwurf 1939, § 70 Abs. 1, verbunden mit dem Hinweis, erforderlichenfalls Zeugen über den Hergang und den Inhalt der Vernehmung zu hören.

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te.46 Darüber hinaus sah er (§ 70 Abs. 2) die Verlesbarkeit in allen Fällen der Aussageverweigerung vor.47 Nach den Reichstagsberatungen zum Entwurf 1895 – die Regierungsvorlage enthielt dies nicht – sollte, was keine Nachfolge gefunden hat, als Absatz 3 der Ursprungsfassung des (damaligen) § 250 angefügt werden: In anderen als den in den vorstehenden Fällen bezeichneten Fällen ist die Verlesung des Protokolls über frühere Vernehmungen unstatthaft.

d) Verwertungsverbot bei Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts (§ 252 StPO) In diesem Punkt vertreten die drei Entwürfe konträre Positionen: Die bis heute unveränderte Ursprungsfassung wird von keinem Vorschlag übernommen. Die Entwürfe 1909 und 1919 regeln die Frage im Sinne der vorhandenen Regelung – was systematisch einleuchtend erscheint – außerhalb der §§ 249 ff. in den allgemeinen Vorschriften über den Zeugenbeweis dahingehend, dass sie ein umfassendes Verwertungsverbot bestimmen.48 Dagegen vertritt der Entwurf 1939 in § 70 Abs. 2 die gegenteilige Position und stützt diese auf das Interesse an der Wahrheitserforschung.49 ___________ 46 Für die weiteren Veränderungen, insbesondere die Verlesung im Einverständnis und bei bloßer Unzumutbarkeit des Erscheinens enthält der Entwurf 1939 keine Vorbilder. 47 Siehe unten bei Fn. 49. 48 Entwurf 1909, § 56 Abs. 2; Entwurf 1919, § 72 Abs. 2 mit ausdrücklichem Verbot auch des Zeugenbeweises hierüber. Die im Entwurf 1909 vorgeschlagene Fassung entsprach § 306 der damaligen MStPO. 49 Dazu die Entwurfsbegründung zu § 70 Abs. 2: „Das bisherige Recht (§ 252 StPO) verbietet die Verlesung, soweit es sich um Aussagen eines Zeugen im Rahmen desselben Verfahrens handelt. Dieses Verbot wird von der Rechtsprechung vielfach als Hemmnis für die Wahrheitserforschung empfunden und teilweise dadurch umgangen, dass die Vernehmung des verhörenden Beamten als Zeugen für zulässig erklärt wird. Für ein solches Verbot ist heute kein Raum mehr. Das öffentliche Interesse an der Wahrheitserforschung hat dem Schutz von Einzelinteressen vorzugehen. Der Sinn des Zeugnisverweigerungsrechts geht nicht dahin, dass die Kenntnis des Zeugen überhaupt bei der Wahrheitserforschung ausscheiden muss; es gibt ihm nur die Gewähr, dass er zur Aussage nicht gezwungen werden kann. Hat der Zeuge, dem ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht, eine Aussage gemacht, so erfordert es die Wahrheitserforschungspflicht, dass die Aussage verwertet wird, auch wenn der Zeuge selbst die Aussage später verweigert. Der Entwurf sieht zum Ausgleich vor, dass nicht nur der Richter, sondern auch der Staatsanwalt und die Polizei den Zeugen auf das Zeugnisverweigerungsrecht aufmerksam machen müssen (§ 168 Abs. 3 und § 188 Abs. 1). Wird der Zeuge versehentlich nicht belehrt, so darf gleichwohl die Aussage verlesen oder der vernehmende Beamte als Zeuge vernommen werden.“

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e) Verlesbarkeit zur Gedächtnisunterstützung und zur Aufklärung von Widersprüchen bei Zeugen (§ 253 StPO) Während der Entwurf 1939 an dem bis heute unveränderten § 253 StPO im Ergebnis festhält,50 differenzieren die Entwürfe 1909 und 191951 zwischen dem uneingeschränkt zulässigen Vorhalt und der Verlesung zu Beweiszwecken, also als mögliche Entscheidungsgrundlage des Inhalts für die Feststellungen. Für diesen Fall beschränkt der Entwurf 1909 die Verlesbarkeit auf richterliche Vernehmungsprotokolle; der Entwurf 1919 schließt sie und jede Zeugenvernehmung über den Aussageinhalt gänzlich aus.

f) Beweisaufnahme über frühere Aussagen des Angeklagten (§ 254 StPO) Die drei Entwürfe enthalten bemerkenswerte Unterschiede. Der Entwurf 190952 orientiert sich an der bis heute unveränderten Ursprungsfassung, modifiziert sie aber in zwei Richtungen. Er verzichtet auf den Begriff des „Geständnisses“ und erstreckt die Vorschrift auf den Aufklärungsbedarf hinsichtlich aller abweichender Äußerungen bei früheren Vernehmungen, gestattet aber grundsätzlich nur den Vorhalt und nur bei richterlichen Protokollen die Verlesung zu Beweiszwecken. Der Entwurf 191953 wollte für den Fall, dass der Angeklagte in der Hauptverhandlung von seinem Schweigerecht Gebrauch machte,54 jede Beweisaufnahme über seine früheren Einlassungen untersagen (§ 236 Abs. 1). Bei dem sich äußernden Angeklagten war nach Absatz 2 in den Fällen des Bestreitens früherer Aussagen oder im Falle eines Widerspruchs mit ihnen lediglich der Vorhalt gestattet. Eine Verlesung zum Zwecke der Beweisaufnahme war lediglich bei qualifizierten richterlichen Vernehmungen zulässig, die den Voraussetzungen des § 190 Abs. 255 entsprachen. Im deutlichen Gegensatz dazu wollte der Entwurf 1939 die Verwertbarkeit früherer Vernehmungsniederschriften und schriftlicher Erklärungen des die Aussage verweigernden Angeklagten uneingeschränkt zulassen (§ 70 Abs. 2) ___________ 50 Entwurf 1939, § 72 unter Streichung der als „unzweckmäßig“ bezeichneten Einschränkung „ohne Unterbrechung der Hauptverhandlung“. 51 Entwurf 1909, § 245; Entwurf 1919, § 241. 52 Entwurf 1909, § 245. 53 Entwurf 1919, § 236. 54 Was der Entwurf terminologisch noch als „Verweigerung seiner Aussage“ bezeichnet. 55 Siehe zu diesem oben Fn. 33.

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und bei der Beweisaufnahme über ein Geständnis die Verlesbarkeit von Erklärungen aller Art gestatten (§ 71). Eine Erweiterung der Verlesungsmöglichkeiten bei richterlichen Vernehmungen des Angeklagten wollte der Entwurf 1895 in Verbindung mit der Erweiterung des Möglichkeit, die Hauptverhandlung ohne den Angeklagten durchzuführen,56 mit einem neuen § 254a vorschlagen, der wie folgt lauten sollte: § 254a: Schreitet das Gericht in Gemäßheit des § 229 Abs. 2 beim Ausbleiben des Angeklagten zur Hauptverhandlung, so können die in einem richterlichen Protokolle enthaltenen Erklärungen des Angeklagten auch dann verlesen werden, wenn damit die Beweisaufnahme über ein Geständnis nicht bezweckt wird.

g) Verlesung von Gutachten (§ 256 StPO) Alle Entwürfe haben – mit einigen Unterschieden im Wortlaut – an der Verlesbarkeit von Erklärungen und Gutachten öffentlicher Behörden festgehalten und hierbei Leumundszeugnisse ausgeschlossen.57 Die bis heute geltende Regelung in Absatz 2 über das Gutachten der kollegialen Fachbehörde ist lediglich in den Entwürfen 1909 und 1919 in veränderter Form beibehalten worden. Bei der Verlesbarkeit von ärztlichen Gutachten haben die Entwürfe 1909 und 1919 eine generelle Verlesbarkeit dann ermöglichen wollen, wenn Verfahrensgegenstand kein Verbrechen war, im Übrigen nur, wenn es sich um (nicht schwere) Körperverletzungen handelte. Der Entwurf 1939 hat die Verlesbarkeit generell auf (einfache) Körperverletzungen beschränken wollen. Für die Erweiterungen in § 256 Abs. 1 StPO der gegenwärtigen Fassung finden sich in den Entwürfen keine Vorbilder.

V. Angrenzende Bereiche Die die sog. kommissarische Vernehmung im Hauptverfahren außerhalb der Hauptverhandlung regelnden §§ 223, 224 StPO58 sind seit 1879 mit einigen kleineren zwischenzeitlichen und wieder rückgängig gemachten Änderungen ___________ 56 Diese Regelung wollte generell außer in Verfahren vor dem Schwurgericht und in Verbrechenssachen die Hauptverhandlung ohne den Angeklagten bei dessen unentschuldigten Ausbleiben gestatten. 57 Entwurf 1909, § 247 und wortgleich Entwurf 1919, § 249; Entwurf 1939, § 68 mit Gleichstellung von Erklärungen der Partei sowie der ausdrücklichen Erwähnung von Strafregisterauszügen und „kriminalbiologischen Gutachten“. 58 Bis 1924 in den §§ 222, 223 StPO.

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im Wesentlichen unverändert geblieben.59 Auch die Entwürfe haben in der Sache – teilweise mit einigen systematischen und sprachlichen Veränderungen – an ihnen festgehalten.60 Im Berufungsverfahren ermöglicht § 325 (i. V. m. § 323 Abs. 2 Satz 1) StPO als einzige zusätzliche Ausnahme zu § 250 StPO die Verwertung von Niederschriften über Vernehmungen im erstinstanzlichen Verfahren. Die Bestimmung entspricht der Ursprungsfassung. Die Entwürfe wollten diese Möglichkeit teilweise weiter einschränken61 oder gänzlich ausschließen.62 Der Entwurf 1939 sah ebenfalls keine zusätzlichen Verlesungsmöglichkeiten vor, schlug aber in einem § 325 Abs. 2 Satz 2 die Möglichkeit der Übernahme von Feststellungen in folgender Weise vor: Das Gericht kann davon absehen, Beweis über einzelne von mehreren Taten, abtrennbare Teile einer Tat oder andere Vorgänge, die selbständig festgestellt werden können, zu erheben, wenn sie nach seiner Überzeugung im ersten Urteil einwandfrei festgestellt sind und wenn diese Feststellungen vom Staatsanwalt und vom Angeklagten nicht beanstandet werden.

Im beschleunigten Verfahren sowie für die Einspruchsverhandlung im Strafbefehlsverfahren (§ 411 Abs. 2 Satz 2 StPO) gilt die Sonderregelung des § 420 Abs. 1 – 3 StPO, die das das Unmittelbarkeitsprinzip praktisch – und nur durch den Amtsaufklärungsgrundsatz eingeschränkt – zur Disposition der Prozessbeteiligten stellt. Die Vorschriften sind erst 1994 durch das VerbrBekG63 eingeführt worden. Obwohl in der StPO das Strafbefehlsverfahren und – in unterschiedlichen Varianten – das beschleunigte Verfahren seit jeher enthalten waren, finden sich in der Entwicklungsgeschichte keine vergleichbaren Regelungen; für die Hauptverhandlung galten stets die allgemeinen Vorschriften. Auch die Entwürfe, die ausnahmslos diese beiden Sonderverfahren beibehalten ha-

___________ 59 Die Einschränkung des Anwesenheitsrechts in § 224 Abs. 2 StPO wurde erst 1950 auf den verteidigten Angeklagten beschränkt. 60 Entwurf 1909 in den §§ 219, 234 mit einer getrennten Regelung für die Vorbereitung der Hauptverhandlung und nach deren Beginn; ebenso Entwurf 1919 in den §§ 220, 239. Der Entwurf 1939 (§§ 45 – 47) enthielt unter der Bezeichnung „vorbereitende Beweisaufnahme“ eine etwas abweichende Regelung. 61 So der Entwurf 1895, der im (heutigen) § 323 StPO eine Belehrung des Angeklagten über sein die Ladung weiterer Zeugen betreffendes Antragsrecht vorsehen und bei den von ihm vorgesehenen Berufungen gegen Strafkammersachen jede erweiterte Verlesbarkeit ausschließen wollte. 62 Entwurf 1909 in den §§ 323, 324 in der Fassung der Kommissionsberatungen; Entwurf 1919 in § 314 durch uneingeschränkte Verweisung auf die Vorschriften auf die erstinstanzliche Hauptverhandlung. 63 Fn. 13, Art. 4, Nr. 9 und 10.

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ben,64 haben für die Hauptverhandlung keine Erleichterungen bei der Beweisaufnahme vorgeschlagen.

VI. Schlussbemerkungen Die 130-jährige Gesetzgebungs- und Reformgeschichte der Realisierung des Unmittelbarkeitsprinzips im deutschen Strafprozessrecht macht einen schleichenden Erosionsprozess deutlich. Er zeigt sich nicht in der Grundstruktur des Regelungskonzepts in den §§ 249 – 256 StPO, sondern realisiert sich in einer exzessiven Ausweitung der von Anfang an vorhandenen Ausnahmeregelungen. Das sind in erster Linie die §§ 251 und 256 StPO sowie die Sonderregelung für das beschleunigte Verfahren und das Strafbefehlsverfahren in § 420 StPO sowie der Verlesungsersatz in § 249 Abs. 2 StPO. Hierbei spielen erkennbar die Bedürfnisse der Praxis eine entscheidende Rolle. Dabei wird – auch wenn man die Gesetzgebungsmaterialien zu den Änderungsgesetzen ins Blickfeld nimmt – die Tragfähigkeit des formal aufrecht erhaltenen Prinzips nicht hinterfragt. Regelungen, die in der Praxis keine größeren Anwendungsprobleme aufzuwerfen scheinen, etwa die §§ 253, 254 StPO, bleiben unverändert, auch wenn dies überwiegend auf der von der Rechtsprechung entwickelten, zweifelhaften Auslegung beruht, wie etwa bei § 252 StPO, wo die Vernehmung der richterlichen Verhörsperson für zulässig gehalten wird. Dieser Verlust an Prägekraft des Unmittelbarkeitsprinzips ist weitgehend das Ergebnis der Rechtsentwicklung der letzten drei Jahrzehnte. Bis 1943, also über einen Zeitraum von mehr als 60 Jahren blieb das gesamte Regelungsgeflecht unverändert. Auf die dann vorgenommene, zunächst moderate Erweiterung des § 251 StPO beschränkte sich die Gesetzgebung bis Ende 1974. Die die gegenwärtige Rechtslage besonders charakterisierenden Veränderungen beginnen erst 1986. Die Diagnose liegt nicht ganz fern, dass der Gesetzgeber das Unmittelbarkeitsprinzip nur dort aufrechterhält, wo es nicht stört. Auf die Reformgeschichte aus der Zeit von 1895 bis 1939 kann sich die aktuelle Entwicklung in keinem Fall stützen. Sie stellt den Unmittelbarkeitsgrundsatz als eines der Strukturprinzipien der Hauptverhandlung nicht in Frage, sondern baut ihn teilweise, etwas im Entwurf 1919 aus. Von auch heute noch erwägenswerte Variationen und Alternativen hat die neuere Gesetzgebung keine Kenntnis genommen. Auf sie zurückzugreifen, macht freilich nur dann einen Sinn, wenn man die Tragfähigkeit des Prinzips als einer wichtigen Bedingung ___________ 64 Siehe dazu Entwurf 1909, Strafbefehlsverfahren (§§ 421 – 430) und schleuniges Verfahren (§§ 410 – 420); Entwurf 1919, Strafbefehlsverfahren (§§ 409 – 418) und vereinfachtes Verfahren (§§ 405 – 408); Entwurf 1939, Strafbefehlsverfahren (§§ 391 – 400), beschleunigtes Verfahren (§§ 387 – 390).

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für die Wahrheitsfindung in der Hauptverhandlung nicht in Frage stellen will. Sieht man die Dinge, wofür es gute Gründe gibt, anders, so müssten sich Dogmatik und Rechtspolitik um neue Wege für die Erarbeitung äquivalenter Gewährleistungen bemühen. Die vorstehend dargestellte Entwicklungsgeschichte bietet jedenfalls keine überzeugende Rechtfertigung für die Beibehaltung in seiner gegenwärtigen Form.

Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht Von Henning Rosenau

I. Einleitung Wenn wir als Strafrechtler über die hypothetische Einwilligung sprechen, diskutieren wir über ein junges Konstrukt der strafrechtlichen Zurechnungsdogmatik. Kühl kann aus den Erfahrungen einer Examensklausur davon berichten, dass es noch 2004 weitgehend unbekannt gewesen ist.1 In der Tat taucht diese Figur erst allmählich in den neueren Auflagen der Lehrbücher auf, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass sie erst in den vergangenen fünf Jahren Eingang in die höchstrichterliche Rechtsprechung gefunden hat. Inzwischen wird sie in der Strafrechtswissenschaft aber lebhaft diskutiert. Worum handelt es sich? Kurz gefasst geht es dabei um folgenden, bestechenden Gedanken: Aufklärungsmängel sind bei der Einwilligung in medizinische Eingriffe dann ohne Belang, wenn der Patient seine Einwilligung auch bei gehöriger Aufklärung erteilt hätte.2 Oder anders gewendet: Willensmängel, die auf Aufklärungsdefiziten beruhen, sind nur dann beachtlich, wenn sich herausstellt, dass sie für die konkrete Entscheidung des Patienten von Bedeutung gewesen sein könnten. Nur dann schließen sie eine Rechtfertigung des behandelnden Arztes aus.

II. Die hypothetische Einwilligung im Zivilrecht Dabei ist die Figur der hypothetischen Einwilligung keineswegs neu. Der Haftungsrechtler, zumal der zivilrechtlich bewanderte Medizinrechtler, geht mit der hypothetischen Einwilligung schon seit Jahrzehnten um. Eine der maßgeblichen Leitentscheidungen des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, des Haftungssenats, datiert vom 7. Februar 1984,3 wobei schon auf eine gefestigte ___________ 1 Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, S. 28. Erste Promotionsarbeiten wurden mittlerweile vorgelegt: Edlbauer, Die hypothetische Einwilligung als arztstrafrechtliches Haftungskorrektiv, Hamburg 2009; Marx, Die hypothetische Einwilligung im Medizinstrafrecht, Diss. Augsburg 2009/10; Schwartz, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht, Frankfurt am Main 2009. 2 Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, Rn. 132. 3 BGHZ 90, 103, 111 ff.

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Rechtsprechung zurückgegriffen werden konnte. Zunächst hatte das Reichsgericht den Einwand einer hypothetischen Einwilligung noch zurückgewiesen.4 Der BGH hat dann erstmals 1959 anklingen lassen, dass entgegen der Auffassung des RG ein solches Vorbringen doch zu beachten sein könnte. Es kam dann zwar noch zu einem Rückzieher des III. Zivilsenates,5 aber der Siegeszug der hypothetischen Einwilligung war nicht mehr aufzuhalten und hat sich spätestens mit einer Entscheidung des VI. Zivilsenates aus dem Jahre 1965 im Zivilrecht durchgesetzt.6 Bei der angesprochenen Entscheidung aus dem Jahr 1984 ging es um eine 34-jährige Patientin, die an einer bösartigen Lymphknotenerkrankung litt. Sie unterzog sich deshalb einer Strahlentherapie, infolge derer sie eine inkomplette Querschnittslähmung erlitt. Damit trat bei dieser Therapie ein zwar sehr seltenes, aber typisches Risiko ein. Über dieses Risiko war die Patientin nicht aufgeklärt worden. Sie verlangte vom behandelnden Arzt Schadensersatzzahlungen. Der Arzt wandte ein, dass die klagende Patientin auch dann, wenn sie ordnungsgemäß aufgeklärt worden wäre, ihre Einwilligung in die Strahlentherapie erteilt hätte. Denn ohne eine Behandlung hätte sie nur noch eine durchschnittliche Lebenserwartung von drei Jahren gehabt. Zudem sei ohne die Behandlung die Wahrscheinlichkeit einer Querschnittslähmung um das Zehnfache höher gewesen. Der BGH widerspricht dem zunächst. Er stellt fest, dass trotz eines geringen Risikos und trotz einer vitalen Indikation eine Aufklärung nötig ist. Das Selbstbestimmungsrecht verlange, dass ein Patient über einen Eingriff selbst entscheiden kann und diesen auch ablehnen kann, selbst wenn das medizinisch in hohem Maße unvernünftig ist.7 Zumindest eine ungefähre Vorstellung auch über das geringe Lähmungsrisiko hätte der Arzt seiner Patientin vermitteln müssen. Damit wäre ein Haftungsanspruch begründet. Denn die durch die Strahlentherapie erfolgte Körperverletzung – die Einwirkung der Röntgenstrahlen führt regelmäßig zu einer nachteiligen Veränderung der Beschaffenheit des Körpers und stellt auch ohne von außen wahrnehmbare Folgen die Herbeiführung eines pathologischen Zustandes dar8 – indiziert die Rechtswidrigkeit. Eine Einwilligung, die dieses Verdikt aus der Welt schaffen würde, liegt aber nicht vor; denn der Aufklärungsmangel macht die erteilte Einwilligung der Patientin unwirksam. Ein Anspruch gegen den Arzt wegen unerlaubter Handlung aus § 823 Abs. 1 BGB sowie aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 223 StGB bestünde. ___________ 4

RGZ 163, 129, 138 ff. BGH VersR 1959, 355, 356. 6 BGH VersR 1965, 718, 719. 7 BGHZ 90, 103, 105 f. 8 BGH MedR 1998, 326, 329. 5

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An dieser Stelle greift nun der Einwand der hypothetischen Einwilligung. Der BGH nimmt die Problematik der zivilrechtlichen Aufklärungsrechtsprechung in den Blick, bei der die Gefahr besteht, dass ein bloßes Aufklärungsversäumnis zur Begründung einer Schadensersatzklage benutzt und das Aufklärungsrecht missbraucht wird.9 Hätte sich die Patientin auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung über das Risiko einer Querschnittslähmung zur Therapie entschlossen, sei solch ein Einwand beachtlich. Allerdings wäre für den Arzt wenig gewonnen, weil er der Systematik des Zivilprozesses folgend dafür beweispflichtig ist, dass sich die Patientin in jedem Falle für eine Therapie ausgesprochen hätte.10 Der Arzt kann sich nicht einfach auf den durchschnittlichen, den gedachten vernünftigen Patienten in der Situation der 34-Jährigen berufen. Es wurde bereits angesprochen, dass unvernünftige Entscheidungen möglich bleiben müssen. Wie soll aber eine subjektive Entscheidung eines Patienten jemals bewiesen werden können? Das erscheint schier unmöglich, allenfalls Wahrscheinlichkeiten ließen sich eventuell feststellen.11 Das Hypothetische an der hypothetischen Einwilligung ist gerade der Umstand, dass ein sicherer Nachweis der inneren Umstände beim Patienten nicht zu erbringen ist. Daher relativiert der BGH die Beweislast des Arztes. Er verlangt nun von der Gegenseite, nämlich der Patientin, dass sie sich äußert und substanziell darlegt, dass sie zumindest vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte.12 Sie hat darzulegen, dass sie bei Kenntnis der Sachlage etwa aus persönlichen Gründen eine Strahlentherapie möglicherweise abgelehnt hätte. Diese Gründe hat sie plausibel zu machen. Nicht plausibel muss werden, wie genau sie sich entschieden hätte. Aber gelingt ihr nicht einmal, einen Entscheidungskonflikt darzulegen, aus dem heraus eine Behandlungsverweigerung im damaligen Zeitpunkt verständlich erscheint,13 wird eine Einwilligung hypothetisch angenommen. Der Arzt wird von einer Haftung frei. Es geht also nicht um eine nachträgliche Genehmigung des Eingriffs, wie zuweilen zu lesen ist.14 Denn ob der Patient in einem Entscheidungskonflikt gestanden hatte, ist keine Frage, die sich erst hinterher entscheiden würde,15 son___________ 9

BGHZ 90, 103, 112; vgl. Böcker, JZ 2005, 925, 926. Schellenberg, VersR 2008, 1298, 1299 f. 11 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 333. 12 BGHZ 90, 103, 111 f.; BGH NJW 2007, 217; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 333; Staudinger/Hager, 13. Aufl. 1999, § 823 Rn. I 121. 13 BGHZ 90, 103, 112. 14 Gropp, FS Schroeder, 2006, S. 194, 206 f.; Weber, in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT, 2. Aufl. 2009, S. 189; Jäger, FS Jung, 2007, S. 345, 354; Edlbauer, Die hypothetische Einwilligung als arztstrafrechtliches Haftungskorrektiv, Hamburg 2009, S. 416 f.: Rückwirkungsfiktion; wohl auch Rönnau, JZ 2004, 801, 803. 15 So aber Gropp, FS Schroeder, 2006, S. 194, 205. 10

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dern die für den Zeitpunkt des Eingriffs zu beantworten ist und bereits ex ante hätte beantwortet werden können. Die gegenteilige Annahme von Kuhlen16 und Mitsch17 halte ich für nicht zutreffend und mit der zivilrechtlichen Judikatur auch nicht zu vereinbaren. Dass in foro die Feststellung, ob ein solcher Entscheidungskonflikt vorgelegen hat, erst im nachhinein erfolgt, gilt für sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen, und zwar für den Zivil- wie Strafprozess gleichermaßen und stellt insoweit keine Eigenart dieser Rechtsfigur dar, die gegen diese angeführt werden könnte. Prozessual wird auch die mutmaßliche Einwilligung erst ex post festgestellt.18 Dass der Patient rückblickend den Erfolg oder Misserfolg der Behandlung nun überblicken kann, ändert nichts an der materiellen Voraussetzung eines Entscheidungskonflikts zum Zeitpunkt der Behandlung. Entsprechend verlangt der BGH von den Tatgerichten, eine spätere Patientenaussage auf deren Plausibilität hin zu überprüfen.19 Auch bei der mutmaßlichen Einwilligung kann der Rechtsgutsinhaber hinterher zu Protokoll geben, er hätte aber nicht gewollt, dass man bei ihm die Scheibe eingeschlagen hätte, um einen Rohrbruch abzudichten. In unserem Fall liegt eine solche hypothetische Einwilligung nahe. Denn bei der Schwere der Erkrankung einerseits und einer anerkannten Therapie mit günstiger Erfolgsprognose andererseits spricht wenig für einen Entscheidungskonflikt, zumal die Situation der Patientin bei einem Nein deutlich schlechter gewesen wäre. Allgemein sind Bewertungsparameter neben der Dringlichkeit eines Eingriffs und der Erfolgsprognose der Leidensdruck des Patienten und dessen Risikobereitschaft.20 Solche echten Entscheidungskonflikte sind bislang akzeptiert worden, wenn beispielsweise der Patient vorbringt, er hätte einen Weisheitszahn nicht ziehen lassen, zumal er keine Schmerzen hatte. Bei einer alternativlos dringenden Entfernung des Zahnes in einer Spezialklinik hat die Rechtsprechung einen Konflikt nicht erkennen können. Der Verzicht einer Operation eines Rektumkarzinoms erscheint bei drohendem Potenzverlust nicht nachvollziehbar, wenn ohne Eingriff die Überlebenszeit gering wäre.21 Ebenfalls nicht gehört werden kann

___________ 16

Kuhlen, JR 2004, 227; ders., FS Müller-Dietz, 2001, S. 431, 443. Mitsch, JZ 2005, 279, 281. 18 Das wäre zur Bemerkung Kuhlens (vgl. Kuhlen, JR 2004, 227; ders., FS MüllerDietz, 2001, S. 431, 443), bei der mutmaßlichen Einwilligung erfolge anders als bei der hypothetischen die Feststellung ex ante, klarstellend hinzuzusetzen; richtig Mitsch, JZ 2005, 279, 281. 19 BGH JZ 2004, 800 a.E. 20 Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 10. Aufl. 2006, Rn. 442a. 21 OLG Köln VersR 1990, 663. 17

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der Einwand, man hätte diese Operation verschieben wollen, um Zeit zu gewinnen.22

III. Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht Die Übernahme dieser Rechtsfigur in das Strafrecht wird teilweise heftig kritisiert,23 hat aber auch Zustimmung erfahren.24

1. Die Verwechslung bei der Bandscheiben-Operation Auch für das Strafrecht soll in Anlehnung an eine – viel diskutierte – Entscheidung des BGH die Problematik verdeutlicht werden: Bei einer Patientin wurde in zwei übereinander liegenden Bandscheibenfächern ein Vorfall diagnostiziert: zum einen ein schwerer Vorfall im oberen Fach L4/L5, zum anderen ein leichter Vorfall im Fach L5/S1. Der obere schwere Bandscheibenvorfall sollte operativ entfernt werden. Bei der Operation verwechselte der Arzt jedoch die Fächer und entfernte lediglich den kleinen Vorfall im unteren Fach L5/S1. Als dieser Behandlungsfehler am Folgetag auffiel, weil die Patientin immer noch über Schmerzen klagte, informierte der Arzt sie über die Notwendigkeit einer zweiten Operation. Allerdings erklärte er dies wahrheitswidrig damit, dass es zu einem sogenannten Frührezidiv, einem erneuten Vorfall, gekommen sei. Die Patientin wurde also über das Versehen des Arztes getäuscht. Die Patientin willigte daraufhin auch in die zweite, letztlich erfolgreiche Operation ein. Später stellte sich heraus, dass die Patientin wegen der Notwendigkeit und Dringlichkeit möglicherweise auch dann eingewilligt hätte, wenn sie den wahren Sachverhalt gekannt hätte. Auch diese zweite Operation erfolgte als chirurgischer Eingriff unter Narkose und war somit ein medizinischer Heileingriff, der die körperliche Unversehrtheit der Patientin zunächst erheblich beeinträchtigte. Der Eingriff war nach ständiger Rechtsprechung eine tatbestandsmäßige Körperverletzung, die der Rechtfertigung bedurfte.

___________ 22

Vgl. BGH NJW 1992, 2351; NJW 1994, 3009. Puppe, GA 2003, 764, 775; Schönke/Schröder/Eser, 27. Aufl. 2006, § 223 Rn. 40e m.w.N. 24 Kuhlen, JR 2004, 227; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT I, 5. Aufl. 2004, S. 144; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 381b; Lackner/Kühl, 26. Aufl. 2007, § 228 Rn. 17a; im Ergebnis Mitsch, JZ 2005, 279, 285. 23

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2. Der Heileingriff als Körperverletzung Diese Rechtsprechung geht schon auf das RG zurück.25 Danach ist jede ärztliche, die Integrität berührende Maßnahme eine Körperverletzung und erfüllt somit den Tatbestand des § 223 StGB. Eine in den Körper eingreifende ärztliche Therapie, von der harmlosen Spritze bis hin zur schweren Operation, ist nur dann nicht strafbar, wenn im zweiten Schritt das ärztliche Handeln durch eine wirksame Einwilligung des Patienten gerechtfertigt wird. Fehlt es an einer solchen Einwilligung, deren Wirksamkeit die hinreichende Aufklärung des Patienten erfordert, macht sich der Arzt nach § 223 StGB strafbar. Auf die Frage, ob die Behandlung kunstgerecht durchgeführt wurde, ob sie erfolgreich ausgegangen ist oder ob ein Misserfolg seine Ursachen allein in der körperlichen Konstitution des Patienten hat, kommt es dann nicht mehr an. Diese Bewertung, die nach einem Bonmot Bindings und Bockelmanns den Arzt auf die gleiche Ebene wie den gemeinen Messerstecher stellt,26 wird zwar der therapeutisch ausgerichteten Tätigkeit der Medizin nicht gerecht. Insbesondere wird der Tatbestand des § 223 StGB, der das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit schützt, so zu einem Tatbestand zum Schutz der Selbstbestimmung umgedeutet.27 Doch soll diese auch in der Literatur28 vielfach kritisierte Ansicht den folgenden Überlegungen zugrunde gelegt werden, zumal sie dermaßen gefestigt ist, dass man sich in der Praxis mit ihr arrangieren muss.

3. Die Rechtfertigung qua Einwilligung – mutmaßlicher Einwilligung – hypothetischer Einwilligung Geht man also von der Notwendigkeit aus, die zweite Operation im Beispielsfall zu rechtfertigen, gerät man schnell an dogmatische Grenzen:29 Eine Einwilligung scheidet nicht nur nach Ansicht des BGH aus, weil die Täuschung der Patientin über die Gründe für die zweite Operation zu einem Willensmangel geführt hat, welcher die erklärte Einwilligung unwirksam macht.30 Denn eine ___________ 25

RGSt 25, 375. Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, BT, 1. Bd., 2. Aufl. 1902, S. 56; Bockelmann, NJW 1961, 945, 946. 27 Rosenau, in: Rosenau/Hakeri (Hrsg.), Der medizinische Behandlungsfehler, 2008, S. 215, 216 f. 28 LK-StGB/Lilie, 11. Aufl. 2005, Vor § 223 Rn. 3; Meyer, GA 1998, 425, 426 f.; Duttge, MedR 2005, 706, 708 f.; Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und Lex artis, 2000, S. 439. 29 Zum Folgenden Mosenheuer, in: Aktuelle Fragen des Medizinstrafrechts, Ankara 2008, S. 1320, 1321 f. 30 BGH JZ 2004, 800. 26

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korrekte und umfassende Aufklärung der Patientin vor der Einwilligung (informed consent) macht deren Zustimmung in den ärztlichen Eingriff erst zu einem Akt der Selbstbestimmung. Neben dieser – wenn man so will – regulären Einwilligung scheidet jedoch auch eine mutmaßliche Einwilligung aus. Die mutmaßliche Einwilligung kommt erst dann in Betracht, wenn eine reguläre Einwilligung insbesondere aus tatsächlichen Gründen nicht eingeholt werden kann,31 beispielsweise bei ärztlichen Notfalleingriffen an bewusstlosen Patienten. Die mutmaßliche Einwilligung ist gegenüber der tatsächlichen subsidiär. Im Beispielsfall wäre es jedoch durchaus möglich gewesen, den tatsächlichen Willen der Patientin zu erfahren. Der BGH lehnt daher eine Rechtfertigung der zweiten Operation aufgrund einer tatsächlichen oder einer mutmaßlichen Einwilligung ab. Er zieht dafür nunmehr die Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung heran. Danach handelte der Arzt im Beispielsfall deshalb nicht rechtswidrig, weil die Patientin möglicherweise in die Operation auch dann eingewilligt hätte, wenn sie den wirklichen Grund für die Operation erfahren hätte. Der BGH verneint eine tatsächliche (reguläre) Einwilligung und nimmt stattdessen eine hypothetische an, weil die Patientin die Einwilligung auch erteilt hätte, wenn man sie nicht getäuscht hätte.32 Es fehle der Nachweis der Kausalität der mangelhaften Aufklärung für das konkrete Entscheidungsergebnis der Patientin, so der BGH.

IV. Die Dogmatik der hypothetischen Einwilligung Diesen Überlegungen lässt sich eine gewisse Plausibilität nicht absprechen. Roxin nennt sie im Prinzip einleuchtend,33 andere bekunden ihre Sympathie.34 Bei Dritten schleicht sich indes ein ungutes Gefühl ein.35 Fragen wir also, wie diese Rechtsfigur dogmatisch zu qualifizieren ist und ob sie sich ins Raster der strafrechtlichen Systematik einfügt, was die Rechtsprechung bislang der Wissenschaft überlassen hat.36

___________ 31

Weber, in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT, 2. Aufl. 2009, S. 188; Müller-Dietz, JuS 1989, 280, 282. 32 Bestätigt durch BGH NStZ-RR 2007, 340, 341. 33 Roxin, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2006, S. 591. 34 Weber, in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT, 2. Aufl. 2009, S. 188. 35 Siehe etwa Gropp, FS Schroeder, 2006, S. 197. 36 Duttge, FS Schroeder, 2006, S. 179, 183.

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1. Kausalzusammenhang Teilweise wird davon gesprochen, dass die Kausalität zwischen unterbliebener Aufklärung und dem Eingriff in den Körper der Verletzten fehle.37 Diese Begrifflichkeit scheint schief; denn es geht in den genannten Fällen um keinen naturgesetzlichen Zusammenhang, welcher auch faktisch nicht nachweisbar wäre.38 Es geht um Fragen der Adäquanz und den Schutzbereich der Körperverletzungstatbestände, also um normative Zurechnungen. Allerdings ist einzuräumen, dass selbst der BGH, wenn es um wertende Zurechnungszusammenhänge geht, von „Kausalität“ spricht.39

2. Objektive Zurechnung Möglicherweise verbergen sich hinter der Nomenklatur der Kausalität noch alte Reserven gegen die Entdeckung der Strafrechtswissenschaft, dass auch im Strafrecht neben der Kausalitätsbeziehung von Handlung und Erfolg die Zurechenbarkeit des Erfolges festgestellt sein muss. Die Überlegungen firmieren unter dem Stichwort der objektiven Zurechnung, und in der Tat scheint auch bei der hypothetischen Einwilligung die Zurechenbarkeit zu entfallen. Es fehlt am normativen Zurechnungszusammenhang, wenn sich die Verletzung der Aufklärungspflicht durch den Arzt nicht in der Einwilligungserklärung des Patienten niederschlägt und sich damit nicht auf den tatbestandsmäßigen Erfolg auswirkt.40 Hier werden dogmatische Figuren, die den Grundsätzen der Lehre von der objektiven Zurechnung entstammen, auf die Rechtswidrigkeitsebene übertragen. Man kann davon sprechen, dass der Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen Aufklärungsmangel und Einwilligungserklärung zu verneinen ist.41 Die Überlegungen sind bestechend. Ein Erfolgsunrecht entfällt, wenn auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung und dann unzweifelhaft wirksamer Einwilligung der gleiche Eingriff in die Körperintegrität vorgenommen worden wäre. ___________ 37

Ulsenheimer, NStZ 1996, 132, 133, aufgegeben von demslb., Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, Rn. 132, Fn. 1013. 38 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 332; vgl. Kuhlen, JR 2004, 227, 228. 39 Im hiesigen Zusammenhang etwa BGH JZ 2004, 80. 40 Kuhlen, JR 2004, 227; ders., JZ 2005, 713 ff.; ders., FS Roxin, 2001, S. 331, 334; ders., FS Müller-Dietz, 2001, S. 431, 434 f.; LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 230 f.; ähnlich Mitsch, JZ 2005, 279, 283 f. 41 Kuhlen, FS Roxin, 2001, S. 331, 337; ders., FS Müller-Dietz, 2001, S. 431, 436; Rönnau, JZ 2004, 801 f.; vgl. Eisele, Strafrecht – BT I, 2008, Rn. 300; Geppert, JK 4/08, StGB § 223/4.

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Der Mangel in der Aufklärung schlägt sich nicht im tatbestandsmäßigen Erfolg, der Verletzung der körperlichen Integrität und nach h.M. der darin mit umfassten und daher der davon abhängigen, rechtsgutsbezogenen Dispositionsfreiheit nieder. Es fehlt damit am Pflichtwidrigkeitszusammenhang. Da von diesen Zusammenhängen regelmäßig auch der behandelnde Arzt ausgeht, entfällt entsprechend auch eine Versuchstat.42 Der Erfolg einer Körperverletzung beruht nur dann auf pflichtwidrig unzureichender oder auf unterlassener Aufklärung, wenn sich diese Pflichtwidrigkeit in irgendeiner Weise auswirkt. Das ist nur dann der Fall, wenn der Patient den Eingriff bei mangelfreier Aufklärung zurückgewiesen hätte43 bzw. genauer, wenn er sich dann in einem echten Entscheidungskonflikt befunden hätte.

3. Rechtmäßiges Alternativverhalten Denkbar wäre auch, die Figur des rechtmäßigen Alternativverhaltens heranzuziehen, soweit man sie überhaupt gesondert betrachten wollte; denn die Überlegungen sind mit den soeben angestellten weitgehend identisch. Auch dieses betrifft auf Tatbestandsebene die objektive Zurechnung und wäre hier auf der Rechtfertigungsebene fruchtbar zu machen.44 Wenn ein Erfolg auch bei pflichtgemäßem Alternativverhalten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ebenso eingetreten wäre, gilt der missbilligte Erfolg als objektiv unvermeidbar.45 Entsprechend lässt sich mit dem Grundsatz argumentieren, dass sich ein unerlaubtes Risiko im Erfolg verwirklicht haben muss. In Fällen, in denen der Patient hypothetisch eingewilligt hätte, hat sich aber gerade nichts Unerlaubtes im Erfolg realisiert.46

___________ 42

Auch wenn diese theoretisch konstruierbar erscheint, vgl. LK-StGB/Rönnau, Vor § 32 Rn. 230. Zutreffend gegen die Regelannahme der Versuchsstrafbarkeit Puppe, JR 2004, 470, 471; ähnlich Schwartz, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht, Frankfurt am Main 2009, S. 135; zweifelhaft Böcker, JZ 2005, 925, 928. Weiterreichend wohl auch Kuhlen, JR 2004, 227, 229 f.; Geppert, JK 4/08, StGB § 223/4. 43 Kuhlen, FS Müller-Dietz, 2001, S. 432 u. 436. 44 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 333; vgl. Eisele, Strafrecht – BT I, Stuttgart 2008, Rn. 300; LK-StGB/Rönnau, 12. Aufl. 2006, Vor § 32 Rn. 230. 45 Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 676. 46 Schroth, in: Aktuelle Fragen des Medizinstrafrechts, Ankara 2008, S. 88, 89 (Diskussionsbeitrag); kritisch Sickor, JR 2008, 179, 180 f.

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V. Kritik 1. Forensische Einwände Zunächst wird aus prozessualen Überlegungen heraus die Figur in Frage gestellt. Wenn die Strafbarkeit davon abhängt, dass der Patient auch bei korrekter Aufklärung nicht eingewilligt hätte, stellt sich das Problem, wie sich dieser Wille zur Tatzeit feststellen lasse.47 Freilich ist das kein spezielles Problem dieser Rechtsfigur. Stets bereitet die innere Tatseite Schwierigkeiten, weswegen sich die Praxis auch mit Konstrukten eines bedingten Vorsatzes behelfen muss. Aber auch dessen Feststellung stellt einen Rückschluss von objektiven Umständen auf die subjektive Tatseite dar, der genauso gut bzw. schlecht möglich ist, wenn es um die Bejahung oder Verneinung eines Entscheidungskonfliktes geht, in dem sich der Patient befunden hat. Die Beispiele aus der zivilrechtlichen Judikatur belegen im Übrigen, dass insoweit durchaus Entscheidungen möglich sind. Auch die Strafgerichte haben eindeutige Feststellungen treffen48 und Sachverhalte differenziert bewerten können.49 So ist bei einer medizinisch nicht indizierten Schönheitsoperation, die nicht lege artis durchgeführt wurde, zutreffend ein Entscheidungskonflikt nicht ausgeschlossen, mithin die hypothetische Einwilligung verneint worden.50

2. Irrelevanz von Reserveursachen Grundsätzlicher ist der Vorhalt, dass hypothetische Kausalverläufe keine Berücksichtigung finden dürfen. Diese Irrelevanz von Reserveursachen müsse auch bei der Einwilligung Gültigkeit haben. Wäre die Figur nicht konsequenterweise auf Fälle außerhalb des Medizinstrafrechts zu erstrecken? Soll etwa der Dieb gerechtfertigt sein, wenn das Opfer im nachhinein die Tat billigt, so die rhetorische Frage.51 Allerdings weist Gropp zutreffend darauf hin, dass die Unterstellung fiktiver Kausalverläufe, um Zurechnungszusammenhänge zu beleuchten, auch im Rahmen der Kausalitätslehre nicht ungewöhnlich ist.52 Zwar dürfen im Rahmen ___________ 47

Puppe, GA 2003, 764, 769; dies., JR 2004, 470; Gropp, FS Schroeder, 2006, S. 197, 200; Otto, JURA 2004, 679, 683. 48 Deutlich BGH NStZ 2004, 442: „Auf Grund der eindeutigen Feststellungen ...“ wurde ein Entscheidungskonflikt bejaht. 49 Es gibt also kein regelmäßiges non-liquet mit der Folge der Straflosigkeit, so aber Duttge, FS Schroeder, 2006, S. 179, 184. 50 BGH NStZ-RR 2007, 340, 341. 51 Otto, Grundkurs Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, S. 133; ders., JURA 2004, 679, 683. 52 Gropp, FS Schroeder, 2006, S. 197, 201.

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der conditio sine qua non-Formel hypothetische Ursachen nicht hinzugedacht werden. Aber schon bei der Prüfung der Quasi-Kausalität des Unterlassens kommt man ohne hypothetische Überlegungen nicht aus. Es geht dort, wie Maiwald zutreffend bemerkt, um eine hypothetische Kausalität.53 Ein Unterlassen gilt dann als kausal, wenn es nicht – zu ergänzen wäre: hypothetisch – hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele. Hier besteht eine unmittelbare Parallele zu unserer Einwilligungsfrage. Zwar soll der Arzt wegen einer Körperverletzung nach § 223 StGB verurteilt werden, also wegen aktiven Tuns. Vorzuwerfen ist ihm aber in Wahrheit die unterlassene oder teilweise unterlassene Aufklärung; denn sein Eingriff als solcher kann lege artis und sogar erfolgreich durchgeführt worden sein. Der Grund der Vorwerfbarkeit liegt also in einem – wenn auch vorgelagerten – Unterlassen, so dass die Überlegungen zu hypothetischen Ersatzursachen auch hier herangezogen werden können.54 Entsprechendes gilt, wenn es um die Begründung einer Fahrlässigkeitsstrafbarkeit geht. In der Lehre des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs wird zur Feststellung desselben geprüft, ob der Erfolg entfiele, hätte sich der Täter pflichtgemäß verhalten. Hier ist die strukturelle Parallele zur Arzthaftung noch deutlicher. Der Arzt haftet in Fällen zweifelhafter Einwilligung, weil die Aufklärung nicht umfassend genug erfolgt ist. Wann das aber der Fall wäre, lässt sich aufgrund der in Deutschland bis an die Grenzen ausziselierten, tendenziell uferlosen und selbst für den Medizinrechtsexperten kaum noch überschaubaren Rechtsprechung nur schwer voraussehen.55 Die eigentliche Körperverletzung mag zwar vorsätzlich erfolgt sein, das pflichtwidrige Vorverhalten aber entspricht tendenziell eher einem Fahrlässigkeitsvorwurf. Freilich ist einzuräumen, dass die Rechtsfigur, wie etwa im geschilderten Fall, auch vorsätzliches Handeln der Ärzte betreffen kann, wenn der Arzt vor der Operation den Patienten täuscht und weiß, dass keine zutreffende Einwilligung vorliegt, so dass der Arzt auch im Hinblick auf Einwilligungsdefizite wohl vorsätzlich handelt. Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass er – insofern wieder fahrlässig – davon ausgeht, dass die Patientin so oder so einwilligt und er deshalb seinen Fehler in der ersten Operation ohne eine sich in relevanter Weise auf das Selbstbestimmungsrecht der Patientin auswirkende Täuschung vertuschen kann. Damit überzeugen die Bedenken gegen eine Berücksichtigung auch hypothetischer Verläufe nicht, auch wenn sich bislang eine Lehre von Rechtswidrig-

___________ 53

Maiwald, JuS 1989, 186, 187. A.A. Gropp, FS Schroeder, 2006, S. 194, 202. 55 Kifmann/Rosenau, in: Möllers (Hrsg.), Standardisierung durch Markt und Recht, 2008, S. 49, 62. 54

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keitszusammenhängen nicht entwickelt hat.56 Aber da auch im Übrigen eine Strukturgleichheit von Tatbestandsmäßigkeit, die das strafbare Unrecht begründet, und Rechtswidrigkeit, welche das Unrecht im Einzelfall wieder entfallen lassen kann, besteht, wäre eine Übertragung der Überlegungen vom Pflichtwidrigkeitszusammenhang auf die Rechtfertigungsebene nur konsequent: genauso wie sich etwa mit dem Verteidigungswillen auch der subjektive Tatbestand auf der Ebene der Rechtfertigung spiegelt. Mit der hypothetischen Einwilligung erleben wir somit einen Fall von Fortentwicklung und einen weiteren Grad an Reife der dogmatischen Strukturen im Unrechtstatbestand, dem sich schlecht mit dem Argument begegnen lässt, ähnlich oder parallel Gelagertes sei bislang unbekannt. Mit einer solchen Argumentation hätten wir heute noch keine Lehre der objektiven Zurechnung,57 und uns wäre weiterhin der Verteidigungswille als Voraussetzung der Rechtfertigung unbekannt.58

3. Unerlaubtes Risiko Beim rechtmäßigen Alternativverhalten geht es um die Frage, ob der Täter durch sein Verhalten das Risiko für das geschützte Rechtsgut über das erlaubte Maß erhöht hat. Die Skeptiker behaupten nun, wer ohne Einwilligung behandelt, habe bereits dadurch pflichtwidrig das Rechtsgut verletzt.59 Zwar ist das Aufklärungsdefizit ein unerlaubtes Risiko. Es betrifft aber die Selbstbestimmung des Patienten, nicht das in § 223 StGB geschützte Rechtsgut, auf das es ankommen muss. Und selbst das Selbstbestimmungsrecht ist gerade bei fehlendem Entscheidungskonflikt in nicht relevanter Weise berührt. Der „Erfolg“ eines Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit ist nach allem in der Tat ein erlaubter.

___________ 56 Gropp, FS Schroeder, 2006, S. 194, 203. Allerdings wird exakt dieser Begriff verwendet, wenn es um den Pflichtwidrigkeitszusammenhang bei Fahrlässigkeitsdelikten geht, s. Erb, Rechtmäßiges Alternativverhalten und seine Auswirkungen auf die Erfolgszurechnung im Strafrecht, 1991, S. 70 f.; Schönke/Schröder/Cramer/SternbergLieben, 27. Aufl. 2006, § 15 Rn. 156 ff. 57 Zur Entstehung s. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, S. 284 f., 286 f. 58 Was Spendel erfreut hätte, vgl. LK-StGB/Spendel, 11. Aufl. 2003, § 32 Rn. 138 ff., aber den dogmatischen Erkenntnisfortschritt nicht beachtete, der zur schrittweisen Anerkennung der subjektiven Unrechtselemente führte, Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT I, 5. Aufl. 2004, S. 181. 59 Otto, Grundkurs Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, S. 134.

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VI. Hintergrund und Rechtfertigung der hypothetischen Einwilligung im Strafrecht 1. Der medizinische Alltag Bei allem Streit um die systematische Einordnung der hypothetischen Einwilligung im Strafrecht sollten die Realitäten des medizinischen Alltags nicht unberücksichtigt bleiben.60 In der ganz überwiegenden Anzahl der medizinischen Eingriffe willigen die Patienten ein, nachdem sie über den Eingriff aufgeklärt worden sind. Bei Standardbehandlungen und damit verbundenen Eingriffen – wie beispielsweise Injektionen – kommt eine Verweigerung nach Aufklärung praktisch nicht vor, mit der Konsequenz, dass es im Ergebnis auf eine korrekte Aufklärung nicht ankommt. Auch wenn die konkrete Aufklärung defizitär war, liegen in diesen Fällen die Voraussetzungen einer hypothetischen Einwilligung vor. Denn der Patient hätte bei einer richtigen Aufklärung in den Eingriff ebenso eingewilligt. Der Arzt kennt diese Mechanismen; sie entsprechen seiner Erfahrung. Deshalb findet im ärztlichen Alltag oftmals gar keine Aufklärung statt. Sollte man diese Ärzte deswegen strafrechtlich zur Verantwortung ziehen? Aber auch bei ungewöhnlichen oder besonders riskanten Eingriffen dürften in der Praxis Aufklärungsmängel in den allermeisten Fällen keinen Einfluss auf den erklärten Willen des Patienten haben. Für die konkrete Entscheidung eines Patienten spielen andere Aspekte eine bedeutendere Rolle, insbesondere auch die Empfehlung des Arztes. Der Patient kommt nicht zuallererst zum Arzt, um seine Selbstbestimmung auszuüben, sondern er erwartet vom Arzt Zuwendung, Rat und im Rahmen eines Vertrauensverhältnisses eine Empfehlung, die regelmäßig auch befolgt wird.

2. Relativierung der Einwilligung An dieser Stelle wird nun ein prinzipieller Einwand geltend gemacht. Bei konsequenter Anwendung der Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung drohen Aufklärungsmängel strafrechtlich weitgehend irrelevant zu werden.61 Die Kritiker werfen der Rechtsprechung vor, die Strafbarkeit eigenmächtiger Heileingriffe werde unterlaufen. Anders gewendet wird kritisiert, dass die ___________ 60

Auch zum Folgenden instruktiv Mosenheuer, in: Aktuelle Fragen des Medizinstrafrechts, Ankara 2008, S. 1320, 1323, dem ich hier folge. 61 Schönke/Schröder/Eser, 27. Aufl. 2006, § 223 Rn. 40e; Mosenheuer, in: Aktuelle Fragen des Medizinstrafrechts, Ankara 2008, S. 1320, 1324.

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hypothetische Einwilligung nicht mit der Selbstbestimmung zu vereinbaren sei.62 Darin offenbart sich ein fundamentaler Irrtum. Die Körperverletzungstatbestände schützen nicht das Selbstbestimmungsrecht. Der Tatbestand des § 223 StGB hat das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit vor Augen und darf nicht zu einem Tatbestand zum Schutz der Selbstbestimmung umgedeutet werden.63 Bei der ärztlichen Behandlung geht es aber weder auf Patientenseite noch auf Behandlerseite vorrangig um das Selbstbestimmungsrecht, sondern um Therapie und Zuwendung. Der Schutz der Autonomie ist allenfalls als Reflex der §§ 223 ff. StGB anzuerkennen, nicht aber als das zentrale Schutzgut, welches auch – etwa im Vergleich zur Bedrohung (§ 241 StGB, bis zu einer einjährigen Freiheitsstrafe) oder Nötigung (§ 240 StGB, bis zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe) – inkonsistent schärfer bestraft wird: In Fällen einer lege artisBehandlung, bei der nur die fehlerhafte Aufklärung vorzuwerfen ist, ließe sich der hohe Strafrahmen nicht rechtfertigen. Im Übrigen zeigt auch das anerkannte Institut der mutmaßlichen Einwilligung, dass die Achtung der Selbstbestimmung nicht Voraussetzung für eine Straflosigkeit ist. Denn die mutmaßliche Einwilligung ist in hohem Maße eine fiktive und kommt der hypothetischen Einwilligung sehr nahe, ja geht regelmäßig über diese hinaus. Der Betroffene übt hierbei seine Selbstbestimmung gar nicht aus. Regelmäßig gibt es keine Äußerungen der Patienten, wie sie bei einem Unfall behandelt werden wollten. Zwar ist an sich ein hypothetischer Wille des Rechtsgutsinhabers zu ermitteln, und das gemeinhin Vernünftige soll nur dazu beitragen, diesen zu ermitteln.64 Fehlt es an weiteren Anhaltspunkten, schließt man im Ergebnis doch vom durchschnittlichen, vernünftigen Patienten auf den mutmaßlichen Willen.65 Das ist in hohem Maße Paternalismus und Fremdbestimmung durch die behandelnden Ärzte.66 Aus diesem Grund erscheint die mutmaßliche Einwilligung auch nur dann vertretbar, wenn eine Einwilligung tatsächlich nicht vor dem Eingriff eingeholt werden konnte. Denn das wird – wie bereits gesagt – bei der mutmaßlichen Einwilligung vorausgesetzt.67 ___________ 62

Frister, AT, 4. Aufl. 2009, S. 187; Eisele, Strafrecht – BT I, 2008, Rn. 301; Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, S. 289; Sickor, JA 2008, 11, 15. 63 Rosenau, in: Rosenau/Hakeri (Hrsg.), Der medizinische Behandlungsfehler, 2008, S. 215, 216 f.; so auch Mitsch, JZ 2005, 279, 285. 64 BGHSt 35, 246, 249 f. 65 BGHSt 35, 246, 250; Roxin, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2006, S. 824. 66 Zutreffend im Zusammenhang der Sterbebegleitung Duttge, FS Schroeder, 2006, S. 179, 182. 67 BGHSt 16, 309, 312.

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Deshalb ist der Vorwurf unzutreffend, in weiten Bereichen würden diese Voraussetzungen der mutmaßlichen Einwilligung unterlaufen.68 Im Bandscheiben-Fall hätte ja auch der Arzt über sein Versehen informieren können. Doch anders als bei der mutmaßlichen wird bei der hypothetischen Einwilligung nicht eine nicht vorhandene durch eine rein fiktive Zustimmung des Patienten ersetzt. Die hypothetische Einwilligung greift nämlich nur dann, wenn ein echter Entscheidungskonflikt nicht besteht. Daher werden Vorstellungen und persönliche Einstellungen des Patienten also gerade und anders als bei der mutmaßlichen Einwilligung berücksichtigt. Anders als dort genügt der durchschnittlich vernünftige Patient hier als Maßstab gerade nicht. Die hypothetische Einwilligung steht auf einer Skala der Selbstbestimmungsverträglichkeit zwischen tatsächlicher und mutmaßlicher Einwilligung, nicht dahinter.69 Sie kann entsprechend die Voraussetzungen der mutmaßlichen Einwilligung nicht konterkarieren. Vielleicht sollte auch deutlich gemacht werden, dass die hypothetische Einwilligung den Weg zur eigenmächtigen Heilbehandlung nicht eröffnet. Eine Grund-Einwilligung im Sinne einer zustimmenden Willensbekundung des Patienten zum Eingriff wird vorausgesetzt. Betroffen sind nur solche Fälle, in denen aufgrund von Aufklärungsmängeln diese Willensbekundung nicht als wirksame Einwilligung gelten kann.

3. Der medizinrechtliche Zusammenhang Die ausgemachten Aporien haben sich jedenfalls als Luftschlösser entpuppt, mögen auch nicht immer alle dogmatischen Brüche ohne weiteres auszuräumen sein. Diesen bleiben die Kritiker70 zu sehr verhaftet. Verkannt wird der funktionale medizinrechtliche Zusammenhang, in den die hypothetische Einwilligung eingebettet ist. Sie ist im Zivilrecht zur Eindämmung einer ausufernden, wenn nicht hypotrophen Aufklärungshaftung durch die Judikatur der Zivilgerichte entwickelt worden.71 Dort fungiert der Aufklärungsmangel inzwischen als Chiffre für nicht beweisbare Behandlungsfehler. In vielen zivilrechtlichen Haftungsprozessen wird das Ergebnis über eine Überdehnung der ärztlichen Aufklärungspflicht, gekoppelt mit hohen Anforderungen an die Dokumentation des Behandlungsverlau___________ 68 Mosenheuer, in: Aktuelle Fragen des Medizinstrafrechts, Ankara 2008, S. 1320, 1324; LK-StGB/Rönnau, 12. Aufl. 2006, Vor § 32 Rn. 231. 69 Ähnlich Böcker, JZ 2005, 925, 926: sie verletze nicht das Selbstbestimmungsrecht. 70 Otto, JURA 2004, 679, 683; krit. auch Duttge, FS Schroeder, 2006, S. 179, 185 ff.; Gropp, FS Schroeder, 2006, S. 205 ff.; Jäger, FS Jung, 2007, S. 350 f.; Paeffgen, FS Rudolphi, 2004, S. 208 f.; Puppe, JR 2004, 470 ff. 71 SSW-StGB/Rosenau, Köln 2009, Vor § 32 Rn. 53; wie hier Rönnau, JZ 2004, 799, 802; Rigizahn, JR 1996, 72, 74; vermutend Duttge, FS Schroeder, 2006, S. 179, 195.

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fes, gesucht und gefunden. Der eigentliche Behandlungsfehler, in alter Diktion der ärztliche Kunstfehler, tritt als kaum oder schwer nachweisbar völlig in den Hintergrund.72 Die Verletzung der Aufklärungspflicht ist weitgehend zum apokryphen Grund für vermutete, aber nicht beweisbare Behandlungsfehler geworden, was die Aufklärung mit sachfremden Gesichtspunkten belastet hat. Zutreffend erscheint die Diagnose, die Rechtsprechung sei einer „Monokultur“ der Aufklärung erlegen.73 Das mag für die Schadensausgleichfunktion im Zivilrecht seine Berechtigung haben. Ein Gleichlauf zwischen zivilrechtlichem und strafrechtlichem Aufklärungsniveau ist an sich nicht angezeigt.74 Da sich jedoch ein für die Ziele des Strafrechts angepasster, angemessener Maßstab für den Umfang ärztlicher Aufklärungspflichten (noch) nicht hat finden lassen75 und die Strafgerichte zunächst die sehr strenge Praxis der Zivilsenate des BGH übernommen haben,76 muss im Strafrecht eine zivilrechtlich entwickelte Eingrenzung erst recht Berücksichtigung finden. Das gilt jedenfalls, solange das Strafrecht kein selbstständiges System für die Strafbarkeit bei Aufklärungsmängeln im Rahmen einer Heilbehandlung entwickelt, wie es beispielsweise im englischen Recht der Fall ist.77 Es greift der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung, nach der die Frage der Rechtswidrigkeit in der Gesamtrechtsordnung einheitlich zu beantworten ist.78 Es kann nicht sein, dass der betroffene Arzt zivilrechtlich von einer Haftung freigestellt wird, aber bestraft werden soll.79 Eine noch offene Frage ist die Übertragung der Rechtsfigur auf die Einwilligung insgesamt. Entsprechende Befürchtungen dürften sich als grundlos erweisen, weil sich in anderen Konstellationen die hypothetische Einwilligung schlicht nicht auswirken dürfte. Es ließe sich zunächst argumentieren, dass die Figur gar nicht konsequenterweise auf Fälle außerhalb des Medizinstrafrechts zu erstrecken ist, etwa beim ___________ 72

Tröndle, MDR 1983, 887. Schreiber, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 503, 507; vgl. auch Kifmann/Rosenau, in: Möllers (Hrsg.), Standardisierung durch Markt und Recht, 2008, S. 49, 62. 74 Rosenau, in: Rosenau/Hakeri (Hrsg.), Der medizinische Behandlungsfehler, 2008, S. 215, 221 f.; a.A. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 480; wohl auch Geilen, in: Wenzel (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Medizinrecht, 2007, S. 353. 75 Jerouschek, JuS 1999, 746, 749. 76 Schreiber, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 503, 513. In jüngerer Zeit zeigen sich gewisse Relativierungen, BGH MedR 1996, 22 ff. 77 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, München 2008, S. 215; Rosenau, in: Rosenau/Hakeri (Hrsg.), Der medizinische Behandlungsfehler, 2008, S. 215, 223. 78 HK-GS-Duttge, 2008, Vor §§ 32 f., Rn. 4; BGHSt 11, 241, 244; OLG Köln NStZ 1986, 225, 226. 79 Sternberg-Lieben, StV 2008, 192 f. 73

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Dieb, dessen Diebstahl der Eigentümer nachträglich billigt.80 Denn hier greift der Sinn der Rechtsfigur nicht, die sich mit dem geschilderten medizinrechtlichen Kontext der Aufklärungsjudikatur erklärt. Zudem wurde schon ausgeführt, dass es nicht um eine nachträgliche Genehmigung geht, sondern das Vorliegen der hypothetischen Einwilligung ex ante festzustellen ist. Doch bliebe selbst im Diebes-Beispiel die Vorstellung, dass sich hier Strafbares manifestiert, eher dogmatischem Lehrbuchdenken verhaftet: kein Gericht der Welt würde noch einen solchen Diebstahl verurteilen, weil mit der nachträglichen Zustimmung sich ein Strafbedürfnis verflüchtigt hätte und eine Einstellung nach § 153 bzw. § 153a StPO im Raum steht. Näher liegt die Annahme, dass die hypothetische Einwilligung in der Tat auch in Konstellationen jenseits der Medizin existent ist. Wenn sie bislang dort nicht aufgefallen ist und uns mutmaßlich auch künftig nicht beschäftigen wird, hängt dies damit zusammen, dass an die Voraussetzungen für eine wirksame Einwilligung in einen Rechtsgutseingriff allein im Medizinrecht die geschilderten hohen bis überzogenen Anforderungen an eine vorherige Aufklärung, sprich die Einsicht in die Bedeutung des Rechtsguts und die Schwere des Eingriffs,81 gestellt werden. Nur dann stellt sich aber überhaupt die Frage, ob sich ein Einsichtsdefizit ausgewirkt hat. In anderen Bezügen würden wir heute vermutlich einen rechtsgutsbezogenen Irrtum verneinen und das, was wir im Medizinrecht hypothetische Einwilligung nennen, als reguläre und wirksame Einwilligung mit rechtfertigender Wirkung akzeptieren, ausgenommen vielleicht in Fällen der Täuschung.82 So würden wir die spielerische Rauferei unter jungen Burschen nicht unter § 223 StGB subsumieren wollen,83 obgleich eine minimale, aber nicht unspezifische Gefahr für das Leben damit verbunden sein könnte.84 Bei der ärztlichen Behandlung wäre solch ein Risiko bereits aufklärungspflichtig geworden.85

___________ 80 Vgl. Otto, Grundkurs Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, S. 133; ders., JURA 2004, 679, 683; Eisele, JA 2005, 252, 254; Sickor, JA 2008, 11, 16. 81 So die Voraussetzungen bei der Einwilligung, h.M., s. nur Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, S. 282. Nicht rechtsguts-, sondern wertbezogen formuliert Amelung, ZStW 109 (1997), 489, 516. 82 Zum letzteren Streitpunkt vgl. Kindhäuser, LPK-StGB, 3. Aufl. 2006, Vor § 13 Rn. 183; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, 26. Aufl. 2006, Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 47. 83 Beispiel nach Roxin, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2006, S. 577. 84 Vgl. den Sachverhalt BGHSt 4, 88. 85 Vgl. BGHZ 126, 386, 389.

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VII. Ergebnis Nach allem wäre die Annahme verfehlt, dass die hypothetische Einwilligung aus dogmatischen Gründen aufzugeben wäre.86 Die gegenteilige Rechtsprechung des BGH vermag zu überzeugen.

___________ 86

So aber etwa Frister, AT, 4. Aufl. 2009, S. 187.

Evidenzbasierte Kriminalprävention als Grundlage zweckrationaler Legitimation der Strafe Von Dieter Rössner

I. Normative Strafzweckvorgaben und Kriminalprävention Im Jahr 2008 wurde durch die Neufassung des § 2 Abs. 1 JGG das zweckrationale Ziel des Jugendstrafrechts klar definiert: Es soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken. Das entspricht der positiv gewendeten Zielvorgabe in § 2 StVollzG, wonach der Gefangene befähigt werden soll, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Einen entsprechend hohen Stellenwert nimmt die Kriminalprävention im Sinne von Rückfallverhütung auch im Rahmen der heute weitgehend anerkannten Vereinigungstheorie im allgemeinen Strafrecht ein. Das gilt insbesondere für die „präventive Vereinigungstheorie“, die die Legitimation der Strafe im vorbeugenden Schutz der Gemeinschaft vor schwerwiegenden Rechtsverletzungen sieht1. In jedem Fall werden mit dieser Legitimationsgrundlage das Strafrechtssystem und die Kriminalstrafe auf den Prüfstand empirischer Kontrolle gestellt, denn die präventiven Wirkungen können wissenschaftlich untersucht und damit bestätigt oder widerlegt werden. Dieser häufig vernachlässigte Zusammenhang zwischen dogmatischen Vorgaben und Realität waren in der Perspektive ursächlicher Zusammenhänge schon vor langer Zeit ein differenziert erforschtes Thema des Jubilars2. Die wissenschaftliche Kriminalprävention in Form empirischer Wirkungsforschung ist in Deutschland noch nicht weit entwickelt. Die Gründe hierfür sind vielfältig und reichen von mangelnden Forschungsressourcen über ein geringes Engagement der Kriminologie in diesem schwierigen Bereich bis zur Furcht vor unerwarteten Ergebnissen mit Konsequenzen für die relativ unangefochtenen normativen Vorgaben. Aber gerade bezogen auf die Ressourcenknappheit geht es wie in der Medizin darum, eine Prioritätsliste der Wirkung ___________ 1 Roxin, Strafrecht AT, 4. Aufl., § 3 Rn. 37 ff.; Rössner, FS Roxin, 2001, S. 977 ff.; zur Legitimation des Präventionszwecks im Strafrecht Hassemer, Warum Strafe sein muss, 2009. 2 Maiwald, Kausalität und Strafrecht. Studien zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Jurisprudenz, 1980.

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kriminalpräventiver Maßnahmen zu erstellen, die den verantwortlichen Umgang mit den öffentlichen Mitteln bei der Kriminalprävention zulässt. Die medizinische Wirkungsforschung ist methodisch gesehen das Vorbild: Wirkungen spezifischer kriminalpräventiver Maßnahmen zeigen sich nur im kontrollierten Vergleich zwischen einer Gruppe, die eine spezifische Behandlung erhält und einer anderen ohne die Intervention bei sonst gleicher Ausgangslage (Kontrollgruppendesign). Bei der Analyse von Präventionsprozessen ist schnell das Problem zu erkennen, dass die primäre Sozialisation und Erziehung in der Familie sowie die der sekundären Erziehungsträger in Kindergärten und Schulen erheblichen Einfluss auf Kriminalitätsentwicklungen haben und als unabänderliche intervenierende Variable bei allen speziellen Maßnahmen späterer spezifischer Kriminalprävention hingenommen werden müssen. Eine ebenso unabänderliche Einflussgröße stellen z. B. Auflösungs- und Desintegrationsprozesse in der Gesellschaft dar. So ist zu verstehen, dass Kriminalität in neun von zehn Fällen nicht mit einer besonderen sozialen Auffälligkeit verbunden ist, sondern ein solcher Zusammenhang nur bei intensiver und verfestigter Kriminalität auszumachen ist und auch unter den verschiedensten gesellschaftlichen Bedingungen nur ein relativ stabiles „5 %-Problem“ ist. Bei ihnen treten früh sich entwickelnde bekannte kriminologische Syndrome sozialer Bindungslosigkeit auf: funktional gestörte Familie, fehlende Kontrolle und Zuwendung in der Familie, wechselndes oder gewaltorientiertes Erziehungsverhalten der Eltern, wechselnde Aufenthaltsorte, erhebliche Auffälligkeiten wie Schwänzen und Aggressivität in der Schule, kein Schulabschluss und keine Lehre, negative Arbeitseinstellung, unstrukturiertes Freizeitverhalten, keine tragenden menschlichen Beziehungen, Unfähigkeit zur emotionalen Kommunikation3. Sie können nicht Gegenstand spezifischer Wirkungsforschung im Strafrecht sein. Die häufig bei der Wirkungsforschung konstatierte relative Wirkungslosigkeit allgemeiner Maßnahmen beruht mit Blick auf die skizzierten Rahmenbedingungen darauf, dass punktuelle Maßnahmen der Kriminalprävention einerseits bei Episodentätern, die sich von sozial Unauffälligen nicht unterscheiden, ebenso wenig spürbaren Einfluss auf das sonstige übergewichtige Gesamtgeschehen der grundsätzlich gelingenden Sozialisation haben, wie auf das der 5 % Intensivtäter mit ausgebildetem Syndrom sozialer Auffälligkeit, die nach langer und umfassender Fehlentwicklung in vielen Bereichen der Sozialisation und Integration natürlich nicht durch punktuelle kriminalpräventive Eingriffe nach der kontinuierlichen Hinentwicklung zur Kriminalität zu erreichen sind. Die Erwartungen an spezifische Kriminalprävention im Kontext (jugend-)strafrechtlicher ___________ 3

Göppinger, Kriminologie, 5. Aufl. 1997, S. 252 ff.; Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. 1996, S. 523 ff.; Marneros/Ullrich/Rössner, Das Hallenser Angeklagtenprojekt, in: Marneros, Rössner u.a. (Hrsg.), Psychiatrie und Justiz 2000, S. 5 ff.

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Kontrolle dürfen daher nicht zu hoch gehängt werden. Andererseits sind schon schwache Effekte beachtlich und sprechen sehr für eine bestimmte Intervention. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt vor allem, dass Prävention nicht am Ende einer ausgeprägten kriminellen Karriere stehen sollte, sondern möglichst frühzeitig einzusetzen hat. Das ist die klare Botschaft der oft gehörten Binsenweisheit, dass Vorbeugen besser ist als späteres Behandeln oder Bestrafen. Jede weitere Fehlentwicklung macht nachfolgende Prävention schwieriger. Frühpräventives Handeln muss kriminalpräventive Strategien deshalb konsequent ergänzen, um Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen zu verbessern.

II. Allgemeine Rahmenbedingungen wirkungsvoller Kriminalprävention Zwei unterschiedliche Ebenen des sozialen Normlernens bestimmen die Einwirkung in Richtung auf konformes Verhalten: Die in der Außenwelt konstituierten sozialen Normen – das Normfundament – bedürfen zunächst und ständig fortlaufend der externen sozialen Kontrolle zum Sichtbarwerden und zur Vergegenständlichung. Die persönliche Aneignung der Normen aus der Außenwelt führt zu der letztlich wirksamen inneren Kontrolle, die eine ständige äußere Kontrolle zur Normbeachtung überflüssig macht.

1. Die präventive Funktion der Kriminalstrafe Auf der ersten Ebene ist die klare Kontur der äußeren Regel stets und immer die erste und notwendige Voraussetzung für die Regeleinhaltung. Dabei kommt der Sanktion und der strafrechtlichen Kontrolle erhebliche Bedeutung zu. Normen können nur gelernt werden, wenn sie als äußere Ordnung sichtbar und von der Gemeinschaft gelebt werden. Die gewisse und konsequente Sanktion konstituiert also nicht nur die äußere Ordnung, sondern wirkt auch individuell im Prozess des Normlernens. Nach neuen, verallgemeinerungsfähigen Ergebnissen der Kriminologie sind drei Faktoren für die Entwicklung von Selbstkontrolle entscheidend: Das Verhalten wird grundsätzlich kontrolliert, es wird erkannt und thematisiert sowie angemessen bestraft4. Die Effektivität des Normlernens in allen sozialen Institutionen und Bereichen ist umso größer, je früher das soziale Normlernen erfolgt und je intensiver der Personenbezug und die Zuwendung beim Normenlernen sind. Die gestufte ___________ 4 Gottfredson/Hirschi, A General Theory of Crime, 1990; s. dazu auch Lamnek, Neue Theorien abweichenden Verhaltens, 1994, S. 120 ff.

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Effektivität der Einflussnahme lässt sich am besten mithilfe eines Pyramidenmodells erklären. Damit wird die tragende Rolle, welche Familie, Ersatzfamilie, Kindergarten und danach die Schule bei der normativen Sozialisation spielen, als Basis der gesamten normativen Struktur der Gemeinschaft deutlich. Entscheidend ist zunächst die familiäre oder ersatzweise erfolgte Basissozialisation für die Normvermittlung. Aber auch die Schule begegnet Schülern und Lehrern – zumindest in den ersten Jahren – im Bereich normativer Bildung noch relativ intensiv. Natürlich kann die Schule im Rahmen des sozialen Normenlernens die Rolle der Eltern und der engen familiären Umgebung nicht ersetzen. Andererseits ist die Schule aus den genannten Gründen jedoch immer noch besser geeignet zur erfolgreichen normativen Sozialisation als die erst später und mit weniger sozialer Nähe und intensivem Personenbezug wirkenden Institutionen wie Vereine, kommunale Einrichtungen oder gar das Strafrecht. Die Bedeutung des frühen und in emotionaler Nähe stattfindenden Normlernens für die Ausbildung sozialer Verantwortung und damit verbundener Resistenz gegen kriminelle Entwicklungen findet aktuell eine beeindruckende empirische Bestätigung in der kriminologischen Forschung. Bei der Nachuntersuchung der groß angelegten Tübinger-Jungtäter-Vergleichsuntersuchung stellte sich heraus, dass die mit Abstand stärksten und signifikantesten Korrelationen zwischen dem Ob und Wie der Beaufsichtigung („Monitoring“) der Kinder durch die Eltern, dem konsequenten und konsistenten Erziehungsstil und der emotionalen Bindung an die Familie bestehen. Nahezu die Hälfte der Varianz des Unterschieds zwischen der kriminellen Untersuchungsgruppe und der unauffälligen Vergleichsgruppe ist mit nur diesen drei Faktoren zu erklären.5 Das ist ein selten in kriminologischen Untersuchungen erreichtes Erklärungsgewicht für einzelne Merkmale und ungewöhnlich, wenn man die Menge der in der Sozialisation wirksamen Einzelfaktoren bedenkt. Der Schwerpunkt und die Richtung wirkungsvoller Kriminalprävention sind damit klar vorgegeben. Der angemessene Einsatz der Sanktion durch Normverdeutlichung und als Anstoß zum Normenlernen hat damit universell in allen Lebensbereichen präventive Funktion. Aktuelle empirische Ergebnisse bestätigen diese bisher meist nur normativ im Rahmen der Strafrechtslegitimation diskutierte Sanktionsnotwendigkeit aufgrund verhaltens- und neurowissenschaftlicher Erkenntnissen zur Belohungs- und Sanktionsnotwendigkeit als Grundlage menschlicher Kooperation und das dabei aufgedeckte Gegenseitigkeitsprinzip6. Nach der DIWStudie, die die Kriminalitätsentwicklung seit 1969 verfolgt und auch nach Re___________ 5

Kerner, in: Klosinski (Hrsg.), Empathie und Beziehung, 2004, S. 48. Siehe dazu mit Nachweisen HK-GS/Rössner, Vorbemerkungen zu § 1 Rn. 9 ff. und eine aktuell in der Presse vorgestellte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von Entorf und Schwengler (s. dazu auch MSchrKrim 2005, 313 ff.). 6

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gionen differenziert, reduzieren Verurteilungen die Kriminalitätszahlen, so dass aufgrund der Daten dieser Studie gefordert wird, die Politik der Verfahrenseinstellung auf den Prüfstand zu stellen. Die Sanktion ist der entscheidende „soziale Kitt“ einer Gemeinschaft, wie in neuen experimentellen Untersuchungen gezeigt wird. Illustrieren lässt sich das anhand eines ökonomischen Gewinnspiels mit gemeinwohlorientierten und egoistischen Optionen, das den Teilnehmern bei primär gleichen Spielregeln die freie Wahl ließ, mit oder ohne Sanktionen zu spielen. Während sich zu Anfang die Mehrzahl der einander fremden Versuchspersonen für die repressionsfreie Gruppe aussprach, wechselten während des Spiels fast alle Teilnehmer in die Sanktionsgruppe, obwohl die Sanktionen zusätzlich Spielkosten verursachten7. Offenbar wurde die ursprünglich breite Kooperationsbereitschaft in den sanktionsfreien Spielgruppen schnell durch die wenigen egoistischen Nutznießer dieses Systems so strapaziert, dass Misstrauen und Rücksichtslosigkeit einem echten Kooperationsmodell keine Chance mehr ließen. Im sanktionierenden System etablierten und stabilisierten sich dagegen kooperative Verhaltensmuster. Die anonyme staatliche Ebene ist für sog. „FreeRider“ in Form kriminellen Verhaltens besonders anfällig. Gemeinschaft basiert darauf, dass Sanktionen mögliche Verhaltensvorteile von Normbrechern beseitigen und Konforme bevorzugen. Letztlich hängt die faire Kooperation einer Gemeinschaft also von der Möglichkeit der Sanktionierung ab8. Die neurowissenschaftlichen Untersuchungen belegen über die Belohnungsund Sanktionsmöglichkeiten als Grundlage menschlicher Kooperation hinaus teilweise in der Kriminologie schon bekannte weitere Wirkungsfaktoren der Sanktion: Zum einen ist Strafe nur dann wirksam und gemeinschaftsfördernd, wenn sie zurückhaltend im System sozialer Kontrolle gegen Störer eingesetzt wird9 und auf der anderen Seite die Möglichkeiten, Ansehen durch positive Handlungen zu erwerben oder soziales Verhalten zu erlernen, betont werden10. Ebenso bedeutsam ist die Erkenntnis, dass Verhalten vor allem durch wahrgenommene Beobachtung beeinflusst wird. Die Reputation, die dabei auf dem Spiel steht, ist ebenso wie die Vermeidung negativer Konsequenzen durch Sanktionen eine wichtige verhaltensbestimmende Kraft im Sinne eines egoistischen Altruismus. Das Verhalten ein und derselben Person ändert sich schnell und nachhaltig allein durch die erkannte Beobachtung11. Erkennen und Hinsehen sind so beachtliche Faktoren der sozialen Kontrolle. Schließlich ist festzu___________ 7

Gürerk/Irlenbusch/Rockenbach, Science 2006, 108 ff. Fehr/Fischbacher, Trends in Cognitive Sciences, 2004, S. 187 ff. 9 Zur entsprechenden Angemessenheit Begrenzung und Schonung der Betroffenen bei der Kriminalstrafe s. ausführlich Hassemer, Warum Strafe sein muss, 2009. 10 Henrich, Science 2006, 60 f. 11 Milinski/Rockenbach, Science 2007, 467 f. 8

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stellen, dass das Prinzip der Gegenseitigkeit letztlich vom Vertrauen12 und der Gewissheit lebt, dass sich jeder in der Gemeinschaft fair verhält. Faires Verhalten eines Gegenübers zeigt im menschlichen Gehirn messbare positive Resonanz13. Das „Gewissheitsproblem“ einer wohlgeordneten Gesellschaft14, dass sich alle anderen auch an die Regeln halten, ist durch konsequente und sichtbare Ahndung von Regelverletzungen zu lösen. Der Konforme wird so überzeugt, dass regelkonformes Verhalten sinnvoll ist, auch wenn es einige Abweichungen gibt. Die empirischen Ergebnisse lassen so keinen Zweifel, dass die unmittelbare Intervention gegen kriminelles Verhalten eine elementare Aufgabe der Kriminalitätsprävention erfüllt. Strafe ist das dafür notwendige Mittel. Es wirkt besonders, wenn es im Sinne einer wohlgeordneten Gesellschaft orientiert zum Schutz von Menschenrechtsgütern und am Minimal- sowie Integrationsprinzip eingesetzt wird. Kriminalstrafe ist ein unverzichtbares präventives Instrument sozialer Kontrolle und muss nicht mit schlechtem Gewissen angewendet werden. Die generelle Bedeutung der Sanktion gegen kriminelles Verhalten zeigt sich auch im Gesamtsystem sozialer Kontrolle, wo die Wirkung wegen der sozialen Nähe häufig stärker ist als bei der Kriminalstrafe.

