Gerecht und fair?: Die Empfehlungspraxis des österreichischen Kunstrückgabebeirats im Lichte der Washingtoner Prinzipien 9783110789942, 9783110789935

The Washington Principles of 1998 call for “just and fair solutions” in handling Nazi-looted art. At that same time, Aus

131 39 3MB

German Pages 368 Year 2023

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsübersicht/ Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
§ 1 Einleitung oder: Was kann das Recht leisten?
§ 2 Zur Sprache der Untersuchung
§ 3 Zur Methode und zum Gang der Untersuchung
§ 4 Überblick über Historie und Rechtsgrundlagen
§ 5 Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes
§ 6 Die allgemeinen Rückgabevoraussetzungen des Kunstrückgabegesetzes
§ 7 Die Entziehung als spezielle Rückgabevoraussetzung
§ 8 Der rechtmäßige Eigentumsübergang als spezielle Rückgabevoraussetzung
§ 9 Ausschlussgründe der Rückgabe
§ 10 Die Übereignung an die Begünstigten als Abhilfemaßnahme
§ 11 Schluss: Die gesetzliche Ausgestaltung als »gerechte und faire Lösung«?
Literaturverzeichnis
Anhang
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Gerecht und fair?: Die Empfehlungspraxis des österreichischen Kunstrückgabebeirats im Lichte der Washingtoner Prinzipien
 9783110789942, 9783110789935

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Gerecht und fair?

Schriftenreihe der Forschungsstelle Provenienzforschung, Kunst- und Kulturgutschutzrecht

Band 2

Herausgegeben von Matthias Weller und Christoph Zuschlag

Gerecht und fair?

Die Empfehlungspraxis des österreichischen Kunstrückgabebeirats im Lichte der Washingtoner Prinzipien Anne Dewey

Ermöglicht von

ISBN 978-3-11-078993-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078994-2 ISSN 2749-4004 Library of Congress Control Number: 2023944742 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Maria Eichhorn, Relocating a Structure, La Biennale di Venezia, 59th International Art Exhibition, German Pavilion 2022 Detail: Maria Eichhorns umfangreiche Forschung hat architektonisch offengelegt, dass der heutige Pavillon aus zwei verschiedenen Gebäuden besteht: dem Bayerischen Pavillon von 1909 und dem Deutschen Pavillon von 1938. Links im Vordergrund ist die Rückwand des Gebäudes von 1909 erkennbar, die 1938 als Innenwand verputzt wurde. Im Raum dahinter (links) wurden 1912 zwei Türen aus dem Jahr 1909 zugemauert. Die linke dieser zwei Türen wurde 1928 wieder geöffnet, nur um 1938 abermals zugemauert zu werden. Copyright: Maria Eichhorn, VG Bild-Kunst, Bonn 2023 Fotografie: Jens Ziehe Covergestaltung, Layout und Satz: hawemannundmosch, Berlin Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Was geschah, geschah. Aber daß es geschah, ist so einfach nicht hinzunehmen. Ich rebelliere: gegen meine Vergangenheit, gegen die Geschichte, gegen eine Gegenwart, die das Unbegreifliche geschichtlich einfrieren lässt und es damit auf empörende Weise verfälscht. Jean Améry, 1976

Vorwort

Mit der Abbildung eines Details des von Maria Eichhorn gestalteten Deutschen Pavillons für die Venedig Biennale 2022 soll der Einband dieses Buches bereits optisch den Weg für eine tiefgehende Untersuchung der Kunstrückgabe ebnen. Die Gestaltung des Pavillons durch Eichhorn zeigt nicht nur, mit Jean Améry gesprochen, »was geschah«, sondern laut ihrem Kurator Yilmaz Dziewior auch, »was da ist« infolge dieses Geschehens: Eichhorn legt mit ihrer Arbeit Relocating a Structure architektonisch offen, dass der heutige Pavillon aus zwei Gebäuden besteht. Zum einen aus dem Bayerischen Pavillon von 1909, zum anderen aus dem vom national­ sozialistischen Regime erweiterten Deutschen Pavillon von 1938, der über mehr Tiefe, Höhe und Massivität verfügt. Die hiesige Abbildung zeigt als freigelegte Elemente die ehemalige Rückwand des Pavillons von 1909 sowie zwei frühere Türen, die spätestens seit 1938 zugemauert sind. Mit ihrem von dem architektonischen Konzept der Relozierung inspirierten Ansatz zerlegt, entfernt und versetzt Eichhorn diese über die Jahrzehnte gewandelten baulichen Elemente und Substanzen des Pavillons. Sie dekonstruiert seine Struktur und rekonstruiert zugleich seine Vergangenheit. Dem Architekturtheoretiker Anh-Linh Ngo zufolge gibt Eichhorns Arbeit damit den Blick frei auf die historischen »Nahtstellen, Abbrüche, Aufstockungen und Erweiterungen, Verschiebungen und Neuausrichtungen« des Pavillons. Ganz im Sinne von Jean Améry leistet Eichhorn daher mit ihrer Gestaltung des Deutschen Pavillons einen Beitrag »gegen eine Gegenwart, die das Unbegreifliche geschichtlich einfrieren läßt«. Sie widersetzt sich – der Monumentalität des Pavillons zum Trotz – einer Versteinerung seiner Geschichte. Die methodische Vorgehensweise der vorliegenden Monografie kann durchaus als rechtswissenschaftliches Pendant zu Maria Eichhorns relozierendem Ansatz künstlerischer Arbeit betrachtet werden: Ausgangspunkt der Forschung war die umfassende Empfehlungspraxis des österreichischen Kunstrückgabebeirats auf Grundlage des Kunstrückgabegesetzes. Diese Praxis wurde zunächst in einzelne Elemente in Form von unterschiedlichen Fallgruppen zerlegt, um dann im Lichte der Washingtoner Prinzipien bewertet zu werden. Zu diesem Zwecke wurden manche Elemente für eine vertiefte Untersuchung herausgegriffen, andere wiederum von dieser ausgenommen. Auf Grundlage der Washingtoner Prinzipien wurden die einzelnen Elemente der Empfehlungspraxis schließlich so geordnet und versetzt, dass die bereits fragile Struktur des Kunstrückgabegesetzes dekonstruiert wurde. Durch diese Dekonstruktion möchte die Monografie nicht nur die Empfehlungspraxis des österreichischen Kunstrückgabebeirats erstmals im Lichte der W ­ ashingtoner Prinzipien systematisieren, sondern zugleich klare Leitlinien für eine »gerechte und faire Lösung« im Sinne dieser Prinzipien schaffen und damit Werkzeuge für die Fortentwicklung auch der deutschen Restitutionsdebatte an die Hand geben.

7  

Ebenso wie eine künstlerische Arbeit allein vermag es eine einzelne rechtswissenschaftliche Monografie kaum, gesellschaftlichen und politischen Bestrebungen entgegenzuwirken, die eine Versteinerung der nationalsozialistischen Geschichte begehren und ihre Kontinuitäten in die Gegenwart negieren. Wenn jedoch gleich mehrere juristische Forschungsarbeiten diese Kontinuitäten in den Blick nehmen und Lösungsstrategien entwickeln, wird zumindest das wissenschaftliche Fundament für eine intensive rechtspolitische Auseinandersetzung geschaffen. Ich freue mich daher sehr, dass dieses Buch in der Schriftenreihe der Forschungsstelle Provenienzforschung, Kunst- und Kulturgutschutzrecht den Auftakt für mehrere Bände gibt, die sich mit der internationalen Restitutionspraxis auseinandersetzen und als Grundlagenarbeiten für das Projekt Restatement of Restitution Rules for Nazi-Confiscated Art von Prof. Dr. Matthias Weller entstanden sind. Die Monografie wurde im Sommersemester 2023 von der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertationsschrift angenommen und befindet sich auf dem Stand von Mai 2023; spätere Empfehlungen und Entwicklungen konnten daher nicht mehr berücksichtigt werden. Meinem Erstgutachter Prof. Dr. Matthias Weller danke ich besonders für die gezielte und bestmögliche Förderung meiner wissenschaftlichen Tätigkeit, auch bei meinen Ausflügen abseits des Pfades dieser Arbeit. Dank gilt ferner meiner Zweitgutachterin Prof. Dr. Gerte Reichelt für die Gastfreundschaft in Wien und die wertvollen Anmerkungen. Daneben bedanke ich mich bei der Friedrich-EbertStiftung, der Stiftung Zeitlehren und dem österreichischen Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport, mit deren großzügiger Unterstützung diese Monografie verfasst und gedruckt werden konnte. Durch die zuvorkommende Nutzungserlaubnis Maria Eichhorns für diese maßgeschneidert wirkende Abbildung halte ich dieses Buch mit noch mehr Begeisterung in den Händen, auch dafür herzlichen Dank. Eine Dissertation lässt sich leichter mit fachlichem, gelegentlich aber auch bloß der fachfremden Zerstreuung dienendem Austausch schreiben: Ein besonderer Dank steht daher meinen wundervollen Kolleg:innen (insbesondere Annika Dorn, Charis Hahne, Hannah Lehmann, Tessa Scheller, Antonetta Stephany, Johannes von Lintig und Leva Wenzel) an der Universität Bonn zu, für ein jahrelanges Arbeitsumfeld, in dem es sich gemeinsam feiern und klagen lässt. Zuletzt danke ich meiner Familie – für die Kunst in meinem Leben – und Marvin – für das Lekto­ rat und noch so vieles mehr.

8  Vorwort

Inhaltsübersicht

§ 1 Einleitung oder: Was kann das Recht leisten? § 2 Zur Sprache der Untersuchung

§ 3 Zur Methode und zum Gang der Untersuchung A. Methode der Untersuchung B. Gang der Untersuchung § 4

Überblick über Historie und Rechtsgrundlagen A. Historischer Überblick zur Entziehung von Kulturgütern B. Überblick über das Regelungsregime der Washingtoner Prinzipien C. Überblick über das Regelungsregime des Kunstrückgabegesetzes

§ 6

Die allgemeinen Rückgabevoraussetzungen des Kunstrückgabegesetzes A. Vorbemerkung: Zur Systematik der Tatbestände des Kunstrückgabegesetzes B. Das bewegliche Kulturgut als Rückgabeobjekt C. Das unmittelbare Bundeseigentum am Kulturgut

§ 5 Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes A. Die besonderen Gremien des Kunstrückgabegesetzes B. Der Verfahrensablauf nach dem Kunstrückgabegesetz

§ 7

Die Entziehung als spezielle Rückgabevoraussetzung A. Vorbemerkung: Zur Bestimmung des Entziehungsbegriffs B. Der zeitliche und örtliche Rahmen der Entziehung C. Das Eigentum am Kulturgut als Vorbedingung der Entziehung D. Die Verfolgung der Eigentümer:innen als Weichenstellung der Entziehung E. Der Verlust als ungeschriebenes Merkmal der Entziehung F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

§ 8 Der rechtmäßige Eigentumsübergang als spezielle Rückgabevoraussetzung A. Die Formen des rechtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum B. Die Bedeutung der Gutgläubigkeit § 9

Ausschlussgründe der Rückgabe A. Ausschluss durch wiedererlangte Verfügungsmacht in der Nachkriegszeit B. Ausschluss durch materiell rechtskräftige Entscheidung aus der Nachkriegszeit C. Ausschluss durch Vergleiche aus der Nachkriegszeit D. Ausschluss durch Zustimmung in der Nachkriegszeit

§ 10 Die Übereignung an die Begünstigten als Abhilfemaßnahme A. Die Begrenzung auf die Übereignung und assoziierte Problemstellungen B. Die Begünstigten der Übereignung C. Hindernisse einer Übereignung des Kulturguts § 11 Schluss: Die gesetzliche Ausgestaltung als „gerechte und faire Lösung“? A. Ergebnisse für das Kunstrückgabegesetz in Österreich B. Erkenntnisse für ein Kunstrückgabegesetz in Deutschland 9  

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  7 Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  9 Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  17 § 1 Einleitung oder: Was kann das Recht leisten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  19 § 2 Zur Sprache der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  21 § 3 Zur Methode und zum Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  25 A. Methode der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  25 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  29

§ 4  Überblick über Historie und Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  31 A. Historischer Überblick zur Entziehung von Kulturgütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  31 I. Der ›Anschluss‹ Österreichs und die nationalsozialistische Entziehungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  31 II. Der Umgang mit den Entziehungen in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  34 B. Überblick über das Regelungsregime der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  39 I. Zur Genese der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  39 II. Zur Rechtsnatur und zum Gehalt der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  41 1. Der Gehalt der Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  42 2. Der Gehalt der einzelnen Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  44

C. Überblick über das Regelungsregime des Kunstrückgabegesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  46 I. Zur Genese des Kunstrückgabegesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  46 II. Zur Rechtsnatur des Kunstrückgabegesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  48

§ 5 Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  53 A. Die besonderen Gremien des Kunstrückgabegesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  54 I. Die Kommission für Provenienzforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  54 II. Der Kunstrückgabebeirat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  56 III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  58 1. Zur Besetzung der Kommission für Provenienzforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  61 2. Zur Besetzung des Kunstrückgabebeirats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  62

11  

B. Der Verfahrensablauf nach dem Kunstrückgabegesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  64 I. Die Verfahrenseinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  65 1. Das Tätigwerden der Provenienzforschung auf Anregung und von Amts wegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  66 2. Die Qualifikation der Kulturgüter durch die Provenienzforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  66 3. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  68 a) Zur Einbindung der Begünstigten in die Verfahrenseinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  69 b) Zur systematischen Vorgehensweise der Provenienzforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  71

II. Die juristische Beurteilung durch den Kunstrückgabebeirat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  73 1. Die Beschlussfassung des Kunstrückgabebeirats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  74 2. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  76

III. Die Übereignung an die Begünstigten durch den:die Bundesminister:in . . . . . . . . . . . . . . .  80 1. Die ministeriale Ermessensentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  80 2. Die Ermittlung der Begünstigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  82 3. Die Übereignung der Kulturgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  83 4. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  85

IV. Die Überprüfung vorheriger Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  87 1. Die vom Beirat entwickelten Überprüfungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  88 2. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  89

§ 6 Die allgemeinen Rückgabevoraussetzungen des Kunstrückgabegesetzes . . . . . . .  91 A. Vorbemerkung: Zur Systematik der Tatbestände des Kunstrückgabegesetzes . . . . . . . . . . . . .  91 I. Die Tatbestände zur Regelung von Fehlverhalten der Zweiten Republik . . . . . . . . . . . . . . .  92 II. Die Tatbestände zur Regelung von Entziehungen im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . .  94 III. Notwendigkeit einer Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  95 B. Das bewegliche Kulturgut als Rückgabeobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  97 I. Vom Kunstgegenstand zum Kulturgut als museumswürdiges Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  97 II. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  101 C. Das unmittelbare Bundeseigentum am Kulturgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  103 I. Von den Bundesmuseen zum unmittelbaren Bundeseigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  103 II. Nicht in unmittelbarem Bundeseigentum stehende Kulturgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  106 III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  109

§ 7 Die Entziehung als spezielle Rückgabevoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  111 A. Vorbemerkung: Zur Bestimmung des Entziehungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  111 I. Das Verhältnis zwischen Nachkriegsgesetzen und Kunstrückgabegesetz . . . . . . . . . . . . . .  112 II. Die Auswirkungen des Verhältnisses auf den Entziehungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  114 1. Konkretisierung des Entziehungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  114 a) Der objektive Entziehungsbegriff des Beirats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  116 b) Der subjektive Entziehungsbegriff des Schiedsgerichts und des OGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  117 c) Das Festhalten des Beirats am objektiven Entziehungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  118

2. Notwendigkeit eines objektiven Verständnisses der Entziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  120

12  Inhaltsverzeichnis

B. Der zeitliche und örtliche Rahmen der Entziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  124 I. Der zeitliche Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  125 1. Vom ›Anschluss‹ zur Kapitulation als zeitlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  126 2. Von der ›Machtergreifung‹ zur Kapitulation als zeitlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  127

II. Der örtliche Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  128 1. Das »besetzte« Österreich als örtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  130 2. Der nationalsozialistische Herrschaftsbereich als örtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  131 3. Ausschluss der Gebiete außerhalb des Herrschaftsbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  134

III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  136 C. Das Eigentum am Kulturgut als Vorbedingung der Entziehung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  138 I. Der maßgebliche Zeitraum des Eigentumsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  139 1. Während der nationalsozialistischen Herrschaft begründetes Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  139 2. Der Umgang mit mehrfachen Eigentumswechseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  141 3. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  143

II. Die Bestimmung der Eigentümer:innen durch Indizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  144 1. Bei mehreren namentlich in Betracht kommenden Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  145 2. Bei Unklarheiten über das Eigentum zu irgendeinem Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  146 3. Bei Unklarheiten über das Eigentum im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  148 4. Bei Unklarheiten über die Werkidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  151 5. Bei besonderen Fallkonstellationen von Eigentumsverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  155 a) Eigentumsverhältnisse im Kunsthandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  155 b) Eigentumsverhältnisse unter engen Familienmitgliedern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  156 c) Eigentumsverhältnisse bei Veräußerungen durch Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  159

6. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  161

D. Die Verfolgung der Eigentümer:innen als Weichenstellung der Entziehung . . . . . . . . . . . .  164 I. Vorbemerkung: Zum Begriff der Verfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  165 II. Die Vermutung der kollektiven Verfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  166 1. Kollektive Verfolgung von als ›Juden‹ definierten Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  167 a) Als ›Juden‹ definierte Personen mit Auslandsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  168 b) Als ›Juden‹ definierte Personen in ›Mischehen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  169

2. Kollektive Verfolgung der Familienmitglieder von als ›Juden‹ definierten Personen . . . . . . . . . . . . . .  170 a) Als ›arisch‹ definierte Ehepartner:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  171 aa) Geschiedene, als ›arisch‹ definierte Ehepartner:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  171 bb) Verwitwete, als ›arisch‹ definierte Ehepartner:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  172

b) Als ›Mischlinge‹ definierte Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  173 aa) Als ›Mischlinge 1. Grades‹ definierte Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  174 bb) Als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierte Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  174

III. Die Feststellung der individuellen Verfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  177 1. Der Zeitpunkt des konkreten Verfolgungsakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  178 2. Die Formen des konkreten Verfolgungsakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  179

13  Inhaltsverzeichnis

IV. Die Besonderheiten bei der Verfolgung juristischer Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  181 V. Die Besonderheiten bei nicht-verfolgten Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  183 VI. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  184 1. Zum Kriterium der Verfolgung als Weichenstellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  184 2. Zur starren Hierarchisierung innerhalb der Verfolgungskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  186

E. Der Verlust als ungeschriebenes Merkmal der Entziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  187 I. Zur Definition des Verlusts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  188 II. Die Ermittlung des Verlusts durch Indizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  190 1. Bei Unklarheiten über das Eintreten des Verlusts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  191 2. Bei Unklarheiten über die Form des Verlusts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  193

III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  194 1. Zur Definition als faktischer Verlust der Verfügungsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  194 2. Zu den volatilen Beweisanforderungen an den Verlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  195

F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  197 I. Die Vermutung des Kausalzusammenhangs bei Verfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  197 1. Zur dogmatischen Einbettung der Vermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  199 2. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  200

II. Die Anwendung der Vermutung auf die einzelnen Verlustformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  202 1. Der Verlust durch Rechtshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  202 a) Der Verlust durch Maßnahmen der Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  203 aa) Beschlagnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  204 bb) Sicherstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  205 cc) Einziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  207

b) Der Verlust durch gesetzlichen Verfall als Maßnahme der Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  208 c) Der Verlust durch Gerichtsentscheidung als Maßnahme der Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  209 d) Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  210

2. Der Verlust durch Rechtsgeschäft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  212 a) Der Verlust durch Verkauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  214 aa) Verkäufe aufgrund diskriminierender Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  215 (1) Verkauf aufgrund einer Ablieferungspflicht (›§ 14-Ablieferung‹) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  215 (2) Verkauf durch die kommissarische Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  216

bb) Notverkäufe aufgrund des allgemeinen Verfolgungsdrucks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  217 (1) Keine Ausnahme aufgrund der äußeren Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  218 (2) Ausnahmen aufgrund der »unbedenklichen« Beweggründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  219 (a) Zuvor eingeleitete Verkaufsverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  219 (b) Zuvor begründete wirtschaftliche Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  221 (c) Gegenfinanzierung anderer Erwerbungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  224 (d) Fortsetzung der Sammeltätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  225

cc) Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  226

(1) Zur Differenzierung zwischen zwei Verkaufskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  226 (2) Zu den Ausnahmen vom Kausalzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  227 (a) Zur Unerheblichkeit der äußeren Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  228 (b) Zur Erheblichkeit der »unbedenklichen« Beweggründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  230

14  Inhaltsverzeichnis

b) Der Verlust durch Schenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  231 aa) Schenkungen an öffentliche Sammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  232 (1) Erfüllung des hypothetischen Willens Verstorbener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  232 (2) Fortsetzung einer Schenkungstradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  234

bb) Schenkungen an den Eigentümer:innen nahestehende Privatpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  235 (1) Zugehörigkeit zum engen Familienkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  237 (2) Zugehörigkeit zum engen Bekanntenkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  238

cc) Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  240

c) Der Verlust durch sonstige Rechtsgeschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  242 aa) Leihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  242 bb) Tausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  243 cc) Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  244 dd) Testamentarischer Ausschluss vom gesetzlichen Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  246 ee) Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  247

3. Der Verlust durch Realakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  249 a) Der Verlust durch Leistung eines Erfüllungssurrogats  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  249 b) Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  251

§ 8 Der rechtmäßige Eigentumsübergang als spezielle Rückgabevoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  253 A. Die Formen des rechtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  254 I. Erwerbungen während der nationalsozialistischen Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  255 II. Erwerbungen aus dem Bestand des ›Führermuseums‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  257 III. Erwerbungen nach der nationalsozialistischen Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  260 1. Eigentumsübergang vor Inkrafttreten des Kunstrückgabegesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  260 2. Eigentumsübergang nach Inkrafttreten des Kunstrückgabegesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  262

IV. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  263 B. Die Bedeutung der Gutgläubigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  265 I. Die Gutgläubigkeit im Begriffsverständnis des Beirats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  266 1. Der Bezugspunkt der Gutgläubigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  267 2. Der Zeitpunkt der Gutgläubigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  268

II. Die Unerheblichkeit der Gutgläubigkeit infolge dieses Begriffsverständnisses . . . . .  268 III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  269

§ 9 Ausschlussgründe der Rückgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  273 A. Ausschluss durch wiedererlangte Verfügungsmacht in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . .  273 I. Wiedererlangung durch Restitution an die Sammelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  274 II. Wiedererlangung durch Restitution an die »falschen« Berechtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  275 III. Keine Wiedererlangung durch Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  276 IV. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  278 1. Zur Unerheblichkeit von Entschädigungszahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  279 2. Zum Ausschluss durch Rückstellung an andere Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  280

15  Inhaltsverzeichnis

B. Ausschluss durch materiell rechtskräftige Entscheidung aus der Nachkriegszeit . . . . . .  280 I. Grundsätzlicher Ausschluss durch materiell rechtskräftige Entscheidung . . . . . . . . . . . .  282 II. Ausnahmen vom Ausschluss durch materiell rechtskräftige Entscheidung . . . . . . . . . . .  283 1. Formelle Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  284 2. Unwesentliche Entscheidungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  285 3. Entziehung als obiter dictum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  286 4. »Extreme Ungerechtigkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  287

III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  290 1. Zum Regel-Ausnahme-Verhältnis bei rechtkräftigen Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  291 2. Zur Ausnahme der »extremen Ungerechtigkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  291