2. Präventive Wirkung von sozialen Interventionsprogrammen gegen strafbares Verhalten Wie bei der Kriminalstrafe zeigt die offene Thematisierung, die strikte Regelanwendung, das konzertierte Entgegentreten, die Unterstützung von Opfern und die Überwachung gefährlicher Bereiche, insbesondere bei Gewaltdelikten, nach der Wirkungsforschung auch bei der außerstrafrechtlichen sozialen Kontrolle Erfolge bei der Kriminalitätsverhütung. Angemessene soziale Kontrolle ist auf allen Ebenen und in allen gesellschaftlichen Institutionen spezifisch gegen kriminelles Verhalten wirksam: In der Kommune (Vernetzung vieler Akteure nach dem Motto: Kriminalprävention geht jeden an und gemeinsam kann etwas erreicht werden; Safer-Cities-Programme gegen verschiedene Formen der Kriminalität wie Wohnungseinbruch, familiäre Gewalt, Körperverletzungen, PKW-Diebstahl, Ladendiebstahl, vernetzte Aktionen zur Reduzierung von Tatgelegenheiten und täterorientierte Maßnahmen)15; in der Nachbarschaft (Nachbarschaftsprojekt zur Reduktion von Tatgelegenheiten in Hochhaussied___________ 12

Luhmann, Vertrauen. Singer/Fehr, American Economic Review 2005, 340 ff. 14 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975. 15 Z.B. Sampson./Phillips C., Preventing Repeated Racial Victimisation, British Journal of Criminology, 1998, 124 ff. 13

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lungen; Kombinationen von polizeilichen Fußstreifen mit Aktivierung der Bürger zur Reduktion von Tatgelegenheiten verschiedener Arten von Kriminalität; neighborhood-watch-Programme, Verbesserung der sozialen Bindungen, Zusammenarbeit mit der Polizei, vor allem zur Reduktion von Wohnungseinbruch)16; in der Wohnanlage (Soziale Hausmeister in öffentlich geförderten Wohnsiedlungen zur Reduktion von Tatgelegenheiten durch Kontrolle und Kooperation mit den Anwohnern)17; vor allem und am stärksten empirisch belegt in der Schule (vorbildlich das Anti-Bullying-Programm von Olweus als gut evaluiertes und sehr erfolgreiches Mehr-Ebenen-Konzept;18 Prävention des Schulschwänzens); aber auch in verschiedenen Delinquenzbereichen wie bei Drogenkriminalität (kombinierte Kontrollstrategien von Polizei und geschulten Teams aus städtischen Einrichtungen zur Unterbindung des Drogenhandels); bei ausländerfeindlicher rassistischer Gewalt (dauerhafte Durchführung kombinierter Maßnahmen wie Verbesserung des Anzeigeverhaltens, Sicherheitsplänen unter Einbeziehung von Polizei, Opfern, Hauseigentümern, psychologischen Beratungsstellen, täterorientierten Maßnahmen und Spezialisierung von Polizeikräften) oder bei häuslicher Gewalt (Interventionsprogramme) und Vandalismus (technische Prävention zur Reduktion von Tatgelegenheiten und täterorientierte Maßnahmen). Die kritische Analyse des in jüngster Zeit vielbeachteten broken-windowsAnsatzes weist in eine ähnliche Richtung.19 Entscheidend für eine Kriminalitätsreduktion ist nicht – wie häufig undifferenziert angenommen wird – die Herstellung der bloßen äußeren Ordnung, sondern entscheidend sind die Stärkung der informellen sozialen Kontrolle gegenüber kriminellem Verhalten in den jeweiligen sozialen Räumen. Bemühungen zur Herstellung der äußeren Ordnung als elementare Basis jeder Kriminalprävention sind jedoch da erfolgreich, wo tatsächlich offenkundig unordentliche und unübersichtliche Strukturen vorherrschend sind. Wirksam sind dabei sicher auch die Thematisierung besonderer Kriminalitätsprobleme und die dadurch bedingte Stärkung der sozialen Kontrolle z. B. durch Community Policing. Auf der Linie problemorientierter Kriminalprävention hat sich in Bezug auf besonders kriminalitätsgefährdete öffentliche Räume die Videoüberwachung ___________ 16

Z.B. Kohl, Veilig Wonen – erfolgreiche Einbruchsprävention in den Niederlanden, Kriminalistik 2000, 752 ff. 17 Willemse, Developments in Dutch Crime Prevention, Crime Prevention Studies 1994, 33 ff. 18 Olweus, Gewalt in der Schule, 1995. 19 Laue, Broken windows und das New Yorker Modell – Vorbilder für die Kriminalprävention in deutschen Großstädten?, in: Landeshauptstadt Düsseldorf (Hrsg.), Düsseldorfer Gutachten: Empirisch gesicherte Erkenntnisse über kriminalpräventive Wirkungen, 2002, Teil IV, S. 333-438.

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ebenfalls als erfolgreich erwiesen. Als reines technisches Kontrollinstrument ist sie zwar gegenüber der Stärkung der informellen Kontrolle durch Bürgerengagement nur begrenzt wirksam. Empirisch gesichert ist aber, dass die rechtlich unbedenkliche polizeiliche Videoüberwachung besonders kriminalitätsträchtiger, klar abgrenzbarer Räume in der Gemeinde kriminalitätsreduzierend wirkt. Bei der Bildübertragung auf einen überwachten Monitor mit Aufzeichnung trägt der Täter ein doppeltes Entdeckungsrisiko, das als entscheidender Faktor der effektiven Motivation gegen die Entscheidung für eine Straftat fest steht: Der Täter muss mit der sofortigen Festnahme ebenso rechnen wie mit einer leichteren Identifizierung durch die Aufzeichnung. Zu den möglicherweise erfolgenden Verdrängungseffekten (die auch bei anderen Maßnahmen zur Reduktion von Tatgelegenheiten in Betracht kommen) ist künftige Erforschung notwendig; allerdings ergeben sich Hinweise darauf, dass selbst bei festgestellten Verdrängungseffekten der Reduktionseffekt überwiegt.

III. Täter-Opfer-Ausgleich als präventives Konzept im Strafrecht Der Täter-Opfer-Ausgleich als deutsche Variante der international bedeutsamen Restorative Justice ist eine normverdeutlichende Reaktion in gleicher Weise wie ein erster Schritt zur (Re-)Integration des Täters durch Verantwortungsübernahme. Empirische Studien machen inzwischen deutlich, dass die Kriminalprävention durch den TOA nicht geschwächt wird. Vielmehr zeigt sich tendenziell eine geringere Rückfallwahrscheinlichkeit als nach vergleichbaren traditionellen Sanktionen. So erbrachte eine Vergleichsuntersuchung von Dölling et al20. für das Jugendstrafrecht, dass von den Tätern, die einen TOA erfolgreich abgeschlossen hatten, 37,6 % nicht rückfällig wurden, also ohne weiteren Eintrag im BZR blieben. Von den Tätern aus der Vergleichsgruppe trifft dies auf 35 % zu. Die durchschnittliche Anzahl von Rückfällen nach einem erfolgreichen TOA ist aber deutlich günstiger. Sie betrug 1,4, in der Vergleichsstichprobe hingegen 2,1. Dieser Zusammenhang bestätigt sich auch, wenn wesentliche Störvariablen, die das Ergebnis verzerren könnten (Anzahl der Vorahndungen und materieller/ideeller Schaden korrelieren signifikant mit Rückfälligkeit und sind in UG/VG unterschiedlich häufig vertreten), eliminiert wurden. Die Untersuchung zieht den Schluss, dass ein günstiger Zusammenhang zwischen TOA und Legalbewährung besteht. Es sei kein Hinweis darauf gegeben, dass das positive Ergebnis für den TOA durch latente Verzerrungen bei der Fallauswahl beeinflusst wurde. ___________ 20

Dölling/Hartmann/Traulsen, MschrKrim 2001, 185 ff.

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Ähnlich wie die vorstehende Untersuchung arbeitet auch die Studie von Busse21. Er untersucht im Vergleichsgruppendesign 151 Täter, von denen 91 einen TOA absolvierten und gegen 60 Täter hingegen eine formelle Sanktion ausgesprochen wurde. Es handelt sich um Täter mit Taten aus den Jahren 1992-1994, die im Zeitraum von 3 Jahren auf erneute Rückfälligkeit überprüft wurden. Dem methodischen Problem, Störvariablen auszuschließen, begegnete Busse durch den statistischen Nachweis, dass zwischen Untersuchungs- und Vergleichsgruppe keine signifikanten Unterschiede bestanden. In dieser Studie zeigt sich im Ergebnis, dass nur 56 % der TOA-Gruppe gegenüber 81 % der Verurteiltengruppe wieder rückfällig wurden. Die durchschnittliche Anzahl von Rückfällen betrug nach einem TOA 1,04, nach der formellen Sanktion 2,1. Eine Rückfalluntersuchung von 470 Fällen eines Außergerichtlichen Tatausgleiches (ATA) bei Erwachsenen in Österreich mit einem dreijährigen Beobachtungszeitraum22 zeigt, dass die Rückfälligkeit der Täter nach einem ATA signifikant unter der nach einer Geldstrafe liegt. Die Rückfälligkeit nach ATA belief bei Ersttätern lediglich auf 10 %, bei Vorbestraften auf 30 %. Im Vergleich dazu betrug die Rückfälligkeit nach einer Geldstrafe 22 % bei Nichtvorbestraften und 47 % bei Vorbestraften. Die Untersuchung belegt die präventive Kraft des TOA gegenüber traditionellen Sanktionen des Strafrechts in deren Anwendungsbereich. Die aufgeführten Studien lassen erkennen, dass der TOA tendenziell zu einer geringeren Rückfallwahrscheinlichkeit führt als formelle Sanktionen. Leider waren bisher die Untersuchungsstichproben in Deutschland relativ klein und punktuell, um die Ergebnisse als repräsentativ abgesichert ansehen zu können. Weiterer Erkenntnisgewinn und eine weitere Stützung der Ergebnisse folgt jetzt schon aus der inzwischen angelaufenen internationalen Rückfallforschung. Hier sind insbesondere Länder, die im kriminalpolitischen Feld der Restorative Justice längere Erfahrung und Praxis haben, zu beachten. Aus Australien, Kanada und den USA liegen aufschlussreiche Untersuchungen mit größeren Stichproben vor, wobei insbesondere auf einen breit angelegten Survey von Nugent/Williams/Umbreit23 zu verweisen ist. Dieser bezieht sich auf 15 USamerikanische Forschungen zum Rückfall nach TOA im Bereich der Jugendkriminalität. Alle evaluierten Studien haben ein Vergleichsgruppendesign und können insoweit als evidenzbasiert bezeichnet werden. Die Besonderheit dieser Metaanalyse ist, dass sie 9307 jugendliche Teilnehmer einbezieht und so einen ___________ 21

Busse, Rückfalluntersuchung zum TOA, Jur. Diss., Marburg 2001. Schütz, H., Die Rückfallhäufigkeit nach einem Außergerichtlichen Tatausgleich bei Erwachsenen, Österreichische Richterzeitung 1999, 161 ff. 23 Nugent/Williams/Umbreit, Participation in Victim-Offender-Mediation and the Prevalence and Severity of Subsequent Delinquent Behavior: A Metaanalysis, Utah Law Review 2003, 137-166. 22

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hohen Grad von Repräsentativität bietet. Die Studie belegt überwiegend einen positiven Effekt des TOA: Von 15 Studien ergeben 11 eine deutlich geringere Rückfälligkeit im Vergleich mit den anders behandelten Vergleichsgruppen. Die Reduktion der Rückfallrate reicht bis zu 26 %. Ein wichtiges weiteres Ergebnis der Studie ist, dass die Rückfalltaten der TOA-Teilnehmer bezogen auf die Schwere deutlich geringer waren als bei der Ersttat im Gegensatz zur Vergleichsgruppe. Hier wird deutlich, dass TOA auch einen Einfluss auf die qualitative Reduktion kriminellen Verhaltens haben kann. Die sozialkonstruktive kriminalpolitische Alternative der Mediation ist also im System der strafrechtlichen Sanktionen bei geeigneten Fällen zu empfehlen und steht dann vergleichbaren traditionellen strafrechtlichen Rechtsfolgen nicht nach. Bei der Gesamtschau sind die Ergebnisse beeindruckend. Im empirisch ermittelten ungünstigsten Fall hat der TOA keinen messbaren Erfolg und entspricht in der präventiven Wirkung aber immer noch einer traditionellen Maßnahme. Selbst dann ist er im geeigneten Fall das vorzugswürdige Mittel, weil es sich um die klar eingriffsmildere Sanktion mit der Berücksichtigung von Opferbelangen und der Konfliktregelung handelt. Als Forderung an die zukünftige Forschung bleibt freilich in differenzierter Form zu ermitteln, welche Taten und Tätergruppen sich für den Einsatz des TOA besonders eignen und wo er besonders wirkungsvoll ist. Der TOA kann dann gezielter im strafrechtlichen Sanktionensystem eingesetzt werden und wird noch stärkere Wirkung entfalten sowie mehr Anerkennung in der Öffentlichkeit finden.

IV. Die Kriminalstrafe als Anknüpfungspunkt für soziale Integration Neben den zuvor untersuchten unmittelbaren präventiven Wirkungen einer Intervention gegen kriminelles Verhalten, die von vornherein zum spezifisch präventiven strafrechtlichen Aufgabenbereich gehören, sind insbesondere im Jugendstrafrecht oder bei Weisungen im Rahmen von § 153a StPO und §§ 59a, 56b StGB über die eigentliche Sanktionswirkung weit hinausreichende sozialintegrative Präventionsmaßnahmen in der strafrechtlichen Kontrolle zu bedenken. Solche präventiven Bemühungen sind insbesondere bei Tätern mit mehrfachen und hohen Risikofaktoren und möglichst früh einsetzend wichtig. Wegen der meist sehr teuren Integrationsprogramme sind dazu evidenzbasierte Wirkungsresultate zur Abschätzung des Kosten-Nutzen-Effekts der Prävention ebenso wichtig wie eine genaue Diagnose vor Beginn der Prävention. Evidenzbasierte Kriminalprävention kann auch dazu inzwischen Leitlinien vorgeben:

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1. Anhäufung von sozialem Kapital Verlaufsstudien der neuen Entwicklungskriminologie belegen, dass auch bei Intensivtätern ein Abbruch ausgeprägter krimineller Karrieren möglich ist. Für die Reintegration sind dazu nicht die frühen Belastungen beachtlich, sondern aktuelle neue soziale Bindungen und soziales Kapital (z.B. eine Ausbildung oder Arbeitsstelle). Diese können den gesamten Lebensstil nachhaltig verändern. Solche „Wendepunkte der Kriminalitätsentwicklung“ zeichnen sich auf 5 Wegen aus der Kriminalität ab24: Integration durch Arbeit, Integration durch Partnerschaft (Heirat, Lebensgemeinschaft), neue Bindungen an die Familie und Wegfall problematischer Konstellationen sowie Ende einer Drogenabhängigkeit. Für die Prävention ist es also entscheidend, solche Wege durch Angebote und Weisungen im Rahmen strafrechtlicher Kontrolle entsprechend zu stärken.

2. Sozial-kognitive Programme zur Verhaltensbeeinflussung Verhaltensorientierte Konzepte werden in allen größeren Präventionsstudien im Bereich intensiver Kriminalprävention präferiert. Dabei werden häufig mehrere Ansätze wie z.B. Eltern- und Kindtraining unter Einbezug der Schule konstituiert. Freilich darf der Einsatz nicht wie in der nicht erfolgreichen Cambridge Somerville Study nach dem „Gießkannenprinzip“ erfolgen, sondern die Programme müssen gezielt und intensiv sein. Punktuelle Einwirkungen haben kaum nachhaltige Wirkung. Bei der praktischen Umsetzung wird z.B. in Dänemark versucht, durch sogenannte SSP-Programme (Soziale Dienste, Schule und Polizei) die Bemühungen zu bündeln und insbesondere gezielte Programme einzuarbeiten. Der Gesetzgeber hat die genannten Instanzen sogar zur Zusammenarbeit verpflichtet25.

3. Pflegefamilien für jugendliche Intensivtäter Mit dieser Alternative zur Inhaftierung jugendlicher Straftäter in geschlossenen Heimen oder Strafanstalten sollen Jugendliche in Pflegefamilien eine strikte Strukturierung und Kontrolle ihres Lebens kennen lernen, welche die Erziehungsschwächen der biologischen Eltern ausgleicht, während parallel dazu den ___________ 24 Sampson/Laub, Crime in the Marking, 1993; Stelly/Thomas, Einmal Verbrecher – immer Verbrecher, 2001. 25 Ive, Public/Private Partnerships in Crime Prevention. The SSP-Co-operation in Denmark, in: Joutsen, Matti (Hrsg.), Five Issues in European Criminal Justice, Heuni 1999, S. 267.

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biologischen Eltern konsequente Erziehungsmethoden nahe gebracht werden sollen26. Die Pflegeelternschaft ist auf 6-9 Monate ausgelegt (Pflegeeltern werden bezahlt und verpflichten sich, ein individuell entwickeltes Strukturierungsprogramm mit dem Jugendlichen zu verwirklichen). Im Kern geht es um klare Grenzsetzung, durchgängige Überwachung des Jugendlichen, keine unbeobachtete Freizeit mit Freunden (um delinquente Kontakte zu verhindern). Das Ziel ist es, eine Verhaltensänderung durch ein Punkte-System (Punktekonto mit Boni für erfüllte Aufgaben etc., Punktabzug bei Regelverstößen, Punkte können eingelöst werden für Vergünstigungen) zu erreichen, wobei der Punktestand täglich vom betreuenden Mitarbeiter abgefragt wird. Mit solchen Programmen wird das Rückfallrisiko halbiert.

4. Letztes Mittel: Soziale Integration durch vorübergehende stationäre Erziehung Bei schwer delinquenten Kindern und Jugendlichen verspricht, gerade wenn sie keinerlei Bezüge zu einem strukturierten Leben mehr haben, auch eine konstruktive Heimerziehung als letzte Möglichkeit und zugleich erster Schritt zur Integration durchaus Erfolg. Insoweit besteht insbesondere für jugendliche Straftäter zwischen 14 und 18 Jahren mit Jugendstrafe eine sinnvolle Alternative zum Jugendstrafvollzug, dessen Ablauf aufgrund der Altersstruktur weitgehend von jungen Erwachsenen bestimmt wird27. Schwierige Kinder und Jugendliche könnten in solch kleinen Einrichtungen mit großem pädagogischem Einsatz stabilisiert werden. Auch das Zuwarten auf die bald mögliche Jugendstrafe mit der Konsequenz der völligen sozialen Desintegration bis zum 14. Lebensjahr ist für Fälle mit absehbarer Entwicklung zum Intensivtäter keine akzeptable Sanktionsstrategie. Die Wirkungsfaktoren für eine erfolgversprechende Heimerziehung lassen sich durch die Suche nach Schutzfaktoren auch bei schwer auffälligen Jugendlichen angehen: Eine feste Bezugsperson als Erzieher, soziale Unterstützung durch nicht dissoziale Personen, klare Norm- und Strukturvorgaben in der Einrichtung sowie der Aufbau kognitiver und sozialer Kompetenzen und das Erleben von Selbstwirksamkeit, Kohärenz und Struktur im Leben28. ___________ 26 Schumann, Experimente mit Kriminalprävention, in: Albrecht/Backes/Kühnel (Hrsg.), Gewaltkriminalität zwischen Mythos und Realität, 2001, S. 435-457. 27 Das Justizministerium Baden-Württemberg setzt ganz aktuell ein entsprechendes Modell „Projekt Chance“ als Alternative zum Jugendstrafvollzug für jugendliche Gefangene um. 28 Lösel/Pomplun, Jugendhilfe statt Untersuchungshaft. Eine Evaluationsstudie zur Heimunterbringung,1998.

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V. Zusammenfassung: Das präventive Potential des Strafrechts Die Betonung der Prävention im Rahmen der geltenden „Vereinigungstheorie“ zur Kriminalstrafe ist nicht nur theoretisch, sondern vor allem auch empirisch begründet. Dabei ist vorrangig auf das häufig verkannte und aufgrund ideologischer Strafkritik verdeckte elementare präventive Potential der Sanktion selbst zur Absicherung grundlegender primärer Verhaltensnormen in der Gemeinschaft hinzuweisen. Die normative Konstruktion der Gesellschaft bedarf der Sanktion als Mittel der Normverdeutlichung. In der aktuellen verhaltens- und neurowissenschaftlichen Forschung wird die Legitimation jedenfalls nicht in Frage gestellt. Daher geht es im Zusammenwirken mit der gesamten sozialen Kontrolle um die gemeinschafts- und institutionenbezogene Thematisierung von Straftaten, ihre strikte Aufdeckung und Verfolgung unter Einbeziehung aller Betroffenen sowie die Opferunterstützung und Bemühungen um eine möglichst integrierende Sanktion (Verantwortungsübernahme, Täter-OpferAus-gleich). Dazu gehören auch die problemorientierte Kontrolle der Kriminalität in unterschiedlichen sozialen Räumen der Gemeinde im Zusammenwirken mit Bürgern, Polizei und Sozialeinrichtungen (Stärkung der informellen sozialen Kontrolle) und die Videoüberwachung durch aktuelle Monitorbilder mit Aufzeichnung besonders kriminalitätsbedrohter Räume. Bei der Intensivkriminalität sind schließlich (Re-)Sozialisierungsbemühungen mit früher und intensiver Förderung von Kindern und Jugendlichen in Problemfamilien mit Überlegungen zu Mentoren- oder Pflegefamilienprogrammen und die Anhäufung von sozialem Kapital bei Intensivtätern, um den Boden für späte Wendepunkte zu bereiten, gefragt.

Streitfragen bei der objektiven Zurechnung Von Claus Roxin

I. Einführung Es wird heute allenthalben – und manchmal mit Erstaunen – betont, dass die Lehre von der objektiven Zurechnung in das Zentrum der strafrechtsdogmatischen Diskussion gerückt ist. Manfred Maiwald, der verehrte Jubilar, spricht von „einem bemerkenswerten Siegeszug“1; der Begriff der objektiven Zurechnung habe heute „eine Bedeutung gewonnen, die noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar war“. Er betont, dass „die Initialzündung für die weite Akzeptanz des Begriffes der objektiven Zurechnung“ von einem Aufsatz Honigs über „Kausalität und objektive Zurechnung“ aus dem Jahr 1930 ausgegangen sei.2 Er gehört aber auch zu den ersten, die darauf hingewiesen haben, dass die heutige Lehre von der objektiven Zurechnung durch die Einbeziehung tatbestandlicher Wertungen weit über den Ansatz von Honig hinausgegangen ist. Tatsächlich hatte der Aufsatz Honigs bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein nur eine geringe und zudem auch noch eher ablehnende Resonanz gefunden.3 Mein Beitrag in der Honig-Festschrift4 knüpfte im Jahre 1970 zwar an den damals schon 40 Jahre alten Text Honigs an, hatte aber von vornherein eine viel weitergehende Intention. Während nämlich Honig nur das vergleichsweise bescheidene Ziel verfolgte, gänzlich unberechenbare, zufällige Kausalverläufe als „objektiv nicht bezweckbar“ und daher nicht zurechenbar aus dem Tatbestand auszuschließen, habe ich von Anfang an die „Bezweckbarkeit“ durch den Risikogedanken ersetzt und dadurch den Weg zu der heutigen Expansion der Lehre von der objektiven Zurechnung geöffnet. Die entscheidenden beiden Sätze lauten:5 „Die objektive Bezweckbarkeit ... eines schadenstiftenden Kausalverlaufs hängt ... davon ab, ob das Verhalten der in Frage ste___________ 1

Maiwald, FS Miyazawa, 1995, S. 465 ff. (465). Honig, FS Frank I, 1930, S. 174 ff. 3 Nachweise bei Frisch, FS Roxin, 2001, S. 213, Fn. 3. 4 Siehe 133 ff. Später auch, mit „Nachbemerkung“, in: Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. 123 ff. 5 Roxin, FS Honig, 1970, S. 135 f. = Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. 126. 2

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henden Person ein rechtlich relevantes Risiko tatbestandlicher Rechtsgüterverletzung schuf oder nicht ... Diese Rückführung der objektiven Bezweckbarkeit auf das Risikoprinzip ermöglicht eine Auffächerung unseres Maßstabes, die es gestatten könnte, für die Erfolgsdelikte eine vom Kausaldogma völlig gelöste allgemeine Zurechnungslehre zu erarbeiten.“ Die hier angekündigte „Auffächerung“ hat dann zur Entwicklung zahlreicher Gründe ausgeschlossener Zurechnung geführt, von denen ich nur die wichtigsten nenne:6 Risikoverringerung, fehlende Risikoschaffung, fehlende Überschreitung des erlaubten Risikos, fehlende Erfasstheit des Geschehens durch den Schutzzweck des Risikoverbots, Mitwirkung an verantwortlicher Selbstgefährdung, einverständliche Fremdgefährdung. Die gesamte Unrechtslehre hat auf diese Weise durch ein Netz von Zurechnungsregeln eine neue Struktur erhalten. Frisch7 hat anschaulich dargelegt, dass dadurch die Zurechnungslehre „eine ganz andere Dimension“ gewonnen hat und dass darauf ihr späterer Erfolg zurückzuführen sei: „Es ist leicht verständlich, dass eine so großflächig bedeutsame Lehre von der Erfolgszurechnung weitaus mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermochte als eine Zurechnungslehre, die sich eher auf Randkorrekturen zu beschränken schien. Die Auswechselung der Anknüpfungsbegriffe war zugleich von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Akzeptanz der (neuen) Lehre von der Erfolgszurechnung. Indem Roxin den unscharfen Begriff der Beherrschbarkeit bestimmter Verläufe gegen die Begriffe des rechtlich missbilligten Risikos und des Schutzbereichs der Norm auswechselte, verknüpfte er die Zurechnungsfrage mit Begriffen, die dem mit Wertungen vertrauten Juristen geläufig sind und den sofortigen Zugang zu einer Vielzahl konturierender Bewertungskriterien erschließen ... Die Zurechnungsfrage wurde so ... von dem Schleier vorrechtlicher Begrifflichkeit befreit und an vertrautes Normatives angebunden.“ Angesichts dessen ist es beachtenswert, dass Maiwald zwar die Lehre von der objektiven Zurechnung nicht ablehnt, dass er aber den von mir und der heute durchaus herrschenden Lehre eingeschlagenen Weg nicht mitgeht, sondern für eine Rückkehr zu Honig und damit zu einem vorrechtlichen Begriff der objektiven Zurechnung plädiert. Es sollen im Folgenden zunächst die Gründe dargelegt werden, die Maiwald zur Befürwortung eines wesentlich engeren Begriffs der objektiven Zurechnung motiviert haben (II.), bevor ich in Auseinandersetzung damit die moderne Zurechnungslehre zu verteidigen versuche (III.) ___________ 6 Eine vollständige Darstellung der Auswirkungen dieser Lehre gibt mein Lehrbuch zum Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006 (vor allem, aber nicht nur, in den §§ 11 und 24). 7 Frisch (Fn. 3), S. 215.

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und auf einige weitere gegen sie in der Literatur erhobene Einwände eingehe (IV.).

II. Maiwalds Argumente für einen wertfreien Begriff der objektiven Zurechnung Maiwald bestreitet nicht, dass ein wertendes System objektiver Zurechnung, wie es der neueren Auffassung entspricht, durchführbar sei. Es sei „ohne weiteres möglich, die objektive Zurechnung so zu verstehen, wie dies die heute herrschende Meinung tut: Nicht nur als ontisches Substrat rechtlicher Wertung, sondern zugleich als den wertenden Gesichtspunkt selbst“8. Die Zweckmäßigkeit spreche aber dafür, den Begriff der objektiven Zurechnung in einem wertfreien Sinne – „und nur in diesem Sinne“9 – zu verwenden. Dafür werden drei Gründe geltend gemacht.

1. Die Notwendigkeit schrittweisen Vorgehens bei der Systembildung Die objektive Zurechnung habe die sinnvolle Funktion, eine Verfeinerung der Kausalfeststellung zu ermöglichen. Mit ihrer Hilfe werde klargestellt, dass der Einzelne als „Subjekt“ der Erfolgsherbeiführung und nicht nur als „Durchlaufstation kausal determinierter Wirksamkeiten“ zu betrachten sei. Wie die Beziehung zwischen Subjekt und Erfolg zu bewerten sei, bleibe „späteren Prüfungsschritten vorbehalten“; die Prüfung der objektiven Zurechenbarkeit sei ihnen „vorgelagert“.

2. Die Notwendigkeit, das Rechtswidrigkeitsurteil von seinem Gegenstand zu trennen Außerdem empfehle es sich,10 den Gegenstand des Rechtswidrigkeitsurteils von dem Rechtswidrigkeitsurteil zu trennen. „Die Frage, ob ein Erfolg mit einer erlaubten oder unerlaubten Handlung verknüpft ist, stellt sich erst dann, wenn der Handelnde im Sinne eines personalen Aktionszentrums Ursache für den Erfolg war.“ Wenn man diese beiden Prüfungsschritte vermische, gebe man „ein Stück Klarheit preis, das man durch die ‚Entdeckung‘ der Systemkategorie der objektiven Zurechnung gewonnen hat“. ___________ 8

Maiwald (Fn. 1), S. 476. Maiwald (Fn. 1), S. 477. Hier auch die folgenden Zitate. 10 Maiwald (Fn. 1), S. 477 f. 9

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3. Der Wunsch, ein Durcheinander heterogener Beurteilungskriterien zu vermeiden Maiwald will schließlich durch den Vorschlag einer wertfreien Zurechnung der Gefahr entgehen, „den Begriff der objektiven Zurechnung als amorphes Sammelbecken für ganz verschiedenartige Wertungsgesichtspunkte zu verwenden und so seinen Erkenntniswert preiszugeben“.

III. Kritik des Konzepts einer wertfreien objektiven Zurechnung Bevor ich auf die geschilderten Argumente näher eingehe, erlaube ich mir den Hinweis, dass mir die Idee einer objektiven Zurechnung, die nur das „ontische Substrat“ anders zu begründender rechtlicher Wertungen ist, schon deshalb nicht einleuchtet, weil sie nicht über die Adäquanztheorie hinausführt und daher keinen Erkenntnisgewinn bringt. Denn die Ausschaltung des Zufalls hat schon die Adäquanztheorie geleistet. Maiwald selbst11 nennt diesen Anwendungsbereich „nicht besonders aufregend“ und beruft sich nur auf den von seiner Zurechnungskonzeption gelieferten „tieferen Begründungszusammenhang“. Er sieht freilich einen praktisch bedeutsamen Anwendungsbereich in den Fällen, dass ein in den Kausalverlauf eintretender Dritter den Erfolg herbeiführt.12 Doch kann das nach seinen Prämissen nur zum Zurechnungsausschluss beim Erstverursacher führen, wenn diese Art der Erfolgsbewirkung von ihm aus gesehen als zufällig erscheint. In dem von Maiwald genannten Fall, dass ein ärztlicher Kunstfehler zum Tode des Verletzten führt, kann man aber kaum von Zufall sprechen, da ein solches Geschehen keineswegs außerhalb aller Wahrscheinlichkeit liegt. Wenn man hier eine Zurechnung zur Handlung des Erstverursachers ausschließen will, muss man das Geschehen im Krankenhaus dem Verantwortungsbereich des Arztes zuordnen. Damit wird aber die Zurechnungsbegrenzung beim Ersttäter schon wieder durch einen Wertungsgesichtspunkt bestimmt. Zu den einzelnen Gründen, die Maiwald für sein wertfreies Zurechnungskonzept ins Feld führt, äußere ich mich wie folgt:

___________ 11 12

Maiwald (Fn. 1), S. 479. Maiwald (Fn. 1), S. 481.

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1. Kann die objektive Zurechnung und die Wertung des Kausalgeschehens in zwei aufeinander folgenden Schritten vorgenommen werden? Dagegen lassen sich vier Argumente geltend machen: a) Erstens lässt sich ohne rechtliche Wertung kein bestimmtes Risikomaß angeben, unterhalb dessen man nicht mehr von objektiver Bezweckbarkeit, sondern nur noch von Zufall sprechen kann. In dem von Traeger schon im Jahre 190413 ersonnenen und auch von Honig14 und zahllosen anderen Autoren diskutierten Fall, „dass A seinen Neffen, den er beerben will, während eines Gewitters auf eine mit hohen Bäumen bestandene Anhöhe schickt“, liegt nach Maiwalds (allgemein anerkannter) Auffassung15 ein Zufall vor, wenn der Neffe tatsächlich, wie es A gewollt hatte, vom Blitz erschlagen wird. Dabei ist doch immerhin ein Risiko geschaffen worden, das nicht bestanden hätte, wenn der Neffe im Hause geblieben wäre. Nach welchem vorrechtlichen Maßstab hier dennoch ein Zufall angenommen wird, erfahren wir aber nicht. Andererseits will Maiwald16 eine objektive Zurechnung bejahen, wenn jemand unter Beachtung aller Verkehrsregeln am Straßenverkehr teilnimmt und ihm ein anderer in den Wagen fährt, der dabei umkommt. Wie soll aber etwas als „objektiv bezweckbar“ bezeichnet werden, was ein sorgfaltsgemäß fahrender Autofahrer schlechterdings nicht verhindern kann? Und sollen wirklich dem Autofabrikanten alle Unfalltode zugerechnet werden, die durch von ihm einwandfrei hergestellte Wagen verursacht werden – nur weil Verkehrsunfälle nicht außerhalb jeder Lebenserfahrung liegen? Mit Recht hat schon Frisch17 darauf hingewiesen, dass Begriffe wie objektive Bezweckbarkeit, Steuerbarkeit oder Beherrschbarkeit für die praktische ___________ 13

Dazu Schünemann, GA 1999, 207 ff. (209 f.). Honig (Fn. 2), S. 186. Obwohl hier eines der berühmtesten Kathederbeispiele der strafrechtlichen Literatur vorliegt, handelt es sich um einen praktisch absurden und rechtlich inkorrekt gebildeten Sachverhalt. Er ist absurd, weil sich kein halbwegs vernünftiger Mensch ohne sinnvollen Grund im Gewitter auf eine baumbestandene Anhöhe schicken lassen würde. Und er ist rechtlich inkorrekt gebildet, weil der Neffe, wie oft bemerkt, für sein Verhalten selbst verantwortlich ist, so dass dem A der Tod des Neffen auch dann nicht zuzurechnen wäre, wenn man einen Zufall ablehnen und den Tod des Neffen als objektiv bezweckbar ansehen wollte. Der Fall ergibt erst dann den ihm zugeschriebenen Sinn, wenn man ihn so umbildet, dass es ein Kind ist, dessen sich der A auf diese Weise entledigen will. Denn dass Kinder gern in Sturm und Regen hinausgehen, wissen wir aus dem „Struwwelpeter“ (der Geschichte vom fliegenden Robert: „Robert aber dachte: Nein! Das muss draußen herrlich sein!“). Auch ist ein Kind für sein Tun nicht verantwortlich, sodass sein Tod dem A zuzurechnen wäre, wenn man ihn als „objektiv bezweckbar“ ansähe. 15 Maiwald (Fn. 1), S. 466. 16 Maiwald (Fn. 1), S. 470. 17 Frisch, GA 2003, 719 ff. (735-738). 14

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Rechtsanwendung viel zu vage und unbestimmt sind und „dass auf rein ontologischer oder anthropologischer (oder auch empirischer) Ebene eine Ein- oder Ausgrenzung gar nicht möglich ist“. Die „zwei Schritte“ der wertfreien objektiven Zurechnung und der wertenden Beurteilung lassen sich also von vornherein nicht trennen. b) Zweitens ist eine solche Trennung, auch wenn man sie für theoretisch durchführbar hielte, jedenfalls nicht zweckmäßig, weil sie eine Denkmühe erfordert, die keinen praktischen Gewinn bringt und deshalb überflüssig ist. Im Fall des sorgfaltsgemäß fahrenden Automobilisten hält auch Maiwald18 es für „eindeutig“, dass „eine Bestrafung des Autofahrers ausgeschlossen ist“, ohne freilich mitzuteilen, wie seine Straflosigkeit zu begründen ist. Zweimalige und unter Umständen langwierige Überlegungen, ob man bei unvermeidbaren Unfällen wirklich von objektiver Bezweckbarkeit sprechen und woraus man bei deren Bejahung einen Strafausschluss herleiten kann, erspart sich der Rechtsanwender durch die Überlegung, dass aus einem zweifelsfrei in concreto erlaubten Risiko niemals eine als fahrlässig zurechenbare Tötung hervorgehen kann. Die Normativierung der objektiven Zurechnung bringt also eine deutliche Rechtsvereinfachung mit sich. Was für die Schaffung eines rechtlich missbilligten Risikos gilt, lässt sich auch an den Fällen der Risikoverwirklichung verdeutlichen. In dem bekannten Radfahrer-Fall19 war ein Radler unter einen Lastwagen geraten, der ihn mit zu engem Seitenabstand überholt hatte. Wenn nun ermittelt wird, dass der Unfall sich bei Einhaltung des gebotenen Seitenabstandes genauso ereignet hätte, weil der Radler schwer betrunken war und Betrunkene ihr Rad über die jeweils gebotene Distanz hinaus nach links zu ziehen pflegen, hat sich das vom Lastwagenfahrer geschaffene Risiko in concreto nicht verwirklicht, weil die Abstandseinhaltung für den Erfolg gleichgültig war. Das Geschehen ist ihm also nicht als fahrlässige Tötung zuzurechnen. Das ist eine klare und einleuchtende, im Ergebnis auch vom BGH vertretene Lösung. Wenn man dagegen vom Standpunkt einer wertfreien Zurechnungskonzeption aus eine objektive Bezweckbarkeit nach Überwindung mancher Zweifel bejaht – kann man einen Erfolg als objektiv bezweckbar ansehen, an dem auch das gebotene Verhalten nichts geändert hätte? –, stellt sich die Frage, wie sich die Straflosigkeit des Lastwagenfahrers anders als durch die fehlende Risikoverwirklichung begründen lässt. Maiwald meint,20 sie „dürfte ... damit zu begründen sein, dass normtheoretische Erwägungen zu einem Unrechtsausschluss führen – wie immer man ihn im Einzelnen begründet“. Das ist aber ein sehr va___________ 18

Maiwald (Fn. 1), S. 470. BGHSt 11, 1 ff. 20 Maiwald (Fn. 1), S. 479. 19

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ger und undeutlicher Lösungsvorschlag; die Begründungsmühen, die er bereitet, werden bei Anwendung des Risikoverwirklichungsprinzips hinfällig. c) Drittens bedeutet eine entnormativierte objektive Zurechnung auch die Rückkehr zu einem wertfreien Tatbestand, der schon seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als wissenschaftlich überwunden gilt zugunsten einer Auffassung, die den Tatbestand als typisiertes Unrecht ansieht.21 Zwar sagt Maiwald im Falle des sich sorgfaltsgemäß verhaltenden Autofahrers nicht ausdrücklich, dass er die Strafbarkeit erst im Bereich der Rechtswidrigkeit ausschließen will, aber seine Bemerkungen,22 dass der zweite Prüfungsschritt nach der objektiven Zurechnung „insbesondere“ in der Bewertung bestehe, „ob das Geschehen als ‚rechtswidrig‘ zu bezeichnen ist“ und dass man „den Gegenstand des Rechtswidrigkeitsurteils von diesem Urteil selbst“ trennen müsse, legen das nahe. Er spricht auch im Radfahrerfall, wie oben zitiert, von einem „Unrechtsausschluss“, und er vertritt dies explizit im Falle der Risikoverringerung. Dabei bezieht er sich auf das von mir verwendete Beispiel, dass jemand einen Steinwurf, der eine schwere Kopfverletzung zu verursachen droht, zwar nicht unschädlich machen, aber auf eine weniger gefährdete Körperpartie, etwa die Schulter, ablenken kann. Ich verneine hier eine objektive Zurechnung und damit eine Körperverletzungshandlung, weil der die Gefahr abmildernde „Täter“ kein unerlaubtes Körperverletzungsrisiko verwirklicht, sondern im Gegenteil ein vorhandenes Risiko verringert hat. Maiwald23 will demgegenüber hier eine Körperverletzung bejahen und lediglich eine Rechtfertigung wegen mutmaßlicher Einwilligung bejahen. „Erst, wenn feststeht, dass der ‚abgemilderte‘ Erfolg ... dem Dazwischentretenden überhaupt zugerechnet werden kann, macht es Sinn, die Frage zu stellen, ob er wegen Körperverletzung bestraft werden oder im Gegenteil eine Belobigung erhalten soll.“ Da Maiwald hier infolge der von ihm herangezogenen mutmaßlichen Einwilligung für eine Belobigung plädiert, erklärt er also ein Verhalten für tatbestandsmäßig, das nicht nur korrekt, sondern sogar preiswürdig ist. Ein Verhalten ohne jeden deliktstypischen Unwert kann aber nicht einer Systemkategorie entsprechen, die aus der Fülle der Geschehnisse gerade diejenigen herausfiltern soll, die im Regelfall rechtswidrig sind. Man wende nicht ein, dass in anderen Fällen mutmaßlicher Einwilligung der Täter ebenfalls nicht deliktstypisch handele! Denn wer sich auf mutmaßliche Einwilligung beruft, verletzt fremde Rechtsgüter, auch wenn er dabei annimmt, der Rechtsgutsträger würde zustimmen, wenn er befragt werden könnte. Im ___________ 21

Näher zu dieser Entwicklung Roxin (Fn. 6), § 10 Rn. 10 ff. Maiwald (Fn. 1), S. 479. 23 Maiwald (Fn. 1), S. 479. 22

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Steinwurf-Fall dagegen liegt keine primäre Körperverletzung, sondern nur die Abmilderung eines unabhängig vom Eingreifenden sich entwickelnden Verletzungsgeschehens vor. Auch ist die Einwilligung des Rechtsgutsträgers bei der Reduzierung einer unerwünschten Fremdschädigung nicht nur zu vermuten, sondern durch die Ungewolltheit einer schweren Beeinträchtigung selbstverständlich gegeben.24 Das Fazit ist also: Die Trennung von Zurechung und Wertung führt zu einer Tatbestandskonzeption, die diese Deliktskategorie ihrer speziellen systematischen Funktion beraubt und auch aus diesem Grunde unbefriedigend bleibt. d) Viertens schließlich spricht gegen eine wertfreie Zurechnung zur Tatbestandshandlung der Umstand, dass der Gesetzgeber in seinen Tatbeständen die Handlungen beschreibt, die er – vorbehaltlich etwaiger Rechtfertigungsgründe – bei Strafe verbieten will. Bei Strafe verbieten lassen sich aber nur solche Handlungen, die für das jeweils geschützte Rechtsgut intolerabel gefährlich sind. Sorgfaltsgemäßes Fahren im Straßenverkehr ist bekanntlich nicht verboten, sondern erlaubt. Dann kann es aber, wenn es zu einem fremdverschuldeten Todeserfolg führt, vernünftigerweise auch keine Tötungshandlung im Sinne des § 222 StGB sein. Die Anhänger der neueren Lehre von der objektiven Zurechnung sehen vielfach gerade in diesem Gedanken eine zentrale Einsicht der Zurechnungskonzeption. So sagt etwa Frisch,25 „dass für eine rechtliche Missbilligung nur Verhaltensweisen in Betracht kommen, die mit besonderen Risiken der Herbeiführung tatbestandlicher Güterbeeinträchtigungen behaftet sind“. Und Greco26 erklärt: „Wenn Zweck des Strafrechts der Rechtsgüterschutz ist, dann sind jedes Verbot und jede Freiheitsbegrenzung nur insoweit legitim, als sie sich zum Schutze eines bestimmten Rechtsgutes als notwendig erweisen. Dann aber dürfen nur gefährliche Handlungen verboten werden, weil das Verbot ungefährlicher Handlungen keine Vorteile für den Rechtsgüterschutz bietet.“ Für ihn ist die daraus resultierende Neustrukturierung des objektiven Tatbestandes der „eigentliche wissenschaftliche Fortschritt, der in der Lehre von der objektiven Zurechnung liegt“. Maiwalds Bemühen, die objektive Zurechnung von der Bewertung der Tatbestandshandlung zu trennen, erscheint also auch im Hinblick auf den Zweck der Strafrechtsnormen nicht als zielführend.

___________ 24

Weiteres zu dem besonders umstrittenen Fall der Risikoverringerung unter IV. 6. Frisch (Fn. 3), S. 223. 26 Greco, ZStW 117 (2005), 519 ff., 546. 25

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2. Lässt sich eine entnormativierte objektive Zurechnung aus der Notwendigkeit legitimieren, das Rechtswidrigkeitsurteil von seinem Gegenstand zu trennen? Der zweite Einwand Maiwalds gegen die neueren Bemühungen, bei der objektiven Zurechnung den Gedanken der „Bezweckbarkeit“ durch das Prinzip des rechtlich missbilligten Risikos zu ersetzen, basiert auf dem Gedanken,27 dass es bei „analytischer Betrachtung der Verbrechenselemente“ geboten sei, das Objekt der Wertung und die Wertung des Objekts auseinanderzuhalten. „Es dient der Klarheit, wenn der Gegenstand des Rechtswidrigkeitsurteils von diesem Urteil selbst getrennt wird.“ Auch wenn man dieser abstrakten Aussage zustimmt, bietet sie jedoch nur dann einen Einwand gegen die neuere Lehre von der objektiven Zurechnung, wenn man das Prinzip des rechtlich missbilligten Risikos in die systematische Kategorie der Rechtswidrigkeit verweist. Das ist aber nicht möglich. Von der Seite des Tatbestandes aus ist schon vorstehend (unter 1.) geklärt worden, dass die risikoschaffende Gefährlichkeit der Täterhandlung Gegenstand des Verbotes und damit Voraussetzung deliktstypischen Verhaltens und nicht etwa erst Sache der Rechtswidrigkeit ist. Aber auch unter dem Gesichtspunkt der Rechtswidrigkeit lässt sich die Einhaltung des erlaubten Risikos nicht als Rechtfertigungsgrund deuten. Denn Rechtfertigungsgründe setzen immer voraus, dass die gerechtfertigte Handlung zur Wahrung eines überwiegenden Interesses erforderlich ist.28 An der Notwendigkeit einer solchen im individuellen Fall zu treffenden Abwägung fehlt es in den Fällen des erlaubten Risikos. Beispielsweise ist das Autofahren unter Einhaltung der Verkehrsregeln auch dann rechtmäßig (und beim Eintritt eines rechtsgüterverletzenden Erfolges tatbestandslos), wenn es keineswegs erforderlich ist oder sogar missbilligenswerten Zwecken dient. Auch kann die Eingehung eines im Regelfall rechtlich missbilligten Risikos im Einzelfall gerechtfertigt werden, wenn dies etwa im Rahmen einer rechtfertigenden Notstandshandlung erforderlich ist. Es zeigt sich dann, dass die Fragen der tatbestandlichen Risikoschaffung und ihrer Rechtswidrigkeit bzw. Rechtfertigung auf ganz verschiedenen Ebenen liegen. Was generell und nicht nur ausnahmsweise im Rahmen des Erforderlichen erlaubt ist, ist immer eine Sache des Tatbestandes. Tatbestand und Rechtswidrigkeit werden also keineswegs vermengt, wenn man die objektive Zurechnung und damit die Erfüllung des objektiven Tatbe___________ 27 28

Maiwald (Fn. 1), S. 477. Roxin (Fn. 6), § 10 Rn. 21.

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standes auf das Risikoprinzip (d.h. die Schaffung und Verwirklichung eines rechtlich missbilligten Risikos) stützt.

3. Ist eine am Risikoprinzip orientierte Lehre von der objektiven Zurechnung ein „amorphes Sammelbecken für ganz verschiedenartige Wertungsgesichtspunkte“ ohne „Erkenntniswert“? Maiwald greift mit diesem Vorwurf einen Einwand auf, den zuerst Armin Kaufmann erhoben hatte und der bis heute immer wiederholt wird. Kaufmann hatte 1985 gesagt,29 eine besondere Beziehung zwischen dem tatbestandsmäßigen Erfolg und dem Täter, die sich als „objektive Zurechnung“ bezeichnen ließe, sei „nicht aufweisbar“. Es handele sich nur um „ein Ensemble von Topoi, nützlich für die Auslegung dieses oder jenes Tatbestandes“. Dementsprechend lesen wir bei Hirsch,30 „dass ganz unterschiedliche Fragen in der Rubrik ‚objektive Zurechnung‘ vereint werden“ und dass es sich um „eine auf Generalklauseln gebrachte Zusammenfassung von Einzelpunkten“ handele. Hilgendorf31 spricht reichlich polemisch sogar von einer „Art Rumpelkammer für ungelöste Tatbestands- und Rechtfertigungsprobleme“; die objektive Zurechnung umfasse „ganz heterogene Fallgruppen“. Nichts ist falscher als das. In Wahrheit handelt es sich bei der objektiven Zurechnung um eine unrechtsstrukturierende Rechtsfigur, die mit zwingender Logik aus dem Zweck des Strafrechts abgeleitet ist und gerade das leistet, was andere Unrechtskonzeptionen bisher versäumt haben: die Herstellung eines kriminalpolitisch-teleologischen Zusammenhanges zwischen den einzelnen Elementen der Unrechtslehre. In skizzenhafter Verkürzung ergibt sich folgender Ableitungszusammenhang: Wenn man, wie sich aus den staatstheoretischen Grundlagen der Demokratie begründen lässt, die Aufgabe des Strafrechts im Rechtsgüterschutz sieht, dann ist der Schutz der Rechtsgüter, wie oben schon erwähnt (III. 1. d), durch strafrechtliche Normen nur in der Weise möglich, dass die Handlungen verboten werden, die für tatbestandlich geschützte Rechtsgüter in intolerabler Weise gefährlich sind. Eine vollendete Tat muss dann notwendigerweise als die Verwirklichung eines derart missbilligten Risikos verstanden werden. Aus diesem Grundgedanken lassen sich auch die weiteren Folgerungen ableiten, die ich hier nicht in allen Einzelheiten ausbreiten kann. Weil ein Verbot der Risikoverringerung nicht dem Rechtsgüterschutz dient, darf ein aus der ___________ 29

Armin Kaufmann, FS Jescheck I, 1985, S. 251 ff. (271). Hirsch, FS Lenckner, 1998, 119 ff. (129, 140). 31 Hilgendorf, FS U. Weber, 2004, 33 ff. (44). 30

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Verringerungshandlung entstehender abmildernder Erfolg auch nicht zugerechnet werden. Wo kein Risiko geschaffen oder ein statistisch relevantes Risiko erlaubt wird, ist auch bei bestehender Kausalität eine Erfolgszurechnung nicht möglich. Ebenso darf nicht zugerechnet werden, was vom Schutzzweck des Risikoschaffungsverbots nicht erfasst wird; der aus dem Zivilrecht stammende Schutzzweckgedanke ist ein methodologisch längst anerkanntes Auslegungsinstrument, das, wie allgemein bei der Tatbestandsauslegung, auch zur Präzisierung des Risikoprinzips herangezogen werden muss. Auch dass die Mitwirkung an vorsätzlicher und verantwortlicher Selbstgefährdung nicht zugerechnet werden darf, ergibt sich daraus, dass nur die Mitwirkung an der täterschaftlichen Verletzung fremder Rechtsgüter Gegenstand des Rechtsgüterschutzes ist. Ich hatte freilich, als ich in der Honig-Festschrift meine Weiterentwicklung der Lehre von der objektiven Zurechnung erstmals vortrug, sie zunächst isoliert und ohne Einbettung in den gesamtsystematischen Zusammenhang der Unrechtslehre dargestellt. Aber schon in der „Nachbemerkung“ zu einer bald darauf erfolgten Wiederveröffentlichung32 hatte ich gesagt: „Eine Zurechnungslehre, wie sie im vorstehenden Aufsatz erörtert wird, müsste in den Rahmen eines teleologisch aufgebauten Strafrechtssystems eingefügt werden.“ Ich sehe heute keine Unrechtskonzeption, die auch nur annähernd die Stringenz des mit Hilfe der objektiven Zurechnung aufgespannten, die Gesamtmaterie strukturierenden Netzwerks von Problemlösungen erreicht. Gerade diejenigen, die der Lehre von der objektiven Zurechnung Zusammenhanglosigkeit vorwerfen, haben ein eigenes Lösungskonzept für die von der Zurechnungslehre behandelten Probleme nicht entwickeln können. Schon Maiwald33 lässt, wie wir gesehen haben, die Lösung der Probleme, die er dem Bereich der objektiven Zurechnung entziehen will, mehrfach im Dunkeln oder spricht von „normtheoretischen Erwägungen“, die „zu einem Unrechtsausschluss führen, wie immer man ihn im Einzelnen begründet“. Auch Hirsch sieht in der objektiven Zurechnung, wie schon erwähnt, nur eine „Zusammenfassung von Einzelpunkten“, in die er keinen Zusammenhang bringen kann. Hilgendorf34 will die Probleme der objektiven Zurechnung ohne konkrete Lösungsvorschläge mit Hilfe „eines anspruchsvolleren Kausalmodells“ sowie „durch Formulierung neuer Rechtfertigungsgründe“ bewältigen, ohne uns mitzuteilen, welchen Vorteil solche zersplitterten Lösungsansätze haben und wie sie im Einzelnen aussehen sollen. Haas schließlich35 will die Probleme „durch einen ___________ 32

Roxin, Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. 123 ff. (146). Maiwald (Fn. 1), S. 479. 34 Hilgendorf (Fn. 31), S. 48. 35 Haas, Die strafrechtliche Lehre von der objektiven Zurechnung – eine Grundsatzkritik, in: M. Kaufmann/Renzikowski (Hrsg.), Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung, 2004, S. 193 ff. (222). 33

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Kausalitätsbegriff des Bewirkens“ lösen, „dessen Aufgabe es wäre, die Reichweite der jeweiligen individuellen Rechtspositionen zu definieren“. Dass dieser Gedanke „schemenhaft“ bleibt, sagt er selbst.36 Ich behaupte daher: Während alle „Gegenkonzepte“ in äußerster Vagheit verharren, ist eine auf das Risikoprinzip gegründete Lehre von der objektiven Zurechnung kein „amorphes Sammelbecken“ ohne „Erkenntniswert“, sondern ein unrechtsstrukturierendes Modell von großer Leistungsfähigkeit.

IV. Weitere Einwände Die Behandlung der zuletzt erörterten Frage greift schon über die speziell von Maiwald vorgetragenen Differenzpunkte hinaus, weil auch andere Autoren moniert hatten, dass die moderne Lehre von der objektiven Zurechnung nur eine Anhäufung verschiedenartiger Problemlösungen sei. Die Argumente, die sonst noch gegen diese Lehre geltend gemacht werden, können wegen des Umfanges, der einem Festschriftbeitrag gesetzt ist, nicht so ausführlich diskutiert werden, wie ich dies bei der Auseinandersetzung mit unserem verehrten Jubilar getan habe. Aber es sollen doch wenigstens noch in knapper Form die wichtigsten Einwände beleuchtet werden, um meine Stellungnahme zu den „Streitfragen bei der objektiven Zurechnung“ zu vervollständigen.

1. Der Einwand zu großer Unbestimmtheit Der Einwand, dass die von den Befürwortern der modernen Zurechnungslehre angebotenen Lösungskriterien zu unbestimmt seien, ist schon mehrfach widerlegt worden, wird aber nichtsdestoweniger immer von neuem erhoben. So lesen wir bei Samson,37 die Lehre von der Risikoschaffung wäre „nur dann nicht funktionslos, wenn man erklären könnte, wie hoch das vom Täter gesetzte Mindestrisiko sein soll. Ausführungen zu dieser Frage finden sich in der Lehre von der objektiven Zurechnung jedoch so gut wie gar nicht.“ Und Hilgendorf38 behauptet: „Die Lehre von der objektiven Zurechnung ist zu unbestimmt, um wesentlich mehr zu bieten als ein bequemes Vehikel zur Beförderung des eigenen Rechtsgefühls.“ Auch Haas39 meint, es werde mit dem Begriff des Risikos „operiert ohne anzugeben, worin eigentlich das maßgebliche Risiko bestehen soll“. ___________ 36

Haas (Fn. 35), S. 193. Samson, FS Lüderssen, 2002, 587 ff. (588). 38 Hilgendorf (Fn. 31), S. 33. 39 Haas (Fn. 35), S. 210. 37

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Der Einwand erledigt sich schon dadurch, dass die Schaffung eines rechtlich missbilligten Risikos nur eine andere und präzisere Formulierung für das ist, was früher als „Sorgfaltswidrigkeit“ bezeichnet wurde und als Voraussetzung fahrlässigen Handelns unbestritten anerkannt war.40 Außerdem habe ich auf die „Konkretisierung der unerlaubten Gefahrschaffung“ in meinem Lehrbuch immerhin elf Seiten verwendet41 und dabei sechs Maßstäbe entwickelt, die dem erforderlichen Risiko so viel Bestimmtheit verleihen, wie dies im Rahmen der Fahrlässigkeit überhaupt nur möglich ist.42 Auch das Merkmal der Risikoverwirklichung besagt nichts anderes als was früher unter den Gesichtspunkten einer „Kausalität der Pflichtverletzung“ und der „Wesentlichkeit“ von Kausalabweichungen erörtert wurde, ist aber, weil teleologisch präzisierbar, bestimmter als diese.

2. Der Einwand, die objektive Zurechnung sei nicht „objektiv“ Namentlich die Finalisten haben den Einwand erhoben, eine objektive Zurechnung sei schon deshalb nicht möglich, weil die Gefahrschaffung wesentlich auch von subjektiven Umständen abhänge.43 Der Befund als solcher ist richtig. Wer einen anderen zu einer Flugreise überredet, schafft normalerweise keine unerlaubte Gefahr. Er tut dies aber sehr wohl, wenn er weiß, dass in dem Flugzeug eine Bombe versteckt ist, die während des Fluges explodieren soll. Damit wird aber nur erwiesen, dass ein objektives Gefahrurteil das Sonderwissen des Täters einbeziehen muss. „Da ein Rechtsgüterschutz nur durch das Verbot gefährlicher Handlungen erreicht werden kann, das Verbot sich aber nur auf eine Beurteilung ex ante stützen kann, muss das Wissen des Täters in das Urteil über die objektive Gefährlichkeit seiner Handlung eingehen.“44 Die Objektivität des Gefahrurteils und die Zurechnung zum objektiven Tatbestand werden also nicht dadurch beeinträchtigt, dass auch das Wissen des Täters für das Gefahrurteil relevant ist.

___________ 40

Näher Roxin (Fn. 6), § 24 Rn. 8 ff.; Schünemann (Fn. 13), 217; Frisch (Fn. 17), 728 f. 41 Roxin (Fn. 6), § 24 Rn. 14-40, 1067-1077. 42 Vgl. zu den einzelnen Maßstäben noch IV. 3. 43 Armin Kaufmann (Fn. 29), S. 265 ff.; Struensee, GA 1987, 17 ff. 44 Roxin (Fn. 6), § 11 Rn. 57. Näher dazu Frisch (Fn. 17), 732 f.; ausführlich Greco in seiner Fn. 26 erwähnten Abhandlung über „Das Subjektive an der objektiven Zurechnung“.

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3. Der Einwand der Zirkularität des Risikomaßstabes Hirsch45 hat vorgetragen, wenn man für die Zurechnung ein „unerlaubtes Risiko“ verlange, so mache man das Verbot zum Gegenstand des Verbots. „Ob das Täterverhalten das in Bezug auf den tatbestandlichen Erfolg maßgebliche Verbot erfüllt, bleibt ja die Frage, nach deren Beantwortung gesucht wird. Das Verbotensein kann nicht Voraussetzung seiner selbst sein.“ Das kann gewiss nicht sein. Aber so ist es auch nicht. Denn Einhaltung oder Überschreitung beispielsweise von Verkehrsvorschriften sind nur Indizien gegen oder für die Bejahung einer strafrechtlich relevanten Risikoschaffung. „Weder begründet eine solche Übertretung für sich allein und notwendig den Vorwurf der Fahrlässigkeit, noch wird dieser Vorwurf durch die Einhaltung der Verkehrsvorschriften notwendig ausgeschlossen ...“46 Erst recht sind die übrigen Kriterien für die Ermittlung eines rechtlich relevanten Risikos – die sog. Verkehrsnormen, der Vertrauensgrundsatz, die Beurteilung anhand einer differenzierten Maßfigur, Erkundigungs- und Unterlassungspflichten, die Abwägung von Nutzen und Risiken einer Handlung47 – samt und sonders nicht das tatbestandlich verbotene Risiko, sondern nur Anhaltspunkte zu seiner Ermittlung. Von einer Zirkularität der Begründung kann also keine Rede sein. Das „rechtlich missbilligte Risiko“ ist nur eine zusammenfassende Bezeichnung für die vielfältig verschiedenartigen Voraussetzungen seiner Begründung.

4. Der Einwand, für objektive Zurechnung sei kein Raum bei vorsätzlichen Taten Hirsch, der Wortführer der finalistischen Kritik an der Lehre von der objektiven Zurechnung, hat diese für den bei weitem wichtigeren Bereich der fahrlässigen Delikte in seiner letzten einschlägigen Veröffentlichung ausdrücklich anerkannt. „Hinsichtlich des Bedingungszusammenhanges zwischen Handlung und Erfolg beim fahrlässigen Delikt hat die Lehre von der objektiven Zurechnung einen berechtigten Anwendungsbereich.“48 Auch beim vorsätzlichen Delikt sieht er, anders als früher, das Problem heute nicht mehr als Frage des Vorsatzes an. Doch will er hier auch jetzt noch49 bei Einhaltung des erlaubten Risikos nicht auf die objektive Zurechnung, sondern auf das Fehlen eines Versuchs abstellen. „Wenn in einer Gesellschaft Verhaltensweisen sorgfaltskonform sind ___________ 45

Hirsch (Fn. 30), S. 136; dazu auch Haas (Fn. 35), S. 213. BGHSt 4, 185. 47 Vgl. im Einzelnen Roxin (Fn. 6), § 24 Rn. 14 ff. 48 Hirsch, FS Lampe, 2003, S. 515 ff. (523). 49 Hirsch (Fn. 48), S. 519. 46

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..., so sind sie kein Mittel, mit dem sich zu einer steuernden Beherrschung des Kausalverlaufs ansetzen lässt.“50 Sozialkonforme Verhaltensweisen könnten „nicht als Ansetzen zu einer Tötungs-, Körperverletzungs- oder Sachbeschädigungshandlung begriffen werden“. Dieser Kritikpunkt ist schon von Frisch51 widerlegt worden. Er weist darauf hin, dass „natürlich“ auch Fälle wie der oben zitierte Gewitterfall in ein Stadium treten, „in dem in zeitlicher Hinsicht von einem unmittelbaren Ansetzen gesprochen werden kann; tritt hier der Erfolg ein, so fehlt es an der Tatbestandsverwirklichung nicht deshalb, weil die im unmittelbaren Ansetzen liegenden (zeitlichen) Erfordernisse nicht erfüllt sind oder wegen der Nichterfüllung der Kriterien der Handlung, sondern allein wegen der fehlenden Missbilligung der Gefahr, die der Täter bis ins letzte Stadium vor der Erfolgsherbeiführung geschaffen hat“. Eine solche „Tat“ ist also mangels hinreichender Risikoschaffung von vornherein nicht vollendungsfähig. Eine nicht vollendungsfähige Tat kann selbstverständlich auch nicht versucht werden; aber zeitliche Probleme des Versuchsbeginns spielen dabei keine Rolle.

5. Der Einwand, die Voraussetzungen tatbestandsmäßigen Verhaltens seien kein Zurechnungsproblem Frisch, der sich um die Entwicklung der Lehre von der objektiven Zurechnung herausragende Verdienste erworben hat,52 will gleichwohl nur einen Teilbereich dieser Lehre als Problem der objektiven Zurechnung gelten lassen, und zwar die Risikoverwirklichung. In die Zurechnungslehre gehöre „allein der Kausal- und Realisierungszusammenhang zwischen dem das tatbestandsmäßige Verhalten begründenden missbilligten Risiko und dem Erfolgseintritt“53. Ich kann nicht erkennen, dass damit in der Sache ein Unterschied im Verhältnis zu der von mir vertretenen Auffassung begründet wird. Natürlich kann man für die Risikoschaffung eine eigene Rubrik aufmachen und sie „tatbestandsmäßiges Verhalten“ nennen. Aber da Frisch dieses tatbestandsmäßige Verhalten an prinzipiell dieselben Voraussetzungen bindet, wie ich sie für die Schaffung eines rechtlich missbilligten Risikos verlange, handelt es sich nur um eine terminologische und nicht um eine sachliche Differenz.54 ___________ 50

Hier und im folgenden Zitat Hirsch (Fn. 30), S. 137. Frisch (Fn. 3), S. 227. 52 Frisch in seiner Monographie über „Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs“, 1988. Dann auch in späteren Abhandlungen wie den Fn. 3 und 17 angeführten. 53 Frisch (Fn. 52). Später auch: wie Fn. 3, S. 231 ff.; wie Fn. 17, 733 ff. 54 Weitere Argumente dazu bei Roxin (Fn. 6), § 11 Rn. 31. 51

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Claus Roxin

Andere Beurteiler sprechen denn auch von einem „Scheinproblem“. Schünemann55 gründet diese Aussage darauf, dass bei einem Erfolgsdelikt erst „beides zusammen“ (d.h. Risikoschaffung bzw. tatbestandsmäßiges Verhalten + Risikoverwirklichung) die Tatbestandserfüllung ergebe. Haas56 bezieht sich darauf, dass „auch nach der Konzeption von Frisch das tatbestandliche Verhalten in nichts anderem als in der Schaffung eines ex-ante definierten unerlaubten Risikos besteht“. Wenn man Risikoschaffung und Risikoverwirklichung unter demselben Dach der objektiven Zurechnung zusammenführt, kann man dies auch nicht, wie Frisch57 es tut, die „sachwidrige Aufblähung der objektiven Zurechnung des Erfolgs zur Superkategorie“ nennen. Denn da die zu prüfenden Umstände und die Art und Reihenfolge der Prüfungsschritte sich gleichen, laufen beide Auffassungen auf dasselbe hinaus.

6. Der Einwand, eine Risikoverringerung hindere nicht die Zurechnung des Erfolges Die größte kritische Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahren ein vergleichsweise weniger bedeutendes Teilstück der Lehre von der objektiven Zurechnung erregt: die Risikoverringerung, der sich allein vier Spezialarbeiten widmen.58 Während Sancinetti im Anschluss an seinen Lehrer Jakobs zu zeigen versucht, „dass das sogenannte Risikoverringerungsprinzip eine grundsätzlich richtige Regel aufstellt“, lehnen die drei übrigen Autoren dieses Prinzip mehr oder weniger dezidiert ab. Die Diskussion hat durch die genannten Arbeiten ein derartiges Maß an Differenziertheit erreicht, dass eine alle Gesichtspunkte berücksichtigende Stellungnahme eine weitere umfassende Abhandlung erfordern würde. Das kann im Rahmen dieses Beitrages nicht mehr geleistet werden. Stattdessen begnüge ich mich mit dem Hinweis, dass die Kritiker sich durchweg an Beispielen orientieren, die auch nach der Lehre von der objektiven Zurechnung keine Anwendungsfälle dieses Prinzips sind.

___________ 55

Schünemann (Fn. 13), 216. Haas (Fn. 35), S. 202. 57 Frisch (Fn. 52), S. 31. Maiwald (Fn. 1), S. 467, 479 nimmt dieses Diktum auf, verbindet damit aber einen anderen Sinn, nämlich den einer Normativierung der objektiven Zurechnung. 58 In zeitlicher Reihenfolge: Samson (Fn. 37); F.-Chr. Schroeder, Die sogenannte Risikoverringerung, in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, 2005, S. 151 ff.; Sancinetti, FS Jakobs, 2007, S. 583 ff.; Kindhäuser, ZStW 120 (2008), 481 ff. 56

Streitfragen bei der objektiven Zurechnung

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Kein Fall der Risikoverringerung ist zunächst die Verschiebung eines Risikos von einer Person (oder Personengruppe) auf eine andere. Ich habe derartige Fälle nie dem Risikoverringerungsprinzip unterstellt, sondern habe im Gegenteil bei der Behandlung des von Welzel erfundenen Weichenstellerfalles – durch eine Weichenumstellung werden zahlreiche auf einem Gleis spielende Kinder gerettet um den Preis der Tötung zweier Arbeiter auf dem Nebengleis – nicht einmal für einen übergesetzlichen Notstand, sondern für eine Strafbarkeit plädiert.59 Trotzdem schließt Samson60 die Behandlung eines sorgfältig ausgeklügelten Demonstrationsfalles mit der Frage, ob die „Tötung von 10 Personen zum Zwecke der Rettung von 40 anderen Personen tatsächlich mit Hilfe des Instruments der Risikoverringerung schlanker Hand aus der Zurechnung ausgeschlossen werden kann“. Da davon nie die Rede gewesen ist, kann die verneinende Antwort kein Argument gegen das Prinzip der Risikoverringerung abgeben. Auch Kindhäuser61 bildet Fälle wie den, dass jemand einen Steinwurf vom Kopf des O auf die Wirbelsäule des neben O stehenden D ablenkt, „der nunmehr querschnittsgelähmt ist“ und folgert: „Was bei ein und demselben Opfer ... immerhin konstruktiv möglich erscheint, nämlich die Verrechnung von drohenden Schäden auf Tatbestandsebene, ist bei Beeinträchtigung verschiedener Personen ersichtlich verfehlt.“ Ja, gewiss, aber niemand hat auch bisher in solchen Fällen das Risikoverringerungsprinzip anwenden wollen. Der Fall der Risikoverschiebung gehört also von vornherein nicht in den Bereich der Risikoverringerung und des Zurechnungsausschlusses. Andere Beispiele, die das Risikoverringerungsprinzip widerlegen sollen, sind solche, bei denen überhaupt keine Risikoverringerung vorliegt oder in denen diese jedenfalls nicht so eindeutig ist, wie man es für einen Zurechnungsausschluss verlangen muss. So sagt z.B. Schroeder62 zum Fall der Umlenkung eines Schadens von einem Körperteil auf einen anderen: „Der Finger ist für den Klavierspieler wichtiger, der Fuß für den Läufer, Kopf und Gesicht sind es für den Schauspieler.“ Deshalb sei eine „Saldierung des Körperschadens an unterschiedlichen Körperteilen und -organen unzulässig“. Auch Kindhäuser63 bildet den Fall, dass jemand einen Stein, der ein Auge zu treffen droht, auf einen Finger des Opfers umlenkt, der nun „dauerhaft steif bleibt“. Ob damit ein Pianist einverstanden sei, erscheint ihm „zweifelhaft. Und die Zweifel werden massiv, wenn sich herausstellt, dass der Täter um die opferspezifischen Umstände ___________ 59

Roxin (Fn. 6), § 22 Rn. 161 ff. Samson (Fn. 37), S. 597. 61 Kindhäuser (Fn. 58), 495. 62 Schroeder (Fn. 58), S. 160. 63 Kindhäuser (Fn. 58), 444. 60

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wusste. Soll in einem solchen Fall tatsächlich bereits der objektive Tatbestand einer Körperverletzung nicht erfüllt sein?“ Aber mit alledem wird nur bewiesen, dass man in zweifelhaften Fällen, in denen man das Opfer erst fragen muss, keine Risikoverringerung annehmen darf und dass auch die Lebenssituation des Opfers für die Beurteilung der Frage, ob eine Risikoverringerung vorliegt, eine Rolle spielen kann. Abgrenzungsprobleme wie diese sind unvermeidlich und können auch nicht dadurch beseitigt oder erleichtert werden, dass man, wie die Gegner des Risikoverringerungsprinzips es meist vorschlagen, auf den Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung zurückgreift. Denn diese wäre genau derselben Unsicherheit ausgesetzt und deshalb abzulehnen. Ganz anders liegen die Dinge aber in den bei weitem häufigeren eindeutigen Situationen, wenn z.B. die tödliche Kugel so abgelenkt wird, dass das Opfer nur einen leichten Streifschuss davonträgt, wenn jemand dem Messerstecher so in den Arm fällt, dass der sonst lebensgefährliche Stich nur noch die Haut des Angegriffenen ritzt, wenn der auf den Kopf gezielte Stein auf die Schulter abgelenkt wird, wenn grausame Misshandlungen durch das gute Zureden eines Außenstehenden entscheidend abgemildert werden, wenn ein drohender Vermögens- oder Sachschaden durch das Eingreifen eines Dritten drastisch gemindert wird und in zahllosen anderen Fällen. Derartige Rettungstaten mit einem tatbestandlichen Verbot zu belegen und erst anschließend durch mutmaßliche Einwilligung zu rechtfertigen, hat keinen Sinn. Denn die Verminderung einer angebahnten Rechtsgüterverletzung schafft kein zusätzliches Risiko und ist kein deliktstypisches Verhalten. Auch ist nichts zu mutmaßen.64 Denn wenn die drohende Rechtsgutsbeeinträchtigung gegen den Willen des Opfers erfolgt, entspricht deren Verminderung eo ipso seinem Willen. Zwar sagt Maiwald65 zu dem oben erwähnten Steinwurf-Beispiel, es könne „gar kein Zweifel daran bestehen, dass das Auftreffen des Steines auf der Schulter des Opfers (anstatt auf den Kopf) das Werk dessen ist, der dem Opfer zur Hilfe gekommen ist ...“. Aber das kann man nur bei einer isolierendwertfreien Betrachtung so sehen. Beurteilt man die Ablenkung des Kausalverlaufes wertend und im Kontext des Gesamtgeschehens, so ist es allein das Werk des Steinewerfers, dass es zu einer Körperverletzung gekommen ist, und das „Werk“ des Intervenierenden besteht in einer rechtsgutsbewahrenden, nicht deliktstypischen, kein zusätzliches Verletzungsrisiko schaffenden Rettungshandlung. ___________ 64 65

Vgl. dazu schon oben III. 1. c. Maiwald (Fn. 1), S. 468.

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Es ergibt sich also, dass die Kritiker einer zurechnungsausschließenden Wirkung der Risikoverringerung zwar auf Abgrenzungsprobleme hinweisen, das Prinzip als solches aber nicht in Frage stellen können.

V. Schluss Die über die objektive Bezweckbarkeit hinausgreifende, sich auf das Risikoprinzip stützende Lehre von der objektiven Zurechnung hat sich zwar in der deutschen Literatur und vielfach auch international durchgesetzt. Sie ruft gleichwohl in zahlreichen Punkten immer noch Gesprächsbedarf hervor, wie nicht zuletzt die restriktivere Position Maiwalds zeigt, die den Ausgangspunkt dieser Abhandlung bildet. Es mag deshalb sinnvoll sein, wenn auch ich, der ich an den Ursprüngen dieser Lehre und ihrer Entwicklung beteiligt war, nach Jahr und Tag noch einmal in dieses Gespräch eingreife und einiges zurechtzurücken versuche. Ich danke Manfred Maiwald, dem hochverehrten Kollegen und großen Förderer unserer Strafrechtsdogmatik, dass er mich dazu inspiriert hat und wünsche ihm mit einer herzlichen Gratulation zum 75. Geburtstag noch viele Jahre fruchtbaren Schaffens!

Die Freiheit der Advokatur im politischen Umbruch 1945 Von Hinrich Rüping

I. Ausgangsfragen Wieweit die Schleuse der Entnazifizierung nach 1945 einen politischen Neuanfang getragen hat, bildet eine zentrale Frage zeitgeschichtlicher Forschung. Sie gilt sowohl der Entnazifizierung der bis dahin geltenden Normen, insbesondere aus der Zeit des Nationalsozialismus, als auch des Personals. Unter dem zuletzt genannten, für die Forschung primären Gesichtspunkt ist die politische Säuberung innerhalb der juristischen Berufe zunächst für den öffentlichen Dienst, d.h. Justizjuristen in Gestalt der Richter und Staatsanwälte, erörtert worden.1 Für andere Berufe fehlen weitgehend Untersuchungen. Das gilt für den staatlich gebundenen Beruf des Notars2 sowie für den Prototyp eines in klassischer Weise freien Berufs, den Anwalt. Die im Zuge der Reichsjustizgesetze geschaffene Rechtsanwaltsordnung von 1878 wird gemeinhin als Fixierung der „Freiheit der Advokatur“ im Sinne eines Konstitutionsprinzips der Anwaltschaft in Deutschland verstanden, so wie sie Rudolf Gneist konzipiert hatte.3 Gilt sie als Frucht eines langen Kampfes der Anwälte um Autonomie und Selbstverwaltung, letztlich um die Schaffung eines eigenen, den Justizjuristen gleichberechtigten Standes, müssen die Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus als Angriff auf die Freiheit der Advokatur erscheinen, als Versuch, sich ihrer Freiheit bewusste Berufsangehörige für die Zwecke des totalen Staates zu vergewaltigen, mit den Mitteln alltäglichen Terrors einzuschüchtern und verbrecherischen Zielen gegenüber willfährig zu machen.

___________ 1

Vgl. Benz, Die Entnazifizierung der Richter, Justizalltag im Dritten Reich, Frankfurt/M. 1988, S. 112 ff., weiter für den OLG-Bezirk Celle Rüping, Staatsanwälte und Parteigenossen, Baden-Baden 1994, S. 23 ff. 2 Vgl. jüngst Schmoeckel/Schubert, Handbuch zur Geschichte des Notariats der europäischen Traditionen, Baden-Baden 2009. 3 Gneist, Freie Advocatur: Die erste Forderung aller Justizreform in Preußen, Berlin 1867, S. 52 ff.; zur Organisation der Anwaltschaft nach der RAO Schaich in: Über Rechtsanwaltschaft, Gericht und Recht, Stuttgart u.a. 1983, S. 143 ff.

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Konsequent weitergedacht, kann es bei diesem Vorverständnis nach Beseitigung der nationalsozialistischen Herrschaft nur darum gehen, die unverlierbare und auch nicht verratene Freiheit nach 1945 erneut zu reklamieren und eine durch die 12-jährige Gewaltherrschaft unterbrochene Kontinuität zu bestätigen. Ausdruck dieser Gedankenwelt ist, was Walter Lewald dem ersten Heft der Neuen Juristischen Wochenschrift 1948 als Geleitwort mitgibt: Die Anwaltschaft habe das Dritte Reich „mit geheimem Gewissensvorbehalt“ hingenommen und trotz Vorbehalten im Einzelnen „die Probe der großen Versuchung der Jahre 1933-1945 bestanden“.4 Um die Berechtigung dieser Sicht, damit um die grundsätzliche Frage nach der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit am Beispiel eines freien Berufs geht es in diesem, dem Jubilar mit seinem ausgeprägten historischen Interesse gewidmeten Beitrag.

II. Der Zugriff des Nationalsozialismus auf die Anwaltschaft Wenn von der „großen Versuchung“ in der Zeit des Nationalsozialismus die Rede ist, betrifft dies die Rahmenbedingungen anwaltlicher Tätigkeit. Unter Beschränkung auf zentrale Aspekte hält die Zeitgeschichte Ausschließungsstrategien fest, wenn seit 1933 Juden, seit 1936 durch „Führerbescheid“ Frauen ausgegrenzt werden, weiter Gleichschaltungsstrategien durch Auflösung der Anwaltsvereine, Ausbau der Reichsrechtsanwaltskammer zur zentralen Lenkungsinstanz mit Richtlinienkompetenz, Degradierung der Ehrengerichte zu Ausführungsorganen der Kammer, überhaupt Unterwerfung unter einen unbeschränkten Zugriff der Partei und auch der Staatspolizei mit nicht nur Androhung, sondern auch Vollstreckung von Schutzhaft.5 Dabei begnügt sich der Nationalsozialismus nicht mit Einzelaktionen. So wie er den Primat des Politischen gegenüber der Justiz durchsetzt, bis hin zur offenen „Urteilskorrektur“ ungenügender Justizentscheidungen mittels „polizeilicher Sonderbehandlung“, zielt er auf eine grundsätzliche Neugestaltung der Anwaltschaft. Auch wenn das noch 1943 in Angriff genommene Reformprogramm wegen des Krieges nicht mehr umgesetzt werden kann, bleibt es doch wegen seiner Inhalte symptomatisch für die Zeit. Konsequent verfolgt die Reichsjustizverwaltung das Ziel, Anwälte „näher an den Staat heranzuführen“, indem sie durch politische Schulung gleichgeschaltet, ihre Standesgerichtsbarkeit auf staatliche Disziplinargerichte verlagert und durch die Pensionierung mit 65 Jahren ein beamtenähnlicher Status geschaffen wird.6 Vor diesem Hin___________ 4

Lewald in der „Betrachtung zur Einführung“ der NJW 1947/48, 2, 3. Rüping, Zu Formen und Ausmaß der Disziplinierung, FS Knut Amelung, Berlin 2009, S. 747, 751 ff. 6 Zu Einzelheiten Rüping (Fn. 5), S. 753. 5

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tergrund gewinnt die Vorgabe eines einflussreichen Akteurs wie Lewald Plausibilität und legt sie eine weitreichende Entlastung der Betroffenen von ihrer Verantwortung für die nationalsozialistische Herrschaft nahe.

III. Das Programm der Entnazifizierung Um näheren Aufschluss zu gewinnen, werden im Folgenden die Entnazifizierungsvorgänge herangezogen, so wie sie mit einem Bestand von über 400 Personalakten für ein Projekt der Rechtsanwaltskammer Celle ausgewertet worden sind.7 Das Verfahren trägt damit modernen Ansätzen in der anwaltsgeschichtlichen Forschung Rechnung, die auf eine Mentalitätsgeschichte zielen. Die Befunde können nur einen Ausschnitt veranschaulichen, so wie er sich unter den Rahmenbedingungen in der Britischen Zone und unter denen der Justizverwaltung im Bezirk Celle darstellt.

1. Resultate Das Jahr 1945 erzwingt im Berufsrecht der Anwälte insoweit einen Neuanfang, als jeder Berufsangehörige, um weiter praktizieren zu können, staatlicher Zulassung bedarf. Die Britische Militärregierung setzt bereits im August 1945 den früheren Celler Rechtsanwalt Hodo Freiherrn von Hodenberg als neuen Oberlandesgerichtspräsidenten ein und favorisiert die von ihm nur Tage danach vorgenommene Neubildung der Rechtsanwaltskammer durch Ernennung des Präsidenten sowie von Mitgliedern des Vorstandes. Die Zulassung eines Anwalts setzt eine positive Entscheidung voraus, er sei politisch tragbar. Die Kompetenz liegt zunächst bei der Militärregierung. Sie entscheidet wie im öffentlichen Dienst nach formellen Kriterien, sodass ein bestimmter in den Gliederungen der SA und SS erreichter Rang oder die Funktion eines politischen Leiters in der NSDAP einen Bewerber als „ardent Nazi supporter“ und damit als untragbar erscheinen lassen können.8 In einer zweiten Phase wird das Verfahren mit der Übertragung auf deutsche Ausschüsse bürokratischer. Es orientiert sich an den Vorgaben der Direktive Nr. 24 des Alliierten Kontrollrats und in der Britischen Besatzungszone für die Zuständigkeit der Länder nach der Verordnung Nr. 110.9 Beschränken wir uns ___________ 7 Zum Projekt und zum Forschungsstand Rüping, Rechtsanwälte im Bezirk Celle während des Nationalsozialismus, Berlin 2007, S. 25 f. 8 Einzelnachweise bei Rüping (Fn. 7), S. 179 ff. 9 Direktive Nr. 24 des Alliierten Kontrollrats v. 12.1.1946 über die „Entfernung von Nationalsozialisten und Personen, die den Bestrebungen der Alliierten feindlich gegen-

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zunächst auf die Ergebnisse der Kategorisierung und die für sie bestimmenden Kriterien, ergeben die Akten allein Einreihungen in die Gruppen III (Minderbelastete), IV (Mitläufer) und V (Entlastete).

a) Minderbelastete Die statistisch nicht häufige Eingruppierung als „Minderbelastet“ stützt sich auf die Häufung herausgehobener Funktionen in der Partei bzw. ihren Gliederungen. War der Betroffene z.B. Gruppenführer im Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund, juristischer Referent beim Reichsarbeitsdienst oder Beisitzer am Gaugericht der NSDAP, hat er den Nationalsozialismus nicht nur durch passive Mitgliedschaft unterstützt, sondern durch aktiven Einsatz. Doch liegen den Akten zufolge gewichtige Milderungsgründe vor allem in einem Engagement für die Kirche: durch ein Amt als Presbyter oder Synodaler, durch Festhalten an kirchlicher Trauung wie kirchlicher Taufe, oder durch beruflichen Einsatz für Interessen der Kirche. Dass die Kirchen nach 1945 zu bereitwillig Entlastungszeugnisse ausstellen und die Ausschüsse ihnen zu viel Einfluss gewähren, bildet einen für die Praxis der Entnazifizierung verallgemeinerungsfähigen Befund.10

b) Mitläufer Die weitaus häufigere Einordnung als „Mitläufer“ setzt mehr als bloße passive Zugehörigkeit zu nationalsozialistischen Organisationen voraus und weniger als eine aus dem allgemeinen Rahmen fallende, bereits wesentliche Förderung. Innerhalb dieser Gruppe tragen entschiedenere Aktivitäten die zusätzliche Verhängung von Beschränkungen wie den Verlust des aktiven oder häufig des passiven Wahlrechts. Belastend wirken sich erschwerende Details einer Mitgliedschaft in der Partei und ihren Organisationen aus, so die Parteizugehörigkeit bereits vor 1933, innerhalb der Gliederungen die Mitgliedschaft in der SS, die Häufung von Funktionen oder überhaupt eine konsequente Karriere im rechten politischen Spektrum, vom „Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund“ über die Teilnahme am Kapp-Putsch bis zum Eintritt in die NSDAP.11 ___________ überstehen, aus Ämtern und verantwortlichen Stellungen“, ABl Kontrollrat Nr. 5, S. 30 ff. sowie Verordnung Nr. 110 der Britischen Militärregierung v. 1.10.1947, ABl der Militärregierung Deutschland, Britisches Kontrollgebiet, Nr. 21, S. 608 ff. 10 Einzelfälle der Kategorisierung bei Rüping (Fn. 7), S. 182 ff., als Parallele, bezogen nach dem Celler Material auf Staatsanwälte, Rüping (Fn. 1), S. 43. 11 Belege aus dem Celler Material bei Rüping (Fn. 7), S. 186 f.