C. Ausschluss durch Vergleiche aus der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  294 I. Gerichtliche Rückstellungsvergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  294 II. Außergerichtliche Rückstellungsvergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  295 III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  298 D. Ausschluss durch Zustimmung in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  300 I. Ausdrückliche Zustimmung zu den Eigentumsverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  300 II. Konkludente Zustimmung zu den Eigentumsverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  302 III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  305

§ 10 Die Übereignung an die Begünstigten als Abhilfemaßnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  307 A. Die Begrenzung auf die Übereignung und assoziierte Problemstellungen . . . . . . . . . . . . . . . .  307 I. Die Rückzahlung erhaltener Gegenleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  308 II. Die Restitution gleichwertiger Objekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  309 III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  310 B. Die Begünstigten der Übereignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  314 I. Die individuell Begünstigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  315 1. Die Bestimmung der Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  315 2. Die Probleme bei einer Mehrzahl von potenziellen Rechtsnachfolger:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  317

II. Der Nationalfonds als kollektiv Begünstigter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  318 III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  319 C. Hindernisse einer Übereignung des Kulturguts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  321 I. Vertragliche Verfügungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  322 II. Kulturgutschutzrechtliche Verfügungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  322 III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  325

§ 11 Schluss: Die gesetzliche Ausgestaltung als »gerechte und faire Lösung«? . . . . .  327 A. Ergebnisse für das Kunstrückgabegesetz in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  328 B. Erkenntnisse für ein Kunstrückgabegesetz in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  330

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  335 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  351 16  Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

AAL ABGB AJP/PJA ALJ AsianJIL bbl Brook. L. Rev. Brooklyn J. Int. Law BVwG B-VG CJCR CIVS

Art Antiquity & Law Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch Aktuelle Juristische Praxis/Pratique Juridique Actuelle Austrian Law Journal Asian Journal of International Law Baurechtliche Blätter Brooklyn Law Review Brooklyn Journal of International Law Bundesverwaltungsgericht Bundes-Verfassungsgesetz Cardozo Journal of Conflict Resolution Commission pour l’indemnisation des victimes de spoliations DCPTCA Documentation Centre for Property Transfers of Cultural Assets of WWII Victims DZK Deutsches Zentrum Kulturgutverluste EFG Entschädigungsfondsgesetz EJIL European Journal of International Law FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung Gestapo Geheime Staatspolizei GP Gesetzgebungsperiode ICLQ International and Comparative Law Quarterly IKG Israelitische Kultusgemeinde Int. J. Cult. Prop. International Journal of Cultural Property JBl Juristische Blätter J. Leg. Anal. Journal of Legal Analysis J. Marshall Rev. Intell. Prop. L. John Marshall Review of Intellectual Property Law JRP Journal für Rechtspolitik JuWiss Junge Wissenschaft im Öffentlichen Recht KRG Kunstrückgabegesetz KulturGB NRW Kulturgesetzbuch für das Land Nordrhein-Westfalen KUR Kunst & Recht LTI Lingua Tertii Imperii

17  

Mietslg. Mietrechtliche Entscheidungen MüKo Münchener Kommentar NCJIL North Carolina Journal of International Law NichtigkeitsG Nichtigkeitsgesetz NYT The New York Times NZ Notariatszeitung OGH Oberster Gerichtshof ORK Oberste Rückstellungskommission ÖJZ Österreichische Juristen-Zeitung ÖZP Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft o.J. ohne Jahresangabe PDRLJ Pepperdine Dispute Resolution Law Journal RM Reichsmark RoK Rückstellungsoberkommission RdW Das Recht der Wirtschaft RIS-Justiz Rechtsinformationssystem des Bundes Justiz RStG Rückstellungsgesetz SAACLR Santander Art and Culture Law Review SSRN Social Science Research Network StGBl Staatsgesetzblatt StGG Staatsgrundgesetz taz Die Tageszeitung VfGH Verfassungsgerichtshof VfSlg. Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofs VfZ Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Vugesta Verwaltungsstelle für jüdisches Umzugsgut der Geheimen Staatspolizei VwGH Verwaltungsgerichtshof ZIK Zeitschrift für Insolvenzrecht und Kreditschutz ZOV Zeitschrift für offene Vermögensfragen Für die nicht aufgezählten Abkürzungen wird verwiesen auf: Kunkel-Razum, Kathrin (Hrsg.): Duden – die deutsche Rechtschreibung, 28. Aufl. 2020 und Kirchner, Hildebert (Begr.)/Böttcher, Eike (Bearb.): Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 10. Aufl. 2010.

18  Abkürzungsverzeichnis

§ 1 Einleitung oder: Was kann das Recht leisten?

Die Leistung des Rechts im Umgang mit der Vergangenheit kann – mit Bernhard Schlink gesprochen – in der »Vorgabe von Formen und Verfahren [liegen], in denen die Entscheidung über die Weise der Konstruktion und Integration« der Vergangenheit in die Gegenwart getroffen wird.1 Mit anderen Worten: Das Recht kann den Rahmen vorgeben, in dem entschieden wird, wie mit der Vergangenheit heute umgegangen werden kann. Die vorliegende rechtswissenschaftliche Arbeit wird daher die Verfahren und Vorgaben für Entscheidungen über im Nationalsozialismus entzogene Kulturgüter erläutern und die sich an diesen Entscheidungen entzündenden Debatten vertiefen. Die völkerrechtliche Grundlage für den heutigen Umgang mit im Nationalsozialismus entzogenen Kulturgütern bilden die Washingtoner Prinzipien. Die elf Richtlinien wurden 1998 mit dem Anspruch vereinbart, als Leitlinie für die weitere normative Aufarbeitung dieser Entziehungen zu dienen. Ihre zentrale Vorgabe ist der Aufruf zur Entwicklung von »gerechten und fairen Lösungen« im Umgang mit entzogenen Kulturgütern. Diesen Anspruch können sie jedoch nur dann berechtigt erheben, wenn sie trotz ihrer Unverbindlichkeit echte Anerkennung durch die Unterzeichnerstaaten erfahren, wozu auch die Bundesrepublik Österreich zählt. Mit dem Kunstrückgabegesetz von 1998 traf Österreich zeitgleich mit den Washingtoner Prinzipien eine umfassende Maßnahme zur Kulturgüterrestitution, die in ihrer konkreten Ausgestaltung als Parlamentsgesetz europaweit einmalig ist. Auf internationaler Ebene bekennt sich die Bundesrepublik Österreich stets zu den Washingtoner Prinzipien und die gesetzliche Verankerung der Kulturgüterrestitution lässt zunächst einen deutlicheren politischen Handlungswillen zur Entwicklung »gerechter und fairer Lösungen« als in anderen Staaten vermuten. Österreich nimmt daher oftmals international eine Vorreiterrolle ein, die sich mit 382 veröffentlichten Empfehlungen des zuständigen Gremiums, dem Kunstrückgabebeirat, zu bestätigen scheint. Weder geht jedoch Quantität zwangsläufig mit Qualität einher noch garantiert ein Gesetz notwendigerweise Gerechtigkeit. Deshalb ist ein systematischer Blick auf die Empfehlungspraxis des Kunstrückgabebeirats im Lichte der Washingtoner Prinzipien ebenso naheliegend wie unverzichtbar. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmend vehement erhobenen Forderungen nach einer gesetzlichen Lösung in Deutschland.

1 Schlink, Vergangenheitsschuld, 2002, S. 122.

19  

§ 2  Zur Sprache der Untersuchung

Jeder Sprachgebrauch leistet einen Beitrag zur Reproduktion oder Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse und historischer Erzählungen.2 Die Forschung zum Nationalsozialismus ist dabei insbesondere mit dem Dilemma konfrontiert, oftmals auf die – nach Victor Klemperer – »Sprache des Dritten Reichs«3 zurückgreifen zu müssen und diese dadurch zu reproduzieren.4 Gerade bei einer Sprache, die ihre »Giftwirkung« bewusst »wie winzige Arsendosen« in die Gesellschaft hat einfließen lassen,5 will in dieser Arbeit zumindest eine unreflektierte Reproduktion vermieden werden, wenn die Wiedergabe an sich schon für die wissenschaftliche Auseinandersetzung unvermeidlich ist. Eine solche Reflexion von Sprache muss in besonderem Maße Anspruch der Rechtswissenschaft sein. Es gilt schließlich als eine Binsenweisheit, »dass Rechtsarbeit […] immer Spracharbeit ist, in dem doppelten Sinn von ›Arbeit mit der Sprache‹ und ›Arbeit an der Sprache‹.«6 Die Verfasserin dieser rechtswissenschaftlichen Untersuchung ist sich der Verantwortung bewusst, die eine Arbeit mit der nationalsozialistischen Sprache impliziert und hat sich daher zum Ziel gesetzt, einen reflektierten Umgang mit dieser diskriminierenden und gewaltvollen Sprache zu finden; mithin an der heutigen Sprache über den Nationalsozialismus zu arbeiten. Die hiesigen Ausführungen sind also als ein Diskursbeitrag zu der auch in der Rechtswissenschaft zwingenden Auseinandersetzung mit diskriminierender Sprache zu verstehen.7 In der Rechtswissenschaft scheint bisher kaum eine Problematisierung der Reproduktion der »Sprache des Dritten Reichs«8 stattgefunden zu haben; auch nicht im Kontext der Kulturgüterrestitution.9 Die in dieser Arbeit herangezogenen Quellen zur Entwicklung eines reflektierten Umgangs mit dieser Sprache stammen weitestgehend aus anderen Disziplinen. Dies 2 3

4 5

6

7

8

9

Vgl. nur Wodak/Fairclough, in: van Dijk (Hrsg.), Discourse Studies, 1997, S. 259, 273; Utz, in: ders./Ganzenmüller (Hrsg.), Orte der Shoah, 2016, S. 25, 25. Nach Klemperer die »LTI (Lingua Tertii Imperii)«, s. Klemperer, LTI, 22. Aufl. 2007, S. 18. Rupnow, Aporien, 2006, S. 115. Klemperer, LTI, 22. Aufl. 2007, S. 26 f. Wimmer, Muttersprache 2009, 234, 237. Zur Vermeidung sprachlicher Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität wird daher in dieser Arbeit grundsätzlich der »Gender-Doppelpunkt« verwendet. Dies entspricht auch der aktuellen Praxis des Kunstrückgabebeirats, s. Beschl. zu Adalbert Parlagi v. 30.03.2022, S. 1; Beschl. zu Martha Brown-Neumann v. 29.11.2022, S. 1. Zu dieser Sprache zählen nicht nur völkische Neologismen, wie etwa der Begriff ›Arisierung‹, sondern auch von der nationalsozialistischen Ideologie instrumentalisierte und vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichende Begriffe, zum Beispiel im Kontext dieser Arbeit der ›Sonderauftrag‹; s. zur Instrumentalisierung der Sprache für die nationalsozialistische Ideologie Klemperer, LTI, 22. Aufl. 2007, S. 27, 68. Ein zumindest kurzer Impuls in diesem Kontext findet sich bei Berg, KUR 2019, 130, 130 ff.