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Wichtiger für unsere heutige Bewertung der Entnazifizierungspraxis erweist sich das Verfahren einer weitgehend offenen, nach Lage der Akten kaum rekonstruierbaren und teilweise auch nicht nachvollziehbaren Gesamtbewertung der Persönlichkeit. Betroffene versuchen, ihre Zugehörigkeit zu Partei und Verbänden nur als nominelle Zugehörigkeit und ihre Kategorisierung nach Gruppe V als allein angemessen erscheinen zu lassen. Sie berufen sich stereotyp darauf, zum Eintritt in die Partei durch äußeren Druck veranlasst und nur routinemäßig in einer Gliederung befördert worden zu sein. Häufig lässt sich ein derartiges Vorbringen nicht widerlegen, so wenn Bewerber nach 1945 darauf verweisen, Funktionsträger hätten ihnen seinerzeit die Erwartung der Partei eröffnet, sie verlange einen aktiveren Einsatz für die Bewegung. Wie diffizil die für eine differenzierte Bewertung notwendigen Feststellungen sind, zeigt der Fall eines Anwalts, der sich in einer Kleinstadt öffentlichkeitswirksam des Schutzes der Partei versichert: Dass er dadurch seinen Ausschluss aus der Anwaltschaft abwenden wollte, musste „für die Partei und ihre Werbekraft eine nicht unerhebliche Stärkung im örtlichen Ansehen herbeiführen“, und wenn er später „zum Notar ernannt worden und zum Sturmführer aufgerückt ist, hat es zweifellos den vorgezeichneten Eindruck noch verstärkt und gefestigt“.12 Einzelfallbezogen bleibt als Gegenbeispiel auch die Würdigung, wie weit die für sich genommen belastende Mitgliedschaft durch unangepasstes Verhalten während der nationalsozialistischen Zeit kompensiert werden kann. Dies kommt einem Bewerber zugute, der Parteimitglied, Funktionär im NSRB und Hauptsturmführer in der SA war, sich jedoch, wie ihm der Ausschuss bescheinigt, vielfach für prominente Andersdenkende eingesetzt hat und später wegen Judenfreundlichkeit aus der Partei und SA ausgeschlossen worden ist.13

c) Entlastete Die größte Gruppe bildet die der „Entlasteten“. Kategorie V umfasst zunächst die formell Nichtbetroffenen, d.h. vor dem 31.12.1912 Geborenen, damit ___________ 12

Archiv des OLG Celle, Personalakte [PA] 10 K 163 betr. Rechtsanwalt und Notar [im Folgenden: RuN] Köhler, Entnazifizierungshauptausschuss Göttingen vom 10.11.1948, Bl. 5R. Vergleichbar nimmt derselbe Ausschuss für RuN Werner Franke an, abgesehen von seiner Funktion als stv. Kreisrechtsberater der Partei sei seine Beförderung zum stv. Standartenführer der SA nicht nur mit seiner beruflichen Tätigkeit zu erklären, sondern habe ihn aus dem Kreis der gewöhnlichen Parteimitglieder herausgehoben (Archiv des OLG Celle, PA 10 F 111, Bl. 5). 13 Berufungsausschuss Braunschweig v. 14.9.1948, hier betr. die Bestellung eines Vertreters für RuN Walter Krug (Archiv des OLG Celle, PA 10 K 60, Bl. 71).

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im Jahr 1933 Jugendlichen und folglich unter die Jugendamnestie fallenden Betroffenen.14 Als bedeutsamer erweist sich die Kategorisierung als in der Sache „entlastet“. Wann sich die Mitgliedschaft in der Partei und ihren Gliederungen als nur nominell darstellt (und sich der Betroffene darüber hinaus weder propagandistisch noch militaristisch betätigt hat), schafft zahlreiche Zweifelsfragen und keineswegs eindeutige Ergebnisse in ihrer Behandlung. Eine Zugehörigkeit bleibt nominell, wenn sie sich auf die pflichtgemäße Zahlung des Beitrags beschränkt und nicht Anlass für eine eigentlich politische Betätigung gegeben hat.15 Selten kommt es zu ohne weiteres entlastend wirkenden Feststellungen, etwa trotz Parteimitgliedschaft den Boden der christlichen Kirche nicht verlassen zu haben. Häufiger sind Einwände der Art, als Repräsentant der Wirtschaft oder der Kommunalpolitik einen Rang nur ehrenhalber bekommen zu haben, oder als Mitglied einer Gliederung in die NSDAP überführt worden zu sein. Am interessantesten bleiben Fälle, in denen die Mitgliedschaft nicht nur passiv geblieben ist, die darin liegende Belastung jedoch kompensiert werden soll. Als wohlfeil erweisen sich nach 1945 Behauptungen, sich z.B. nur auf Druck von außen in der Referendarzeit, mit Rücksicht auf die Familie, aus zunächst jugendlicher Begeisterung zum Eintritt entschlossen zu haben. Die häufig bemühte innere Distanzierung von nationalsozialistischen Zielen gewinnt nur Glaubwürdigkeit, wenn sie sich in nicht konformem Verhalten manifestiert, wie dem Einsatz für Juden. Die ausgewerteten Bestände enthalten dabei nur einen einzigen Fall, dass ein Betroffener beiden totalitären Systemen auf deutschem Boden Widerstand entgegengesetzt, die NSDAP noch Anfang 1945 durch Austritt verlassen und sich später auch dem Zugriff der SED entzogen hat.16

d) Ergebnisse In der Zeitgeschichtsschreibung ist anerkannt, dass die Entnazifizierung in den Westzonen nicht ihren Zweck erreicht hat, die Deutschen umzuerziehen und auf diese Weise einen demokratischen Neuanfang zu ermöglichen.17 Das ___________ 14

Zu einzelnen Anwendungsfällen Rüping (Fn. 7), S. 193. Zu den folgenden Einzelfällen Rüping (Fn. 7), S. 190 ff. 16 Archiv des OLG Celle, PA 10 S 272 betr. RuN Dr. Horst Schmitt, Abt. Rechtsanwalt, vgl. die Stellungnahme des Kreisrats in Suhl v. 1.10.1948, Bl. 12. 17 Aus der zeitgeschichtlichen Lit. Gerhardt, Gesellschaftlicher Umbruch 1945-1990: Re-Demokratisierung und Lebensverhältnisse, München 1992, S. 27 ff., Gerhardt, Soziologie der Stunde Null: Zur Gesellschaftskonzeption des amerikanischen Besatzungsregimes in Deutschland 1944-1945/46, Frankfurt/M. 2005 und Hentschke, Demokrati15

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gilt für die Entnazifizierung des öffentlichen Dienstes, für die Justiz bei Richtern und Staatsanwälten und wird durch die Resultate für Anwälte im untersuchten Quellenbereich bestätigt. Die Archivbestände ergeben im Einzelnen Aufschluss, wie es den Betroffenen gelingt, sich ihrer politischen Verantwortung zu entziehen, wie sie in Folge der geänderten politischen Großwetterlage durch Maßnahmen zum Abschluss der Entnazifizierung ihr „downgrading“ von Kategorie III nach IV, von Kategorie IV nach V erreichen, und wie auch das Verfahren selbst manipuliert werden kann. Beispiele sollen diese Aspekte veranschaulichen. Eine ausgeprägte Karriere bei der SS hindert einen Anwalt nicht, im Ergebnis als „Entlastet“ qualifiziert zu werden. Einem SS-Totenkopfverband angehört und in Stäben der Reichsführung SS, zuletzt im Rang eines Hauptsturmführers, Dienst geleistet zu haben, steht nicht entgegen. Denn als eigentlich politische Betätigung gilt im Entnazifizierungsverfahren nur die vorangegangene kurze Tätigkeit in der SA, und damit wird die Kategorisierung als „Entlastet“ unvermeidlich.18 Als sich einer der durch die Karriere im Nationalsozialismus am meisten Belasteten 1951 um die Zulassung als Rechtsanwalt bewirbt, erreicht er trotz ursprünglicher Einstufung in Kategorie III im Berufungsverfahren sogar seine Entlastung. Dr. Hermann Muhs bekennt sich bereits 1922 zum Nationalsozialismus, tritt 1929 in die Partei ein, wird 1932 Gauleiter von Süd-HannoverBraunschweig, danach Führer der Nationalsozialistischen Fraktion im Preußischen Landtag, seit 1937 Staatssekretär im Reichs- und Preußischen Ministerium für kirchliche Angelegenheiten, ist seit 1933 Mitglied der Allgemeinen SS und erreicht 1941 seine Entlassung. Der Berufungsausschuss entdeckt ihn jedoch als Gegner des Systems, eingeweiht in das Attentat vom 20. Juli 1944 und nimmt ihm ab, im Amt verblieben zu sein, um besser wirken zu können.19 Dass es nicht gelingt, die nach damaliger wie heutiger Einschätzung am höchsten belasteten, durch ihre Funktionen und Tätigkeit korrumpierten Be___________ sierung als Ziel der amerikanischen Besatzungspolitik in Deutschland und Japan 19431947, Münster 2001. 18 Archiv der RAK Celle, PA betr. RA Hermann Korshenrich, vgl. – jeweils ohne Paginierung [o.P.] – das Gesuch v. 14.8.1940 sowie das Schreiben der Kammer vom 24.2.1949 bzgl. der Kategorisierung. 19 Vgl. einerseits Hauptausschuss Hildesheim v. 26.5.1951, andererseits Berufungsausschuss Braunschweig v. 8.10.1951 (Nds. Hauptstaatsarchiv, Bestand Nds. 171 Hildesheim Nr. 73849, Entnazifizierungsakte Bd. I Bl. 292 f. und 361); in der Forschung bezweifelt zu Recht Kreuzer, Das Reichskirchenministerium im Gefüge der nationalsozialistischen Herrschaft, Düsseldorf 2000, S. 138, eine Verbindung zum Widerstand. Die Stadt Hildesheim hat sich nachträglich von der Verleihung der Ehrenbürgerschaft distanziert, die Stadt Herzberg bis heute nicht.

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rufsangehörigen nach 1945 fernzuhalten, zählt zu den deprimierenden Erkenntnissen. Der neue Kammerpräsident Focko Poppen Meiborg gilt in den Augen der Militärregierung wie des Öffentlichen Klägers als „Minderbelastet“, weil er „rechtswidrig die Neuwahl des Kammervorstandes in öffentlicher Sitzung unter Anwesenheit großer Mengen von SS-Leuten vornehmen ließ und unter den damaligen Verhältnissen damit die anwesenden Anwälte nötigte, die von den Nationalsozialisten gewünschte Vorschlagsliste zu wählen. Er hat sich dadurch zum Werkzeug nationalsozialistischer Terror-Methoden gemacht, um die Unabhängigkeit des Anwaltsstandes zu unterdrücken“. Des ungeachtet stuft ihn der Berufungsausschuss als „Mitläufer“ ein, weil er auf höhere Weisungen gehandelt habe und sonst durch einen anderen Kollegen ersetzt worden wäre.20 Die SS-Posten hat damals Rechtsanwalt Paul Biester aufstellen lassen, selbst SS-Obersturmführer und Parteimitglied seit 1933. Durch ihre Gegnerschaft zum System ausgezeichnete Kollegen wie Richard Leinert und Dr. Paul Siegel bezeichnen ihn als „gefährlichsten Nationalsozialisten“ und eine „der unerfreulichsten Erscheinungen des neuen Systems“, schafft er doch durch die für ihn typische Drohung mit Denunziationen eine Atmosphäre von Furcht und Terror. Der Hauptausschuss reiht ihn in Kategorie III ein, weil er auch das Novemberpogrom gebilligt und sogar an ihm beteiligt gewesen sei.21 Anders der Berufungsausschuss. Er hält eine Beteiligung für nicht erwiesen, die Partei- sowie SS-Zugehörigkeit allein nicht für zusätzliche Belastungen und die Äußerungen von Kollegen für bloße persönliche Werturteile. Der Oberste Kläger sieht in ihnen zu Recht die Äußerung von Tatsachen, scheitert damit jedoch beim Landesausschuss und kann eine Eingruppierung als „Mitläufer“ nicht verhindern.22 In dem mit diesem Verfahren verwobenen gegen Rechtsanwalt Dr. Heinz Bortfeld, den Leiter des BNSDJ in Hannover, kommt es wegen seiner Einordnung als „Mitläufer“ wieder zum Protest von Leinert und Siegel, wobei dieser auch im Namen des Kammervorstandes spricht. Bortfeld hat mit allen Mitteln für die „Entjudung“ der Anwaltschaft gekämpft, wie Biester eine Atmosphäre ___________ 20 Zum Verfahren Antrag des Obersten Klägers v. 31.10.1949 gegen die auf Kategorie IV lautende Entscheidung des Berufungsausschusses und Entscheidung des Landesausschusses v. 18.1.1950 in der Entnazifizierungsakte (Nds. Hauptstaatsarchiv, Bestand Nds. 171 Lüneburg Nr. 15369, o.P.). 21 Der im Verfahren vor dem Ausschuss für politische Tragbarkeit eingeführte Fragebogen fragt ausdrücklich: „Wenn Sie damals Mitglied der SS oder SA waren, wie haben Sie sich am 9. November 1938 bei der Juden-Aktion verhalten? Haben Sie mitgemacht, oder Ihre Teilnahme abgelehnt? Welche Zeugen können Sie evtl. angeben?“ (vgl. Rüping (Fn. 7), S. 220). 22 Entscheidungen des Hauptausschusses v. 14.3.1949, des Berufungsausschusses v. 30.8.1949, des Landesausschusses v. 14.3.1950 und Antrag des Obersten Klägers v. 28.11.1949 in der Entnazifizierungsakte (Nds. Hauptstaatsarchiv, Bestand Nds. 171 Hannover Nr. 24285, o.P.); dort auch die persönlichen Erklärungen von RA Leinert v. 23.11.1948 und RA Siegel v. 11.12.1948 zu Biester.

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der Angst verbreitet, sich in Prozessen, wenn ihn das Gesetz im Stich ließ, auf „nationalsozialistische Grundsätze“ berufen und einen mit ihm verfeindeten Kollegen in existentielle Schwierigkeiten gebracht, als er ihn einfach mit auf eine Liste jüdischer Anwälte gesetzt hat. Der Protest richtet sich gegen seine Eingruppierung nur in Kategorie IV, dazu noch ohne Beschränkungen und erst nach Wiederaufnahme zusätzlich mit Verlust der Wählbarkeit. Doch verwirft der Berufungsausschuss das Rechtsmittel des Klägers, indem er Bortfeld die Abhängigkeit von höheren Stellen und eine angebliche frühzeitige Abkehr vom Nationalsozialismus zugute hält.23 An Hand einer Akte lässt sich schließlich belegen, wie der Betroffene seine Bekanntschaft mit dem Ausschussvorsitzenden für ein ihm günstiges Ergebnis nutzen kann. Die Militärregierung weist ihn wegen seiner Mitgliedschaft in Partei und SA sowie wegen seiner Tätigkeit als beauftragter Richter in Polen und Böhmen zurück, und auch der Kammerpräsident sieht keine Chancen. Anders der Entnazifizierungsausschuss. Der Betroffene kennt den Vorsitzenden aus seiner Referendarzeit, stimmt mit ihm ab, den negativen Bescheid der Militärregierung zu verschweigen, erreicht ein ihn entlastendes Votum und eine Entscheidung des Personalausschusses, die ihm sogar politische Gegnerschaft im Dritten Reich bescheinigt.24

2. Spruchgerichte Das allgemeine Verfahren der politischen Säuberung konkurriert in der Britischen Zone mit dem besonderen der Spruchgerichte. Sie haben die Möglichkeit, Betroffene wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer im Nürnberger Urteil als verbrecherisch erklärten nationalsozialistischen Organisation zu bestrafen.25 Im hier dargestellten Bereich betraf das vor allem Rechtsanwälte als Mitglieder der SS. Doch erweist sich die Spruchgerichtsbarkeit aus rechtsdogmatischen wie ___________ 23 Entscheidungen des Hauptausschusses v. 26.10.1948, des Berufungsausschusses v. 30.1.1950 und Erklärung von Siegel v. 5.11.1948 in der Entnazifizierungsakte (Nds. Hauptstaatsarchiv, Bestand Nds. 171 Hannover ZR Nr. 44520, Bl. 42, 28, 31); die Erklärung Leinerts v. 23.11.1948 fällt im Verfahren gegen Biester (in dessen Entnazifizierungsakte, wie Fn. 22, o.P.). 24 Archiv des OLG Celle, PA 10 H 144 betr. RA Wilhelm Hennis, vgl. Bescheid der Militärregierung v. 30.11.1945, Votum des PrRAK gegenüber dem Personalausschuss Celle v. 23.1.1946, Mitteilung des Betroffenen an den Vorsitzenden v. 23.1.1946, dessen Votum v. 22.2.1946 sowie Bericht des Ausschusses v. 23.2.1946 (PA Bl. 8 sowie Sonderh. Einspruch gegen Entlassung aus dem Justizdienst Bl. 6R, 8, 15, 16). 25 Zur Praxis der Verfahren nach der Verordnung Nr. 69 der Britischen Militärregierung v. 13.12.1946 (ABl der Militärregierung Deutschland, Britisches Kontrollgebiet, S. 405 ff.) Römer, Mitglieder verbrecherischer Organisationen nach 1945, Frankfurt/M. 2005.

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aus politischen Gründen ebenfalls weitgehend als wenig effektiv26. Als Folge der Anwendung strafprozessualer Grundsätze kann den Angeklagten häufig nicht widerlegt werden, sie hätten von den verbrecherischen Zielen und Handlungen der Organisation keine hinreichende Kenntnis gehabt. Zudem gilt in der Praxis eine Freiheitsstrafe häufig durch die Zeit der Internierung als verbüßt, und allgemein macht sich der heilende Einfluss der Zeit bemerkbar.27 Den prominentesten wie fragwürdigsten Anwendungsfall stellt wiederum das Verfahren gegen Hermann Muhs dar. Das Spruchgericht verurteilt ihn 1948 zu Freiheitsstrafe von einem Jahr, weil er mit dem Ehrenrang eines Oberführers der SS deren Verantwortung für Konzentrationslager und die Judenverfolgung gekannt habe sowie noch jetzt die Maßnahmen, weil auf staatlichen Gesetzen beruhend, für gültig halte. Die Revisionsinstanz hebt die Entscheidung auf, weil die Kenntnis nicht ausreichend festgestellt und der Angeklagte „innerlich“ bereits 1939 ausgetreten sei, und auf diesem Weg gelangt das Spruchgericht 1949 nach Zurückverweisung zu einem Freispruch.28

3. Ehrengerichte Vor ihrer „Gleichschaltung“ sieht die traditionelle Standesgerichtsbarkeit mit ihrem beim Reichsgericht gebildeten Ehrengerichtshof Anlass, sich gegen die nationalsozialistische Bewegung zu stellen. Der EGH beruft sich auf die Stellung des Anwalts als „Organ der Rechtspflege“, um jede parteipolitische Agitation zu untersagen, sei sie sozialdemokratisch gegründet auf Anprangerung einer „Klassenjustiz“ oder nationalsozialistisch auf ausschließliche Orientierung an einem entsprechenden politischen Glaubensbekenntnis.29 ___________ 26

Wenn der Britische Lordkanzler Viscount Jowitt den Präsidenten des ZentralJustizamtes in der Britischen Zone Wilhelm Kießelbach am 31.3.1949 wissen lässt, die Erfolge der Prozesse gereichten „der deutschen Justiz und ihren Richtern zur hohen Ehre“, seien diese doch „früher bekannt wegen des hohen Standes ihrer Lauterkeit und ihrer Achtung vor dem Recht“ (zitiert in der vom Generalinspekteur für die Spruchgerichte in der britischen Zone herausgegebenen Denkschrift über das Spruchgerichtsverfahren in der britischen Zone, Hamburg 1950, S. 2), beherrscht die Praxis doch vorrangig das Ziel, die Internierten wieder zu integrieren (vgl. Rüping (Fn. 1), S. 78). 27 Auf diese Weise gelingt auch einem durch die Tätigkeit als Truppenrichter bei der SS Belasteten im Ergebnis sogar die Einreihung als „Entlastet“ (Archiv des OLG Celle, PA 10a B 45 betr. Assessor Rudolf v. Brocke, Bl. 1 f.). 28 Entscheidungen des Spruchgerichts Bielefeld v. 16.4.1948, des Obersten Spruchgerichtshofs Hamm v. 28.1.1949 und des Spruchgerichts Bielefeld v. 24.3.1949 (wie Fn. 19, Bl. 163 f., 167 ff., 169 f.). 29 Für die erste Fallgruppe zuletzt 1923 EGHE 18, 122, 123 unter Bezug auf eine ständige Rechtsprechung, für die zweite hält 1929 EGHE 23, 89, 92 entsprechende Ausfälle für unvereinbar mit der Würde des Standes.

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Nach dem Krieg drängt die Anwaltskammer auf die Restitution der Ehrengerichtsbarkeit, da die ersatzweise Wahrnehmung durch staatliche Dienststrafgerichte „nicht mehr angemessen“, d.h. nationalsozialistisch motiviert sei. Ehrengerichte werden in der Britischen Zone wieder seit 1946 tätig30; oberste Instanz bleibt zunächst als Berufungsgericht der Ehrengerichtshof für die Britische Zone in Hamburg. Versucht man eine Analyse seiner Praxis, soweit sie grundsätzliche Fragen der Selbstreinigung in Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit betrifft, bleibt das Resultat zwiespältig. Häufig macht sich auch hier der heilende Einfluss der Zeit bemerkbar und legitimiert im Interesse der Reintegration Belasteter die Aufhebung erstinstanzlicher negativer Entscheidungen. Interessanter ist der Entscheidungen in beiden Instanzen zu entnehmende Konsens, in Ausnahmefällen bleibe kein Raum für ein Vergessen, Verdrängen und Vergeben. Wiederum erweist sich das Verfahren gegen Hermann Muhs als zeitgeschichtlich wichtige Quelle und veranschaulicht in diesem Zusammenhang widersprüchliche Einschätzungen. Das Ehrengericht versagt die Zulassung und hält ein sonst mögliches Vergessen „im Interesse der Reinheit und des Ansehens eines Berufsstandes“ für unangebracht, da Muhs als Regierungspräsident einen persönlichen, für den betroffenen Oberstaatsanwalt existenzgefährdenden Rachefeldzug geführt und damit einen „unsauberen Charakter“ gezeigt habe. Nach Aufhebung durch den Ehrengerichtshof kommt das Ehrengericht zu einer positiven Entscheidung, indem es die Zeitverhältnisse berücksichtigen und Muhs abnehmen will, sein Gegner habe gegenüber Nationalsozialisten nicht die gebotene Objektivität gewahrt.31 Die Akten enthalten auch ein Gegenbeispiel, dass sich beide ehrengerichtlichen Instanzen und die Exekutive als Gnadenbehörde einig sind, einen Bewerber nicht wieder zuzulassen. Rechtsanwalt Dr. Karl Behrens liefert als Mitarbeiter des SD der SS in Lüneburg Berichte und denunziert den Vorsitzenden der „Lüneburger Wachsbleiche AG“ Dr. Will, von Haus aus Rechtsanwalt, als sich dieser 1943 in einer Sitzung des Aufsichtsrats defaitistisch über den verlorenen Krieg äußert. Der Volksgerichtshof verurteilt Will 1944 zum Tode. Die Staatsanwaltschaft stellt 1952 das Strafverfahren gegen Behrens ein, da die Tat nicht mehr nach dem KRG Nr. 10 und auch nicht nach deutschem Recht bestraft werden könne. Das Ehrengericht Celle schließt ihn dagegen im selben ___________ 30

VO der Militärregierung über die Wiedereröffnung v. 8.10.1946 (VOBlBrZ 1947, 4 f.); darauf drängt bereits der Präsident der RAK Celle am 25.4.1946 gegenüber dem Oberlandesgerichtspräsidenten (Archiv des OLG Celle, Generalakten Bestand 3170a – Neuregelung des Anwaltsrechts 1945/46 – Bd. I, Bl. 126). 31 Entscheidungen des Ehrengerichts Celle v. 6.5.1953, des Ehrengerichtshofs v. 20.9.1956 und des Ehrengerichts v. 29.11.1958 (Archiv des OLG Celle, PA 10 M 199, Bl. 32, 44; 53, 57; 59, 72).

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Jahr aus der Anwaltschaft aus. Er habe die Folgen der Denunziation durchaus erkennen können, nämlich gewusst, „dass er sich in einem Unrechtsstaat befand, in dem Personen auch ohne Rechtsgrund schwerste Leiden bis zum Tod von den Mächten des Staates hinnehmen mussten“. Der Ehrengerichtshof bestätigt die Entscheidung wegen des Ausmaßes der Vorwerfbarkeit, und der Ministerpräsident lehnt konsequent sowohl 1959 als auch noch 1966 eine Begnadigung ab.32

IV. Mentalitätsfragen Unabhängig von der heutigen Bewertung der nach 1945 einsetzenden und bürokratisch organisierten Sühneverfahren bleibt das in den Personalakten erhaltene Material vor allem interessant, weil es Aufschluss ergibt über das Ausmaß eines Engagements im Nationalsozialismus. Über die Motive, sich der Partei und ihren Gliederungen anzuschließen, geben die Lebensläufe Auskunft, die Bewerber ihrem Antrag auf Wiederzulassung nach 1945 beizufügen hatten. Eine Auswertung von 50 ihrem Gehalt nach für die Zeitgeschichte aussagekräftigen Selbstzeugnissen ermöglicht Überlegungen zu wiederkehrenden, verallgemeinerungsfähigen Positionen einer beruflichen Elite am Beispiel der Anwaltschaft in einem Oberlandesgerichtsbezirk. Ein Vergleich mit früheren Selbstzeugnissen aus der Zeit des Nationalsozialismus legt dabei die jeweilige Zweckorientierung offen.33 Dabei ist weniger an spektakuläre Einzelheiten zu denken als an die belegbare Reproduktion von Stereotypen.

1. Parteigenossen Den statistisch bedeutendsten Faktor eines Engagements bildet die Zugehörigkeit zur NSDAP. Dem Celler Material zufolge trifft das für 66% einer unter___________ 32

Archiv des OLG Celle, PA 10 B 148, mit Einstellungsverfügung der StA v. 3.3.1952 (Bl. 92 ff.), Entscheidungen des EG v. 20.12.1952 (Bl. 116 ff.), des EGHBrZ v. 23.6.1953 (Bl. 91 ff.) sowie Voten des NdsMP v. 5.10.1959 und 14.3.1967 (Bl. 145 und o.P.). 33 Der Lebenslauf eines Betroffenen v. 27.11.1934 gibt preis, sich bereits vor 1933 als Schüler an nationalsozialistischen Aufmärschen beteiligt und an den „Grenzlanduniversitäten“ Freiburg und Kiel neben gleichzeitigem Dienst in der SA studiert zu haben, um ein „rassegemäßes und volksnahes deutsches Recht“ mit aufzubauen; in Anpassung an die neue Zeit beschränkt sich der Lebenslauf v. 18.2.1951 auf die äußeren Daten der Ausbildung wie auch der Promotion (1936 über „Die öffentlich-rechtliche Gestaltung der NSDAP“), vgl. im Archiv des OLG Celle die PA 10 R 91 des späteren RA Dr. Robert Reuling (Beiakte OLG Darmstadt, Bl. 5-7 und Hauptakte Bl. 2).

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suchten Kohorte von über 300 Rechtsanwälten zu.34 Wer sich vor 1933 der Partei angeschlossen hat, macht als persönliche Motive häufig eine von Idealismus getragene jugendliche Begeisterung geltend, und wer dies mit der Machtergreifung getan hat, einen kollektiven Aufbruch in Richtung einer nationalen Wiedergeburt. Eine andere Kategorie bilden Rücksichten auf Beruf und Familie. Bewerber machen äußeren Druck geltend, da sie sonst nicht hätten studieren, ins Referendariat kommen, als Assessor übernommen werden können, und nur als Parteimitglied habe man vor dem Volksgerichtshof und Reichskriegsgericht verteidigen, für Mandanten etwas erreichen und sich selbst schützen können. Einmal in der Partei, lautet die spätere Selbstverteidigung, habe man keinen Austritt riskieren können, um nicht die Berufsausübung und die Sicherheit der eigenen Familie zu gefährden. Geringere Plausibilität besitzen demgegenüber die Versionen, man sei ohne Zutun und Willen automatisch aus Gliederungen wie der SA in die NSDAP überführt worden oder nur in ihr geblieben, um gezielt gegen ihre Bestrebungen arbeiten zu können. Die gerne behauptete innere Distanzierung trotz äußerer Zugehörigkeit erscheint nach 1945 nur überzeugend, wenn sie sich in oppositionellen Handlungen gegen das System manifestiert.35 Eine besondere Form des Dienstes in der NSDAP bildet für Rechtsanwälte die Tätigkeit in der Parteigerichtsbarkeit, regelmäßig als Beisitzer am Gaugericht als mittlerer Instanz. Das Profil des Parteirichters orientiert sich nicht an einem nationalsozialistischen Juristen, sondern an einem rechtskundigen Nationalsozialisten, der sich der Weltanschauung, den politischen Notwendigkeiten und dem Wohl der Bewegung verpflichtet fühlt.36 Nach 1945 machen Betroffene geltend, sie hätten ihre Fachkompetenz im Sinne eines Qualitätsstandards eingebracht und seien wie bei staatlichen Gerichten nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen verfahren.37 Verschwiegen werden deren Inhalt und die entsprechende Praxis der Parteigerichte, konsequent Juden auszugrenzen, den privaten

___________ 34

Diagramm zur Häufigkeit der Mitgliedschaften nach dem Celler Material bei Rüping (Fn. 7), S. 154. 35 Einzelnachweise zum Vorstehenden aus dem Material der Personalakten bei Rüping (Fn. 7), S. 130 ff., dort S. 136 auch zum belegbaren Gesinnungswandel des RA Hans-Peter Meister, der trotz alter Mitgliedschaft in der Partei wie in der Waffen-SS gegen Aktionen eingeschritten sein soll, wenn sie auf politischer oder rassischer Unduldsamkeit beruhten (Archiv des OLG Celle, PA 10 M 155, Bl. 10, 11 mit Leumundszeugnis des Oberlandesgerichtsvizepräsidenten Bl. 21). 36 Richtlinien für die Parteigerichte in der Fassung von 1942 unter III 4a und c. 37 So der früher als Richter tätige RA Dr. Robert Reuling im Entnazifizierungsverfahren, wiedergegeben in der Entscheidung des Entnazifizierungsausschusses v. 26.9.1949 (Archiv des OLG Celle, PA wie Fn. 33, Hauptakte, Bl. 5R).

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wie beruflichen Umgang mit ihnen zu ahnden und Kritik am System zu unterbinden.38

2. SA- und SS-Männer Als gravierender stellt sich eine Zugehörigkeit zur SA dar. Betroffene machen zu ihrer Entlastung rein sportliche Interessen geltend, häufiger äußeren Druck, um – gerade als Nichtparteigenossen – die politische Zuverlässigkeit zu dokumentieren, und ebenso eine automatische Überführung aus dem „Stahlhelm“. Auf der anderen Seite gelingt es Anwälten in zwei bemerkenswerten Fällen aus dem Bezirk, sich anlässlich der befohlenen Mitwirkung am Novemberpogrom 1938 aus der SA zu lösen. Der eine erreicht einen ehrenvollen Austritt, als er sich unter Berufung auf sein Gewissen weigert, eine Synagoge anzuzünden, und der andere handelt in der Sicht des Obersten Parteigerichts nicht pflichtwidrig, als er nachträglich sein Ausscheiden mit der Begründung beantragt, er habe durch die Beteiligung seine Ehre verloren.39 Differenziert ist die statistisch nicht häufige, dafür bei der Entscheidung über die Neuzulassung umso schwerer wiegende Zugehörigkeit zur SS zu sehen. Als schwere Belastung wirkt den Akten zufolge ohne weiteres die Zugehörigkeit zur Waffen-SS, wenn ein Anwalt – was er später über seinem Schicksal als „politischer Häftling“ vergisst – als Mitglied eines Totenkopfverbandes in einem Umsiedlungskommando Dienst getan hat, ebenso ein anderer in Stabsstellen bei der Generalinspektion der Totenkopfverbände und zuletzt in der Rechtsabteilung des Hauptamtes „Haushalt und Bauten“ der Reichsführung SS.40 Häufiger stellen Anwälte ihre berufliche Kompetenz in den Dienst der Allgemeinen SS, als Rechtsberater eines SS-Sturms, als SS-Richter oder als Mitarbeiter des SD der SS.41 Gelten die Tätigkeit in der SS-Gerichtsbarkeit nach ___________ 38 Das Oberste Parteigericht ahndet die Beauftragung eines jüdischen Anwalts mit dem Ausschluss aus der Partei (Der Parteirichter 2, 36), und auch Kritik an der deutschen Außenpolitik führt zu einem Verfahren gegen den Betroffenen (Archiv des OLG Celle, PA 10 N 41, betr. RuN Kurt Nagel, Angabe im Fragebogen v. 5.10.1945, Bl. 4R). 39 Archiv des OLG Celle, PA 10 F 60, betr. Hans-Jürgen Frisius, Bl. 10, 13 und Archiv der RAK Celle, PA betr. Dr. Kurt Blanke, o.P.; zu diesen Verfahren Hamann, FS zum 275jährigen Bestehen des OLG Celle, 1986, S. 143, 193 ff. 40 Archiv des OLG Celle, PA 10 S 182, Abt. RA, betr. Nikolaus v. Steinfeld, Bl. 25, 33, 77 sowie Archiv der RAK Celle, PA betr. Hermann Korshenrich (vgl. bereits oben Fn. 18), nach seinen eigenen Mitteilungen an den OLGPr v. 4.11.1939, 5.3., 4.8. 1940, 7.1. und 17.5. 1941, o.P. 41 Als Rechtsberater ist z.B. tätig RuN Dr. Kurt Endrigkeit (Archiv des OLG Celle, PA 10 E 50, Angabe im Personalbogen, o.D.), als SS-Richter Dr. Karl Behrens (PA wie Fn. 32, mit der Mitteilung des LGPr Lüneburg v. 3.10.1944, Bl. 67).

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1945 als gravierende Belastung und die Denunziation für den SD als ein unter Umständen nach dem Gesetz Nr. 10 des Kontrollrats zu verfolgendes Verbrechen gegen die Menschlichkeit42, bemühen sich Betroffene um eine Verharmlosung und um den Anschein von Normalität, wenn sie mäßigend gewirkt bzw. nur Fachberichte geliefert haben sollen.43 Versuche, den mit der Zugehörigkeit verbundenen Eindruck aktiven Einsatzes für die nationalsozialistische Sache zu widerlegen, haben nur in Ausnahmefällen Erfolg.44

V. Kontinuitäten Die eingangs zitierte und keineswegs vereinzelte Sichtweise, pauschal das Verhalten der Anwaltschaft zur Zeit des Nationalsozialismus im Bild einer Verführung einzufangen, erscheint uns heute nicht als Betrag zur kritischen Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte, sondern zur Verdrängung. Als Ergebnis einer Analyse der ausgewerteten Akten ist der Schluss unvermeidlich, die Entnazifizierung habe auch im Bereich der Anwaltschaft keinen politischen Neuanfang getragen, aber gleichzeitig nicht überraschend, da Vergleichbares für Justizjuristen und darüber hinaus für die Allgemeinheit gilt.45 Neu sind dagegen im untersuchten Bereich Ausmaß und Vielfalt eines Anwälten möglichen und von ihnen in unterschiedlicher Intensität und in unterschiedlichen Formen wahrgenommenen Engagements für die Sache der Bewe___________ 42 Zu den rechts- und sozialgeschichtlichen Fragen Rüping in: Historische Sozialforschung Bd. 26 (2001), H. 2/3, S. 30, 36 ff. 43 RA Paul Brettschneider wird politisch entlastet, weil er „den Irrsinn der strengen Urteile“ nicht mitgemacht und nur Gewalttaten unnachsichtig geahndet habe (Archiv der RAK Celle, mit dem Spruchentscheid der Hauptkammer München v. 7.7.1950, o.P.), und RA Heinz Bortfeld will seit 1941 für den SD in Hannover Gutachten für die Abteilung „Recht und Rechtspolitik“ sowie Stimmungsberichte der Bevölkerung geschrieben haben, „um Unrecht im eigenen Wirkungskreis zu verhindern“, vgl. das Selbstzeugnis v. 1.6.1948 „Wann und Weshalb ich Parteigenosse wurde“ in der Entnazifizierungsakte (Fn. 23) Bl. 24 ff. (S. 8). 44 Z.B. schadet der Eintritt in die Allgemeine SS dem Vizepräsidenten der RAK RA Heinrich Wulkop nicht, der kein Parteimitglied wird und sich als Vorsitzender einer Abteilung des Ehrengerichts gegenüber erheblichem Druck seine Unabhängigkeit bewahrt (dazu auf Grund der PA 10 W 88 im Archiv des OLG Celle Rüping (Fn. 7) S. 4 ff.). RA Joachim Borchart tritt als 19jähriger Student der SS bei und sieht sich entlastet, weil er nur in technischen Funktionen als Nachrichtenmann eingesetzt worden sei, nicht gegenüber der Zivilbevölkerung (Archiv des OLG Celle, PA 10a B 33, vgl. den Lebenslauf v. 18.7.1945, Bl. 3). 45 Zur „stillen, allmählichen, schleichenden, unaufhaltsamen Wiederkehr der Gestrigen“ Kogon in Frankfurter Hefte 1954, 641, sowie als zeitgeschichtlicher Befund bei Niethammer, Die Mitläuferfabrik, Berlin/Bonn 1982, S. 329 und Dirks in Frankfurter Beiträge zur Soziologie I, Frankfurt/M. 1955, S. 445, 446.

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gung.46 In dieser Affinität zum Nationalsozialismus einen „Betriebsunfall“ zu sehen, der eine bis 1933 und nach 1945 intakte liberale Tradition unterbrochen hätte, greift dabei zu kurz. Es ist Gemeingut im gegenwärtigen Diskussionsstand der Anwaltsgeschichte, dass die Herausbildung der Profession in Deutschland nicht auf einer dem Berufsstand genuinen „Freiheit der Advokatur“ beruht, sondern auf einer vom Staat konzessionierten Freiheit. Nur auf dieser Basis findet ein Numerus clausus für die Zulassung seine Erklärung und wird das Paradoxon auf der symbolhaften Abgeordnetenversammlung des DAV ein Jahr vor der Machtergreifung verständlich, die „Freiheit“ der Advokatur liege in ihrer Beschränkung durch Höchstzahlen bei der Zulassung.47 Der Nationalsozialismus macht sich diese Öffnung gegenüber staatlichen Interventionen für seine Zwecke nutzbar, bedient sich der Kammern zur Gleichschaltung, erweitert seinen Einfluss durch präventive Selektion im Probe- und Anwärterdienst der Assessoren und bereitet konsequent den Weg zu einer beamtenähnlichen Stellung der Angehörigen eines freien Berufs vor. Das Jahr 1945 steht nur scheinbar für eine Zäsur. In der entscheidenden Frage des staatlichen Einflusses demonstriert gerade der Bezirk Celle eine bemerkenswerte personelle Kontinuität: Der Berichterstatter und maßgebende Akteur auf der Versammlung des DAV im Jahre 1932, Freiherr v. Hodenberg, setzt als neu ernannter Oberlandesgerichtspräsident die Traditionslinie fort, wenn er vor der Unmöglichkeit kapituliert, zahllose Flüchtlinge und Vertriebene unterzubringen, daher weiterhin für eine Zulassung durch die Landesjustizverwaltung und unverändert für einen Numerus clausus votiert. Er ist sich mit den Kammern einig, dass „die Wiedereinführung der grundsätzlich anzuerkennenden ‚Freien Advokatur‘ im Augenblick und für die nächsten Jahre zu einer Katastrophe in der Anwaltschaft führen würde“.48 Erst die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Berufsfreiheit in Art. 12 des Grundgesetzes ermöglicht eine ___________ 46 Die Mentalität veranschaulicht das „Nationale Glaubensbekenntnis“ im Zulassungsantrag des RA Dr. Kurt Valentin v. 4.8.1945: „Ich habe mich bemüht, stets ein guter Deutscher und rechtlich denkender und handelnder Staatsbürger zu sein … Deshalb habe ich mich … bei Bekämpfung des kommunistischen Aufstandes im Freikorps ebenso zur Verfügung gestellt, wie ich im Mai 1933 Parteigenosse wurde, um mit allen Nationalgesinnten das Deutsche Reich vor Terror und Zusammenbruch zu bewahren“ (Archiv des OLG Celle, PA 10 V 18, Bl. 8). 47 Zu diesem 1932 beherrschenden Thema und den mit überwältigender Mehrheit verabschiedeten Resolutionen Rüping (Fn. 7), S. 60 f. 48 Vgl. das Protokoll der 5. Sitzung der Versammlungen der Vereinigung der Rechtsanwaltskammern in der Britischen Zone v. 31.10./1.11. 1946, S. 3 zu TOP 13 (Archiv der RAK Celle, Generalakten „Pyrmonter Protokolle“), zur Grundsatzentscheidung der Kammern nach 1945, erneut die Justizverwaltung für die Entscheidung über die Zulassung zuständig zu machen, Rüping (Fn. 7), S. 205.

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Bedürfnisprüfung in der Bundesrechtsanwaltsordnung von 1959 für obsolet zu erklären.49

___________ 49

Bei einer Besprechung mit den OLG-Präsidenten und Generalstaatsanwälten im Nds. Justizministerium am 20.11.1950 wird referiert, nach Auffassung des BMJ wie überwiegend der Landesjustizverwaltungen sei ein Numerus clausus „grundsätzlich unerwünscht und mit dem Grundgesetz unvereinbar“ (Archiv des OLG Celle, Generalakten 3170 – betr. die Rechtsanwaltsordnung – Bd. III Bl. 164R, Prot. S. 2).

Haushaltsführung und Kinderbetreuung auf dem Prüfstand des § 170 StGB? Von Hero Schall Im strafrechtlichen Schrifttum – vornehmlich in den Lehrbüchern und zum Teil auch in den Kommentaren – wird dem Straftatbestand der Unterhaltspflichtverletzung eine eher geringe Aufmerksamkeit zuteil. Dies ist umso erstaunlicher, als diese Strafnorm in der Praxis eine erhebliche Bedeutung hat1 und ihre Anwendung wegen der weiten Gesetzesfassung nicht unerhebliche Schwierigkeiten bereitet, so dass der Strafrichter hier in besonderem Maße auf eine Hilfestellung durch die Wissenschaft angewiesen ist. Eine positive Ausnahme bildet insoweit jedoch das Lehrbuch von Maurach/Schroeder/Maiwald, das diesem Straftatbestand in dem großen Kapitel „Straftaten gegen den Familienstand, familienrechtliche Rechte und Pflichten und die Jugend“ einen gebührenden Platz einräumt.2 Der Jubilar, der dieses Kapitel bearbeitet hat, kritisiert dabei angesichts der Weite der Gesetzesfassung durchaus zu Recht, der Gesetzgeber habe „einen Tattyp geschaffen, der Anlass zu schweren Bedenken gibt.“ Die Vorschrift bedürfe daher, „um unerträgliche Ausuferungen zu vermeiden, einer begrenzenden Auslegung.“3 Dieser Aufforderung soll mit der hier vorgelegten Abhandlung, die Manfred Maiwald in herzlicher Verbundenheit und mit den besten Wünschen zum 70. Geburtstag gewidmet ist, Folge geleistet werden.

I. Das Problem Von der unterhaltsrechtlichen Grundsatzregelung,4 dass der dem Ehepartner und den Kindern zu leistende Unterhalt in Form einer Geldrente oder anderer ___________ 1 Die Zahlen der polizeilich bekannt gewordenen Delikte des § 170 StGB bewegten sich in den letzten zehn Jahren zwischen 14.000 und 20.000 pro Jahr (s. dazu SK-StGB/ Schall, Stand: Nov. 2008, § 170 Rn. 3 mwN.). 2 Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT II, 9. Aufl. 2005, § 63 Rn. 1-8, 24-48. 3 Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 2), § 63 Rn. 24. 4 Nach der heutigen Rechtslage ist die Unterhaltsleistung in Form der Zahlung einer Geldrente der gesetzliche Regelfall (§§ 1360a Abs. 2 S. 2, 1361 Abs. 4 S. 1, 1585 Abs. 1 S. 1, 1612 Abs. 1 S. 1 BGB). Bei dem sog. Familienunterhalt (bei noch nicht erfolgter Trennung) steht zwar der Naturalunterhalt im Vordergrund (§§ 1360, 1360a Abs. 2 S. 1

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Sachzuwendungen zu erbringen ist, machen die Vorschriften der §§ 1360 S. 2, 1606 Abs. 3 S. 2 BGB insofern eine Ausnahme, als der unterhaltspflichtige Ehegatte bzw. der – ein unverheiratetes minderjähriges Kind betreuende – Elternteil seine Unterhaltsverpflichtung in der Regel durch die Führung des Haushalts bzw. die Pflege und die Erziehung des Kindes erfüllt. Diese ursprünglich durch das Gleichberechtigungsgesetz von 19575 nur für die nicht berufstätige Ehefrau und Mutter begründete Ausnahme wurde nach endgültiger Verabschiedung vom Leitbild der „Hausfrauenehe“ durch das Eherechtsreformgesetz von 19766 und das Kindesunterhaltsgesetz von 19987 auf beide Ehegatten bzw. beide Elternteile erstreckt.8 Angesichts dieser Vorgaben des Bürgerlichen Rechts stellt sich die Frage, ob damit auch das Tatbestandsmerkmal der „gesetzlichen Unterhaltspflicht“ in § 170 StGB festgelegt ist, also auch die Verletzung solcher immateriellen Pflichten eine Strafbarkeit wegen Unterhaltspflichtverletzung im Sinne des § 170 StGB auslöst. Diese Frage wird sowohl innerhalb der Rechtsprechung als auch im Schrifttum kontrovers beantwortet.9 Bejaht man sie und lässt insoweit für die Tatbestandsverwirklichung nicht nur die vollständige Verweigerung, sondern schon die bloße Vernachlässigung solcher Betreuungs- oder Haushaltsführungspflichten ausreichen,10 so bedeutet das zum einen, dass Staatsanwalt und Gericht mit ihren Ermittlungen intensiv und ggf. massiv in den tatsächlichen Ablauf des Ehe- bzw. Familienlebens der Betroffenen – d.h. sowohl des Beschuldigten als auch des Opfers – eindringen müssen. Und es bedeutet zum anderen, dass sie sich vor die schwierige Aufgabe gestellt sehen zu entscheiden, ob die ggf. fest___________ BGB), jedoch geht es in der forensischen Praxis auch hier ganz überwiegend um Geldrenten. Siehe zum Ganzen auch Graba, FamRZ 2001, 1257 (1257 f.); LK-StGB/Dippel, 11. Aufl. (Stand: Juli 2003), § 170 Rn. 30. 5 BGBl. I, S. 609. 6 BGBl. I, S. 1421. 7 BGBl. I, S. 666. 8 Gem. § 5 S. 2 LPartG gilt die Regelung des § 1360 S. 2 BGB für die Unterhaltsverpflichtung bei eingetragenen Lebenspartnerschaften entsprechend. 9 Bejahend: BVerfGE 50, 142 (153 f.); OLG Hamm JZ 1962, 1547 m. zust. Anm. Schröder; OLG Hamm NJW 1964, 2316 (2317) = FamRZ 1964, 583; Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 170 Rn. 5; LK-StGB/Dippel (Fn. 4), § 170 Rn. 30 ff.; Otto, Strafrecht BT, 7. Aufl. 2005, § 65 Rn. 21; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, 27. Aufl. 2006, § 170 Rn. 17/18. Gegen eine solche erweiterte Strafbarkeit: OLG Karlsruhe NJW 1973, 108 = JZ 1973, 600 m. zust. Anm. Seebode; OLG Hamburg NStZ 1984, 167 (168); Blei, Strafrecht BT, 12. Aufl. 1983, § 37 IV 4.1; Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 170 Rn. 7; Geilen, FamRZ 1967, 419; Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 2), § 63 Rn. 30; Merkert, NJW 1965, 409; MK-StGB/Ritscher, 2005, § 170 Rn. 12; SK-StGB/ Schall (Fn. 1), § 170 Rn. 12; Welzel, FS Hellmuth Mayer, 1966, S. 395 ff.; ders., Lb., 11. Aufl. 1969, S. 426 f. 10 So ausdrücklich LK-StGB/Dippel (Fn. 4), § 170 Rn. 31; Schönke/Schröder/Lenck ner (Fn. 9), § 170 Rn. 17/18.

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gestellte Vernachlässigung der Haushaltsführung bzw. der Betreuung des Kindes bereits ein solches Maß erreicht, dass von einem „Sich-Entziehen“, also von einem pflichtwidrigen Unterlassen der Unterhaltsleistung i.S.d. § 170 StGB gesprochen werden kann.

II. Die naheliegenden Einwände Gegen die extensive, auf eine strenge Akzessorietät der in § 170 StGB genannten Unterhaltspflicht zum Bürgerlichen Recht pochende Auffassung, nach der auch die Verletzung von Haushaltsführungs- und Betreuungspflichten den Tatbestand des § 170 StGB verwirklicht, werden heute im Wesentlichen vier Einwände geltend gemacht.

1. Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz Der sich in erster Linie aufdrängende Einwand hat sich bereits bei dem Problemaufriss angedeutet: Wie lässt sich ein in den intimsten Bereich der Lebensführung hineinreichender Eingriff der Strafverfolgungsbehörden legitimieren, wenn sich noch nicht mal die Intensität oder der Umfang der für eine Strafbarkeit vorausgesetzten Mängel in der Haushaltsführung oder der Kindesbetreuung mit objektiv nachvollziehbaren Kriterien begrenzen lassen?11 Die Gefahr der Ausuferung des Tatbestands und die damit verknüpfte Schwierigkeit, wenn nicht gar Unlösbarkeit der Aufgabe für den im Einzelfall entscheidenden Strafrichter werden ohne Weiteres deutlich, wenn man sich nur einmal die über die groben Hausarbeiten hinausgehenden, für die Kinderbetreuung typischen Tätigkeiten vor Augen führt: „An- und Auskleiden, Körper- und Krankenpflege, Zubereitung von Mahlzeiten, Waschen und Inordnunghalten der Kleidung und Wäsche, Spazierenfahren und -gehen, Gesellschaft beim Spiel, Hilfe und Aufsicht bei den Schularbeiten usw.“12 Soll bereits (bei entsprechendem Vorsatz) das Unterlassen einzelner dieser Tätigkeiten oder die jeweilige Schlechtausfüh-

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So auch die Bedenken von MK-StGB/Ritscher (Fn. 9), § 170 Rn. 12. Die Unvereinbarkeit einer solchen Auslegung mit dem Grundsatz nulla poena sine lege hat bereits Welzel (Fn. 9), S. 395 (396 f.) nachdrücklich moniert; im Ergebnis ebenso OLG Karlsruhe JZ 1973, 600 m. zust. Anm. Seebode; Geilen, FamRZ 1967, 419; SK-StGB/Schall (Fn. 1), § 170 Rn. 12. 12 So Welzel (Fn. 9), S. 396 im Anschluss an BGH NJW 1953, 619 (620). Zu der gleichen Problematik bei der Feststellung einer in § 171 StGB vorausgesetzten Gefahr einer erheblichen Schädigung in der „körperlichen oder psychischen Entwicklung“ siehe eindrücklich SK-StGB/Horn/Wolters, (Stand: März 2002), § 171 Rn. 2, 4 ff.

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rung13 aller oder eines Großteils solcher Verrichtungen den Straftatbestand des § 170 StGB erfüllen? Selbst wenn man berücksichtigt, dass es sich bei § 170 StGB um eine durch die Unterhaltsregelungen des BGB auszufüllende Blankettvorschrift handelt14 und auch bei der Formulierung von Strafgesetzen ein gewisses Maß von Unbestimmtheit schon aus sachlogischen Gründen unvermeidbar ist,15 so kann doch – wenn man denn das Gebot der Gesetzesbestimmtheit in Art. 103 Abs. 2 GG auch nur halbwegs ernst nimmt – jedenfalls bei den hier in Rede stehenden Konstellationen von einer hinreichenden Klarheit und Berechenbarkeit der Strafnorm keine Rede sein.16 Nicht nachvollziehbar ist daher die schlichte gegenteilige (noch unter dem Leitbild der „Hausfrauenehe“ stehende) Feststellung des BVerfG: „... gehört zum Unterhalt die Vornahme aller der Handlungen, die normalerweise von einer Frau im Haushalt zu erbringen sind; § 170b StGB ist anwendbar, wenn solche Leistungen verweigert werden.“17 Zu welchen Ungereimtheiten bzw. zu welcher Verunsicherung die extensive Auslegung der „gesetzlichen Unterhaltspflicht“ in der Praxis führt, zeigt anschaulich der dem Urteil des OLG Karlsruhe zugrunde liegende Sachverhalt:18 Obgleich der Ehemann die Angeklagte fast täglich trat und schlug, sie mit einem Beil bedrohte und sie schließlich mit dem Bemerken aus dem Haus warf, sie solle sich nicht mehr sehen lassen, verurteilte das AG die Angeklagte wegen des daraufhin erfolgten Verlassens der Familie gem. § 170b StGB a.F. zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von 4 Monaten!

___________ 13

Wer entscheidet über die Qualität der Ausführung? Siehe zu dem Problem auch unten unter II. 3. 14 Zu den sich aus der Akzessorietät zum Bürgerlichen Recht ergebenden Konsequenzen siehe näher unten unter III. 15 Vgl. dazu nur (jeweils mit zahlreichen Nachweisen aus der Rspr. des BVerfG) Jescheck/Weigend, Lb., 5. Aufl. 1996, S. 128 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 5 Rn. 27, 31, 69; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 9), § 1 Rn. 19 ff. 16 Auch mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung, hat der Einzelne keine Möglichkeit, „den durch die Strafnorm geschützten Wert sowie das Verbot bestimmter Verhaltensweisen zu erkennen und die staatliche Reaktion vorauszusehen“ (so die Mindestanforderung von BGHSt 28, 312, 313 unter Berufung auf BVerfGE 45, 363, 371, 372). 17 BVerfGE 50, 142 (153/154); die damals zu überprüfende Strafrechtsnorm des § 170b StGB a.F. ist erst aufgrund des 6. StrRG von 1998 durch den inhaltsgleichen § 170 Abs. 1 StGB abgelöst worden. 18 OLG Karlsruhe NJW 1973, 108, 109 (in der Fundstelle JZ 1973, 600 sind diese Ausführungen ausgespart).

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2. Berufung auf den Gesetzgeber und den allgemeinen Sprachgebrauch Von den Vertretern der restriktiven Auffassung wird teilweise auch die unterschiedliche gesetzgeberische Intention ins Feld geführt: Während der Gesetzgeber des § 170b StGB a.F. den „Schutz des Unterhaltsberechtigten vor Gefährdung seiner materiellen, wirtschaftlichen Existenzgrundlage durch Bekämpfung der Zahlungsunwilligkeit von Unterhaltsschuldnern“ bezweckt habe, sei es bei der Erweiterung des Unterhaltsbegriffs durch das Gleichberechtigungsgesetz „um ausschließlich familienrechtliche, der Durchführung des Gleichberechtigungsgedankens entstammende Gründe“ gegangen; eine Anpassung der Strafvorschrift an diesen erweiterten Unterhaltsbegriff würde daher zu einem unzulässigen Bedeutungswandel des strafrechtlichen Schutzzwecks führen.19 Allerdings wird man aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber weder 1943 bei Einfügung des § 170b in das StGB20 noch bei den späteren Gleichberechtigungsgesetzen21 an eine damit korrespondierende strafrechtliche Haftung des Unterhaltspflichtigen gedacht hat, nicht zwingend folgern können, dass deshalb einer erweiterten Auslegung des ursprünglichen Unterhaltsbegriffs in der Strafnorm des § 170 (bzw. des § 170b a.F.) StGB der Weg versperrt ist.22 Denn der Gesetzgeber ist weder imstande noch hat er in aller Regel die Absicht, mit Hilfe der von ihm verwendeten Begriffe Inhalt und Anwendungsbereich des von ihm erlassenen Gesetzes ein für alle Mal ungeachtet weiterer Entwicklungen festzuschreiben, so dass – im Sinne einer heute vorherrschenden „modifizierten objektiven Theorie“ – das Gesetz durchaus über die erkennbare Vorstellung des historischen Gesetzgebers hinaus ausgelegt werden kann, wenn der den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen und den gegenwärtigen maßgebenden Wertvorstellungen entsprechende Gesetzeszweck dies erfordert, solange dabei die Wortlautgrenze nicht überschritten wird.23 ___________ 19

OLG Karlsruhe JZ 1973, 600; auf den unterschiedlichen gesetzgeberischen Willen rekurriert auch Welzel (Fn. 9), S. 395 (396). 20 Siehe zur geschichtlichen Entwicklung des heutigen § 170 Abs. 1 StGB ausführlich Eggert, Der strafrechtliche Schutz des gesetzlichen Unterhaltsanspruchs, 1973, S. 8 ff. sowie LK-StGB/Dippel (Fn. 4), § 170 Rn. 1 ff.; Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 2), § 63 Rn. 1 ff., 24. 21 Siehe Fn. 5-7. 22 Ebenso OLG Hamm JZ 1962, 547 (548); Seebode, JZ 1973, 600 (601). 23 Siehe dazu die geradezu poetische, aber durchaus treffende Umschreibung durch den BGH: „Kein Gesetz verträgt eine starre Begrenzung seiner Anwendbarkeit auf solche Fälle, die der vom Gesetzgeber ins Auge gefassten Ausgangslage entsprechen; denn es ist nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist, der mit den Lebensverhältnissen fortschreiten und ihnen sinnvoll angepasst weitergelten will, solange dies nicht die Form sprengt, in die er gegossen ist“ (BGHSt 10, 157, 159/160). Zu dem entsprechenden Versuch einer Synthese zwischen der subjektiv-historischen und der ob-

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Gleichwohl hat die Berufung auf den historischen Gesetzgeber des § 170 bzw. § 170b a.F. StGB insoweit ihre Berechtigung, als in den Gesetzgebungsverfahren von Anfang an im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Unterhaltspflichtverletzung eine ausschließlich auf pekuniäre Leistung ausgerichtete Unterhaltspflicht thematisiert worden ist24 und eben deshalb bis heute mit dem Straftatbestand der Unterhaltspflichtverletzung allgemein nur solche Pflichten assoziiert werden, die den materiellen Lebensbedarf des Unterhaltsberechtigten gewährleisten.25 Es ist daher zumindest zweifelhaft, ob die Verletzung von Haushalts- und Betreuungspflichten noch dem umgangssprachlichen Bedeutungsgehalt der strafrechtlichen Unterhaltspflichtverletzung unterfällt,26 ihre Pönalisierung also noch mit dem Wortlaut des § 170 StGB vereinbar ist.27

3. Die Berufung auf den Rechtsgedanken des früheren § 888 Abs. 2 ZPO Als gravierendes Argument gegen die Erweiterung auch des strafrechtlichen Unterhaltsbegriffs wird auf den ursprünglich in § 888 Abs. 2 ZPO, heute in § 120 Abs. 3 FamFG28 zum Ausdruck gebrachten Rechtsgedanken verwiesen, wonach die Verurteilung zu höchst persönlichen Handlungen wie zur Eingehung einer Ehe oder zur Herstellung des ehelichen Lebens nicht mittels Rechtszwang durchgesetzt werden dürfe.29 ___________ jektiv-teleologischen Auslegung siehe näher Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 88 ff.; Jescheck/Weigend, (Fn. 15), S. 156 f.; Roxin (Fn. 15), § 5 Rn. 32, 33; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 9), § 1 Rn. 41 ff. – jeweils mwN. 24 Siehe insbesondere RegE BT-Drs. VI/1552, S. 12 f. sowie SA BT-Drs. IV/3521, S. 13 ff.; ausführlich zur geschichtlichen Entwicklung Eggert (Fn. 20), S. 8 ff. sowie LK-StGB/Dippel (Fn. 4), § 170 Rn. 1 ff. 25 Bezeichnend ist, dass selbst die Verfechter des erweiterten Unterhaltsbegriffs das Rechtsgut (neben dem Schutz der Allgemeinheit) als Schutz des Unterhaltsberechtigten vor Gefährdung seines „wirtschaftlichen“ oder „materiellen“ Lebensbedarfs definieren; so z.B. BVerfGE 50, 142 (142/143, 153); Lackner/Kühl (Fn. 9), § 170 Rn. 1; Otto (Fn. 9), § 65 Rn. 19; siehe auch BGHSt 29, 85 (87). 26 Zum Rekurs auf den allgemeinen Sprachgebrauch als Maßstab zur Ermittlung der Wortlautgrenze vgl. nur Lackner/Kühl (Fn. 9), § 1 Rn. 6; Roxin (Fn. 15), § 5 Rn. 28, 30, 37; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 9), § 1 Rn. 37 – jeweils mit zahlr. Nachw. 27 Eine Überschreitung der Wortlautgrenze kritisieren OLG Karlsruhe JZ 1973, 600 (600 f.) und Welzel (Fn. 9), S. 395 (397 f.). 28 Der frühere Abs. 2 des § 888 ZPO wurde durch die Einfügung eines weiteren Absatzes zu Abs. 3 (siehe 2. Zwangsvollstreckungsnovelle vom 17.12.1997, BGBl. I, S. 3039), dessen hier relevante Aussage aufgrund des FGG-Reformgesetzes vom 17.12.2008 (BGBl. I, S. 2586) mit Wirkung vom 1.9.2009 in § 120 Abs. 3 FamFG übernommen wurde. 29 So zuerst Merkert, NJW 1965, 409 und Welzel, Lb., 9. Aufl. 1965, S. 383 und FS H. Mayer (Fn. 9), S. 395 (398); ebenso Geilen, FamRZ 1967, 419; OLG Karlsruhe JZ 1973, 600 (600 f.); Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 2), § 63 Rn. 30.

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Gegen diesen Rechtsgrundsatz30 würde in der Tat geradezu eklatant verstoßen, wenn die Mutter oder der Vater durch die Strafandrohung des § 170 Abs. 1 StGB dazu gezwungen würden, ihre aus der elterlichen Sorge erwachsenden Pflichten zur Pflege und Erziehung des Kindes (§ 1626 BGB) wahrzunehmen oder andere höchst persönlich zu erbringende Leistungen im Haushalt31 vorzunehmen. Hier würde quasi unter dem E tikett der strafrechtlichen Unterhaltspflichtverletzung ein Zwang zu einer bestimmten Gestaltung des Ehe- bzw. Familienlebens begründet, den das Familienrecht wegen der Respektierung der autonomen Entscheidung der Betroffenen gerade nicht vorsieht.32 Strafrechtlich sanktioniert werden kann daher nur die Nichterbringung pekuniärer Unterhaltsleistungen. Verletzt also ein Elternteil die ihm obliegenden Haushalts- oder Betreuungspflichten, so kann er strafrechtlich unter dem Aspekt des § 170 Abs. 1 StGB nur wegen Verletzung eines – nach wie vor bestehenden33 – Zahlungsanspruchs zur Verantwortung gezogen werden, was wiederum seine Leistungsfähigkeit voraussetzt.34 Unterstützung findet diese aus dem Rechtsgedanken des § 120 Abs. 3 FamFG abgeleitete Argumentation durch einen Vergleich mit der Rechtslage im Falle eines durch häusliche Trennung ausgelösten erweiterten Suizids des zurückgelassenen Ehepartners.35 Auch hier wird trotz der zivilrechtlichen Pflicht zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft (§ 1353 Abs. 1 S. 2 BGB) ganz überwiegend eine Strafbarkeit des die Familie verlassenden Ehepartners unter Hinweis auf den Grundsatz autonomer Selbstbestimmung verneint.36 ___________ 30

Siehe ausführlich dazu Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 5. Aufl. 2006, § 23, 2; MK-BGB/Wacke, 4. Aufl. 2000, § 1353 Rn. 20. 31 Vgl. die Aufzählung oben bei Fn. 12; siehe auch Bamberger/Roth/Hahn, BGB (Beck-OK, Nov. 2008), § 1356 Rn. 2. 32 Vgl. auch Geilen, FamRZ 1967, 419: „Strafsanktion zugunsten der ehelichen Treupflicht“; ähnlich Merkert, NJW 1965, 409: „Man sagt ‚Verletzung der Unterhaltspflicht‘ und meint ‚eheliche Trennung‘“. 33 Siehe näher dazu unten unter III. 34 So im Ergebnis auch Blei (Fn. 9), § 37 IV 1.; Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 2), § 63 Rn. 30; Welzel (Fn. 9), S. 395 (398); ähnlich auch Merkert, NJW 1965, 409; Seebode, JZ 1973, 601 (603 f.). 35 Vgl. BGHSt 7, 268: Die vom Ehemann verlassene Frau tötet entsprechend ihrer zuvor geäußerten Drohung sich und das Kind. Zutreffender Hinweis auf die Vergleichbarkeit der Problematik bei Geilen, FamRZ 1967, 419 (420). 36 Unmissverständlich dazu BGHSt 7, 268 (271): Die Durchsetzung einer solchen Pflicht mit den Mitteln des Strafrechts wäre „ein unzumutbarer Eingriff in die Freiheit und Würde der Persönlichkeit und ein unvertretbares Hemmnis der erlaubten Rechtsausübung.“ Im Schrifttum wird die Ablehnung der Strafbarkeit in solchen Fällen mit dem Fehlen der Garantenpflicht begründet; vgl. nur Kühl, AT, 5. Aufl. 2005, § 5 Rn. 58 mwN; Roxin, AT II, 2003, § 32 Rn. 45 ff.; SK-StGB/Rudolphi, (Stand: Sept.

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4. Die systematische Auslegung Der vierte Einwand schließlich greift zurück auf die Gesetzessystematik: Die Verletzung immaterieller, aus der familienrechtlichen Verpflichtung zur Personensorge fließender Pflichten hat der Gesetzgeber ausdrücklich, aber auch ausschließlich37 in § 171 StGB als „Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht“ unter Strafe gestellt und dabei die Strafbarkeit nur unter erheblichen Einschränkungen vorgesehen.38 Zu dieser gesetzgeberischen Wertentscheidung aber stünde eine Auslegung in eklatantem Widerspruch, die bereits die generelle, nicht weiter qualifizierte Verletzung immaterieller Unterhaltspflichten unter den Straftatbestand des § 170 Abs. 1 StGB subsumieren und dafür das gleiche Strafmaß androhen wollte, das § 171 StGB nur für in Intensität und Ausmaß herausgehobene Konstellationen solcher Pflichtverletzungen vorgesehen hat.39 Gerade diese m.E. entscheidende Inkompatibilität zwischen der gravierenden Abweichung der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen einerseits und der gleichwohl identischen Strafandrohung andererseits wird von der – eine solche Ausschlusswirkung ausdrücklich leugnenden – Gegenmeinung ignoriert.40

III. Das Akzessorietätsproblem Die hier aufgezeigten Einwände gegen die Übernahme des erweiterten Unterhaltsbegriffs in die Strafvorschrift des § 170 StGB lassen m.E. keine Zweifel daran, dass die restriktive Auffassung die eindeutig besseren Argumente für sich in Anspruch nehmen kann. Auffällig ist jedoch, dass die Vertreter dieser Restriktion eine Erklärung dafür, wie denn ihre Lösung mit der Akzessorietät der in § 170 StGB zugrunde gelegten „gesetzlichen Unterhaltspflicht“ zum Bürgerlichen Recht in Einklang zu bringen ist, bisher schuldig geblieben sind. ___________ 2000), § 13 Rn. 50; in diesem Sinne jetzt auch BGHSt 48, 301 (304 ff.) m. zust. Anm. Rönnau, JR 2004, 158, der u.a. auf § 888 Abs. 3 ZPO verweist. 37 Soweit eine solche Pflichtverletzung auch in anderen Strafvorschriften miterfasst wird, steht dort jedenfalls eine andere Schutzrichtung im Vordergrund (vgl. §§ 174, 180, 221, 225, 236 StGB). 38 So muss die Pflicht erstens „gröblich“, zweitens „gegenüber einer Person unter sechzehn Jahren“ verletzt werden und drittens zu einer spezifischen Gefahr für die körperliche, seelische oder soziale Entwicklung des Kindes führen. 39 Im Ergebnis ebenso OLG Karlsruhe JZ 1973, 600 (601) m. zust. Anm. Seebode; Geilen, FamRZ 1967, 419; Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 2), § 63 Rn. 30; MKStGB/Ritscher (Fn. 9), § 170 Rn. 12; SK-StGB/Schall (Fn. 1), § 170 Rn. 12; Welzel, Lb. (Fn. 9), S. 426 f. 40 Vgl. OLG Hamm NJW 1964, 2316 (2317); LK-StGB/Dippel (Fn. 4), § 170 Rn. 31.

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Liest man die einschlägigen Stellungnahmen,41 so entsteht der Eindruck, als ob die die Haushaltsführung und Kinderbetreuung betreffenden Unterhaltsregelungen des BGB (§§ 1360 S. 2, 1606 Abs. 3 S. 2 BGB) den Strafrichter überhaupt nicht zu kümmern bräuchten. Eine derartige Ignoranz bzw. völlige Unabhängigkeit des Strafrechts von den Vorgaben des BGB muss aber schon wegen der unbestrittenen Akzessorietät zum Bürgerlichen Recht in Zweifel gezogen werden. Da also die Frage, ob die für den Straftatbestand vorausgesetzte „gesetzliche Unterhaltspflicht“ vorliegt, grundsätzlich42 nach den Unterhaltsregelungen des Bürgerlichen Rechts zu beurteilen ist, hat auch der Versuch, die restriktive Auffassung vor dem Hintergrund der bürgerlich-rechtlichen Akzessorietät zu legitimieren, dort seinen Ausgang zu nehmen.43

1. Die Unterscheidung zwischen der Unterhaltspflicht und der Möglichkeit ihrer Erfüllung Anzusetzen ist bei den – von den Vertretern des weiten Unterhaltsbegriffs naturgemäß vorrangig ins Feld geführten – Unterhaltsregelungen der §§ 1360 S. 2, 1606 Abs. 3 S. 2 BGB. Beide Vorschriften sprechen zunächst von der Verpflichtung zum Unterhalt „durch Arbeit und mit dem Vermögen“ bzw. nach den „Erwerbs- und Vermögensverhältnissen“ und halten sodann fest, dass der jeweilige Ehegatte bzw. Elternteil seine Verpflichtung, zum Unterhalt der Familie bzw. des Kindes beizutragen, in der Regel durch die Führung des Haushalts bzw. durch die Pflege und Erziehung des Kindes erfüllt. Der Wortlaut bringt unmissverständlich den Willen des Gesetzgebers zum Ausdruck, dass hier keine weitergehende Pflicht zur Unterhaltsleistung begründet, sondern lediglich festgestellt werden soll, dass im Rahmen der von Ehegatten füreinander zu tragenden Verantwortung (§ 1353 Abs. 1 S. 2 BGB) und ihrer Freiheit, die Haushaltsführung bzw. Berufstätigkeit im gegenseitigen Einvernehmen und mit der gebotenen Rücksichtnahme zu regeln (§ 1356 BGB), die Führung des Haushalts der Erwerbstätigkeit gleichgestellt ist, der Unterhaltsanspruch also hierdurch erfüllt wird.44 Hinter dieser Regelung steht das – ursprünglich mit ___________ 41

Siehe die Fundstellen für die restriktive Auffassung in Fn. 9. Siehe nur LK-StGB/Dippel (Fn. 4), § 170 Rn. 15 ff., 25 ff., 30 ff.; Schönke/ Schröder/Lenckner (Fn. 9), § 170 Rn. 2 ff.; SK-StGB/Schall (Fn. 1), § 170 Rn. 11 ff. – jeweils m. zahlr. Nachw. Nur ausnahmsweise kann ausländisches bzw. internationales Recht maßgeblich sein (siehe dazu LK-StGB/Dippel (Fn. 4), § 170 Rn. 12 ff.; MKStGB/Ritscher (Fn. 9), § 170 Rn. 6, 9). 43 Im Ansatz ebenso Merkert, NJW 1965, 409; Seebode, JZ 1973, 601 (603). 44 BT-Drs. 7/650, S. 99 (RegE); Staudinger/Voppel, BGB, 2007, § 1360 Rn. 4, 6; siehe auch BGH NJW 2001, 2254 (2256 f.). 42

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dem Gleichberechtigungsgesetz von 195745 zum Ausdruck gebrachte – bürgerlich-rechtliche Verständnis der Haushaltsführung als ein „der Unterhaltsaufbringung aus Erwerbstätigkeit oder Vermögen gemäß § 1360 S. 1 gleichwertiger, nicht ergänzungsbedürftiger Beitrag zum Familienunterhalt.“46 Das gleiche Verständnis liegt auch der Regelung des § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB zugrunde, indem hier abweichend von dem Normalfall pekuniärer Unterhaltsleistung (§ 1612 Abs. 1 BGB) die Möglichkeit der Erfüllung der Unterhaltspflicht durch Pflege und Erziehung des Kindes eröffnet wird, um dadurch ebenfalls die Leistung und Stellung des haushaltsführenden Elternteils zu würdigen und ihm insoweit Rechtssicherheit für den Fall von Unterhaltsstreitigkeiten zu geben.47 Dass durch die gesetzliche Erwähnung der Haushaltsführung und der Kindesbetreuung keine neue Unterhaltspflicht begründet werden sollte und wird, erhellt auch daraus, dass die Erbringung der Unterhaltsleistung in Form einer Geldrente den gesetzlichen Regelfall darstellt48 und dass auch die nicht pekuniären Unterhaltsarten (wie Natural- und Betreuungsunterhalt) jedenfalls durch Geldzahlungen abgegolten werden können. Gemäß § 1356 BGB steht es den Eheleuten frei, die Pflichtverteilung nach eigenem Ermessen zu regeln und damit festzulegen, wie sie ihren wechselseitigen und drittbezogenen Unterhaltspflichten nachkommen wollen. Wird also die Haushaltsführung nicht durch eigene Dienstleistung erbracht, aber durch Finanzierung etwa einer Haushälterin sichergestellt, so ist die Unterhaltspflicht erfüllt.49 Und auch beim Verwandtenunterhalt hat der Berechtigte keinen Anspruch auf Erbringung des Unterhalts durch persönliche Dienstleistung, vielmehr kann nur der Verpflichtete gemäß § 1612 Abs. 1 S. 2 BGB verlangen, dass ihm die Gewährung des Unterhalts in anderer Art als durch Entrichtung einer Geldrente gestattet wird, wenn besondere Gründe es rechtfertigen. So muss etwa die unterhaltspflichtige Enkelin den Großvater nicht selber pflegen, sondern nur für die Pflegekosten aufkommen. Fehlen ihr die dafür notwendigen finanziellen Mittel, so verletzt sie ihre gesetz-

___________ 45

Siehe Fn. 5. Staudinger/Voppel (Fn. 44), § 1360 Rn. 25; siehe auch BT-Drs. 7/650, S. 99; MKBGB/Wacke (Fn. 30), § 1360 Rn. 15. 47 Vgl. BT-Drs. 2/224, S. 55; BSG FamRZ 1960, 272 (273). Wie hier ausdrücklich auch Seebode, JZ 1973, 601 (603): „Nicht der Begriff des Unterhalts sollte erweitert werden und wurde erweitert, sondern die Möglichkeit, die Unterhaltspflicht zu erfüllen (vgl. auch § 1612 Abs. 1 S. 2 BGB).“ 48 Siehe Fn. 4. 49 Insoweit zustimmend auch schon OLG Hamm JZ 1962, 547: Es sei Sache der Mutter, ob sie ihre „Sorgepflicht“ durch persönliche Betreuung des Kindes erfüllt oder durch Hilfe Dritter; im letzteren Fall habe sie die Kosten (z.B. für die Unterbringung in einem Heim) zu tragen. 46

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liche Unterhaltspflicht nicht, auch wenn sie die notwendige und ihr faktisch mögliche Pflegeleistung nicht erbringt.50 Legt man also die in den Unterhaltsregelungen des BGB zum Ausdruck kommende Differenzierung zwischen der Unterhaltspflicht und der Möglichkeit ihrer Erfüllung zugrunde, so bedeutet das für das Merkmal der „gesetzlichen Unterhaltspflicht“ in § 170 StGB, dass die Akzessorietät zum Bürgerlichen Recht keineswegs zu einem erweiterten Unterhaltsbegriff führt mit der Konsequenz, dass auch Nicht- oder Schlechterfüllung der Haushaltsführung und der Kinderbetreuung eine Strafbarkeit gemäß § 170 Abs. 1 StGB auslösen müsste. Vielmehr handelt es sich um ein – ursprünglich der nicht erwerbstätigen und daher zur Erbringung von Geldleistungen nicht fähigen Ehefrau, jetzt beiden Eheleuten vom Gesetz eingeräumtes – Surrogat für die vorrangige Erfüllung der Unterhaltspflicht durch Geldleistung.51

2. Die verbleibende Prüfung des Surrogats Die Unterscheidung zwischen der Unterhaltspflicht und den verschiedenen Möglichkeiten ihrer Erfüllung widerlegt nun zwar die von der extensiven Auffassung behauptete52 Erweiterung der gesetzlichen Unterhaltspflicht i.S. des § 170 StGB, sie führt allerdings im Hinblick auf die Gleichstellungsklauseln der §§ 1360 S. 2, 1606 Abs. 3 S. 2 BGB nicht zu einer völligen „Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken“.53 Denn relevant werden können diese Gleichstellungsklauseln dann, wenn der zahlungsfähige, aber keine Unterhaltszahlungen leistende Unterhaltsschuldner sich darauf beruft,54 dass er seine Unterhaltspflicht durch Führung des Haushalts bzw. durch Pflege und Erziehung der Kinder erfüllt habe. Hier bleibt es dem Strafrichter nicht erspart, Beweis zu erheben darüber, ob die Unterhaltsverpflichtung durch das Surrogat der ___________ 50 Ebenso Seebode, JZ 1973, 601 (603 f.), der auch zu Recht darauf hinweist, dass § 1610 BGB nur das Maß des zu gewährenden Unterhalts regelt, nicht aber dessen Art und Inhalt, so dass der Unterhaltspflichtige gem. § 1612 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 1610 Abs. 2 BGB lediglich durch Entrichtung einer Geldrente dafür zu sorgen hat, dass die Kosten des gesamten Lebensbedarfs einschließlich der Kinderpflege gedeckt sind. 51 Ebenso Seebode, JZ 1973, 601 (603 f.); siehe auch OLG Zweibrücken NJW 1987, 1899, das die von dem geschiedenen Ehemann übernommene Betreuung des Kindes als „Erfüllung seiner (Primär-)Unterhaltsleistung“ bezeichnet und deshalb auch zunächst genaue Feststellungen zum „Umfang der (primären) Unterhaltsverpflichtung des Angekl.“ verlangt. 52 So OLG Hamm NJW 1964, 2316 (2317); Lackner/Kühl (Fn. 9), § 170 Rn. 5; LKStGB/Dippel (Fn. 4), § 170 Rn. 31; Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 9), § 170 Rn. 17/18. 53 So der Titel der berühmt gewordenen Abhandlung von H.-J. Bruns, 1938. 54 Bzw. wenn sonstige Anhaltspunkte in dieser Richtung vorliegen.

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§§ 1360 S. 2, 1606 Abs. 3 S. 2 BGB erfüllt wurde und damit die dem Angeklagten vorgeworfene Verletzung der gesetzlichen Unterhaltspflicht gemäß § 170 Abs. 1 StGB zu verneinen ist. Dabei kann es allerdings immer nur darum gehen, ob der Unterhaltsverpflichtete überhaupt die Möglichkeit des Surrogats wahrgenommen, also grundsätzlich seine Unterhaltsverpflichtung durch Haushaltsführung bzw. Kinderbetreuung erfüllt hat. Denn anders als bei den üblichen Dienstleistungsverhältnissen i. S. d. §§ 611 ff. BGB geht es hier um den höchst persönlichen Lebensbereich, dessen Ausgestaltung im Einzelnen den betreffenden Eheleuten bzw. Familienmitgliedern überlassen bleiben muss.55 Wie die „Führung des Haushalts“ auszusehen hat und wie oft oder auf welche Art und Weise die Kinder gewaschen, bekleidet und bekocht werden sollten, lässt sich nicht allgemeinverbindlich festlegen und erst recht nicht so exakt umschreiben, dass bereits die „bloße Vernachlässigung“ einzelner Pflichten eine Strafbarkeit gemäß § 170 StGB auszulösen vermag.56 Demzufolge ist die Prüfungspflicht des Strafrichters auf das Vorliegen offensichtlicher Fälle beschränkt, nämlich darauf, ob der Unterhaltsschuldner die Aufgabe der Haushaltsführung oder der Kinderbetreuung wenigstens in ihrem Kern – wenn auch mehr schlecht als recht – wahrgenommen hat. Mit anderen Worten: eine Erfüllung der Unterhaltspflicht in Form des Surrogats ist danach nur dann zu verneinen, wenn von der Übernahme solcher Aufgaben schon von vornherein keine Rede sein kann – sich der entsprechende Einwand also als bloße Schutzbehauptung erweist57 – oder aber ein der Nichtleistung gleichkommender Fall eklatanter Schlechterfüllung vorliegt.58 Das hier für die strafrichterliche Überprüfung der Surrogat-Erfüllung zugrunde gelegte „Entweder-Oder-Prinzip“ steht auch im Einklang mit der unterhaltsrechtlichen Beurteilung der Betreuung der Kinder durch beide Elternteile: Hier wird nach ganz überwiegender Meinung eine Umrechnung der Betreuung in Geld zwecks Vermeidung einer unangebrachten „Monetarisierung“ abgelehnt59 und die Barunterhaltslast nach § 1606 Abs. 3 S. 1 BGB lediglich „nach den Einkommens- und Vermögensverhältnissen unter wertender Einbeziehung des Betreuungsumfangs“ auf die Eltern aufgeteilt.60 ___________ 55

Siehe schon oben unter II. 3. So aber die in Fn. 10 genannten Anhänger der extensiven Auffassung. 57 So etwa in dem der Entscheidung des OLG Hamm NJW 1964, 2316 zugrunde liegenden Sachverhalt: Während der krankheitsbedingten Abwesenheit ihres Ehemannes verließ die Angeklagte die Wohnung und ihre Familie und begab sich mit einem anderen Mann auf Reisen, so dass sie Monate lang unauffindbar blieb. 58 Zum Beispiel bei zunehmender und schließlich zur Heimunterbringung führender Verwahrlosung der Kinder. 59 Siehe BGH FamRZ 1983, 689 (690); 1984, 39 (40); 1991, 182 (183); OLG Hamm FamRZ 1964, 581 (582). 60 Graba, FamRZ 2001, 1257 (1259 f.) mwN. 56

Haushaltsführung und Kinderbetreuung (§170 StGB)

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IV. Die Konsequenzen Differenziert man wie hier zwischen der Unterhaltspflicht i. S. einer grundsätzlich auf pekuniäre Leistung gerichteten Verpflichtung und der Art der Erfüllung dieser Pflicht, so kann sich auch der strafrechtliche Vorwurf der Unterhaltspflichtverletzung i. S. d. § 170 Abs. 1 StGB nur auf die Verletzung eben dieser Pflicht gründen. Diese Pflicht aber setzt nach heute h. M. schon hinsichtlich ihres Bestehens voraus, dass der Verpflichtete überhaupt leistungsfähig ist,61 so dass bei fehlender Leistungsfähigkeit schon die „gesetzliche Unterhaltspflicht“ entfällt. Das bedeutet für den Strafrichter, dass er in solchen Fällen den Angeklagten bereits aus diesem Grunde freizusprechen hat, ohne dass es noch weiterer Ermittlungen hinsichtlich immaterieller Unterhaltsleistungen i.S.d. §§ 1360 S. 2, 1606 Abs. 3 S. 2 BGB bedürfte. Anlass zu solchen Ermittlungen besteht daher nur dann, wenn der zahlungsunwillige Unterhaltsschuldner finanziell leistungsfähig ist, sich aber darauf beruft, seine Verpflichtung zum Unterhalt durch die Führung des Haushalts bzw. die Betreuung der Kinder erfüllt zu haben.62 Auf der Grundlage dieser Lösung können auch die Fälle strafrechtlich angemessen erfasst werden, in denen etwa ein nicht vermögender Elternteil die übernommenen Aufgaben der Haushaltsführung und Kinderbetreuung ohne Not aufgibt und sich nunmehr gegenüber dem Vorwurf der Unterhaltspflichtverletzung auf seine finanzielle Leistungsunfähigkeit beruft. Hier läge ein Fall mutwillig herbeigeführter Leistungsunfähigkeit vor, der wie auch in den vergleichbaren Fällen – z.B. bei unnötiger Arbeitsniederlegung oder Annahme einer weniger gut bezahlten Arbeit63 – nach einhelliger Meinung dazu führt, dass dem Unterhaltsschuldner die nicht wahrgenommenen Erwerbsmöglichkeiten als potenzielle Einkünfte angerechnet werden, so dass er sich hier seiner „gesetzlichen Unterhaltspflicht“ i. S. d. § 170 Abs. 1 StGB (durch Unterlassen) entzieht.64 Der eigentliche Tatvorwurf gründet sich dabei nicht auf das Vorverhalten – z.B. den Berufswechsel oder eben das Aufgeben der Haushaltsführung und Kinderbetreuung –, sondern darauf, dass der Unterhaltsverpflichtete sein ___________ 61

Siehe dazu nur SK-StGB/Schall (Fn. 1), § 170 Rn. 23 ff. m. zahlr. Nachw. Vgl. dazu den vom OLG Zweibrücken NJW 1987, 1899 entschiedenen Fall (siehe schon Fn. 51). 63 Vgl. z.B. OLG Köln NStZ 1992, 337; OLG Düsseldorf NJW 1994, 672. 64 Ausführlich dazu SK-StGB/Schall (Fn. 1), § 170 Rn. 26 f., 30 mwN. – Ein wiederverheirateter Elternteil kann sich gegenüber Unterhaltsansprüchen seiner minderjährigen Kinder aus der früheren Ehe nicht darauf berufen, dass er die Haushaltsführung und Kinderbetreuung in der neuen Ehe übernommen habe, da die Unterhaltsansprüche der minderjährigen Kinder aus beiden Ehen gleichrangig sind; er muss daher ggf. eine Nebentätigkeit aufnehmen, um auch zum Unterhalt seiner Kinder aus der früheren Ehe beitragen zu können (BGH FamRZ 1996, 796; 1998, 286; 2001, 544). 62

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Potenzial nicht nutzt und eben deshalb die notwendige finanzielle Unterhaltsleistung schuldig bleibt. Diese Begründung der Strafbarkeit steht auch in Übereinstimmung mit dem oben zur Argumentation herangezogenen Rechtsgedanken der autonomen Selbstbestimmung, der eine zwangsweise Durchsetzung höchst persönlicher Dienstleistungen ebenso untersagt wie die strafrechtliche Sanktionierung ihrer Nichterbringung.65 Demgegenüber würde die extensive Auffassung ihr Ergebnis der Strafbarkeit auf die Verletzung der erweiterten Unterhaltspflicht, d.h. auf die Verletzung der Haushalts- und Kinderbetreuungspflichten, stützen. Dass die Strafbarkeit zudem davon abhängen soll, dass z.B. „die Hausfrau, die bisher ihrer Unterhaltspflicht durch tatsächliche Versorgung ihrer minderjährigen Kinder nachgekommen ist und ihre Familie dann verlässt, ... nicht durch Geldzahlung ihren Unterhaltsanteil leistet“,66 lässt sich vom Ansatzpunkt dieser Meinung her nicht erklären.

V. Resümee Die nähere Betrachtung der Akzessorietät der „gesetzlichen Unterhaltspflicht“ zum Bürgerlichen Recht hat gezeigt, dass auch die restriktive Auslegung des § 170 StGB es dem Strafrichter nicht ersparen kann, Haushaltsführung und Kinderbetreuung jedenfalls in den Ausnahmefällen auf den Prüfstand des § 170 StGB zu stellen, in denen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der zahlungsfähige, aber nicht zahlende Unterhaltsschuldner seine gesetzliche Unterhaltspflicht durch Wahrnehmung eben dieser Aufgaben erfüllt haben könnte. Diese Konsequenz ist angesichts der ohnehin schon hohen Anforderungen an den Strafrichter bei der Anwendung des § 170 Abs. 1 StGB gewiss unbefriedigend. Denn einerseits ist der Strafrichter an das oft komplizierte unterhaltsrechtliche Regelungswerk des BGB67 bzw. des LPartG wie auch an zivilrechtliche Statusurteile gebunden,68 andererseits aber muss er die Voraussetzungen dieser Regelungen (insbesondere den Unterhaltsbedarf des Berechtigten und die Leistungsfähigkeit des Verpflichteten) selber ermitteln.69 Gleichwohl ist diese Konsequenz wegen der unbestrittenen und schon aus Gründen der ___________ 65

Siehe oben unter II. 3. Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 9), § 170 Rn. 17/18. 67 So z.B. an die Beweisvermutungen (§§ 1591, 1592 Nr. 1, 1593, 1600c Abs. 1, 1600d Abs. 2 BGB) oder an die Regeln für die Beantwortung der bei mehreren Unterhaltsberechtigten oder -verpflichteten auftauchenden Rangfragen (vgl. nur LK-StGB/ Dippel [Fn. 4], § 170 Rn. 28 f.; Schönke/Schröder/Lenckner [Fn. 9], § 170 Rn. 23 ff.). 68 Vgl. nur SK-StGB/Schall (Fn. 1), § 170 Rn. 19 f. mwN. 69 Näher dazu SK-StGB/Schall (Fn. 1), § 170 Rn. 18 ff., 23 ff. (28!) mwN.; anschaulich auch Mittelbach, MDR 1957, 65 ff. sowie JR 1964, 307 f. mit dem Befund, dass die Tatrichter „oft vor unlösbare Aufgaben gestellt“ sind. 66

Haushaltsführung und Kinderbetreuung (§170 StGB)

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Rechtssicherheit und Rechtseinheit unabdingbaren Akzessorietät der „gesetzlichen Unterhaltspflicht“ zum Bürgerlichen Recht unvermeidbar. Trotz des der bürgerlich-rechtlichen Akzessorietät geschuldeten Kompromisses bezüglich einer erweiterten Prüfungspflicht des Strafrichters hat die hier vertretene Auffassung gegenüber der extensiven Auslegung des § 170 StGB aber doch den Vorteil, dass sie dem Strafrichter die erweiterte Prüfung nur für die genannten Konstellationen abverlangt, dabei auch nur offensichtliche Fälle der Nichterfüllung des Surrogats für relevant erklärt und schließlich der unterschiedlichen strafrechtlichen Beurteilung der verschiedenen Fallkonstellationen eine überzeugendere Konzeption zugrunde legen kann. Festzuhalten bleibt schließlich, dass selbstverständlich auch nach der hier vertretenen Auffassung die Pflege und Erziehung minderjähriger Kinder in den Pflichtenkreis der Eltern fällt, diese Aufgabe sogar das zentrale Element ihrer Elternschaft bildet, und dass auch die Führung des Haushalts einen wesentlichen Beitrag zum Unterhalt darstellt. Jedoch ist die tatsächliche Vornahme dieser Aufgaben durch persönliches Handeln nicht Teil der gesetzlichen Unterhaltspflicht, sondern eine Art ihrer Erfüllung, die daher im Rahmen des § 170 StGB auch nur in den begrenzten Fällen einer eventuell notwendigen Inzidenzprüfung Bedeutung erlangen kann. Um es mit den Worten des Jubilars zu sagen: „Wie würde wohl auch die Pflege und Erziehung des Kindes durch eine Mutter aussehen, die keineswegs gewillt ist, sie dem Kind angedeihen zu lassen?“70

___________ 70 Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 2), § 63 Rn. 31. Diesem plausiblen Einwand steht übrigens die Tatsache, dass in § 171 StGB die Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht pönalisiert wird, nicht entgegen. Denn zum einen sollen hier nur extreme Fälle mit Strafe belegt werden (siehe oben unter II. 4.), zum anderen enthält auch diese Strafvorschrift erhebliche Probleme (vgl. nur Maurach/Schroeder/Maiwald [Fn. 2], § 63 Rn. 49 ff. sowie SK-StGB/Horn/Wolters [Fn. 12], § 171 Rn. 2, 4 ff.), die man nicht ohne Not auf § 170 StGB ausdehnen sollte.

Wiederaufnahme zuungunsten Freigesprochener bei neuen DNA-Analysen? Von Heinz Schöch

I. Ausgangspunkt der Überlegungen 1. Einführung und Fallbeispiel Molekulargenetische Untersuchungen haben in der Strafrechtspraxis seit Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts zu außergewöhnlichen kriminalistischen Erfolgen geführt. Lange Zeit unaufgeklärte Morde oder andere schwere Verbrechen konnten mit Hilfe von DNA-Analysen aufgeklärt werden, da diese im Laufe ihrer Entwicklung mit immer geringeren Mengen genetischen Spurenmaterials ausgekommen sind. Sie liefern naturwissenschaftlich objektive Indiztatsachen, die in Verbindung mit weiteren Beweismitteln und im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Umstände oft noch nach vielen Jahren einen eindeutigen Tatnachweis ermöglichen. Mit Manfred Maiwald habe ich in unseren 15 gemeinsamen Göttinger Jahren viele Gespräche über die Verwertung kriminologischer und kriminalistischer Erkenntnisse bei der Lösung strafrechtlicher und strafprozessualer Probleme geführt. Diesen stets anregenden Dialog – oft nach unseren samstäglichen Dauerläufen – möchte ich mit dem folgenden Beitrag fortsetzen. Es gibt schon zahlreiche Fälle, in denen ein gegen frühere Tatverdächtige mangels Tatnachweises eingestelltes Ermittlungsverfahren wieder aufgenommen und der Täter mit Hilfe eines neuen DNA-Identitätsnachweises viele Jahre später verurteilt wurde. Bei den meisten Delikten endet diese Möglichkeit mit dem Ablauf der Verjährungsfrist, beim unverjährbaren Mord und Völkermord ist sie zeitlich unbegrenzt. Im Jahr 2005 ist der erste Fall bekannt geworden, in dem ein solcher Tatnachweis gegen einen rechtskräftig freigesprochenen Angeklagten 10 Jahre nach der Hauptverhandlung gelungen ist. Der Täter hatte am 10.12.1993 eine Videothek in Düsseldorf überfallen und eine verheiratete Frau und Mutter von drei Kindern getötet. Er hatte dem Opfer eine Plastiktüte über den Kopf gezogen und diese mit Paketklebeband von der Stirn bis zum Hals umwickelt, was zum Tod des Opfers durch Ersticken führte. 1996 sprach das Landgericht Düsseldorf den Angeklagten aus Mangel an Beweisen frei. 2005 fanden Kriminaltechniker am Klebeband dann aber doch

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noch winzige Hautpartikel, die mit der nunmehr zur Verfügung stehenden DNA-Analyse dem Freigesprochenen zugeordnet werden konnten.1 Gemeinsam mit den sonstigen Beweisen würde diese Indiztatsache mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer neuen Hauptverhandlung zu seiner Verurteilung führen. Nach geltendem Strafprozessrecht ist in einem solchen Fall eine Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten nicht möglich, da § 362 StPO neben den mit § 359 StPO übereinstimmenden Wiederaufnahmegründen propter falsa (§ 362 Nr. 1-3 StPO) als einzigen Wiederaufnahmegrund propter nova2 ein glaubwürdiges Geständnis des Freigesprochenen zulässt (§ 362 Nr. 4 StPO). Eine Analogie zu dieser eng begrenzten Durchbrechung der Rechtskraft des freisprechenden Urteils ist ausgeschlossen.

2. Gesetzentwurf des Bundesrates vom 20.12.2007 Auf Initiative der Länder Nordrhein-Westfalen und Hamburg hat der Bundesrat am 20.12.2007 einen Gesetzentwurf beschlossen, der das Ziel verfolgt, die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten eines freigesprochenen Angeklagten auch dann zu ermöglichen, wenn neue, zum Zeitpunkt des Freispruchs nicht vorhandene technische Ermittlungsmethoden nachträglich zu der Erkenntnis führen, dass das freisprechende Urteil falsch ist und wenn eine hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit besteht:3 § 362 Nr. 5 S.1 E-StPO: „wenn auf der Grundlage neuer, wissenschaftlich anerkannter technischer Untersuchungsmethoden, die bei Erlass des Urteils, in dem die dem Urteil zu Grunde liegenden Feststellungen letztmalig geprüft werden konnten, nicht zur Verfügung standen, neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen zur Überführung des Freigesprochenen geeignet sind.“ § 362 Nr. 5 S. 2 E-StPO: „Satz 1 Nr. 5 gilt nur in Fällen des vollendeten Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuchs), Völkermordes (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuchs), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuchs) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuchs) oder wegen der mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu ahnenden vollendeten Anstiftung zu einer dieser Taten.“ § 370 Abs. 2 E-StPO: „… haben, wenn im Falle des § 362 Satz 1 Nr. 5 nicht dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass der Freigesprochene verurteilt

___________ 1 Falldokumentation nach DER SPIEGEL Nr. 47 – 17.11.2008, S. 94; s. auch Marxen/Thiemann, ZIS 2008, 188. 2 AK/Loos, § 362 Rn. 1. 3 BR-Drs. 655/07, S. 2.

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oder nur deshalb nicht verurteilt werden wird, weil seine Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, oder …“4

Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme mitgeteilt, dass sie das Anliegen dieses Gesetzentwurfs für „gut nachvollziehbar“ halte. Der Vorschlag betreffe jedoch eine sehr sensible und schwierige Fragestellung und werfe sowohl verfassungsrechtliche als auch strafverfahrensrechtliche Fragen auf, die im Gesetzgebungsverfahren geprüft werden müssten.5 In der Plenarsitzung des Deutschen Bundestages vom 25.9.2008 wurde der Entwurf zur weiteren Beratung an den Rechtsausschuss verwiesen, der am 18.3.2009 eine öffentliche Sachverständigenanhörung durchführte. Von den acht Sachverständigen äußerten sich vier negativ,6 während die anderen vier den Gesetzentwurf im Prinzip begrüßten, allerdings einige Änderungen oder Ergänzungen vorschlugen.7 Es erscheint ausgeschlossen, dass der Gesetzentwurf in der jetzigen Fassung noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet wird, jedoch spricht manches dafür, dass er mit einigen Modifikationen bald wieder aufgegriffen wird. Deshalb lohnt es sich, diesen Gesetzentwurf und mögliche Modifikationen weiterhin in der wissenschaftlichen Diskussion zu beachten. Bisher handelt es sich bei dem Ausgangsfall um das einzig bekannt gewordene Verfahren dieser Art, während die Wiederaufnahme eingestellter Ermittlungsverfahren nach neuen molekulargenetischen Untersuchungsergebnissen bereits recht häufig vorkommt. Angesichts immer sensiblerer Analysemethoden erscheint es jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass sich unter den wenigen Freisprüchen, die es in den vergangenen Jahren nach Mordanklagen gegeben hat, auch einige befinden, in denen der Freigesprochene später mit Hilfe von DNAAnalysen überführt werden könnte. Bei Einbeziehung anderer Delikte als Mord würde sich das Problem natürlich in erheblich mehr Fällen stellen.

___________ 4

BR-Drs. 655/07, Anlage S. 1, 2. BT-Drs. 16/7957, S. 9. 6 König, Marxen, Schäfer, Scherzberg, in: Protokoll der 130. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags am 18.3.2009, 16. Wahlperiode, Zusammenstellung der schriftlichen Stellungnahmen, S. 46 ff. 7 Graf, Kintzi, Schöch, Stoffers in: Protokoll der 130. Sitzung des Rechtsausschusses (Fn. 6), S. 46 ff. 5

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II. Verfassungsrechtliche Grenzen für eine Erweiterung der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten 1. Ausgangspunkt Die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten greift in den Schutzbereich des Verfahrensgrundrechts aus Art. 103 III GG ein, das nicht nur eine wiederholte Bestrafung wegen derselben Tat verbietet, sondern – über den Wortlaut hinausgehend – auch den „Grundsatz der Einmaligkeit der Strafverfolgung“ verbürgt.8 Deshalb sind die Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Angeklagten mit Recht erheblich enger ausgestaltet als diejenigen zu Gunsten des Angeklagten. Während die Wiederaufnahme wegen Verfahrensverfälschungen zugunsten des Angeklagten in § 362 Nr. 1 bis 3 StPO im Wesentlichen der Regelung des § 359 Nr. 1 bis 3 StPO entspricht, ist die Wiederaufnahme wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel zuungunsten des Angeklagten grundsätzlich ausgeschlossen und nur ausnahmsweise bei einem glaubwürdigen Geständnis eines Freigesprochenen zulässig. Es stellt sich daher die Frage, ob eine Erweiterung dieser engen Regelung überhaupt verfassungsrechtlich zulässig wäre oder ob bereits mit der derzeitigen Ausnahme die Grenze dessen erreicht ist, was Art. 103 III GG dem Gesetzgeber erlaubt. Mit dieser Frage setzt sich die Begründung des Gesetzentwurfes eingehend auseinander und gelangt zu dem Ergebnis, dass bei der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung zwischen Rechtssicherheit einerseits und materieller Gerechtigkeit andererseits jedenfalls bei eindeutigen Tatnachweisen und bei Straftaten wie Mord und Völkermord „das Festhalten an der Rechtskraft des freisprechenden Urteils zu schlechterdings – an der materiellen Gerechtigkeit zu messenden – unerträglichen Ergebnissen führen würde.“

2. Kontroverse Auffassungen in der Literatur In der Literatur wird teilweise die Auffassung vertreten, dass eine Erweiterung der Wiederaufnahmegründe über § 362 hinaus verfassungsrechtlich unzulässig sei.9 Teilweise wird auch zurückhaltender formuliert, dass für eine Erweiterung der überkommenen Wiederaufnahmegründe ein verfassungsrechtlich legitimes Bedürfnis „derzeit nicht erkennbar“ sei.10 ___________ 8

Maunz/Dürig/Schmidt-Assmann, GG, Art. 103 Rn. 301; KK-StPO/Pfeiffer, Einl. Rn. 170; Meyer-Goßner, Einl. Rn. 171. 9 AK/Loos, Vor § 359 Rn. 2; Grünwald, ZStW-Beiheft 94, 103; Marxen/Thiemann, ZIS 2008, 188, 192; Scherzberg/Thiée, ZRP 2008, 80, 81. 10 Maunz/Dürig/Schmidt-Assmann, GG, Art. 103 Rn. 70.

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Überwiegend werden aber begrenzte Ausweitungsmöglichkeiten befürwortet, soweit sie nicht dem Grundgedanken der traditionellen Beschränkungen der Rechtskraft zuwiderlaufen.11 Karl Peters, der bedeutendste Forscher zum Wiederaufnahmerecht im vorigen Jahrhundert, sprach sich für eine Erweiterung der Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen bei besonders schweren Verbrechen aus, insbesondere „wenn sich die Täterschaft offensichtlich aus aufgefundenen Sachbeweisen ergibt, die der Täter durch planmäßige Abwehrmaßnahmen beseitigt oder verfälscht hat.“12 Ein Reformvorschlag der SPDFraktion im Deutschen Bundestag zu § 362 StPO aus dem Jahr 199613 ist hinsichtlich der Delikte enger (nur Mord und Völkermord), hinsichtlich der neuen Tatsachen und Beweismittel aber erheblich weiter: „Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des freigesprochenen Angeklagten ist zulässig, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen jeden begründeten Zweifel ausschließen, dass der Angeklagte in einer neuen Hauptverhandlung der Begehung eines Mordes oder Völkermordes überführt werden wird.“

Die Große Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes hat sich im Auftrag des Bundesjustizministeriums in den Jahren 1971 und 2002 mit der Reform des Wiederaufnahmerechts befasst. In der Sitzung vom 26. bis 28.11.2002 wurde folgender Beschluss gefasst: „Die Kommission sieht es als schwer erträglich an, einen Freispruch bei Mord/Völkermord nicht mehr korrigieren zu können, obwohl nachträglich sichere Beweismittel die Täterschaft einwandfrei festgestellt haben.“14 Ein Zwang zur gesetzgeberischen Lösung bestehe aber derzeit nicht, da solche Fälle der Kommission nicht bekannt geworden seien. Teilweise wird eine solche Ausweitung, auch im Blick auf grundrechtliche Schutzpflichten, um des Opferschutzes Willen für vertretbar gehalten.15 Deshalb überrascht es nicht, dass zum Beispiel der WEISSE RING in seinen rechtspolitischen Forderungen seit einiger Zeit verlangt, dass bei sicher nachgewiesener Täterschaft des freigesprochenen Angeklagten mit Hilfe von DNAAnalysemethoden generell eine Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten

___________ 11

SK-StPO/Frister/Deiters, § 362 Rn. 4; BK-GG/Rüping, Art. 103 III Rn. 22; LRStPO/Schäfer, 24. Aufl., Einl. Kap. 12 Rn. 41; Rieß, NStZ 1994, 153, 159. 12 Peters, Strafprozess, 4. Aufl. 1985, S. 671: ähnlich auch Rieß, NStZ 1994, 153, 159, aber ohne das Erfordernis der Beseitigung oder Verfälschung durch planmäßige Abwehrmaßnahmen. 13 BT-Drs. 13/3594. 14 Kintzi, BT-Drs. 16/7957, S. 10. 15 v. Münch/Kunig/Kunig, Art. 103 Rn. 47, allerdings skeptisch bezüglich des Nachweises eines entsprechenden verfassungsrechtlichen Erfordernisses.

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zugelassen werden solle, zumindest bei schweren Verbrechen, insbesondere Sexualverbrechen.16

3. Offenheit des Bundesverfassungsgerichts für Grenzkorrekturen Das Bundesverfassungsgericht hob in seiner ersten Entscheidung zum Wiederaufnahmerecht vom 1.7.1953, die sich auf Haftentschädigungsansprüche bezog, die Bedeutung der Rechtssicherheit für das Rechtsstaatsprinzip besonders hervor und stellte fest: „Rechtsfriede und Rechtssicherheit sind von so zentraler Bedeutung für die Rechtsstaatlichkeit, dass um ihretwillen die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen Entscheidung in Kauf genommen werden muss.“17 Immerhin wird auch in dieser Entscheidung der Rechtssicherheit kein absoluter Vorrang eingeräumt: „Eine Ausnahme von dieser Regel könnte nur dann gerechtfertigt sein, wenn besonders zwingende und schwerwiegende, den Erwägungen der Rechtssicherheit übergeordnete Gründe dazu Anlass geben.“18 In einer Entscheidung vom 8.1.1981, die sich mit dem Begriff derselben Tat im Sinne des Art. 103 III GG befasst, betont das Bundesverfassungsgericht aber, dass Art. 103 III GG nur den Kern dessen garantiere, was als Inhalt des Satzes „ne bis in idem“ in der Rechtsprechung herausgearbeitet wurde und deshalb durchaus offen für Grenzkorrekturen sei: „Zwar nimmt Art. 103 III GG auf die bei Inkrafttreten des Grundgesetzes geltende prozessrechtliche Lage Bezug. Dies bedeutet indessen nicht, dass das überlieferte Verständnis des Rechtssatzes ‚ne bis in idem‘ für jede auftauchende Zweifelsfrage bereits eine verbindliche Auslegung durch die Rechtsprechung bereithielte, und es bedeutet insbesondere nicht, dass für neu auftauchende Gesichtspunkte, die sich der Prozessrechtswissenschaft und der Rechtsprechung so noch nicht gestellt hatten, eine verfassungsrechtliche Festlegung getroffen worden wäre … Zweifellos sollten Gesetzgebung und (herrschende) Auslegung nicht bis in alle Einzelheiten auf den Stand der Rechtsprechung und Prozessrechtslehre bei Inkrafttreten des Grundgesetzes festgelegt und jede weitere Veränderung im Verständnis des prozessualen Verfahrensgegenstandes und der Rechtskraftwirkung ausgeschlossen werden.“19

___________ 16 www.weisser-ring.de: Strafrechtspolitische Forderungen des WEISSEN RINGES, Nr.9 (Stand 4.1.2008). 17 BVerfGE 2, 380, 403. 18 BVerfGE 2, 380, 405. 19 BVerfGE 56, 22, 34 f.

Wiederaufnahme zuungunsten Freigesprochener bei neuen DNA-Analysen?

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4. Abwägung zwischen den rechtsstaatlichen Prinzipien der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit Vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund ist es geboten, die Frage der Erweiterung der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten bei neuen DNA-Analysen in einer Abwägung zwischen den rechtsstaatlichen Prinzipien der Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit zu entscheiden. Dem hohen Rang, welchen Art. 103 III GG der Rechtssicherheit und damit zugleich der individuellen Freiheit des Freigesprochenen einräumt, ist die materielle Gerechtigkeit gegenüber zu stellen, die durch Freispruch eines höchstwahrscheinlich schuldigen Täters schwer beeinträchtigt wird.20 Letztere kommt in dem staatlichen Strafanspruch zum Ausdruck und wiegt umso schwerer, je größer die durch die Straftat verwirklichte Tatschuld ist. Bei Mord und Völkermord, die absolut mit der lebenslangen Freiheitsstrafe geahndet werden, wiegen Unrecht und Schuld so schwer, dass man von einem unerträglichen Missverhältnis zu Lasten der Gerechtigkeit sprechen muss. Deshalb ist es sachgerecht, wenn der Gesetzentwurf des Bundesrates für diese beiden Delikte bei hoher Wahrscheinlichkeit der Überführung des Täters eine Wiederaufnahme zuungunsten des freigesprochenen Angeklagten zulassen will. Mit Recht wird in der Begründung des Entwurfs auch der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten eines zu Unrecht freigesprochenen Mörders als Abwägungsgesichtspunkt genannt.21

5. Einbeziehung anderer schwerer Delikte? Ob eine Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen bei besonders schweren Delikten gegen die Person angezeigt ist, wie etwa der WEISSE RING22 oder Karl Peters und Peter Rieß23 vorgeschlagenen haben, brauchte im Rahmen des anhängigen Gesetzgebungsverfahrens nicht entschieden zu werden. Bei einer grundsätzlichen und langfristigen Entscheidung wäre meines Erachtens auch eine Einbeziehung anderer vollendeter Schwurgerichtsdelikte (§ 74 II GVG) legitim und sinnvoll. Bei einigen dieser Delikte ist die gesetzliche Strafandrohung lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter 10 Jahren (§§ 176b, 178, 179 VII, 239a III, 239b II, 251, 252 und 255 i.V.m. 251, 306c, 307 III Nr.1, 308 III, 309 IV, 313 II, 314 II, 316a III, 316c III)24, bei ___________ 20

Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, 18. Aufl. 2002, Rn. 1114. BT-Drs. 16/7957, S. 7. 22 Siehe Fn. 16. 23 Siehe Fn. 12. 24 Für eine Einbeziehung dieser Delikte Stoffers (Fn. 7), S. 112. 21

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Totschlag lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren (§ 212) und beim Rest der Schwurgerichtsdelikte Freiheitsstrafe von drei bis fünfzehn Jahre (§§ 221 III, 227, 235 V, 239 IV, 312 IV, 318 IV, 330 II Nr. 2). Es handelt sich also durchweg um schwerste Verbrechen, bei denen die Gerechtigkeit und das Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit erheblich beeinträchtigt werden, wenn ein freigesprochener Täter nicht mehr verurteilt werden kann, obwohl seine Verurteilung nachträglich mit hoher Wahrscheinlichkeit möglich wäre.25 Hinzu kommt bei einem Teil dieser Delikte die – im Vergleich zu Mord – weitaus größere Wiederholungsgefahr (insbesondere bei den Sexualund Raubdelikten mit Todesfolge). Schließlich kann das Rechtssicherheitsargument auch nicht ausschließlich zugunsten des Verurteilten gewogen werden, da zur Rechtssicherheit auch der „Rechtsfrieden der Rechtsgemeinschaft“ gehört, der „erheblich beschädigt wird, wenn wegen des Eintritts der Rechtskraft der Täter einer schweren Straftat unbestraft bleibt, obwohl (nunmehr) gewichtige Beweise gegen ihn vorliegen.“26 Für die Einbeziehung des vollendeten Totschlags und der anderen durch den Eintritt des Todes erfolgsqualifizierten Delikte spricht auch die Ungewissheit des weiteren Prozessverlaufs nach einer zugelassenen Wiederaufnahme. Stellt sich in der neuen Hauptverhandlung heraus, dass dem Täter kein Mordmerkmal nachzuweisen ist27, oder dass es sich gar nur um eine leichtfertig oder fahrlässig verursachte tödliche Erfolgsqualifikation eines der genannten Delikte handelt, so müsste – im Falle der vom Bundesratsentwurf vorgeschlagenen Beschränkung der Wiederaufnahme auf Mord und Völkermord – das Verfahren wegen eines Verfahrenshindernisses gemäß § 260 III StPO eingestellt werden, weil die Zulässigkeitsvoraussetzungen für das Wiederaufnahmeverfahren auf eine Verurteilung wegen Mordes oder Völkermordes beschränkt sind.28 Dieses Ergebnis wäre dem Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit nicht zu vermitteln.29

___________ 25 Ähnlich G. Schäfer (Fn. 6), S. 88 für Totschlag und schwere Sexualdelikte; Marxen/Thiemann, ZIS 2008, 188, 193, äußern aus diesem Grund auch Bedenken wegen Verletzung des Gleichheitssatzes. 26 G. Schäfer (Fn. 6), S. 86. 27 Hierzu auch Marxen/Thiemann, ZIS 2008, 188, 194, die auch deshalb den Bundesratsentwurf ablehnen. 28 Zweifelnd insoweit Marxen/Thiemann, ZIS 2008, 188, 194 (Fn. 56), die es auch für möglich halten, dass die Wiederaufnahme nach § 370 II StPO die Rechtskraft des Freispruchs beseitige und das Verfahren in den Zustand zurückversetzt werde, in dem es sich vor dem Urteil befunden habe, so dass der Weg frei für eine Verurteilung unabhängig vom Gegenstand des strafrechtlichen Vorwurfs sei. 29 Für eine Ausweitung auf alle Tötungsdelikte daher auch Graf (Fn. 7), S. 3.

Wiederaufnahme zuungunsten Freigesprochener bei neuen DNA-Analysen?

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Folgt man diesem Vorschlag, so würde allerdings – anders als bei dem unverjährbaren Mord (§ 78 II StGB) – die 30-jährige Verjährungsfrist (bei den Delikten mit wahlweise angedrohter lebenslanger Freiheitsstrafe, § 78 III Nr. 1 StGB) bzw. die 20-jährige Verjährungsfrist (bei den Delikten mit mehr als 10jähriger Höchststrafe, § 78 III Nr. 2 StGB) den Täter vor weiterer Strafverfolgung nach Ablauf der Verjährung schützen. Denn nach wohl richtiger Auffassung schließt die eingetretene Verjährung auch die Wiederaufnahme zuungunsten des Täters aus.30 Damit wäre der Rechtssicherheit hinreichend Rechnung getragen. Die Frage, ob darüber hinaus bei schweren Verbrechen eine Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen bei neuen DNA-Befunden zugelassen werden sollte,31 ist nicht von vornherein zu verneinen. Zu denken wäre etwa an die in § 66b StGB genannten schweren Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung, die durchweg mit Freiheitsstrafen von mindestens zwei, drei oder fünf bis zu 15 Jahren bedroht sind. Wegen der Schwere dieser Delikte kann man nicht ohne weiteres sagen, dass hier die Rechtskraft des freisprechenden Urteils stets höher zu bewerten wäre. Andererseits ist das Fallspektrum hier wesentlich breiter und reicht bei den – nicht selten angenommenen – minder schweren Fällen bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe, einem Bereich also, in dem bei nicht vorbestraften Tätern die Strafe oft noch zur Bewährung ausgesetzt wird. Angesichts des großen Gewichts des in Art. 103 III GG verankerten „Grundsatzes der Einmaligkeit der Strafverfolgung“ für ein rechtsstaatliches Verfahren würde die Einbeziehung des Deliktskatalogs des § 66b StGB wohl doch zu stark in den Kernbereich dieses Grundrechts eingreifen, weshalb eine derartige Ausweitung der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten nicht zu befürworten ist.

6. Kein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot bei Anwendung auf Fälle vor der Gesetzesänderung In der mündlichen Anhörung vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages vertrat der Abgeordnete Stünker (SPD), unterstützt vom Sachverständigen Marxen, nachdrücklich die Auffassung, die Anwendung einer eventuellen Ausweitung der Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen auf ___________ 30 OLG Nürnberg NStZ 1988, 555; Meyer-Goßner, § 362 Rn. 1; KK-StPO/Schmidt, § 362 Rn. 7; Fischer, StGB, § 78b Rn. 11a; a.A. BGH GA 1974, 154; OLG Düsseldorf StraFo 2001, 102; LR-StPO/Gössel, § 362 Rn. 3, die die Verjährungsfrist mit Rechtskraft des Beschlusses nach § 370 II StPO neu beginnen lassen wollen. 31 So z. B. der WEISSE RING oder Karl Peters und Peter Rieß (s. Fn.12).

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zurückliegende Fälle, insbesondere auf den eingangs erwähnten nordrheinwestfälischen Fall, verstoße gegen das Rückwirkungsverbot. Dem ist zu widersprechen.32 Art. 103 II GG und das daraus abgeleitete strafrechtliche Rückwirkungsverbot gelten unstreitig nur für die Strafbarkeit des Verhaltens, also für das materielle Strafrecht, nicht für strafprozessuale Fragen33 und damit auch nicht für das Wiederaufnahmerecht. Etwas anderes gilt nur für die gemischt pozessual-materiellen Rechtsinstitute wie die abgelaufene Verjährungsfrist34 und den Wegfall des Strafantragserfordernisses.35 Auch das allgemeine rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot (Art. 2 II GG i. V. mit Art. 20 III GG) steht einer Anwendung auf Straftaten, die vor einer Gesetzesänderung ergangen sind, nicht entgegen. Zwar begrenzen das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte die Befugnis des Gesetzgebers, Änderungen des Rechts vorzunehmen, die an Sachverhalte der Vergangenheit anknüpfen. Jedoch geht der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz nicht so weit, den Staatsbürger vor jeglicher Enttäuschung seiner Erwartung in die Dauerhaftigkeit der Rechtslage zu sichern. Die schlichte Erwartung, das geltende Recht werde unverändert fortbestehen, ist verfassungsrechtlich nicht geschützt.36 Grundsätzlich unzulässig ist nur die „echte“ Rückwirkung , d.h. die Anordnung, eine Rechtsfolge solle schon für einen vor den Zeitpunkt der Verkündung des Gesetzes liegenden Zeitraum eintreten (sog. Rückbewirkung von Rechtsfolgen). Demgegenüber betrifft die bloße Rückanknüpfung („unechte“ Rückwirkung) nicht den zeitlichen, sondern den sachlichen Anwendungsbereich einer Norm. Die Rechtsfolgen eines Gesetzes treten erst nach Verkündung der Norm ein, ihr Tatbestand erfasst aber Sachverhalte, die bereits vor der Verkündung „ins Werk gesetzt“ worden sind. In diesen Fällen wird den allgemeinen Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit kein genereller Vorrang vor dem jeweils verfolgten gesetzgeberischen Anliegen eingeräumt, weil dies den demokratischen Gesetzgeber in wichtigen Bereichen lähmen und den Konflikt zwischen der Verlässlichkeit der Rechtsordnung und der Notwendigkeit ihrer Änderung in nicht mehr vertretbarer Weise zu Lasten der Anpassungsfähigkeit ___________ 32

Schöch (Fn. 7), S. 29 f. und Stoffers (Fn. 7), S. 29. BVerfGE 24, 33, 55; 25, 269; BGHSt 20, 27; 26, 231; 26, 289; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Aufl. 2006, § 5 Rn. 57 m.w.N. 34 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 5 Rn. 58, 60; Schönke/Schröder/Eser, StGB, 27. Aufl. 2006, § 2 Rn. 7: anders bei noch nicht abgelaufenen Verjährungsfristen, vgl. BVerfGE 25, 295; BGHSt 2, 306; 4, 384. 35 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 5 Rn. 58 f.; Schönke/Schröder/Eser, StGB, § 2 Rn. 7; anders insoweit BGHSt 46, 310, 320 f.; RGSt 77, 106 f. 36 BVerfGE 38, 61, 83; 68, 193, 222; 105, 17, 40; 109, 133, 180 f. 33

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der Rechtsordnung lösen würde.37 Die Grenzen gesetzgeberischer Regelungsbefugnis ergeben sich bei der unechten Rückwirkung also aus einer Abwägung zwischen dem Gewicht der berührten Vertrauensschutzbelange und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Gemeinwohl.38 Nach diesem Maßstab würde die Anwendung des neuen Wiederaufnahmerechts auf frühere Straftaten keine Rückwirkung von Rechtsfolgen darstellen, sondern eine tatbestandliche Rückanknüpfung („unechte“ Rückwirkung), die verfassungsrechtlich zulässig ist, weil in den genannten Fällen schwersten Delikte die Wiederherstellung der materiellen Gerechtigkeit durch Verurteilung eines schuldigen Täters erheblich schwerer wiegt als der Vertrauensschutz in einen formal zwar rechtmäßigen, materiell aber fehlerhaften Freispruch, dessen Unrichtigkeit dem Täter ja bekannt ist.

III. DNA-Identitätsfeststellung als tragfähiger Grund für eine Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten 1. Höhere Beweiskraft als bei einem Geständnis Der entscheidende Grund, weshalb die Strafprozessordnung bereits seit ihrem Inkrafttreten im Jahr 1877 in § 362 Nr. 4 „ein glaubwürdiges Geständnis“ als einzigen Wiederaufnahmegrund zuungunsten des Angeklagten bezüglich neuer Tatsachen zuließ, war dessen angenommene hohe Beweiskraft.39 Diese wurde höher eingeschätzt als diejenige der damals bekannten Indiztatsachen und Beweismittel, und man hielt es für unerträglich, dass „ein Verbrecher, nachdem er wegen mangelnden Beweises freigesprochen worden“ ist, „sich ungestraft des Verbrechens selbst bezichtigen oder gar rühmen dürfe“ (E 1873).40 Heute wissen wir aus der Fehlurteilsforschung von Karl Peters41 und aus publizierten Entscheidungen, dass es – aus vielerlei Gründen – durchaus auch falsche Geständnisse geben kann. Im Hinblick auf die gebotene sorgfältige Überprüfung der Glaubhaftigkeit des Geständnisses zweifelt aber niemand ___________ 37

BVerfGE 105, 17, 37 ff.; 109, 133, 181 f. BVerfGE 75, 246, 280; 109, 133, 180 f. m. w. N. 39 A.A. Marxen/Thiemann, ZIS 2008, 188, 189 und Scherzberg/Thiée, ZRP 2008, 80, 82, die zu einseitig im Anschluss an entsprechende Äußerungen im damaligen Gesetzgebungsverfahren nicht die Beweiskraft des Geständnisses, sondern das nicht hinnehmbare freche Prahlen des Täters mit dem unberechtigten Freispruch als entscheidendes Motiv für diesen Wiederaufnahmegrund sehen. 40 Zitiert nach SK-StPO/Frister/Deiters, § 362 Rn. 1. 41 Peters, Fehlerquellen im Strafprozess. Eine Untersuchung der Wiederaufnahmeverfahren in der Bundesrepublik Deutschland, 1. Bd. 1970, 2. Band 1972, S. 5 ff. 38

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ernsthaft an der Legitimität und Verfassungskonformität dieses Wiederaufnahmegrundes. Die hohe Leistungsfähigkeit der molekulargenetischen Untersuchungen, deren Methoden in den letzten Jahren weiter verfeinert wurden und die mit immer geringerem Spurenmaterial durchgeführt werden können, konnte kein Gesetzgeber voraussehen, und sie ist auch der juristischen und kriminalistischen Fachwelt erst seit wenigen Jahren bekannt. Die statistische Irrtumswahrscheinlichkeit bei der Feststellung des Identifizierungsmusters liegt bei 1 zu 1,1 Billionen.42 Die DNA-Analyse unterscheidet sich in ihrer Aussagekraft deutlich von anderen technischen Ermittlungsmethoden wie Blutgruppenbestimmung, Daktyloskopie oder Stimmenanalyse.43 Damit ist die DNA ein zuverlässigeres Beweismittel als das Geständnis, auch wenn man berücksichtigt, dass DNASpuren nicht notwendig zum Täter führen und dass die hierbei notwendigen Schlussfolgerungen durchaus fehlerbehaftet sein können. Man muss sich stets klarmachen, dass eine DNA-Spur nur eine Person identifiziert, nicht aber beweist, was diese Person getan hat.44 Natürlich handelt es sich bei der positiven DNA-Analyse nur um eine Indiztatsache, die eine Würdigung aller Beweisumstände nicht entbehrlich macht.45 Eine normative Gleichstellung der aufgrund einer DNA-Analyse ermittelten Täterschaft mit einer durch ein Geständnis offenbarten Täterschaft ist daher angesichts der neuen wissenschaftlichen Entwicklungen geradezu geboten. Mit der von 1943 bis 1945 geltenden generellen Zulassung der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten bei Vorliegen neuer Tatsachen und Beweismittel hat dieser Vorschlag nichts gemein.46 Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass in seltenen Ausnahmefällen auch einmal eine nach dem Freispruch gefundene Videoaufzeichnung des Tatgeschehens, ein bisher unbekannter Tatzeuge oder ein Tatwerkzeug mit den Täter ___________ 42 BT-Drs. 16/7957 unter Hinweis auf Anslinger/Rolf/Eisenmenger, DRiZ 2005, 165 ff. 43 A.A. Marxen/Thiemann, ZIS 2008, 188, 191, die nur einen graduellen Unterschied annehmen. 44 Das bestätigt auch die im März 2009 in Baden-Württemberg bekannt gewordene „Watte-Stäbchen-Panne“, bei der die von einer Packerin der Herstellerfirma verunreinigten Wattestäbchen zur Speichelentnahme dazu geführt hatten, dass bei den Ermittlungen zur Aufklärung eines Polizistinnenmordes in Heilbronn jahrelang 40 falsche Spuren (sog. Trugspuren) verfolgt wurden. Dieser Fall ist aber kein Argument gegen die Stützung der Wiederaufnahme auf eine DNA-Identifizierung, da es in diesem Fall ja gerade nicht zu fehlerhaften Beschuldigungen, sondern nur zu falschen Spuren gekommen ist. 45 BGHSt 38, 320, 324. 46 A.A. teilweise Marxen/Thiemann, ZIS 2008, 188, 190 f. sowie König (Fn. 6), S. 6.

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belastenden Spuren auftaucht,47 die eine Wiederaufnahme zuungunsten des freigesprochenen Täters legitimieren könnten. Aber solche Fälle sind bisher nicht bekannt geworden, und sie sind auch äußerst unwahrscheinlich, weil den Mordanklagen in der Regel umfangreichste Ermittlungen vorausgehen, die all diese Möglichkeiten abgeklärt haben. Bei neuen DNA-Spuren oder verfeinerten Analysemethoden ist dies anders, da sie zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung objektiv nicht zur Verfügung standen. Bei keinem anderen Beweismittel ist es bisher in solchem Umfang zu erfolgreichen Wiederaufnahmen von eingestellten Ermittlungsverfahren nach vielen Jahren gekommen wie bei der DNAAnalyse. Dies rechtfertigt die Sonderbehandlung dieser Beweismethode im Wiederaufnahmerecht.

2. Ersetzung „neuer, wissenschaftlich anerkannter technischer Untersuchungsmethoden“ durch „DNA-Analysen“ Der im Entwurf des Bundesrates verwendete Begriff „neue, wissenschaftlich anerkannte technische Untersuchungsmethoden“ könnte zu Unklarheiten in der Rechtsanwendung führen,48 wenn die Neuheit einer Methode oder ihre wissenschaftliche Anerkanntheit umstritten sein dürften. Da derzeit keine andere Methode in Sicht ist, die ähnlich hohe Beweiskraft erlangt wie die molekulargenetischen Untersuchungen, sollte im Gesetzestext der Begriff „DNA-Analyse“ oder „molekulargenetische Untersuchung“ verwendet werden.49 Dies hätte den Vorteil, dass an die bereits gesetzlich geregelte Materie und Terminologie der §§ 81e bis 81h StPO angeknüpft werden könnte.

3. Erstreckung auf alle zur Zeit der früheren Verhandlung unbekannten DNA-Spuren Darüber hinaus wäre es sachgerecht, die wenig überzeugende Begrenzung des Gesetzestextes auf „neue … Untersuchungsmethoden, die bei Erlass des Urteils … nicht zur Verfügung standen“, zu ersetzen durch „DNA-Analysen, die bei Erlass des Urteils, in dem die dem Urteil zu Grunde liegenden Feststellungen letztmalig geprüft werden konnten, nicht vorlagen.“

___________ 47

So die Einwände von Marxen/Thiemann, ZIS 2008, 188, 193 und König, BT-Drs. 16/7957, S. 4. 48 Marxen/Thiemann, ZIS 2008, 188, 190 befürchten sogar immer wieder neue Wiederaufnahmeversuche, also einen „processus ad infinitum“. 49 Ebenso Kintzi (Fn. 7), S. 57.

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Es ist nämlich nicht einzusehen, warum ein Beweisstück, das erst nachträglich auftaucht und eine molekulargenetische Untersuchung ermöglicht, nicht berücksichtigt werden sollte. Zu denken ist etwa an Fälle, in denen die Leiche oder das Tatwerkzeug mit DNA-Spuren erst nach dem freisprechenden Urteil entdeckt werden. Auf diese Weise wäre auch der – bisher einzig bekannt gewordene – nordrhein-westfälische Fall zweifelsfrei von der Regelung erfasst, bei dem nachträglich an einem bei der Tat verwendeten Klebeband eine DNA-Spur gefunden wurde. Mit der vorliegenden Gesetzesformulierung erscheint dies unsicher, da zweifelhaft sein kann, ob es sich im Vergleich zu den vor 10 Jahren zur Verfügung stehenden Methoden wirklich um eine „neue wissenschaftliche Untersuchungsmethode“, die damals noch nicht zur Verfügung stand, oder nur um methodische Verfeinerungen der schon früher bekannten Methode handelt.

IV. Sachgerechte Beschränkung der Rechtskraftdurchbrechung auf Freispruchkorrekturen im Gesetzentwurf des Bundesrates Wie oben dargelegt50, wäre nicht nur bei Mord und Völkermord, sondern auch bei allen vollendeten Delikten, die zur Zuständigkeit des Schwurgerichts gehören (§ 74 II GVG), die Einschränkung des Art. 103 III GG verhältnismäßig und damit die Erweiterung der Wiederaufnahme zuungunsten der Angeklagten gerechtfertigt. Dazu trägt auch die Begrenzung auf Freispruchkorrekturen bei, wie sie § 362 Nr. 4 StPO bisher bei einem glaubwürdigen Geständnis ermöglicht. Die bei aufgedeckten Verfahrensverfälschungen gemäß § 362 Nr. 1 bis 3 StPO möglichen Korrekturen des Schuld- und Strafausspruchs sind hier nicht geboten,51 da nur besonders schwere und krasse Beeinträchtigungen der materiellen Gerechtigkeit durch einen Freispruch eine Aufhebung der Rechtskraft des ersten Urteils rechtfertigen.

V. Notwendige Begrenzung im Probationsverfahren Für die Entscheidung über die Begründetheit des Wiederaufnahmeantrags der Staatsanwaltschaft sieht der Gesetzentwurf des Bundesrates eine Ergänzung des § 370 Abs. 1 StPO vor. Danach ist der Antrag auf Wiederaufnahme des ___________ 50

Siehe o. II. 4. und 5. A.A. Stoffers (Fn. 7), S. 113, der eine Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten auch dann zulassen möchte, wenn „die verhängte Strafe ihrer Art und Höhe nach in einem krassen Missverhältnis zu dem verhängten Delikt steht“. 51

Wiederaufnahme zuungunsten Freigesprochener bei neuen DNA-Analysen?

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Verfahrens ohne mündliche Verhandlung als unbegründet zu verwerfen, „wenn im Falle des § 362 Satz 1 Nr. 5 nicht dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass der Freigesprochene verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt werden wird, weil seine Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist.“ Dies bedeutet eine hohe Schwelle für die Eröffnung der Wiederaufnahme und wirkt der Gefahr entgegen, dass bei DNA-Spuren leichtfertig oder vorschnell auf eine Täterschaft geschlossen wird. Zutreffend wird in der Begründung des Bundesratsentwurfs darauf hingewiesen, dass das Prinzip der Rechtssicherheit insoweit fortwirkt, als ein rechtskräftiges Urteil nicht auf die bloße Vermutung seiner Unrichtigkeit hin erneut überprüft werden darf. „Anders als bei der Wiederaufnahme zugunsten des Angeklagten vermögen erhebliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils die Verfahrenserneuerung nicht zu rechtfertigen.“52 Demgegenüber will Stoffers darüber hinaus „den Ausschluss jedes begründeten Zweifels“ verlangen, weil nur diese hohe Hürde dem Prinzip der Rechtssicherheit gerecht werde.53 Auch Scherzberg/Thiée erwägen als Voraussetzung für die Zulassung des Wiederaufnahmeverfahrens Beweisanforderungen, „die die Täterschaft des Freigesprochenen zweifelsfrei belegen.“54 Sie berufen sich dabei aber fälschlicherweise auf die allgemeine Begründung des Gesetzentwurfs, in der im Hinblick auf die neue Hauptverhandlung darauf abgestellt wird, dass die DNA-Untersuchung geeignet ist, „im Kontext mit weiteren Beweismitteln und unterer Würdigung der Gesamtumstände zweifelsfrei den Nachweis einer Täterschaft zu führen.“ In der Begründung des Gesetzentwurfs wird aber mit Recht darauf hingewiesen, dass man nicht verlangen könne, dass das Gericht bereits im Wiederaufnahmeverfahren die für eine Verurteilung oder Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB erforderliche sichere Überzeugung gewinne. „Das Aufstellen derart strenger Voraussetzungen würde dem Charakter des Wiederaufnahmeverfahrens, in dem lediglich eine summarische Prüfung stattfindet und nicht die spätere Hauptverhandlung vorweggenommen werden soll, zuwiderlaufen.“55 Diese zutreffenden Ausführungen in der Begründung des Bundesratsentwurfs zeigen, dass eine Wiederaufnahme zuungunsten des freigesprochenen Angeklagten auch nach dem Auffinden von DNA-Spuren eine seltene Ausnahme bleiben würde. Denn „dringende Gründe“ setzen – ähnlich wie bei der ___________ 52

BT-Drs. 16/7957, S. 8. Stoffers (Fn. 7), S. 114. 54 Scherzberg/Thiée, ZRP 2008, 80, 83, letztlich aber ablehnend im Hinblick auf die damit verbundene Kollision mit der Unschuldsvermutung des Art. 6 II EMRK. 55 BT-Drs. 16/7957, S. 8. 53

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Anordnung der Untersuchungshaft – die große Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung voraus, die nach einem bereits erfolgten Freispruch äußerst selten gegeben ist.

VI. Gesetzesvorschlag Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen sollte daher der Gesetzentwurf des Bundesrates folgendermaßen modifiziert werden (Änderungen kursiv). § 362 Nr. 5 StPO Satz 1: wenn auf der Grundlage von DNA-Analysen, die bei Erlass des Urteils, in dem die dem Urteil zu Grunde liegenden Feststellungen letztmalig geprüft werden konnten, nicht vorlagen, neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen zur Überführung des Freigesprochenen geeignet sind. Satz 2: Satz 1 Nr. 5 gilt nur für vollendete Verbrechen, für die eine Strafkammer als Schwurgericht zuständig ist (§ 74 II GVG) sowie in Fällen des vollendeten Völkermordes (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuchs), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuchs) oder des Kriegsverbrechens gegen Personen (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuchs)56 oder wegen der …57 vollendeten Anstiftung zu einer dieser Taten.

§ 370 Abs. 1 StPO sollte in der vom Bundesrat vorgeschlagenen Fassung (s.o. I. 2.) den künftigen Beratungen zugrunde gelegt werden.

___________ 56 Am Ende des Satzes 2 handelt es sich nur um eine sprachliche Korrektur (korrekte Überschrift des § 8 VStGB). 57 Hier wurde auf die Notwendigkeit der Ahndung mit lebenslanger Freiheitsstrafe verzichtet, da diese nach dem erweiterten Deliktskatalog der vorgeschlagenen Gesetzesfassung nicht mehr vorausgesetzt wird.

Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Neuordnung des Rechts der Lebendorganspende Von Hans-Ludwig Schreiber

I. Die Organ- und Gewebetransplantation stellt heute eine etablierte, Erfolg versprechende klinische Behandlungsmethode dar.1 Auch der derzeitige Papst Benedikt XVI. hat kürzlich in einer Ansprache vor der päpstlichen Akademie für das Leben, die wiederholt Einwendungen gegen die Transplantation insbesondere im Hinblick auf den Hirntod vorgebracht hat2, erklärt, die Gewebe- und Organtransplantation stelle eine große Errungenschaft in der Medizin dar und sei sicher ein Zeichen der Hoffnung für zahlreiche Menschen, die sich in einem schweren und manchmal extremen kritischen Zustand befinden.3 Er hat freilich in Abweichung von einer Erklärung seines Vorgängers Johannes Paul II.4 erklärt, die Organentnahme sei nur im Falle des „wirklichen Todes“ erlaubt5 und hat damit anders als Johannes Paul II. eine positive Stellungnahme zum Kriterium des Hirntodes vermieden. Der Hirntod als Entnahmekriterium für Organe hat sich inzwischen aber allgemein auch in der Wissenschaft durchgesetzt6. Es besteht praktisch ein weltweiter Konsens hinsichtlich des Hirntodes. ___________ 1 Statt Vieler: Schroth/König/Gutmann/Oduncu, Transplantationsgesetz, Kommentar, 2003, Einleitung Rn. 16; Lebendspende von soliden Organen, medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen der Schweizer Akademie der Medizinischen Wissenschaften vom 20.5.2008; historisch und grundsätzlich Deutsch-Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, S. 553 ff. 2 In Übereinstimmung mit der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften, vgl. in neuerer Zeit Byrne, Paul A./Coimbra, Cicero G./Spaemann, Robert/Wilson, Mercedes/Arzu, Der Hirntod ist nicht der Tod, Schriftenreihe der Aktion Leben e.V., 1. Aufl., Februar 2005, Nr. 24. 3 Ansprache vom 7.11.2008, zitiert nach Tagespost vom 11.11.2008. 4 Johannes Paul II., Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 30. Jahrgang, Nr. 37, 15. September 2000, S. 7 f. 5 Siehe Fn. 3. 6 Schroth/König/Gutmann/Oduncu, Kommentar zum TPG, 2005, Vor §§ 3, 4 Rn. 5 ff.; zusammenfassend in der Kritik an der Hirntodkonzeption noch Höfling/Rixen, Kommentar zum Transplantationsgesetz, 2003, § 3 Rn. 13 ff.; ausführlich kritisch: in der Schmitten im Kommentar von Höfling, Anhang zu § 3, S. 144 ff.; gegen die Hirn-

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Die Zahl der Transplantationen vom Verstorbenen vermag den steigenden Bedarf bei weitem nicht zu befriedigen. Die Zahlen der Organspender stagnieren allgemein seit mehr als 15 Jahren.7 Nach leichtem Anstieg ist die Zahl der Organspender in den Jahren 2007 und 2008 in Deutschland deutlich gesunken. Sie lag im Jahre 2007 insgesamt bei 4.140 und im Jahre 2008 nur noch bei 3405, die Zahl der Spender ging in Deutschland von 16 auf 14,6 pro Mio. Einwohner zurück.8 Jährlich sterben in Deutschland etwa 1000 Patienten auf der Warteliste für ein Organ. Nierenpatienten warten durchschnittlich 5 bis 6 Jahre auf eine Transplantation9, die Wartelisten wachsen an. Der Anteil der Nierenlebendspenden an der Nierentransplantation hat überall in der Welt in den vergangenen beiden Jahrzehnten stark zugenommen. Während er in der Bundesrepublik im Jahre 1990 nur 1,7 % gegenüber schon viel höheren Prozentsätzen in den nordeuropäischen Ländern betrug, ist er in der Bundesrepublik im Jahre 1998 auf 14,7 %, im Jahre 2002 auf 19,1 % und im Jahre 2007 auf 19,5 % gestiegen.10 Der Grund für den Anstieg der Nierenlebendtransplantation liegt im Mangel postmortal gespendeter Organe und in den wesentlichen medizinischen Vorzügen lebend gespendeter Nieren11, während die Lebendspende von Lebersegmenten mit erheblichen Gefahren verbunden scheint.12 Die früher erheblichen Vorbehalte in Medizin und Medizinethik gegen die Lebendspende sind inzwischen zurückgegangen. Man sah einen Verstoß in der Lebendspende gegen das Prinzip des Nichtschadens gegenüber dem Spender, für den die Spende keinen Heileingriff darstelle, sondern ihm nur schade und ___________ todkritik mit Nachweisen Schreiber, Tod und Recht: Hirntod und Ende des Lebens, FS Egon Müller, 2008, S. 685 ff.; Knoepffler, der Ganzhirntod als Tod des Menschen, Ärzteblatt Thüringen, 2006, S. 7 ff. 7 Kirste, Medizinische Aspekte der Organtransplantation, in: Beckmann/Kirste/ Schreiber, Organtransplantation, 2008, S. 53 ff. 8 Bericht der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), Ärztezeitung vom 15.1.2009, eingehende Statistik: www.dso.de. 9 Ärztezeitung vom 15.1.2009. 10 www.dso.de; Schroth/König/Gutmann/Oduncu, Kommentar zum TPG, Vor § 8, Rn. 1; Gutmann/Schroth, Organlebendspende in Europa, Berlin-Heidelberg, 2002, S. 92 ff. mit umfangreichen vergleichenden statistischen Angaben; Enquete-Kommission, Ethik und Recht der modernen Medizin, Zwischenbericht Organlebendspende, BTDrs. 15/5050 vom 17.3.2005. 11 Beckmann, Ethische Aspekte der Organtransplantation, S. 104 in: Beckmann/ Kirste/Schreiber, Organtransplantation, Freiburg 2008; Schreiber, Ethisch-rechtliche Entwicklungen in der Lebendspende, Mitt. klinische Nephrologie, Band XXXV/2006, S. 69. 12 Schroth/König/Gutmann/Oduncu, Kommentar zum TPG, Vor § 8 Rn. 1 mwN.; Gutmann/Schroth, Organlebendspende in Europa, S. 92.

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ihn gefährde.13 Demgegenüber steht die Autonomie des Spenders, die zwar nicht unbegrenzt gilt, aber gewisse geringe Gefährdungen und Risiken gestattet.14 Aber auch die Interessen des Spenders müssen bedacht werden, die Rücksichtnahme auf sie stellt nicht nur, wie Gutmann meint15, überwiegend paternalistische Bedenken dar.

II. Lebhaft diskutiert wird die Frage, ob nicht die derzeitigen Regelungen im geltenden Transplantationsgesetz zu weitgehende Restriktionen der Lebendspende enthalten und ihre Entwicklung behindern. Das vor 11 Jahren erlassene Gesetz war noch von einer gewissen Distanz zur Lebendspende bestimmt und hat die Vorschriften über die Lebendspende in einer Bestimmung zusammengefasst. Vieles davon erscheint heute problematisch, zumal ein Teil der Vorschriften gem. § 19 Abs. II Transplantationsgesetz unter Strafsanktion gestellt ist. 1. § 8 Abs. I Transplantationsgesetz nennt zunächst eine Reihe von Voraussetzungen, die relativ selbstverständlich bei einem körperlichen Eingriff sein dürften. Das gilt zunächst für die Voraussetzung nach § 8 Abs. I Nr. 1a, dass der Spender volljährig und einwilligungsfähig ist. Nach der Neufassung des Transplantationsgesetzes durch § 8a in der Fassung des Gewebegesetzes vom 20.7.200716 gilt insofern eine Ausnahmeregelung für die Entnahme von Knochenmark bei minderjährigen Personen. Danach darf Knochenmark für Verwandte 1. Grades oder Geschwister der minderjährigen Person verwendet werden. Erforderlich ist die Einwilligung des entsprechend aufgeklärten gesetzlichen Vertreters und auch der minderjährigen Person bei hinreichender Einsichts- und Willensfähigkeit (§ 8a Nr. 1, 4 und 5). Der Spender muss nach § 8 Abs. I Nr. 1c geeignet sein und voraussichtlich nicht über das Operationsrisiko hinaus gefährdet oder über die unmittelbaren Folgen der Entnahme hinaus gesundheitlich schwer beeinträchtigt werden. Darin liegt eine zulässige, die Autonomie des Spenders begrenzende „paternalistische“ Berücksichtigung der Gesundheitsinteressen des Spenders. Weiter ver___________ 13 Schreiber, Die Notwendigkeit einer Ausweitung der Zulässigkeit von Lebendspenden, in: Rittner/Paul, Ethik der Lebendorganspende, 2005, S. 61 mwN.; EnqueteKommission, Zwischenbericht Organlebendspende, BT-Drs. 15/5050 vom 17.3.2005. 14 Beckmann (Fn. 11), S. 107 f. mwN.; Lebendspende von soliden Organen, Medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen der Schweizer Akademie der Medizinischen Wissenschaften vom 20.5.2008; über die Risiken des Spenders bei Nieren und Leber, Gutmann/Schroth, Organlebendspende in Europa, S. 91 ff. 15 Gutmann, in: Schroth/König/Gutmann/Oduncu, Kommentar zum TPG, § 8 Rn. 1; zutreffend abwägend Beckmann (Fn. 11), S. 109. 16 BGBl I 2007, S. 1574 ff.

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langt das Gesetz nach § 8 Abs. I Nr. 2, dass die Übertragung des Organs auf den vorgesehenen Empfänger nach ärztlicher Beurteilung geeignet ist, das Leben dieses Menschen zu erhalten oder bei ihm eine schwerwiegende Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Beschwerden zu lindern. Geringere Interessen des Empfängers sollen mit Recht nicht ausreichen. Mit Recht wird nach § 8 Abs. II eine umfangreiche, detaillierte Aufklärung des Spenders verlangt. Er ist über die Art des Eingriffs aufzuklären, den Umfang und mögliche auch mittelbare Folgen und Spätfolgen der beabsichtigten Organentnahme für seine Gesundheit sowie über die zu erwartende Erfolgsaussicht der Organübertragung und sonstige Umstände, denen er erkennbar eine Bedeutung für die Organspende beimisst. Die Aufklärung hat durch einen Arzt in Anwesenheit eines weiteren Arztes und soweit erforderlich, anderer sachverständiger Personen zu erfolgen.17 2. Lebhaft bestritten ist § 8 Abs. I Nr. 3, wonach die Lebendspende nur zulässig ist, wenn ein Leichenorgan nach § 3 oder § 4 TPG im Zeitpunkt der Organentnahme nicht zur Verfügung steht, das Prinzip der Subsidiarität. Diese Vorschrift soll ebenfalls den Spender schützen. Die Spende vom Toten hat grundsätzlich Vorrang. Sie sollte nicht vernachlässigt werden, das Bemühen um mehr postmortal gespendete Organe sollte nicht zurücktreten.18 Es erscheint aber problematisch, einen potentiellen Empfänger auf ein medizinisch eindeutig schlechteres Verfahren zu verweisen und ihm eine solche Therapie aufzuzwingen.19 Mit Recht wird aber darauf hingewiesen, dass die Bestimmung praktisch leer läuft. Das Subsidiaritätsprinzip hat nur eine außerordentlich geringe praktische Bedeutung.20 Stellt man mit dem Gesetz auf den Zeitpunkt der Organentnahme ab, ist es schwierig, überhaupt eine Lebendspende zu planen und vorzubereiten. Möglicherweise müsste alles für eine Lebendspende Vorbereitete abgesagt werden, wenn eine Leichenspende möglich wird. Die ständige Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer verlangt auch zur Sicherung des Empfängers beim etwaigen Versagen des lebendgespendeten Organs die recht-

___________ 17

Über die Notwendigkeit der Niederschrift über Aufklärung und Einwilligung des Spenders vgl. § 8 Abs. II Satz 3 und 4 TPG. 18 Aus den Gesetzesmaterialien BT-Drs. 13, 4355, S. 19 f.; Schreiber/Wolfslast, MDR 1992, S. 189; Schreiber, Mitt. klin. Nephrologie XXXV/2006, S. 70 f.; Schreiber, Die Notwendigkeit einer Ausweitung der Zulässigkeit von Lebendspenden, in: Rittner/Paul, Ethik der Lebendorganspende, 2005, S. 61 ff. 19 Höfling-Esser, Kommentar zum TPG, 2003, § 8 Rn. 55 ff.; Schroth/König/ Gutmann/Oduncu, TPG, 2005, § 8 Rn. 22 ff. 20 Schreiber, Mitt. klin. Nephrologie XXXV/2006, S. 71.

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zeitige Aufnahme des Empfängers auf die Warteliste für die Leichenspende.21 Der Notweg zu einer Leichenspende soll offen bleiben. Angesichts des Mangels an Organen wird in der Regel ein Leichenorgan zum geplanten Zeitpunkt einer Lebendtransplantation im Zweifel gar nicht zur Verfügung stehen. Das Subsidiaritätsprinzip hindert praktisch die Lebendspende nicht. Seine praktische Bedeutung ist außerordentlich gering. Das Subsidiaritätsprinzip ist im Ergebnis nicht mehr als ein Hinweis darauf, dass die Transplantation ohne die Leichenspende auch in Zukunft nicht auskommen wird.22 Vielleicht sollte man § 8 Abs. I Nr. 3 besser dahin formulieren, dass die Lebendspende ausgeschlossen sei, wenn die begründete Aussicht auf eine in kurzer Zeit mögliche Leichenspende besteht. Das Subsidiaritätsprinzip hindert praktisch nicht die Lebendspende. Man könnte es daher bestehen lassen als Menetekel dafür, dass für die Leichenspende mehr getan werden muss.23 3. Besonders umstritten sind die Begrenzungen des Spender-Empfängerkreises in § 8 Abs. I Satz 2 Transplantationsgesetz, die weiter gehen als in anderen Ländern.24 Danach ist die Entnahme von Organen, die sich nicht wieder bilden können nur zulässig zum Zwecke der Übertragung auf Verwandte ersten oder zweiten Grades, Ehegatten, Lebenspartner, Verlobte oder andere Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahe stehen. Gegen diese Norm werden schwerwiegende Einwände erhoben, sie wird teilweise als nicht hinreichend bestimmt und verfassungswidrig angesehen.25 Problematisch ist, was unter „besonderer persönlicher Verbundenheit“ und „offenkundig nahe stehend“ zu verstehen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, diese Begriffe seien durch den Wortlaut allein zwar noch nicht hinreichend bestimmt, es fänden sich jedoch im Gesetzentwurf zum Transplantationsgesetz ausführliche Hinweise zur Auslegung der verwendeten Begriffe.26 Besondere persönliche Verbundenheit setze sowohl innere als auch äußere Merkmale wie eine gemeinsame Wohnung oder häufige Kontakte voraus. Ein Assoziationsgrad in äußerer und innerer Hinsicht müsse bestehen, bei dem sich wie etwa bei Verwandten typischerweise die Vermutung aufstellen lasse, dass ___________ 21 Deutsches Ärzteblatt, Jg. 1997 (2000), S. A 3287; heftig kritisch dazu Gutmann, in: Schroth/König u.a., 2005, § 8 Rn. 24. 22 Schreiber, Mitt. klin. Nephrologie, XXXV/2006, S. 71. 23 Schreiber, Rechtliche Aspekte der Organspende, in: Broelsch (Hrsg.), Organlebendspende, Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Düsseldorf, 2005, S. 23 ff. (S. 26). 24 Gutmann/Schroth, Organlebendspende in Europa (2002), S. 41 ff., S. 129 ff. 25 Schroth/König/Gutmann/Oduncu, Kommentar zum TPG, § 8 Rn. 35 m.v.w.N. 26 BVerfG, Beschluss vom 11.8.1990, NJW 1999, 3399 (3400) unter Hinweis auf BT-Drs. 13/4355, S. 20 f. sowie BT-Drs. 13/8017, S. 42.

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der Entschluss zur Organspende ohne äußeren Zwang und frei von finanziellen Erwägungen getroffen wurde. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungsbeschwerde gegen die Formel des Gesetzes zurückgewiesen.27 Der Gesetzgeber verfolge mit seiner Regelung der Eingrenzung des Spenderkreises das Ziel, die Freiwilligkeit der Organspende zu sichern und jeder Form des Organhandels vorzubeugen.28 Zweifelhaft ist freilich, ob nicht die Zulassung einer Verwandtenspende die Freiwilligkeit nicht eher beeinträchtigen oder gefährden kann über einen mehr oder weniger offenen Druck in Familienbeziehungen.29 Hinsichtlich der Freiwilligkeit wird man kaum sicher feststellen können, ob jemand wirklich frei gehandelt oder wie seine Motive waren.30 Das Freisein von Zwang ist wohl das entscheidende Merkmal.31 Man wird die Begrenzung auf familiäre und persönliche Verbundenheit fallenlassen können, wenn man auf das Freisein von Zwang abstellt. Eine unentgeltliche, anonyme Lebendspende an einen Pool, der wie bei der Leichenspende nach allgemeinen Kriterien verteilt, sollte zulässig sein.32 Auch sollte die viel diskutierte Cross-Over-Spende gesetzlich ausdrücklich zugelassen werden. Dabei geht es um Fälle, in denen die Lebendspende zwischen einander nahe stehenden Personen aus medizinischen Gründen, meist wegen Blutgruppenunverträglichkeit, nicht in Frage kommt. In diesen Fällen besteht die Möglichkeit, ein solches Paar mit einem weiteren zweiten Paar, das die gleiche Problematik hat, zusammenzubringen und zwei Lebendspenden „kreuzweise“ durchzuführen.33 Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil im Jahre 2003 den Weg dafür geöffnet und geklärt, dass eine solche Praktik kein Handeltreiben im Sinne von §§ 17, 18 Transplantationsgesetz darstellt.34 ___________ 27

Wie vorhergehende Note; eingehend kritisch zu diesem Urteil, Gutmann/Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 20 ff. 28 BT-Dr. 13/4355, S. 20. 29 Schreiber, Mitt. klin. Nephrologie, XXXV/2006, S. 72. 30 Schreiber/Rosenau, Rechtliche Grundlagen der psychiatrischen Begutachtung, in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl., 2009, S. 78 ff., zur neueren Hirnforschung, S. 81 ff. 31 Schreiber (Fn. 23), Rechtliche Aspekte der Organspende, S. 27. 32 Schreiber (Fn. 29), S. 72. 33 Begrifflich erläutert bei Schroth/König/Gutmann/Oduncu, Kommentar zum TPG, Vor § 8 Rn. 2; differenziert Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 888. 34 Bundessozialgericht, JZ 04, 454 ff.; Nickel/Preisigke, MedR 04, S. 307 f.; kritisch dazu im Ergebnis ohne hinreichende Gründe Gutmann, in: Schroth/König/Gutmann/ Oduncu, Kommentar zum TPG, § 8 Rn. 37, der immerhin zugibt, dass die Rechtsprechung und Literatur ein offensichtlich unbilliges Ergebnis der gesetzlichen Beschränkung des Spenderkreises vermeiden wolle. Zu Unrecht spricht Gutmann aber von einer hyperextensiven Auslegung der Norm. Für eine Zulässigkeit der Überkreuz-Spende Schreiber, Rechtliche Aspekte der Organtransplantation, in: Beckmann/Kirste/Schreiber, Organtransplantation, 2008, S. 77; Beckmann, Ethische Aspekte der Organtransplantati-

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4. In § 8 Abs. III TPG schreibt das Gesetz vor, dass die Organentnahme beim Lebenden erst durchgeführt werden darf, wenn eine nach Landesrecht zuständige Kommission gutachtlich dazu Stellung genommen hat, ob begründete tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Einwilligung in die Organspende nicht freiwillig erfolgt oder das Organ Gegenstand verbotenen Handeltreibens ist. Diese Kommissionen haben sich bewährt, sie sollten weitergeführt werden, ihre Zuständigkeit sollte eher ausgedehnt werden. Gerade wenn die Begrenzung des Spenderkreises in § 8 Abs. III Satz 3 aufgehoben wird, sollte die Freiheit von Zwang und das Fehlen einer Ökonomisierung Gegenstand der Kommissionsüberprüfung sein. Die Entgeltlichkeit von Organspenden sollte jedenfalls verhindert werden. Mit der Vermarktung von Organen sind erhebliche Gefahren verbunden, gerade bei Lebendspenden.35 Ausbeutende Vermittlungspraktiken könnten entstehen. Die Zahlen der Lebendspenden jedenfalls bei der Niere werden weiter wachsen. Die Gesetzgebung sollte das ermöglichen und die Begrenzung des Spenderkreises aufgeben.

___________ on, in: Beckmann/Kirste/Schreiber, Organtransplantation (2008), S. 120 ff.; für die Zulässigkeit der Cross-Over Transplantation mit überzeugenden Argumenten, Dirk und Kai Bachmann, Aspekte zur Cross-Over Transplantation, MedR 2007, S. 94 ff. 35 Schreiber, Ethisch-rechtliche Entwicklungen in der Lebendspende, Mitt. klin. Nephrologie, XXXV/2006, S. 29; anders Breyer, F./Engelhardt, 2006, Anreize zur Organspende, Bad Neuenahr/Ahrweiler, S. 30 ff.

Feuerbachs Einfluss auf die deutsche Strafgesetzessprache Von Friedrich-Christian Schroeder

I. Einführung Manfred Maiwald hat in der Festschrift zu meinem 70. Geburtstag die Entwicklung der Teilnahmeformen dargestellt und sich dabei eingehend mit der Teilnahmelehre Feuerbachs beschäftigt.1 Da trifft es sich gut, dass ich seit langem ebenfalls Material über Feuerbach gesammelt habe, allerdings über einen ganz anderen Aspekt. Feuerbach (1775-1833) wird gerühmt wegen seiner Straftheorie, der konsequenten Trennung von Recht und Sittlichkeit und seiner Dogmatik.2 Dagegen fand sein „Strafgesezbuch für das Königreich Baiern“ von 1813 weniger Anklang. Gerügt wurden vor allem die Aufspaltung verwandter Delikte in getrennte „Bücher“ über Verbrechen und Vergehen, die einen Überblick über das strafbare Verhalten sehr erschwerte und damit im Widerspruch zu Feuerbachs eigener Theorie des „psychologischen Zwangs“ stand, die Präsumtionen bei Vorsatz und Fahrlässigkeit und die starre Kasuistik.3 Nach Hälschner „konnte das bayerische Strafgesetzbuch einen bleibenden, praktischen Werth nicht erlangen“.4 Es wurde denn auch sehr bald durch Gesetze und zahllose königliche Reskripte (allein bis 1816 151!) geändert.5 Allgemein bewundert wurde allerdings die „Schärfe der darin aufgestellten Begriffe“,6 die „scharfe Umreißung der Tatbestände“7. Nicht ausreichend gese___________ 1

Maiwald, FS Schroeder, 2006, S. 283 ff. Baumgarten, GS 81 (1913), 98 ff.; R. v. Hippel, Deutsches Strafrecht 1. Bd., 1925, S. 292 ff.; Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, S. 232 ff.; Radbruch, Paul Johann Anselm Feuerbach, 2. Aufl. 1957, Göttingen. 3 v. Hippel, S. 301; Eb. Schmidt, S. 263ff.; Baumgarten GS 81 (1913), 117, 119. 4 Geschichte des Brandenburgisch-Preußischen Strafrechtes, 1855, Bonn, S. 262. 5 Radbruch, Feuerbach, S. 163. 6 Motive zu dem von dem Revisor vorgelegten Entwurf des Kriminal-Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten. Gesetzes-Revision, I. Pensum, Bd. I, 1827, S. IV; Eb. Schmidt, S. 263. 7 Baumgarten, GS 81 (1913), 119; Radbruch, Feuerbach, S. 85. 2

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hen wurde jedoch bisher, dass zahlreiche Formulierungen aus dem bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 wörtlich in die deutsche Strafgesetzessprache übergegangen sind und bis heute fortwirken, dass Feuerbrach somit einen wesentlichen Beitrag zu dieser Sprache geleistet hat.

II. Feuerbachs Beiträge zur deutschen Gesetzessprache Art. 229 bayStGB lautet: „Wer eine Sache für einen Andern in Besitz oder Gewahrsam hat, und sich dieselbe rechtswidrig zueignet, ist der Unterschlagung des Anvertrauten schuldig“. Hier findet sich also fast wörtlich diejenige Formulierung, die bis 1998 in Deutschland gegolten hat, ehe sie das 6. StrRG verändert und dabei nicht unbedingt verbessert hat.8 Insbesondere geht auf Feuerbach jener Begriff zurück, der bis heute das Wesen des Diebstahls ausmacht, nämlich der Gewahrsam, und geht auf ihn auch jener Zusatz „Besitz oder“ zurück, an dem bis 1998 Generationen gedeutelt haben. Schließlich geht auch noch die Qualifikation des „Anvertrautseins“ auf Feuerbach zurück, wenn er sie auch für ein Merkmal bereits des Grundtatbestandes hielt. Feuerbach hatte für diese Bestimmung keinerlei Vorbild; das preußische Allgemeine Landrecht von 1791/1794 behandelte die Unterschlagung in reicher Kasuistik und bezeichnete sie wechselnd als „Unterschlagung“ und „Veruntreuung“ (II 20 §§ 420, 1347, 1350, 1353, 1367). Während der Diebstahl das subjektive Element enthält „um dasselbe rechtswidrig als Eigenthum zu haben“ (Art. 209), finden wir bei der Fundunterschlagung (Art. 212) jene eindrucksvolle Formulierung, die sich jedem Juristen unauslöschlich eingeprägt hat: „um sich dieselbe rechtswidrig zuzueignen“, ebenfalls durch das 6. StrRG durch eine unschöne Wortwiederholung ersetzt. Es hat sogar den Anschein, dass Feuerbach auch das Wort „rechtswidrig“ und damit eines der zentralen Worte der gegenwärtigen Strafgesetz- und Strafrechtswissenschaftssprache geschaffen hat. Zwar kann diese gewichtige These hier nicht abschließend verifiziert werden, doch hat die bisherige Durchsicht der vorangegangenen Literatur ergeben, dass hier nur das Wort „widerrechtlich“ verwendet wurde. Darin liegt eine bemerkenswerte Akzentverlagerung: Gegensatz ist nicht mehr so sehr die Rechtmäßigkeit als die Moral- und Ordnungswidrigkeit. Weitere von Feuerbach stammende Formulierungen aus dem Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte: „Sachen, welche dem Gottesdienste gewidmet sind“ (Art. 217 Nr. 1 bayStGB, § 243 Nr. 4 StGB); „sich mit mehreren zur Ausführung des Diebstahls verbunden hat“ (Art. 221 Nr. 1 bayStGB, § 243 ___________ 8

Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT I, 9. Aufl. 2003, § 34 Rn. 2.

Feuerbachs Einfluss auf die deutsche Strafgesetzessprache

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Abs. 1 Nr. 6 StGB bis 1968); „in diebischer Absicht eingeschlichen, zur Nachtzeit“ (Art. 221 Nr. 2 bayStGB, § 243 Abs. 1 Nr. 7 StGB bis 1969)9; „Zerstörung oder Beschädigung“ (Art. 244, 383 bayStGB, § 303 StGB). Auch die Formulierung „falsche Tatsachen“, über die sich die Juristen seit Generationen mokieren,10 stammt von Feuerbach (Art. 256 bayStGB). Die Formulierung der Pfandkehr (§ 289 StGB) stammt ebenfalls fast wörtlich aus dem bayerischen StGB: „Die widerrechtliche Wegnahme der eigenen Sache aus dem Besitze des Nutznießers, Pfandgläubigers oder desjenigen, welcher an der Sache das Zurückbehaltungsrecht ausübt, ist nicht als Diebstahl, sondern nach Unterschied der Fälle als Selbsthülfe, Betrug und dergleichen zu beurtheilen“ (Art. 211 bayStGB). Allerdings gab es für diesen doch recht speziellen und juristisch komplizierten Fall schon eine Vorschrift im preußischen Allgemeinen Landrecht von 1791/1794: „§ 1110. Auch derjenige, welcher seine eigne Sache einen Andern, welchem auf deren Besitz, Genuss, oder Bewahrung ein Recht zukommt, in der Absicht, mit dem Schaden desselben sich Vortheile zu verschaffen, entwendet, begeht einen Diebstahl“. Immerhin beseitigt Feuerbach die falsche Auffassung des ALR, es handle sich um einen Diebstahl. Bei der Körperverletzung findet Feuerbach nicht nur diesen Begriff (Art. 216) – das ALR (Überschrift zum 11. Abschnitt) und die Josephina von 1803 (Überschrift zum 1. Teil, 19. Abschnitt) hatten erst von „körperlichen Verletzungen“ und zudem nur als Unterfall gesprochen. 11 Er prägt darüberhinaus die bis heute existierenden beiden Tatbestandsalternativen der „körperlichen Misshandlung“ und der „Beschädigung der Gesundheit“ (Art. 178 bayStGB, § 223 StGB12). Die Bezeichnung „Aussetzung“ wurde zwar – entgegen Radbruch13 – nicht von Feuerbach erfunden. Vielmehr hatte sich schon im lateinischsprachigen Schrifttum für die gefährliche Kindsablegung nach Art. 132 der Peinlichen Gerichtsordnung die Bezeichnung „expositio infantum“ herausgebildet14. Hieraus wurde im Deutschen die „Aussetzung“ (zuerst wohl II 20 § 969 ALR). Auch ___________ 9 Die Formulierung „diebische Absicht“ allerdings schon bei Ernst Ferdinand Klein, Grundsätze des gemeinen deutschen und preußischen peinlichen Rechts, 1796, § 429. 10 Maurach/Schroeder/Maiwald, § 41 Rn. 25. 11 Zur Entwicklung Schroeder, FS Hirsch, 1999, S. 725 ff. 12 Bis 1998 „Beschädigung an der Gesundheit“, seitdem „Schädigung an der Gesundheit“. 13 VDB V, 1905, Berlin, S. 188. 14 Siehe z. B. Blumblacher, Commentarius in Kayser Carl V. und deß Heil. Röm. Reichs Peinliche Halß-Gerichts-Ordnung, 1670, Art. CXXXII; Matthaeus Müller, De expositione infantum, 1717, Altorf; Constitutio Criminalis Theresiana, 1769, 89. Art., Randbem.

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die Ausweitung auf sonstige hilfsbedürftige Personen war längst durch die gemeinrechtliche Praxis vollzogen.15 Feuerbrach aber prägte die bis 1998 gültige Formulierung „wegen jugendlichen Alters, Gebrechligkeit oder Krankheit“. Eine gesetzgeberische Kuriosität besteht darin, dass Feuerbachs Formulierung „in einen hilflosen Zustand versetzen“ erst durch das 6. StrRG von 1998 in das Strafgesetzbuch aufgenommen wurde – 185 Jahre nach ihrer Prägung (wobei die Ersetzung des Wortes „Zustand“ durch „Lage“ das bekannte Schwanken der deutschen Sprache zwischen diesen beiden Modalitäten widerspiegelt)!16 Während die Constitutio Criminalis Theresiana den eigenmächtigen Freiheitsentzug in phänomenologischer Betrachtungsweise im Anschluss an den Raub behandelte (Art. 98) und folgerichtig als „Menschenraub“ bezeichnete, sprach Feuerbach von einem „der Freiheit berauben“ und schuf damit den Begriff der „Freiheitsberaubung“ (Art. 192, 194). Die Schöpfung dieses bis heute existierenden Wortes erscheint besonders kühn, denn es wird ja nicht „die Freiheit“, sondern jemand „seiner Freiheit“ beraubt. Außerdem geht es nur um die Fortbewegungsfreiheit. Die Formulierung des Tatbestands des Menschenraubes selbst (Art. 197: „sich eines Menschen durch List oder Gewalt bemächtigen“) entnahm Feuerbach dem österreichischen „Allgemeinen Gesetz über Verbrechen, und derselben Bestrafung“ von 1787 (Art. 134) und führte sie damit in die deutsche Gesetzessprache ein. Seine Strafschärfungsgründe (Art. 199: Bringung zu auswärtigen Schiffs- oder Kriegsdiensten oder in Sklaverei oder Leibeigenschaft) gingen wörtlich in § 234 StGB ein (letztere seit dem 37. StÄG 2005 in § 233 StGB). Auch bei den Delikten gegen die Allgemeinheit hat Feuerbach zahlreiche Formulierungen in die deutsche Strafgesetzessprache eingebracht. So stammt beim Hochverrat die plastische Formulierung „einen Teil des Staates von diesem loszureißen“ (§ 81 Abs. 1 Nr. 3 und 4 StGB) aus dem bayerischen Strafgesetzbuch (Art. 302 I); das 8. StÄG 1968 hat hieraus ein fades „abtrennen“ gemacht (§§ 82 Abs. 1 Nr. 1, 92 Abs. 1 StGB). In Art. 269 bayStGB wird „ein Eid wissentlich falsch geschworen“ (§ 153 RStGB, inzwischen wurde das Objekt gestrichen), in Art. 319 bayStGB „rottet sich eine Menschenmenge öffentlich zusammen“ (§ 124 StGB). Die Tatbestandsmerkmale des Art. 344 bayStGB: „Wer ächten im Lande umlaufenden Münzen durch Beschneiden oder andere Mittel ihren inneren Wert verringert; wer unächten oder verrufenen Metallstücken durch betrügli___________ 15 Goltdammer, Die Materialien zum Straf-Gesetzbuche für die Preußischen Staaten, Teil II, 1852, Berlin, § 183 Erl. 1. Unzutr. auch insoweit Radbruch VDB. 16 Der zweite Wahltatbestand, das Verlassen in hilfloser Lage, wurde allerdings erst aufgrund des von Tittmann (Handbuch des gemeinen deutschen Peinlichen Rechts, Zweiter Teil, 1807, § 259) beeinflussten sächsischen StGB von 1838 in das preußische und dann das deutsche StGB aufgenommen.