21  

mag darauf zurückzuführen sein, dass die Rechtswissenschaft in besonderem Maße darauf angewiesen ist, Sachverhalte zutreffend wiederzugeben, um auf dieser Tatsachengrundlage eine juristische Beurteilung vorzunehmen. Gerade in Gerichtsverfahren der Nachkriegszeit wurde daher oftmals aus pragmatischen Gründen die »Sprache des Dritten Reichs« zur Erfassung des Sachverhalts reproduziert.10 Die dadurch erlangte »normative Dominanz«11 dieser diskriminierenden Sprache gilt es für die nachfolgende Untersuchung zu reflektieren und – soweit möglich – zu reduzieren. Dafür wurde in Anknüpfung an Ansätze anderer Arbeiten die folgende Methode entwickelt: Während doppelte Anführungszeichen sowohl der Markierung wörtlicher Zitate als auch zu erklärender Termini dienen, werden einfache Anführungszeichen im Fließtext allein für Begriffe aus der »Sprache des Dritten Reichs« und für dessen Institutionen verwendet.12 Die Verwendung von Anführungszeichen soll dabei nicht als bequeme Lösung der Problematik, sondern als das notwendige, aber freilich nie hinreichende Mittel der sprachlichen Distanzierung dienen. Schließlich findet weiterhin eine zweckdienliche Reproduktion statt – wenn auch von Anführungszeichen umzäunt.13 Angesichts dieses Dilemmas zwischen Legitimierung und Distanzierung wird der Rückzug auf die Anführungszeichen kritisch betrachtet.14 Im besonderen Fokus dieser Kritik und der Bemühungen um einen diskriminierungssensiblen Umgang mit der »Sprache des Dritten Reichs« steht dabei die Definition von Personen als »Juden« durch die nationalsozialistische Gesetzgebung.15 Denn diese beruhte nicht auf einer Selbstzuschreibung der jüdischen Identität, sondern stellte vielmehr eine negativ konnotierte Fremdzuschreibung des nationalsozialistischen Re­ gimes dar. Es war mithin unmöglich, sich durch eine andere Selbstzuschreibung der Verfolgung zu entziehen.16 Wenn also heutzutage im Kontext des Nationalsozialismus über Personen als »Juden« geschrieben wird, ohne zugleich die Fremdzuschreibung durch das Regime herauszustellen, wird, wenn auch unbeabsichtigt, »die ungeheure Wirkungsmacht der von den Nationalsozialisten gesetzten Begriffe« perpetuiert.17 Zur schriftlichen Unterstreichung dieses Auseinanderfallens von Selbst- und Fremd­ zuschreibung wird daher oftmals auf das bereits als Mittel der sprachlichen Distanzierung bekannte Anführungszeichen zurückgegriffen, wenn es auf die Fremdzuschreibung des Regimes ankommt.18 Die bloße Einrahmung des Wortes »Jude« durch Anführungszeichen suggeriert jedoch, dass sich auch von dem Wort »Jude« sprachlich distanziert werden müsse. Dabei soll gerade keine sprachliche Distanzierung vom Wort selbst, sondern nur von der Fremdzuschrei-

10 11

12

13

14 15 16 17

18

Utz, in: ders./Ganzenmüller (Hrsg.), Orte der Shoah, 2016, S. 25, 45; Berg, KUR 2019, 130, 131 f. Utz, in: ders./Ganzenmüller (Hrsg.), Orte der Shoah, 2016, S. 25, 45. Ähnlich auch bei Wienert, Das Lager, 3. Aufl. 2018, S. 21. Der Beirat setzt Begriffe aus der »Sprache des Dritten Reichs« in doppelte Anführungszeichen, s. auch dazu nur Beschl. zu Adalbert Parlagi v. 20.03.2022, S. 1; Beschl. zu Martha BrownNeumann v. 29.11.2022, S. 2. Davon wird jedoch zwecks Abgrenzung von wörtlichen Zitaten und Termini in dieser Arbeit abgesehen. In diese Richtung auch Rupnow, Aporien, 2006, S. 115. Rupnow, Aporien, 2006, S. 117; Utz, in: ders./Ganzenmüller (Hrsg.), Orte der Shoah, 2016, S. 25, 28 ff.; Berg, KUR 2019, 130, 131 ff. § 5 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935, RGBl. I Nr. 125, S. 1333–1334 (im Folgenden: Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz). Rupnow, Aporien, 2006, S. 117; Utz, in: ders./Ganzenmüller (Hrsg.), Orte der Shoah, 2016, S. 25, 28 ff.; Berg, KUR 2019, 130, 131 ff. Utz, in: ders./Ganzenmüller (Hrsg.), Orte der Shoah, 2016, S. 25, 29; in diese Richtung auch Berg, KUR 2019, 130, 132. So etwa Berger, Experten, 2013, S. 22 f.; Jung, VfZ 2006, 25, Fn. 1.

22  § 2  Zur Sprache der Untersuchung

bung erreicht werden.19 Die Verwendung von Anführungszeichen allein ist somit nicht nur deplatziert, sondern auch unzureichend. Sie droht außerdem zu unterschlagen, dass viele Personen tatsächlich über eine jüdische Identität verfügten20 oder diese zumindest ex post aus der aufgrund der Fremdzuschreibung gemachten Verfolgungserfahrung entstand.21 Diese Selbstzuschreibung ist jedoch in der Regel den Sachverhalten nicht zu entnehmen, sodass ein Rekurs auf die Fremdzuschreibung zur Erfassung der Diskriminierung in dieser Arbeit notwendig ist.22 Um diese Fremdzuschreibung gleichwohl kenntlich zu machen, ohne die Selbstzuschreibung einer jüdischen Identität zu negieren, bietet sich daher an, der Einrahmung des Wortes »Jude«23 durch einfache Anführungszeichen die Formulierung »definiert als« voranzustellen.24 Gleiches gilt aufgrund einer ebensolchen gesetzlichen Fremdzuschreibung für die Wörter »Mischling« und »arisch«.25 Dadurch wird deutlich, dass die Arbeit mit Sprache immer auch mit eigenen Setzungen verbunden ist. Die in dieser Arbeit vorgenommenen Setzungen sollen jedoch weder abschließend noch allgemeingültig sein, sondern lediglich eine Möglichkeit des Umgangs mit der diskriminierenden und gewaltvollen »Sprache des Dritten Reichs« aufzeigen.

19

Zur negativen Konnotation des Wortes »Jude« s. Steinke, Antisemitismus, 2. Aufl. 2022, S. 10 ff.; so auch Wodak/Reisigl, Discourse, 2001, S. 63; Rupnow, Aporien, 2006, S. 117. Daher wird nicht die vom Beirat – unregelmäßig – verwendete Formulierung »als jüdisch verfolgt« übernommen, s. nur Beschl. zu Martha Brown-Neumann v. 29.11.2022, S. 2. 20 Rupnow, Aporien, 2006, S. 117. 21 Vgl. Wodak/Heer, in: dies. et al. (Hrsg.), Geschichte, 2003, S. 12, 18; Rupnow, Aporien, 2006, S. 117; Wodak et al., Konstruktion, 2. Aufl. 2016, S. 46 ff. 22 Dies erscheint besonders geboten angesichts der auch heutigen Diskussion über jüdische Identität, s. dazu eingehend Steinke, Antisemitismus, 2. Aufl. 2022, S. 54 ff. 23 Gerade weil es sich um eine feststehende, nationalsozialistische Fremdzuschreibung handelt, wird nicht gegendert, s. dazu Utz, in: ders./Ganzenmüller (Hrsg.), Orte der Shoah, 2016, S. 25, 30, der richtigerweise erkennt, dass dann »lediglich die Nürnberger Gesetze gegendert [werden], ihr rassistischer Kern sprachlich jedoch nicht angetastet« werde. 24 In Anlehnung an Utz, in: ders./Ganzenmüller (Hrsg.), Orte der Shoah, 2016, S. 25, 47. 25 Definition von »Mischling«: § 2 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz. Definition von »arisch«: § 3 der Ersten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 11. April 1933, RBGl. I Nr. 37, S. 195. Das Wort »Arier« wird in dieser Untersuchung nicht verwendet, da die gesetzliche Definition lediglich das Adjektiv »arisch« enthielt.

23  

§ 3  Zur Methode und zum Gang der Untersuchung

In seinem Standardwerk zu methodischen Kontinuitäten des Nationalsozialismus in der Rechtswissenschaft stellt Bernd Rüthers fest: »Die Rechtswissenschaft entwickelt sich am Fall. Sie ist bei aller Wertschätzung der Systembildung in erster Linie auf praktische Ziele gerichtet, nämlich auf das Erarbeiten von Regeln für das geordnete und widerspruchsfreie Lösen von Fällen. Der praktische Fall steht somit am Anfang und Ende des rechtswissenschaftlichen Bemühens.«26 Auch die Bemühungen dieser rechtswissenschaftlichen Arbeit beginnen und enden mit dem »praktischen Fall«, da diese auf dem 382 Empfehlungen umfassenden Fallrepertoire des Kunstückgabebeirats aufbaut und daraus argumentative Anknüpfungspunkte für Regeln zur Lösung vergleichbarer Fälle zu entwickeln versucht. Zunächst ist jedoch darzulegen, mit welcher Methode das Fallrepertoire für die Untersuchung handhabbar gemacht worden ist.

A. Methode der Untersuchung Im Rahmen der Methode der Untersuchung ist daher zunächst die Vorgehensweise zur Erfassung des Fallkonvolutes zu erläutern, bevor auf die verwendeten Methoden im juristischen Sinne eingegangen wird. Die nachfolgende Untersuchung beruht zum einen auf einer empirischen Erfassung der 382 Empfehlungen des österreichischen Kunstrückgabebeirats und zum anderen auf einer normativen Auswertung dieses Fallrepertoires.27 Damit stellt diese Untersuchung eine erstmalige Systematisierung dieser auf Grundlage des Kunstrückgabegesetzes28 von 1998 ergangenen Beschlüsse29 dar; sie kann folglich als erste »Kommentierung« des KRG betrachtet werden. Diese »Kommentierung« ist dabei regelmäßig so aufgebaut, dass zunächst eine kurze Sachverhaltsdarstellung des einschlägigen Falles erfolgt, bevor die juristische Beurteilung der vom Sachverhalt aufgeworfenen Probleme dargelegt wird. Ebenso wie bei juristi-

26 27

28

29

Rüthers, Auslegung, 8. Aufl. 2017, S. 7. Alle abrufbar unter: https://www.provenienzforschung.gv.at/de/empfehlungen-des-Beirates/beschluesse/. Ursprünglich erlassen als: Bundesgesetz über die Rückgabe von Kunstgegenständen aus den Österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen, BGBl. I Nr. 181/1998. Novelliert als: Bundesgesetz über die Rückgabe von Kunstgegenständen und sonstigem beweglichen Kulturgut aus den österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen und aus dem sonstigen Bundeseigentum, BGBl. I Nr. 117/2009 (im Folgenden: KRG). Der Begriff »Beschluss« wird vom Beirat nicht im Sinne eines rechtsverbindlichen Beschlusses gebraucht, sondern bedeutet vielmehr »Entscheidung« im Allgemeinen, s. zum Begriff »Beschluss« im österreichischen Prozessrecht nur Fasching/Konecny/ Deixler-Hübner, Zivilprozessgesetze, 3. Aufl. 2017, Vor § 390 Rn. 2.