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chen Schein das Ansehen wahrer gültiger Münze, geringeren Münzsorten den äußeren Anschein höherer Münzen giebt …“ fanden sich weit gehend in den §§ 146, 150 RStGB wieder. Auch die genaue Umschreibung der Formen des Siegelbruchs „erbricht, ablöst oder beschädigt“ (§ 136 RStGB) verdanken wir Feuerbach (Art. 410 bayStGB); allerdings stellte schon der Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch von 1909 penibel fest, dass die plastische Tathandlung des Erbrechens neben der des Beschädigens oder Ablösens entbehrlich sei17, und das EGStGB 1975 schaffte sie schließlich ab (und fügte in § 136 StGB den bisherigen § 135 – Verstrickungsbruch – als Abs. 1 ein). Übrigens war der gesamte Tatbestand vor Feuerbach im deutschen Recht unbekannt; Preußen behalf sich mit einer analogen Anwendung von II 20 § 210 ALR.18 Das Vorbild für den Tatbestand fand Feuerbach in Art. 240 des französischen Code pénal von 1810. Aus dem Allgemeinen Teil sind – offensichtlich wegen dessen zahlreicher problematischer Regelungen – nur wenige Formulierungen in die deutsche Strafgesetzessprache eingegangen. Immerhin stammen die Begriffe „Gehilfe“ und „Beihilfe“ aus dem bayerischen Strafgesetzbuch (Art. 73 ff., 80 ff.);19 das preußische ALR sprach noch umständlich von „Hilfe leisten“ und „Beistand leisten“ (II 20 §§ 74,76). Von Feuerbach stammt auch der Begriff der Gewerbsmäßigkeit, der im Rahmen des Kampfes gegen die Organisierte Kriminalität an zahlreichen Stellen in das StGB eingefügt worden ist20 (Art. 85, 86 bayStGB). Das preußische ALR hatte noch die umständliche Formulierung gebraucht „und aus (bzw. von) … ein Gewerbe macht“ (II 20 §§ 310, 317, 1023, 1145, 1209,1 1400). Dies sind die Einflüsse Feuerbachs auf die deutsche Strafgesetzessprache, die mir im Laufe meiner Arbeiten aufgefallen sind. Eine systematische Analyse würde vermutlich noch weitere Nachwirkungen aufdecken.

III. Allgemeine Folgerungen Allgemein hat die Untersuchung einmal mehr gezeigt, dass die sprachliche Formulierung von Gesetzen nicht von der Sache vorgegeben ist, sondern einen

___________ 17

Begründung, S. 498. Goltdammer, Materialien, Teil II, S. 183. 19 Zur Beihilfe bei Feuerbrach eingehend Maiwald, FS Schroeder, 2006, S. 287 ff. 20 Schroeder, Die Entwicklung der Gesetzgebungstechnik, in: Vormbaum/Welp (Hrsg.), Das Strafgesetzbuch, Supplementbd. 1, 2004, S. 381 ff., 412; Meisl, Die Gewerbsmäßigkeit im Strafrecht (Diss. Regensburg), 2005, S. 29 ff. 18

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Friedrich-Christian Schroeder

erheblichen Spielraum eröffnet.21 Neben den Gesetzesinhalt und die Gesetzestechnik22 tritt daher als drittes Element die Gesetzessprache. Dabei besteht für die Individualität und die Kreativität des Gesetzesverfassers ein erheblicher Spielraum, wie gerade die vorliegende Darstellung zeigt. Die Untersuchung hat ferner gezeigt, dass die allgemeine Überzeugung von der Wurzel des Reichsstrafgesetzbuchs und damit auch noch des geltenden Strafgesetzbuchs im preußischen Strafgesetzbuch von 1851 insofern einzuschränken ist, als zahlreiche Tatbestände in ihren wesentlichen Formulierungen aus dem bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 stammen. Dies zeugt im Übrigen von einer anerkennenswerten Aufnahmebereitschaft des preußischen Gesetzgebers.23 Diese Tatsache ist wohl mit ein Grund dafür, dass es 1871 so schnell zu einem gesamtdeutschen Strafgesetzbuch kommen konnte. Übrigens sind die Einflüsse des bayerischen Strafgesetzbuchs von 1813 auf das preußische Strafgesetzbuch von 1851 noch stärker und wurden z. T. im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 aufgegeben.

___________ 21

Siehe schon Schroeder, GS Zipf, 1999, S. 153 ff.; ders., Strafbarkeit und Verantwortlichkeit, FS Tiedemann, 2008, S. 353 ff. 22 Zu ihrem Verhältnis Schroeder, Entwicklung der Gesetzgebungstechnik, S. 382 ff. 23 Zu dem langwierigen Prozess der Schaffung des preußischen StGB von 1851 v. Hippel, S. 314 ff.

Der typische Tatbestandsbegriff in Japan Von Niroku Tateishi

I. Vorwort Unmittelbar nach der Schöpfung des Tatbestandsbegriffs durch Beling (1906) wurde ein solcher auch in Japan eingeführt. Dabei setzte sich die Definition des Verbrechens als tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung durch, und der Gedanke, dass der Tatbestand den Kern des Verbrechens darstellt, wurde allgemein anerkannt. Diese Entwicklung entfachte eine Diskussion über den Inhalt des Tatbestandsbegriffs und über seine Bedeutung im Verbrechensaufbau bildeten sich verschiedene Standpunkte heraus. Im Folgenden sollen die typischen Tatbestandsbegriffe in Japan vorgestellt und kritisch gewürdigt werden.

II. Der typische Tatbestandsbegriff 1. Die Handlungstypustheorie (Takehiko Sone) Nach Sone ist der Tatbestand das Vorstellungsbild (die Form), das die dem Verbrechen, d.h. der jeweiligen Rechtsfolge (der Strafe) entsprechende jeweilige qualitative Rechtsgutsverletzungshandlung abstrakt und allgemein typisiert. Der Tatbestand ist „das Vorstellungsbild“, welches das substantielle, wertende Urteil vermeidet, ob eine Handlung rechtswidrig und schuldhaft begangen wurde oder nicht, und hauptsächlich der Typisierung des Verbrechens dient. Nach dieser Ansicht ist der Tatbestand nur eine Form, sagt jedoch nichts über die Substanz (den materiellen Unwertgehalt) aus. Von der Rechtswidrigkeit und der Schuld unterscheidet den Tatbestand nach der Handlungstypustheorie, dass er die Handlung formal und wertneutral typisiert. So verwirklicht der „normale“ (d.h. rechtswidrige und schuldhafte) Totschlag den Tatbestand in gleicher Weise wie der Totschlag, der in Notwehr begangen wurde. Es entspricht der inneren Logik der Handlungstypustheorie, dass der Tatbestand sowohl die rechtswidrige als auch die gerechtfertigte Handlung einschließt. Dieses Verständnis wurde aus Belings Tatbestandslehre als „die objektive deskriptive Form der Handlung“ entwickelt. Aus der individualisie-

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renden Funktion des Tatbestands folgt allerdings, dass Vorsatz und Fahrlässigkeit als subjektive Tatbestandsmerkmale anzuerkennen sind. Bei der Unterscheidung zwischen dem formalen Tatbegriff und dem materiellen Unrecht geht es im Wesentlichen um das Verhältnis zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit. Geht man dabei – wie Sone – davon aus, dass die Rechtsgutsverletzungstheorie über das Wesen der Rechtswidrigkeit bestimmt und den Zusammenhang Verhältnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit als Regel-Ausnahme-Verhältnis versteht, so ist die Tatbestandsmäßigkeit von der Rechtswidrigkeit danach abzugrenzen, ob eine Rechtsgutsverletzung oder eine Rechtsgutskollision vorliegt. Bei einer Abgrenzung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit nach der Unterscheidung zwischen Form und Substanz muss auch die Bewertung der materiellen Rechtsgutsverletzung aus dem Tatbestand ausscheiden. Sone ist der Ansicht, dass das Rechtsgut, das der Wertsbegriff ist, gewöhnlich nicht in den Tatbestand aufgenommen wird und der Tatbestand sich daher eines Werturteils über die Rechtsgutsverletzung enthält, sondern das konkrete Urteil über das Vorliegen einer Rechtsgutsverletzung der Unrechtslehre überlassen wird. Die die Rechtswidrigkeit indizierende Funktion des Tatbestandes lässt sich insofern nicht leugnen, als die Tatbestandsmäßigkeit die Rechtswidrigkeit tatsächlich indiziert, da die tatbestandsmäßige Handlung in der Regel auch rechtswidrig ist. Aber der Gedanke, welche der Tatbestandsmäßigkeit eine die Rechtswidrigkeit indizierende Funktion im logischen Sinn zuerkennt, ist aus zwei Gründen problematisch. Erstens muss man, wenn man in dem Urteil der Rechtswidrigkeit nur die Feststellung von „Ausnahme“ in Gestalt von Unrechtsausschließungsgründen sehen kann, als Elemente des Verbrechensaufbaus nicht „Tatbestand – Rechtswidrigkeit“, sondern „Tatbestand – Unrechtsausschließungsgründen“ annehmen; aber dadurch ist das entscheidende Element in der Verbrechenslehre nur die „nicht rechtswidrige“ Handlung, die positive Feststellung einer „rechtswidrigen Handlung“ ist nicht möglich. Zweitens kann man, wenn die Aufgabe der Unrechtslehre nur darin besteht, die Rechtswidrigkeit festzustellen über den Grad des Unrechts keine Aussage treffen. Eine die Schuld indizierende Funktion des Tatbestands kann vom Standpunkt Sones, der Vorsatz und die Fahrlässigkeit als Bestandteile des Tatbestands anerkennt, bejaht werden, und so wird in der Tat die Existenz von Vorsatz und Fahrlässigkeit als Schuldelement vermutet und in diesem Sinn kann man auch den Begriff der „Schuldvermutung“ verwendet werden. Der Tatbestandsvorsatz und die Tatbestandsfahrlässigkeit sind als Schuldmerkmale Objekt der Schuldbewertung, und damit als (subjektive) Tatbestandsmerkmale auch Elemente, die der das Verbrechen individualisierenden Funktion dienen. Dabei bestehen zwischen dem Tatbestandsvorsatz und dem

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Schuldvorsatz Unterschiede in Bezug auf den Inhalt und den Maßstab der Sorgfaltspflicht (der Sorgfaltsfähigkeit).1 Sone sagt, dass das Rechtsgut, das der Wertsbegriff ist, gewöhnlich nicht in den Tatbestand aufgenommen wird, und der Tatbestand keine Aussage über die Rechtsgutsverletzung trifft. Aber z.B. beim Totschlag ist das geschützte Rechtsgut das Leben des Menschen, und der Tatbestand „einen Menschen zu töten“ und die den Menschen tötende Handlung bedeutet, vor der natürlichen Todesstunde das Leben des anderen Menschen zu beenden. Man sollte meinen, dass der Tatbestand des Totschlags sich entschieden über die Rechtsgutsverletzung erklärt. Die Auffassung von Sone, welche die Beziehung zwischen dem Tatbestand und der Rechtswidrigkeit als „Form – Substanz“ Zusammenhang denkt, geht fehl. Sone geht von einer die Rechtswidrigkeit tatsächlich indizierenden Funktion des Tatbestands aus, aber dieser Auffassung kann nicht zugestimmt werden, da der Tatbestand nach Sone in gleicher Weise die rechtswidrige Handlung und die nicht rechtswidrige Handlung enthält. Anstelle von Sone sollte man sowohl eine die Rechtswidrigkeit indizierende Funktion als auch eine die Rechtmäßigkeit indizierende Funktion anerkennen; es ist daher nicht nachvollziehbar, dass Sone nur die erste anerkennt. Sone behauptet, als Elemente, die der das Verbrechen individualisierenden Funktion dienen, den Tatbestandsvorsatz und die Tatbestandsfahrlässigkeit in den Tatbestand aufzunehmen. Aber auch dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden, weil sie dem Inhalt der Behauptung von der „Handlungstypustheorie“, die den Tatbestand nicht nur von der Schuld, sondern auch von der Rechtswidrigkeit entschieden trennt, und formal wertneutral hauptsächlich als Typus der Handlung versteht, nicht entspricht. Wenn man der Handlungstypustheorie folgt, so sollte man den Vorsatz und die Fahrlässigkeit, die von diesem Standpunkt aus Schuldelementen sind, nicht in den Tatbestand aufnehmen. Aus diesen Gründen kann ich der Handlungstypustheorie nicht zustimmen.

2. Unrechtstypustheorie Die Unrechtstypustheorie ist in Japan sehr verbreitet und einflussreich. Es gibt zwei Arten der Unrechtstypustheorie, die eine vertritt das dreistufige Sys___________ 1 Takehiko Sone, Der Tatbestand als Handlungstypus, Der Rechtswissenschaftshörsaal, Vol. 166 ( 1994), 8-11; ders., Strafrecht, Allg. Teil, 4. Aufl. 2008, S. 58 f.

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tem („Tatbestand – Rechtswidrigkeit – Schuld“), die andere das zweistufige System („Unrecht – Schuld“); außerdem werden beide Arten in zwei Teile geteilt.

a) Die Theorie vom Erkenntnisgrund der Rechtswidrigkeit (aa) Die Theorie vom Erkenntnisgrund der Handlungsunwertslehre (Taira Fukuda) Fukuda bezeichnet das Verbrechen als tatbestandsmäßiges, rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten und folgt dem dreistufigen Verbrechensaufbau, in dem er von den drei Stufen Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld ausgeht. Nach Fukuda ist der Tatbestand die Verbotsmaterie, die gegenständlich und sachlich umschrieben wird, und der Tatbestand ist daher nicht wertfrei oder wertneutral, weil die Tatbestandsmäßigkeit über die strafrechtliche Relevanz des Verhaltens entscheidet. Der Tatbestand hat die Funktion, das strafrechtlich relevante Verhalten und das strafrechtlich nicht relevante Verhalten voneinander abzuschneiden, deshalb gewinnt der Tatbestand die Stellung als selbstständiges Verbrechenselement vor der Rechtswidrigkeit und der Schuld. Die Tatbestandsmäßigkeit entscheidet nicht über die Rechtswidrigkeit des konkreten Verhaltens, weil der Tatbestand lediglich der spezielle Unrechtstypus ist. Aber die Tatbestandsmäßigkeit ist ein Indiz für die Rechtswidrigkeit und der Erkenntnisgrund der Rechtswidrigkeit, weil der Tatbestand die Verbotsmaterie gegenständlich umschreibt. In diesem Sinne behauptet Fukuda, dass der Tatbestand der Unrechtstypus ist, und gegen die Theorie vom Tatbestand als eines Unrechts- und Schuldtypus wendet er ein, dass die Anerkennung der die Schuld indizierenden Funktion der Tatbestandsmäßigkeit unsinnig sei, weil man die Existenz der Schuld positiv feststellen müsse und die Tatbestandsmäßigkeit nicht der Erkenntnisgrund der Schuld sei, weil man zwischen dem Vorliegen der Rechtswidrigkeit und dem Vorliegen der Schuld unterscheiden müsse. Was die Tatbestandsmerkmale betrifft, so erkennt Fukuda nicht nur die Existenz von deskriptiven und objektiven Merkmalen an, sondern zusätzlich auch die Existenz von normativen und subjektiven Merkmalen. Fukudas Ansicht beruht auf der Lehre vom Handlungsunwert.2 Auch diese Lehre, die vom dreistufigen Verbrechenssystem ausgeht und den Tatbestand als Unrechtstypus ansieht, der auch die Rechtswidrigkeit indiziert, hat in Japan einflussreiche Anhänger. Aber wenn es keine Unrechtsausschließungsgründe gibt und die tatbestandsmäßige Handlung als rechtswidrig angesehen wird, entsteht der Verdacht, dass die Erkenntnisgrundtheorie ver___________ 2

Teira Fukuda, Strafrecht, Allg. Teil, 4. Aufl. 2004, S. 54 f., 69 f. und passim.

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nachlässigt wird, weil dabei der Tatbestand die Existenz der Rechtswidrigkeit positiv begründen muss. Es darf nicht vergessen werden, dass darin der wichtige Grund für die Existenz der Realgrundstheorie liegt. Fukuda folgt auch der strengen Schuldtheorie. Aber wenn man der Schuldtheorie folgt, muss der Vorsatzbegriff ein leerer Begriff werden, denn die Schuldtheorie trennt systematisch die Erkenntnis der tatbestandsmäßigen Tatsachen vom Bewusstsein der Rechtswidrigkeit. Aus diesem Grunde scheint mir die Meinung von Fukuda nicht plausibel. Fukuda ist im Übrigen auch ein bekannter Anhänger der finalen Handlungslehre in Japan.

(bb) Die Theorie vom Erkenntnisgrund der Erfolgsunwertslehre (Atsushi Yamaguchi) Nach Yamaguchi ist das Verbrechen die strafwürdige Handlung, der Tatbestand ist also der gesetzlich bestimmte Typus der strafwürdigen Handlung und die Strafwürdigkeit der Handlung wird durch die Rechtswidrigkeit und die Schuld begründet, welche die substantiellen, konstitutiven Elemente des Verbrechens sind, wohingegen der Tatbestand jedenfalls als Unrechtshandlungstypus erfasst werden soll, weil bei der Gestaltung des Typus der strafwürdige Unrechtshandlung auch die Schuldelemente natürlich berücksichtigt werden. Aber wenn die Schuldelemente als Tatbestandsmerkmale in den Tatbestand aufgenommen werden, haben sie als objektive Elemente den Sinn, den Unrechtshandlungstypus objektiv zu bestimmen (außer den Fall der subjektiven Elemente wie die Zueignungsabsicht im Diebstahlsdelikt usw.), und verlieren dadurch ihren Sinn als Schuldelement (Der Sinn als Schuldelement wird nur durch die Kenntnis des Handelnden begründet.). Yamaguchi versteht den Tatbestand als strafwürdigen Unrechtshandlungstypus, so dass er dem Tatbestand eine die Rechtswidrigkeit indizierende Funktion zuweist. Vom Standpunkt, der den Vorsatz und die Fahrlässigkeit nicht als Unrechts-, sondern als Schuldelemente versteht, gehören der Vorsatz und die Fahrlässigkeit nicht zum Tatbestand als Unrechtshandlungstypus. Damit verliert der Tatbestand die das Verbrechen individualisierende Funktion. Yamaguchi erfasst die das Verbrechen individualisierende Funktion über einen anderen Begriff, den „Deliktstypus“, der die Tatbestandsmäßigkeit, den Vorsatz und die Fahrlässigkeit verbindet (z.B. das Totschlagsdelikt und das fahrlässige Tötungsdelikt weisen grundsätzliche Übereinstimmungen im Tatbestand, aber Unterschiede im Deliktstypus auf, der durch die Ergänzung von Vorsatz bzw. Fahrlässigkeit zu dem jeweiligen Tatbestand ausgestaltet wird). Yamaguchi baut auf der Lehre vom Erfolgsunwert auf. Wenn man den Vorsatz und die Fahrlässigkeit als Merkmale, welche die Strafwürdigkeit der Handlung betreffen, in den Tatbestand aufnimmt, so erhält

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„der objektive Tatbestand“, der den Vorsatz und die Fahrlässigkeit vom Tatbestand ausschließt, eine den Vorsatz regelnde Funktion. Hier verschiebt sich der Begriff eine Stufe, der Tatbestand ist einerseits der objektive Tatbestand, andererseits bestimmt der Deliktstypus den Tatbestand. Zu den Tatbestandsmerkmalen zählen das Subjekt, die Handlung, der Erfolg, der kausale Zusammenhang, die Täterschaft und das subjektive Element.3 Auch der Auffassung von Yamaguchi liegt der dreistufige Verbrechensaufbau zu Grunde und der Tatbestand ist nach Yamaguchi der Erkenntnisgrund der Rechtswidrigkeit und erhält damit eine die Rechtswidrigkeit indizierende Funktion. Wenn es aber keine Unrechtsausschließungsgründe gibt, so muss der Tatbestand die Rechtswidrigkeit der Handlung positiv begründen. Also muss der Tatbestand der Realgrund der Rechtswidrigkeit sein, so dass man zu einem zweistufigen Verbrechensaufbau (Unrecht – Schuld) gelangt. Weiter zieht Yamaguchi aus seiner Ansicht, die den Vorsatz und die Fahrlässigkeit nicht als Unrechts-, sondern als Schuldelemente begreift, die Konsequenz, dass der Vorsatz und die Fahrlässigkeit keine Tatbestandsmerkmale sind. Damit verliert der Tatbestand die das Verbrechen individualisierende Funktion. Vom Standpunkt der Lehre vom Erfolgsunwert ist diese Schlussfolgerung durchaus konsequent, stößt aber in ihren Weiterungen auf erhebliche theoretische Bedenken, denn auf diese Weise wird das Urteil über das Verbrechen in die Schuld verlagert: Bis der Inhalt von Vorsatz und der Fahrlässigkeit geklärt worden ist, kann nicht festgestellt werden, welches Verbrechen ausgeführt wurde. Außerdem ist in der Lehre von Yamaguchi der inhaltliche und systematische Zusammenhang von „Tatbestand“ und „Deliktstypus“ nicht deutlich. Insbesondere erscheint der Begriff des „Deliktstypus“ unverständlich. Die Anknüpfung an die Lehre vom Erfolgsunwert weckt den Verdacht, dass der „Deliktstypus“ auf der Schuldebene anzusiedeln ist, weil in der Lehre von Erfolgsunwert Vorsatz und Fahrlässigkeit erst im Rahmen der Schuld erörtert werden. Yamaguchi behauptet, wenn man den Vorsatz und die Fahrlässigkeit als Merkmale, welche die Strafwürdigkeit der Handlung betreffen, in den Tatbestand aufnimmt, so sei dafür der besondere Tatbestand, d.h. der „Deliktstypus“, zu begründen. Aber erstens ist es widersprüchlich, dass Yamaguchi einerseits der Lehre vom Erfolgsunwert zustimmt, andererseits aber Vorsatz und die Fahrlässigkeit in den Tatbestand hereinnimmt. Zweitens kann ich die Auffassung von Yamaguchi, nämlich den Tatbestand einerseits als objektiven Tatbestand, den Deliktstypus aber wiederum als Tatbestand zu verstehen, nicht nachvollziehen. Es ___________ 3

Atsushi Yamaguchi, Strafrecht, Allg. Teil, 2. Aufl. 2007, S. 32 ff.

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stellt sich die Frage, wo und wie der Begriff des objektiven Tatbestands und des Deliktstypus im dreistufigen Verbrechenssystem (Tatbestand – Rechtswidrigkeit – Schuld) eingeordnet werden soll. Deshalb vermag ich der Auffassung von Yamaguchi nicht zu folgen.

b) Die Theorie vom Realgrund der Rechtswidrigkeit (aa) Die den Tatbestand in die Rechtswidrigkeit integrierende Theorie (Haruo Nishihara) Nach Nishihara ist der Tatbestand das Vorstellungsbild, das die der Strafdrohung entsprechende heterogene normwidrige Handlung abstrakt allgemein typisiert, und weil die Rechtswidrigkeit zugleich die Normwidrigkeit ist, ist seiner Auffassung nach der Tatbestand der Typus der rechtswidrigen Handlung, d.h. der Unrechtstypus. Was den Zusammenhang zwischen Tatbestand und Rechtswidrigkeit betrifft, so sind die beiden nicht begrifflich gleich, aber soweit man in Betracht zieht, dass der Tatbestand der Typus der rechtswidrigen Handlung ist, ist der eine Begriff gewissermaßen die Kehrseite des anderen Begriffs. Nach Nishihara hat die Strafrechtsnorm eine doppelte Struktur. Jede Norm enthält als erste Stufe den Gedanken „ohne berechtigten Grund“, und weil der Tatbestand nur die zweite Stufe z.B. „nicht töten“ typisiert, d.h. nur den Teil, der die Norm bildenden Merkmale im Längsschnitt typisiert, so wird in dem Bereich, der die Unrechtsausschließungsgründe noch nicht enthält, anerkannt, dass die Tatbestandsmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit gewissermaßen eine Vorderseite und eine Rückseite bilden. Es gibt keine Rechtswidrigkeit ohne Tatbestandsmäßigkeit und die tatbestandsmäßige Handlung ist rechtswidrig, solange nicht Unrechtsausschließungsgründe eingreifen. Die Tatbestandsmäßigkeit versteht die Rechtswidrigkeit als Normwidrigkeit und sie hat nicht die Stellung einer selbstständigen Wertungsstufe innerhalb des Verbrechensaufbaus, sondern erfasst sie über den Begriff des Unrechts. Außerdem können Inhalt und Umfang des Unrechts häufig nicht ohne das Urteil der Rechtswidrigkeit festgestellt werden. Der Tatbestand wird teleologisch vor die Bewertung des konkreten Verhaltens als rechtswidrig gesetzt, aber in Wirklichkeit bestimmt man nicht die Tatbestandsmäßigkeit im Voraus, sondern das Urteil der Tatbestandsmäßigkeit und das der Rechtswidrigkeit bedingen sich gegenseitig. Nishihara folgt dem zweistufigen Verbrechensaufbau und ist Anhänger des Tatbestandsbegriffs von Mezger und ist zugleich Anhänger der Schuldtheorie.4 ___________ 4

Haruo Nishihara, Strafrecht, Allg. Teil, 2. Aufl. 1994, Erster Teil, S. 145 f.

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Auch ich folge dem Tatbestandsbegriff von Mezger, was jedoch später zu erörtern ist.

(bb) Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (Yoshikatsu Naka) Naka war der wichtigste Strafrechtslehrer, der die „Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen“in Japan vertrat. In Japan gibt es wenige Strafrechtslehrer, die ihr anhängen. Nach Naka ist der Tatbestand der Typus der strafbaren rechtswidrigen Handlung, der Realgrund der Rechtswidrigkeit, und zwar im Sinne aller die Rechtswidrigkeit begründenden (positiven und negativen) Merkmale. Naka folgte der eingeschränkten Schuldtheorie und stellte die Appellfunktion des Tatbestandsvorsatzes in den Vordergrund. Er erklärte, mit dem Schuldvorwurf werde dem Täter der Entschluss, tatbestandsmäßig und rechtswidrig zu handeln, vorgeworfen, obwohl er diesen Entschluss hätte vermeiden können. Dementsprechend setzt ein solcher Schuldvorwurf voraus, dass derjenige, der den Tatbestandsvorsatz hat, zugleich die Möglichkeit hat, durch seinen Vorstellungsinhalt das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit seiner Handlung zu haben. Wenn dies nicht der Fall ist, so hat er keinen Anhaltspunkt, sein Handlungsziel zu vermeiden, und es entfällt die Grundlage für einen Schuldvorwurf. Also muss der Tatbestandsvorsatz als Gegenstand des Schuldvorwurfs der Appellfunktion genügen, durch diesen Vorstellungsinhalt zum Bewusstsein der Rechtswidrigkeit zu gelangen. Daher muss der Vorsatz, wenn er Tatbestandsvorsatz sein soll, als negativen Vorstellungsinhalt die Merkmale des Rechtfertigungsgrundes enthalten.5 Wenn man das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ohne die Erkenntnis der die Rechtswidrigkeit begründenden Tatsachen nicht haben kann, so muss man die Tatsachen kennen, die den Unrechtstatbestand begründen und zugleich das Nichtvorhandensein der Unrechtsausschließungsgründe erkennen. In diesem Sinne muss also der Vorsatz ein Tatbestandsvorsatz sein, der die Unrechtsausschließungsgründe als negativen Vorstellungsinhalt hat. Aber die Schuldtheorie trennt systematisch die Erkenntnis der tatbestandsmäßigen Tatsache vom Bewusstsein der Rechtswidrigkeit und ordnet die erstere dem Tatbestand, letztere aber der Schuld zu, so dass der Vorsatzbegriff ein leerer Begriff wird.

___________ 5 Yoshikatsu Naka, Strafrecht, Allg. Teil, 1971, S. 86 ff.; ders., Lehre von der Putativnotwehr, 1971, S. 266.

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Ferner ist zu bedenken, dass, wenn man einen Gesamtunrechtstatbestand zugrunde legt, Schwächen in der Tatbestandslehre nicht zu vermeiden sind. Insoweit sei auf die folgenden drei Punkte hingewiesen: Erstens wäre der Totschlag in Notwehr und die Tötung einer Fliege strafrechtlich gleichwertig (in beiden Fällen ist die Unrechtstatbestand nicht gegeben). Zweitens kann man aus logischen Gründen keine Reihenfolge im Urteil über die Tatbestandsmäßigkeit und die Existenz der Unrechtsausschließungsgründe finden. Drittens ist es kaum möglich, gesetzliche Unrechtsausschließungsgründe als im Tatbestand vorhanden anzusehen. Aus diesen Gründen scheint mir die Lehre von Naka nicht überzeugend zu sein.

3. Die Theorie vom Tatbestand als Unrechtsund Schuldtypus a) Die Auffassung von Shigemitsu Dando Nach Dando ist der Tatbestand die feste Verbrechensform, die vom Gesetzgeber aus den Typen der unzähligen kriminologisch strafwürdigen Handlungen in die feste Form der rechtlich strafbaren Handlung erhoben wird, und diese feste Verbrechensform hat die rechtliche Bedeutung, dass diese nunmehr umschriebene Handlung dem Täter auch förmlich vorwerfbar wird, d.h. der Tatbestand ist „die rechtlich feste Form der rechtswidrigen und schuldhaften Handlung“. Wie man die feste Form des jeweiligen Tatbestands ermittelt, hängt von der Auslegung ab, doch ist dabei das geschützte Rechtsgut zu berücksichtigen. Der Hauptbestandteil der Tatbestandsmerkmale als Unrechtstypus ist die objektive Seite der Handlung (die normativen Tatbestandsmerkmale, die Pflichten zum Tätigwerden bei den Unterlassungsdelikten usw.), aber es werden auch subjektive Rechtswidrigkeitsmerkmale (die subjektiven Tatbestandmerkmale im Tatbestand) bejaht und der Vorsatz wird auch als Merkmal der Rechtswidrigkeit angesehen. Die Tatbestandsmerkmale im Sinne eines Schuldtypus bestehen aus dem Tatbestandsvorsatz und der Tatbestandsfahrlässigkeit (teilweise auch als Rechtswidrigkeitsmerkmale, aber hauptsächlich aus den formalisierten Schuldmerkmalen), der Berücksichtigung der Zumutbarkeit und der Bewertung persönlicher Verhältnisse des Täters (z.B. Gewohnheitsmäßigkeit) bei Prüfung der fest umrissenen Verbrechensform. Bildlich gesprochen, ist die Tatbestandsmäßigkeit das äußere und formale Problem, die Rechtswidrigkeit das äußere und materiale Problem, die Schuld das innere und materiale Problem. Durch diese drei Elemente wird der Tatbestand zur Voraussetzung der Rechtswidrigkeit und die Rechtswidrigkeit zur Voraussetzung der Schuld. Diese drei Elemente – vom

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äußeren zum inneren Fortschreiten – überlappen sich also, und die Tatbestandsmäßigkeit hat eine die Rechtswidrigkeit indizierende Funktion, gleichzeitig aber auch eine die Schuld indizierende Funktion.6 Das Charakteristikum der Theorie Dandos besteht darin, dass Dando den Tatbestand als Unrechtstypus und als Schuldtypus betrachtet und die Merkmale, die sowohl die Rechtswidrigkeit als auch die Schuld typisieren könnten, der Kategorie des „Tatbestands“zuweist. Damit macht er diese Merkmale zu Tatbestandsmerkmalen (im Hinblick auf die Erfüllung der individualisierenden Funktion des Tatbestands) und er weist der Tatbestandsmäßigkeit die Funktion zu, Rechtswidrigkeit und Schuld zu indizieren, wodurch seine „Theorie der festen Form“entsteht. Dando erkennt den werthaltigen und auch subjektive Elemente enthaltenden Charakter des Tatbestands an, aber seine Auffassung ist keineswegs identisch mit der Theorie des Tatbestands als Realgrund. Der wichtigste Punkt in der Theorie Dandos besteht darin, dass er den Tatbestand auch als Schuldtypus betrachtet. Aber der Grund seines Denkens ist nicht immer deutlich. Weil die Schuldelemente, z.B. die Schuldfähigkeit, der Vorsatz, die Fahrlässigkeit, die Zumutbarkeit usw. seiner Ansicht nach in der Schuld positiv festgestellt werden müssen, hat die schuldindizierende Funktion im Schuldtypus ihre Grenze. Daher müsste auch Dando richtigerweise den Tatbestand als Unrechtstypus verstehen. Wenn Dando ihn so versteht, kann er an Vorsatz und Fahrlässigkeit Tatbestandsmerkmalen festhalten, und er beeinträchtigt nicht die individualisierende Funktion des Tatbestands, weil Vorsatz und Fahrlässigkeit auch in der Lehre von Dando Rechtswidrigkeitsmerkmale sind. Außerdem muss im Fall des „offenen Tatbestands“das Urteil über Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit gleichzeitig gefällt werden, so dass man daraus hier ersehen kann, dass es theoretisch keinen Unterschied zwischen der Theorie von Dando und der Realgrundtheorie gibt. Die Auffassung von Dando zur Lehre vom Tatbestand wird in Japan von vielen Autoren geteilt.

b) Die Auffassung von Minoru Oya Nach Oya ist „der Tatbestand der Typus oder der feste Typus der durch die Strafbestimmung bestimmte, rechtswidrige, schuldhafte und strafwürdige Handlung“. Er sieht in dem Tatbestand den Erkenntnisgrund der Rechtswidrigkeit und der Schuld, weist also der Tatbestandsmäßigkeit eine die Rechtswidrigkeit und die Schuld indizierende Funktion zu. ___________ 6 Shigemitsu Dando, Grundzüge des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Aufl. 1990, S. 100 ff., 147, 200, 271 und passim.

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Nach Oya vollzieht sich der gedankliche Aufbau der Straftat im System der Verbrechenslehre in den drei Stufen „Tatbestandsmäßigkeit – Unrechtsausschließungsgründe – Schuldausschließungsgründe“. Des Weiteren meint Oya, dass auf der Grundlage der Theorie vom Tatbestand als Unrecht- und Schuldtypus, die Auffassung, die trotz der Tatbestandsmäßigkeit die Schuld noch einmal positiv feststellen muss, einflussreich ist, aber nach dieser Auffassung, wenngleich der Tatbestand sowohl als Unrechtstypus als auch als Schuldtypus verstanden wird, diese Behauptung fast keinen Sinn mehr hat, da der Schuldtypus die Schuld nicht indiziert. Darüber hinaus erklärt Oya, dass die tatbestandsmäßigen Umstände grundsätzlich das Verbrechen begründen, da der Tatbestand die das Verbrechen konstituierenden, grundlegenden Elemente enthält. In dem Fall, in dem die Tatbestandsmäßigkeit ausnahmsweise keine Straftat begründet, so bezeichnet man den dafür maßgeblichen Umstand als Grund, der die Begründung eines strafbaren Verbrechens ausschließt. Diese Gründe lassen sich Unrechts- und Schuldausschließungsgründe einteilen. Der Unrechtsausschließungsgrund enthält die gerechtfertigte Handlung, die Notwehr und den Notstand, der Schuldausschließungsgrund enthält die Schuldunfähigkeit (verminderte Schuldfähigkeit), die fehlende Möglichkeit des Unrechtsbewusstseins und die Unzumutbarkeit. Oya folgt der strengen Schuldtheorie an. Als Funktionen des Tatbestands sieht Oya erstens die teleologische Funktion „die Rechtswidrigkeit und Schuld indizierende Funktion“ sowie „die systematische Funktion“, die die nötige Elemente für die Begründung der Straftat systematisiert, zweitens die soziale Funktion „die Garantiefunktion“, „die das Verbrechen individualisierende Funktion“ (der Vorsatz und die Fahrlässigkeit haben die das Verbrechen individualisierende Funktion als subjektiven Elemente des Tatbestands), und „die den Vorsatz regelnde Funktion“.7 An der Auffassung von Oya ist eigentümlich, dass das System der Verbrechenslehre als „Tatbestandsmäßigkeit – Unrechtsausschließungsgrund – Schuldausschließungsgrund“ gestaltet wird. In diesem Verständnis setzt die Kritik an. So lässt sich das Verhältnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit über die Begriffe „Tatbestandsmäßigkeit – Unrechtsausschließungsgrund“ erfassen, aber in dem Verhältnis von Tatbestand und Schuld kann man nicht mit „Tatbestandsmäßigkeit – Schuldausschließungsgrund“ beschreiben, weil die eigentümlichen positiven Elemente der Schuld im Tatbestand nicht typisiert werden. Es ist daher ausgeschlossen, die Schuldfähigkeit, die Möglichkeit des Unrechtsbewusstseins, die Zumutbarkeit usw. als Schuldausschließungsgrund einzuordnen. ___________ 7 Minoru Oya, Strafrechtsvorlesung, Allg. Teil, 3. Aufl.2009, S. 107, 112 ff., 234, 309 und passim.

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Im Rahmen der Schuld bedürfen diese Voraussetzungen einer positiven Feststellung. Oya folgt der strengen Schuldtheorie. Wenn man der Schuldtheorie folgt, muss der Vorsatzbegriff ein leerer Begriff werden, da die Schuldtheorie die Erkenntnis der tatbestandsmäßigen Tatsachen vom Bewusstsein der Rechtswidrigkeit systematisch trennt. Ich kann der Ansicht von Oya daher nicht zustimmen. Allerdings wird von Oya die das Verbrechen individualisierende Funktion des Tatbestands anerkannt, so dass Vorsatz und Fahrlässigkeit als Tatbestandsmerkmale angesehen werden. Es wird also bereits auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit deutlich, welches Verbrechen begangen worden ist. Darin liegt aus meiner Sicht ein Vorzug dieser Auffassung.

4. Die Theorie von objektivem und subjektivem Tatbestand a) Die Auffassung von Masahide Maeda Maeda definiert den Tatbestand als „strafwürdige, rechtswidrige und schuldhafte Typus der Handlung“, folgt damit im Ausgangspunkt der Lehre vom Tatbestand als Unrechts- und Schuldtypus. Während die Unrechts- und Schuldtypustheorie in Japan den objektiven Tatbestand (den Unrechtstatbestand) und den subjektiven Tatbestand (den Schuldtatbestand) zusammenfasst und als einen einheitlichen Tatbestand (den Unrechts- und Schuldtatbestand) versteht, vertritt Maeda die Ansicht, dass man den auf das Unrecht bezogenen objektiven Tatbestand und den die Schuld typisierenden subjektiven Tatbestand unterscheiden und die beide jeweils für sich untersuchen muss, denn die Substanz der Verbrechenslehre wird in der Unrechtslehre durch die objektiven Umstände und in die Schuldlehre durch die subjektiven Umstände bestimmt. Wenn man den Tatbestand aus der Perspektive des Unrechts sieht, ist der Tatbestand das, was „die Handlung mit dem strafwürdigen Übel“ (der objektive Tatbestand) objektiv typisiert; der einzelne Tatbestand wird durch die Handlung, den Erfolg und den Kausalzusammenhang bestimmt. Wenn man den Tatbestand aus der Perspektive der Schuld sieht, ist der Tatbestand das, was die subjektive Umstände (z.B. der Vorsatz, die Fahrlässigkeit, der bestimmte Zweck usw.), die der Vorstellung des gegenwärtigen japanische Volk für die Vorwerfbarkeit maßgeblich sind, typisiert (der subjektive Tatbestand). Eine Handlung ist danach tatbestandsmäßig, wenn „grundsätzlich die strafwürdige Rechtswidrigkeit existiert und der Schuldvorwurf möglich ist“, mit dem Urteil über die Tatbestandsmäßigkeit wird der Teil der strafrechtlichen Würdigung, die deliktischen Handlungen einzuordnen, abgeschlossen.

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Auch wenn die Handlung dem im Tatbestand normierten Grundsatztypus entspricht, gibt es ausnahmsweise den die Strafbarkeit ausschließenden besonderen Fall. So fehlt, wenn die Handlung zwar den objektiven Tatbestand verwirklicht, aber zugleich ein Unrechtsausschließungsgrund (Notwehr, Notstand usw.) in der objektiven Seite vorliegt, das verbrechensbegründende Element der Rechtswidrigkeit (die objektive Seite) und eine Straftat liegt nicht vor. Gleiches gilt, wenn zwar der subjektive Tatbestand gegeben ist, nach der Vorstellung des Täters aber Unrechtsausschließungsgründe eingreifen, die Zumutbarkeit nicht gegeben ist, die Schuldfähigkeit nicht vorliegt usw., so dass eine schuldhafte Tat zu verneinen ist. Die Prüfungsreihenfolge im System der Verbrechenslehre Maedas ist „der objektive Tatbestand und der subjektive Tatbestand – die Unrechtsausschließungsgründe – die Schuldausschließungsgründe“.8 Kennzeichen des Tatbestandsbegriffs von Maeda ist das Nebeneinander des objektiven Tatbestands und des subjektiven Tatbestands. Auf der objektiven Seite, entspricht der objektive Tatbestand (der Grundsatz) den Unrechtsausschließungsgründe (den Ausnahmen), auf der subjektiven Seite, entspricht der subjektive Tatbestand (der Grundsatz) den Schuldausschließungsgründe (den Ausnahmen). Diese Struktur ist auf den ersten Blick logisch und klar. Aber wenn man von diesem Standpunkt aus sagt, dass ein Verhalten „nicht tatbestandsmäßig ist“, so muss man genauer erklären, von welchem Tatbestand die Rede ist, und an dieser Stelle wird es systematisch und logisch kompliziert. Ob man die Beziehung „des objektiven Tatbestands – der Unrechtsausschließungsgründe“ und die Beziehung „des subjektiven Tatbestands – der Schuldausschließungsgründe“ parallel erfassen kann, ist zweifelhaft. Insbesondere bei der Schuldfähigkeit, die in die Schuldausschließungsgründe aufgenommen wird, muss nicht nur geprüft werden, „ob sie vorliegt“, sondern auch in welchem „Grad“ sie gegeben ist, d.h. die Schuldfähigkeit ist nicht als Ausschließungsgrund, sondern als positives substantielles Schuldelement anzusehen. Es ist daher nicht zutreffend, die Schuldfähigkeit in die Schuldausschließungsgründe aufzunehmen. Auf diese Gründe kann ich der Auffassung von Maeda nicht zustimmen.

b) Die Auffassung von Keiichi Yamanaka Yamanaka sagt, dass man bisher davon ausgegangen sei, dass der Unrechtstatbestand ein Konzept sei, der als Elemente die objektiven und die subjektiven Tatbestandsmerkmale enthalte, dass es aber vielmehr zwei Tatbestände gebe: ___________ 8 Masahide Maeda, Strafrechtsvorlesung, Allg. Teil, 4. Aufl. 2006, S. 37 ff., 56 ff., 90, 95, 291 ff., 369 ff.

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den „objektiven Tatbestand“, der allein aus den objektiven Tatbestandsmerkmalen besteht, und den „subjektiven Tatbestand“, der allein die subjektiven Tatbestandsmerkmale enthält, die ein Spiegelbild des objektiven Tatbestands in der Vorstellung des Subjekts sind. Um beide Elemente in dem System der Verbrechenslehre zu vereinigen, wird „der Deliktstatbestand“ als erste Stufe im Verbrechensaufbau geschaffen. Nach Yamanaka ist der Unrechtstatbestand im bisherigen Sinn gleichbedeutend mit dem objektiven Tatbestand; demgegenüber sei es verfehlt und führe zu unnötiger Verwirrung, wenn man die subjektiven Unrechtselemente mit den Merkmalen des objektiven Tatbestandes vermenge. Der objektive Tatbestand umfasst danach die äußere Seite des Unrechts. In dem objektiven Tatbestand wird der typische Unrechtsinhalt festgestellt. Dieser hat die Funktion, dem Volk den Inhalt des strafbewehrten Verbotes (des Verbrechens) vor Augen zu führen und damit auf eine Verhaltenskontrolle hinzuwirken, sowie die Funktion, über die Voraussetzungen der Strafbarkeit aufzuklären, indem die erste Stufe für die Anwendung der Bestrafungsnorm (der Verhängung von Strafe) ausgestaltet wird. Insbesondere bedeutet die erstgenannte Funktion des Tatbestandes, dass dieser für den Handelnden zum Objekt subjektiver Erkenntnis wird, d.h. der objektive Tatbestand wird Gegenstand der im subjektiven Tatbestand erforderlichen Kenntnis (die den Vorsatz regelnde Funktion). Deshalb sind das Subjekt der Handlung, die Handlung, der Kausalzusammenhang, der Erfolg, die Handlungsumstände usw. die Elemente des objektiven Tatbestands. Die Gesamtheit dieser Elemente bestimmt den Unrechtshandlungstypus, so dass man sagen kann, dass der Unrechtstypus damit umfassend beschrieben wird. Der subjektive Tatbestand wird hauptsächlich von den Elementen, die den jeweiligen objektiven Tatbestand subjektiv spiegeln, bestimmt. Aber diese Elemente begründen das Unrecht nicht und üben den Einfluss auf die Stärke des Unrechts nicht aus, sondern führen ohne Verbindung mit dem Unrecht nur die Funktionen aus, die das Verbrechen individualisieren oder limitieren. Der subjektive Tatbestand ist das Element, das die Voraussetzung des Schuldvorwurfs normiert, hat aber nicht den Sinn eines Schuldtypus. Der subjektive Tatbestand besteht aus der Summe der subjektiven Tatbestandsmerkmale (z. B. der Vorsatz, der Zweck, usw.). Der Vorsatz typisiert den Unrechtshandlungstypus, in diesem Sinn wird das Verbrechen erst durch die Existenz der objektiven Tatbestandsmerkmale und den entsprechenden Vorsatz individualisiert. Erst mit dem Vorliegen der Totschlagshandlung im objektiven Sinn und des entsprechenden Totschlagsvorsatzes wird der Deliktstatbestand des Totschlags erfüllt. Die subjektiven Tatbestandsmerkmale wie „die Absicht“ bei den Absichtsdelikten begründen über ihr Vorliegen nicht die Rechtswidrigkeit und beeinflussen auch nicht die Schwere des Unrechts. Sie beschreiben nur eine Vorstel-

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lung, welche die im objektiven Tatbestand geforderte „Gefährlichkeit der Handling“ als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal widerspiegelt, und haben insoweit allein die Funktion, den Deliktstypus zu präzisieren. Noch wichtiger ist, dass sich die Anerkennung des Vorsatzes als subjektives Tatbestandsmerkmal nicht nur auf die objektiven Tatbestandsmerkmale, sondern auch auf die tatsächlichen Voraussetzungen der Unrechtsausschließungsgründe auf der Ebene der Rechtswidrigkeit bezieht. Man kann also sagen, dass der subjektive Tatbestand die subjektiven Elemente, welche die objektiven Tatbestandsmerkmale und die die Rechtswidrigkeit begründenden Umstände widerspiegeln, bezeichnet. Als Funktionen des objektiven Tatbestands gibt es die Garantiefunktion, die systematische Funktion, die den Vorsatz regelnde Funktion, die die Rechtswidrigkeit indizierende Funktion, und als Funktionen des subjektiven Tatbestands gibt es die das Verbrechen individualisierende Funktion und die Appellfunktion des Tatbestandsvorsatzes.9 Der subjektive Tatbestand von Yamanaka umfasst mehr Elemente als der objektive Tatbestand, weil der subjektive Tatbestand nicht nur die Elemente des objektiven Tatbestands, sondern auch die tatsächlichen Voraussetzungen der Unrechtsausschließungsgründe, die auf der Stufe der Rechtswidrigkeit zu prüfen sind, enthält. Dies erscheint zweifelhaft. Erstens ist fraglich, wenn nach Yamanaka der objektive und der subjektive Tatbestand zu einem einheitlichen Deliktstatbestand zusammengefasst werden sollen, ob man zwei Tatbestände mit unterschiedlichem Umfang ohne logischen Widerspruch zu einem Tatbestand vereinigen kann. Zweitens würde der Deliktstatbestand von Yamanaka das ausgewogene dreistufige Verbrechenssystem zerstören, weil der Deliktstatbestand die Kategorie Rechtswidrigkeit erodiert. Yamanaka ist der Schüler von Naka, einem Vertreter der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen. Die Auffassung von Yamanaka über das Objekt der Erkenntnis des Vorsatzes, der ein subjektives Tatbestandsmerkmal ist, würde als Versuch, Nakas Theorie weiter zu entwickeln, trotz der Unterstützung oder der Nichtunterstützung verfolgt.

___________ 9

Keiichi Yamanaka, Strafrecht, Allg. Teil, 2. Aufl. 2008, S. 159 ff.

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Eigene Stellungnahme Ich habe in die Darstellung der bisher erwähnten Auffassungen jeweils meine Meinung einfließen lassen, dennoch möchte ich hier nochmals den Inhalt meiner Auffassung in geordneter Form darstellen. In Japan gibt es auch die auf eine Tatbestandslehre verzichtende Auffassung, aber eine solche Ansicht kann keine Zustimmung finden, denn die Aufnahme der Tatbestandslehre in die allgemeine Verbrechenslehre trägt den Forderungen des Gesetzlichkeitsprinzips und der Garantie der Menschenrechte Rechnung. Zum Gewährleistungsgehalt des Gesetzlichkeitsprinzips gehört auch die individualisierende Funktion des Tatbestands, wodurch die Einführung von normativen und subjektiven Merkmalen in den Tatbestand unvermeidlich wird. Dementsprechend ist die Anerkennung eines werthaltigen Tatbestandsbegriffs unabweislich. Sofern im Einzelfall Unrechtsausschließungsgründe nicht vorliegen, muss der Tatbestand die Rechtswidrigkeit der Handlung begründen. Also muss der Tatbestand der Realgrund der Rechtswidrigkeit sein, und es ist richtig, den Tatbestandsbegriff als „typisiertes Unrecht“ in der Kategorie der Rechtswidrigkeit anzusiedeln und zugleich den Begriff des Unrechtstatbestands zu vertreten, der zur materiellen Rechtswidrigkeit in einer Beziehung von Vorderseite und Rückseite steht. Wenn man sich auf diesen Standpunkt stellt, kann man die Probleme der normativen Tatbestandsmerkmale, der subjektiven Tatbestandsmerkmale, der Pflichten zum Tätigwerden bei den Unterlassungsdelikten usw. im Tatbestand widerspruchsfrei lösen. Dabei bedeutet der Tatbestand „das Verbot“, die Unrechtsausschließungsgründe bedeuten „die Erlaubnis“. Aufgrund des unterschiedlichen Charakters dieser beiden Elemente erscheint es fraglich, ob man dem Begriff des sog. Gesamtunrechtstatbestands (der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen) folgen soll. Man muss den Tatbestandsbegriff als werthaltig ansehen, gleichzeitig aber die Annahme eines Begriffs des Gesamtunrechtstatbestands (der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen) vermeiden, weil sonst der theoretische Fehler der Tatbestandslehre (nach der bekannten Kritik von Welzel) unausweichlich ist. Will man anderseits, um diesen theoretischen Fehler zu vermeiden, für jede Funktion einen passenden Tatbestandsbegriff schaffen, ruft das ein Durcheinander von Tatbestandsbegriffen hervor, weil diese Differenzierung zu einem ungenauen, mehrdeutigen Tatbestandsbegriff führt. Man sollte daher einen einheitlichen Tatbestandsbegriff verwenden. Der Tatbestand geht in der Kategorie der Rechtswidrigkeit auf und er verliert seine selbstständige Bedeutung durch seine Aufnahme in den Begriff des typischen Unrechts. Soweit man aber den Tatbestand als werthaltig anerkennt, ist dies unvermeidlich. Und wenn dem Tatbestand neben den Unrechtsausschließungsgründen eine Stellung in der Kategorie der Rechtswidrigkeit zuweist, sollte man nicht leugnen, dass die Existenz des Tatbestandsbegriffs sinnvoll ist. Beim Urteil über die Tat als tatbestandsmäßig gibt es viele Fälle, in denen gleichzeitig das Urteil der Rechtswidrigkeit gesprochen wird.

Der typische Tatbestandsbegriff in Japan

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Daher ziehe ich den Unrechtstatbestandsbegriff von Mezger vor. Aber ich folge auch nicht dem Begriff des Handlungstatbestands, den Mezger an seinem Lebensabend entwickelte, weil er mir unnötig erscheint.10

Schlussbemerkung Die dargestellten Auffassungen zum Begriff des Tatbestands sind für Japan repräsentativ. Selbstverständlich ist es nicht möglich, in dieser kleinen Abhandlung alle in Japan vertretenen Tatbestandsbegriffe zu erläutern. Um diese darzustellen, bedarf es einer anderen Gelegenheit. Man kann sagen, dass die Tatbestandsbegriffe in Japan unter starkem Einfluss der deutschen Lehre entwickelt wurden. Dabei folgten einige Strafrechtslehrer den deutschen Lehren, andere wiederum entwickelten eigenständige Tatbestandsbegriffe. Die Theorie vom Tatbestand als Unrechts- und Schuldtypus, die Dando vertritt, und der Tatbestandsbegriff von Yamaguchi auf der Grundlage der Lehre vom Erfolgsunwert gehören zu den letzteren. Ich persönlich bin der Auffassung, dass der Begriff des Unrechtstatbestands, wie ihn Mezger vertrat, am überzeugendsten ist. Man darf nicht vergessen, dass der Inhalt des Tatbestandsbegriffs notwendigerweise auf jeden Teil der Verbrechenslehre seinen Einfluss ausübt. Mit dem Hinweis, dass dem Tatbestandsbegriff zugleich große Bedeutung für die allgemeine Verbrechenslehre zukommt, sei meine Darstellung abgeschlossen. Mit meiner bescheidenen Abhandlung möchte ich meinen aufrichtigen Dank für die freundliche Aufnahme, die meine Familie und ich durch den Jubilar in Göttingen erfahren haben, zum Ausdruck bringen und dem Jubilar zum 75. Geburtstag von Herzen gratulieren und wünsche ihm und seiner Gattin für die Zukunft alles Gute, vor allem Glück und Gesundheit.

___________ 10

Niroku Tateishi, Strafrecht, Allg. Teil, 3. Aufl. 2008, S. 102 ff., 138.

Neues und Altes zu den Aussagedelikten Von Thomas Vormbaum

I. Neues 1. Ende der Ruhe Die Liste der Änderungen des Strafgesetzbuchs – es sind seit 1870, dem Jahr seiner Verabschiedung, bis zum Ende des Jahres 2008 nicht weniger als 2301 – zeigt, dass der 9. Abschnitt des Besonderen Teils (von unbedeutenden Kleinständerungen abgesehen) zwei kurze Phasen von Änderungen erfahren hat: Nach über 70 Jahren der Ruhe wurde 1943/44 durch die sog. Strafrechtsangleichungs-Verordnung und ihre Durchführungsverordnungen nebst einigen weiteren Veränderungen der Tatbestand der falschen uneidlichen Aussage eingefügt. Es folgte eine erneute Phase der Ruhe von ca. 60 Jahren, bis im Jahre 2001 § 153 StGB um einen zweiten Absatz erweitert wurde. Bereits wenige Jahre später hat nun der Gesetzgeber erneut eingegriffen und durch das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie vom 31. Oktober 2008 (in Kraft getreten am 5. November 2008) § 153 Abs. 2 wieder gestrichen und seinen Inhalt als Absatz 2 dem wieder erstandenen2 § 162 StGB integriert, der in Absatz 1 Falschaussagen in Verfahren vor internationalen Gerichten, die durch einen für die Bundesrepublik verbindlichen Rechtsakt errichtet sind, nunmehr ausdrücklich unter Strafe stellt3. Eine weitere Veränderung betrifft § 163 StGB, der ohne inhaltliche Änderung zu § 161 wur___________ 1

Davon seit 1945, also in weniger als einer „Halbzeit“, ca. 170 und seit 1990, also seit der Wiedervereinigung und damit im letzten Siebtel der bisherigen Existenz des Gesetzbuches, ca. 70. 2 § 162 StGB a.F., aufgehoben durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953, zuvor seit dem Inkrafttreten des RStGB unverändert, hatte für zwei spezielle Fallgruppen – die durch „eidliches Angelöbnis bestellte Sicherheit“ und für das „in einem Offenbarungseide gegebene Versprechen“ – die Strafbarkeit von promissorischen Eiden beibehalten. Die Vorschrift wurde bereits früh als obsolet angesehen und hatte „in der Rechtsanwendung fast gar keine Bedeutung erlangt“ (Olshausen/Freiesleben, StGB, 12. Aufl. 1942, Anm. zu § 162). 3 Nach zutreffender Auffassung war dies bereits vorher der Fall gewesen; vgl. NKStGB/Vormbaum, Vor § 153 Rn. 32 m. Nachw.

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de, wodurch eine bislang vakante Gesetzesposition4 gegen eine andere ausgetauscht wurde.

2. Redaktionelles Im Allgemeinen soll man sich bei rein redaktionellen Fragen nicht allzu lange aufhalten. Einige Worte zur Verlagerung des Tatbestandes des fahrlässigen Falscheides und der falschen eidesstattlichen Versicherung, der sich seit Erlass des Strafgesetzbuches, also seit fast 140 Jahren, der Schonung durch den Gesetzgeber erfreut hatte, seien jedoch gestattet. Wer als Kommentator von Vorschriften des Strafgesetzbuches tätig ist, weiß, was ein solcher Federstrich des Gesetzgebers an Folgewirkungen nach sich zieht5 – auch wenn diese sich heutzutage bei einer einzigen Umstellung, wie sie hier in Rede steht, mit einem Such- und Ersetzbefehl (vorsichtshalber mit Bestätigung!) verhältnismäßig einfach bewältigen lassen. Und wenn er sich über die Jahre hinweg wiederholt mit der Materie befasst hat, macht er die betrübliche Feststellung, dass das, was er zu Papier gebracht hat, schon von der nächsten Studenten- und Wissenschaftlergeneration erst im zweiten Anlauf verstanden werden wird – auch wenn es deshalb nicht schon zu jener Makulatur geworden ist, zu der nach Julius von Kirchmanns Diktum aus dem Jahre 1848 drei berichtigende Federstriche des Gesetzgebers ganze juristische Bibliotheken werden lassen6. Zur Begründung für die Verschiebung des Fahrlässigkeits-Tatbestandes heißt es in den Gesetzesmaterialien, die neue Regelung (Absatz 1) und die dorthin verschobene Regelung (Absatz 2) des § 162 sollten auch die fahrlässigen Begehung erfassen, weshalb diese vor § 162 positioniert sein müsse7. Inwieweit die sachliche Voraussetzung dieser Aussage überzeugend ist, ist noch zu erörtern. Ob die daraus gezogene technisch-redaktionelle Konsequenz zwingend ist oder zumindest die angedeuteten „Kosten“ rechtfertigt, erscheint jedenfalls zweifelhaft. ___________ 4

§ 161 in der Fassung des RStGB, aufgehoben durch das 1. Strafrechtsreformgesetz vom 25. Juni 1969, hatte für jede Verurteilung wegen Meineides zwingend die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte und die Eidesunfähigkeit angeordnet; näher NKStGB/Vormbaum, 1. Aufl. (Loseblatt-Ausg.), Hinweis zu § 161. 5 Der Verf. traf 1999 auf dem Weg zu einer Tagung einen bekannten Kommentator des (gesamten) Strafgesetzbuches; dieser klagte, dass allein die unnötigen Paragraphenänderungen, welche das 6. sog. Strafrechtsreformgesetz neben zahlreichen inhaltlichen Änderungen mit sich gebracht hatte, zu einer Änderung von Querverweisungen in einem fünfstelligen Zahlenbereich geführt habe. 6 Julius von Kirchmann, Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1848). Neudruck Darmstadt 1973, S. 25. 7 Bundesrats-Drucksache 625/06 vom 1. September 2006, S. 7.

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3. Overprotection § 162, der seit der Streichung des Tatbestandes des falschen Eidesversprechens unbesetzt gewesen war, enthält seit dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 31. Oktober 2008 zwei Erweiterungs-Tatbestände. Absatz 1 erweitert die Anwendbarkeit der §§ 153 bis 161 auf Falschaussagen vor bestimmten internationalen und supranationalen Gerichten; Absatz 2 erweitert den Anwendungsbereich des § 153 und seiner Folgevorschriften auf Falschaussagen vor (parlamentarischen) Untersuchungsausschüssen. Während auf Absatz 2 hier nicht noch einmal eingegangen zu werden braucht8, weist Absatz 1 Merkwürdigkeiten auf: a) Absatz 1 stellt nunmehr (sowohl vorsätzliche als auch – im Rahmen des § 161 – fahrlässige, sowohl uneidliche als auch eidliche) Falschaussagen in Verfahren vor internationalen Gerichten, deren Errichtung für die Bundesrepublik verbindlich ist, unter Strafe. Auch bisher schon waren Falschaussagen vor diesen Gerichten dann durch § 153 erfasst, wenn die entsprechende Ausdehnung des nationalen Strafrechts ausdrücklich völkerrechtsvertraglich vereinbart war. Konkreter Auslöser für die Einfügung der Vorschrift war Art. 70 Abs. 4 lit. a des Römischen Statuts, aus dem sich die Verpflichtung ergibt, vorsätzliche im Inland oder durch einen deutschen Staatsangehörigen im Ausland begangene Falschaussagen in einem beim Internationalen Strafgerichtshof anhängigen Verfahren unter Strafe zu stellen. Nach Art. 70 Abs. 1 des Römischen Statuts erstreckt sich die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofes – neben den eigentlichen völkerstrafrechtlichen Taten – auf einige Straftaten, die sich gegen seine eigene Rechtspflege wenden, wenn sie vorsätzlich verübt worden sind; zu ihnen gehört nach lit. a die Falschaussage, „wenn nach Art. 69 Abs. 19 die Verpflichtung bestand, die Wahrheit zu sagen“. Dass § 162 Abs. 1 nunmehr auch den fahrlässigen Falscheid vor dem IStGH, den dieser selbst nicht sanktionieren kann10, unter Strafe stellt (dies war ja der erklärte Sinn der Umsetzung des § 163 a.F. nach § 161), erscheint nicht nur deshalb unangebracht, weil dem IStGH selbst die Sanktionierung dieses Verhaltens ausdrücklich vorenthalten worden ist, sondern vor allem auch deshalb, weil der Mehrzahl der nationalen Rechte der Tatbestand des fahrlässigen Falscheides ohnehin unbekannt ist und damit nun der ___________ 8

Siehe dazu Th. Vormbaum, JZ 2002, 166 ff. Art. 69 Abs. 1 IStGH-Statut: „Vor seiner Aussage verpflichtet sich jeder Zeuge in Übereinstimmung mit der Verfahrens- und Beweisordnung, in seinem Zeugnis die Wahrheit zu sagen“. 10 Arndt Sinn, NJW 2008, 3526 ff., 3529. 9

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Fall eintreten kann, dass von mehreren Zeugen, die vor dem IStGH fahrlässig falsch schwören, je nach Nationalität die einen strafbar sind, die anderen straflos bleiben. Wie schon so häufig in der letzten Zeit hat die Bundesrepublik sich hier in der Umsetzung inter- und supranationaler Strafverpflichtungen als besonders eifrig erwiesen, denn eine Verpflichtung zur Pönalisierung der fahrlässigen Falschaussagen vor dem IStGH war ja in Art. 70 Abs. 4 lit. a nicht enthalten. b) Ähnliches gilt für die Strafbarkeit von Falschaussagen vor dem nunmehr durch § 162 zweifellos erfassten Europäischen Gerichtshof. Die Streitfrage, ob der Text des Art. 30 der EuGH-Satzung, der nur von „Eidesverletzungen“ spricht, die Strafbarkeit falscher uneidlicher Aussagen ausschließt11, hat sich damit erledigt und ist ihm Sinne der extensiveren Strafbarkeit entschieden worden. c) Das strafrechtliche overprotecting der internationalen Strafgerichtsbarkeit besitzt aber noch eine weitere Facette. Falschaussagen in Verfahren der deutschen Gerichtsbarkeit sind, wenn der Tatort im Ausland liegt, nach § 5 Nr. 10 StGB nur im Rahmen der §§ 153 bis § 155 strafbar. Indem nun § 162 n.F. für die in ihm genannten Verfahren der supra- und internationalen Gerichtsbarkeit alle Taten nach § 153 bis 161 n.F., also auch Fahrlässigkeitstaten (und Taten nach §§ 159, 160) einbezieht, ist die deutsche Gerichtsbarkeit bei Auslandstaten in geringerem Umfang geschützt als die internationale Gerichtsbarkeit. Dieser Widerspruch ist auf der Grundlage der bestehenden Gesetzeslage nicht zu beheben12. Zu prognostizieren, wie eine Behebung der aufgezeigten Widersprüche durch den Gesetzgeber, falls er sie bemerkt, aussehen wird, fällt dem, der die Strafgesetzgebung der vergangenen 20 Jahre im Auge hat, nicht schwer: Da für Entkriminalisierungen offenbar nur noch das Bundesverfassungsgericht zuständig ist, wird die Lösung nicht in einer Rücknahme der überzogenen Strafdrohungen bestehen, sondern in deren konsequenter Ausdehnung.

___________ 11 Näher Moritz Vormbaum, Schutz der Rechtsgüter von EU-Staaten durch das deutsche Strafrecht. Münster 2005, S. 150 ff. 12 Kritisch auch Sinn, NJW 2008, 3528.

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II. Altes neu betrachtet 1. Sitz des Problems (§ 160 StGB) Nach den jüngsten Änderungen gibt es im 9. Abschnitt des Strafgesetzbuches neben § 156 nur noch einen Paragraphen13, der den Lauf der Zeiten seit 1870 inhaltlich (nahezu) unversehrt überstanden hat: den Tatbestand der „Verleitung zur Falschaussage“ (§ 160 StGB). In seiner Funktion und Struktur – Vertatbestandlichung der an sich nicht als möglich angesehenen mittelbaren Täterschaft – ist er zwar kein Unicum, aber doch eine Seltenheit im Strafgesetzbuch14, und in seiner Geschichte und Sanktion weist er einige Merkwürdigkeiten auf – beruht doch seine Entstehung möglicherweise auf einem Missverständnis15 und sind doch seine Strafdrohungen, die sich von denen der Referenztatbestände in §§ 153, 154, 156 eklatant unterscheiden16, schon des Öfteren Gegenstand des Nachdenkens und der Kritik gewesen17. Diese historischen und sanktionsrechtlichen Probleme sollen im Folgenden nur dort angesprochen werden, wo das Problem, das der Verfasser überdenken18 will, den Rückgriff auf sie erfordert.

2. Gegenstand des Problems (§ 160 Abs. 2) Gegenstand dieses Problems ist der zweite Absatz des § 160, der den Versuch der Tat nach Absatz 1 unter Strafe stellt. § 160 Abs. 1, eine Neuschöpfung ___________ 13 Siehe die chronologischen und systematischen Nachweise b. Vormbaum/Welp (Hrsg.), Das Strafgesetzbuch. Sammlung der Änderungsgesetze und Neubekanntmachungen. Supplementband III. Berlin 2007, S. 237 ff., 269. 14 Für einen Teilbereich des Urkundenstrafrechts erfüllt bekanntlich § 271 StGB eine ähnliche Funktion, indem er die als an sich nicht möglich angesehene mittelbare Täterschaft vertatbestandlicht. 15 Dazu näher Th. Vormbaum, Eid, Meineid und Falschaussage. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870. Berlin 1990, S. 34 ff. 16 Der Sprung (nach unten) beträgt gegenüber § 154 Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe statt Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr (bis zu 15 Jahren), gegenüber § 153 Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen statt Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, gegenüber § 156 Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen statt Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren. Da nach § 26 die Strafdrohung der Anstifter gleich einem Täter bestraft wird, ändert sich an den Proportionen auch dann nichts, wenn man den Vergleich statt auf die mittelbare Täterschaft auf die Anstiftung bezieht. 17 Siehe zuletzt zusammenfassend Henning Ernst Müller, Falsche Zeugenaussage und Beteiligungslehre. Tübingen 2000, S. 377 ff. 18 Zu seiner bisherigen Auffassung s. Th. Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils. (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft. 22). Berlin 1987, S. 299 ff.; s. auch NK-StGB/ders., 3. Aufl. 2009, § 160.

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des Gesetzgebers des Reichsstrafgesetzbuches19, bedroht denjenigen mit Strafe, der „einen anderen zur Ableistung eines falschen Eides [...], zur Ableistung einer falschen Versicherung an Eides Statt oder [...] zur Ableistung einer falschen uneidlichen Aussage verleitet“20. Sieht man zunächst von Einzelheiten dieses Tatbestandes ab, so besteht, sollte man meinen, kein Problem: Warum soll nicht schulmäßig der subjektive Tatbestand und das unmittelbare Ansetzen zur Tat festgestellt werden, wie es § 22 StGB vorsieht? In der Tat stellt sich für normal gelagerte Fälle insoweit auch kein besonderes Problem. Wer sich vorgestellt hat, einen anderen, wie vom Gesetz vorgesehen, zu „verleiten“, und im Hinblick hierauf zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar angesetzt hat, hat den Tatbestand der versuchten Tat nach § 160 Abs. 1, 2 erfüllt.

3. Inhalt des Problems Problematisch und streitig sind hingegen die Fälle, in denen der Verleitende sich falsche Vorstellungen über die subjektive Seite des Handelns des von ihm Verleiteten gemacht hat. Hier zeigt sich eine Besonderheit des § 160: Er enthält in seinem objektiven Tatbestand ein subjektives Element – freilich nicht in der Weise, dass ein Element des subjektiven Tatbestandes in den objektiven Tatbestand eingekapselt wäre (wie dies spiegelbildlich beim Diebstahlstatbestand mit der objektiven Rechtswidrigkeit der beabsichtigten Zueignung der Fall ist), sondern in der Weise, dass die Vorstellung einer dritten Person objektives Tat-

___________ 19 Zu früheren Versuchen zur Schaffung eines entsprechenden Tatbestandes s. A.S. Schultze, Verleitung S. 3 ff.; näher zur Entstehung des § 160 RStGB Th. Vormbaum, Eid, 3. Kap.; Stooß, in: Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts. Berlin 1906, BT/3 S. 307 ff.; s. auch Voigt, GA 1880, 220 ff.; Gallas, FS Engisch, S. 602 ff. – In der weiteren Geschichte des § 160 fehlen tiefgreifende Änderungen, wenn man von der Einbeziehung des neu geschaffenen Tatbestandes der falschen uneidlichen Aussage durch die StrafrechtsangleichungsVO vom 29. Mai 1943 (RGBl. I, S. 339; vgl. NK-StGB/Vormbaum, 3. Aufl. 2009, § 153 Rn 2) absieht. 20 Die Reihenfolge der drei Begehungsweisen entspricht nicht der aus den Strafdrohungen der §§ 153 bis 156 hervorgehenden Hierarchie, denn die Strafdrohung des § 156 liegt unter derjenigen des § 153 (zu den Gründen s. Vormbaum, Schutz des Strafurteils, S. 225 ff.); die Erklärung dürfte darin zu suchen sein, dass die falsche uneidliche Aussage bei ihrer Einführung im Jahre 1943 zunächst nach der falschen eidesstattlichen Versicherung als § 156a eingeordnet war und erst später ihren Platz an der Spitze des Abschnitts gefunden hat (näher Th. Vormbaum, Eid, Meineid und Falschaussage, S. 138 ff.). Dass der Gesetzgeber die Strafdrohungen für die Verleitung zur falschen eidesstattlichen Versicherung und derjenigen zur falschen uneidlichen Aussage nicht differenziert hat, lässt sich kriminalpolitisch erklären (näher Th. Vormbaum, Schutz des Strafurteils, S. 296 f.).

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bestandsmerkmal ist (wie dies auch bei den Teilnahmehandlungen nach §§ 26 und 27 der Fall ist)21. Die völlige Parallelisierung zu den §§ 26, 27 setzt freilich bereits voraus, dass § 160 nicht etwa alle Fälle der (nach zutreffender h.M. bei den Aussagedelikten nicht möglichen22) mittelbaren Täterschaft erfasst, sondern nur jene Fälle, in denen der Verleitete „gutgläubig“ ist, also undolos handelt. Hiervon gehen jedoch letztlich alle in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassungen – teils aus (unterschiedlichen) inhaltlichen, teils aus Konkurrenzgründen – aus23, weshalb dieser Frage hier nicht weiter nachgegangen werden soll. Von den möglichen Konstellationen – irrtümlich Annahme vorsätzlichen Handelns des Verleiteten und irrtümlich Annahme unvorsätzlichen Handelns des Verleiteten – soll hier nur die zweite behandelt werden24, denn nur sie ist im Ansatz ein Problem des § 160, während die erste nach zutreffender Auffassung nur ein Problem der §§ 159 und 30 Abs. 1 bildet.

4. Lösungsvorschläge Dazu, wie derjenige zu behandeln ist, der einen anderen zu einer unvorsätzlichen Falschaussage veranlassen will, ihn in Wirklichkeit aber zu einer vorsätzlichen Falschaussage veranlasst, werden drei Auffassungen vertreten25: a) Der Bundesgerichtshof und ein Teil des Schrifttums26 gelangen zu einer Bestrafung wegen vollendeter Tat nach § 160 Abs. 1. Derjenige, der „mehr“ bewirkt habe, als er gewollt habe – nämlich eine vorsätzliche Falschaussage statt einer unvorsätzlichen Falschaussage –, dürfe dafür nicht auch noch besser gestellt werden. Strafbarkeit aus § 160 besteht somit stets dann, wenn der Ver___________ 21 Aus der Sicht der Dogmatik des Allgemeinen Teils bildet dies (anders als der umgekehrte Fall beim Diebstahl) keine Besonderheit, denn die Unterscheidung zwischen objektivem Tatbestand und subjektivem Tatbestand bezieht sich nicht auf alle objektiven bzw. subjektiven Elemente, welche im Zusammenhang einer Tat auftauchen, sondern ist relational, d.h. perspektivisch auf den Täter bezogen; was für diesen objektiv bzw. subjektiv ist, ist Gegenstand des objektiven bzw. subjektiven Tatbestandes. 22 Siehe die Nachweise b. NK-StGB/Vormbaum, § 160 Rn. 11; H.E. Müller, Falsche Zeugenaussage, S. 124 ff., der selber (S. 150) die Auffassung vertritt, dass der Verleiter „nicht wegen (mittelbarer) täterschaftlicher Falschaussage, sondern wegen Fälschung eines Beweismittels“ strafbar sei. 23 Vgl. Müller, Falsche Zeugenaussage, S. 377 ff. 24 Die erste Konstellation führt nach zutreffender Auffassung zur Anwendung der §§ 159, 30 Abs. 1 StGB; vgl. Müller, Falsche Zeugenaussage, S. 389 ff. 25 Übersichtlich gegliedert und transparent dargestellt b. H.E. Müller, Falsche Zeugenaussage, S. 385 f. 26 Siehe die Nachweise b. Müller (Fn. 56); NK-StGB/Vormbaum, § 160 Rn. 23.

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anlassende sich die Gutgläubigkeit des Veranlassten vorgestellt hat; dieses Vorstellungsbild stellt zugleich das Abgrenzungskriterium zur Anstiftung dar, bei der der Anstiftende sich die vorsätzliche Handlung des Angestifteten vorstellt. b) Zum selben Ergebnis gelangt Hruschka27 mit einer Konstruktion, die den Nachteil der zuvor referierten Lösung, dass der subjektive Tatbestand umfangreicher ist als der objektive Tatbestand, vermeiden soll. Nach Hruschka ist § 160 nicht nur ein Ergänzungstatbestand, der die Lücke der an sich nicht möglichen mittelbaren Täterschaft schließen soll, sondern ein Grundtatbestand für alle Fälle, in denen eine Person vorsätzlich zur Urheberin der (vorsätzlichen oder unvorsätzlichen) Falschaussage einer anderen Person wird. Kommt es auf das Vorstellungsbild des Verleiteten nicht an, so braucht sich darauf konsequent auch der Vorsatz des Verleitenden nicht zu beziehen. Das Verhältnis zu benachbarten Tatbeständen der §§ 26, 30 Abs. 1, 159 regelt sich nicht auf der Tatbestands-, sondern auf der Konkurrenzebene; als Grundtatbestand tritt daher § 160 hinter diesen Tatbeständen zurück. c) Nach einer früher vom Reichsgericht und auch heute noch von beachtlichen Stimmen im Schrifttum vertretenen Auffassung28 wirft die hier betrachtete Fallkonstellation keine besonderen Probleme auf. Es liegt ein Versuch der Tat nach § 160 Abs. 1 vor, der nach § 160 Abs. 2, 23 strafbar ist. Abgesehen davon, dass die Entstehungsgeschichte der Vorschrift zeige, dass mit „Falscheid“ nur ein unvorsätzlicher Eid gemeint sei, bilde die irrtümliche Veranlassung einer vorsätzlichen Handlung keineswegs ein „Mehr“ gegenüber der intendierten Veranlassung einer unvorsätzlichen Handlung29; auch sei § 160 kein Sonderfall der Anstiftung, sondern ein eigenständiger Tatbestand.

5. Stellungnahme Die an den beiden zuerst geschilderten Positionen geübte Kritik überzeugt. a) Die Argumentation des Bundesgerichtshofes läuft letztlich auf ein argumentum a minore ad maius hinaus: Wenn schon für die Herbeiführung der unvorsätzlichen Falschaussage Vollendungsstrafbarkeit eintrete, müsse dies erst recht für die Herbeiführung einer vorsätzlichen Aussage gelten. ___________ 27 Hruschka, Anstiftung zum Meineid und Verleitung zum Falscheid, JZ 1967, 210 ff.; dieser Auffassung hat sich bisher auch der Verfasser angeschlossen, vgl. Vormbaum, Schutz des Strafurteils, S. 300; NK-StGB/ders., § 160 Rn. 12, 25. 28 RGSt 11, 418, 420; zum Schrifttum s. die Nachweise b. Müller, Falsche Zeugenaussage, S. 386, Fußn. 63; Vormbaum, Schutz des Strafurteils, S. 300, Fußn. 86; NKStGB/ders., § 160 Rn. 22. 29 Gallas, Verleitung zum Falscheid, FS Engisch, 1960, S. 600 ff., 612 f.

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aa) Ein dogmatisch fundiertes Argument ist dies nicht; das argumentum a minore ad maius gehört zum Arsenal jener Argumentationsfiguren, mit denen der Grundsatz nullum crimen sine lege ausgehebelt werden soll; wie alle diese Argumentationsfiguren setzt er auf Suggestivwirkung, und wie meistens resultiert die Suggestion aus kriminalpolitischen Erwägungen, sie sich hinter Gerechtigkeitsargumenten verschanzen. Nicht nur die Entstehungsgeschichte des Gesetzes, sondern auch die unbefangene Betrachtung des Wortsinns zeigen, dass der Gesetzgeber unter „Falscheid“ den Gegensatz zum Meineid als einer „Meintat“ ausdrücken wollte, also die unvorsätzliche Falschaussage vor Augen hatte und diese zum Gesetzeswortlaut erhoben hat. bb) Darüber hinaus ist die Annahme eines vom Veranlassenden erreichten „Mehr“ weder kriminalpolitisch noch dogmatisch zutreffend. Kriminalpolitisch ist bereits zweifelhaft, ob derjenige, der eine unvorsätzliche Falschaussage herbeiführt, die durch die §§ 153 ff. geschützten Rechtsgüter intensiver oder weniger intensiv beeinträchtigt als die nach jenen Straftatbeständen strafbaren Täter. In der Praxis können beide Folgen eintreten. Denkt man an den hauptsächlichen Anwendungsfall des § 160 – der Verleitete sagt unvorsätzlich falsch aus – so kann die Beeinträchtigung des Verfahrenszieles deshalb geringer sein, weil dem Aussagenden an der Falschheit der Aussage nichts liegt und er durch Hinweise auf widersprüchliche Bekundungen zur Besinnung gebracht werden kann; andererseits kann aber auch eine intensivere Beeinträchtigung eintreten, weil der Aussagende wegen seiner Gutgläubigkeit keine Anzeichen von Unsicherheit und Aufgeregtheit von sich gibt, so dass diese Indikatoren für Unwahrheit wegfallen. Daher kann auch nicht gesagt werden, dass derjenige, der eine vorsätzliche Falschaussage herbeiführt, das Rechtsgut stärker gefährde und damit ein „Mehr“ herbeiführe als derjenige, der den Aussagenden zu einer unvorsätzlichen Aussage verleitet. Die Auffassung des BGH macht überdies die Abgrenzung zweier objektiver Tatbestände – Anstiftung zur Falschaussage (§§ 26, 153 ff.) und Verleitung zur Falschaussage (§ 160) – letztlich von der Vorstellung des Handelnden über die Vorstellung des Veranlassten abhängig und verlässt damit nicht nur gesicherte Errungenschaften der Straftatlehre, sondern auch gesetzliche Bahnen, denn wenn § 15 von „vorsätzlichem Verhalten“ spricht, so setzt er das (objektive) Verhalten als Gegenstand des Adjektivs „vorsätzlich“ bereits voraus; noch deutlicher macht § 16 klar, dass die Tatumstände Gegenstand der Kenntnis des Täters sind und diese Kenntnis nicht Voraussetzung für die Erfüllung der Tatumstände sein kann. Auch aus der Sicht der Beteiligungsdogmatik erheben sich gegen die Argumentation des BGH Bedenken: Eine zwar nicht zweifelsfreie30, aber wohl herr___________ 30

Müller, Falsche Zeugenaussage, S. 387.

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schende31 Auffassung meint, dass derjenige, der sich wegen vermeintlicher Gutgläubigkeit des Tatmittlers irrig für einen mittelbaren Täter hält, wegen Anstiftung zu bestrafen sei, wenn der Tatmittler vorsätzlich handelt – und zwar deshalb, weil die Anstiftung als Minus (!) in der Täterschaft enthalten sei. Angesichts der eklatant unterschiedlichen Strafrahmen der §§ 26, 153 ff. und des § 160 kann nun freilich von einem Minus nicht die Rede sein – und so wird das argumentum a maiore ad minus in ein argumentum a minore ad maius verwandelt. Grund ist letztlich auch hierfür die geringe Strafdrohung des § 160. Diese jedoch ist eine vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung, die nicht durch kriminalpolitische Erwägungen – ob sie nun dogmatisch verbrämt sind oder nicht – überspielt werden darf. Zu Recht bemerkt Müller, dass es „methodisch nicht überzeugen [kann], dogmatische Grundprinzipien aus Strafwürdigkeitserwägungen zu verlassen“32. b) Besser abgesichert erscheint die Konstruktion von Hruschka, die in § 160 einen Tatbestand erblickt, der jedes Verhalten erfasst, durch das ein anderer veranlasst wird, vorsätzlich oder unvorsätzlich eine falsche uneidliche Aussage, einen Falscheid oder eine falsche Versicherung an Eides Statt zu erstatten; soweit allerdings andere Vorschriften, insbesondere diejenigen über erfolgreiche Anstiftung (nach § 26) und versuchte Anstiftung (für § 154 nach § 30, für § 153 und § 156 nach §§ 30, 159), eingreifen, soll die Vorschrift subsidiär sein. Sie wird daher regelmäßig nur in denjenigen Fällen aktuell, in denen der Täter einen anderen zu unvorsätzlicher Aussage hat veranlassen wollen. Es ist nicht zu leugnen, dass die konstruktive Virtuosität dieser Konstruktion eine – auch „rechtsästhetische“ – Faszination ausübt; doch stehen dieser Faszination, der auch der Verfasser dieses Beitrages bei früherer Gelegenheit erlegen ist33, gewichtige Bedenken entgegen. aa) Die Konstruktion widerspricht, wie an anderer Stelle dargetan34, dem Willen des Gesetzgebers von 1870, was zwar nach der überwiegenden Auffassung, die der objektiven Auslegungsmethode folgt, letztlich kein durchschlagender Einwand ist, jedoch besonderen Argumentationsaufwand für entgegenstehende Auffassungen fordert. bb) Ein weiteres Bedenken folgt aus der punktuellen Wiederbelebung der Figur der „Urheberschaft“ im Rahmen einer durch die abschließende Gliederung von Täterschaft, Anstiftung und Beihilfe geprägten Rechtsordnung. Hier ist die rechtsstaatlichen Funktion von Strafrechtsdogmatik angesprochen. Durch sie wird auf einer Ebene stärkerer Konkretion die Funktion des Be___________ 31

Nachweise, auch zur Kritik, b. Müller, a.a.O., (Fn. 71). Müller, a.a.O., S. 387. 33 Siehe o. (Fn. 18). 34 Th. Vormbaum, Schutz des Strafurteils, S. 301; ders., Eid, S. 32 ff. 32

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stimmtheitsgrundsatzes, der auf der Ebene des Gesetzes gilt, wiederholt. Zwar nicht für den lesekundigen (und gebildeten) Rechtsgenossen bestimmt, den sich Feuerbach bei seiner psychologischen Zwangstheorie vorgestellt haben mag, wohl aber für die scientific comunity der Strafrechtswissenschaftler (und Strafrichter)35, entzieht sie die Interpretation von Strafrechtsnormen einer beliebigen unvermittelten Applikation auf den Einzelfall. Die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Interpretation erhält dadurch eine Garantie, die über die Garantiefunktion des gesetzlichen Tatbestandes hinausgeht, welche durch den immer nachlässigeren Umgang des Gesetzgebers mit dem Bestimmtheitsgrundsatz ohnehin viel von ihrer Wirkung eingebüßt hat. Dies schließt freilich Änderungen in dogmatischen Auffassungen so wenig aus, wie der Bestimmtheitsgrundsatz Änderungen des Gesetzes ausschließt. Doch besteht die „Garantiefunktion“ von Dogmatik in ihrer konsequenten Durchführung. Es mögen Aufspaltungen dogmatischer Figuren sich als erforderlich erweisen, weil bei einheitlicher Exekution einer Figur untragbare Ergebnisse auftreten; dies gehört zum Alltag strafrechtsdogmatischer Tätigkeit. Problematisch erscheint jedoch eine dogmatische Konstruktion, die um des unbefriedigenden Ergebnisse in einer einzelnen Konstellation willen die Strafrechtsdogmatik oder Teile von ihr gleich außer Kraft setzt bzw. ersetzt. Die angesprochene Garantiefunktion der Dogmatik dient auch dazu, die allgemeine Rationalität der Konstruktion gegen Gerechtigkeitsempfindungen im Einzelfall zu immunisieren – jedenfalls dort, wo dieses Empfinden sich, wie meistens, in Strafbedürfnissen artikuliert (denn eben dieses – Strafbedürfnisse rational zu kontrollieren – ist eine der Hauptaufgaben nicht nur des Grundsatzes nullum crimen sine lege, sondern auch der Strafrechtsdogmatik). Dass es sich im konkreten Fall in einer „Ausnahmekonstruktion“ – der „Urheberschaft“ – geltend macht, die historisch allgemein als überwunden angesehen wird, ist an sich unerheblich, macht das Problematische dieser Konstruktion aber besonders manifest. cc) Die Kritik gilt naturgemäß in noch stärkerem Maße aus der Sicht einer Dogmatik, die sich von vornherein als „negative“ bzw. „Strafbefreiungsdogmatik“ versteht, also die Aufgabe des Strafrechts darin erblickt, staatlichem Strafen Grenzen zu setzen36. Prüft sie jede Strafnorm und deren Interpretation darauf, ob alle Elemente der Rechtsidee – Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit – berücksichtigt sind, so ist vor allem im Hinblick auf das zweite Element, die Rechtssicherheit, die diskutierte Auffassung problematisch, denn sie durchbricht die gesicherte und verlässliche dogmatische Struktur, um ___________ 35

Und – als „Rückmeldung“ – für den Gesetzgeber. Begründer dieser Auffassung ist Wolfgang Naucke, dem sich der Verf. bei mehreren Gelegenheiten angeschlossen hat; s. die Nachweise b. Th. Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, Heidelberg 2008, S. 273 f. 36

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ein als „befriedigend“ angesehenes (höheres) Strafmaß zu ermöglichen. Dass die Bestrafung des Täters in den fraglichen Fällen auch aus Gründen der Gerechtigkeit nicht geboten ist, wurde bereits gezeigt. Schließlich erscheint das Ergebnis einer Vollendungsstrafbarkeit auch nicht als Gebot der Zweckmäßigkeit – jedenfalls nicht auf der Grundlage des geltenden Rechts, denn da § 23 Abs. 2 für den Versuch eine (nur) fakultative Strafmilderung eröffnet, kann in extremen Fällen das Strafmaß demjenigen der vollendeten Tat angenähert werden und es u.U. sogar erreichen. Der bloße Wunsch, den Täter als „Vollendungs-Täter“ zu „labeln“, ist kein Grund, vom vorgezeichneten dogmatischen Weg abzuweichen. c) Nach alledem empfiehlt es sich, zur ursprünglichen Auffassung des Reichsgerichts zurückzukehren: Wer einen anderen zu einer unvorsätzlichen Falschaussage verleiten will, jedoch erreicht, dass dieser vorsätzlich aussagt, erfüllt den Tatbestand der versuchten Verleitung zur Falschaussage.

6. Schluss Unberührt von den vorhergehenden Ausführungen bleibt die Frage, ob es sich empfiehlt, § 160 StGB zu streichen. Seine praktische Relevanz ist – strukturell bedingt37 – gering. Die Kriminalstatistik, die für die Jahre 1998, 2000, 2002, 2004 und 2006 Verurteiltenzahlen in Höhe von 12, 19, 4, 7 und 2 ausweist38, belegt dies. Doch Entkriminalisierung wird derzeit nicht als zum Beruf von Gesetzgebung und Rechtswissenschaft gehörend angesehen.

___________ 37 38

NK-StGB/Vormbaum, § 160 Rn. 8. NK-StGB/Vormbaum, § 160 Rn. 28.

Verständigung in der Strafprozessordnung – auf dem Weg zu einem neuen Verfahrensmodell? Von Thomas Weigend

I. „Verständigung“ in der Strafprozessordnung und ihr Kontext Am 28. Mai 2009 hat der Deutsche Bundestag mit der Einführung von § 257c StPO eine gesetzliche Grundlage für „Verständigungen“ im Strafverfahren geschaffen. Diese Änderung des geschriebenen Strafverfahrensrechts legitimiert eine Praxis, die sich über mindestens 30 Jahre in deutschen Gerichten entwickelt hat – zunächst im Geheimen, dann mehr und mehr im Licht der interessierten Öffentlichkeit, schließlich (seit 1997) grundsätzlich akzeptiert und begleitet durch die höchstrichterliche Rechtsprechung.1 Schon recht früh zeigte sich, dass ein Versuch, die Praxis der Urteilsabsprachen richterlich oder gesetzlich zu verbieten,2 angesichts des gemeinsamen Interesses von Justiz und Anwaltschaft3 daran, „kurzen Prozess“ in Strafsachen zu machen, illusionär wäre. Ein solches Verbot hätte die Absprachenpraxis nicht beendet, sondern in den Untergrund getrieben und die Situation einer weithin rechtswidrigen Justiz geschaffen4 – einen Zustand also, den niemand wünschen kann. Der Bundesgerichtshof hat sich deshalb bemüht, Regeln aufzustellen, die dafür sorgen sollten, dass bei Absprachen ein faires, auch für die Öffentlichkeit akzeptables Verfahren eingehalten wird. Dazu gehört, dass der Angeklagte nicht unter Druck ge___________ 1 Siehe die Leitentscheidungen BGHSt 43, 195; 50, 40. Aus der reichen Literatur siehe z. B. Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, 71; Duttge, ZStW 115 (2003), 539; Hauer, Geständnis und Absprache, 2007; Hettinger, FS Egon Müller, 2008, S. 261; Kempf, StV 2009, 269; Schünemann, Gutachten zum 58. Deutschen Juristentag, Bd. I, 1990, S. B 1; ders., FS Rieß, 2002, S. 525; Terhorst, GA 2002, 600; Wagner FS Gössel, 2002, S. 585; Weider, Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, 2000; Weigend in: Roxin/Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. IV, 2000, S. 1011; Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren – Leitidee für eine Gesamtreform?, 2002; dies., ZStW 116 (2004), 150. 2 Dafür Haller, DRiZ 2006, 277; Harms, FS Nehm, 2006, S. 289, 296; Pfister, StraFo 2006, 349, 354. 3 Bei vielen Strafverteidigern scheint allerdings die anfängliche Begeisterung für „deals“ inzwischen dem Gefühl gewichen zu sein, dass sie sich und ihren Mandanten einen besseren Dienst erwiesen hätten, wenn sie von Anfang an auf die Einhaltung der Regeln der StPO bestanden hätten; siehe Kempf, StV 2009, 269, 270 f. mit Nachweisen. 4 Meyer-Goßner, NStZ 2007, 425, 429.

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setzt werden darf, dass zuvor getroffene Absprachen in der öffentlichen Hauptverhandlung offen gelegt und protokolliert werden und dass das Gericht auch bei einem Geständnis nicht davon absehen darf, „sich aufdrängende“ weitere Sachverhaltsfeststellungen zu treffen.5 Außerdem sollte auch bei einem zuvor inhaltlich abgesprochenen Urteil die Strafe der Schuld des Täters angemessen sein, auch wenn ein Geständnis zu seinen Gunsten berücksichtigt werden darf. Diese richterliche Rechtsetzung ging einerseits an die äußere Grenze der judikativen Kompetenz6 und wurde andererseits von den Instanzgerichten nur mit Maßen befolgt.7 Deshalb ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass sich der Gesetzgeber nach langen Debatten8 zu einer Regelung der Materie durchgerungen hat.9 Und auch wenn diese Regelung, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, manche Fragen und Wünsche offen lässt, kann man doch feststellen, dass der Gesetzgeber in § 257c StPO n.F. Leitlinien gezogen hat, die ein Ausufern der Praxis zu vermeiden suchen und in manchen Einzelfragen Verbesserungen gegenüber der bisherigen Übung in Aussicht stellen.10 Dass ein Justizsystem, das in einer großen Zahl von Fällen den Verzicht des Angeklagten auf den Nachweis seiner Schuld durch einen Strafnachlass11 einkauft, insgesamt keinen wirklichen Rechtsfrieden zu schaffen vermag und seine eigene Glaubwürdigkeit fortlaufend untergräbt12 – an diesem Grundübel des Absprachensystems ändert allerdings auch die neue gesetzliche Regelung nichts. Die gesetzliche Anerkennung der Urteilsabsprachen passt allerdings zu einer allgemeinen Tendenz zu einem „administrativen“ Strafverfahren, die sich (nicht nur) in Deutschland schon über mehrere Jahrzehnte beobachten lässt. Dieser Verfahrenstyp kommt weitestgehend ohne dramatische öffentliche Hauptver___________ 5

BGHSt 43, 195, 204 ff. Das hat der BGH in BGHSt 50, 40, 52 ff. anerkannt. 7 Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, 71, 77. Zu skandalösen Missbräuchen in der Praxis siehe nur die Beispiele bei Fischer, StraFo 2009, 177, 179 f. und Kempf, StV 2009, 269, 270 f. 8 Eine Zusammenstellung der zahlreichen Vorschläge und Entwürfe zu der Thematik aus der jüngeren Vergangenheit findet sich bei Niemöller, GA 2009, 172 f. 9 Siehe allerdings die beachtlichen Argumente gegen eine „Formalisierung des Informellen“ bei Fischer, NStZ 2007, 433, 435; ders. StraFo 2009, 177, 185. 10 Siehe jedoch die scharf ablehnende Stellungnahme von Schünemann, ZRP 2009, 104 und die maßvolle Kritik von Meyer-Goßner, ZRP 2009, 107. 11 Ob dem Angeklagten, der sich auf eine Absprache einlässt, tatsächlich ein „Nachlass“ gewährt wird oder ob nicht vielmehr bei Verweigerung der Kooperation ein Zuschlag zu der eigentlich „verdienten“ Strafe erhoben wird, ist eine Frage, die sich theoretisch nicht klären lässt und auf die aus der Praxis unterschiedliche Antworten gegeben werden. 12 Vgl. Fischer, StraFo 2009, 177, 178 (Absprachen „setzen ihrer Natur nach Regeln wechelseitiger Kontrolle außer Kraft, welche das rechtsstaatliche Strafverfahrensrecht prägen“); Saliger, JuS 2006, 8, 12. 6

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handlung mit ungewissem Ausgang aus; im administrativen Strafverfahren wird die Straftat, beziehungsweise der Verdacht ihrer Begehung, vielmehr in wenig aufwendiger Weise nach bürokratischen Regeln und möglichst im Konsens mit allen Betroffenen verarbeitet. Auf die wirksame Außendarstellung der Verwirklichung von Gerechtigkeit (im Sinne des Postulats „justice must not on ly be done but must be seen to be done“) kommt es in einem solchen System weniger an als auf die glatte, ökonomische Abwicklung der Fälle. Ich werde auf diesen allgemeinen Kontext der Absprachengesetzgebung am Ende dieses Beitrags zurückkommen. Zunächst möchte ich jedoch ein paar Charakteristika und Streitpunkte der neuen gesetzlichen Regelung behandeln.13

II. Grundlagen der gesetzlichen Regelung: zwischen Wahrheitsfindung und Parteiautonomie In der Begründung zu dem Entwurf des Gesetzes über die „Verständigung im Strafverfahren“14 erkennt die Bundesregierung an, dass sich „die Suche nach einem einvernehmlichen Abschluss des Strafverfahrens … nicht ohne Weiteres mit den überkommenen Grundsätzen des Strafverfahrens, wie der Ermittlung der Wahrheit durch das Gericht, der Schuldangemessenheit der Strafe und der Fairness des Verfahrens, in Übereinklang (sic) bringen“ lasse.15 Nichtsdestoweniger sei es Ziel des Entwurfes, „die Verständigung so zu regeln, dass sie mit den tradierten Grundsätzen des deutschen Strafverfahrens übereinstimmt.“ Auch die „Grundsätze der Strafzumessung“ sollten unberührt bleiben.16 Damit grenzen sich die Autoren des Entwurfs gegenüber Vorschlägen ab, die das Absprachenverfahren auf eine neue, eigenständige Legitimationsgrund___________ 13

Zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Beitrags war die gesetzliche Regelung noch nicht in Kraft getreten. Nach Zustimmung des Bundesrates wurde das Gesetz am 29.07.2009 verkündet. 14 Der Begriff der „Verständigung“ soll offenbar an die Stelle des inzwischen eingebürgerten Ausdrucks „Absprache“ treten, obwohl „Verständigung“ nach üblichem Sprachgebrauch eher den Vorgang als das Ergebnis der Kommunikation unter den Beteiligten bezeichnet. Die Verwendung eines Ausdrucks mit ausschließlich positiver Konnotation (wer möchte schon gegen „Verständigung“ sein?), der zudem in etymologischer Nähe zu „Verständnis“ und „Verstand“ steht, passt gut zu der heute verbreiteten Vorliebe des Gesetzgebers für verschleiernde Euphemismen. Hierzu kritisch auch Schünemann, ZRP 2009, 104, 106. 15 BT-Drucksache 16/12310 v. 18.3.2009, S. 1. 16 BT-Drucksache 16/12310 v. 18.3.2009, S. 1. Siehe auch a.a.O S. 9: „Dieser Gesetzentwurf integriert die Verständigung als formalisierten Ablauf in das geltende Strafprozessrecht, ohne die das Strafverfahren prägenden Grundsätze, wie insbesondere die Aufklärung des Sachverhaltes von Amts wegen und zur vollen Überzeugung des Gerichtes als Grundlage des Urteils, anzutasten.“

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lage stellen wollten.17 Nicht die auf Wahrheitssuche gegründete Überzeugung des Gerichts sollte nach diesem Konzept das Urteil fundieren, sondern der Konsens der Verfahrensparteien. Der Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer, einer der wesentlichen Proponenten des „Konsens“-Ansatzes, geht davon aus, dass „in einem gesetzlich eröffneten Rahmen die Rechtsgestaltung durch den übereinstimmenden Willen der daran Beteiligten erfolgen kann“.18 Dies sei auch dem Strafverfahren „nicht gänzlich strukturfremd“.19 Die Konsequenz und der „Clou“ dieses Ansatzes besteht darin, dass er außer dem Einigsein der Beteiligten keine weiteren legitimierenden Voraussetzungen für den Urteilsspruch verlangt, insbesondere kein Geständnis des Angeklagten. Es muss nur der Streit zwischen Anklage und Verteidigung im Wege gegenseitigen Nachgebens (vgl. § 779 I BGB) beseitigt werden; die Konzession des Angeklagten kann auch auf rein prozessualer Ebene liegen, etwa im Verzicht auf Beweisanträge oder auch auf den Einspruch gegen die Verwertung eigentlich unverwertbarer Beweismittel (!).20 In gewisser Weise ist die Rückführung der Absprachenpraxis auf den Gedanken, dass allein schon die Übereinstimmung der „Parteien“ Recht schafft, eine ehrliche Anerkennung der tatsächlich gegebenen Situation.21 Wenn der Gesetzgeber demgegenüber darauf beharrt, dass durch den neuen § 257c StPO an den „tradierten Grundsätzen“ des deutschen Strafverfahrens nichts geändert werde, so klingt das nach etwas verzweifelter Selbstsuggestion: Zwar kann das Gericht den Angeklagten nun ohne Beweisaufnahme verurteilen und ist auf ei___________ 17 In diesem Sinne Jahn/Müller, JA 2006, 681, 685 f. (das Festhalten am Aufklärungsgrundsatz sei angesichts der Absprachenpraxis „wirklichkeitsfremd“); Widmaier, NJW 2005, 1985, 1987. Mit diesem Ansatz sympathisiert auch Satzger, StraFo 2006, 42, 48 (man dürfe sich bei der Erkundung neuer Wege nicht „von Denkverboten oder angeblich grundlegenden Verfahrensprinzipien“ abschrecken lassen). Ein „Konsensprinzip“ im Strafverfahren wird entwickelt von Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, 2006, S. 75 ff.; überwiegend kritisch dagegen Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), S. 175, 177 ff.; Sinner, Der Vertragsgedanke im Strafprozeßrecht, 1999, S. 179 ff.; Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren, 2002, S. 66 ff. 18 Strafrechtsausschuss BRAK, NJW-Sonderdruck „Der Deal im Strafverfahren“, 2006, S. 3. 19 Strafrechtsausschuss BRAK a.a.O. 20 So ausdrücklich Strafrechtsausschuss BRAK a.a.O. S. 7. Zur Kritik siehe MeyerGoßner, StV 2006, 485; ders. NStZ 2007, 425, 427; Strafrechtsausschuss des DAV, StraFo 2006, 89, 93; Weigend in: Weigend/Walther/Grunewald (Hrsg.), Strafverteidigung vor neuen Herausforderungen, 2008, S. 357, 366 ff.; Weßlau, StraFo 2007, 1. Die Umsetzung des Konsensprinzips in dem konkreten Gesetzgebungsvorschlag des BRAKStrafrechtsausschusses unterscheidet sich übrigens nicht wesentlich von der nun Gesetz gewordenen Regelung, außer dass nach dem Vorschlag der BRAK die Initiative zur Absprache nicht vom Gericht, sondern gemeinsam von Staatsanwaltschaft und Angeklagtem ausgehen sollte. 21 Ebenso Fischer, StraFo 2009, 177, 183 f.

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nen vorher zugesagten Strafrahmen festgelegt, aber „im Prinzip“ lasse man doch alles beim Alten. Den offensichtlichen Widerspruch zwischen dem System der (prinzipiell) bindenden Vorab-Verständigung über den Urteilsspruch und der Pflicht des Gerichts, den Sachverhalt in der Hauptverhandlung vollständig aufzuklären, hat der Gesetzgeber durch einen Federstrich aufzulösen versucht: Nach § 257c I 2 StPO n.F. bleibt § 244 II StPO „unberührt“. Mit dieser salvatorischen Klausel zur Rettung des Amtsaufklärungsgrundsatzes wäscht der Gesetzgeber seine Hände in Unschuld – wohl wissend freilich, dass der „unberührte“ § 244 II StPO in den vergangenen dreißig Jahren die Gerichte nicht am Dealen gehindert hat und dies auch in Zukunft nicht tun wird. Da nach dem neuen Recht die Verständigung schon dadurch für das Gericht bindend zustande kommt, dass die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte einen Strafmaßvorschlag des Gerichts annehmen (§ 257c III 3 StPO n.F.), und da der Zeitpunkt für die Verständigung gesetzlich nicht festgelegt ist, wird die Praxis auch weiterhin die Entgegennahme eines „schlanken“ Geständnisses gleich zu Beginn der Hauptverhandlung als hinreichende Sachaufklärung behandeln und damit die Verpflichtung nach § 244 II StPO zur Fiktion degradieren. Fischer bringt die Situation auf den Punkt: „Selbstverständlich bleibt in der Praxis die Aufklärungspflicht gerade nicht ‚unberührt‘; ihre Beschränkung ist ja wesentlicher Teil jeder Absprache.“22 Die jetzt gefundene Regelung versucht ohne großen Erfolg einen Kompromiss zwischen dem in Deutschland (theoretisch) immer noch bestimmenden „inquisitorischen“ Prinzip der richterlichen Sachaufklärung einerseits und dem Parteiverfahren anglo-amerikanischer Prägung andererseits. Während in Letzterem autonome Absprachen zwischen Ankläger und Angeklagtem über den Streitstoff ihren systematisch stimmigen Platz haben,23 bleiben sie in einem auf gerichtliche Wahrheitssuche und -findung ausgerichteten Prozesssystem immer ein Fremdkörper. Das lässt sich auch durch die Behauptung, Absprachen ließen die Grundprinzipien des Strafverfahrens „unberührt“, nicht verbergen. Allerdings spiegelt sich das inquisitorische Erbe in der Regelung des § 257c StPO n.F. insofern wider, als hier die Verständigung keine Gestaltungsmöglichkeit in der Hand der „Parteien“ ist, sondern ein Werkzeug des Gerichts zur Verfahrensabkürzung: Nach § 257c I 1 StPO n.F. „kann“ das Gericht in geeigneten ___________ 22

Fischer, StraFo 2009, 177, 181. Siehe hierzu auch Wagner, GS Eckert, 2007, S. 939, 948 (Absprachen haben „mit dem Prinzip der materiellen Wahrheit nichts gemein“). 23 Siehe hierzu eingehend Trüg, ZStW 120 (2008), 331, 340 ff., der auch die Konsequenzen aus einem echten Systemwechsel zu einem „konsensualen“ Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild, nämlich die Zulassung von fact bargaining und charge bargaining, zutreffend aufzeigt (a.a.O S. 372 f.). Siehe zur Situation in den USA aus dem jüngeren deutschsprachigen Schrifttum ferner Kempf, StV 2009, 269, 271 ff.; Ransiek, ZIS 2008, 116.

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Fällen eine Verständigung initiieren, und nach § 257c III 1 gibt das Gericht bekannt, welchen Inhalt die Verständigung haben könnte. Sowohl die Frage, ob überhaupt die Möglichkeit einer Verständigung ins Spiel gebracht wird,24 als auch die Konturen ihrer Ausgestaltung liegen also allein in der Hand des Richters – auch wenn dieser in der Praxis die jeweiligen Erwartungen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung vorher mit diesen besprechen dürfte. Insgesamt hat sich mit § 257c StPO n.F. als Absprachenregelung die Variante „Richterparadies“ durchgesetzt: Das Gericht hat freie Hand, und es kann nach wie vor virtuos mit der „Sanktionsschere“ spielen25, ohne dass es an eine allseits konsentierte „Verständigung“ tatsächlich gebunden wäre – denn § 257c IV 1 StPO n.F. erlaubt einen Rückzug von der getroffenen „Verständigung“ schon im Fall eines einseitigen Motivirrtums des Gerichts („... wenn rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind“; dazu noch unten). Die übrigen Verfahrensbeteiligten müssen nach dem gerichtszentrierten Modell des Gesetzes erst dann beteiligt werden, wenn das Gericht sich – wohl in erster Linie auf der Grundlage der Verfahrensakten, möglicherweise auch aufgrund informeller Vorgespräche mit Staatsanwaltschaft und Verteidigung26 – eine vorläufige Meinung zu einer möglichen Sanktionsentscheidung gebildet hat. Erst dann erhalten die Verfahrensbeteiligten „Gelegenheit zur Stellungnahme“ (§ 257c III 3 StPO n.F.). Mit dieser Rollenverteilung ist nicht nur die dominante Rolle des Vorsitzenden bzw. der Berufsrichter im Absprachenprozess zementiert, sondern gleichzeitig werden auch die übrigen Verfahrensbeteiligten an den Rand gedrängt und zur quantité négligeable degradiert. Das betrifft zunächst die Laienrichter, denen der in der Regel bereits zu Beginn der ___________ 24 Die Bundesregierung wollte den Verfahrensbeteiligten ausdrücklich nur die Möglichkeit einräumen, eine Verständigung „anzuregen“ (BT-Drucksache 16/12310 v. 18.3.2009, S.13: „Selbstverständlich können die Verfahrensbeteiligten entsprechende Anregungen vorbringen, die allerdings für das Gericht ebenso wenig bindend sind wie eine Anregung des Gerichtes zu einer Verständigung für die Verfahrensbeteiligten“). Dass der Angeklagte keinerlei Anspruch auf ein „faires Angebot“ hat, sondern bei der Frage, ob ihm die Möglichkeit eines Strafnachlasses eröffnet wird, ganz vom Wohlwollen des Gerichts abhängig ist, verstößt gegen die Verfahrensfairness ebenso wie gegen den Gedanken der Gleichbehandlung; Terhorst, GA 2002, 600, 614; Weßlau, StV 2006, 357, 360 f. 25 Siehe dazu die scharfe Kritik von Schünemann, ZStW 119 (2007), 945, 950 ff. 26 Solche Vorgespräche über den „Stand des Verfahrens“ – ein weiterer verschleiernder Euphemismus! – erklärt der Gesetzgeber mit großer Akribie in verschiedenen Stadien des Verfahrens für zulässig (§§ 160b, 202a, 257b StPO n.F.). Mit Recht ist in diesem Zusammenhang bemerkt worden, dass Juristen zur Führung unverbindlicher Gespräche keine Lizenz des Gesetzgebers brauchen; Niemöller, GA 2009, 172, 174 f. Der Umstand, dass die Ergebnisse solcher „Erörterungen“ aktenkundig gemacht und in der Hauptverhandlung mitgeteilt werden müssen (§§ 160b S. 2, 202a II, 243 IV 1 StPO), dürfte im Übrigen dazu führen, dass wirklich relevante Gespräche noch „unterhalb“ der vom Gesetzgeber eingezogenen Ebene geführt werden.

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Hauptverhandlung fertig „angedachte“ Kompromiss nur noch zum Abnicken präsentiert wird und die mangels Akten- und Sachverhaltskenntnis dazu auch gar keine begründete Stellungnahme abgeben können.27 Marginalisiert wird aber auch der Verletzte, und zwar selbst dann, wenn er sich dem Verfahren als Nebenkläger angeschlossen hat. Denn auch der Nebenkläger braucht nur (nachträglich) angehört zu werden und hat keinerlei Möglichkeit, auf den Inhalt der Verständigung bestimmend Einfluss zu nehmen. Ein Minimalanspruch des Nebenklägers, dass die Staatsanwaltschaft wenigstens eine Erklärung zu seinen Bedenken gegen den vorgeschlagenen Strafrahmen abgibt, wurde vom Bundesrat mit guten Gründen befürwortet;28 die Bundesregierung wies diesen Vorschlag mit dem Argument zurück, dass der Nebenkläger nach § 400 StPO gegen die Strafmaßentscheidung als solche kein Rechtsmittel einlegen könne.29 Dieser Umstand schließt jedoch ein Recht des Verletzten auf die Mitteilung von (hinreichenden) Gründen für die von ihm als unzureichend empfundene Sanktionsabsprache keineswegs aus, sondern begründet eher einen solchen Anspruch.30 Zustimmen müssen dem Vorschlag des Gerichts nach § 257c III 4 StPO n.F. nur der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft. Die Anerkennung eines VetoRechts der Staatsanwaltschaft formalisiert die übliche Praxis. Freilich dringt damit ein Element des Parteiverfahrens ein, das manche Autoren kritisch sehen31: Wenn es nur um die Strafmaßfestsetzung durch das Gericht aufgrund eines (erwarteten) Geständnisses des Angeklagten ginge, bräuchte man keine formelle Zustimmung der Staatsanwaltschaft – diese könnte ihre etwa abweichenden Vorstellungen systemkonform durch die Einlegung eines Rechtsmittels gegen das Urteil geltend machen. Ein Kernstück des traditionellen inquisitorischen Verfahrens ist die Verpflichtung des Gerichts, die urteilsrelevanten Tatsachen so weit aufzuklären, dass es seinen Spruch guten Gewissens auf seine Tatsachenfeststellungen stützen kann. Einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung dieses Ziels kann ein umfassendes Geständnis des Angeklagten liefern. Deshalb ist es eine ganz entscheidende Frage für die systematische Einordnung (und für die praktische ___________ 27

Siehe dazu Fischer, StraFo 2009, 177, 183; zur Beteiligung der Schöffen in der Rechtswirklichkeit auch G. Schöch, Urteilsabsprachen in der Strafrechtspraxis, 2007, S. 134 f. 28 BR-Drucksache 65/09 v. 6.3.2009, Nr. 4. Nach einem weitergehenden Vorschlag des Saarlandes sollte der Nebenkläger bei Verbrechen gegen die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung sogar ein VetoRecht gegen die Verständigung erhalten; BR-Drucksache 65/3/09 v. 4.3.2009. 29 BT-Drucksache 16/12310 v. 18.3.2009, Anlage 4, zu Nr. 4. 30 Zutreffend Fischer, StraFo 2009, 177, 182. 31 Schünemann, ZRP 2009, 104, 106; siehe auch Meyer-Goßner, ZRP 2009, 107, 108 f.

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Durchführung) einer Absprachenregelung, in welchem Umfang sie für eine wirksame „Verständigung“ ein Geständnis voraussetzt. Der Gesetzgeber erklärt dazu zunächst in § 257c II 1 StPO n.F., dass „das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten“ Gegenstand der Verständigung sein dürfe. Damit ist offenbar jede Art von prozessualer Konzession gemeint, also etwa auch der Verzicht der Verteidigung auf jegliche Anträge.32 Inwieweit ein passives Prozessverhalten als solches oder vielleicht auch aktiv selbstbelastende Handlungen des Angeklagten, wie die Lieferung von belastenden Beweismitteln gegen sich oder gegen Mitangeklagte, als legitime Strafzumessungsfaktoren gelten können, erscheint mir allerdings nach wie vor als sehr zweifelhaft.33 Zur Frage des Geständnisses heißt es dann in § 257c II 2 StPO n.F.: „Bestandteil jeder Verständigung soll ein Geständnis sein.“ Damit nimmt der Gesetzgeber eine unklare Mittelposition zwischen den Befürwortern des zwingenden Erfordernisses eines umfassenden inhaltsreichen Geständnisses und den Anhängern einer vollständigen Freiheit bezüglich des Geschäftsgegenstandes bei Absprachen ein. Zu den „free traders“ gehört etwa der Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer, der in seinem Gesetzesvorschlag als Gegenleistung für einen vereinbarten Strafnachlass auf Seiten des Angeklagten nur die Erfüllung „sachgemäßer Bedingungen“ gefordert hat, von denen die Ablegung eines Geständnisses nur eine unter mehreren Möglichkeiten sein sollte.34 Auf der anderen Seite wünschte der Bundesrat eine Formulierung, wonach Voraussetzung jeder Verständigung „ein der Nachprüfung zugängliches und zur Überzeugung des Gerichtes der Wahrheit entsprechendes Geständnis“ sein sollte.35 Der Bundesrat begründete diese Forderung mit der Geltung des ___________ 32

In der Begründung zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird behauptet, dass die Zusage eines bestimmten Strafrahmens durch das Gericht als Gegenleistung für den Verzicht des Angeklagten auf weitere Beweisanträge ausgeschlossen sei, da keine unsachgemäße Verknüpfung des jeweils angesonnenen oder in Aussicht gestellten Verhaltens stattfinden dürfe; BT-Drucksache 16/12310 v. 18.3.2009, S. 13. Diese Einschränkung ergibt sich jedoch nicht aus dem Gesetz. Außerdem fehlt es an einem Maßstab dafür, worin überhaupt eine „sachgemäße“ Verknüpfung zwischen Prozessverhalten und Strafzumessung liegen soll. 33 Für Streichung der Worte „Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten“ daher auch der Bundesrat, BR-Drucksache 65/09 v. 6.3.2009, Nr. 2, der auch mit Recht darauf hinweist, dass die Regelung der Verteidigung Anreize dazu gibt, zunächst eine Vielzahl von Anträgen „anzudrohen“, um sich dann den Verzicht auf sie vom Gericht durch einen Strafnachlass abkaufen zu lassen. Übereinstimmend Meyer-Goßner, StV 2006, 485, 487; ders. ZRP 2009, 107, 108; Niemöller, GA 2009, 172, 179 f.; siehe auch schon Weigend, JZ 1990, 774, 778 f. 34 Strafrechtsausschuss BRAK (Fn. 18) S. 4 (§ 243a I). Auch im Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums vom 18.5.2006 war noch ganz generell „das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten“ zum Gegenstand der Verständigung erklärt worden ( § 257c II 1 StPO in der Fassung des Entwurfs). 35 BR-Drucksache 65/09 v. 6.3.2009, Nr. 3.

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Amtsaufklärungsgrundsatzes. Und tatsächlich wird man nur in Ausnahmefällen das (nach § 257c I 2 StPO n.F. fortbestehende) Erfordernis der vollständigen gerichtlichen Sachaufklärung nach § 244 II StPO als erfüllt ansehen können, wenn der Angeklagte die urteilsrelevanten Tatsachen nicht eingeräumt hat.36 Auch die „soll“-Regelung der vom Bundestag verabschiedeten Gesetzesfassung dürfte also in der Praxis auf die Notwendigkeit eines Geständnisses als Voraussetzung für eine Verständigung hinauslaufen. Die eigentlich kritische Frage ist aber der notwendige Inhalt des Geständnisses. Hierzu enthält die vom Bundestag verabschiedete Gesetzesfassung über den nackten Begriff „Geständnis“ hinaus keine Anforderungen. Die Bundesregierung hatte in der Begründung des Gesetzentwurfes37 ausdrücklich auf die jüngere Rechtsprechung des BGH verwiesen, wonach ein abgesprochenes Geständnis wenigstens so konkret sein muss, „dass geprüft werden kann, ob es derart im Einklang mit der Aktenlage steht, dass sich hiernach keine weitere Sachaufklärung aufdrängt. Ein bloßes inhaltsleeres Formalgeständnis reicht hingegen nicht aus …“.38 Daran anknüpfend wollte der Bundesrat, ganz im Sinne des Zieles einer Einbettung der Absprachen in die alten „Prozessgrundsätze“, ein der Nachprüfung zugängliches, d.h. inhaltsreiches Geständnis verlangen.39 Dem hielt die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung zwei recht matte Argumente entgegen: „Zusätzliche Kriterien wie die Umfassendheit (sic) oder Nachprüfbarkeit eines Geständnisses wären zu unbestimmt und könnten Besonderheiten des Einzelfalles nicht ausreichend Rechnung tragen.“ Und „Fälle, in denen die Nachprüfbarkeit eines Geständnisses nur durch die Aussage des Opfers in der Hauptverhandlung möglich ist, würden dem Bestreben zuwiderlaufen“, dem Opfer eine erneute Vernehmung zu ersparen.40 Das erste Argument passt schlecht zu einem Gesetzentwurf wie dem der Bundesregierung, der alle wesentlichen Sachfragen mit einer Vielzahl von unbestimmten Begriffen und Ermessensbefugnissen des Gerichts zudeckt;41 es widerspricht ___________ 36

Eine solche Ausnahme mag gegeben sein, wenn der Angeklagte seine Beteiligung an dem Tatgeschehen bereits eingeräumt hat, wenn er aber durch Beweisanträge die Aufklärung weiterer Begleitumstände (etwa zu den Folgen der Tat) verlangen könnte. 37 BT-Drucksache 16/12310 v. 18.3.2009, S. 14. 38 BGHSt 50, 40, 49. Die in diesem Punkt teilweise wesentlich „großzügigere“ frühere Rechtsprechung (siehe etwa BGH NStZ 1999, 92) dürfte damit überholt sein. 39 BR-Drucksache 65/09 v. 6.3.2009, Nr. 2. Zustimmend Meyer-Goßner, ZRP 2009, 107, 108. 40 BT-Drucksache 16/12310 v. 18.3.2009, Anlage 4, zu Nr. 3. 41 Nur beispielhaft: Nach § 257c I 1 StPO n.F. kann sich das Gericht in geeigneten Fällen mit den Verfahrensbeteiligten verständigen; nach § 257c II 2 kann das Gericht unter freier Würdigung aller Umstände des Falles sowie der allgemeinen Strafzumessungserwägungen auch eine Ober- und Untergrenze der Strafe angeben. Eine allzu bestimmte Festlegung der Verfahrensweise wird dem Gesetzgeber niemand vorwerfen können!

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außerdem der Begründung, die die Bundesregierung selbst ihrem Gesetzentwurf beigegeben hatte.42 Das zweite Argument ist schon sprachlich unverständlich (wie sollen Fälle einem Bestreben „zuwiderlaufen“?)43 und unterliegt außerdem dem Missverständnis, dass ein „der Nachprüfung zugängliches“ Geständnis stets auch tatsächlich durch eine (bestimmte) Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung nachgeprüft werden müsse.44 Jedenfalls wird im Ergebnis vom Gesetz nicht mehr als ein Formalgeständnis, also ein allgemeines oder vielleicht auch nur eingeschränktes Anerkenntnis des Anklagesatzes gefordert. Hier zeigt sich erneut der unsichere Kompromisscharakter des Gesetzes: Formal huldigt man den alten Prozessgrundsätzen, in Wirklichkeit öffnet man das Tor für „konsensuale“ Urteile auf der Grundlage (allenfalls) der Verfahrensakten und überlässt damit die Entscheidung dem freien Spiel der (ungleichen) Kräfte unter den Verfahrensbeteiligten.

III. Einzelfragen 1. Gegenstand und Inhalt der Verständigung Der zulässige Inhalt einer Verständigung wird vom Gesetzgeber relativ klar eingegrenzt. Als „Leistung“ des Angeklagten kommt, wie gesagt, sein gesamtes Prozessverhalten, insbesondere ein Geständnis in Frage. Da in § 257c II 1 StPO n.F. umfassend vom Prozessverhalten „der Verfahrensbeteiligten“ die Rede ist, steht nichts im Wege, auch Entscheidungen der Staatsanwaltschaft – etwa die Zustimmung zur Einstellung der Verfolgung einzelner Taten nach § 154 II StPO – in die Absprache einzubeziehen. Theoretisch kommen sogar „Leistungen“ des Nebenklägers in Betracht.45 Als zulässige „Gegenleistungen“ des Gerichts definiert das Gesetz in § 257c II 1 StPO n.F. die Rechtsfolgen, „die Inhalt des Urteils und der dazugehörigen Beschlüsse sein können“, sowie „sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrundeliegenden Erkenntnisverfahren“. Unter Letzteren versteht die Gesetzesbegründung der Bundesregierung „auch verfahrensbezogene Maßnahmen, wie Einstellungsentscheidungen und Beweiserhebungen.“46 Hauptgegenstand ___________ 42

Siehe oben bei Fn. 37. Immerhin sprachlich besser nachvollziehbar war derselbe Sachverhalt in BTDrucksache 16/12310 v. 18.3.2009 S. 14 ausgedrückt worden. 44 Siehe in diesem Zusammenhang auch die Untersuchung von G. Schöch (Fn. 27) S. 152 ff., wonach bei der Mehrzahl der Absprachenfälle bei den Landgerichten München I und II eine gewisse Überprüfung des Inhalts des Geständnisses stattfand. 45 So auch BT-Drucksache 16/12310 v. 18.3.2009, S. 13. 46 A.a.O. Inwiefern „Beweiserhebungen“ als Gegenstand von Verständigungen in Frage kommen, erschließt sich mir nicht. Entweder das Gericht ist zu einer Beweiserhe43

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von Verständigungen soll jedoch wohl der „Inhalt des Urteils“ sein. Insofern schränkt das Gesetz, in Übereinstimmung mit der neueren Rechtsprechung47, die Objekte der Verständigung ein: „Der Schuldspruch sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung dürfen nicht Gegenstand einer Verständigung sein.“ (§ 257c II StPO n.F.). Dahinter steht das Verständnis, dass (erst) bei Absprachen auf der Ebene des Schuldspruchs, d.h. bei der Zuordnung des Tatgeschehens zu bestimmten Straftatbeständen, ein unerwünschter „Handel mit Gerechtigkeit“ stattfände, während beim Strafmaß gewissermaßen eine bezüglich der Gerechtigkeit neutrale Verfügungsmasse bestehe. Diese Sichtweise gibt dem Schuldspruch zuviel, dem Strafausspruch zu wenig Respekt. Denn einerseits hat natürlich auch die Bestimmung des Strafmaßes Rechtsqualität und kann nicht nach Belieben ausgehandelt werden (dazu sogleich); andererseits ginge es an der (Absprachen-)Verfahrensrealität vorbei anzunehmen, dass in deutschen Gerichten nicht auch „fact bargaining“ und damit die Manipulation des zur Verurteilung kommenden Tatbestandes einschließlich etwaiger Qualifikationen oder Privilegierungen betrieben wird. Nur auf diese Weise kann man ja in manchen Fällen das gewünschte Ergebnis erreichen, etwa wenn bei realitätsgerechter Betrachtung der Tatumstände eine „zu hohe“ gesetzliche Mindeststrafe drohen würde.48 Außerdem ist nicht recht einzusehen, warum gerade die Subsumtion des Täterverhaltens unter einen bestimmten Tatbestand von so hoher rechtlicher Dignität sein soll, dass es sich jeder (sonst großzügig gebilligten) „Verständigung“ entzieht. Allein die Rechtsfolgen (außer den Maßregeln) sollen also nach der Vorstellung des Gesetzgebers zur Disposition der „Handelspartner“ stehen. Wie sich aus § 257c IV 1 StPO n.F. ergibt, ist eine Verständigung aber trotz aller Freiheit auf der Strafzumessungsebene dann prekär, wenn die vereinbarten Rechtsfolgen nicht „tat- oder schuldangemessen“49 sind. Ob eine – häufig gegenüber einem Strafausspruch nach vollständiger Hauptverhandlung stark verminderte – Sanktion noch schuldadäquat ist, hängt von der Frage ab, in welchem Umfang ___________ bung nach § 244 II StPO oder aufgrund eines Beweisantrags verpflichtet, dann darf es den Beweisbeschluss nicht von einer Gegenleistung des Angeklagten abhängig machen; oder die Beweiserhebung ist für das Verfahren irrelevant und auch nicht Gegenstand eines wirksamen Beweisantrags, dann kann es sich nur um eine für den Prozess bedeutungslose Schein-Maßnahme handeln. 47 BGHSt 50, 40, 50. 48 Vgl. Fischer, StraFo 2009, 177, 181, 186. 49 Diese Formulierung des Gesetzes wirft die Frage auf, ob es im Strafzumessungsrecht eine von der Schuldadäquanz getrennt zu betrachtende „Tatangemessenheit“ gibt. § 46 I StGB liefert für eine solche Betrachtungsweise jedenfalls keine Grundlage, und in § 46 II StGB bilden die „Art der Ausführung und die verschuldeten (!) Auswirkungen der Tat“ nur einen Aspekt unter vielen, die bei der Festsetzung der Sanktion zu beachten sind. Siehe hierzu NK-StGB/Streng, 2. Aufl. 2005, § 46 Rn. 22 ff., 57 f.

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die Schuld dadurch gemindert wird, dass der Täter seinen Teil der „Verständigung“ erfüllt, indem er ein Geständnis ablegt. Dies ist häufig erörtert worden.50 Trotz aller verbalen Akrobatik der Anhänger von Absprachen ist dabei die Frage ungelöst geblieben, weshalb ein mit dem (meist offensichtlich: alleinigen) Zweck einer Strafmilderung lange nach der Tat abgegebenes Geständnis die Tatschuld erheblich soll herabsetzen können. Tatsächlich geht es ja auch gar nicht um Schuld, Einsicht, Reue oder Verbesserung der spezialpräventiven Prognose, nicht einmal um die Förderung der gerichtlichen Sachaufklärung51, sondern schlicht um die Honorierung eines Beitrags des Angeklagten zur Abkürzung des Verfahrens. Man kann ja der Auffassung sein, dass die aus dem Geständnis resultierende Einsparung von Justiz-Ressourcen den Preis eines Strafnachlasses wert ist – nur sollte man dann auch den Mut haben, dies offen auszusprechen und in die Strafzumessungskriterien des § 46 II StGB einen neuen Spiegelstrich „– das Bemühen des Täters, das Strafverfahren abzukürzen“ aufzunehmen. Nach § 257c III 2 StPO n.F. „kann“ das Gericht eine Ober- und Untergrenze der Strafe angeben, die es für angemessen hält, sofern der Angeklagte seine prozessuale Gegenleistung erbringt. In der bisherigen Rechtsprechung war zumeist nur von einer Obergrenze des Strafmaßes die Rede52, und auch weiterhin dürfte es für den Angeklagten nur darauf ankommen zu erfahren, welche Sanktion ihm im ungünstigsten Fall droht. Da das Gericht nach dem Gesetz nicht verpflichtet ist, im Zuge einer Verständigung irgendwelche Zusagen zur Strafhöhe zu machen, bleibt es auch weiterhin zulässig, allein die zu erwartende Höchststrafe mitzuteilen. Die Angabe einer Untergrenze kann sich empfehlen, wenn es wichtig ist, die Staatsanwaltschaft ihrerseits zu einem bestimmten „Prozessverhalten“ zu veranlassen. Je enger allerdings der Rahmen ist, auf den sich das Gericht vorab festlegt, desto mehr wachsen die Zweifel daran, dass die Richter noch mit unbefangenem Blick das Gewicht des Geständnisses oder sonstiger Informationen aus der Hauptverhandlung würdigen können: Erklärt etwa der Vorsitzende vor Beginn der Hauptverhandlung, dass im Fall eines Geständnisses eine Strafe zwischen 23 und 24 Monaten Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung, zu erwarten sei, so wird die Sanktion faktisch aufgrund des Akteninhalts ausgehandelt, und nur die Rückzugsmöglichkeit nach § 257 c IV 1 StPO n.F. (dazu sogleich) eröffnet dem Gericht noch die theoretische

___________ 50

Grundlegend Dencker, ZStW 102 (1990), 60; gute Zusammenfassung der Grundsätze bei Streng (Fn. 49), § 46 Rn. 78 ff. Zu meiner eigenen Position siehe Weigend (Fn. 20), S. 382 ff. 51 So aber Niemöller, GA 2009, 172, 178. 52 BGHSt 43, 195, 207; 50, 40, 51.

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Möglichkeit, auf „Überraschungen“ in der Hauptverhandlung überhaupt zu reagieren.53

2. Scheitern von Verständigungen Von den zahlreichen denkbaren Situationen, in denen der Versuch, zu einer Absprache über das Verfahrensergebnis zu kommen, letztlich scheitert, regelt das Gesetz nur eine: dass das Gericht eine Entscheidung verbindlich (d.h. mit Zustimmung des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft) in Aussicht gestellt hat und dann von dem avisierten Strafrahmen wieder abgehen möchte. Scheitert ein „deal“ schon vor einem offiziellen Verständigungsangebot, obwohl Verteidigung und Gericht die Möglichkeiten bereits im Gespräch ausgelotet hatten, so kann der Angeklagte in eine sehr ungünstige Lage geraten: Aus seiner ursprünglichen Gesprächsbereitschaft wird das Gericht den naheliegenden Schluss ziehen, dass er (vermutlich belastende) Informationen zum Urteilsgegenstand hat, so dass ihn sein Schweigen oder Leugnen in einer schließlich doch durchgeführten Hauptverhandlung zwar nicht rechtlich, aber doch richterpsychologisch erheblich belastet. Diese Situation ist für die Verteidigung umso schwieriger je weiter sich der Verteidiger in den gescheiterten Gesprächen bereits vorgewagt hat. Das Gesetz sieht für diese Situation kein Recht des Angeklagten vor, die an den Vorgesprächen beteiligten Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. So bleibt es dem Richter selbst überlassen zu prüfen, ob er dem Angeklagten noch unbefangen gegenübertreten kann, und andernfalls nach § 30 StPO vorzugehen. Die elegantere, aber natürlich auch aufwendigere Lösung wäre es gewesen, wenn der Gesetzgeber für den Fall, dass eine Verständigung nach § 257b, 257c StPO n.F. versucht wird, aber nicht zustande kommt, den Ausschluss des betroffenen Richters nach § 23 StPO angeordnet hätte. Kommt nach § 257c III 3 StPO n.F. eine Verständigung durch Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten zu einem Vorschlag des Gerichts zustande, so ist das Gericht grundsätzlich an seine (Strafmaß-)Zusage gebunden. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass der Begriff der „Bindung“ an die Verständigung (so § 257c IV 1 StPO n.F.) die tatsächlich sehr freie Entscheidungssituation für das Gericht nicht zutreffend beschreibt; richtiger wäre es wohl, von einer überaus „wackeligen“ Option des Angeklagten darauf zu sprechen, dass das Urteil tatsächlich so ausfällt wie es der Richter prognosti___________ 53 Deshalb ist die Kritik von Meyer-Goßner, NStZ 2007, 425, 427 f.; ders., ZRP 2009, 107, 108 f., nicht unberechtigt: Tatsächlich tritt durch die Angabe eines „Strafrahmens“ bei der Verständigung ein vorab ausgehandeltes Urteil an die Stelle einer richterlichen Prognose über den möglichen Verfahrensausgang.

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ziert hat. Die „Bindung“ des Gerichts entfällt nach § 257c IV 2 StPO n.F. immer schon dann, wenn „das weitere Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, das der Prognose des Gerichts zugrunde gelegt worden ist“. Dabei bleibt unklar, ob nur die Verletzung einer explizit gemachten und protokollierten Kooperationsforderung des Gerichts ein Abrücken von der Verständigung erlaubt oder ob schon die Enttäuschung einer nur intern gehegten oder allenfalls angedeuteten Erwartung (etwa: „Wir erwarten, dass der Angeklagte alle Karten auf den Tisch legt“) die Rücknahme einer Zusage rechtfertigt. Ebenso ungeklärt ist, in welchem Maße das Verhalten des Angeklagten von dem „zugrunde gelegten“ Prozessverhalten abweichen muss. Wer entscheidet etwa, ob das Geständnis des Angeklagten ein „volles“ oder nur ein „halbes“ ist? Und darf das Gericht beispielsweise schon dann eine höhere als die zugesagte Strafe verhängen, wenn der Angeklagte nur neun von zehn Tatbeteiligten nennt, nachdem er sich zur Aufdeckung seiner Hintermänner verpflichtet hat? Es zeigt sich, dass der Gesetzgeber der Strafprozessordnung nicht wirklich in der Lage ist, ein präzises Recht der prozessualen Schuldverhältnisse zu konzipieren, sondern (vielleicht notwendigerweise) viele wesentliche Details in einer verbalen Grauzone belässt. Angesichts der strukturellen Überlegenheit des Gerichts, das letztlich seine „Vertragsbedingungen“ diktieren kann, sollte man bei der Auslegung der Rücktrittsregelung in § 257c IV StPO n.F. eine bindungsfreundliche (und damit angeklagtenfreundliche), enge Interpretation bevorzugen. Danach sollte ein Abweichen von der Verständigung nach § 257c IV 2 StPO n.F. nur zulässig sein, wenn der Angeklagte eine prozessuale Handlung oder Unterlassung, zu der er sich im Rahmen der Verständigung ausdrücklich verpflichtet hat, jedenfalls zu wesentlichen Teilen nicht erbringt.54 Wenn das Gericht sichergehen will, muss es also seine Erwartungen an den Angeklagten im Detail schriftlich fixieren und zu Protokoll geben. Nur dadurch wird auch Unklarheiten vorgebeugt und die (relative) Fairness des Absprachenverfahrens gesichert. Noch prekärer wird die Lage des Angeklagten aufgrund des Umstandes, dass der Gesetzgeber dem Gericht auch dann eine Rückzugsmöglichkeit gewährt, wenn der Angeklagte seinen Teil des „deal“ vollständig erfüllt, also z.B. ein umfassendes Geständnis abgelegt hat. Auch in diesem Fall kann nämlich das Gericht nach § 257c IV 1 StPO n.F. von der Verständigung abrücken. Dies gilt nicht nur dann, wenn sich nachträglich neue Umstände ergeben haben, die das zugesagte Strafmaß als nicht mehr schuldangemessen erscheinen lassen, sondern sogar dann, wenn das Gericht schulderschwerende Umstände (zu denen

___________ 54 Siehe zu den Fällen der nachträglich festgestellten „Fehleinschätzung“ eingehend Graumann, Vertrauensschutz und strafprozessuale Absprachen, 2006, S. 194 ff.

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auch „rechtlich bedeutsame Umstände“ gehören!) „übersehen“ hat.55 Sowohl Tatsachen- als auch Rechtsirrtümer des Gerichts gehen also zu Lasten des Angeklagten, und zwar selbst dann, wenn sie nur auf mangelnde Sorgfalt des Richters zurückzuführen sind. Mit einer fairen Verteilung von Informationslasten hat diese Regelung nicht viel zu tun.56 Auch hier schlägt vielmehr die inquisitorische, genauer gesagt: die gerichtsdominante Tradition des deutschen Strafverfahrens durch, und zwar zu Lasten des Angeklagten: Da es als unerträglich angesehen wird, dass das Gericht ein Urteil verkünden muss, das es nicht für schuldangemessen hält, gibt man lieber die Idee der gegenseitigen quasivertraglichen Bindung preis, die eigentlich der Einführung der „Verständigung“ zugrunde liegt. Für den Eklektizismus des Prozessmodells bezahlt der Angeklagte. Allerdings hat ihm der Gesetzgeber eine wichtige Konzession gemacht: Falls das Gericht von einer einmal zustande gekommenen Verständigung abweicht, darf das Geständnis, das der Angeklagte „vorgeleistet“ hat57, nicht verwertet werden (§ 257c IV 3 StPO n.F.). Diese Regelung war höchst umstritten. Der Bundesrat58 hat sich gegen sie mit dem Argument gewandt, es sei „denklogisch unmöglich“, ein Geständnis, welches zudem in Kenntnis aller Umstände und Risiken abgegeben wurde, vollständig ignorieren zu müssen“ zumal wenn es sich um ein überprüfbar zutreffendes Geständnis handle (wie es der Bundesrat nach seinem Konzept bei der „Verständigung“ voraussetzt59). Daran ist richtig, dass sich ein Richter, der ein umfangreiches Geständnis des Angeklagten angehört hat, psychologisch nur schwer in den „Stand der Unschuld“ zurückversetzen und das Gehörte einfach „vergessen“ kann.60 Andererseits wird genau dieses akrobatische Kunststück auch de lege lata schon in vielen Fällen vom Gericht verlangt, nämlich immer dann, wenn ein Beweisverwertungsverbot be___________ 55

Dagegen hatte BGHSt 43, 195, 210 noch das Hervortreten neuer Tatsachen vorausgesetzt; ebenso Niemöller, GA 2009, 172, 173, 183. 56 Nach Bürgerlichem Recht kann sich, wer seiner Erklärung irrig bestimmte Umstände zugrunde gelegt hat, bekanntlich nach § 119 II BGB nur dann durch Anfechtung von seiner Erklärung lösen, wenn sich der Irrtum auf verkehrswesentliche Eigenschaften einer Person oder Sache bezog. Überdies ist der Anfechtende selbst in diesem Fall zum Schadensersatz verpflichtet (§ 122 I BGB). 57 Gemeint ist hier – trotz der neutralen Formulierung („das Geständnis“) – wohl nur ein Geständnis, das der Angeklagte im Zuge einer Verständigung (als sein „Prozessverhalten“ iSv § 257c II StPO n.F.) abgelegt hat. Hat der Angeklagte etwa im Ermittlungsverfahren ein Geständnis abgelegt und ist seine Leistung bei der Verständigung der Verzicht auf die Beantragung von Entlastungsbeweisen, so bleibt das frühere Geständnis auch dann verwertbar, wenn die Verständigung scheitert. 58 BR-Drucksache 65/09 v. 6.3.2009, Nr. 5; übereinstimmend Niemöller, GA 2009, 172, 173, 184. 59 Siehe oben Fn. 39. 60 Zutreffend Meyer-Goßner, NStZ 2007, 425, 429.

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steht und der Richter das betreffende Beweisstück mindestens aus den Verfahrensakten kennt. Letztlich kommt es auch nicht auf die individualpsychologische richterliche Fähigkeit zum „Vergessen“ an, sondern darauf, dass das gesperrte Beweismittel nicht Teil einer rationalen Begründung des Urteilsspruchs werden darf. Dies ist auch bei einem gerichtlichen Geständnis durchaus nicht „denklogisch unmöglich“. Insofern ist die jetzt gefundene Regelung als vernünftiger Ausgleich zwischen den Interessen der Sachaufklärung und der Fairness gegenüber dem Angekagten zu begrüßen. Offen bleibt allerdings die Frage, ob sich die Unverwertbarkeit nur auf das gerichtliche Geständnis als solches oder auch auf Surrogate (etwa Vernehmung eines Protokollführers, der das Geständnis im Gerichtssaal gehört hat?) bezieht und vor allem, wie es um die Verwertbarkeit von Beweisen steht, die erst aufgrund der nunmehr gesperrten Angaben des Angeklagten gefunden werden konnten.61 Es würde den Schutz des Vertrauens des Angeklagten auf die Beständigkeit der Absprache in angemessener Weise komplettieren, wenn man auch Folgebeweise für die weitere Hauptverhandlung als gesperrt ansähe.

3. Rechtsmittelverzicht Eine der erfreulichsten Änderungen, die die Verständigungsnovelle bringt, ist der Ausschluss eines Rechtsmittelverzichts in allen Fällen, in denen eine Verständigung stattgefunden hat (§ 302 I 2 StPO n.F.).62 Damit hat der Gesetzgeber den gordischen Knoten durchschlagen, der sich aufgrund des hartnäckigen Widerstands der untergerichtlichen Praxis gegen die Bemühungen des BGH zum Schutz des Angeklagten vor Übervorteilung und richterlicher Willkür durch aufgenötigten Rechtsmittelverzicht gebildet hatte. Erledigt ist damit auch die umständliche „qualifizierte Belehrung“, die der Große Senat des BGH in Absprachenfällen vorgeschrieben hatte63 und deren praktische Wirksamkeit doch sehr zweifelhaft geblieben ist. Nunmehr besteht für den Angeklagten im Fall einer Verständigung schlicht die Wochenfrist (§§ 314 I, 341 I StPO), während derer er sich darüber klar werden kann, ob er Berufung oder Revision gegen das Urteil einlegen möchte; vorschnelle Festlegungen, die auf offenem oder verdecktem Druck des Gerichts in der Verhandlung beruhen können, sind ausgeschlossen. Dies ist eine prozessual saubere Lösung – auch wenn sie nichts daran ändert, dass sich ein Angeklagter, der gegen eine „einverständliche“ Straffestsetzung mt Rechtsmitteln vorgehen möchte, erheblichem psychologi___________ 61

Diese Lücke moniert auch Fischer, StraFo 2009, 177, 187. Für eine solche Lösung u.a. bereits Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, 71, 77; Pfister, StraFo 2006, 349, 354; Strafrechtsausschuss BRAK (Fn. 18) S. 5. 63 BGHSt 50, 40, 60 ff. 62

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schem Widerstand, nicht zuletzt von Seiten seines Anwalts, ausgesetzt sehen dürfte.

IV. Administration statt Wahrheitsfindung im Strafverfahren? Ohne Zweifel markiert die Aufnahme von Verfahrensabsprachen in die Strafprozessordnung einen weiteren Einschnitt in der (neutral ausgedrückt) Veränderung der Prozesskultur, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat. Sie wird vermutlich die letzten Bedenken gegen den großflächigen Einsatz von „deals“ als Erledigungsmechanismen im Strafverfahren beseitigen und überdies die Stellung des Gerichts gegenüber den Verfahrensbeteiligten weiter verstärken: Aus der rasanten Entwicklung der Verfahrensabsprachen von einer Hinterzimmeraffäre zu einem Institut der Strafprozessordnung geht der Tatrichter als klarer Sieger hervor. Die Verständigung ist ein (Macht-)Instrument, mit dem er fast nach Belieben spielen kann. Da der Gesetzgeber dem Tatrichter breite Ermessensspielräume eingeräumt hat, vermögen auch die Rechtsmittelgerichte seine Macht nicht – oder nur in Extremfällen – wirksam zu kontrollieren.64 Die gesetzliche Etablierung des Verständigungsverfahrens passt zu einer Gesamttendenz des modernen Strafverfahrensrechts, deren Konturen hier nur noch skizziert werden können: Aus der altmodisch-sorgfältigen Aufklärung eines Sachverhalts und der öffentlichen Verhandlung aller für Schuld und Strafe wesentlichen Gesichtspunkte wird für den Regelfall die geräuschlose administrative Erledigung strafrechtlicher Fälle.65 Nicht mehr auf das ostentative Zelebrieren von Gerechtigkeit kommt es an, sondern auf effiziente, schleunige und kostengünstige „Erledigung“ von Strafsachen. Was zählt, ist das Ergebnis, nicht der Prozess. Bevorzugt wird daher die Erledigung in dem wenig formalisierten Ermittlungsverfahren gegenüber der Präsentation und Aburteilung des Falles in einer öffentlichen Hauptverhandlung. Tatsächlich gelangen schon heute nur noch rund 14% aller Fälle, die die Polizei der Staatsanwaltschaft mit einem ermittelten Verdächtigen präsentiert, in eine Hauptverhandlung. In den übrigen Fällen verwendet die Staatsanwaltschaft eine der zahlreichen Optionen, die ihr die Strafprozessordnung für eine Erledigung ohne Hauptverhandlung zur Verfügung stellt (Verfahrenseinstellung nach §§ 170 II oder 153 ff. StPO, Strafbefehl).66 ___________ 64

Auch insoweit zutreffend Fischer, StraFo 2009, 177, 185 f. Zum soziologischen Kontext dieser Entwicklung instruktiv Ludwig-Mayerhofer, Das Strafrecht und seine administrative Rationalisierung, 1998, S. 68 ff. 66 Wenn man die rund 900.000 Fälle außer Betracht lässt, die die Staatsanwaltschaft im Jahre 2007 an andere Behörden abgegeben oder anderweitig erledigt hat, wurden von 65

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Auch für die Fälle, die letztlich in einer Hauptverhandlung abgeurteilt werden, verlagert sich das Schwergewicht des Strafverfahrens auf das Ermittlungsstadium. Damit geht eine Professionalisierung des Verfahrens einher. Da Laienrichter nur in der mündlichen Hauptverhandlung tätig werden, schwindet ihr Einfluss in dem Maße, wie Strafverfahren ohne Hauptverhandlung abgeschlossen werden oder das Urteil durch die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens präjudiziert wird. Die Strafrechtspflege wird eine Angelegenheit allein von Juristen. Verstärkt wird diese Tendenz durch Reformen, die die Beteiligung eines professionellen Verteidigers zumindest faktisch notwendig machen. Wenn beispielsweise die Verteidigung generell das Recht erhält, schon im Ermittlungsverfahren an Zeugenvernehmungen teilzunehmen und dort auch selbst Fragen an den Zeugen zu richten, so kann dieses Recht sinnvollerweise nicht durch den Beschuldigten selbst, sondern nur durch einen juristisch ausgebildeten Strafverteidiger wahrgenommen werden. Zur „Professionalisierung“ gehört auch, dass die Öffentlichkeit in einem weitgehend nur „administrierten“ Strafverfahren nicht mehr als einen kleinen Teil der relevanten Vorgänge erfahren oder miterleben kann. Auch den Medien bleibt in der Regel das meiste von dem verborgen, was im schriftlichen Verfahren statt in einer öffentlichen Hauptverhandlung behandelt wird. Eine demokratische Kontrolle der Strafgerichtsbarkeit wird damit ebenso erschwert wie eine umfassende Information der Allgemeinheit über Straftaten und deren Bewältigung. Zusammenfassend kann man sagen, dass die erkennbare Tendenz des deutschen Strafverfahrens in die Richtung eines effizient organisierten, geräuschlosen und für die Öffentlichkeit weitgehend verborgenen, professionell betriebenen Verwaltens der Fälle geht. Der Beschuldigte und sein Verteidiger werden in diesen Prozess soweit einbezogen wie dies notwendig ist, um ihre Unterwerfung unter das schließlich gefundene Verfahrensergebnis herbeizuführen. Die dramatische öffentliche Darstellung von Schuld und Strafe in der Gerichtsverhandlung ist bereits jetzt die statistische Ausnahme und wird in Zukunft noch seltener werden. Von den wenigen Fällen, die überhaupt das Stadium der Hauptverhandlung erreichen, dürfte nur noch ein kleiner Prozentsatz – die Fälle hartnäckigen Dissenses über das Ob oder Wieviel der Schuld des Angeklagten – in einem „streitigen“ Verfahren entsprechend dem traditionellen Modell der ___________ den verbleibenden rund 4 Millionen polizeilich „aufgeklärten“ Fällen 34% mangels hinreichenden Tatverdachts und 38% nach einer Ermessensvorschrift (einschließlich „Verweisung auf den Privatklageweg“) eingestellt, in 15% wurde ein Strafbefehl beantragt, und nur in den verbleibenden 14% wurde Anklage zum Amts- oder Landgericht erhoben; errechnet aus: Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.6 (Staatsanwaltschaft), 2009, S. 25.

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Strafprozessordnung abgearbeitet werden. Dies sind dann eher Betriebsunfälle als Paradebeispiele einer effizient „funktionierenden“ Strafjustiz.67 Dabei ist eine durchgreifende Erneuerung des Strafprozessrechts, für die es gute Gründe gäbe, nicht in Sicht,68 und zwar auch nicht unter dem Aspekt einer auf „Konsens“ beruhenden Bewältigung von Strafsachen. Man versucht vielmehr, die gewünschte Effizienz in die Strukturen des überkommenen Verfahrens einzubauen. Dabei gibt man vor, an den bisherigen Prozessgrundsätzen festzuhalten, entfernt sich aber in kleinen Schritten und nach dem jeweiligen praktischen Bedarf mehr und mehr von den alten Ideen der Reichsstrafprozessordnung;69 insbesondere gibt man, wie das Beispiel der „Verständigung“ nach § 257c StPO n.F. zeigt, die Orientierung am Ziel der Wahrheitsfindung auf.70 Es wäre angesichts dieser schrittweisen Erosion dringend notwendig, eine offene Grundsatzdiskussion darüber zu führen, welche Ziele man unter den Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts mit dem Strafverfahren erreichen will und mit den zur Verfügung stehenden Mitteln erreichen kann. An einem solchen Diskurs müssten die Justizpraxis und die Wissenschaft beteiligt werden. Es wäre zu überlegen, welche Interessen der Allgemeinheit, des Beschuldigten und des Verletzten zu berücksichtigen sind und welche Funktionen die einzelnen Elemente des Verfahrens erfüllen können und sollen. Die Interessen der Verfahrensbeteiligten haben sich, so möchte ich annehmen, seit der Einführung der Strafprozessordnung nicht grundlegend verändert. Es käme jedoch darauf an, ihre Verwirklichung dem heutigen Stand der Kriminalität, des Strafrechts und der vorhandenen Ermittlungsmethoden anzupassen. In einem solchen neu konzipierten Gesamtsystem des Strafverfahrens könnten durchaus auch konsensuale Elemente Platz finden; in der Hülle des traditionellen Strafverfahrens werden sie jedoch, so ist zu befürchten, weiterhin nur Beschleunigung, aber keinen Frieden schaffen. Diese kleine Abhandlung widme ich mit einem herzlichen Glückwunsch dem verehrten Kollegen Manfred Maiwald zum Geburtstag. Der Jubilar war für mich stets ein Vorbild an wissenschaftlicher Gründlichkeit und Redlichkeit, und er hat sich insbesondere als Vermittler zum italienischen Recht große Verdienste um die Strafrechtsvergleichung erworben. Wenngleich das Schwergewicht seiner wissenschaftlichen Arbeiten im materiellen Strafrecht liegt, so hat Manfred Maiwald doch auch wichtige Beiträge zum Strafverfahrensrecht gelie-

___________ 67

Vgl. Wohlers, GA 2005, 11, 13 ff. Rieß, StraFo 2006, 4, 14. 69 Ähnlich Rieß, FS Eser, 2005, S. 442, 456. 70 Siehe dazu schon Weigend, ZStW 113 (2001), 271, 303 f. 68

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fert.71 In seinem jüngsten Buch, der höchst verdienstvollen „Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht“ (2009), hat er sich eingehend mit der italienischen Version der Verständigung, dem „patteggiamento“ beschäftigt.72 Deshalb hoffe ich, dass auch dieser Beitrag sein freundliches Interesse finden mag.

___________ 71

Zu nennen ist insbesondere sein Aufsatz „Die Beteiligung des Verletzten am Strafverfahren“, GA 1970, 33. 72 Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozeßrecht, 2009, S. 226 ff.

Die mittelbare Mittäterschaft – Fortentwicklung deutscher Strafrechtsdogmatik im Völkerstrafrecht? Von Gerhard Werle und Boris Burghardt Die Lehre von Täterschaft und Teilnahme gilt als ein Kernstück der deutschen Strafrechtsdogmatik. Auch der Jubilar hat sich mit dieser Lehre vielfach kenntnisreich auseinandergesetzt.1 In seinen ersten einschlägigen Entscheidungen hat nunmehr der Internationale Strafgerichtshof die deutsche Strafrechtsdogmatik in erstaunlichem Umfang rezipiert und sich zu eigen gemacht. Von besonderem Interesse ist dabei die mittelbare Täterschaft durch Willensherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate. Das ist nicht allzu überraschend, dient diese Figur doch in spezifischer Weise der angemessenen strafrechtlichen Erfassung von Systemunrecht, also eben jener Form von Kriminalität, die typischerweise auch den Gegenstand des Völkerstrafrechts bildet. Nicht zufällig ist die mittelbare Täterschaft durch organisatorische Machtapparate von ihrem geistigen Vater Roxin in Auseinandersetzung mit dem EichmannProzess entwickelt worden;2 die höchstrichterliche Rechtsprechung hat diese Rechtsfigur bekanntlich erstmals im Rahmen der strafrechtlichen Verfolgung der für das verbrecherische Grenzregime der DDR Verantwortlichen anerkannt, also ebenfalls im Kontext von staatsgesteuerter Makrokriminalität.3 Der Internationale Strafgerichtshof ist indes nicht bei einer bloßen Übernahme der dem deutschen Strafrechtler vertrauten Gedanken stehen geblieben. Die bislang ergangenen Entscheidungen beschreiten vielmehr neue Wege und kombinieren unter der Bezeichnung „indirect co-perpetration“ die Grundsätze ___________ 1

Vgl. z. B. Maiwald, Literaturbericht Strafrecht – Allgemeiner Teil (Teilnahmelehre), ZStW 88 (1976), 731 ff.; ders., Historische und dogmatische Aspekte der Einheitstäterlösung, FS Bockelmann, 1979, S. 343 ff.; ders., Täterschaft, Anstiftung und Beihilfe – Zur Entstehung der Teilnahmeformen in Deutschland, FS Schroeder, 2006, S. 283 ff. In vergleichender Perspektive ders., Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, S. 134 ff. 2 Siehe Roxin, Straftaten im Rahmen organisatorischer Machtapparate, GA 1963, 193 ff. Roxin selbst betont, seine Überlegungen bezweckten die „adäquate Erfassung“ dieser Form der Kriminalität (a.a.O., 193). 3 Vgl. BGHSt 40, 218, 232 ff. Im Anschluss daran ebenso BGHSt 42, 65, 68 ff.; 45, 270, 296 ff.

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von mittelbarer Täterschaft und Mittäterschaft. Der Beitrag untersucht, ob es sich dabei um eine begrüßenswerte Fortentwicklung deutscher Strafrechtsdogmatik oder einen Irrweg handelt.

I. Täterschaft und Teilnahme im Statut des Internationalen Strafgerichthofs 1. Das Statut des Internationalen Strafgerichthofs (IStGH-Statut) enthält erstmals in der Geschichte des Völkerstrafrechts umfassende Bestimmungen zum Allgemeinen Teil oder, wie es im Statut selbst heißt, zu den „allgemeinen Grundsätzen des Strafrechts“ (general principles of criminal law). Regelungen zur strafbaren Beteiligung finden sich insbesondere in Art. 25 Abs. 3 a)-d) IStGH-Statut.4 Die Vorschrift systematisiert die vom Völkergewohnheitsrecht anerkannten Beteiligungsformen und ergänzt sie in vorsichtiger Weise. Unterschieden werden die Begehung als Einzeltäter (commission as an individual, Art. 25 Abs. 3 a) Alt. 1 IStGH-Statut), die gemeinschaftliche Begehung (commission jointly with another, Art. 25 Abs. 3 a) Alt. 2 IStGH-Statut), die Begehung durch einen anderen (commission through another, Art. 25 Abs. 3 a) Alt. 3 IStGH-Statut), die Anordnung (ordering, Art. 25 Abs. 3 b) Alt. 1 IStGHStatut), die Aufforderung (soliciting, Art. 25 Abs. 3 b) Alt. 2 IStGH-Statut), die Anstiftung (instigating, Art. 25 Abs. 3 b) Alt. 3 IStGH-Statut), die Unterstützung (assistance, Art. 25 Abs. 3 c) IStGH-Statut) und der sonstige Beitrag zur Förderung des Verbrechens einer Gruppe (contribution to a group crime, Art. 25 Abs. 3 d) IStGH-Statut). 2. Art. 25 Abs. 3 a)-d) IStGH-Statut ist im Sinne eines nach Verantwortungsgraden differenzierenden Beteiligungsmodells zu verstehen.5 Dafür können im Wesentlichen drei Gründe ins Feld geführt werden. ___________ 4 Art. 25 Abs. 3 e) und f) IStGH-Statut regeln hingegen keine Beteiligungsformen, sondern selbstständig strafbare Vorstadien der Verbrechensbegehung wie die Aufstachelung zum Völkermord und den Versuch, vgl. dazu Werle, Völkerstrafrecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 586, 724 ff. 5 Im Schrifttum wird die Regelung nicht einheitlich eingeordnet: Eine Hinwendung zum Differenzierungs-Modell erkennen Ambos, Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts, 2002, 543 ff. und wohl auch Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, 181. Dagegen erfolgt eine Deutung im Sinne des Einheitstätersystems bei Hamdorf, Beteiligungsmodelle im Strafrecht, 2002, 396; Kreß, Die Kristallisation eines Allgemeinen Teils des Völkerstrafrechts, Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften, 1999, 4, 9; Mantovani, The General Principles of International Criminal Law: The Viewpoint of a National Criminal Lawyer, 1 Journal of International Criminal Justice, 2003, 26, 35; Militello, The Personal Nature of Individual Criminal Responsibility and the ICC Statute, 5 Journal of International Criminal Justice, 2007, 941, 946 f.

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a) Der erste Grund ist systematischer und damit statutsimmanenter Natur: Wird die Regelung nicht im Sinne eines differenzierenden Beteiligungssystems gedeutet, bleibt die Art. 25 Abs. 3 a) bis d) IStGH-Statut kennzeichnende, über die bloße begriffliche Unterscheidung hinausgehende Zusammenfassung und Ordnung der Beteiligungsformen in vier Kategorien ohne Bedeutung.6 Mehr noch: Die Unterscheidung und Abgrenzung der genannten Teilnahmeformen voneinander ist ohne Rückgriff auf wertende, die Verantwortung quantifizierende Kriterien gar nicht möglich.7 b) Der zweite Grund geht über das IStGH-Statut hinaus und bezieht den derzeit erreichten Entwicklungsstand des Völkerstrafrechts insgesamt mit ein. Es lässt sich nämlich zeigen, dass die völkerstrafrechtliche Rechtsprechung zwar zunächst noch von einem Einheitstäterprinzip ausgegangen ist, bei dem die begriffliche Unterscheidung verschiedener Teilnahmeformen allenfalls deskriptive Bedeutung besaß.8 Inzwischen werten aber insbesondere die ad hocStrafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda die Beteiligungsformen als Indiz für den Grad der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und berücksichtigen dies entsprechend bei der Strafzumessung.9 Freilich stellt das IStGH-Statut im Prinzip ein selbstständiges Regelungssystem dar. Die Rechtsprechung der ad hoc-Strafgerichtshöfe kann daher keineswegs einfach auf das IStGH-Statut übertragen werden.10 Eine harmonisierende Auslegung des IStGH-Statuts ist aber aus völkerrechtspolitischen Gründen dort vorzugswürdig, wo die Statutsregelungen dies zulassen.11 c) Der dritte und gewichtigste Grund für die Annahme eines abgestuften Beteiligungsmodells ergibt sich aus einigen grundsätzlichen Überlegungen zur Funktion der Beteiligungslehre im Völkerstrafrecht. Zu bedenken ist zunächst, ___________ 6 Vgl. dazu ausführlich Werle, Individual Criminal Responsibility in Article 25 ICC Statute, 5 Journal of International Criminal Justice, 2007, 953, 956 f. 7 Siehe dazu Burghardt, Modes of Participation and their Role in a General Concept of Crimes, in: Triffterer/Vogel/Burchard (Hrsg.), The Review Conference and the Future of the ICC, 2009, 81, 91 f. 8 Vgl. Werle, Völkerstrafrecht, Rn. 404 ff. 9 Vgl. z. B. JStGH, Urt. v. 25. Februar 2004 (Vasiljeviü, AC), para. 182; JStGH, Urt. v. 19. April 2004 (Krstiü, AC), para. 268; RStGH, Urt. v. 20. Mai 2005 (Semanza, AC), paras. 355 ff., 364; RStGH, Urt. v. 19. September 2005 (Kamuhanda, AC), para. 77. Eingehend zur Rechtsprechung siehe Burghardt, Die Vorgesetztenverantwortlichkeit im völkerrechtlichen Straftatsystem, 2008, 360 ff. 10 Siehe dazu Jesse, Der Verbrechensbegriff des Römischen Statuts, 2009, 95 ff.; Nerlich, The status of ICTY and ICTR precedent in proceedings before the ICC, in: Stahn/Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2009, 305 ff. 11 Vgl. Burghardt/Geneuss, Der Präsident und sein Gericht, Die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs über den Erlass eines Haftbefehls gegen Al Bashir, ZIS 2009, 126, 132 f.; Werle, Völkerstrafrecht, Rn. 173.

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dass das Völkerstrafrecht nur vier Verbrechenstatbestände kennt: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Jedes dieser Verbrechen beinhaltet einen besonders schwerwiegenden Unrechtsvorwurf. Zugleich handelt es sich bei den Völkerrechtsverbrechen typischerweise um Taten, in deren Begehung eine Vielzahl von Personen verwickelt ist. Die Beteiligung an dem verbrecherischen Geschehen kann dabei auf ganz unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlicher Intensität vorliegen. Aus diesen zwei Grundcharakteristika des Völkerstrafrechts folgt: Erforderlich ist nicht nur eine Bestimmung der Außengrenzen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Es besteht vielmehr auch ein besonders großes Bedürfnis nach einer Binnendifferenzierung. Nicht nur die Frage nach dem Ob, sondern auch die Frage nach dem Maß strafrechtlicher Verantwortlichkeit verlangt im Völkerstrafrecht in besonders dringlicher Weise nach Antwort. Sie ist für die Strafzumessung im Völkerstrafrecht nämlich ähnlich entscheidend wie der zur Last gelegte Verbrechenstatbestand. Unter diesen Voraussetzungen überzeugt es, die Beteiligungslehre als Instrument zu nutzen, mit dem die Bewertung des Verantwortungsgrads strukturiert, rationalisiert und in berechenbarer Weise gestaltet werden kann.12 3. Diese Überlegungen haben durch die ersten einschlägigen Entscheidungen des Internationalen Strafgerichtshofs eine Bestätigung erfahren. So hat die Vorverfahrenskammer I im Verfahren gegen den kongolesischen Milizenführer Thomas Lubanga Dyilo ausgeführt, charakteristisch für alle Formen der Täterschaft sei die Kontrolle über die Tatbegehung („le contrôle de la commission de l’infraction“).13 Nachfolgende Entscheidungen haben sich dieser Rechtsprechung angeschlossen.14 Inhaltlich und funktionell entspricht dieses Kriterium erkennbar dem Konzept der Tatherrschaft. Damit steht aber zugleich fest, dass zumindest die Abgrenzung zwischen der Täterschaft und den übrigen Beteiligungsformen im Sinne einer wertenden Abstufung der Verantwortung für das strafbare Geschehen zu verstehen ist. Denn unter Beachtung des auch im Völkerstrafrecht geltenden Schuldprinzips trägt eine Person, die Kontrolle über die Tatbegehung ausüben konnte, stets größere Verantwortung für die Tat als eine Person, die keine solche Kontrolle inne hatte. Wenn aber die Differenzierung zwischen Täterschaft und sonstigen Formen der strafbaren Beteiligung im Sinne einer Abstufung von Verantwortungsgraden verstanden wird, ist es nur konsequent, dies auch bei der Unterscheidung der übrigen Beteiligungskategorien ___________ 12 Vgl. Burghardt, in: Triffterer/Vogel/Burchard (Hrsg.), Review Conference, 81, 86 ff.; Werle, Völkerstrafrecht, Rn. 411; ähnlich Kreß, Claus Roxins Lehre von der Organisationsherrschaft und das Völkerstrafrecht, GA 2006, 304, 308. 13 IStGH, Beschl. v. 29. Januar 2007 (Lubanga Dyilo, PTC), paras. 326 ff. 14 Vgl. IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), paras. 480 ff.; IStGH, Beschl. v. 4. März 2009 (Al Bashir, PTC), para. 210; IStGH, Beschl. v. 15. Juni 2009 (Bemba Gombo, PTC), paras. 347 f.

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untereinander zu tun und Art. 25 Abs. 3 a)-d) IStGH-Statut insgesamt als abgestuftes Beteiligungssystem einzuordnen. 4. Im Ergebnis ist Art. 25 Abs. 3 a)-d) IStGH-Statut daher als ein differenzierendes, vierstufiges Beteiligungssystem zu lesen und bei der Strafzumessung entsprechend zu berücksichtigen. Auf der obersten Stufe findet sich die täterschaftliche Begehung in ihren drei Formen als schwerste Form der Unrechtsbeteiligung. Auf der zweiten Stufe ist die Veranlassung in ihren verschiedenen Ausprägungen (Anordnung, Anstiftung, Aufforderung) angesiedelt. Auf der dritten Stufe hat die Unterstützung ihren Platz und schließlich auf der vierten Stufe, als schwächste Beteiligungsform, der Beitrag zu einem Gruppenverbrechen.