25 

schen Kommentaren oder Lehrbüchern liegen den abstrakten Schlussfolgerungen aus dieser rechtlichen Beurteilung allein die aus den Beschlüssen zu entnehmenden Sachverhaltsangaben zugrunde; selbst, wenn diese mittlerweile durch historische Forschung als überholt gelten. Nur durch eine Beschränkung auf diese Angaben aus dem Beschluss selbst können die Empfehlungen einer Systematisierung zugeführt und die wesentlichen normativen Aspekte destilliert werden. Darüber hinaus handelt es sich in den meisten Fällen um sehr komplexe, teils umstrittene historische Sachverhalte, deren weitergehende Ermittlung der Provenienzforschung30 vorbehalten bleiben muss und nicht Teil einer normativen Untersuchung sein kann. Diesen Ausführungen zum Umgang mit den Sachverhalten ist hinzuzufügen, dass die meisten verfolgten Personen nicht über umfassende Vermögen verfügten und sich daher gar nicht erst oftmals hochpreisige Kulturgüter leisten konnten.31 Diese Arbeit beleuchtet deswegen in weiten Teilen nur das Schicksal des kleinen Kreises von Personen, die über die entsprechenden Mittel verfügten. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass eine Gesamtwürdigung der Verfolgungsgeschichte der Geschädigten32 zwangsläufig außen vor bleibt, da sich diese Arbeit auf die juristische Beurteilung der Entziehung von Kulturgütern und nicht die Verfolgung im Nationalsozialismus konzentriert. Diese Untersuchung kann somit lediglich einen Einblick in ein Fragment der nationalsozialistischen Verbrechen bieten. Dabei darf jedoch nicht verkannt werden, dass sich dieses Fragment – der Zugriff auf das Vermögen – durchaus als Vorstufe des Zugriffs auf das Leben von Menschen betrachten lässt.33 Jener war also ein entscheidender Bestandteil der Zerstörung individueller und kollektiver Existenzen. Um diesen Existenzen trotz des Augenmerks auf die vermögensrechtlichen Komponenten Raum zu geben, werden die Wertungen des österreichischen Kunstrückgabebeirats in der Regel anhand eines konkreten, auch im Fließtext optisch hervorgehobenen Falles erläutert und bewertet. So findet das jeweilige Verfolgungsschicksal zumindest im Rahmen der Verlustumstände des konkreten Kulturguts einen Platz.34 Da in Österreich eine gesetzliche Ausgestaltung für den Umgang mit im Nationalsozialismus entzogenen Kulturgütern gewählt wurde, sind die juristischen Auslegungsmethoden sowohl bei der Anwendung durch den Beirat als auch bei der Kritik seiner Empfehlungspraxis von großer Bedeutung. Es ist daher geboten, im Folgenden einen Überblick über den juristischen Methodenkanon zu geben:35 Anders als im deutschen Recht finden sich in §§ 6, 7 ABGB allgemeine Vorgaben zur Konkretisierung des normativen Gehalts von Vorschriften, die in der

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Die Provenienzforschung versteht sich als Erforschung der Herkunft von Kulturgütern, vgl. Zuschlag, Provenienzforschung, 2022, S. 11 ff. Vgl. nur Rupnow, Aporien, 2006, S. 173. In dieser Arbeit wird die Bezeichnung »Geschädigte« verwendet, um zu unterstreichen, dass diese Untersuchung den aus der Verfolgung resultierenden Vermögensschaden zum Gegenstand hat und nicht die Opferposition aufgrund der Verfolgung selbst untersucht. Brückler, in: ders. (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 13, 13. Damit diese individuellen Verfolgungsschicksale nicht in Vergessenheit geraten, werden auch die Namen der Verfolgten genannt (Schlagwort »say their names«). Dazu kritisch aus datenschutzrechtlicher Perspektive Eisenberger/Faber, juridikum 2003, 27, 27 ff. Dabei wird keine eindeutige Differenzierung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung vorgenommen, s. dazu aber eingehend Rüthers et al., Rechtstheorie, 12. Aufl. 2022, Rn. 737 ff. Der Beirat bezeichnet seine Rechtsfortbildung vereinzelt als »Auslegung«, obwohl er an anderer Stelle ausdrücklich betont, dass es sich bei dieser Rechtsfortbildung gerade nicht mehr um Auslegung, sondern eine analoge Anwendung handelt, vgl. Beschl. zu Leo u. Elise Smoschewer v. 30.10.2002, S. 2 f., und Beschl. zu Ludwig Mayer v. 20.11.2009, S. 3.

26  § 3  Zur Methode und zum Gang der Untersuchung

gesamten österreichischen Rechtsordnung Anwendung finden.36 In § 6 ABGB werden die methodischen Grundlagen der Auslegung geregelt, während § 7 ABGB bestimmt, wo die Grenzen dieser Auslegung erreicht sind und eine analoge Anwendung der Norm zu erfolgen hat – dies ist der weitest mögliche Wortsinn einer Norm.37 Ausgangspunkt der Konkretisierung des normativen Gehalts ist damit zunächst stets der Wortlaut einer Vorschrift.38 Schließlich ist das Vertrauen auf den Wortlaut eines Gesetzes ein wesentliches Charakteristikum des Rechtsstaates, das nicht durch eine zu weitreichende Rechtsfortbildung ausgehöhlt werden darf.39 Zugleich stellt der Wortlaut allein nur den Beginn der Auslegung und kein Hindernis für weitere Erwägungen dar.40 Diese Erwägungen müssen jedoch ihrerseits abgesichert werden, und zwar durch die weiteren Auslegungsmethoden der Systematik, der Historie und des Telos, zwischen denen keine starre Hierarchie besteht.41 Im Rahmen der Methode der Systematik wird zur Konkretisierung einer Norm insbesondere deren Verortung im Gesetz sowie dessen innere Struktur betrachtet. Darüber hinaus können auch Bestimmungen aus anderen, verwandten Gesetzen berücksichtigt werden, die der Regelung des gleichen Ziels dienen.42 Dabei ist jedoch zu beachten, dass verschiedene Gesetze häufig über unterschiedliche Begriffsverständnisse verfügen;43 eine absolute »Einheit der Rechtsordnung« ist unmöglich.44 Gleichwohl ist der Wunsch nach einer Einheitlichkeit normativer Maßstäbe zulässig, zwecks Gleichbehandlung sogar geboten, sodass es zumindest einer »harmonisierende[n] Interpretation« bedarf.45 Die historische Auslegung fragt sodann nach der legislativen Absicht im Zeitpunkt der Erlassung der auszulegenden Norm.46 Sie kann daher auch Redaktionsversehen überwinden, wenn die konkrete Bestimmung ersichtlich mit dem legislativen Willen nicht zu vereinbaren ist.47 Von besonderer Bedeutung für die historische Auslegung sind die Gesetzesmaterialien.48 Dabei sind grundsätzlich im Rahmen einer genetischen Auslegung nur die Materialien des auszulegenden Gesetzes heranzuziehen.49 Wurde sodann eine Bestimmung aus dem Entwurf

36 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 6 Rn. 49; Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 6 Rn. 3; Schwimann/Kodek/

Posch, ABGB, 5. Aufl. 2018, § 6 Rn. 1; Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 6 Rn. 1.

37 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 7 Rn. 16; Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 6 Rn. 3 f. 38 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 6 Rn. 60; Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 6 Rn. 7. 39 Schwimann/Kodek/Posch, ABGB, 5. Aufl. 2018, § 6 Rn. 7, 20.

40 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 6 Rn. 64; Schwimann/Kodek/Posch, ABGB, 5. Aufl. 2018, § 6 Rn. 4; Koziol/Byd-

linski/Bollenberger, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 6 Rn. 3.

41 Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 6 Rn. 25.

42 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 6 Rn. 78, 81 ff.; Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 6 Rn. 10; Koziol/Bydlinski/

Bollenberger, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 6 Rn. 4.

43 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 6 Rn. 62. 44

Rüthers et al., Rechtstheorie, 12. Aufl. 2022, Rn. 744, 775; ähnlich Reimer, Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rn. 331. Einen anderen Eindruck erwecken jedoch die Ausführungen bei Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 6 Rn. 151. 45 Rüthers et al., Rechtstheorie, 12. Aufl. 2022, Rn. 744, 775. 46 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 6 Rn. 88 f.; Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 6 Rn. 14. 47 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 6 Rn. 104; Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 6 Rn. 16; Schwimann/Kodek/ Posch, ABGB, 5. Aufl. 2018, § 6 Rn. 29; Rüthers et al., Rechtstheorie, 12. Aufl. 2022, Rn. 735. 48 Reimer, Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rn. 350; Rüthers et al., Rechtstheorie, 12. Aufl. 2022, Rn. 720. Eingehend zu den Gesetzesmaterialien als Werkzeug historischer Auslegung Jabloner, Gesetzesmaterialien, in: Olechowski/Zeleny (Hrsg.), Methodenreinheit, 2013, S. 61, 64 ff. Auf die Volatilität legislativer Erwägungen verweisen Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 6 Rn. 99 f.; Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 6 Rn. 4. Zum Kontext des Nationalsozialismus s. Jabloner, JRP 2001, 34, 37. 49 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 6 Rn. 101.

27  A. Methode der Untersuchung

nicht in das Gesetz aufgenommen, ist indiziert, dass dies legislativ auch nicht gewollt war.50 Im Rahmen der historischen Auslegung kann auch die jüngere Fassung mit der älteren Fassung des Gesetzes verglichen werden.51 Wenn die Legislative im Zuge einer Novellierung die Anpassung des Wortlauts an einen Aspekt der etablierten Spruchpraxis unterlassen hat, aber ­andere entsprechende Modifikationen vorgenommen worden sind, kann dies auf der einen Seite ein Indiz dafür sein, dass die Legislative der Spruchpraxis ablehnend gegenübersteht. Auf der anderen Seite ist bei dieser Schlussfolgerung Vorsicht geboten, da das fehlende Tätigwerden der Legislative gerade im Falle einer vorherigen, öffentlichkeitswirksamen Diskussion auch als Billigung verstanden werden kann.52 Ausnahmsweise kann im Sinne einer dogmengeschichtlichen Auslegung auch auf Materialien anderer, älterer Gesetze rekurriert werden, sofern die Auslegung eines darauf aufbauenden Gesetzes den Rekurs erfordert.53 Dann wird etwa ein Blick auf die Überlegungen älterer Normen und deren Auswirkungen auf die heutige Regelung geworfen.54 Von der historischen Auslegung ist die teleologische Auslegung zu unterscheiden, die den mutmaßlichen Willen der Legislative für Probleme ermittelt, die ihr im Zeitpunkt der Erlassung des Gesetzes unbekannt waren. 55 Diese Auslegungsmethode ist besonders wichtig, wenn die Legislative den Anwendungsbereich eines Gesetzes bewusst offengehalten hat, damit auf neue Erkenntnisse auch ohne erneutes legislatives Tätigwerden reagiert werden kann.56 Ist die äußerste Wortlautgrenze erreicht, scheidet die direkte Anwendung durch Auslegung aus und bleibt nur noch die analoge Anwendung ihrer Rechtsfolge. Eine Analogie setzt eine planwidrige Regelungslücke bei vergleichbarer Interessenslage voraus. Eine planwidrige Lücke liegt vor, wenn das Gesetz mit Blick auf seinen Regelungszweck unvollständig ist und die Legislative nicht bewusst von einer Anordnung der Rechtsfolge für den ungeregelten Fall abgesehen hat.57 So kann ein Gesetz zwar zunächst als vollständig gelten, dann aber nachträglich als lückenhaft erkannt werden. Dies ist der Fall, wenn etwa die regulative Umgebung des Gesetzes so modifiziert worden ist, dass eine unvorhergesehene, dem bisherigen Normverständnis widersprechende Lage entstanden ist.58 Eine weitere Analogievoraussetzung ist die vergleichbare Interessenslage. Diese ist anzunehmen, wenn aufgrund der jeweils gesetzlich zum Ausdruck kommenden Wertung davon auszugehen ist, dass in den maßgeblichen Voraussetzungen eine Übereinstimmung des bereits geregelten und ungeregelten Falles besteht.59

50 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 6 Rn. 107; Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 6 Rn. 15. 51 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 6 Rn. 94; Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 6 Rn. 15.

52 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 6 Rn. 108 f.; Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 6 Rn. 17; Schwimann/Kodek/

Posch, ABGB, 5. Aufl. 2018, § 6 Rn. 17.

53 Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 6 Rn. 15.

54 Schwimann/Kodek/Posch, ABGB, 5. Aufl. 2018, § 6 Rn. 16.

55 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 6 Rn. 12; Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 6 Rn. 18; Schwimann/Kodek/

Posch, ABGB, 5. Aufl. 2018, § 7 Rn. 20; Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 7 Rn. 5; Reimer, Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rn. 357 ff. 56 Schwimann/Kodek/Posch, ABGB, 5. Aufl. 2018, § 6 Rn. 21, § 7 Rn. 5. 57 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 7 Rn. 21 f.; Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 7 Rn. 6 f.; Schwimann/Kodek/ Posch, ABGB, 5. Aufl. 2018, § 7 Rn. 2, 10 ff.; Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 7 Rn. 2. Kritisch zur Lückenfeststellung s. Rüthers, Auslegung, 8. Aufl. 2017, S. 190. 58 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 7 Rn. 23; Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 7 Rn. 9. 59 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 7 Rn. 21 f.; Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 7 Rn. 6 f.; Schwimann/Kodek/ Posch, ABGB, 5. Aufl. 2018, § 7 Rn. 2, 10 ff.; Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 7 Rn. 2.