II. Die mittelbare Täterschaft im Völkerstrafrecht Die mittelbare Täterschaft hat in Art. 25 Abs. 3 a) Alt. 3 IStGH-Statut erstmals eine völkerstrafrechtliche Regelung gefunden; in der völkerstrafrechtlichen Praxis hatte die Rechtsfigur bis dahin keine Rolle gespielt.15 Freilich blieb auch vor Inkrafttreten des IStGH-Statuts das Verhalten des Hintermanns keineswegs straflos. Fälle, die der mittelbaren Täterschaft zugeordnet werden können, wurden in der Vergangenheit vielmehr als Planung, Anordnung, Anstiftung oder – nach der Rechtsprechung des Jugoslawien-Strafgerichtshofs – als Beteiligung an einem verbrecherischen Unternehmen (participation in a joint criminal enterprise) erfasst.16 Die Bedeutung der Regelung liegt also nicht in einer Neukriminalisierung von Verhalten, sondern in der präziseren dogmatischen Erfassung der einschlägigen Fallkonstellationen. In phänomenologischer Hinsicht verdeutlicht die mittelbare Täterschaft, dass der Hintermann den Tatmittler „wie ein Werkzeug“ einzusetzen vermag. In normativer Hinsicht stellt die Rechtsfigur klar, dass den mittelbaren Täter ein besonders hohes Maß an Verantwortlichkeit für die begangene Straftat trifft. ___________ 15 Vgl. Jeßberger/Geneuss, On the Application of a Theory of Indirect Perpetration in Al Bashir, German Doctrine at The Hague?, 6 Journal of International Criminal Justice, 2008, 853, 855 ff.; Kreß, GA 2006, 304, 306. Nicht überzeugend ist es, wenn. die Ausführungen im Nürnberger Juristenprozess (U.S. v. Altstötter et al., Urteil v. 4.12.1947, abrufbar unter http://werle.rewi.hu-berlin.de/index.php?expanded=aktuell&id=archiv &lang=de) der mittelbaren Täterschaft zugeordnet werden (so aber Ambos, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 2008, § 7 Rn. 25). 16 Siehe zu diesen Formen der Beteiligung zusammenfassend Werle, Völkerstrafrecht, Rn. 415 ff. Aus der Vielzahl von Arbeiten zur joint criminal enterprise-Doktrin des JStGH vgl. nur Barthe, Joint Criminal Enterprise (JCE), 2009; Haan, Joint Criminal Enterprise, Die Entwicklung einer mittäterschaftlichen Zurechnungsfigur im Völkerstrafrecht, 2008; Satzger, Die Ausweitung der (Mit-)Täterschaft – Besorgnis erregende Entwicklungen (nur) im Völkerstrafrecht?, FS Volk, 2009, S. 649 ff.

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Hervorzuheben ist zudem, dass mittelbare Täterschaft nach Art. 25 Abs. 3 a) Alt. 3 IStGH-Statut ausdrücklich auch in den Fällen in Betracht kommt, in denen der Tatmittler strafrechtlich verantwortlich ist. Einwände, wie sie etwa in der deutschen Strafrechtslehre gegen die Anwendung der mittelbaren Täterschaft bei deliktisch vollverantwortlich handelndem Tatmittler unter Verweis auf das Verantwortungssprinzip erhoben werden,17 sind damit für die Anwendung des IStGH-Statuts zumindest positivrechtlich abgeschnitten. Ob das IStGH-Statut damit zugleich auch mittelbare Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate anerkennt, war zunächst fraglich.18 In seiner ersten Entscheidung zur mittelbaren Täterschaft hat der Internationale Strafgerichtshof diese Frage bejaht.19 Zur Begründung hat er zum einen überzeugend darauf verwiesen, die mittelbare Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate entspreche ohne Weiteres der Anforderung einer Kontrolle über die Tatbegehung und erfülle damit die Voraussetzungen der Täterschaft.20 Zum anderen stelle diese Rechtsfigur eine gängige, in einer Vielzahl von Rechtssystemen anerkannte Fallkonstellation der mittelbaren Täterschaft dar.21 Die zuletzt genannte These ist allerdings zweifelhaft. Eine umfassende gerichtliche Praxis lässt sich hierzu bislang noch nicht nachweisen.22 An einschlägiger nationaler Rechtsprechungspraxis kann die Vorverfahrenskammer neben der bekannten Rechtsprechung des BGH lediglich auf einige Entscheidungen aus Lateinamerika verweisen, darunter die gerade in diesem Punkt vom Revisionsgericht beanstandete Entscheidung eines argentinischen Gerichts gegen Mitglieder der Militärjunta.23 Auch einen überzeugenden Nachweis für die Aner___________ 17

Siehe dazu zusammenfassend LK-StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 62 ff. 18 Das Meinungsbild zusammenfassend Kreß, GA 2006, 304, 307. Skeptisch z. B. Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, 185. 19 Vgl. IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), para. 498. 20 Vgl. IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), para. 501. 21 Vgl. IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), paras. 502 ff. 22 Vgl. insoweit nur Kreß, GA 2006, 304, 306; LK-StGB/Schünemann, § 25 Rn. 60. 23 Vgl. IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), para. 502 unter Verweis auf Cámara Nacional de Apelaciones en lo Criminal y Correccional de la Capital, Urt. v. 9. Dezember 1985, Kapitel 7/3. Die Revisionsentscheidung ist Corte Supremo, Urt. v. 30. Dezember 1986, abgedruckt in: Fallos Corte Supremo de Justicia 309, 1689 ff. Siehe zu diesem Verfahren auch Ambos, Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts, 233 ff. Vgl. allerdings das zuletzt gegen den ehemaligen peruanischen Präsidenten Fujimori ergangene Urteil der Sonderkammer des Obersten Gerichtshofs Perus, Corte Suprema, Urt. v. 7. April 2009, paras. 718 ff. (abrufbar unter: http://www. pj.gob.pe/CorteSuprema/spe/index.asp?opcion=detalle_noticia&codigo=10409), wo die

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kennung der mittelbaren Täterschaft auf internationaler Ebene bleibt die Vorverfahrenskammer schuldig. Stattdessen argumentiert sie, dass die Ablehnung der Rechtsfigur durch den Jugoslawien-Strafgerichtshof den Internationalen Strafgerichtshof nicht binde.24 Im Kern beschränken sich die Nachweise der Vorverfahrenskammer daher auf eine illustre Sammlung von Beiträgen der deutsch- und spanischsprachigen Strafrechtswissenschaft. Genannt werden, in alphabetischer Reihenfolge, Ambos, Bacigalupo, Bloy, Ferrante, Herzberg, Hirsch, Küpper, Radtke, natürlich Roxin, Sancinetti und Schlösser; daneben wird auf eine Reihe deutscher Lehrbücher zum Allgemeinen Teil verwiesen, nämlich auf Kühl, Maurach/Gössel/Zipf, Stratenwerth/Kuhlen und Wessels/Beulke, sowie auf Standardkommentare zum deutschen Strafrecht wie Lackner/Kühl, Leipziger Kommentar, Schönke/Schröder und Tröndle/Fischer.25 Diese umfängliche Referenz ist für die deutsche Strafrechtswissenschaft sicherlich schmeichelhaft, für die Rechtsfindung im Rahmen des IStGH-Statuts aber ebenso wenig ausreichend wie für die Begründung der These, bei der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate handle es sich quasi um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz. Die Vorverfahrenskammer hätte daher gut daran getan, ihren Rückgriff auf die mittelbare Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate ausschließlich auf eine systematische und teleologische Auslegung des Statuts zu stützen statt auf eine zweifelhafte Rechtsvergleichung. Zu den konkreten Voraussetzungen der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate finden sich im Beschluss vom 30. September 2008 folgende Feststellungen: Gemeinsam sei allen Fällen der mittelbaren Täterschaft, dass der Hintermann die erforderliche Kontrolle über die Tatbegehung mittels Kontrolle über den Willen der die Tat unmittelbar ausführenden Perso___________ mittelbare Täterschaft durch organisatorische Machtapparate ausführlich diskutiert und anerkannt wird. 24 Vgl. IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), paras. 507 ff. Die Vorverfahrenskammer nimmt insoweit Bezug auf die Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung des Jugoslawien-Strafgerichtshofs im Verfahren gegen Stakiü (JStGH, Urteil v. 31. Juli 2003 (Stakiü, TC)) in diesem Punkt durch die Berufungskammer (JStGH, Urt. v. 22. März 2006 (Stakiü, AC), paras. 58 ff.). Allerdings ist bereits zweifelhaft, ob die erstinstanzliche Entscheidung als Nachweis für eine Verwendung der mittelbaren Täterschaft durch organisatorische Machtapparate gelten kann, vgl. dazu Jeßberger/Geneuss, 6 Journal of International Criminal Justice (2008), 853, 856. Das gilt auch für die von der Vorverfahrenskammer ebenfalls genannte Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs im Verfahren gegen Bemba Gombo (IStGH, Beschl. v. 10. Juni 2008 (Bemba Gombo, PTC)). 25 Vgl. IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), Fn. 678, Fn. 683. Mit den Einwänden, die der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate von Teilen der deutschen Strafrechtslehre entgegen gehalten werden, hat sich die Vorverfahrenskammer dagegen nicht auseinander gesetzt. Vgl. dazu zusammenfassend Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, 704 ff.

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nen ausübe. Diese Kontrolle könne auch in der organisatorischen Beherrschung eines Machtapparates bestehen. Von einem „Machtapparat“ lasse sich sprechen, wenn eine Organisation nach Hierarchieebenen und dem Prinzip von Befehl und Gehorsam strukturiert sei. Erforderlich sei zudem eine gewisse Größe des Apparats, welche die Gewähr dafür biete, dass der Befehl eines Vorgesetzten ausgeführt werde, wenn nicht von einem Untergebenen, so doch von einem anderen.26 Ein Machtapparat im erforderlichen Sinne liege also nur vor, wenn innerhalb der hierarchischen Organisation grundsätzlich effektive Befehlsstrukturen bestünden. Nur dann sei davon auszugehen, dass der einzelne Befehlsempfänger als „Zahnrad einer großen Maschine“ funktioniere, die Verbrechensbegehung auf Befehl also gleichsam „automatisch“ erfolge. Erst unter diesen Voraussetzungen sei der einzelne Befehlsempfänger nämlich in der erforderlichen Weise austauschbar und könne jederzeit und ohne dass die Verbrechensbegehung beeinträchtigt werde, durch einen anderen ersetzt werden.27 In subjektiver Hinsicht sei erforderlich, dass der Hintermann alle Voraussetzungen der inneren Tatseite des Verbrechens in eigener Person erfülle28 und Kenntnis hinsichtlich der seine Kontrolle über den Tatmittler begründenden Umstände besitze29. Betont wird also insbesondere das Erfordernis der Fungibilität des Tatmittlers.30 Keine Berücksichtigung erfährt hingegen das von Roxin vorgeschlagene Kriterium der Rechtsgelöstheit des Machtapparats,31 das allerdings auch in der Rechtsprechung des BGH nicht erwogen32 und selbst von einigen Befürwortern der Lehre von der Organisationsherrschaft abgelehnt wird.33 Ebensowenig erör___________ 26 IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), paras. 512 ff. 27 IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), paras. 515 ff. 28 IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), paras. 527 ff. 29 IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), paras. 538 f. 30 Siehe dazu Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 245. 31 Vgl. Roxin, GA 1963, 193, 204 ff.; ders., Täterschaft und Tatherrschaft, 249 ff. 32 Zusammenfassend zu den Unterschieden zwischen Roxins Lehre und der Lösung des Bundesgerichtshofs Rogall, Bewältigung von Systemkriminalität, in: Roxin/ Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof – Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. IV, Strafrecht, Strafprozessrecht, 2000, 383, 423 ff.; Rotsch, Die Rechtsfigur des Täters hinter dem Täter bei der Begehung von Straftaten im Rahmen organisatorischer Machtapparate und ihre Übertragbarkeit auf wirtschaftliche Organisationsstrukturen, NStZ 1998, 491, 492. 33 Dagegen z. B. Ambos, Tatherrschaft durch Willensherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate, GA 1998, 226, 241 ff.; Herzberg, Mittelbare Täterschaft und Anstiftung in formalen Organisationen, in: Amelung (Hrsg.), Strafrechtliche Beteiligungsverhältnisse in bürokratischen Organisationen, 2000, 33, 35 ff.

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tert der Internationale Strafgerichtshof die vom BGH in Anlehnung an Schroeder34 geforderte „Ausnutzung der unbedingten Tatbereitschaft“ des Tatmittlers.35 Schließlich bleiben auch neuere Ansätze außer Betracht, welche die Organisationsherrschaft in stärker systemischer Weise ausdeuten und statt der Fungibilität das strukturelle Autonomiedefizit des Vordermanns angesichts innerorganisatorischer Handlungszwänge betonen.36

III. „Indirect co-perpetration“ Während sich die bisher skizzierten Überlegungen des Internationalen Strafgerichtshofs in einem dem deutschen Strafrechtler vertrauten Rahmen bewegen, hat der Gerichtshof bereits im Beschluss vom 30. September 2008 dogmatisches Neuland betreten. Die Vorverfahrenskammer war der Ansicht, neben den drei ausdrücklich in Art. 25 Abs. 3 a) IStGH-Statut genannten Formen der Täterschaft sei auch eine vierte denkbar. Die Vorverfahrenskammer spricht insoweit von indirect co-perpetration.37 Deren Kennzeichen sei die Kombination von Elementen der mittelbaren Täterschaft und der Mittäterschaft. Das mittäterschaftliche Element bestehe darin, dass zwei oder mehr Personen gemeinsam die Begehung eines Völkerrechtsverbrechens vereinbarten. Zugleich weise das Tatgeschehen aber auch Züge der mittelbaren Täterschaft auf, insofern mindestens einer der Mittäter seinen Beitrag zum Gelingen des Tatplans durch einen oder mehrere Tatmittler ausführen lasse. Anderen Mittätern seien diese mittelbar begangenen Tatbeiträge aufgrund des gemeinsamen Tatplans zurechenbar, sofern die weiteren Voraussetzungen der Mittäterschaft vorlägen.38 In der Entscheidung über den Erlass eines Haftbefehls gegen den amtierenden sudanesischen Präsidenten Omar Al Bashir hat die Vorverfahrenskammer I diese Überlegungen bestätigt.39 ___________ 34 Vgl. Schroeder, Der Täter hinter dem Täter, 1965, 143 ff.; ders., Der Sprung des Täters hinter dem Täter aus der Theorie in die Praxis, JR 1995, 177, 178. 35 Vgl. BGHSt 40, 218, 236. Skeptisch bis ablehnend z. B. Ambos, GA 1998, 226, 229; Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985, 362 ff.; Rogall, in: Roxin/Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. IV, 383, 425 ff.; Rotsch, NStZ 1998, 491, 492 f. 36 Vgl. z. B. Schlösser, Soziale Tatherrschaft, 2004; ders., Mittelbare individuelle Verantwortlichkeit im Völkerstrafrecht, 2004; Urban, Mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft, 2004. 37 IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), paras. 490 ff. 38 IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), paras. 492 f. 39 IStGH, Beschl. v. 4. März 2009 (Al Bashir, PTC), paras. 212 f.

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Zum besseren Verständnis dieser Ausführungen seien die zugrunde liegenden Sachverhalte mitgeteilt: (1) Im Verfahren gegen Katanga und Ngudjolo Chui hatten beide Angeklagten laut Anklage als Befehlshaber Organisationsherrschaft über verschiedene in der Region Ituri (Demokratische Republik Kongo) operierende Milizen inne. Der Angeklagte Germain Katanga habe Befehlsgewalt über die von der Ethnie der Ngiti dominierte Force de Résistance Patriotique en Ituri (FRPI) ausgeübt, während Mathieu Ngudjolo Chui Anführer der Front des Nationalistes et Intégrationnistes (FNI) gewesen sei, einer dem Stamm der Lendu zuzurechnenden Milizengruppe.40 Die Befehlsstrukturen dieser beiden Milizen seien, auch wegen der ethnisch begründeten Differenzierung, strikt getrennt gewesen. Im Februar 2003 hätten die FRPI und die FNI gemeinsam einen Angriff auf das Dorf Bogoro ausgeführt und in diesem Zusammenhang zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verübt, die u.a. vorsätzliche Tötungen, Vergewaltigungen und sexuelle Versklavung sowie Plünderungen umfasst hätten. Zudem seien bei dem Angriff Kindersoldaten eingesetzt worden.41 Der Angriff sei auf der Grundlage eines gemeinsamen Tatplans von Katanga und Ngudjolo Chui mit dem Ziel erfolgt, das Dorf Bogoro auszulöschen. Die Vorverfahrenskammer I vertrat die Ansicht, dass, sollten sich die Anklagevorwürfe in der Hauptverhandlung in tatsächlicher Hinsicht als zutreffend erweisen, jedem der Angeklagten nicht nur die Taten der eigenen Untergebenen, sondern kraft indirect co-perpetration auch die von den Untergebenen des jeweils anderen verübten Verbrechen zugerechnet werden könnten.42 Eine vorläufige Bewertung des Beweismaterials ergebe, dass sowohl Katanga als auch Ngudjolo Chui ihre Untergebenen kraft Organisationsherrschaft werkzeuggleich hätten beherrschen können. Beide Angeklagten hätten nämlich nach der Kommandostruktur der Milizen und den tatsächlichen Umständen zu jedem Zeitpunkt des Angriffs effektive Befehlsgewalt über ihre Untergebenen inne gehabt43 und aufgrund eines gemeinsamen Tatplans gehandelt.44 Jeder der beiden habe durch Unterlassen des Befehls zum Angriff den Tatplan zum Schei___________ 40 Vgl. IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), paras. 6, 9. 41 Siehe zu den Anklagepunkten im Einzelnen IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), paras. 20-32. 42 Gem. Art. 61 Abs. 7 IStGH-Statut hat die Vorverfahrenskammer zu prüfen, ob ausreichende Beweise für den dringenden Verdacht vorliegen, dass der Angeklagte jedes der ihm zur Last gelegten Verbrechen begangen hat. Siehe dazu IStGH, Beschl. v. 29. Januar 2007 (Lubanga Dyilo, PTC), paras. 37 ff. 43 Vgl. IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), paras. 540 ff. 44 Vgl. IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), paras. 548 ff.

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tern bringen können. Die beiden Angeklagten hätten daher gemeinsame Kontrolle über das gesamte Angriffsgeschehen ausgeübt.45 Schließlich bejahte die Vorverfahrenskammer auch den dringenden Verdacht für das Vorliegen der subjektiven Tatseite bei Katanga und Chui.46 (2) Den Gegenstand des Verfahrens gegen Al Bashir bilden Verbrechen in der Region Darfur, die seit Juli 2003 durch die sudanesische Armee, polizeiliche Einsatzkräfte und die Janjaweed-Milizen an der Zivilbevölkerung, insbesondere an Angehörigen der Stämme Fur, Masalith und Zaghawa, verübt worden sein sollen. Die Vorverfahrenskammer I war der Ansicht, es bestehe begründeter Verdacht47, dass Al Bashir als „indirect co-perpetrator“ für diese Verbrechen verantwortlich sei. Nach vorläufiger Bewertung des vorgelegten Beweismaterials habe er als Präsident gemeinsam mit anderen Mitgliedern der sudanesischen Regierung einen Plan zur Unterdrückung und Zerschlagung aufständischer Rebellengruppen beschlossen, der auch die systematische Zerstörung der Siedlungsgebiete der aufständischen Stämme und ihre Vertreibung umfasst habe. Die Verbrechen in Darfur seien von den Streitkräften der sudanesischen Regierung in Umsetzung dieses Plans begangen worden. Die sudanesische Regierung habe über verschiedene Gremien, insbesondere den Nationalen Sicherheitsrat, und über Befehlsketten Kontrolle über die Sicherheitskräfte und die Milizen ausüben können. Schließlich bestehe begründeter Verdacht, dass Al Bashir als amtierender Präsident und Oberbefehlshaber der militärischen Streitkräfte eine herausragende Rolle bei der Ausarbeitung und Umsetzung des gemeinsamen Plans gespielt habe.48 Alternativ komme daher mittelbare (Allein-) Täterschaft in Betracht.49

IV. Die Kombination von mittelbarer Täterschaft und Mittäterschaft – Fortschritt oder Irrweg? Wie sind die Ausführungen des Internationalen Strafgerichtshofs zur indirect co-perpetration aus der Perspektive der deutschen Strafrechtsdogmatik zu bewerten? Handelt es sich um eine konsequente Fortentwicklung der Lehre von der mittelbaren Täterschaft und der Mittäterschaft, die auch für das deutsche ___________ 45 Vgl. IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), paras. 555 ff. 46 Vgl. IStGH, Beschl. v. 30. September 2008 (Katanga und Ngudjolo Chui, PTC), paras. 562 ff. 47 Der für den Erlass eines Haftbefehls erforderliche prozessuale Prüfungsmaßstab ergibt sich aus Art. 58 Abs. 1 a) IStGH-Statut. Siehe dazu näher Burghardt/Geneuss, ZIS 2009, 126, 137 f. 48 IStGH, Beschl. v. 4. März 2009 (Al Bashir, PTC), paras. 214 ff. 49 IStGH, Beschl. v. 4. März 2009 (Al Bashir, PTC), paras. 223.

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Strafrecht beachtlich ist? Oder hat die internationale Rechtsprechung einen Irrweg beschritten, so dass sich ein „Re-Import“ in das deutsche Strafrecht verbietet? Zunächst ist festzustellen, dass signifikante Unterschiede zwischen den beiden Fällen bestehen, die der Internationale Strafgerichtshof unter die indirect co-perpetration gefasst hat. Nur für die im Verfahren gegen Katanga und Chui behandelte Konstellation ist die Bezeichnung „indirect co-perpetration“, ins Deutsche übersetzt also „mittelbare Mittäterschaft“, treffend (dazu 1.). Die zweite, dem Fall Al Bashir zugrunde liegende Konstellation ist dagegen als mittelbare Täterschaft in Mittäterschaft oder mittäterschaftliche mittelbare Täterschaft passender bezeichnet (dazu 2.).

1. Mittelbare Mittäterschaft Bei der im Verfahren gegen Katanga und Chui behandelten Konstellation handelt es sich nicht um eine Form der mittelbaren Täterschaft, sondern um eine Variante der Mittäterschaft. Eine Zurechnung des gesamten Verbrechensgeschehens kraft mittelbarer Täterschaft scheidet aus, da auf diese Weise nur die Tatbeiträge der Tatmittler zugerechnet werden können, über die der mittelbare Täter Tatherrschaft ausübt.50 Charakteristikum des Sachverhalts ist aber gerade, dass es zwei verschiedene Hierarchiestrukturen gibt, die jeweils nur einer der beiden Angeklagten unabhängig von dem anderen beherrscht. Die Begründung täterschaftlicher Verantwortlichkeit für das Gesamtgeschehen kann also nur nach den Grundsätzen der Mittäterschaft, d.h. bei wechselseitiger Zurechnung fremder Tatbeiträge, gelingen. Tatsächlich sind die Voraussetzungen der Mittäterschaft nach dem vorliegenden Sachverhalt gegeben. Auf der Grundlage eines gemeinsamen Tatplans erbringen Katanga und Chui ihren Beitrag zur Verbrechensbegehung jeweils mittels des von ihnen gesteuerten organisatorischen Machtapparats. Die erforderliche funktionelle Tatherrschaft51 für das zugerechnete Gesamtgeschehen ergibt sich aus der Gleichrangigkeit der ___________ 50 Die folgenden Ausführungen erfolgen auf der Grundlage der Tatherrschaftslehre als des Ansatzes, der „in der Wissenschaft absolut herrschend“ ist, vgl. LK-StGB/ Schünemann, § 25 Rn. 7. Zu den verschiedenen Ausprägungen der Tatherrschaftslehre siehe Schild, Tatherrschaftslehren, 2009. Zudem beschränken sich die Überlegungen weitgehend auf Fälle der mittelbaren Täterschaft durch Organisationsherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate. Denkbar ist freilich auch, dass die mittelbare Täterschaft im Rahmen der mittelbaren Mittäterschaft durch Irrtums- oder Nötigungsherrschaft begründet ist. 51 Zur funktionellen Tatherrschaft als Voraussetzung der Mittäterschaft vgl. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 275 ff., 719 ff.; LK-StGB/Schünemann, § 25 Rn. 156 ff. m.w.N.

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Beiträge für das Gelingen des gemeinsamen Tatplans. Dass die Tatbeiträge von Katanga und Chui nicht eigenhändig, sondern durch von ihnen gesteuerte, „werkzeuggleiche“ Tatmittler geleistet werden, kann bei wertender Betrachtung keinen Unterschied machen. Auch der in der Bandenchef-Konstellation erhobene Einwand, funktionelle Tatherrschaft liege nicht vor, weil es an einem Tatbeitrag im Ausführungsstadium fehle,52 scheidet aus: Da jedem Mittäter das Handeln seiner Tatmittler zugerechnet wird, liegt ein eigener Tatbeitrag im Ausführungsstadium zweifelsfrei vor. Sind auch die subjektiven Erfordernisse der Mittäterschaft gegeben, steht einer Zurechnung der Beiträge des Mittäters nichts im Wege. Die Tatbeiträge des Mittäters umfassen nicht nur das eigene, sondern eben auch das ihm mittels mittelbarer Täterschaft kraft Organisationsherrschaft zugerechnete Verhalten.53 Klarstellend und einschränkend ist Folgendes zu ergänzen: Von einer funktionellen Tatherrschaft über das Gesamtgeschehen kann nur dann gesprochen werden, wenn nicht nur die Hintermänner, sondern auch die Tatmittler zusammenwirken. Nur in dieser Konstellation liegt eine gemeinsame Tatausführung vor, die sich aus den aufeinander bezogenen Tatbeiträgen der Mittäter zusammensetzt. Im Fall Katanga und Chui ist der koordinierte Angriff auf das Dorf Bogoro eine solche gemeinsam begangene Tat. Nicht ausreichend wäre es hingegen, wenn der gemeinsame Tatplan die gesonderte Begehung von Verbrechen durch jeweils eine organisierte Machtstruktur allein vorgesehen hätte, also wenn Katanga und Chui beispielsweise vereinbart hätten, die von Katanga befehligte FRPI solle das Dorf X, die Chui unterstellte FNI hingegen das Dorf Y überfallen. Mangels eigenen Tatbeitrags bei der Tatbegehung durch den jeweils fremden Machtapparat schiede in diesem Fall eine Zurechnung kraft mittelbarer Mittäterschaft aus. Die begriffliche Unterscheidung der mittelbaren Mittäterschaft von der gewöhnlichen Mittäterschaft ist hilfreich. Sie verdeutlicht, dass zumindest ein Mittäter seinen Tatbeitrag nicht eigenhändig, sondern durch einen Tatmittler erbringt. Die Einordnung der einschlägigen Sachverhalte als Fälle mittelbarer Mittäterschaft ergibt sich aus der Anwendung der allgemein anerkannten Grundsätze von Mittäterschaft und mittelbarer Täterschaft auf eine in der deut___________ 52 Einen solchen Beitrag im Ausführungsstadium als Voraussetzung der Mittäterschaft verlangen bekanntlich weite Teile der Lehre, vgl. z. B. Herzberg, Mittäterschaft durch Mitvorbereitung: eine actio communis in causa?, JZ 1991, 856, 859 ff.; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 292-305; LK-StGB/Schünemann, § 25 Rn. 182 ff. Anderer Ansicht die Rspr., vgl. z. B. BGHSt 11, 268, 271; BGHSt 14, 128 f.; BGHSt 16, 12; BGHSt 28, 346, 347 f.; BGHSt 37, 289; BGHSt 39, 381, 386. 53 Ob es sich dann hinsichtlich der verwirklichten Verbrechenstatbestände um einen Fall der additiven Mittäterschaft handelt oder nicht, ist dann ohne Belang und bedarf insofern auch keiner gerichtlichen Aufklärung mehr. Zur additiven Mittäterschaft vgl. Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 372 ff.

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schen Diskussion bislang nicht erwogene Sachverhaltskonstellation. Die Grundsätze der Mittäterschaft führen zu einer wechselseitigen Zurechnung der (mittelbar und unmittelbar) erbrachten Tatbeiträge. Die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs ist also als folgerichtige Fortentwicklung praxisleitender Grundsätze der deutschen Strafrechtsdogmatik zu verstehen und für den „Re-Import“ zu empfehlen: Die Möglichkeit einer mittelbaren Mittäterschaft ist auch für das deutsche Strafrecht anzuerkennen.

2. Mittelbare Täterschaft in Mittäterschaft Die im Fall Al Bashir behandelte Konstellation entspricht in ihren Grundzügen derjenigen in den Verfahren gegen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats der DDR und des SED-Politbüros.54 Kennzeichnend für die einschlägigen Sachverhalte ist, dass die Tatherrschaft oder Kontrolle über den oder die Tatmittler von mehreren Personen in gemeinschaftlichem Zusammenwirken ausgeübt wird. Anders formuliert: Das die Organisationsherrschaft ausübende Steuerungssubjekt ist ein Kollektiv, nicht eine Einzelperson. Diese Besonderheit gegenüber dem gedanklichen Normalfall der mittelbaren Täterschaft ist in Rechtsprechung und Lehre lediglich vereinzelt zur Sprache gekommen,55 aber nicht näher erörtert worden.56 Bei der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft57 liegt dieser Fall immer dann vor, wenn an der Spitze des ___________ 54

Die beiden Verfahren werden ausführlich dokumentiert in Marxen/Werle (Hrsg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht, Bd. 2/2, Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, 2002, 499 ff. (Nationaler Verteidigungsrat), 643 ff. (Politbüro). 55 In der Rspr. vgl. z. B. LG Berlin, Urt. v. 25.8.1997 (Krenz u.a.), abgedruckt in: Marxen/Werle (Hrsg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht, Bd. 2/2, 643, 877 f. Roxin, JZ 1995, 49, 52 spricht in seiner Anmerkung zum Urteil des BGH im Verfahren gegen den Nationalen Verteidigungsrat von „mittäterschaftliche[r] mittelbare[r] Täterschaft“, Gropp, JuS 1996, 13 ff., von „[m]ittelbare[n] Mit-Täter[n] hinter den Tätern“. Vgl. auch Bloy, Grenzen der Täterschaft bei fremdhändiger Tatausführung, GA 1996, 424, 439 f., der diese Fälle mit der japanischen Mittäterschaftslehre des kyobo kyodo seihan erklärt. Zu letzterem Ohno, Das Kernproblem der Teilnahmelehre in Japan, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, 691 ff. 56 Die Diskussion hat sich vielmehr ausschließlich auf die dogmatisch zutreffende Erfassung des Verhältnisses zwischen den Hintermännern und den unmittelbar Ausführenden beschränkt. Vgl. beispielhaft Schlösser, Soziale Tatherrschaft, 2004, 340 f., der daher sogar explizit von einem Exklusionsverhältnis zwischen der mittelbaren Täterschaft und der Mittäterschaft spricht. Dabei mag erneut die Ausrichtung der deutschen Strafrechtsdogmatik auf den Einzeltäter als gedanklichen Normalfall der Kriminalität eine Rolle gespielt haben. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass in den Abhandlungen zur mittelbaren Täterschaft kraft Willensherrschaft durch organisatorische Machtstrukturen regelmäßig von einem Hintermann die Rede ist. 57 Vorstellbar sind aber auch Fälle der mittelbaren Täterschaft kraft Nötigungs- oder kraft Irrtumsherrschaft in Mittäterschaft, vgl. nur den als „Katzenkönig“ berühmt gewordenen Fall BGHSt 35, 347 ff.

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Machtapparats keine Einzelperson, sondern ein kollegiales Organ und damit eine Personenmehrheit steht. Von Organisationsherrschaft eines kollegialen Organs lässt sich sprechen, wenn die gemeinsam getroffenen Entscheidungen innerhalb des Machtapparates verbindlich sind. Das täterschaftsbegründende Verhalten jedes Mitglieds des Leitungsgremiums besteht dann in der Mitwirkung an der gemeinschaftlichen Beschlussfassung. Eine weitere Tätigkeit bei der Umsetzung der Entscheidung ist für die Begründung mittelbarer Täterschaft nicht erforderlich, weil nach der Funktionsweise des Machtapparats der Gremienbeschluss die Umsetzung bereits weitgehend determiniert. Soweit der Internationale Strafgerichtshof ausführt, Al Bashir habe im Rahmen des Entscheidungsgremiums eine prägende Rolle bei der Ausarbeitung bzw. bei der Überwachung der Umsetzung der Entscheidung gespielt, war dies für die Annahme seiner mittelbaren Täterschaft in Mittäterschaft nicht erforderlich. Auch die begriffliche Unterscheidung der mittelbaren Täterschaft in Mittäterschaft von den „klassischen“ Fällen der mittelbaren Täterschaft ist hilfreich. Sie hebt die Phänomenologie des zurechnungsbegründenden Verhaltens hervor, die durch das kooperative Zusammenwirken mehrerer Personen gekennzeichnet ist. Die mittelbare Täterschaft in Mittäterschaft bewirkt eine Erweiterung der täterschaftlichen Zurechnung: Da der einzelne Angeklagte allein gerade keine Organisationsherrschaft über den Machtapparat ausüben kann, lässt sich sein Verhalten nur dann als mittelbare Täterschaft erfassen, wenn zusätzlich eine Zurechnung der Tatbeiträge anderer Mitglieder des Leitungsgremiums erfolgt und so eine funktionelle Tatherrschaft kraft gemeinsam ausgeübter Organisationsherrschaft konstruiert wird.58

V. Zusammenfassung und Schluss Die vom Internationalen Strafgerichtshof als indirect co-perpetration bezeichnete Form der täterschaftlichen Begehung kombiniert mittelbare Täterschaft und Mittäterschaft. Zwei Konstellationen können unterschieden werden: Zum einen die mittelbare Mittäterschaft, die als modifizierte Form der Mittäterschaft verstanden werden kann und Fälle umfasst, in denen zumindest ein Mittäter seinen plangemäßen Tatbeitrag durch einen von ihm beherrschten Tatmittler erbringt; zum anderen die mittelbare Täterschaft in Mittäterschaft, die als eine Erweiterung der mittelbaren Täterschaft um Elemente der Mittäterschaft Fälle abdeckt, in denen die Tatherrschaft über den Tatmittler von mehreren Personen gemeinsam ausgeübt wird. In der ersten Fallkonstellation (mittelbare ___________ 58

Diesen Aspekt übergeht Roxin, wenn er feststellt, die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats hätten wohl mittäterschaftlich zusammengewirkt, am Ergebnis ändere das aber nichts, vgl. Roxin, JZ 1995, 49, 52.

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Mittäterschaft) werden im deutschen Strafrecht anerkannte Grundsätze der mittelbaren Täterschaft und der Mittäterschaft zutreffend angewendet (Katanga und Chui). Die zweite Fallkonstellation (mittelbare Täterschaft in Mittäterschaft) ist dem deutschen Strafrechtler aus den Verfahren gegen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats der DDR und des SED-Politbüros vertraut. Die dort maßgeblichen Grundsätze werden vom Internationalen Strafgerichtshof folgerichtig auf den zu bewertenden Sachverhalt übertragen (Al Bashir). Bei einer ersten wertenden Betrachtung überzeugt sowohl bei der mittelbaren Mittäterschaft als auch bei der mittelbaren Täterschaft in Mittäterschaft die Begründung täterschaftlicher Verantwortlichkeit. Es leuchtet nämlich nicht ein, warum sich der mittelbare Mittäter dadurch entlasten können sollte, dass er sich zur Ausführung seines Tatbeitrags von ihm beherrschter Tatmittler bedient; und ebenso wenig könnte bei der mittelbaren Täterschaft in Mittäterschaft eine Privilegierung desjenigen überzeugen, der auf Leitungsebene am Zustandekommen des die Verbrechensbegehung determinierenden Entschlusses beteiligt ist, nur weil diese Entscheidung in einem Kollektivgremium gefällt wird. Diese Ausführungen sind notgedrungen noch skizzenhaft und nicht erschöpfend. Sie sollten indes ausreichen, um die Neugier der deutschen Strafrechtswissenschaft anzufachen. Das Völkerstrafrecht bietet interessantes Fallmaterial, das eine scharfsinnige strafrechtsdogmatische Durchdringung gut vertragen kann. Ad multos annos!

Kritisch-dogmatische Überlegungen zur hypothetischen Einwilligung Von Keiichi Yamanaka

I. Einleitung Die Rechtsfigur der „hypothetischen Einwilligung“1, die vom BGH in strafrechtlichen Entscheidungen2 aufgenommen und von Kuhlen als ein Zurechnungskriterium bei Rechtfertigungsgründen begründet und energisch vertreten worden ist3, hat Befürwortung4 und Ablehnung5 hervorgerufen. Die Balance zwischen Pro und Contra scheint sich neuerdings zur Ablehnung hin verschoben zu haben6, weil die meisten Autoren, die sich damit in Aufsätzen ausführlich auseinandergesetzt und als Folge davon neuestens eine Meinung darüber geäußert haben, diese Rechtsfigur als ein Kriterium der objektiven Zurechnung zurückgewiesen haben7. In meinem in japanischer Sprache geschriebenen Aufsatz von 20068 habe auch ich kritische Betrachtungen angestellt und bin dabei zum Ergebnis ge___________ 1

Diese Rechtsfigur stammt aus zivilrechtlichen Entscheidungen: Vgl. BGH NJW 1980, 1333; BGHZ 90, 96; BGHZ 106, 391; BGH NJW 1995, 2410 usw. 2 BGH JR 1996, 69=NStZ 1996, 34; BGH JR 1996, 69; NStZ-RR 2004, 16. 3 Kuhlen, FS Roxin, 2001, S. 331 ff.; ders., FS Müller-Dietz, 2001, S. 431 ff.; ders., JR 2004, 227 ff.; ders., JZ 2005, 713 ff. 4 Im Prinzip wird es von folgenden Autoren befürwortet: Rönnau, JZ 2004, 801; ders., LK-StGB, 12. Aufl., Bd. 2, Vor § 32 Rn. 230 ff. ; Mitsch, JZ 2005, 279 ff.; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, S. 179. 5 Puppe, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes bei mangelnder Aufklärung über eine Behandlungsalternative. Zugleich Besprechung von BGH, Urteil vom 3.3.1994 und 29.6.1995, GA 2003, 764 ff.; Otto, Jura 2004, 679 ff.; Eisele, JA 2005, 252 ff. 6 Als starke Befürworter sind zu nennen: Roxin, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2006, S. 590 ff.; Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, 3. Aufl. 2007, S. 51 ff. 7 Duttge, FS Schroeder, 2006, S. 179 ff.; Gropp, FS Schroeder, 2006, S. 197 ff.; Jäger, FS Heike Jung, 2007, S. 345 ff.; ders., Zurechnung und Rechtfertigung als Kategorialprinzipien im Strafrecht, 2006; Sickor, JA 2008, 11 ff.; ders., JR 2008, 179 ff. 8 Yamanaka, Über die ärztliche Aufklärungspflicht und sog. hypothetische Einwilligung des Patienten, Kamiyama Toshio Sensei Koki Shukuga Ronbunshu (FS Toshio Kamiyama), Bd. 1, 2006, S. 253-283.

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kommen, dass diese Rechtsfigur nicht innerhalb der Lehre von der objektiven Zurechnung, sei es auf der Tatbestandsebene oder auf der Ebene der Rechtfertigungsgründe, behandelt werden und überdies in der Straftatlehre nicht einmal den Sinn einer eigenen Rechtsfigur haben sollte. Da dieser Aufsatz in japanischer Sprache geschrieben worden und die Notwendigkeit entstanden ist, meine Auffassung – angesichts der nach der Veröffentlichung meines Aufsatzes erschienenen vielen Publikationen9, in denen sich vor allem kritische Stellungnahmen finden – nochmals zu überprüfen und mein Ergebnis bestätigen zu lassen, habe ich mich entschlossen, das Thema erneut aufzugreifen. Der Zweck dieses Aufsatzes liegt auch darin, für deutsche Leser die Gegenargumente gegen die hypothetische Einwilligung logisch kurz und klar darzulegen. Um dies effektiv zu verwirklichen, ist von Problemen, deren Behandlung zu keinem dieser Zwecke dienlich erscheint, völlig abzusehen, auch wenn sie in dem Problemzusammenhang insgesamt betrachtet als wichtig erscheinen10.

II. Die Rechtsprechung und die Thesen von Kuhlen 1. BGH-Entscheidungen Um die Problematik der hypothetischen Einwilligung klar zu stellen, sind zunächst einmal die strafrechtlichen Entscheidungen in Betracht zu ziehen:

a) BGH JR 1996, 69 Die erste Entscheidung, das Urteil des BGH vom 29.6.1995, beschäftigt sich mit folgendem Sachverhalt: Der Angeklagte, der Chefarzt einer Universitätsklinik war, hat bei Operationen Surgibone-Dübel als Abstandhalter zwischen den angrenzenden Wirbelkörpern einsetzt. Die Patienten wurden nach den Operationen wegen der Spankomplikationen, deren Gefahr oft durch die Verwendung von Surgibone-Dübeln verursacht worden ist, zum Teil noch einmal operiert. Die Patienten wurden über die spezifischen Vor- und Nachteile der verschiedenen Materialien der Interponate nicht aufgeklärt. Die Patienten haben in die Operation mit dem Surgibone-Dübel eingewilligt. Das LG hat die Einwilligung der Patienten als unwirksam betrachtet, weil der Arzt sie über die bestehenden Behandlungsalternativen und die damit verbundenen Vor- und Nachteile nicht aufgeklärt habe. Der BGH war aber der Meinung, dass der An___________ 9

Geilen, Handbuch des Fachanwalts: Medizinrecht, 2. Aufl. 2008, S. 362 ff.; Merkel, Der Schwangerschaftsabbruch, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 3. Aufl. 2007, S. 195 f. 10 Z. B. wird von der Erörterung strafprozessualer Probleme abgesehen.

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geklagte die Patienten über die Behandlungsalternativen nicht schlechthin, sondern deshalb aufklären musste, weil Surgibone-Dübel nicht zugelassen waren, so dass er die Patienten über die Nichtzulassung der eingesetzten SurgiboneDübel hätte aufklären müssen. Da der Angeklagte nicht wusste, dass die Surgibone-Dübel nicht zugelassen waren, komme wegen der irrigen Annahme eines rechtfertigenden Sachverhaltes durch den Angeklagten nur eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung in Betracht. Der Senat hat für die neue Hauptverhandlung Hinweise gegeben: „Aufklärungsmängel können eine Strafbarkeit des Arztes wegen Körperverletzung nur begründen, wenn der Patient bei einer den Anforderungen genügenden Aufklärung in den Eingriff nicht eingewilligt hätte“. Verbleiben Zweifel, so „sei davon auszugehen, dass die Einwilligung auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung erteilt worden wäre“. „Der neue Tatrichter wird seine Aufmerksamkeit auch der Frage zu widmen haben, ob zwischen den eingetretenen Spankomplikationen und der von dem Angeklagten verletzten Aufklärungspflicht der erforderliche Zusammenhang gegeben ist.“ Für die hier interessierende systematische Betrachtung ist wichtig, dass der BGH in der neuen Hauptverhandlung zwei Überprüfungen verlangt hat: sie betreffen „die hypothetische Einwilligung“ und „den erforderlichen Zusammenhang“11. Die letztere betrifft die Frage, ob der eingetretene Erfolg innerhalb des Schutzzwecks der verletzten Aufklärungspflicht bleibt. Es ist uns klar, dass die letztere Überprüfung zur Frage nach der objektiven Zurechnung gehört. Die erstere bedeutet, dass eine vollendete Körperverletzung nur dann besteht, wenn der Patient die Einwilligung, falls der Arzt ihn über die Behandlungsalternative genügend aufgeklärt hätte, nicht erteilt hätte. Fraglich ist, ob die erstere Frage in der Tat erforderlich ist.

b) BGH NStZ-RR 2004, 16 Dem Beschluss des BGH vom 15.10.2003 lag folgender Sachverhalt zugrunde. Der Angeklagte war Chefarzt der Klinik. Bei einer Patientin wurde ein Bandscheibenvorfall, der operativ behandelt werden sollte, festgestellt. Die zweite Oberärztin K führte die Operation durch. Dabei irrte sie sich in der Bandscheibenetage und die Entfernung des irrtümlichen Bandscheibenvorfalls verursachte eine Nervenbeeinträchtigung. K informierte den Angeklagten und fragte ihn, schockiert über ihren Kunstfehler, um Rat. Der Angeklagte riet ihr, sie solle der Patientin den Fehler verschweigen und ihr die Notwendigkeit einer ___________ 11

Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, S. 177. Danach handelt es sich bei dieser Frage um verschiedene Umschreibungen derselben Sachproblematik. Vgl. auch Geilen (Fn. 9), Handbuch, S. 362 ff.

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nochmaligen Operation im tatsächlich nicht operierten Fach mit einem Frührezidiv erklären. Entsprechend wahrheitswidrig aufgeklärt, erteilte die Patientin ihre Einwilligung zur zweiten Operation. Im Rahmen der zweiten Operation entfernte K entsprechend dem Rat des Angeklagten auch den rechten Wirbelhalbbogen am fünften Lendenwirbel. Das Landgericht stellte fest, die Patientin hätte möglicherweise auch einer zweiten Operation durch K aufgrund der Notwendigkeit und Dringlichkeit zugestimmt. Da jedoch weder K noch der Angeklagte hiervor ausgegangen seien, hat es den Angeklagten wegen Anstiftung zu vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt. Es kam auf die Anstiftung zu vorsätzlich begangener rechtswidriger Körperverletzung an. Der BGH hob das Urteil des Landgerichts auf und ordnete eine neue Hauptverhandlung vor einer anderen Strafkammer an. „Die Rechtswidrigkeit entfällt“ – so der BGH – „wenn der Patient bei wahrheitsgemäßer Aufklärung in die tatsächlich durchgeführte Operation eingewilligt hätte. Der nachgewiesene Aufklärungsmangel kann nur dann zur Strafbarkeit wegen Körperverletzung und wegen der Akzessorietät auch nur dann zur Strafbarkeit der Anstiftung zu dieser Tat führen, wenn bei ordnungsgemäßer Aufklärung die Einwilligung unterblieben wäre. ... Verbleiben Zweifel, so ist nach dem Grundsatz ‚in dubio pro reo‘ zugunsten des Arztes davon auszugehen, dass die Einwilligung auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung erfolgt wäre.“ Unter dem Stichwort „Kausalität des Aufklärungsmangels“ stellte der BGH im nächsten Absatz die weitere Frage, ob die Patientin in eine zweite Operation gerade durch K und ob sie herbei auch in die Entfernung des Wirbelhalbbogens am fünften Lendenwirbel eingewilligt hätte. Aber auch in diesen Ausführungen, mit denen die Zurückverweisung begründet wurde, ging es – so auch ausdrücklich der BGH – in der Tat um die Frage der hypothetischen Einwilligung. Die Fragen nach der hypothetischen Einwilligung und nach der Kausalität der Aufklärungspflichtwidrigkeit sind also im Beschluss als dasselbe Problem behandelt. Doch der BGH hat, wie oben zitiert wurde, es offensichtlich auch unter „Rechtswidrigkeitsausschluss“ eingeordnet. Beim BGH-Urteil von 1995 wurden diese zwei Fragen noch differenziert. In diesem Beschluss aber ist die Frage vereinheitlicht und in die Rechtfertigungsebene eingeordnet. Diese Unklarheit in Bezug auf die systematische Einordnung der Frage verlangt von der Wissenschaft eine ausführliche dogmatische Erklärung.

2. Die Thesen von Kuhlen Kuhlen hat sich mit dieser Aufgabe beschäftigt und die dogmatische Systematisierung der Frage vorgeschlagen. Er meinte: „Die Lehre von der objektiven

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Zurechnung wird ganz überwiegend als Teil der Tatbestandslehre aufgefasst. Aber sie ist daneben auch in der Lehre von der Rechtswidrigkeit bedeutsam. Ein vollendetes Erfolgsdelikt erfordert nicht nur, dass der Erfolg objektiv zurechenbar auf dem prima facie normwidrigen (...) Verhalten beruht, was im Rahmen des objektiven Tatbestandes zu prüfen ist. Es setzt vielmehr auch voraus, dass der Erfolg objektiv zurechenbar auf ein definitiv normwidriges, weil nicht gerechtfertigtes Handeln zurückzuführen ist, was im Rahmen der objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes und dort des näheren dann zu prüfen ist, wenn sich ergibt, dass die Handlung, ex ante beurteilt, nicht die objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes erfüllte. Dann steht zwar fest, dass das Handeln nicht gerechtfertigt war und damit definitiv rechtswidrig erfolgte. Das objektive Unrecht einer vollendeten Tat ist damit aber noch nicht notwendig verbunden“. Nach seiner Analyse stellt die Frage nach der hypothetischen Einwilligung die Erfolgszurechnung auf der Rechtsfertigungsebene dar. Die Rechtsfolge ist der Ausschluss des objektiven Unrechts des Vollendungsdelikts. Beim Vorsatzdelikt ist die Folge also nicht die Vollendung, sondern der Versuch. Aber Kuhlen verallgemeinert diesen Gedanken: Das objektive Unrecht einer vollendeten Tat setzt nach Kuhlen „vielmehr voraus, dass der tatbestandliche Erfolg objektiv zurechenbar darauf beruht, dass keine Rechtfertigung eingreift. Das wiederum ist nur der Fall, wenn das jeweilige Rechtfertigungsdefizit mit dem Erfolg durch Pflichtwidrigkeits- und Risikozusammenhang verbunden ist.“12 Was das bedeutet, hat Kuhlen mit folgendem Bespiel erklärt: „E ruft dem Dieb, der mit E’s Brieftasche fliehen will, zu, er solle stehen bleiben. Als D weiterläuft, gibt E sogleich einen, D am Bein treffenden, Schuss ab, obwohl die Situation zunächst einen Warnschuss zugelassen hätte. Der Tatbestand der vollendeten Körperverletzung ist erfüllt. Der Schuss war objektiv nicht durch Notwehr gedeckt, weil er angesichts des zumutbaren, aber unterlassenen Warnschusses zur Abwehr des Angriffs auf E’s Eigentum nicht erforderlich war. Dennoch ist keine vollendete Körperverletzung gegeben, wenn D den Warnschuss ignoriert hätte. Denn dann hätte dieser Schuss nichts genützt. E hätte anschließend ... auf D schießen dürfen.“ Nach Kuhlen sei also die Körperverletzung auf den Rechtfertigungsmangel nicht objektiv zurechenbar. Zuerst zu dieser Verallgemeinerung der objektiven Zurechnung in der Rechtfertigungsebene nach Kuhlen. Das Beispiel zeigt schon die Sinnlosigkeit der Frage. Otto hat mit Recht ein Gegenargument mit dem folgenden Beispiel aufgezeigt: Der Dieb sei nicht gerechtfertigt, wenn der Bestohlene nachträglich erklärt, er hätte dem Dieb die gestohlene Sache geschenkt, wenn dieser ihn ___________ 12

Kuhlen, FS Müller-Dietz, 2001, S. 431, 432.

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vorher gefragt hätte.13 Neuerdings hat auch Gropp14 mit diesem Beispiel auf die Irrelevanz der Reserveursache hingewiesen. Das rechtmäßige Alternativverhalten beim Fahrlässigkeitsdelikt stellt den Schutzzweck der verletzten Norm in Frage. Deswegen ist der Sinn der hypothetischen Pflichtmäßigkeit völlig anders als bei der Berücksichtigung der Reserveursache. Mitsch erhebt folgenden Einwand gegen die These von Kuhlen: Er behandle diese Problematik „zu früh“ als objektive Zurechnung15 auf der Rechtfertigungsebene. Nach Mitsch sollte Kuhlen keine Terminologie der „Zurechnung des tatbestandlichen Erfolgs“ verwenden, weil es sich auf der Ebene der Rechtfertigung um „Zurechnung des Erfolgsunrechts“ handele. Über die Bedeutung der ex post-Beurteilung bei der hypothetischen Einwilligung streiten sich Kuhlen und Mitsch. Der Streitpunkt liegt darin, ob nur die im Handlungszeitpunkt vorhandenen Umstände einschließlich der erst nachträglich herausgefundenen16, wie Kuhlen meint17, in die Urteilbasis einbezogen werden sollen, oder, wie Mitsch meint18, auch der im nachträglichen Verlauf erfolgreiche oder misslungene Operationserfolg. Kuhlen bezeichnet die erstere eigene Konzeption als „entscheidungsbezogen“ und die letztere Mitsch’s als „erfolgsorientiert“.19 Hier scheint mir die Konzeption von Mitsch doch richtig zu sein. Die ex post Beurteilung hätte keinen Sinn, wenn nicht auch nachträglich sich entwickelnde Verläufe mitberücksichtigt würden. Bei der hypothetischen Einwilligung handelt es sich darum, ob der Patient die Einwilligung gegeben hätte, auch wenn er vom Arzt über die Behandlungsalternative aufgeklärt worden wäre. Für die Feststellung der inneren Seite des Patienten ist es nötig, ihn nachträglich danach zu fragen, ob er eingewilligt hätte. Da er schon den Ablauf der Operation kennt, ist es unmöglich, dass er jetzt diese Tatsache bei seiner Entscheidung außer Acht lassen könnte. Beim rechtmäßigen Alternativverhalten sind auch die Abläufe ___________ 13 Otto, Jura 2004, 679, 683. Vgl. auch Eisele, JA 2005, 252, 254. LK-StGB/Rönnau (Fn. 4), Vor § 32, Rn. 231, hat auf dieses Argument wie folgt erwidert: „Das von Otto präsentierte Beispiel ist zudem deshalb problematisch, weil er als rechtmäßiges Alternativverhalten für den Vergleich eine vollständig andere Handlung (...) auswählt und damit den Kreis möglicher rechtmäßiger Alternativhandlungen über Gebühr ausdehnt.“ Dieses Gegenargument ist nicht zutreffend, weil es Kuhlen war, der zuerst den Kreis über Gebühr ausgedehnt hat. Das Beispiel von Otto war nur eine Variante des oben im Text genannten Warnschuss-Beispiels von Kuhlen. 14 Gropp, FS Schroeder, 2006, S. 197, 201 f. 15 Mitsch, JZ 2005, 279, 283. 16 Kuhlen nennt ein Beispiel der Bluttransfusion, wobei die absolute Abneigung des Patienten zur Bluttransfusion für den Arzt bei der Operation nicht erkennbar war (Kuhlen, JZ 2005, 713, 715). 17 Kuhlen, JZ 2005, 713, 715. 18 Mitsch, JZ 2005, 279, 281. 19 Kuhlen, JZ 2005, 713, 715.

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und Erfolge, die sich nachher entwickelt haben, in die ex post- Beurteilung einzubeziehen. Sonst ist der hypothetische Verlauf nicht richtig zu beurteilen.20

III. Bisherige Kritiken an der Rechtsfigur der „hypothetischen Einwilligung“ 1. Kritik von Puppe gegen die Feststellungsmethode der Kausalität Die Kritik von Puppe gegen die These Kuhlens bezieht sich erstens auf die Unbeantwortbarkeit der Frage nach der hypothetischen Einwilligung und zweitens auf die Frage, ob es sich bei dieser Frage um die „Kausalität“ von Rechtfertigungsgründen und Erfolg handelt. Puppe weist zunächst darauf hin, dass der Patient die Frage, ob er auch bei genügender Aufklärung in die Behandlung eingewilligt hätte, nicht beantworten kann. Nach Kuhlen soll, wenn die Antwort zweifelhaft ist, die hypothetische Einwilligung zugunsten des Angeklagten angenommen werden. Der Grund für die Unbeantwortbarkeit der Frage, ob der Patient eingewilligt hätte, sind jedoch nach Puppe21 nicht Beweisschwierigkeiten, „sondern die Tatsache, dass die Entscheidung des Patienten nicht durch allgemeine Gesetze strikt determiniert ist“. Die Antwort auf die Frage, ob ein bestimmter Patient auch bei vollständiger Aufklärung in die vom Arzt gewählte Heilmethode einwilligt hätte, sei nicht zweifelhaft, sondern sinnlos, weil es keine Methode gibt, um über ihre Richtigkeit oder Falschheit zu entscheiden. Deshalb sei hier auch kein Raum für die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes; die Frage sei vielmehr im strengen Sinne des Wortes unsinnig.22 Zum zweiten stellt Puppe die kritische Frage, aus welchem Grund die hypothetische Einwilligung geprüft werden muss, also warum der Erfolg auf dem Rechtfertigungsmangel beruhen muss. Nach Puppe würden etwa beliebige Rechtfertigungsgründe hypothetisch angenommen, auch wenn es in einem Fall kein einziges Rechtsfertigungselement gibt.23 Für jede Rechtsgutsverletzung lasse sich mindestens eine Notwehrsituation fingieren. Nach Puppe entsteht dieser Fehler im Endeffekt aus dem fehlerhaften Verständnis, dass zwischen Rechtfertigungsgründen und Erfolg ein Kausalzusammenhang bestehen müsse. ___________ 20

Z. B.: Auch wenn der Fahrer die Geschwindigkeitsbeschränkung eingehalten hätte, wäre das Opfer in die Kreuzung hineingefahren und wegen des Aufpralls des Wagens gestorben. Bei dieser Beurteilung ist es unentbehrlich, auch die nachträglich ablaufende hypothetische Einfahrt des Opfers in die Kreuzung mitzuberücksichtigen. 21 GA 2003, 764, 769. 22 Siehe die Gegenargumentation von Kuhlen, JR 2004, 227, 228 f. 23 Puppe, GA 2003, 764, 770.

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Was die erste Kritik anbetrifft, so kann sie bestreitbar sein. Wie jemand in einer bestimmten Situation entschieden hätte, sei zwar nicht mit naturgesetzlicher Exaktheit, in vielen Fällen aber doch – so Roxin – mit einer den Beweisanforderungen der Rechtsordnung genügenden Bestimmtheit zu entscheiden.24 Die zweite Kritik scheint mir theoretisch wichtiger zu sein, obwohl Roxin sie nicht erwähnt hat.

2. Kritik von Gropp Gropp hat zunächst die Argumente gegen die Anerkennung einer hypothetischen Einwilligung als Zurechnungsausschluss in folgenden vier Punkten zusammengefasst:25 1. Unvereinbarkeit mit Grundsätzen des Strafverfahrens: Wie kann man die hypothetische Einwilligung feststellen? 2. Kein Kausal-Nexus bei Rechtfertigungsgründen: Rechtfertigungsgründe stünden außerhalb des Kausal-Nexus. 3. Die Irrelevanz der Reserveursache: Ein Diebstahl entfalle nicht dadurch, dass der Bestohlene vortrage, er hätte dem Täter die gestohlene Sache bei Kenntnis der Sachlage geschenkt. 4. Nichtbeachtung des Selbstbestimmungsrechts: Die Entlastung des Arztes über eine hypothetische Einwilligung übergehe die Nichtbeachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten zum Zeitpunkt des Eingriffs. Sodann überprüft er ausführlich die strukturelle Parallelität zwischen der hypothetischen Einwilligung und dem Pflichtwidrigkeitszusammenhang. Nach ihm ist die additive Formulierung von Reserve-Ursachen unzulässig. Davon gebe es nur wenige Ausnahmen: Erstens bei den unechten Unterlassungsdelikten und zweitens im Rahmen des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs beim Fahrlässigkeitsdelikt. Die unterlassene Aufklärung liegt noch im Vorfeld des tatbestandsmäßigen Heileingriffs. Ob eine Parallelität des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs beim Fahrlässigkeitsdelikt zum Rechtswidrigkeitszusammenhang der hypothetischen Einwilligung beim Vorsatzdelikt vorhanden ist, wird in Frage gestellt. Hypothetische Einwilligung und Pflichtwidrigkeitszusammenhang sind nach Gropp strukturell unvereinbar, da erstere Vorsatzdelikte und letztere Fahrlässigkeitsdelikte betreffe. Gropp kritisiert die BGH-Entscheidungen, in denen die Zurechnungsfrage nicht zwischen Aufklärung und „Eingriffserfolg“, sondern ___________ 24 25

Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, S. 594 f. Gropp, FS Schroeder, 2006, S. 197, 200 f.

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innerhalb des Zusammenhangs zwischen Aufklärung und „Einwilligung“ gestellt werde. Aber die Erklärung der Einwilligung stelle nicht erst den Erfolg, sondern eine der Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes „Einwilligung“ dar. Auch die Rechtfertigung als Ergebnis des Rechtfertigungssachverhalts könne nicht dessen „Erfolg“ sein. Denn die Rechtfertigung sei ein Urteil, ein Ergebnis der Bewertung einer rechtfertigenden Sachlage.26 Die Betrachtung von Gropp führt nicht weiter: Sicher ist die Frage, ob die fiktive Einwilligung vorhanden wäre, anders als die Frage, ob der Eingriffserfolg auch bei genügender Aufklärung entstehen würde. Es lässt sich zwar anerkennen, dass der Eingriffserfolg schon vorhanden wäre, wenn die Einwilligung des Patienten gegeben würde. Denn es ist in der Tat nicht denkbar, dass der Arzt trotz der Einwilligung des Patienten nicht operieren würde, solange die sonstigen, in der Regel nicht zu ändernden Umstände unverändert bleiben. Gropp hätte allerdings seine Gedanken zum Urteilscharakter der Rechtfertigung noch weiter entwickeln müssen. Die Frage ist, welche Kriterien dem Urteil über die Rechtfertigung zugrunde liegen sollen.

3. Kritik von Jäger und Duttge Jäger kritisiert die Annahme einer Versuchsstrafbarkeit als Ergebnis einer Berücksichtigung der hypothetischen Einwilligung. Nach ihm ist die Versuchsstrafbarkeit fragwürdig, da der Arzt wohl meist darauf vertrauen wird, dass der Patient ohnehin eingewilligt hätte. Damit würde es nach Jäger am Körperverletzungsvorsatz fehlen. Deswegen sei es wohl richtiger, „das Rechtsinstitut der hypothetischen Einwilligung überhaupt abzulehnen und eine Strafbarkeit wegen vollendeter Körperverletzung anzunehmen, wenn die Operation ohne vorherige rechtswirksame Einwilligung des Patienten erfolgt“27. Offen bleibt bei Jäger, ob der Arzt tatsächlich meist auf die schließliche Einwilligung des Patienten vertrauen wird. Duttge kritisiert die Übertragung der Zurechnungsprüfung auf die Ebene der Rechtfertigungsgründe durch Kuhlen. Duttge legt dar, dass dem beabsichtigten Export des Zurechnungsgedankens in der vorgestellten Weise ein prinzipieller strafrechtsdogmatischer Einwand entgegensteht. „Im Kern wird damit nämlich die spezifische Eigenart der Rechtswidrigkeitsstufe in ihrer Divergenz zum Tatbestand missachtet; denn die ‚Komplettierung‘ des ‚Gesamtunrechts‘ und – damit einhergehend – die Berechtigung des Unwerturteils über die Tat resultiert hier nicht etwa aus weiteren unrechtsbegründenden Elementen, sondern viel___________ 26

Gropp, FS Schroeder, 2006, S. 197, 206. Jäger, Zurechnung und Rechtfertigung als Kategorialprinzipien im Strafrecht, 2006, S. 26. 27

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mehr umgekehrt allein aus dem Fehlen der einen Unrechtsausschluss bedingenden Anforderungen“. Es kann „einen Zurechnungszusammenhang zum tatbestandlichen (!) Erfolg daher von vornherein nicht auf Rechtswidrigkeits-, sondern nur auf Tatbestandsebene geben, während eine normative Beziehung im Rahmen der ‚objektiven Rechtswidrigkeit‘ strukturell allein am Vorhandensein (!) unrechtsausschließender Momente (...) anknüpfen und demzufolge einzig für die Rechtfertigung der Tat relevant sein kann.“28 Ob die objektive Zurechnung auf der Ebene der Rechtfertigungsgründe eine richtige Rechtsfigur ist, ist später noch zu überprüfen.

4. Kritik von Sickor Die Kritik von Sickor betont die logische Unhaltbarkeit der Vergleichbarkeit der hypothetischen Einwilligung mit dem rechtmäßigen Alternativverhalten.29 Sein Ausgangspunkt ist der Begriff der „Einwilligung“: Man kann ihn im normativen oder im tatsächlichen Sinne verstehen. In der ersteren Bedeutung geht es um die rechtlich wirksame oder unwirksame Einwilligung. In der letzteren kommt es auf das Ob der tatsächlichen Einwilligung an. Was zunächst die Interpretation der Einwilligung im normativen Sinne betrifft, sei im realen Ausgangsfall die Einwilligung auf Grund der unvollständigen Aufklärung und der daraus resultierenden Willensmängel „unwirksam“. Dagegen führe die hypothetisch ordnungsgemäße Aufklärung zu einer wirksamen Einwilligung. Wenn man dieses Ergebnis mit dem rechtsmäßigen Alternativverhalten vergleicht, so kommt man bei jenem zu einem normativ gleichen Ergebnis, bei der hypothetischen Einwilligung hingegen zu einem abweichenden Ergebnis. Wenn man die Einwilligung als tatsächliche Zustimmung interpretiert, führt eine Ersetzung der tatsächlich mangelhaften durch eine hypothetisch ordnungsgemäße Aufklärung ebenso zum Fortbestand der tatsächlichen Zustimmung. „Da eine Ersetzung der Prämissen den Zustand des Zurechnungsobjektes ‚tatsächliche Zustimmung‘ mithin nicht verändert, könnte analog zum rechtmäßigen Alternativverhalten gefolgert werden, dass der Aufklärungsmangel auf die tatsächlich erteilte Zustimmung des Patienten keinen Einfluss ausgeübt haben kann“. Die Folgerungsseite des logischen Schlusses bei Vergleichung der Strukturen von hypothetischer Einwilligung und rechtmäßigem Alternativverhalten sei unterschiedlich, weil bei der ersteren das strafbarkeitsausschließende Element fortbestehe, während bei dem letzteren der strafbarkeitsbegründende ___________ 28 29

Duttge, FS Schroeder, 2006, S. 179, 185 f. Sickor, JR 2008, 179 ff.

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Deliktserfolg auch bei sorgfaltsgemäßem Handeln bestehen bleibe. Also wirke bei der hypothetischen Einwilligung die Schlussfolgerung günstig für den Täter, während es beim rechtmäßigen Alternativverhalten darum gehe, dass derselbe, dem Täter ungünstige Deliktserfolg auch rechtmäßig hätte herbeigeführt werden können. Die hypothetische Einwilligung des Patienten sei im Hinblick auf eine Straflosigkeit des Arztes nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung. Eine erteilte Zustimmung führe noch nicht zu einer Rechtfertigung. Hinzutreten müssten zahlreiche weitere Voraussetzungen, von der Einwilligungsfähigkeit über die Dispositionsbefugnis bis hin zur Freiheit der Zustimmungserklärung von Willensmängeln. „Eine Auslegung des ‚Einwilligens‘ als tatsächliche Zustimmung stimmt damit zwar auf ‚Voraussetzungsseite‘ mit der logischen Struktur des rechtmäßigen Alternativverhaltens überein, bietet auf ‚Schlussfolgerungsseite‘ aber nur die nicht weiterführende Erkenntnis, dass eine tatsächliche Zustimmung des Patienten nicht nur mittels einer unvollständigen und deshalb zur Rechtfertigung untauglichen, sondern – hypothetisch – auch vermittels einer ordnungsgemäßen Aufklärung zu erlangen gewesen wäre.“ Als Ergebnis der Betrachtung schlägt Sickor folgende Prüfungsformel vor: Es müsste die Frage danach gestellt werden, ob bei hypothetisch unterstellter, vollständiger (...) Aufklärung alle Voraussetzungen einer rechtfertigenden Einwilligung unverändert bestehen bleiben. „Nur dann wäre der Aufklärungsmangel in Bezug auf die Unwirksamkeit der Einwilligung und damit auch bezüglich der Rechtswidrigkeit des Erfolgseintritts nicht zurechenbar.“30 Daher sei auch zu prüfen, ob die Willensmängel oder die Einwilligungsfähigkeit auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung fortbestünden. „Auf logisch zulässigem und dogmatisch überzeugendem Wege wäre der von der Rechtsprechung erstrebte Erfolg einer Unbeachtlichkeit der Aufklärungspflichtverletzung für die ‚Einwilligung‘ nur dann erreichbar, wenn neben der Frage, ob der Patient dem Eingriff auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung zugestimmt hätte, zugleich diejenige gestellt würde und bejaht werden könnte, ob der Patient auch dann noch an den zuvor bestehenden Willensmängeln gelitten hätte.“ Der Ausgangspunkt der Analyse von Sickor war zutreffend: Die Konsequenz der Formelanwendung bei der Einwilligung im normativen Sinne und im tatsächlichen Sinne ist unterschiedlich. Nach der Formel vom rechtmäßigen Alternativverhalten ist es notwendig, dass derselbe Erfolg auch dann entstanden wäre, wenn der Täter pflichtmäßig gehandelt hätte. Also muss der Erfolg derselbe sein. Die Einwilligung ist, wenn man sie normativ betrachtet, damit nicht vergleichbar, weil es den Unterschied zwischen der „wirksamen“ und der „unwirksamen“ Einwilligung gibt. Das Ergebnis von Sickor, dass die Formel der ___________ 30

Sickor, JR 2008, 179, 184.

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hypothetischen Einwilligung nur dann bejaht werden kann, wenn beim Patienten auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung die Willensmängel bestehen bleiben würden, kann aber in Wirklichkeit nicht durch die Anwendung dieser Formel erreicht werden. Das bedeutet nur, dass die erteilte ungenügende Aufklärung nichts mit den Willensmängeln des Patienten zu tun hat. Der Verletzungserfolg liegt in diesem Fall außerhalb des Schutzbereichs der Aufklärungspflichtwidrigkeit.31 Denn der Erfolg ist unabhängig von der Aufklärungspflichtwidrigkeit eingetreten. Aber die Einwilligung des Patienten ist ohnehin unwirksam, weil beim Patienten Willensmängel vorhanden waren. In diesem Fall wird der Vorsatz des Arztes ausgeschlossen, weil er normalerweise diese Willensmängel des Patienten nicht erkennen kann. Da der Erfolg außerhalb des Schutzbereiches der Aufklärungspflichtwidrigkeit liegt, wird der Arzt nicht wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts verurteilt werden, wenn seine Pflichtwidrigkeit nur in seiner Aufklärungspflichtwidrigkeit liegt.

IV. Kritische Betrachtungen Die bisherigen Kritiken an der Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung treffen in gewisser Weise zu. Aber die Argumentationen dürften die Befürworter dieser Rechtsfigur noch nicht überzeugen. Im Folgenden ist meine Kritik aus dem normativen Sinn der Aufklärung zu entwickeln.

1. Der normative Sinn der Aufklärungspflicht a) Der Sinn der Aufklärungspflicht Die ärztliche Aufklärungspflicht ist eine Voraussetzung der wirksamen Einwilligung des Patienten. Die Einwilligung ist nur dann wirksam, wenn der Arzt den Patienten über das Für und Wider prinzipiell unterrichtet und ihm dadurch informatorische Entscheidungshilfe geleistet hat.32 Die Einwilligung des Patienten ist in diesem Sinne nur insofern wirksam, als er seine Einwilligung gut informiert und ohne beachtlichen Irrtum erteilt hat. Die Aufklärung ist also notwendig, um das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu garantieren.33 ___________ 31 Damit ist gemeint, dass sie in Wirklichkeit zur oben im Urteil des BGH vom 29.6.1995 genannten Frage des Schutzbereichs der Norm gehört. 32 Geilen (Fn. 9), Handbuch, S. 351. 33 Man nennt diesen Zweck der Aufklärung „Selbstbestimmungsaufklärung“. Hier ist von der „therapeutischen Aufklärung“, die mit der Wirksamkeitsfrage nichts zu tun hat, nicht die Rede. Vgl. Geilen, in: Handbuch (Fn. 9), S. 352.

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Die Einwilligung ist in der Regel dann unwirksam, wenn der Einwilligende in einen rechtsgutbezogenen Irrtum geraten ist und Willensmängel bei ihm vorhanden sind. Die Aufklärungspflichtwidrigkeit führt dann zur Unwirksamkeit der Einwilligung, wenn sie Willensmängel des Patienten verursacht hat. Wenn die Aufklärungsmängel keine Willensmängel verursachen, dann kann die Einwilligung theoretisch wirksam sein. Aber die Aufklärungspflichtwidrigkeit ist in der Regel ein Indiz für Willensmängel. Umgekehrt kann die Einwilligung des Patienten ohne ärztliche Aufklärung auch wirksam sein, wenn der Patient sich in keinem beachtlichen rechtsgutbezogenen Irrtum befindet.34

b) Normzweck der Aufklärungspflicht Die Aufklärungspflicht hat den Zweck, der Wirksamkeit der Einwilligung eine Grundlage zu liefern.35 Sie hat eigentlich nicht den direkten Zweck, den Verletzungserfolg (z. B. Körperverletzung) zu verhüten. Denn der Verletzungserfolg beim Opfer entsteht dann nicht, wenn der Arzt noch gar nicht damit begonnen hat, dieses zu operieren. Die Norm verbietet die Verursachung des Verletzungserfolges bei den Körperverletzungsdelikten noch nicht im Vorfeld. Die Aufklärungspflicht an sich verlangt vom Arzt nur, dem Patienten genügende Informationshilfe für seine Entscheidung über die Einwilligung zu geben, damit er seine Einwilligung wirksam erteilen kann. Erst mit dem unmittelbaren Ansetzen zur Operation beginnt die Tatausführung der vorsätzlichen Körperverletzung. Vielleicht hat die Aufklärungspflicht in dieser Tatausführungsphase auch den Zweck, einen rechtwidrigen Körperverletzungserfolg zu verhüten. Aber das bedeutet nur, dass die Norm die „Operation ohne wirksame Einwilligung“ verbietet. Bevor wir den Normzweck in dieser Etage ausführlicher überprüfen, müssen wir noch den Sinn der Aufklärungspflicht im Vorfeld der Tatausführung in Betracht ziehen.

2. Verhältnis zwischen Aufklärungspflichtwidrigkeit und Einwilligung a) Aufklärungspflicht im Vorfeld der Tatausführung Als Ausgangspunkt der Betrachtung ist zu beachten, dass die Problematik der hypothetischen Einwilligung sich immer nur im Vorfeld der tatbestandlichen Körperverletzung abspielt.36 Die Formel: „Auch wenn die ordnungsgemä___________ 34 Der Patient kann auch auf die ärztliche Aufklärung verzichten (Aufklärungsverzicht), vgl. Geilen (Fn. 9), Handbuch, S. 360. 35 Vgl. schon Yamanaka, FS Kamiyama, Bd. 1, 2006, S. 253, 278. 36 Vgl. auch Gropp, FS Schroeder, 2006, S. 197, 202.

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ße Aufklärung erteilt würde, wäre die Einwilligung des Patienten gegeben“, bedeutet, dass es sich nur um das Verhältnis zwischen der Aufklärungspflichtwidrigkeit und der „Einwilligung“ im Vorfeld der eigentlichen Tatausführung handelt.37 Da die Einwilligung des Patienten jedenfalls erteilt wurde, scheint die „Einwilligung“ an sich bei dieser Situation unabhängig von Pflichtwidrigkeit oder Pflichtgemäßheit der Aufklärung erteilt zu werden. Aber was bedeutet das?

b) Kausalzusammenhang zwischen der „Handlung“ und dem Erfolg Zuerst nehmen wir an, dass dieses Verhältnis den Kausalzusammenhang oder die objektive Zurechnung darstellt.38 Denn die Frage nach der Kausalität oder der objektiven Zurechnung kommt immer dann in Betracht, wenn es sich um das Verhältnis zwischen „Handlung“ und Erfolg handelt, mit anderen Worten, wenn es geprüft werden muss, ob die Handlung den Erfolg „verursacht“ hat. Dabei kann man davon absehen, ob es sich dabei um „Handlung“ auf der Ebene der Tatausführung oder auf der Ebene der Vorbereitung handelt.39 Wenn man so denkt, dann hat diese Annahme einen guten Grund. Das Unterlassen der genügenden Aufklärung ist auch menschliche Handlung und die Einwilligung ist dessen Erfolg, weil die letztere von der ersteren abhängen kann. Hier ist das Vorhandensein der Kausalität im natürlichen Sinne40 zwischen dem Unterlassenen genügender Aufklärung und der erteilten Einwilligung zweifellos. Das erstere und das letztere stehen nach der herrschenden Meinung in Verhältnis von conditio sine qua non. Aber diese tatsächliche Kausalität löst das Problem der hypothetischen Einwilligung nicht. Das Problem liegt in der normativen Wertung der Einwilligung.

c) Kausalität der hypothetischen Einwilligung? Erhöht die mangelhafte Aufklärung vom Standpunkt ex post nicht das Risiko der Einwilligung? Hat die Norm der Aufklärungspflicht ex post gesehen keinen ___________ 37

Denn die Operation wird durchgeführt, wenn der Patient seine Einwilligung erteilt hat. Der Ablauf des Geschehens nach Erteilung der Einwilligung ist in tatsächlicher Hinsicht derselbe, egal, ob die Aufklärung pflichtgemäß oder pflichtwidrig ist. 38 Unten verwende ich nur die Terminologie der „Kausalität“ in diesem Kontext, weil sie die Grundlage der objektiven Zurechnung bildet. 39 Dieser Satz ist unzweifelhaft, weil man auch von der Vorbereitungs-„Handlung“ oder Teilnahme-„Handlung“ sprechen kann. 40 Vgl. Manfred Maiwald, Kausalität und Strafrecht, Göttinger Rechtswissenschaftliche Studien Bd. 108, 1980, S. 5 ff.

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Sinn gehabt, die Einwilligung zu vermeiden? Diese Fragen sind ohnehin zu bejahen, wenn es sich dabei nur um die „Einwilligung“ an sich handelt, weil die „Einwilligung“ unabhängig von der mangelnden oder ordnungsgemäßen Aufklärung erteilt worden ist. Ohne eine Aufklärung – welcher Art auch immer – kommt es praktisch nicht zu einer Einwilligung. Hat aber die Norm, die eine genügende Aufklärung vor dem medizinischen Eingriff verlangt, den Zweck, die „Einwilligung“ überhaupt zu unterdrücken? Offensichtlich „Nein“. Wenn man vom Standpunkt des Normzwecks die Frage überprüft, so bezweckt die Aufklärungspflicht nur, die „unwirksame“ Einwilligung zu verhindern. Man muss also aus dieser Sicht nochmals die Frage nach der Risikoerhöhung beantworten. Das Risiko der „unwirksamen“ Einwilligung ist durch die mangelhafte Aufklärung wesentlich erhöht. Die hypothetische genügende Aufklärung kann diese Erhöhung nicht verhindern, weil sie einen anderen Erfolg, also die „wirksame“ Einwilligung verursacht hätte.41

d) Kausalität der Rechtfertigungsgründe? Puppe und Gropp stellen in Frage, ob die Anforderung des Kausalzusammenhangs zwischen Rechtsfertigungsgründen und Erfolg überhaupt denkbar oder notwendig ist.42 Wenn die Frage nur wäre, ob es überhaupt eine „Kausalität der Rechtfertigungsgründe“ geben kann, wäre es in Ordnung, weil wir nur die Möglichkeit der „Kausalität der Rechtfertigungsgründe“ überprüfen würden. Aber es verbleibt dann noch die Möglichkeit, sie auf der Tatbestandsebene einzuordnen. Nach meiner Auffassung ist die Frage, ob es sich um Kausalität zwischen Aufklärungspflichtwidrigkeit und Einwilligung handelt, unabhängig von der Einordnung der Frage der hypothetischen Einwilligung zu verneinen, wie unten näher ausgeführt wird.

e) Zwischenergebnis Die Aufklärungspflicht ist eine Anforderung (Voraussetzung) der Wirksamkeit der Einwilligung. Die Kausalität zwischen beiden ist nicht geboten. Die Tatbestandsmerkmale, die an sich nicht ein Element der Handlung, sondern nur eine Bewertung darstellen sollten, können nur insofern im Kausalzusammenhang stehen, als ihnen eine menschliche Handlung zugrunde liegt. Deswegen ___________ 41

Auch nach Jäger (Fn. 27), S. 25, ist der Fall mit den bekannten Konstellationen des rechtmäßigen Alternativverhaltens nicht vergleichbar. 42 Zur Frage nach der objektiven Zurechnung bei den Rechtfertigungsgründen s. später unter 4.

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ist es sinnlos, die Frage nach der Kausalität zwischen Pflichtwidrigkeit und Unwirksamkeit der Einwilligung zu stellen.

3. Verhältnis zwischen dem ärztlichen Eingriff ohne genügende Aufklärung und dem tatbestandlichen Erfolg Die Tatausführung der vorsätzlichen Körperverletzung beginnt mit dem unmittelbaren Ansetzen zum ärztlichen Eingriff. Im Zeitpunkt der mangelhaften Aufklärung liegt noch kein Versuchsbeginn vor. Wenn der ärztliche Eingriff ohne genügende Aufklärung durch einen solchen mit ihr hypothetisch ersetzt würde, so würde der tatbestandliche Körperverletzungserfolg im einschlägigen Fall auch eingetreten sein. Es ist völlig klar, dass der ärztliche Eingriff den Körperverletzungserfolg verursacht hat. Verneint wird hier nur die Ursächlichkeit des ärztlichen Eingriffs mit mangelhafter Aufklärung. Es wird in Frage gestellt, ob diese Ursächlichkeit für die Tatbestandserfüllung überhaupt notwendig ist.

a) Schutzbereich der Norm als Wirkungsbereich der Einwilligung Klar ist, dass der Arzt nicht immer den Tatbestand der Körperverletzung oder der Körperverletzung mit Todesfolge verwirklicht hat, wenn er seine Aufklärungspflicht verletzt hat. Wenn nämlich der eingetretene Erfolg außerhalb des Schutzbereiches der verletzten Norm, in diesem Fall also der Aufklärungspflicht, liegt, mit anderen Worten, wenn der Erfolg keine Verwirklichung des Risikos, über das aufzuklären ist, darstellt, ist der Erfolg nicht objektiv zurechenbar. Diese Frage ist jedoch keine Kausalitätsfrage, sondern die Frage des „Wirksamkeitsbereichs“ der Einwilligung. Wenn z. B. der Arzt den Patienten zwar über die Nebenwirkungen des eventuell zu verwendenden Medikaments nicht aufgeklärt hatte und als Folge der Operation, über deren Risiken der Arzt genügend aufgeklärt hat, die Lähmung einer Hand eingetreten ist, liegt der Erfolg außerhalb des Schutzzwecks der einschlägigen Aufklärungspflicht. Es ist zwar die „Grundaufklärung“ notwendig43, wenn aber sonst über den entstandenen konkreten Erfolg aufgeklärt wurde, ist die Einwilligung insoweit wirksam.

___________ 43 Vgl. Geilen (Fn. 9), Handbuch, S. 364 f.; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, S. 176.

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b) Keine Parallelität zum rechtmäßigen Alternativverhalten Wenn der Erfolg auch dann entstanden wäre, wenn der Arzt ordnungsgemäß aufgeklärt hätte, dann stellt sich die Frage, ob der Erfolg außerhalb des Schutzzwecks der Norm liegt. Im Fall rechtmäßigen Alternativverhaltens beim Fahrlässigkeitsdelikt ist die Frage zu bejahen. Denn die Norm hat vom Standpunkt ex post keine Funktion erfüllt. Die verletzte Verkehrsnorm hat z. B. keine Rolle gespielt, wenn der Erfolg auch dann eingetreten wäre, wenn der Täter diese Norm eingehalten hätte. Bei der hypothetischen Einwilligung dagegen gilt diese Formel nicht.44 Die Aufklärungspflicht hat eigentlich, wie gesagt, nicht den Zweck, dem tatbestandlichen Erfolgseintritt vorzubeugen, sondern nur den, die wirksame Einwilligung zu garantieren. Wenn der Arzt diese Pflicht verletzt, ist die Einwilligung im Prinzip unwirksam. Aber der tatbestandliche Erfolg tritt schon dann ein, wenn der ärztliche Eingriff mit der, egal ob wirksamen oder unwirksamen, Einwilligung des Patienten durchgeführt wurde. Die Aufklärungspflicht hat nur indirekt den Zweck, den „Unrechtserfolg“, der ohne eine wirksame Einwilligung eintreten würde, zu verhindern, indem sie der unwirksamen Einwilligung vorbeugt. Die Aufklärungspflichtwidrigkeit führt zum Unrechtserfolg. Die Erfüllung der Aufklärungspflicht führt dagegen nicht zum Unrechtserfolg. Die hypothetische ordnungsgemäße Aufklärung kann, normativ gesehen, nicht den gleichen Erfolg wie die wirkliche mit sich bringen.

c) Keine Frage der objektiven Zurechnung Problematisch jedoch ist es, ob die Frage der hypothetischen Einwilligung überhaupt bei der objektiven Zurechung eingeordnet werden kann. Der Umstand, dass der Erfolg auch bei wirksamer Einwilligung eingetreten wäre, ändert nichts an der Unwirksamkeit der Einwilligung. Auch wenn hier die Terminologie des Normzwecks verwendet wird, bedeutet das nicht, dass die hypothetische Einwilligung zur Zurechnungsfrage gehört. Denn die Aufklärungspflichtwidrigkeit wirkt sich nur auf die Wirksamkeit der Einwilligung aus, nicht auf die Verhinderung des Erfolges. Kurz gesagt ist die Erfüllung der Aufklärungspflicht eine Voraussetzung der wirksamen Einwilligung.