28  § 3  Zur Methode und zum Gang der Untersuchung

Das Gegenstück zur Analogie bildet die teleologische Reduktion. Diese ist erforderlich, wenn eine Norm auf einen von ihrem Wortlaut umfassten Fall nicht angewendet werden soll, da eine An­wendung über den Zweck der Norm hinausgehen und eine ungerechtfertigte Gleichbehandlung begründen würde. Ein zu weit gefasstes Gesetz wird also zweckdienlich eingeschränkt.60 Aus sämtlichen methodisch gewonnenen Erkenntnissen ist zuletzt eine Gesamtwürdigung der zu konkretisierenden Norm zu entwickeln.61 Wie die Konturierung dieser Richtlinien der juristischen Methodenlehre illustriert, verfügt diese immer auch über eine rechtspolitische Funktion: Denn die Methoden bestimmen letztlich, in welchem Umfang die Rechtsanwendung Normen erweitern oder einschränken kann.62 Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Korrektur unzureichender Bestimmungen an und für sich nicht in den Kompetenzbereich der Judikative beziehungsweise der entscheidenden Stelle, sondern der Legislative fällt.63

B. Gang der Untersuchung Nach dieser kurzen Skizze des juristischen Methodenkanons ist zu unterstreichen, dass sich die vorliegende Arbeit nicht auf die »Kommentierung« des KRG beschränkt, zu der es dieser methodischen Ausführungen bedurfte. Das Destillat der Systematisierung ist vielmehr im Lichte der völkerrechtlichen Grundlagen zu im Nationalsozialismus entzogenen Kulturgütern zu bewerten, den Washingtoner Prinzipien64. Dabei wird kein Rechtsvergleich zwischen den Implementierungen der Prinzipien in den verschiedenen Unterzeichnerstaaten beabsichtigt. Vielmehr werden allenfalls im Rahmen einer Auslegungshilfe funktionale Parallelen zu vergleich­ baren Fällen aus anderen Jurisdiktionen gezogen.65 In die Bewertung der Empfehlungspraxis des Beirats wird mit einem Überblick über die Entziehung von Kulturgütern im Nationalsozialismus und über die der Untersuchung zugrundeliegenden Regelungen, namentlich die Washingtoner Prinzipien und das KRG, eingeführt (§ 4). Die sodann folgende Bewertung beruht stets auf demselben Aufbau: Zunächst erfolgt die »Kommentierung« eines Merkmals des KRG durch eine Erläuterung der Empfehlungspraxis des Beirats. Dieser Ausschnitt aus der Praxis ist anschließend an den Vorgaben der Washingtoner Prinzipien zu messen. Begonnen wird mit der »Kommentierung« des Verfahrens des KRG. In diesem Rahmen werden auch die beiden im Zuge des KRG eingerichteten Gremien erläutert, die Kommission für Provenienzforschung und der Kunstrückgabebeirat (§ 5). Den 60 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 7 Rn. 60 ff.; Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 7 Rn. 18; Koziol/Bydlinski/

Bollenberger, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 7 Rn. 5.

61 Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 6 Rn. 133; Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 6 Rn. 1. 62

Rüthers et al., Rechtstheorie, 12. Aufl. 2022, Rn. 431. Zum Kontext des Nationalsozialismus s. Luf, in: Davy et al. (Hrsg.), Nationalsozialismus, 1989, S. 18, 35 ff. 63 Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 7 Rn. 8; Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, Juli 2015, § 6 Rn. 120; ähnlich Luf, in: Davy et al. (Hrsg.), Nationalsozialismus, 1989, S. 18, 37. Zum Kontext des Nationalsozialismus s. Rüthers, Auslegung, 8. Aufl. 2017, S. 506 ff. 64 Washingtoner Prinzipien v. 03.12.1998, im englischen Original abrufbar unter: https://www.state.gov/washington-conference-principles-on-nazi-confiscated-art/; in deutscher Übersetzung abrufbar unter: https://www.kulturgutverluste.de/Webs/ DE/Stiftung/Grundlagen/Washingtoner-Prinzipien/Index.html. Passender wäre der Begriff »Washingtoner Richtlinien« (s. dazu Network of Restitution Commitees (Hrsg.), Newsletter 09/2022, S. 18, 19), doch wird in dieser Arbeit an der etablierten Terminologie festgehalten. 65 S. zur rechtsvergleichenden Auslegung nur Reimer, Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rn. 381 ff.

29  B. Gang der Untersuchung

verfahrenstechnischen Ausführungen folgt das Kernstück dieser Arbeit, die »Kommentierung« der materiellen Vorgaben des KRG. Sie beginnt mit der Untersuchung der allgemeinen Rückgabevoraussetzungen des KRG, konkret dem beweglichen Kulturgut sowie dem unmittelbaren Bundeseigentum (§ 6), bevor ausführlich die speziellen Voraussetzungen der in dieser Arbeit untersuchten Rückgabetatbestände erläutert werden. Zu diesen besonderen Voraussetzungen zählt erstens die Entziehung. In diesem Kontext wird auf den örtlichen und zeitlichen Umfang der nationalsozialistischen Herrschaft, die Eigentümer:innenstellung, die Verfolgung, den Verlust und schlussendlich den Kausalzusammenhang zwischen Verlust und nationalsozialistischer Herrschaft eingegangen (§ 7). Als spezielle Rückgabevoraussetzung gilt zweitens die Rechtmäßigkeit des Übergangs in Bundeseigentum. In deren Rahmen wird auch die Bedeutung des gutgläubigen Erwerbs erörtert (§ 8). Drittens werden die vom Beirat entwickelten, speziellen Ausschlussgründe einer Rückgabe aufgrund eines bestimmten Geschehens in der Nachkriegszeit erläutert (§ 9). Im Anschluss hieran wird zunächst die Begrenzung der Abhilfemaßnahmen des KRG auf »Restitution – keine Restitution« diskutiert. Darauf folgen Ausführungen zur Bestimmung der Begünstigten der Übereignung sowie zu etwaigen Verfügungsbeschränkungen von zur Rückgabe empfohlenen Kulturgütern (§ 10). Zuletzt wird, losgelöst von der Untersuchung einzelner Ausschnitte des KRG, in einer Gesamtschau gefragt, ob das KRG in seiner formellen Gestalt sowie in seiner materiellen Ausgestaltung durch die Empfehlungspraxis des Beirats den Anforderungen der Washingtoner Prinzipien entspricht. In diesem Rahmen wird sodann skizziert, wie die Erkenntnisse dieser Untersuchung berücksichtigt werden können, um im Falle einer gesetzlichen Implementierung der Washingtoner Prinzipien in Deutschland eine optimale Umsetzung zu gewährleisten (§ 11).

30  § 3  Zur Methode und zum Gang der Untersuchung

§ 4  Überblick über Historie und Rechtsgrundlagen

Bevor eine Bewertung der Empfehlungspraxis des Kunstrückgabebeirats im Lichte der Washingtoner Prinzipien vorgenommen werden kann, bedarf es eines kurzen Überblicks über den historischen Hintergrund der nationalsozialistischen Entziehungspolitik in Österreich sowie einer Einordnung der für die Bewertung maßgeblichen Rechtsgrundlagen, namentlich der Washingtoner Prinzipien und des Kunstrückgabegesetzes. Denn nur mit dieser Übersicht lassen sich viele der Wertungen der beiden Rechtsgrundlagen erklären. Somit ermöglicht erst diese Zusammenschau eine vertiefte, komparative Auseinandersetzung.

A. Historischer Überblick zur Entziehung von Kulturgütern Da diese Arbeit weder eine historische noch rechtshistorische Untersuchung darstellt, ist ihr nur ein äußerst kompakter historischer Überblick voranzustellen. Er dient allein dazu, die Erkenntnisse an späterer Stelle hinreichend kontextualisieren zu können. Dazu wird zunächst in gebotener Kürze auf den ›Anschluss‹ Österreichs und die nationalsozialistische Entziehungspolitik eingegangen, bevor die Nachkriegszeit in Österreich und ihre Gesetzgebung umfangreicher dargestellt werden.

I. Der ›Anschluss‹ Österreichs und die nationalsozialistische Entziehungspolitik Sowohl von deutscher als auch österreichischer Seite wurde bereits in den 1920–er Jahren in verschiedenen politischen Lagern der ›Anschluss‹ Österreichs an das Deutsche Reich als politische Zielvorstellung formuliert. Von österreichischer Seite war dies insbesondere durch die Reduzierung des Wirtschaftsraumes nach dem Ersten Weltkrieg motiviert. Jedoch arbeitete das Deutsche Reich erst mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft entschieden auf diesen ›Anschluss‹ hin, was durch die innenpolitische Entwicklung Österreichs zum autoritären Ständestaat ab 1933 erheblich begünstigt wurde. Der autoritäre Ständestaat entstand unter dem österreichischen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, nachdem er das Parlament, den Natio­ nalrat, ausschalten und durch ein Ermächtigungsgesetz regieren konnte. Seine nur über eine geringe Mehrheit verfügende Regierung erließ auf dieser gesetzlichen Grundlage infolge von Anschlägen und bürgerkriegsähnlichen Kämpfen Verbote von NSDAP sowie Kommunistischer Partei und Sozialdemokratischer Partei. Im Mai 1934 wurde der autoritäre Ständestaat schließ-

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lich in der österreichischen Verfassung niedergeschrieben. Zwar scheiterte einen Monat später ein Putschversuch der NSDAP, Dollfuß wurde jedoch dabei ermordet. 66 Sein Nachfolger Kurt Schuschnigg verpflichtete sich auf Drängen des Deutschen Reichs ab Sommer 1936 immer stärker zu einer Ausrichtung der österreichischen Politik an den Interessen des Deutschen Reichs. Dies mündete trotz kurzer, aber verspäteter Gegenwehr Schuschniggs im Frühjahr 1938 durch die Ankündigung einer Volksbefragung über die Unabhängigkeit Österreichs in dessen ›Anschluss‹ an das Deutsche Reich. Hitler gab am 11. März 1938 den Befehl zum Einmarsch in Österreich; zugleich wurde der österreichischen Armee befohlen, sich dem Einmarsch nicht zu widersetzen. Am Morgen des 12. März 1938 überschritt die Deutsche Wehrmacht die Grenze zu Österreich, wo sie von der Bevölkerung größtenteils mit Begeisterung empfangen wurde. Der vom Deutschen Reich bestimmte, neue Bundeskanzler Arthur Seyss-Inquart unterzeichnete am 13. März 1938 die formalrechtliche Besiegelung des ›An­ schluss‹.67 Die öffentliche Bestätigung erfolgte durch die Volksabstimmung vom 10. April 1938 mit 99,6 Prozent Zustimmung der Bevölkerung zum ›Anschluss‹, wobei die politische ­Opposition und die als ›Juden‹ definierten Personen nicht stimmberechtigt waren.68 Österreich wurde so zu einem ›Land des Deutschen Reichs‹, also einem Verwaltungsbezirk, erklärt, und seine Hoheitsrechte wurden auf das Deutsche Reich übertragen.69 Mit dem ›Anschluss‹ Österreichs begann auch die Entziehung von Kulturgütern sowie sämtlichen sonstigen Vermögenswerten insbesondere von als ›Juden‹ definierten sowie politisch oppositionellen Personen. Waren erstere von der Entziehung betroffen, handelte es sich oftmals um eine ›Arisierung‹, also den Übergang eines in Eigentum einer als ›Jude‹ definierten Person stehenden Vermögens an eine als ›arisch‹ definierte Person.70 Die ersten Wochen nach dem ›Anschluss‹ waren indes vor allem durch Plünderungen geprägt, denen dann durch neue nationalsozialistische Gesetze und Institutionen formell Einhalt geboten werden sollte. Zu diesen Institutionen zählte etwa die als Unternehmen organisierte ›Verwaltungsstelle für jüdisches Umzugsgut der Geheimen Staatspolizei (Vugesta)‹, die ab 1940 für die Verwaltung des von Geflüchteten zurückgelassenen Umzugsguts zuständig war. Sie war zwar privatrechtlich organisiert, veranlasste aber die Beschlagnahme durch die ›Gestapo‹ und verwertete die Objekte anschließend. Sie beschlagnahmte damit das Vermögen nicht selbst, sondern fungierte als Bindeglied zwischen ›Gestapo‹ und Speditionen.71 Neben den neuen, rechtlichen Zugriffsmöglichkeiten wurde aber auch geltendes Recht im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie zur Legalisierung der erwünschten Maßnahme ausgelegt.72 Dabei bediente sich das nationalsozialistische Regime unterschiedlicher Entziehungsmaßnahmen, deren Erläuterung an späterer Stelle bei den verschiedenen Verlustformen erfolgt.73 Vorab soll lediglich auf die historischen Umstände der kulturgutbezogenen Entziehungspolitik eingegangen werden. Besonderer Erwähnung bedarf in diesem Zusammenhang der ›Führervorbehalt‹. Dieser bezeichnete einen unveröffentlichten Erlass von Juni 1938/August 1939, wonach Hitler nach Beschlagnahme und Sicherstellung eines Kulturguts die Entscheidung 66