___________ 44 Sickor, JR 2008, 179, 183 zeigt auch, dass der Deliktserfolg kein gewinnbringendes Zurechnungsobjekt ist: „Eine nach hypothetisch ordnungsgemäßer Aufklärung und gleichwohl erteilte tatsächliche wirksame Einwilligung vermag den Eintritt des Deliktserfolgs ja nicht zu hindern, sondern ihn ‚lediglich‘ zu rechtfertigen“.

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4. Einwilligung als Zurechnungsausschluss bei den Rechtfertigungsgründen oder im Tatbestand a) Keine objektive Zurechnung auf der Rechtfertigungsebene Wenn man die Einwilligung bei den Rechtfertigungsgründen einordnet, wird die Struktur der hypothetischen Einwilligung noch klarer. Hier verhindert der ärztliche Eingriff, der durch keine wirksame Einwilligung gedeckt ist, die Rechtfertigung der tatbestandlichen Körperverletzung. Der Umstand, dass der Erfolg auch bei wirksamer Einwilligung eingetreten wäre, hat keinen Sinn, weil die wirksame Einwilligung die „Rechtfertigung“ gebracht hätte. Eingetreten ist nicht derselbe Erfolg, eingetreten sind vielmehr normativ verschiedene Erfolge. Denn die Wirksamkeit der Einwilligung ist nur die Voraussetzung für die Rechtfertigung des Tatbestandes von Körperverletzung. Die unwirksame Einwilligung führt nur dazu, dass die Rechtfertigung der ganzen tatbestandsmäßigen Tat und auch des Erfolges scheitert.45 Die Rechtfertigungsbeurteilung ist im Prinzip die normative Bewertung des gesamten Tatgeschehens, das von der tatbestandsmäßigen Handlung bis zum Erfolgseintritt verläuft. Ein Kriterium dieser Bewertung ist die Wirksamkeit der Einwilligung, die wiederum die ärztliche Aufklärung voraussetzt. Diese Bewertung als solche hat mit der Kausalität nichts zu tun. Die Frage nach der Struktur der hypothetischen Einwilligung hat daher nichts zu tun mit der Frage, wo im Verbrechensaufbau, ob im Tatbestand oder bei den Rechtfertigungsgründen, die Einwilligung eingeordnet werden soll. Die Frage, ob der eingetretene Erfolg innerhalb des Schutzbereichs der Aufklärungspflicht bleibt, ist in Wahrheit keine Frage der objektiven Zurechnung, sondern die Frage des Wirksamkeitsbereichs der Pflicht. Dieses Element kann freilich auch ein Teil des Bewertungsobjekts für die Rechtfertigung sein.

b) Einwilligung als Zurechnungsausschluss? Die Einwilligung kann die Tatbestandsmäßigkeit ausschließen, weil es damit an der Erforderlichkeit des Rechtsgüterschutzes, also nicht an der objektiven Zurechnung fehlt. Die Einwilligung des Opfers verschiebt im Allgemeinen nicht die Verantwortlichkeit für die Erfolgsverursachung vom Täter zum Op___________ 45

Es gibt Fälle, in denen nur der Erfolg gerechtfertigt wird, z. B.: der Todeserfolg wird gerechtfertigt, wenn der tödliche Schuss des Täters in mangelnder Kenntnis der Notwehrsituation zufällig das Leben des B, den der C gerade töten wollte, gerettet hat. Dieses Ergebnis wird erreicht, wenn man die Auffassung vertritt, dass bei der Notwehr kein Verteidigungswille erforderlich ist.

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fer46. Die Beihilfe zum Suizid ist z. B. in Deutschland nicht strafbar, aber in Österreich (§ 78 öStGB)47 oder in Japan (§ 202 jStGB)48 strafbar. Die Einwilligung des Opfers in den Tod schließt in diesen Ländern – wenn man nach der normativen Ansicht urteilt – die Verantwortlichkeit des Gehilfen nicht aus. Die Verallgemeinerung der Einwilligung als Zurechnungsgrund würde eine logische Verwirrung bei der Einwilligung als Tatbestandsmerkmal verursachen: Die Einwilligung des Hausbesitzers in das Betreten des Hauses durch einen Fremden schlösse z. B. nach dieser Theorie nicht die Tatobjektsverletzung, also die Hausrechtsverletzung, sondern die objektive Zurechnung aus. Um die objektive Zurechnung welchen Erfolgs würde es aber gehen? Der Einwilligende verzichtet auf den rechtlichen Schutz seines Hausrechts, d. h. er hat kein Rechtsgut mehr. Trotzdem ist der Unrechtserfolg eingetreten?

V. Fazit Die Lehre von der objektiven Zurechnung hat im Bereich der Einschränkung des natürlichen Kausalzusammenhangs reichliche Ernte gebracht. Andererseits wurde ihr Anwendungsbereich bereits sehr erweitert.49 Über sie ist gesagt worden, sie erfasse immer mehr Anwendungsbereiche „wie ein riesiger Krake mit zahllosen Tentakeln“50. Die Frage der hypothetischen Einwilligung, die zur objektiven Zurechnung zu gehören scheint, gehört nicht zur objektiven Zurechnung, sondern zur Voraussetzung der wirksamen Einwilligung. Der Schutzbereich der Aufklärungspflicht begrenzt die Reichweite der ärztlichen „Aufklärung“. Deshalb führt die Aufklärungspflichtwidrigkeit nicht zum Unrechtserfolg, wenn der Erfolg nicht aus dieser Pflichtverletzung entstanden ist. Die hypothetische ordnungsgemäße Einwilligung kann die Pflichtwidrigkeit des ___________ 46 Jäger (Fn. 9), S. 22 ff., vertritt diese Theorie vor allem unter Berufung auf Rothenfusser, Kausalität und Nachteil, 2003, S. 90 ff. Danach ihm müssen mehrere andere bisherige Rechtfertigungsgründe, wie Pflichtenkollision, Notwehrprovokation und mutmaßliche Einwilligung usw. zum Ausschluss der Tatbestandmäßigkeit verschoben werden. 47 § 78 öStGB (Mitwirkung beim Selbstmord): „Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.“ Vgl. Bruckmüller/Schumann, Die Heilbehandlung im österreichischen Strafrecht, in: Roxin/Schroth (Fn. 9), S. 686 ff. 48 § 202 jStGB: „Wer einen anderen zum Selbstmord anstiftet oder ihm beim Selbstmord Hilfe leistet, oder auf sein Verlangen oder mit seiner Zustimmung tötet, wird mit Zuchthaus oder Gefängnis von sechs Monaten bis zu sieben Jahren bestraft“ . 49 Der Versuch von Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Erfolgszurechnung, 1988, S. 7 ff., die tatbestandsmäßige Handlung außerhalb der objektiven Zurechnung zu verschieben, war auch ein Versuch der Einschränkung der Lehre von der objektiven Zurechnung. 50 Vgl. Schünemann, Über die objektive Zurechnung, GA 1999, 207.

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Arztes nicht rückgängig machen. Das Argument der Parallelität zum rechtmäßigen Alternativverhalten macht beim Grundgedanken einen wesentlichen Fehler, da es sich hier um die normative Bewertung des Erfolgs handelt. Wenn man dies mit einer Formel ausdrücken würde, so würde sie lauten: Der bei der hypothetischen Einwilligung eintretende Erfolg ist „als Unrecht wirksam“, während bei der realiter erteilten Einwilligung der Erfolg „unwirksam“ ist. Die Formel bringt deswegen nichts.

Strafrecht, Rechtsphilosophie und der untaugliche Versuch Von Rainer Zaczyk Der folgende Text ist Manfred Maiwald sehr herzlich zum 75. Geburtstag gewidmet. Dem Anschein nach werde ich mich – entgegen einer vielfachen Übung – nicht mit einem speziellen Problem aus dem wissenschaftlichen Werk des Jubilars beschäftigen. Aber Manfred Maiwald stammt aus der Schule von Wilhelm Gallas, so wie mein eigener Lehrer E. A. Wolff. Ich denke schon, dass damit ein Zusammenhang angedeutet wird, der in einer vergleichbaren Vorgehensweise in der Behandlung wissenschaftlicher Fragen des Strafrechts besteht. Bei ihr bildet das Strafrecht zwar einen selbstständigen Schwerpunkt, doch wird zusätzlich auch stets und mit einer gewissen Selbstverständlichkeit auf Einsichten der Philosophie ohne Berührungsangst zugegriffen.1 Nun hat Claus Roxin zur Festschrift für Wilfried Küper einen Text beigetragen, der eine solche Vorgehensweise kritisch befragt. Sein Aufsatz trägt den Titel „Selbständigkeit und Abhängigkeit des Strafrechts im Verhältnis zu Politik, Philosophie, Moral und Religion“.2 In einer Auseinandersetzung mit diesem Text kann exemplarisch gezeigt werden, wie sich die Strafrechtswissenschaft weitergehender Begründungen beraubt, wenn sie sich gegen Argumentationen (rechts-)philosophischer Provenienz abschließt. Das schwächt letztlich auch die Einzelergebnisse, wie an dem Text Roxins ebenfalls gezeigt werden kann. Denn er belässt es dankenswerterweise nicht bei allgemeinen methodischen Bemerkungen, sondern gibt für seine Zuhörer3 immer auch Beispiele. Eines dieser Beispiele ist das Problem der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs, also etwa der „versuchten“ Tötung eines bereits Verstorbenen. Roxin will daran zeigen, wie das Strafrecht in die „Irre“ geführt wird,4 wenn es sich bei der Lö___________ 1 Vgl. nur Maiwald, Kausalität und Strafrecht, 1980, bes. Kap. 3, S. 47 ff. Siehe auch dens., In memoriam Wilhelm Gallas (hrsg. von Wilfried Küper), 1991, S. 56 ff. 2 Roxin, FS Küper, 2007, S. 489 – 504. Seitenangaben ohne genauere Quellenangabe beziehen sich auf diesen Text. 3 Der Text wurde ursprünglich vor Studierenden der Universität Las Palmas de Gran Canaria vorgetragen (vgl. S. 489, Fn. *). Roxin weist ganz zutreffend darauf hin, dass durch die Vortragsform und die mit ihr verbundene Nötigung zur Einfachheit und Knappheit eine Auffassung klarer hervortreten kann, auch wenn sie dann nicht nach allen Seiten argumentativ abgestützt ist. 4 S. 496.

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sung dieses Problems von Überlegungen z. B. rechtsphilosophischen Ursprungs leiten lässt, die den (von Roxin gezogenen) engeren Kreis des Strafrechts überschreiten. Die damit aufgeworfene grundsätzliche Frage wissenschaftlichen Argumentierens soll im Folgenden behandelt werden.

I. Exposition des Problems nach Roxin Die anschließende Darstellung von Roxins Gedankengang kennzeichnet ihn zunächst allgemein (1.) und konzentriert sich dann auf die Ausführungen zur Versuchslehre (2.). 1. Roxin stellt seinen Text insgesamt in den größeren Zusammenhang einer Rechtsgutslehre.5 Der erste Satz lässt das freilich nicht ohne weiteres erkennen; er lautet: „Das Strafrecht ist ein Instrument sozialer Steuerung und Kontrolle.“6 Nun ist aber ein Instrument nur ein Werkzeug und es wird benutzt; weiterer Sachgehalt (von wem, warum, wann und insbesondere, ob es zu Recht benutzt wird) lässt sich daraus noch nicht ableiten. Roxin will diesen großen Begründungsbedarf aber durch die folgenden Gedanken füllen. Das Strafrecht sei in seiner Aufgabe gegenüber den anderen im Titel des Vortrags genannten Gebieten selbständig zu bestimmen (S. 490). Diese Aufgabe bestehe darin, den Bürgern eines Staates ein freiheitliches Zusammenleben (es fällt auch der Begriff „Koexistenz“, S. 491) zu sichern, „ihnen gleichzeitig aber die Menschenrechte und so viel Handlungsfreiheit zu garantieren, wie dies mit dem Erfordernis der Friedenssicherung zu vereinbaren ist“ (S. 490 f.). Bei Erfüllung dieser Aufgabe sei das Strafrecht nun zwar beeinflusst von den vier anderen Gebieten, aber doch im Wesentlichen ihnen gegenüber selbständig. So komme „der Politik“7 zwar die Entscheidungsmacht über den Schutz eines Rechtsguts „in Zweifelsfällen“ (S. 493) zu, nicht aber könne die Politik aus sich heraus Rechtsgüter nach eigener Einschätzung schaffen (z. B. ein Rechtsgut des „politischen Anstands“). Die (Sozial-)Moral umreiße zwar generell verwerfliches Verhalten (Tötungen, Körperverletzungen, Betrug und Diebstahl), könne aber keineswegs direkten Einfluss auf die Rechtsgutsbestimmungen nehmen, wie es etwa noch der E 1962 versucht habe.8 Die Religion und zumal – in unserem Kulturkreis – die christlichen Glaubenslehren seien zwar „dankbar anzuerkennende Helfer ___________ 5

Siehe 489, Fn.*. Dazu auch Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., 2006, § 2 Rn. 2 – 122. Siehe 489. 7 Roxin definiert diesen Begriff nicht; aus seiner Verwendung im gesamten Text kann man darauf schließen, dass er darunter die in den Medien vermittelte Parteipolitik unserer Tage versteht und nicht einen gehaltvollen Begriff wie etwa in der Tradition des Aristoteles. 8 Siehe die von Roxin zu Recht kritisierten Beispiele auf S. 497 f. 6

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des strafrechtlichen Rechtgüterschutzes“ (S. 501), doch könne ihnen im säkularen Staat kein unmittelbarer Einfluss auf die Rechtsgüterlehre zukommen; aus der Annahme der Heiligkeit des Lebens lasse sich z. B. eine Strafbarkeit des Suizids nicht begründen (S. 501).Wie sich freilich aus der Aufgabe des Strafrechts Rechtsgüter gültig begründen (und nicht nur behaupten) lassen, bleibt offen. Was nun die Philosophie als den im vorliegenden Text in den Mittelpunkt gestellten Bereich betrifft, so erkennt Roxin selbstverständlich an, dass die von ihm zugrundegelegte freiheitsbewahrende Aufgabe des Strafrechts sich ihrerseits aus philosophischen Quellen speist (S. 497 ff.). Das Strafrecht, wie Roxin es versteht, leite sich aus dem „gesellschaftsvertraglichen Denkmodell“ ab (S. 494), das der Aufklärung zu verdanken sei. Diese Konzeption „bezieht ihre Legitimation aus der Erkenntnis, dass sich auf diese Weise ein friedliches und freiheitliches Zusammenleben der Menschen am besten organisieren lässt (,) und aus der Anerkennung dieser Einsicht durch das Staatsvolk“ (S. 494).9 Näher auf das Strafrecht bezogen, leite sich aus diesem Erbe auch der Schuldgrundsatz ab (S. 495); abzulehnen sei hingegen eine sog. absolute Strafbegründung, da das Strafrecht soziale Zwecke zu verfolgen habe und daher die Strafe nur aus general- oder spezialpräventiven Begründungsgängen abgeleitet werden könne (S. 494 f.).10 2. Hier ist nun überzugehen auf das Problem der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs. Roxin will an diesem sehr speziellen Problem beispielhaft zeigen, wie eine Verbindung von „Philosophie“ und „Strafrecht“ nicht aussehen darf. Hinzuweisen ist zunächst darauf, dass hier der Rahmen einer Rechtsgutslehre als solcher verlassen und der Bereich der Unrechtslehre betreten wird. Roxin meint, es müsse geradezu in die Irre führen, wenn aus „philosophischen“ Erwägungen Konsequenzen für strafrechtsdogmatische Probleme abgeleitet würden; diese seien allein an der Aufgabe des Strafrechts zu orientieren. Um es am untauglichen Versuch zu belegen: Wenn ein Schütze einen Menschen erschießen wolle, der – vom Schützen unbemerkt – kurz vorher an Herzversagen gestorben sei, so könne man das Vorliegen eines Versuchs nicht mit der philosophischen Erwägung ablehnen, es habe zwischen Schütze und Opfer ein Rechtsverhältnis nicht mehr bestanden also liege kein strafbarer Versuch vor (S. 496). Vielmehr sei – an der selbständigen Aufgabe des Strafrechts orientiert ___________ 9 Als hier nur am Rande verzeichneter Widerspruch (vielleicht auch bloß als Klarstellung) sei doch darauf hingewiesen, dass der Gedanke der Selbstregierung eines Volkes nicht als ihm von anderen geschenkt und von ihm alsdann anerkannt gedacht werden sollte, sondern als vom Volk selbst begründet. Wenn also das Recht ein Instrument sein sollte, muss es in einer Republik immer von denjenigen begründet werden, auf die es anzuwenden ist, was nur scheinbar paradox ist. Vgl. auch Art. 20 Abs. 2 GG. 10 Zur darin liegenden Verkürzung einer solchen Strafbegründung E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), 786 ff.; Zaczyk, FS Eser, 2005, S. 207 ff.

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– gegenüber einer solchen „juristisch bedeutungslose(n) theoretische(n) Konstruktion“ wie folgt zu argumentieren: „Das Strafrecht soll Rechtsgüter schützen und kann dies nur tun, indem es rechtsgutsgefährdende Handlungen verbietet. Ob eine Handlung gefährlich ist, lässt sich nur danach bestimmen, ob ein einsichtiger Durchschnittsbeobachter an der Stelle des Täters ein unerlaubtes Risiko für das Rechtsgut des menschlichen Lebens bejahen würde. Das ist hier, weil der Tod des Opfers unerkennbar war, zweifellos der Fall, so dass nach den Regeln der objektiven Zurechnung, die sich also auch im Versuchsbereich bewähren, ein gefährlicher und deshalb strafbarer Versuch anzunehmen ist“ (S. 496). Im Folgenden sollen Roxins Überlegungen in einem zweifachen Schritt kritisch betrachtet werden. Zunächst soll das Problem der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs, konzentriert auf Roxins eigene Lösung, behandelt werden (II.). Anschließend wird zu der allgemeinen Frage Stellung genommen, auf welche Weise in strafrechtlichen Grundlagenfragen Argumente gewonnen werden können (III.).

II. Die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs 1. Roxins Antworten auf die Frage nach der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs haben im Lauf der Jahre eine Modifikation erfahren, in der man sogar eine Aufgabe früherer Standpunkte sehen könnte: War Roxin ursprünglich ein Anhänger der sog. Eindruckstheorie,11 vertrat er später eine dualistische Konzeption,12 bei der das Gefährdungsprinzip den Vorrang genieße. Nunmehr konzediert er,13 dass eine „auf dem Gefährdungsgedanken beruhende monistische Theorie den Vorzug verdient“.14 Roxin schließt sich damit jedenfalls auf den ersten Blick einer in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend vertretenen „Objektivierung“ versuchten Unrechts an.15 In diesem Zeitraum hat eine Auf___________ 11

Siehe Roxin, JuS 1979, 1 ff., 1; s. aus diesem Stadium auch die von Roxin betreute Dissertation von Papageorgiou-Gonatas, Wo liegt die Grenze zwischen Vorbereitungshandlungen und Versuch?, 1988, bes. S. 200 ff. 12 Roxin, FS Nishihara, 1989, S. 197 ff.; ders., Strafrecht AT 2, 2003, § 29 Rn. 10 24. 13 Im hier zum Ausgangspunkt genommenen Text deutlicher noch als in dem kurz zuvor erschienenen Beitrag zur FS Jung, 2007, S. 829 ff., 841 f. 14 Roxin, FS Jung, 2007, S. 841. – Um nicht missverstanden zu werden: In keiner Weise soll der Wandel der Position als solcher kritisiert werden, spricht er doch nur für die Offenheit eines Autors gegenüber wissenschaftlicher Diskussion und Kritik. 15 Siehe (als Auswahl und mit verschiedenen Ansätzen) etwa Bottke, FG BGH, 2000, S. 135 ff.; Hirsch, FS Roxin, 2001, S. 711 ff.; ders., GS Vogler, 2004, S. 31 ff.; Köhler,

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fassung wieder an Boden gewonnen, die – in unterschiedlichen Konzeptionen – während nahezu des gesamten 19. Jahrhunderts in der deutschen Strafrechtswissenschaft herrschend war.16 Ihr zentrales Argument hatte Paul Johann Anselm Feuerbach, Jurist und Philosoph, in seinem Lehrbuch vorgetragen: Gefährlich müsse der Versuch deswegen sein, „weil bürgerliche Strafbarkeit ohne eine dem äußeren Recht widersprechende Handlung unmöglich, eine Handlung aber nur dann (äußerlich) rechtswidrig ist, wenn sie das Recht verletzt oder gefährdet“.17 Feuerbach setzt dann an gleicher Stelle hinzu, dass eine rechtswidrige Absicht allein keiner Handlung das Merkmal der Rechtswidrigkeit verleihen könne, und schließt: „Wer (…) von dem Versuch der Tödtung eines Leichnams und dergleichen spricht, verwechselt das Moralische mit dem Rechtlichen, die Gründe der Sicherungspolizey mit dem Recht zur Strafe (…).“ Für Feuerbach waren diese Sätze offenbar unmittelbar einleuchtend und ergaben sich aus einem rechtsstaatlichen Verständnis von Strafrecht; so sah es auch die ganz herrschende Meinung des 19. Jahrhunderts.18 Als das Reichsgericht aber schon im ersten Band seiner Entscheidungen19 unter dem Einfluss des Reichsgerichtsrats Maximilian von Buri die subjektive Versuchslehre durchsetzte und an ihr trotz aller Kritik aus Wissenschaft und Praxis festhielt, schien der Gedanke Feuerbachs – jedenfalls für die Praxis – verloren. Aber auch in der Strafrechtswissenschaft der Bundesrepublik vertraten später nur noch wenige einen objektiven Standpunkt.20 Der Reformgesetzgeber Ende der sechziger Jahre schloss sich ebenfalls – jedenfalls seiner Behauptung nach21 – der sog. subjektiven Theorie an, doch stand damit im Widerspruch, dass in § 23 Abs. 3 StGB Reste des Gefährdungsgedankens enthalten waren und die Strafbarkeit des sog. untauglichen Subjekts nach der Ansicht des Gesetzgebers ausgeschlossen sein sollte.22 Schon allein daran zeigt sich, dass ___________ Strafrecht AT, 1997, S. 459 ff.; Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 135 ff. Zur Situation im Ausland Jung, ZStW 117 (2005), 937 ff. 16 Vgl. die Darstellung bei Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 41 – 54. 17 Feuerbach, Lehrbuch des Gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 14. Aufl. 1847, § 42 Note c. – Feuerbach betitelt übrigens den ersten Teil seines Lehrbuchs mit „Philosophischer oder allgemeiner Theil des peinlichen Rechts“. Dazu auch Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, 2008, S. 50. 18 Nachweise bei Zaczyk (Fn. 16), S. 41 f. mit Fn. 1. 19 RGSt 1, 439 (Plenarentscheidung). S. dazu (auch mit Belegen aus der literarischen Reaktion auf dieses Urteil) Zaczyk (Fn. 16), S. 76 – 81. 20 Genannt sei hier besonders Spendel, NJW 1965, 1881 ff.; ders., FS Stock, 1966, S. 89 ff. 21 BT-Drs. V/4095, S. 11 (Bericht des Sonderausschusses). 22 Vgl. zu kritischen Stimmen zur Regelung des § 23 Abs. 3 NK-StGB/Zaczyk, 3. Aufl. 2009, § 23 Rn. 15 mit Fn. 24; von einer Regelung des untauglichen Subjekts sah der Gesetzgeber ab, weil er meinte, dass die Rechtsprechung in diesem Fall Straflosigkeit annehmen würde. Subsumiert man den Fall des sog. untauglichen Subjekts gleich-

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bei §§ 22, 23 StGB eine allzu einfache Gesetzesauslegung nicht möglich ist. Die Problematik der Versuchsstrafbarkeit reicht aber bis zu den allgemeinen Fragestellungen von Unrecht und Schuld. Deshalb, aber auch wegen der grundsätzlichen rechtsstaatlichen Bedeutung des Problems kann es nicht einfach zu einem Stillstand der Diskussion kommen. Und so mehrten sich in jüngerer Zeit die Stimmen, die einer durch Interpretation möglichen Einschränkung der Versuchsstrafbarkeit das Wort redeten.23 2. Auch Roxin hat sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit dieser neueren Position zur Objektivierung versuchten Unrechts weit angenähert, wie er selbst in der FS für Heike Jung schreibt.24 In der Begründung für diese Annäherung kann man zwei Argumentationsgänge unterscheiden. a) Der erste Ansatz (stärker in der oben unter I. 2 zitierten Textpassage aus der Küper-FS, schwächer ausgeprägt in der FS für Heike Jung) baut auf Prinzipien der objektiven Zurechnung auf. Wie bei ihr sollte entscheidend sein, ob der Täter ein relevantes Risiko für den Erfolg gesetzt habe. Es lässt sich aber leicht zeigen, dass diese Begründung nicht genügen kann. Die Lehre von der objektiven Zurechnung ist entstanden aus dem Bemühen, die rechtliche Verantwortlichkeit für verletzendes Verhalten präziser zu fassen, als das mit einer allgemeinen Kausalitätslehre möglich war. Darin lag zugleich ein Fortschritt strafrechtlicher Begründung im Blick auf die spezifisch menschliche (praktische) Form des Bewirkens, das sich über naturhaft ablaufende Kausalität prinzipiell erhebt. Deshalb will und kann der Handelnde das Bewirkte als sein Bewirktes begreifen, und daraus leiten sich dann die Kriterien der objektiven Zurechnung ab.25 Roxin weist ganz zu Recht darauf hin, dass diese Qualität der Zurechnungslehre ihren Ursprung in Hegels Rechtsphilosophie26 hat. Ruft man sich aber in Erinnerung, dass die objektive Zurechnung auf den Zusammenhang von Handlung und Erfolg zielt, so sieht man sofort, dass sich mit diesen Kriterien ein Geschehen nicht angemessen beschreiben, geschweige ___________ wohl den Fällen des untauglichen Versuchs und schränkt man sie über § 23 Abs. 3 wieder ein (so z. B. MK-StGB/Herzberg, § 23 Rn. 54) liegt ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG zumindest nahe. S. dazu auch Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 462. 23 Vgl. die Nachweise Fn. 15. 24 Roxin, FS Jung, 2007, S. 842. 25 Die Entwicklung der Lehre von der objektiven Zurechnung zeigt – dies sei am Rande bemerkt – ebenfalls, dass das Verständnis der Aufgabe des Juristen nicht zutreffend sein kann, wonach er Gesetze nur nach dem Wortlaut auslege: Das deutsche StGB verwendet zwar das Wort „verursachen“ (vgl. z. B. §§ 222, 229), nicht aber den Begriff „objektive Zurechnung“. 26 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 115 – 118 (in: Werke, herausgegeben von Moldenhauer/Michel, Bd. 7). Vgl. zu einer weiter ausholenden Begründung im Gang der praktischen Philosophie Köhler, Die bewusste Fahrlässigkeit, 1982, bes. S. 200 ff.

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denn sich sein Unrecht begründen lässt, in dem jener Erfolg gerade fehlt, und, mehr noch, im Fall des untauglichen Versuchs gar nicht eintreten kann. Daran ändert sich nichts, wenn man statt auf den Verletzungs- auf den (vorgestellten) Gefahrerfolg rekurriert. Denn auch dann kann objektive Zurechnung erneut nur auf den Zusammenhang zwischen Handlung und Gefahrbegründung zielen, nicht aber begründen, weshalb in diesem Geschehen selbst schon Unrecht liegen kann. b) Für Roxin kann es also beim Versuch nicht um die objektive Zurechnung gehen, sondern nur um den Begriff der Gefahr selbst. Das bestätigt sich dann auch im zweiten genannten Angang an das Problem. Entscheidend für die Strafbarkeit eines untauglichen Versuchs soll sein, „ob ein einsichtiger Durchschnittsbeobachter an der Stelle des Täters ein unerlaubtes Risiko für das Rechtsgut“27 bejahen würde. Doch ist es als erstes schon fraglich, ob der Begriff der Gefahr wirklich der für das Unrecht des Versuchs maßgebliche Begriff ist; die Ansatzformel des § 22 spricht dagegen.28 Selbst wenn man aber vom Begriff der Gefahr ausgeht, hat man (in einem „objektiven“ Sinn) nur dann ein Prinzip in der Hand, wenn eine Gefahr wirklich besteht, es also nur vom Zufall abhängt, ob der Erfolg eintritt oder nicht. Verlangt man das, kommt man zwingend zu einer Straflosigkeit des untauglichen Versuchs, denn hier herrscht nicht der Zufall, sondern die Notwendigkeit: Der Erfolg kann gar nicht eintreten. Sobald man in den Begriff der Gefahr aber subjektive Elemente integriert (Sicht des Handelnden, Sicht eines Beobachters etc.), kommt der Zufall in ganz anderer Weise wieder ins Spiel, nämlich als Zufall in der Einschätzung der konkreten Situation: Wie, wenn der zu Erschießende schon seit Tagen tot ist, der Täter einen Baum für einen Menschen hält oder der für Gift gehaltene Kamillentee echt giftgrün schillert usw. usf. ins Unendliche? Die bloße Absicht allein, da bleibt es bei Feuerbachs Aussage, kann einer Handlung nicht die Qualität des Unrechts verleihen. Das einzige, worauf das Recht bei einem solchen Stand der Begründung vertrauen könnte, wäre das Judiz des Richters; zwar gewiss nicht die schlechteste Garantie für rationales Recht, aber für sich allein und auch wissenschaftlich nicht ausreichend.29 c) Zur Überleitung in den nächsten Abschnitt sei nur kurz darauf hingewiesen, dass einige Autoren – darunter auch der Verfasser – sich darum bemüht haben, das Unrecht materiell so zu begründen, dass bei ihm von der Verletzung ___________ 27

Roxin, FS Küper, 2007, S. 496. Siehe dazu Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 454 f. 29 So könnte man in Roxins jetzt vertretener Lösung auch eine Rückkehr zur Eindruckstheorie in individualistischer Form sehen, also nicht aus der Perspektive der Rechtsgemeinschaft betrachtet, sondern aus der eines einzelnen Beobachters. 28

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eines Rechtsverhältnisses zum Opfer gesprochen werden kann.30 Rechtsgüter basieren auf einem Anerkennungsverhältnis und werden durch eine praktische Leistung der Personen konstituiert. Das ist nur durch Freiheit möglich und ermöglicht sie zugleich; Rechtsgüter sind so Daseinselemente der Freiheit. Vor diesem Hintergrund kann dann das Versuchsgeschehen begriffen werden als Übergang eines der Konstituenten des Rechtsverhältnisses zur Verletzung des anderen; beim Schuss auf einen Toten kann eine Verletzung also nicht stattfinden, daher auch kein Versuchsgeschehen. Es geht hier nicht um eine Verteidigung dieser Position; sie ist ausführlich dargelegt und kann jederzeit nachgedacht und kritisiert werden. Hier und im folgenden Abschnitt geht es um das allgemeine Problem wissenschaftlicher Begründung. Denn die geschilderte Auffassung speist sich aus Ausführungen der deutschen idealistischen Philosophie zur Rechtsbegründung aus einem interpersonalen Anerkennungsverhältnis (man könnte, um an einer Wortwahl Roxins anzuknüpfen, auch von den Bedingungen der Möglichkeit von „Koexistenz“ sprechen; in der Sache ist das gar nichts anderes). Die Tatsache aber, dass dies mit philosophischen Positionen in einen Zusammenhang gebracht wird, löst bei Roxin Widerstand aus: es handele sich um eine „juristisch bedeutungslose theoretische Konstruktion“31, die „im methodologischen Ansatz inakzeptabel“32 sei. Denn es gehe „in der Jurisprudenz nicht darum (…), philosophische Lehren, sondern Gesetzestexte auszulegen.“33 Dieser Punkt führt zurück zum Ausgangsproblem, dem Verhältnis des Strafrechts und seiner Wissenschaft zu anderen Bereichen des Denkens.

III. Strafrechtswissenschaft und Rechtsphilosophie 1. Für das Folgende sei an Roxins Problemstellung angeknüpft. Es geht also um „Selbständigkeit“ und „Abhängigkeit“ des Strafrechts im Verhältnis zu den von Roxin genannten vier Gebieten. Zu bestimmen ist zum einen der Grund, der ihre Gemeinsamkeit bildet und es dann erlaubt, von Abhängigkeit zu sprechen, und zum anderen der Grund, der ihre Trennung nötig oder zumindest möglich macht. Was das Letztere betrifft, wird die Suche dadurch etwas erschwert, dass Roxins Aufzählung und Trennung der Einzelgebiete sehr künst___________ 30

Vgl. Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 451 ff.; Rath, JuS 1998, 1008, Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (Fn. 16), S. 229 ff.; NK-StGB/Zaczyk, 3. Aufl. 2009, § 22 Rn. 12. 31 Roxin, FS Küper, 2007, S. 496. 32 Roxin, FS Jung, 2007, S. 831. 33 A.a.O. (Fn. 32), S. 832. Zugespitzt noch in Roxin, FS Lampe, 2003, S. 423 ff. (431): Der Strafrechtsdogmatiker sei „der kriminalpolitische Erfüllungsgehilfe des Gesetzgebers (…)“. Wie sich solche Demut in den Augen theorielos operierender „Rechtspolitiker“ ausnimmt, lässt sich leicht denken.

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lich erscheint: Lässt sich wirklich die Moral von der Philosophie, das Recht von der Politik, die Religion von der Philosophie und das Strafrecht von allem diesem unterscheiden? Die Sache klärt sich etwas, wenn man bedenkt, dass Roxin bei dieser Einteilung nur den Blickwinkel des Strafrechts einnimmt und diesem eine bestimme Aufgabe zuweist; der Gedankengang wurde oben I. 1. skizziert. Für die Bewältigung dieser Aufgabe wird dem Strafrecht ein Arsenal eigener Mittel reserviert, die es aus eigener Verantwortung einsetzt, wobei es von den anderen Gebieten nicht abhängig sein darf. Wenn es dagegen aber doch auch Abhängigkeit von diesen anderen Gebieten gibt, muss die Suche nach deren Grund und Grenze beginnen. Denn wenn sich der Grund nicht angeben lässt, ist die Abhängigkeit eine bloße Behauptung, bleibt ferner in sich unbestimmt und damit zugleich grenzenlos. Warum sollte, so ließe sich sagen, die Politik sich darauf beschränken, Zweifelsfragen der Rechtsgutslehre zu entscheiden, da sie doch überhaupt die Gesetze formuliert, die der Jurist – nach Roxins Ansicht – nur noch auszulegen hat? – Roxin lässt den Grund für die Abhängigkeit in den Beispielen erahnen, gibt ihn aber nicht direkt an. Er findet sich, so lässt sich vermuten, versteckt im schon zitierten ersten Satz des Vortrags: Wenn das Strafrecht ein Instrument sozialer Steuerung ist, dann ist es auf die Gemeinschaft von Menschen bezogen und muss mit dem geistigen Sein des Menschen insgesamt in einer Verbindung stehen. Das Strafrecht steht nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern in ihr, und daher muss es Beziehungen zwischen Politik, Moral, Religion und dem Strafrecht geben. Was aber ist mit der Philosophie? Roxin konzediert selbst, dass von ihr die geistigen Grundlagen eines freiheitlichen Staatsverständnisses geschaffen wurden. Aber Staat ist auch Politik und Politik ist auch Moral und ohne Recht ist die Politik nicht freiheitlich, und ob sich Freiheit so ganz ohne Religion (verstanden als das Verhältnis zu einem Absoluten) denken lässt, wie die Gegenwart gerne glaubt, ist so sicher ebenfalls nicht.34 Nun könnte Roxin antworten, hier zeige sich gerade, dass die Gebiete eben auch untereinander in Abhängigkeit stehen. Aber dann fällt auf, dass diese Abhängigkeit nicht wechselseitig bestimmt sein kann, denn man wird – um nur eine Beziehung herauszugreifen – zwar sagen können, dass die Politik von der Philosophie in einer inneren Abhängigkeit steht, kaum aber die Philosophie von der Politik (wenn man von Diktaturen absieht). – Es scheint also notwendig zu sein, diesen Punkt noch etwas genauer zu untersuchen.

___________ 34

Vgl. dazu vom Standpunkt einer Philosophie des Selbstbewusstseins Henrich, Denken und Selbstsein, 2007, bes. S. 265 ff.

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2. In seiner Schrift „Der Streit der Fakultäten“ (1798)35 nahm Kant zur Gliederung der Universität und damit der höchsten Stufe der Vermittlung und Erweiterung gebildeten Wissens Stellung. Kant unterscheidet dort drei „obere“ Fakultäten (die theologische, die juristische und die medizinische) von einer „unteren“ (der philosophischen). Diese Einteilung schreibt er dem Einfluss der Regierung auf die Universitäten zu. Denn zu den oberen Fakultäten zählen nur diejenigen, an deren Lehren die Regierung ein Interesse habe; am meisten interessiere die Regierung, „wodurch sie sich den stärksten und dauerndsten Einfluss aufs Volk verschafft“36 – über die Religion, das Recht und die Medizin. Modern gesprochen könnte man also vom Anliegen sozialer Steuerung bei der Regierung sprechen. – Das freie Denken und das ungebundene Streben nach Wahrheit werden von Kant nur der unteren Fakultät – also der philosophischen – zugestanden. Vernunft, Autonomie des Denkens, freies Urteil stehe hier im ersten Rang; die Nützlichkeit (nach der sich die oberen Fakultäten ausrichten) sei hier nur von zweitem Rang. Das zeigt sich gut an den Juristen. „Der schriftgelehrte Jurist sucht die Gesetze (…) nicht in seiner Vernunft, sondern im öffentlich gegebenen und höchsten Orts sanktionierten Gesetzbuch“37. Indem aber so die oberen Fakultäten immer in der Gefahr stehen, von der Regierung zweckwidrig eingesetzt zu werden (und zumal das 20. Jahrhundert hat diese Aussage Kants mit erschreckend vielen Beispielen untermauert), müsse die philosophische Fakultät stets im Streit mit den „oberen“ Fakultäten liegen, in dem sie deren Aussagen ohne Rücksicht auf Nützlichkeit vor der Vernunft und durch das freie Denken prüft. In einem eigenen Abschnitt dieser Schrift38 behandelt Kant dann den Streit der philosophischen mit der juristischen Fakultät und gelangt im Ergebnis zur Annahme einer Wechselwirkung, wie man sagen könnte: Zwar kann die Philosophie keineswegs die Berechtigung einer existierenden Ordnung aus eigener Kraft beiseite setzen,39 doch hat sie in einer kritischen Beurteilung der Rechtsgrundsätze, nach denen sich das Leben der Menschen gestaltet, ihre immer fortwährende Aufgabe. 3. a) Nun ist damit allerdings noch nicht ausgemacht, ob nicht eben doch in Kants Ausführungen sogar eine Bestätigung der Ansicht liegt, dass der (konti___________ 35 Kant, Werke (in zehn Bänden, 1975 u. ö.) Bd. 9, S. 263 ff. (= Akademie-Ausgabe [AA] VIII, S. 1 ff.). 36 Streit der Fakultäten, S. 281 (= AA VII, S. 19). 37 Streit der Fakultäten, S. 287 (= AA VII, S. 24 f.). 38 Streit der Fakultäten (Fn. 35) S. 351 – 368. 39 Kant selbst baute auf den allmählichen Fortschritt in der Geschichte, s. dazu Streit der Fakultäten (Fn. 35) S. 365 – 368 (= AA VII, S. 91 – 94) und Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Werke Bd. 9, S. 31 ff. (= AA VIII, S. 15 ff.). Dazu zusammenfassend Claudia Langer, Reform nach Prinzipien, 1986.

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nentaleuropäische) Jurist sich zu beschränken habe auf die Auslegung der ihm vorgegebenen Gesetze, so wie es Roxin ja ausdrücklich formuliert.40 Aber das unterbestimmt schon die Alltagspraxis der rechtsberatenden oder rechtsanwendenden Berufe; Aufgabe und Reichweite der Strafrechtswissenschaft verfehlt es.41 Gewiss ist auch die Auslegung von Gesetzen eine Aufgabe dieser Wissenschaft, der sie in reflektierter Methode nachkommt.42 Aber eine Strafrechtswissenschaft, die diese Bezeichnung verdient, kann sich unmöglich darauf allein beschränken (und das sieht Roxin wohl prinzipiell genauso). Den Grund dafür kann man erkennen, wenn man die zitierten Überlegungen Kants weiterdenkt und sie dann mit Roxins Beobachtungen verbindet. b) Roxin sagt ganz zutreffend in dem Vortrag, der hier zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht wurde, dass sich das freiheitliche Verständnis vom Staat der Aufklärungsphilosophie verdankt, und dabei fällt bei Roxin auch der Name Kants.43 Geht man nun direkt auf die Schrift zum „Streit der Fakultäten“ über, so könnte man daraus folgern, dass Roxin ganz auf dieser Linie liegt, wenn er fordert, dass sich jene untere Fakultät der Philosophie aus dem Geschäft der oberen herauszuhalten habe. Dabei würde man aber aus dem Blick verlieren, dass eben jener Gang der Aufklärung nicht etwa allein eine Schulenbewegung innerhalb der Philosophie war, sondern dass er zugleich und vor allem nach Außen wirkte und die sozialen und politischen Verhältnisse selbst erfasste. So wurden dann auch Bedeutung und Begründung der „Regierung“ auf ein neues Fundament gestellt. Was im Absolutismus der heteronom das Recht setzende Herrscher war, wandelte sich nun zur ihrerseits vernünftig-freiheitlich begründeten Institution, die ihre Berechtigung allein aus der Souveränität des Volkes und nicht etwa aus bloßer Machtexistenz bezog. Art. 20 Abs. 2 unseres Grundgesetzes formuliert diesen Gedanken in klassischer Klarheit. Die Rechtsetzung kann sich nun nicht mehr als Satzung einer unbestimmten „Politik“ verstehen, sondern nur ihrerseits als aus Rechtsprinzipien abgeleitet. Der so umfassend freigesetzte Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, hatte aber auch Auswirkungen innerhalb der Wissenschaft selbst. Nur noch das in freiem Denken entwickelte Argument konnte Autorität beanspruchen, nicht aber konnte sie die Person dessen verleihen, der das Argument nur formulierte, und schon gar nicht galten nur die Argumente, die der Regierung ___________ 40

Roxin, FS Jung, 2007, S. 832. Siehe dazu Zaczyk, FS Dahs, 2005, S. 33 ff. 42 Siehe besonders Kahlo, GS Meurer, 2002, S. 583 ff., der die wichtige Verbindung zur juristischen Ausbildung einbezieht; dazu auch Köhler, JR 1991, 48. Siehe schließlich Zaczyk, FS Küper, 2007, S. 723 ff. 43 Roxin, FS Küper, 2007, S. 494 f. 41

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gefielen. Selbst die Philosophie stärkte dabei ihre eigene Kraft, weil sie nicht mehr nur als Nebeneinander sich widersprechender Schulen verstanden werden musste, sondern als in der Einheit des Denkens selbst fundiert. Mit dieser gesamten Bewegung schließlich musste sich dann auch das Verhältnis der unteren zu den oberen Fakultäten wandeln. Zwar nicht etwa in dem Sinn, dass nun aus der Medizin Philosophie würde. Wohl aber so, dass der im Denken freie Geist die Atmosphäre der Universität insgesamt bestimmt, sich also einer „Regierung“ gar nicht ausliefern kann. Die damals von den Universitätsreformern erhobene Forderung nach der Verbindung von Forschung und Lehre an der Universität44 entsprang nicht einer willkürlichen Addition zweier auf Bildung bezogener Topoi. In dieser Verbindung kommt vielmehr das Wissen davon zum Ausdruck, wie der Geist sich ausbildet: In der fortschreitenden Vertiefung des Wissens und in dessen Weitergabe an die nächste Generation. Der Ort dieses Geschehens ist die Universität. Nirgends ist das besser zusammengefasst als in den Worten Friedrich Gundolfs (von Hölderlin entlehnt) am Eingangsportal der Heidelberger Neuen Universität: „Dem lebendigen Geist“. 4. Kehrt man von diesem größeren Zusammenhang wieder zur Strafrechtswissenschaft zurück, so kann man zwar feststellen, dass sie in der Tat als Teil der Rechtswissenschaft wie diese selbst ein eigenständiges Gebiet ist, differenziert und hochentwickelt. Man erkennt aber zugleich, dass diese Selbständigkeit nur Ausdruck eines spezialisierten Wissens ist, nicht aber Abschottung von anderen Gebieten bedeuten kann. Jede solche Beschränkung ist willkürlich. In der Aufspaltung von Selbständigkeit und Abhängigkeit des Strafrechts im Verhältnis zu anderen Gebieten werden für wissenschaftliche Argumentationen Blockaden errichtet, die längst überwunden sein sollten. Es mag in Roxins Absicht gelegen haben (und darin ist ihm gewiss beizupflichten), dem Strafrecht ein eigenes Terrain zu sichern. Aber auf die Weise, in der er es im Beitrag zur Küper-Festschrift versucht hat, ist das nicht erfolgreich zu leisten. Und einmal mehr lässt sich als Beleg dafür der erste Satz seines Beitrags heranziehen. Wenn sich das Strafrecht als ein „Instrument sozialer Steuerung“ begreift, beraubt es sich zugleich einer Begründung seiner Legitimation. Seine Selbständigkeit ist eine erhoffte und erbetene, seine Abhängigkeit (zumal von der „Politik“) aber eine reale und selbst herbeigeführte. So schwächt man die Strafrechtswissenschaft und das Strafrecht zugleich. Ihre Begründung muss tiefer reichen und die Legitimation selbst umfassen. Das mag man dann eine philosophische Begründung nennen. Mit dieser Erweiterung des Fragenkreises einer Wissenschaft aber hat man vertieftes Denken ihr überhaupt erschlossen und kann nicht – nach Art einer Zugbrücke – die Verbindung zu ihm beliebig her___________ 44

Siehe dazu, immer wieder beeindruckend, die Schriften von Fichte, Schleiermacher, v. Humboldt u.a., zusammengestellt in dem Sammelband „Gelegentliche Gedanken über Universitäten“, 1990. Siehe ferner nochmals den Aufsatz von Kahlo (Fn. 42).

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stellen oder beenden. Und so sollten auch in Zukunft „philosophische“ Argumentationen im Strafrecht als das genommen werden, was sie sind: kritische wissenschaftliche Beiträge (als Vorschläge an die Mit-Wissenschaftler) zur Weiterentwicklung eines freiheitlichen und gerechten Strafrechts.

Verzeichnis der Schriften von Manfred Maiwald Selbstständige Schriften 1.

Die natürliche Handlungseinheit, 1964

2.

Der Zueignungsbegriff im System der Eigentumsdelikte, 1970

3.

Wege zur Strafrechtsreform, 1976: Herausgeberschaft und Einleitung

4.

Kausalität und Strafrecht. Studien zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Jurisprudenz, 1980

5.

Übersetzung in die italienische Sprache: Causalitá e diritto penale, 1999, traduzione di Francesca Brunetta d’Usseaux

6.

Unrechtskenntnis und Vorsatz im Steuerstrafrecht, 1984

7.

Übersetzung in die spanische Sprache: Conocimiento del Ilìcito y Dolo en el Derecho Penal Tributario, Traducción de Marcelo A. Sancinetti, Buenos Aires 1997

8.

Kommentar zur Strafprozeßordnung, Hrsg. Rudolf Wassermann (Reihe Alternativkommentar) Bd. 1, 1988: Bearbeitung der §§ 87–90 Bd. 2, Teilbd. 1, 1992: Bearbeitung der §§ 100a–101 Bd. 2, Teilbd. 2, 1993: Bearbeitung des § 261 Bd. 3, 1996: Bearbeitung der §§ 333–358

9.

Strafrecht Besonderer Teil, Teilband 1, 7. Aufl. 1988 (Mitautor mit FriedrichChristian Schroeder des von Reinhart Maurach begründeten Lehrbuchs)

10. Strafrecht Besonderer Teil, Teilband 2, 7. Aufl. 1991 (Mitautor mit FriedrichChristian Schroeder des von Reinhart Maurach begründeten Lehrbuchs) 11. L’evoluzione del diritto penale tedesco in un confronto con il sistema italiano (Die Entwicklung des deutschen Strafrechts im Vergleich mit dem italienischen Strafrechtssystem), 1993 12. Strafrecht Besonderer Teil, Teilband 1, 8. Aufl. 1995 (Mitautor mit FriedrichChristian Schroeder des von Reinhart Maurach begründeten Lehrbuchs) 13. Strafrecht Besonderer Teil, Teilband 2, 8. Auflage 1999 (Mitautor mit FriedrichChristian Schroeder des von Reinhart Maurach begründeten Lehrbuchs) 14. Strafrecht, Besonderer Teil, Teilband 1, 9. Aufl. 2003 (Mitautor mit FriedrichChristian Schroeder des von Reinhart Maurach begründeten Lehrbuchs) 15. Strafrecht, Besonderer Teil, Teilband 2, 9. Aufl. 2005 (Mitautor mit FriedrichChristian Schroeder des von Reinhart Maurach begründeten Lehrbuchs) 16. Gesamtes Strafrecht, Handkommentar, StGB, StPO, Nebengesetze, 2008, Bearbeitung der §§ 333 bis 358 StPO

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Verzeichnis der Schriften von Manfred Maiwald

17. Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009 18. Strafrecht, Besonderer Teil, Teilband 1, 10. Aufl. 2009 (Mitautor mit FriedrichChristian Schroeder des von Reinhart Maurach begründeten Lehrbuchs) Aufsätze und Urteilsanmerkungen 1.

Der „dolus generalis“. Ein Beitrag zur Lehre von der Zurechnung, in: ZStW 78, 1966, S. 30 ff.

2.

Die Beteiligung des Verletzten am Strafverfahren, in: GA 1970, S. 33 ff.

3.

Das Absehen von Strafe nach § 16 StGB, in: ZStW 83, 1971, S. 663 ff.

4.

Der Begriff der Zueignung im Diebstahls- und Unterschlagungstatbestand, in: Juristische Arbeitsblätter 1971, S. 579 ff. und 643 ff.

5.

Zum fragmentarischen Charakter des Strafrechts, in: Festschrift für Reinhart Maurach, 1972, S. 9 ff.

6.

Bestimmtheitsgebot, tatbestandliche Typisierung und die Technik der Regelbeispiele, in: Festschrift für Wilhelm Gallas, 1973, S. 137 ff.

7.

Der Begriff der Leichtfertigkeit als Merkmal erfolgsqualifizierter Delikte, in: GA 1974, S. 257 ff.

8.

Abschied vom strafrechtlichen Handlungsbegriff? Zugleich eine Stellungnahme zur Schrift von Marinucci: Il reato come „azione“. Critica di un dogma, in: ZStW 86, 1974, S. 626 ff.

9.

Anmerkung zum Urteil des OLG Karlsruhe vom 7.3.1974, JZ 1974, S. 773 ff.

10. Zur gerichtlichen Fürsorgepflicht im Strafprozeß und ihren Grenzen, in: Festschrift für Richard Lange, 1976, S. 745 ff. 11. Zum Maßstab der Fahrlässigkeit bei trunkenheitsbedingter Fahruntüchtigkeit, in: Festschrift für Eduard Dreher, 1977, S. 437 ff. 12. Die Amtsdelikte – Probleme der Neuregelung des 28. Abschnitts des StGB, in: JuS 1977, S. 353 ff. 13. Die Feststellung tatmehrheitlicher Deliktsbegehung, in: NJW 1978, S. 300 ff. 14. Zur Ermittlungspflicht des Staatsanwalts in Todesfällen, in: NJW 1978, S. 561 ff. 15. Zufallsfunde bei zulässiger strafprozessualer Telephonüberwachung – BGH NJW 1976, 1462, in: JuS 1978, S. 379 ff. 16. Historische und dogmatische Aspekte der Einheitstäterlösung, in: Festschrift für Paul Bockelmann, 1979, S. 343 ff. 17. Unbefugtes Plakatieren ohne Substanzverletzung keine Sachbeschädigung? in: JZ 1980, S. 256 ff. 18. Nachträgliche Gesamtstrafenbildung und das Verbot der reformatio in peius, in: JR 1980, S. 353 ff. 19. Moderne Entwicklung der Auffassung vom Zweck der Strafe, in: Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung, hg. von Ulrich Immenga, 1980, S. 291 ff. 20. Grundlagenprobleme der Unterlassungsdelikte, in: JuS 1981, S. 473 ff.

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21. Belohnung für eine vorgetäuschte pflichtwidrige Diensthandlung – Zur Problematik von Bestechlichkeit und Betrug, in: NJW 1981, S. 2777 ff. 22. Zur deutschen Gesetzesregelung über den Irrtum, in: Strafrechtsreform in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien, hg. von H.-H. Jescheck, 1981, S. 105 ff. 23. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 1.4.1981, JR 1982, S. 34 ff. 24. Sachbeschädigung durch Überkleben von Plakaten einer politischen Partei. Anmerkung zum Urteil des HansOLG Hamburg v. 25.8.1981, in: JR 1982, S. 297. 25. Die Verteidigung der Rechtsordnung – Analyse eines Begriffs, in: GA 1983, S. 49 ff. 26. Anmerkung zum Urteil des BayObLG vom 28.10.1983, in: NStZ 1984, S. 170 (Zur Problematik des § 355 StGB) 27. Zurechnungsprobleme im Rahmen erfolgsqualifizierter Delikte – BGHSt 31, 96, in: JuS 1984, S. 439 ff. 28. Zur Problematik der „besonders schweren Fälle“ im Strafrecht, in: NStZ 1984, S. 433 ff. 29. Anmerkung zum Urteil des BGH v. 25.8.1983 – 4 StR 331/83, in: JR 1984, S. 479 ff. (zur Problematik der §§ 154 a, 264 StPO) 30. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 15.9.1983 – 4 StR 535/83, in: JR 1984, S. 481 f. (zur Problematik der §§ 154 a, 353 Abs. 2 StPO) 31. Gedanken zum Problem der Kausalität im Recht (in griechischer Sprache), in: NOMIKO BHMA 1984, S. 55 ff. (ins Griechische übersetzt von Leonidas Kotsalis) 32. Kunst als Gegenstand einer Straftat, in: Kunst und Recht, 1985, hg. von der Deutschen Richterakademie, S. 67 ff. 33. Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs „erlaubtes Risiko“ für die Strafrechtssystematik, in: Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck, 1985, S. 405 ff. 34. Der Heidelberger Kriminalist Martin und die Strafrechtswissenschaft seiner Zeit, in: Semper Apertus, Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386–1986, Bd. II, 1986, S. 197 ff. 35. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 18.12.1984 – 1 StR 596/84, in: JR 1985, S. 513 ff. (Probleme der sog. natürlichen Handlungseinheit) 36. Gedanken zu einem sozialen Schuldbegriff, in: Festschrift für Karl Lackner, 1987, S. 149 ff. 37. Die Bedeutung des Erfolgsunwerts im Unrecht – Der Einfluß der Verletztenposition auf eine dogmatische Kategorie, in: Wiedergutmachung und Strafrecht, Hg. Heinz Schöch, 1987, S. 64 ff. 38. Carl Ludwig von Bar (1836–1913) als Lehrer des Strafrechts, in: Loos (Hg.), Rechtswissenschaft in Göttingen, 1987, S. 270 ff. 39. Der Sinn der „Humanisierung“ des Rechts, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 1988, Supplementa Vol. 4, S. 149 ff. 40. Zu Mittermaiers Manuskript „Über die Prinzipien des sogenannten Naturrechts“, in: Küper (Hg.), Carl Joseph Anton Mittermaier, 1988, S. 263 ff.

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41. Ein alltäglicher Strafrechtsfall oder: Einige Schwierigkeiten der Fahrlässigkeitsdogmatik – OLG Celle, VRS 63 (1982), 72, in: JuS 1989, S. 186 ff. 42. Dogmatik und Gesetzgebung im Strafrecht der Gegenwart, in: Behrends und Henckel (Hg.), Gesetzgebung und Dogmatik, 3. Symposion der Kommission „Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart“ am 29. und 30. April 1988, 1989, S. 120 ff. 43. Eine neue Strafprozeßordnung für Italien (zusammen mit Dott. A. Ippoliti), in: JZ 1989, S. 874 ff. 44. Zur Beleidigung der Bundeswehr und ihrer Soldaten, in: JR 1989, S. 485 ff. 45. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 21.6.1990 – 1 StR 477/89, in: JZ 1990, S 1141 ff. (zum Verhältnis zwischen Kunst und Pornographie) 46. Prova e giudizio: La normativa in materia del codice tipo per l’America Latina. Una prospettiva tedesca. (Beweis- und Hauptverfahren: Die Regelungen der Musterstrafprozeßordnung für Latein-Amerika aus deutschem Blickwinkel), in: Un „codice tipo“ di procedura penale per l’America Latina. Congresso internazionale, Roma 11–13 settembre 1991, Materiali V/2, S. 117 ff. 47. Die Einwilligung des Verletzten im deutschen Strafrecht, in: Rechtfertigung und Entschuldigung Bd. III, hg. von Albin Eser und Walter Perron, 1991, S. 165 ff. (Deutsch-italienisch-portugiesisch-spanisches Strafrechtskolloquium 1990) 48. Penal Law Reform in the Federal Republic of Germany after the Second World War, in: Boletim da Faculdade de Direito da Universidade de Coimbra, vol. LXV, 1989, S. 3 ff. 49. Appunti sul ruolo del Pubblico Ministero nell’esperienza processuale tedesca (Bemerkungen zur Rolle der Staatsanwaltschaft im deutschen Strafprozeß), in: Il giusto processo 1992, Nr. 13, S. 8 ff. 50. Rechtsbeugung im SED-Staat, in: NJW 1993, S. 1881 ff. 51. La colpevolezza quale presupposto della pena statale: necessita’ dell’istinto o realta’ metafisica? in: Rivista di Polizia, 1992, S. 3 ff. (Die Schuld als Voraussetzung staatlicher Strafe: Triebbedürfnis oder metaphysische Wirklichkeit? / Im wesentlichen identisch mit Nr. 36) 52. Der Begriff des Vorsatzes im deutschen Strafrecht, in: Journal of Law and Political Science der Universität Kitakyushu (Japan), 1993, S. 164 ff. 53. Die Unzumutbarkeit – Strafbegrenzendes Prinzip bei den Fahrlässigkeitsdelikten? in: Festschrift für Schüler-Springorum, 1993, S. 475 ff. 54. Das Recht der Notwehr im deutschen Strafgesetzbuch (in japanischer Sprache), in: Tohoku Daigaku Hogakkai, The Journal of Law and Political Sciene, Bd. 57, Nr. 5, 1993, S. 648 ff. 55. Responsabilità penale e attività bancaria. Nuove tendenze nella Repubblica Federale tedesca (Strafrechtliche Verantwortlichkeit und Bankentätigkeit. Neue Tendenzen in der Bundesrepublik Deutschland), in: Diritto penale e attività bancaria, Hg. Giuliano Marini, 1994, S. 35 ff. 56. Anmerkung zum Urteil des BGH 4 StR 347/93 vom 26.10.1993, in: NStZ 1994, S. 489 f. (zur Problematik der Bestechungsdelikte)

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57. Neuere Entwicklungen der Schuldlehre in Deutschland (in japanischer Sprache), in: Hogaku, The Journal of Law and Political Science Vol. LV III, Nr. 6, 1995, S. 1166 ff. 58. Zur strafrechtssystematischen Funktion des Begriffs der objektiven Zurechnung, in: Festschrift für Koichi Miyazawa, 1995, S. 465 ff. Übersetzung in die japanische Sprache durch Akihiro Onagi, in: Hogaku Kenkyu, Journal of Law, Politics and Sociology, Faculty of Law, Keio University, Nr. 8, 1997, S. 131 ff. 59. Personenschutz im Strafverfahren – Die italienischen Regelungen zum Schutz von Zeugen und Opfern, in: Kriminalistik 1996, S. 84 ff. (auch abgedruckt in: Das Opfer und die Kriminalitätsbekämpfung, hg. vom Bundeskriminalamt, 1996, S. 311 ff.) 60. Die Vorstellung von Gerechtigkeit in der Straftheorie Feuerbachs, in: Gerechtigkeit und Geschichte. Beiträge eines Symposions zum 65. Geburtstag von Malte Dießelhorst (Hg. Okko Behrends und Ralf Dreier), 1996, S. 143 ff. 61. Il concorso di persone ed il tentativo dal punto di vista della dottrina tedesca, in: Studi Senesi (Hg. Facoltà di Giurisprudenza dell’Università), Bd. CVII (III Serie, XLIV), Fascicolo 3, 1995, S. 487 ff. 62. „Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord.“ – Juristische Betrachtungen zu einem literarischen Prozeßbericht, in: Literatur und Recht (Hg. Ulrich Mölk), 1996, S. 370 ff. 63. Anmerkung zum Urteil des BGH 5 StR 747/94 v. 16.11.1995 (Rechtsbeugung eines Richters der DDR durch Mitwirkung an Todesurteilen), in: JZ 1996, S. 866 ff. 64. De la capacidad de rendimiento del concepto de „riesgo permitido“ para la sistemática del derecho penal, in: Cuadernos de doctrina y jurisprudencia penal, Buenos Aires 1996, S. 145 ff. (Übersetzung des Aufsatzes „Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs ‚erlaubtes Risiko‘ für die Strafrechtssystematik“, in: Festschrift für Jescheck) 65. Handeln und Unterlassen – Handeln für einen anderen, in: Juristische Fakultät der Universität Selcuk (Hg.): Diskussionsbeiträge zum Entwurf des türkischen Strafgesetzbuchs, 1998, S. 143 ff. 66. Criteri-guida per una teoria generale del reato (Leitlinien für eine allgemeine Verbrechenslehre), in: Canestrari (Hg.), Il diritto penale alla svolta di fine millennio, 1998. Atti del Convegno in ricordo di Franco Bricola (Bologna, 18–20 maggio 1995). S. 233 ff. 67. Das Erfordernis des ernsthaften Bemühens beim fehlgeschlagenen oder beendeten Versuch (§ 24 Abs. 1 Satz 2 StGB), in: Festschrift für E.A. Wolff, 1998, S. 337 ff. 68. Auslegungsprobleme im Tatbestand der Geldwäsche, in: Festschrift für Hans Joachim Hirsch, 1999, S. 631 ff. 69. Psychologie und Norm beim Rücktritt vom Versuch, in: Gedächtnisschrift für Heinz Zipf, 1999, S. 255 ff. 70. La definizione mediante concordato di un procedimento tributario in Germania, in: Il fisco 1999, S. 161 ff.

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71. Profili problematici del riciclaggio in Germania e in Italia (Probleme der Geldwäsche in Deutschland und Italien), in: Rivista italiana di diritto e procedura penale 1999, S. 369 ff. 72. El consentimento del lesionado en el Derecho y en la dogmática penal alemanes (Die Einwilligung des Verletzten im deutschen Recht und in der deutschen Strafrechtsdogmatik), in: Cuadernos de doctrina y jurisprudencia penal, 1999, S. 337 ff. 73. Verschlechterungsverbot und Kompensation für die Verletzung des Beschleunigungsgebots, Anm. zum Urt. des BGH vom 10.11.1999, in: NStZ 2000, 389 f. 74. Strafprozessuale Maßnahmen im Ermittlungsverfahren gegen das Organisierte Verbrechen (in japanischer Sprache; Übersetzung: Akihiro Onagi), in: Keisatsugaku Ronshu (The Journal of Police Science) Vol. 53, No. 12, December 2000, S. 99 ff. 75. Zur allgemeinen Verbrechenslehre in der Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Zur Erhaltung guter Ordnung. Festschrift für Wolfgang Sellert zum 65. Geburtstag, 2000, S. 427 ff. 76. Die Lehre von der objektiven Zurechnung im deutschen Strafrecht, in: Journal of Law and Political Science, Kitakyushu University, 2000, S. 25 ff. (in japanischer Sprache) 77. Juristenausbildung in Deutschland, in: Ryukoku Law Review 2001, S. 122 ff. (in japanischer Sprache) 78. Die freie richterliche Überzeugungsbildung (Massimo Nobili), Übersetzung von Thomas Vormbaum, Vorwort von Manfred Maiwald, 2001 79. Probleme der Strafbarkeit des Doping im Sport – am Beispiel des italienischen Antidoping-Gesetzes, in: Festschrift für Karl Heinz Gössel, 2002, S. 399 ff. 80. Cenni introduttivi al sistema penale tedesco. Contributo comparatistico, in: Commentario al codice penale (Hg. Giuliano Marini, Mario La Monica, Leonardo Mazza), Tomo primo, 2002, S. XXXVII ff. 81. La disciplina della corruzione nella Repubblica Federale Tedesca, in: La corruzione: Profili storici, attuali, europei e sovranazionali (Hg. Gabriele Fornasari und Nicolo Demetrio Luisi), 2003, S. 273 ff. 82. Unterschlagung durch Manifestation des Zueignungswillens? Zur Neufassung des § 246 StGB. In: Strafrecht, Biorecht, Rechtsphilosophie. – Heidelberg (= Schreiber-FS): Müller (2003), S. 315 ff. 83. Un paradigma quantitativo. Il „Nebenstrafrecht“ quale casa comune del penalecriminale e del penale-amministrativo in Germania, in: Modelli ed esperienze di riforma del diritto penale complementare (Hg. Massimo Donini), 2003, S. 249 ff. 84. Strafrecht Besonderer Teil 1 (mit F.C. Schroeder). Straftaten gegen Persönlichkeits- und Vermögenswerte, Heidelberg; Müller 9. Aufl. 2003 85. Recht und Macht, JZ 2003, 1073 ff. 86. Diritto e Potere, in: Rivista italiana di diritto e procedura penale, 2004, S. 3 ff. (Übersetzung von: Recht und Macht) 87. Fallösungen, in: Jean Pradel, Alberto Cadoppi (Hg.), Casi di Diritto Penale Comparato, 2005

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88. Zur „Verrechtlichung“ des Täter-Opfer-Ausgleichs in § 46a StGB, GA 2005, 339 ff. 89. La riforma continua: Germania, in: Il diritto penale nella prospettiva europea – quali politiche criminali per quale Europa? Hg. Stefano Canestrari und Luigi Foffani, 2005, S. 145 ff. 90. Protezione dei beni giuridici ad opera del diritto penale in senso stretto e del diritto penale parallelo nella penalistica tedesca, in: Michele Papa (Hg.), La riforma della parte speciale del diritto penale, 2005 91. La scienza penalistica in Germania e in Italia nella prima metà del XIX secolo. Alcuni appunti comparatistici, in: Diritto penale XXI secolo, 2005, S. 387 ff. 92. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zwischen Angriff und Verteidigung im Recht der Notwehr. In: Teoria della pena, teoria del reato. – Milano (Marinucci-FS): Giuffrè (2006), S. 1579 ff. 93. Täterschaft, Anstiftung und Beihilfe: Zur Entstehung der Teilnahmeformen in Deutschland. In: Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag. – Heidelberg; C.F. Müller (2006), S. 283 ff. 94. Idealismus und Empirismus: Ein Vergleich der Strafrechtswissenschaft in Deutschland und Italien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart. – Heidelberg; Müller (2007), S. 3 ff. 95. Risikoerhöhung oder an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit?: Rechtsvergleichende Bemerkungen zur „Kausalität“ des Unterlassens. In: Festschrift für Wilfried Küper zum 70. Geburtstag. – Heidelberg; Müller (2007), S. 329 ff. 96. Impugnazione di una sentenza nel processo penale tedesco, in: Le impugnazioni penali: Evoluzione o involuzione?, 2008, Atti di convegno, Palermo, 1–2 dicembre 2006, S. 101 ff. 97. Introduzione al diritto penale italiano dal punto di vista di un penalista tedesco, in: Principi costituzionali in materia penale e fonti sovranazionali, Hg. Désirée Fondaroli, 2009, S. 35 ff. 98. Il diritto penale dell’ambiente nella Repubblica federale tedesca, in: Temi di diritto penale dell’economia e dell’ambiente, Hg. Mauro Catenacci und Guglielmo Marconi, 2009, S. 321 ff. 99. Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, Frankfurt a.M.: Peter Lang (2009) 100. Diverse Falllösungen, in: Fälle und Lösungen zur Strafrechtsvergleichung: Aus dem Italienischen übersetzt von Manfred Maiwald und Parastu Bahramsari / Hrsg. Jean Pradel / Alberto Cadoppi, Frankfurt a.M. (2009) Rezensionen 1.

Rezension von Otto, Harro: Die Struktur des strafrechtlichen Vermögensschutzes, 1970, in: MSchrKrim 1972, S. 191 ff.

2.

Rezension von Maurach, Reinhart: Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 1971, in: MSchrKrim 1972, S. 195 f.

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3.

Rezension von: Grundfragen der gesamten Strafrechtswissenschaft – Festschrift für Heinrich Henkel zum 70. Geburtstag, 1974, in: MSchrKrim 1975, S. 195 f.

4.

Rezension von: Nobili, Massimo: Il principio del libero convincimento del giudice, 1974, in: MSchrKrim 1975, S. 315 ff.

5.

Literaturbericht Strafrecht – Allgemeiner Teil (Teilnahmelehre), in: ZStW 88, 1976, S. 712 ff.

6.

Rezension von Stella, Federico: Leggi scientifiche e spiegatione causale nel diritto penale. Il nesso di condizionamento fra azione ed evento, 1975, in: GA 1977, S. 88 f.

7.

Rezension von Taormina, Carlo: L’essenzialita del procedimento penale, 1974, in: GA 1978, S. 31 f.

8.

Rezension von Grevi, Vittorio: Libertà personale dell’imputato e Costituzione, 1976, in: GA 1978, S. 350 f.

9.

Rezension von Maurach/Schroeder, Strafrecht, Besonderer Teil. Teilband 1 – Straftaten gegen Persönlichkeits- und Vermögenswerte. 6. Aufl. 1977, in: GA 1979, S. 153 f.

10. Literaturbericht Strafrecht – Besonderer Teil (Vermögensdelikte), in: ZStW 91, 1979, S. 923 ff. 11. Literaturbericht Strafrecht – Allgemeiner Teil (Teilnahmelehre), in: ZStW 93, 1981, S. 864 ff. 12. Rezension von Stratenwerth, Günter: Strafrecht (Allgemeiner Teil I. Die Straftat), 3. Aufl. 1981, in: JR 1982, S. 262 f. 13. Rezension von Pawlowski, Hans-Martin: Methodenlehre für Juristen. Theorie und Norm des Gesetzes, 1980, in: GA 1982, S. 515 f. 14. Rezension von Hünerfeld, Peter: Strafrechtsdogmatik in Deutschland und Portugal, 1981, in: ZStW 95, 1983, S. 517 ff. 15. Rezension von Angioni, Francesco: Contenuto e funzioni del concetto di bene giuridico. Bd. 1. Introduzione a uno studio sull’oggetto e la misura della tutela penale, 1980, in: ZStW 95, 1983, S. 523 ff. 16. Literaturbericht Strafrecht – Besonderer Teil (Vermögensdelikte), in: ZStW 96, 1984, S. 66 ff. 17. Rezension von Kaufmann, Arthur: a) Strafrecht zwischen Gestern und Morgen, 1983 b) Schuld und Strafe, 1983, in: NJW 1984, 1947 f. 18. Rezension von Montenbruck, Axel: Strafrahmen und Strafzumessung, 1983, in: GA 1985, S. 97 f. 19. Rezension von: Festschrift für Dietrich Oehler zum 70. Geburtstag. Hrsg. von R.D. Herzberg, 1985, in: GA 1987, S. 85 ff. 20. Rezension von Bringewat, Peter: Die Bildung der Gesamtstrafe, 1987, in: GA 1989, S. 139 ff. 21. Rezension von Mazzacuva, Nicola: Il disvalore di evento nell’illecito penale, 1983, in: ZStW 101, 1989, S. 229 ff.

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22. Rezension von Angioni, Francesco: Contenuto e funzioni del concetto di bene giuridico Bd. 2, 1983, in: ZStW 101, 1989, S. 232 ff. 23. Literaturbericht Strafrecht – Besonderer Teil (Vermögensdelikte), in: ZStW 102, 1990, S. 318 ff. 24. Literaturbericht Strafrecht – Besonderer Teil (Vermögensdelikte Teil II), in: ZStW 103, 1991, S. 681 ff. 25. Literaturbericht Italien, in: ZStW 104 (1992), S. 234 ff. 26. Literaturbericht Italien, in: ZStW 106 (1994), S. 906 ff. 27. Literaturbericht Italien, in: ZStW 110 (1998), S. 252 ff. 28. Literaturbericht Italien, in: ZStW 113 (2001), S. 427 ff. 29. Literaturbericht Italien, in: ZStW 116 (2004), S. 209 ff. 30. Rezension von Donini, Massimo: Strafrechtstheorie und Strafrechtsreform. Beiträge zum Strafrecht und zur Strafrechtspolitik in Italien und Europa, in: GA 2008, S. 339 ff. 31. Rezension von Belfiore, Elio R.: Giudice delle leggi e diritto penale. Il diverso contributo delle Corti constituzionali italiana e tedesca, 2005, in: ZStW 121 (2009), S. 501 ff. Sonstiges 1.

Richard Honig 90 Jahre, in: JZ 1980, S. 71.

2.

Wilhelm Gallas 80 Jahre, in: JZ 1983, S. 562.

3.

Nachruf auf Wilhelm Gallas, in: JZ 1990, S. 83 f.

4.

Vorwort zu: Elio Belfiore, Contributo alla teoria dell’errore in diritto penale, 1997

5.

Laudatio zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an Thomas Hillenkamp, in: Recht im Umbruch. Beiträge zur Ehrenpromotion von Thomas Hillenkamp und Othmar Jauering. Dresdner Juristische Beiträge Band 2, 1997, S. 21 ff. (Hg. Juristische Fakultät, Dresden)

6.

Vorwort zu: Désirée Fondaroli: Illecito penale e riparazione del danno, 1999

7.

Vorwort zu: Massimo Nobili: Die freie richterliche Überzeugungsbildung, Übersetzung von Thomas Vormbaum, 2001

8.

Nachruf auf Friedrich Schaffstein, in: NJW 2002, S. 1250 f.

9.

Fälle und Lösungen zur Strafrechtsvergleichung, 2009: Mitautor sowie Übersetzung aus dem Italienischen zusammen mit Parastu Bahramsari des Buches Casi di diritto penale comparato, Hg. Alberto Cadoppi und Jean Pradel, 2005

Autorenverzeichnis Belfiore, Elio R., Univ.-Prof. Dr., Università Degli Studi Di Foggia, Facoltà di Guirisprudenza, Via A. Gramsci 89/91, I-71100 Foggia Beulke, Werner, Univ.-Prof. Dr., Universität Passau, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie, Innstraße 40, D-94032 Passau Bloy, René, Univ.-Prof. Dr., Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Strafrechtsgeschichte, Wilhelmstraße 26, D-79085 Freiburg Böse, Martin, Uni.-Prof. Dr, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Strafrecht, Adenauerallee 24–42, D-53111 Bonn Burghard, Boris, Dr., Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Kriminalwissenschaften, Lehrstuhl für Deutsches und internationales Strafrecht, Strafprozessrecht und juristische Zeitgeschichte, Bebelplatz 1, D-10117 Berlin Burkhardt, Björn, Univ.-Prof. Dr., Universität Mannheim, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, ausländisches und internationales Strafrecht, Schloss – Westflügel, D-68131 Mannheim Dessecker, Axel, Prof. Dr., Kriminologische Zentralstelle e.V., Viktoriastraße 35, D-65189 Wiesbaden Dölling, Dieter, Univ.-Prof. Dr., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Institut für Kriminologie, Friedrich-Ebert-Anlage 6–10, D-69117 Heidelberg Duttge, Gunnar, Univ.-Prof. Dr., Georg-August-Universität Göttingen, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Goßlerstraße 19, D-37073 Göttingen Foffani, Luigi, Univ.-Prof. Dr., Università Di Modena E Reggio Emilia, Facoltà di Guirisprudenza, Via S. Geminiano 3, I-41121 Modena Fondaroli, Desiree, Univ.-Prof. Dr., Università di Bologna, Facoltà di Giurisprudenza, Via Zamboni 22, I-40126 Bologna Fornasari, Gabriele, Univ.-Prof. Dr., Università di Trento, Facoltà di Giurisprudenza, Via Rosmini 27, I-38100 Trento Freund, Georg, Univ.-Prof. Dr., Philipps-Universität Marburg, Institut für Kriminalwissenschaften, Universitätsstraße 6, D-35032 Marburg Frisch, Wolfgang, Univ.-Prof. Dr., Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie, Wilhelmstraße 26, D-79085 Freiburg

Autorenverzeichnis

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Gropp, Walter, Univ.-Prof. Dr., Justus-Liebig-Universität Gießen, Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht und Strafrechtsvergleichung, Licher Straße 76, D-35394 Gießen Haas, Volker, Priv.-Doz. Dr., Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Juristische Fakultät, Lehrstuhl Prof. Günther, Geschwister-Scholl-Platz, D-72074 Tübingen Hettinger, Michael, Univ.-Prof. Dr., Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Haus Recht und Wirtschaft, Jakob-WelderWeg 9, D-55128 Mainz Hillenkamp, Thomas, Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Institut für deutsches, europäisches und internationales Strafrecht und Strafprozessrecht, Friedrich-Ebert-Anlage 6–10, D-69117 Heidelberg Jäger, Christian, Univ.-Prof. Dr., Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, insbesondere Wirtschaftsstrafrecht und Medizinrecht, Universitätsstraße 30, Geb. B 9, D-95447 Bayreuth Jakobs, Günther, Univ.-Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult., Rheinische Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Rechtsphilosophisches Seminar, Adenauerallee 24–42, D-53113 Bonn Jehle, Jörg-Martin, Univ.-Prof. Dr., Georg-August-Universität Göttingen, Institut für Kriminalwissenschaften, Abteilung Kriminologie, Platz der Göttinger Sieben 6, D-37073 Göttingen Kindhäuser, Urs, Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Adenauerallee 24–42, D-53113 Bonn Koriath, Heinz, Univ.-Prof. Dr., Universität des Saarlandes, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Campus Geb. C3.1, D-66123 Saarbrücken Kühl, Kristian, Univ.-Prof. Dr. Dr., Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie, Geschwister-Scholl-Platz (Neue Aula), D-72074 Tübingen Küper, Wilfried, Univ.-Prof. em. Dr., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Juristisches Seminar, Friedrich-Ebert-Anlage 6–10, D-69117 Heidelberg Loos, Fritz, Univ.-Prof. em. Dr., Georg-August-Universität Göttingen, Institut für Kriminalwissenschaften, Platz der Göttinger Sieben 6, D-37073 Göttingen Marinucci, Giorgio, Univ.-Prof. Dr., Università Degli Studi Di Milano, Dipartimento Di Scienze Giuridiche Ecclesiasticistiche, Filosofico-Sociologiche E Penalistiche „Cesare Beccaria“, Via Festa del Perdono, 7, I-20122 Milano Meier, Bernd-Dieter, Univ.-Prof. Dr., Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie, Königsworther Platz 1, D-30167 Hannover

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Autorenverzeichnis

Militello, Vincenzo, Univ.-Prof. Dr., Università Degli Studi Di Palermo, Dipartimento di Scienze, Penalistiche, Processualpenalistiche e Criminologiche, Via Maqueda, 172, I-90133 Palermo Mitsch, Wolfgang, Univ.-Prof. Dr., Universität Potsdam, Lehrstuhl für Strafrecht mit Jugendstrafrecht und Kriminologie, August-Bebel-Str. 89, D-14482 Potsdam Momsen, Carsten, Univ.-Prof. Dr., Universität des Saarlandes, Lehrstuhl für Strafrecht einschließlich Wirtschaftsstrafrecht und Strafprozessrecht, Campus Geb. C3.1, D-66123 Saarbrücken Murmann, Uwe, Univ.-Prof. Dr., Georg-August-Universität Göttingen, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Platz der Göttinger Sieben 6, D-37073 Göttingen Onagi, Akihiro, Univ.-Prof. Dr., Department of Criminal Law, Hokkaido University School of Law, Kita 8 Nishi 5, Sapporo 060–0808, Japan Rackow, Peter, Priv.-Doz. Dr., Georg-August-Universität Göttingen, Institut für Kriminalwissenschaften, Lehrstuhl Prof. Dr. Kai Ambos, Platz der Göttinger Sieben 6, D-37073 Göttingen Radtke, Henning, Univ.-Prof. Dr., Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und internationales Strafrecht, Königsworther Platz 1, D-30167 Hannover Rieß, Peter, Prof. em. Dr., Anhalter Straße 7, 53175 Bonn Rosenau, Henning, Univ.-Prof. Dr., Universität Augsburg, Lehrstuhl für Deutsches, Europäisches und Internationales Straf- und Strafprozessrecht, Medizin- und Biorecht, Universitätsstraße 24, D-86135 Augsburg Rössner, Dieter, Univ.-Prof. Dr., Philipps-Universität Marburg, Institut für Kriminalwissenschaften, Universitätsstraße 6, D-35032 Marburg Roxin, Claus, Univ.-Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult., Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für die gesamten Strafrechtswissenschaften, Prof.-Huber-Platz 2, D-80539 München Rüping, Hinrich, Univ.-Prof. i.R. Dr., Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover, Kriminalwissenschaftliches Institut, Königsworther Platz 1, D-30167 Hannover Schall, Hero, Univ.-Prof. em. Dr., Universität Osnabrück, Institut für Wirtschaftsstrafrecht, Heger-Tor-Wall 14, D-49069 Osnabrück Schöch, Heinz, Univ.-Prof. em. Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Strafrecht, Kriminologie, Jugendrecht und Strafvollzug, Prof.-HuberPlatz 2, D-80539 München Schreiber, Hans-Ludwig, Univ.-Prof. em. Dr. Dr. h.c., Georg-August-Universität Göttingen, Institut für Kriminalwissenschaften, Platz der Göttinger Sieben 6, D-37073 Göttingen

Autorenverzeichnis

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Schroeder, Friedrich-Christian, Univ.-Prof. em. Dr. Dr. h.c., Universität Regensburg, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Europäisches Strafrecht, Universitätsstraße 31, D-93053 Regensburg Tateishi, Niroku, Univ.-Prof. Dr., Faculty of Law, Chuo University, 742-1 Higashinakano, Hachioji-shi, Tokyo 192–0393, Japan Vormbaum, Thomas, Univ.-Prof. Dr. Dr., FernUniversität in Hagen, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Juristische Zeitgeschichte, Universitätsstraße 21, D-58097 Hagen Weigend, Thomas, Univ.-Prof. Dr., Universität zu Köln, Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Albertus-Magnus-Platz, D-50923 Köln Werle, Gerhard, Univ.-Prof. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Kriminalwissenschaften, Lehrstuhl für Deutsches und internationales Strafrecht, Strafprozessrecht und juristische Zeitgeschichte, Bebelplatz 1, D-10117 Berlin Yamanaka, Keiichi, Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c., Kansai University, School of Law, Department of Criminal Law, 3–3–35 Yamate-cho, Suita-city, Osaka 564–8680, Japan Zaczyk, Rainer, Univ.-Prof. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Rechtsphilosophisches Seminar, Adenauerallee 24–42, D-53113 Bonn