Angesichts der umfangreichen Literatur zum ›Anschluss‹ s. nur Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 68 ff. Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vom 13. März 1938, RGBl. I Nr. 21, S. 237–238. 68 Auch hier sei wieder nur verwiesen auf Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 68 ff. 69 Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 177. 70 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 188. 71 Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 120 ff.; Lütgenau et al., Dorotheum, 2006, S. 110 ff. 72 Jabloner, juridikum 2003, 19, 19 ff.; Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 89. 73 S. zu den verschiedenen Verlustformen unter § 7 F.II., S. 202. 67

32  § 4  Überblick über Historie und Rechtsgrundlagen

über dessen Verwendung persönlich treffen konnte. Hitler stand also eine Art Vorgriffsrecht auf die entzogenen Kulturgüter zu, die weitestgehend von seinem ›Sonderbeauftragten‹ für das von ihm geplante ›Führermuseum‹ in Linz ausgewählt wurden. Erst zweitrangig erfolgte die Verteilung an die einzelnen Museen oder die Einbringung in den Kunstmarkt.74 Der wichtigste Akteur auf dem österreichischen Kunstmarkt war das Wiener Auktionshaus Dorotheum, das dem nationalsozialistischen Regime seine Infrastruktur zur Verfügung stellte und von den Entziehungen erheblich profitierte.75 Auf staatlicher Seite war die Zusammenarbeit des nationalsozialistischen Regimes mit der bereits vor der nationalsozialistischen Herrschaft bestehenden Denkmalbehörde, der Zentralstelle für Denkmalschutz, ab November 1940 dann dem ›Institut für Denkmalpflege‹,76 als Drehscheibe insbesondere für eine Selektion von »national wertvollen« Kulturgütern von Bedeutung.77 In den fortgeschrittenen Kriegsjahren war das Institut zudem umfassend in die Bergung von Kulturgütern eingebunden.78 Der prominenteste Bergungsort – in Anbetracht der Menge hochwertiger und für das ›Führermuseum‹ bestimmter Kulturgüter – war das Salzbergwerk in Altaussee;79 allein dort befanden sich bei Kriegsende über 6.500 wertvolle Gemälde.80 Angesichts des sich bereits während des Krieges abzeichnenden, erheblichen Umfangs der Vermögensentziehungen gaben die Alliierten schon im Januar 1943 die so genannte »Londoner Deklaration«81 ab. Diese stellte jedoch bloß eine unverbindliche »Vorankündigung späterer Forderungen auf Restitution« dar, über völkerrechtliche Verbindlichkeit verfügte diese Erklärung nicht. Die Alliierten behielten sich darin das Recht vor, jede Vermögensübertragung innerhalb der vom Deutschen Reich und seinen Verbündeten besetzten und kontrollierten Gebiete für nichtig zu erklären.82 Wenige Monate später, im Oktober 1943, beschlossen die Alliierten zudem die so genannte »Moskauer Deklaration«83, ebenfalls bloß eine »politische Absichtserklärung unter Vorbehalt einer vertraglichen Regelung«84, die Österreich als »das erste freie Land, das der Hitlerschen Aggression zum Opfer gefallen ist«, bezeichnete. Demnach hatte Österreich während der nationalsozialistischen Herrschaft seine staatliche Souveränität verloren. Es sei also vom Deutschen Reich »okkupiert« gewesen.85 Damit trage es zugleich keine juristische Verantwortung 74

Frodl-Kraft, Erbe, 1997, S. 164 ff.; Brückler, in: ders. (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 13, Fn. 36; Loitfellner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 13, 15. Für einen Überblick über den ›Sonderauftrag Linz‹ s. Schwarz, Sonderauftrag, 2018, passim. 75 Zur Bedeutung des Dorotheums im Nationalsozialismus ausführlich Lütgenau et al., Dorotheum, 2006, passim. 76 Frodl-Kraft, Erbe, 1997, S. 260; Fürnsinn, Denkmalschutzrecht, 2002, S. 15 f.; Stelzl-Gallian, in: Blimlinger/Schödl (Hrsg.), (k)ein Ende, 2018, S. 79, 79 f. 77 Frodl-Kraft, Erbe, 1997, S. 164 ff.; Brückler, in: ders. (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 13, 21 f.; Loitfellner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 13, 16. 78 Frodl-Kraft, Erbe, 1997, S. 309 ff.; Loitfellner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 13, 16. Für einen Überblick über die Bergung s. Schölnberger/Loitfellner (Hrsg.), Bergung von Kulturgut im Nationalsozialismus, 2016, passim. 79 S. dazu ausführlich Schallmeiner, in: Schölnberger/Loitfellner (Hrsg.), Bergung, 2016, S. 104, 104 ff. 80 Lillie, Was einmal war, 2003, S. 13; Loitfellner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 13, 21. 81 Abgedruckt in deutscher Übersetzung bei Fiedler, in: FS Siehr, 2000, S. 197, 198 f. 82 Fiedler, in: FS Siehr, 2000, S. 197, 205 ff. 83 Abgedruckt in Karner/Tschubarjan (Hrsg.), Die Moskauer Deklaration 1943. »Österreich wieder herstellen«, 2015, S. 269. 84 Simma/Folz, Restitution, 2004, S. 83. 85 Nach der so genannten »Okkupationstheorie« wurde der ›Anschluss‹ Österreichs als unwirksame Annexion verstanden, wonach die Republik Österreich nach dem ›Anschluss‹ als Völkerrechtssubjekt weiterbestand, aber völkerrechtlich nicht handlungsfähig war, s. dazu ausführlich Simma/Folz, Restitution, 2004, S. 25 ff.; Sucharipa, in: Rathkolb (Hrsg.), Revisiting, 2018, S. 30, 33 ff.

33  A. Historischer Überblick zur Entziehung von Kulturgütern

für die in Österreich begangenen Verbrechen. Diese liege vielmehr allein bei der mit dem Deutschen Reich völkerrechtlich identischen Bundesrepublik Deutschland. Vollkommen unberücksichtigt blieb bei der daraus folgenden Rezeption Österreichs als »Opfer«,86 dass die Moskauer Deklaration zugleich ausdrücklich eine gewisse Verantwortung Österreichs statuierte: Demnach trage Österreich »für die Beteiligung am Kriege und auf Seiten Hitlerdeutschlands die Verantwortung […], der es nicht entgehen« könne. Indem dies aber mangels rechtlicher Konsequenzen keine weitere Beachtung fand, wurde mit der Moskauer Deklaration der Grundstein für die bis in die 1980–er Jahre aufrechterhaltene »Opfer-These« gelegt, die jegliche Verantwortung Österreichs für die nationalsozialistischen Verbrechen negierte.87

II. Der Umgang mit den Entziehungen in der Nachkriegszeit Die »Opfer-These« zieht sich wie ein roter Faden durch die österreichische Nachkriegszeit. Sie muss dementsprechend auch als die wesentliche Ursache für die nur zögerliche Auseinandersetzung Österreichs mit der nationalsozialistischen Entziehungspolitik sowie den Ausschluss von Entschädigungsansprüchen gegen den österreichischen Staat gelten. Schließlich kann eine solche Einstandspflicht nur für den schädigenden Staat bestehen, also nach der »Opfer-These« das Deutsche Reich, beziehungsweise die Bundesrepublik Deutschland als identisches Rechtssubjekt.88 Während somit Entschädigungsansprüche gegen die Republik Österreich per se ausgeschlossen wurden, wirkten die Alliierten umfassend auf Regelungen zur Naturalrestitution der in Österreich vorhandenen, entzogenen Vermögen hin.89 In diesem Zusammenhang wurde innerhalb der österreichischen Rechtswissenschaft und -praxis zunächst diskutiert, ob es dazu Sondergesetze zum allgemeinen Zivilrecht bedürfe.90 Dies wurde schließlich bejaht,91 was zu einer Reihe von bedeutsamen sondergesetzlichen Normierungen führte. Die unter ihnen auch für die heutige Restitutionspraxis bedeutsamen Regelungen und ihre Genese sollen an dieser Stelle kurz erläutert werden. Ungeachtet ihrer Unverbindlichkeit diente die Londoner Deklaration von Januar 1943 zumindest in der Außenwahrnehmung als Grundlage dieser sondergesetzlichen Regelungen,92 wobei die Rezeption der Deklaration im internationalen Vergleich in Österreich äußerst spät

86

So erreichte Österreich in den Verhandlungen zum Staatsvertrag die Streichung einer ähnlichen Passage aus der Präambel des Staatsvertrages, vgl. Bailer-Galanda, Entstehung, 2003, S. 381 f.; Thonke, Schatten, 2004, S. 50 ff.; Simma/Folz, Restitution, 2004, S. 98. 87 S. dazu ausführlich Simma/Folz, Restitution, 2004, S. 80 ff.; Bailer, in: Karner/Tschubarjan (Hrsg.), Moskauer Deklaration, 2015, S. 162, 162 ff.; Sucharipa, in: Rathkolb (Hrsg.), Revisiting, 2018, S. 30, 32 ff. 88 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 244, V. GP, in: Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 141; s. dazu ausführlich Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 164 f.; Bailer-Galanda, Entstehung, 2003, S. 105 f.; Simma/Folz, Restitution, 2004, S. 79 ff.; Barfuß, JBl 2010, 569, 569; Sucharipa, in: Rathkolb (Hrsg.), Revisiting, 2018, S. 30, 33 ff. 89 Oberhammer, NZ 2001, 39, 41; Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 241 ff.; Eizenstat, Justice, 2004, S. 281 ff. 90 Wortmeldungen Schäfer und Krauland bei der Ministerratssitzung am 22.02.1946, in: Knight, »Ich bin dafür…«, 2000, S. 92; Novak, JBl 1946, 276, 277 ff.; Loeb, ÖJZ 1946, 355, 355 ff.; vgl. Jabloner, juridikum 2003, 19, 20; Jungwirth, NS-Restitutionen, 2008, S. 17, 27. 91 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 91, V. GP, S. 47. 92 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 244, V. GP, in: Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 144; vgl. Bailer-Galanda, in: Goschler/Lillteicher (Hrsg.), »Arisierung«, 2002, S. 161, 169.

34  § 4  Überblick über Historie und Rechtsgrundlagen

stattfand.93 Der – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung beabsichtigte94 – erste Schritt zur gesetzlichen Umsetzung der Londoner Deklaration in Österreich erfolgte durch das Nichtig­ keitsgesetz von Mai 194695. Dessen Bestimmungen adaptierten aber nicht exakt den Wortlaut der Londoner Erklärung,96 sondern beschränkten sich vielmehr auf die Anerkennung des »Rechtsgedankens der Londoner Deklaration« durch eine gewisse Ähnlichkeit.97 Ein vertiefter Blick in die Entstehungsgeschichte des Gesetzes zeigt sodann, dass das überwiegende legislative Motiv entgegen der öffentlichen Wahrnehmung nicht die innenpolitische, gesetzliche Umsetzung der Londoner Deklaration war. Vielmehr war das NichtigkeitsG außenpolitisch motiviert: Es sollte einen Zugriff der Alliierten auf Vermögen des Deutschen Reichs verhindern, indem sich die Republik zumindest nach außen zu einer Rückabwicklung des sich in Österreich befindlichen, entzogenen Vermögens bereiterklärte.98 Das NichtigkeitsG war somit Ergebnis innen- und außenpolitischer Erwägungen und sah insbesondere selbst noch keine Grundlage für die Geltendmachung von Ansprüchen zur Vermögensrestitution vor, diese war nach § 2 NichtigkeitsG vielmehr ausdrücklich weiteren Bundesgesetzen vorbehalten.99 Als Ausführung dieser Nichtigkeitsankündigung wurden schließlich ab Sommer 1946 sieben Rückstellungsgesetze100 erlassen;101 das Dritte Rückstellungsgesetz102 stellte dabei infolge seines breiten Anwendungsbereichs das wichtigste Regelwerk dar.103 Die Rückstellungsgesetze sahen aus Gründen der Rechtssicherheit lediglich eine relative, nicht eine absolute Nichtigkeit vor, sodass eine Rückabwicklung der Entziehung nur bei erfolgreicher Anfechtung durch Geltendmachung des Rückstellungsanspruchs möglich war. Andernfalls blieben die aus der Entziehung resultierenden Eigentumsverhältnisse bei Ablauf der Anfechtungsfristen bestehen,104 die 93

Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 83, V. GP, S. 46; Wortmeldung Gruber bei der Ministerratssitzung am 22.02.1946, in: Knight, »Ich bin dafür…«, 2000, S. 95; Wortmeldung Brunner bei der 14. Sitzung des Nationalrates am 15.05.1946, Stenografische Protokolle des Nationalrats, V. GP, S. 190; vgl. Jungwirth, NS-Restitutionen, 2008, S. 17, 27. 94 Wortmeldung Brunner bei der 14. Sitzung des Nationalrates am 15.05.1946, Stenografische Protokolle des Nationalrats, V. GP, S. 192; Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 91; Klein, ÖJZ 1969, 57, 57; vgl. Bailer-Galanda, in: Goschler/Lillteicher (Hrsg.), »Arisierung«, 2002, S. 161, 169; Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 248 f. 95 Bundesgesetz über die Nichtigerklärung von Rechtsgeschäften und sonstigen Rechtshandlungen, die während der deutschen Besetzung Österreichs erfolgt sind, BGBl. Nr. 106/1946 (im Folgenden: NichtigkeitsG). 96 Entgegen der Forderung von Abgeordneten, s. Wortmeldung Gruber bei der Ministerratssitzung am 22.02.1946, in: Knight, »Ich bin dafür…«, 2000, S. 96. 97 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 91. 98 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 83, V. GP, S. 46; Wortmeldung Gruber bei der Ministerratssitzung am 22.02.1946, in: Knight, »Ich bin dafür…«, 2000, S. 95; Wortmeldung Brunner bei der 14. Sitzung des Nationalrates am 15.05.1946, Stenografische Protokolle des Nationalrats, V. GP, S. 190; Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 248 f.; BailerGalanda, Entstehung, 2003, S. 67 f. 99 S. zum Verhältnis zwischen dem NichtigkeitsG und den Rückstellungsgesetzen ausführlich unter § 7 A.I., S. 112. 100 Der Begriff der »Rückstellung« ist die österreichische Bezeichnung aus der Nachkriegszeit für Rückgabe und ist insbesondere auf das Bestreben Österreichs zurückzuführen, anders als die Bundesrepublik Deutschland nicht verantwortlich zu sein, dazu eindrücklich Bailer, Wiedergutmachung, 1993, S. 13 ff., 70 ff. Eine hervorragende Darstellung und Kritik der Rückstellungsgesetzgebung findet sich bei Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, passim. 101 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 92. 102 Bundesgesetz über die Nichtigkeit von Vermögensentziehungen, BGBl. Nr. 54/1947 (im Folgenden: 3. RStG). Die Nachkriegsgesetze sind zwar oftmals weiterhin Teil der Rechtsordnung, um aber sprachlich eine Unterscheidung zwischen Wertungen des Nachkriegsrechts und Wertungen späterer Rechtsgrundlagen zu erreichen, wird bei Ausführungen zum Nachkriegsrecht in der Regel das Präteritum als Tempus gewählt. 103 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 162; vgl. Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 54. 104 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 193; vgl. Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 138 f.; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 38 ff.; Jungwirth, NS-Restitutionen, 2008, S. 26 ff.

35  A. Historischer Überblick zur Entziehung von Kulturgütern

bis Juni 1954 regelmäßig, aber sehr unübersichtlich, verlängert wurden.105 Heute können die Rückstellungsgesetze somit nicht mehr als Anspruchsgrundlage dienen. Insgesamt fällt ihre Bewertung durchwachsen aus: Zumindest zu Beginn der Rückstellungsverfahren legte die Rechtsprechung106 die Gesetze durchaus rückstellungsfreundlich aus. In der späteren Spruchpraxis ist jedoch eine Tendenz hin zur Ablehnung von Ansprüchen zu beobachten.107 Das größte Hindernis bestand nichtsdestotrotz letztlich im Zugang zu den Rückstellungsverfahren, da die Rückstellungsgesetze zum einen keine Unterstützungsstruktur für die Anspruchstellenden vorsahen, sondern diese aus eigener Initiative und Mitteln tätig werden mussten; zum anderen war die Geltendmachung der Ansprüche infolge unterschiedlicher Zuständigkeiten äußerst kompliziert.108 Die Rückstellung von Kulturgütern stand dabei nur selten im Fokus der ­Anspruchstellenden, da Kulturgüter als bewegliches Vermögen im Vergleich zu unbeweglichem Vermögen deut­lich schwerer zu verorten und besonderen Beweisschwierigkeiten hinsichtlich des Eigentums und der Entziehung ausgesetzt waren. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Bestände, die nach dem Krieg von den Collecting Points der Alliierten in die treuhänderische Verwahrung des österreichischen Bundes109 gelangt waren und die nur teilweise zuvor entzogen worden waren. Diese Collecting Points dienten primär als zentrale Drehscheibe für eine erleichter­ te Zuordnung von in verschiedene Gebiete des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs transferierten Kulturgütern zu ihren Herkunftsstaaten. Sie führten daher grundsätzlich nicht selbst Restitutionen durch, sondern übergaben die Kulturgüter an die Staaten, in denen sie möglicherweise entzogen worden waren. So gelangten viele Kulturgüter nach einer rudimentären Prüfung ihres möglichen Herkunftsortes in der Nachkriegszeit sukzessive nach Österreich in die treuhänderische Verwahrung des Bundes.110 Diese treuhänderisch verwahrten Kulturgüter konnten somit zwar nach den Rückstellungsgesetzen beansprucht werden, infolge der relativen Nichtigkeit der Rückstellungsgesetze verblieben sie jedoch in der Verwahrung des Bundes, soweit sie nicht beansprucht wurden. Viele dieser sich in treuhänderischer Verwahrung des Bundes befindlichen Objekte wurden zurückgestellt, es blieb nichtsdestotrotz ein Großteil infolge der bereits erwähnten Schwierigkeiten unbeansprucht. Für sämtliche unbeanspruchten Vermögenswerte, also auch Kulturgüter, wurden nach Ablauf der Anfechtungsfristen der Rückstellungsgesetze – wenn auch nur unter dem Druck entsprechender völkerrechtlicher Verpflichtungen – unter der Bezeichnung »Sammelstel­len« Auffangorganisationen geschaffen. Diese waren bis Juni 1961 im eigenen Namen anstelle der ur-

105 Sailer nennt als Fristablauf Juli 1956, s. Sailer, in: Brückler (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 31, 34, während laut Graf die Frist im

Juni 1954 ablief, s. Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 438 ff.

106 Rückstellungsentscheidungen ohne Fundstellen sind unveröffentlichte Entscheidungen aus dem Österreichischen Staatsarchiv. 107 Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 249; Olechowski, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Die Republik, 2005, S. 67, 77. 108 S. dazu instruktiv Bailer-Galanda, in: Goschler/Lillteicher (Hrsg.), »Arisierung«, 2002, S. 161, 163.

109 Heute wird streng zwischen dem Bund als Gebietskörperschaft und der Republik als nach außen auftretendes Völkerrechts-

subjekt unterschieden. Die Bundesrepublik Österreich ist als Gesamtstaat nicht rechtsfähig, kann somit auch nicht Eigen­ tümerin von Vermögen sein. Allein der Bund als Gebietskörperschaft kann über Eigentum verfügen (Binder, Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 0742 f.), in der Nachkriegszeit wurde jedoch auch die Gebietskörperschaft als Republik Österreich bezeichnet (Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 176). In dieser Arbeit kann daher keine strenge Trennung von Bund und Bundesrepublik erfolgen. 110 Haupt, in: Brückler (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 53, 75; Lauterbach, Central Collecting Point, 2015, S. 9 ff., 151 ff.; Weidinger, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 71, 72 ff.

36  § 4  Überblick über Historie und Rechtsgrundlagen

sprünglichen Eigentümer:innen zur individuellen Geltendmachung von Rückstellungsansprüchen auf das bis dahin unbeanspruchte Vermögen gesetzlich berechtigt.111 Konnten sie Vermögen erfolgreich beanspruchen, mussten sie dieses zugunsten der Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes verwerten. Waren ihnen jedoch die eigentlichen Berechtigten bekannt, hatte sie diese zumindest darüber zu benachrichtigen, dass eine Beanspruchung des Vermögens möglich war.112 Kulturgüter wurden von den Sammelstellen indes nur in einem sehr geringen Umfang beansprucht, zum einen aufgrund der weiterhin schwierigen Beweislage und der geringen Wirtschaftlichkeit in der Verwertung,113 zum anderen mangels Kenntnis: Die Sammelstellen erfuhren nämlich erst nach Ende ihrer Tätigkeit vom tatsächlichen Umfang der sich in den staatlichen Einrichtungen befindlichen, entzogenen Kulturgüter.114 Die unbeanspruchten, vom österreichischen Bund treuhänderisch verwahrten Kulturgüter – ob entzogen oder nicht – schlugen dann in den 1960–er Jahren aufgrund notwendiger Räumungen der bestehenden Depots zwei unterschiedliche Wege ein:115 Entweder wurden sie, soweit es sich um wertvolle für das ›Führermuseum‹ bestimmte Kulturgüter handelte, einem staatlichen Museum zugewiesen, oder sie wurden in einen zentralen Bergungsort, die Kartause Mauerbach, verbracht. Die Zuweisungen an die staatlichen Museen erfolgten durch einen Ministerialerlass von Juni 1963, demzufolge das nach 1945 als Denkmalbehörde neu gegründete Bundesdenkmalamt ermächtigt wurde, »eine Anzahl von Kunstgegenständen, welche seinerzeit für das von Hitler geplante Linzer Kunstmuseum bestimmt waren und in nächster Zeit dem Bundesministerium für Unterricht für die zuständigen Sammlungen des Bundes ressortmäßig übergeben werden, bereits jetzt diesen Sammlungen in treuhänderische Verwahrung zu über­ geben«116. Mit Erlass von März 1965 verfügte dann dasselbe Ministerium, »daß sämtliche aus den Beständen des ›Linzer Kunstmuseums‹ stammenden Objekte, die szt. […] Sammlungen des Bundes in Verwahrung übergeben worden sind, nun definitiv in die Inventare aufzunehmen sind.«117 Soweit zu irgendeinem Zeitpunkt Bundeseigentum begründet wurde,118 können diese Kulturgüter aus dem Bestand des ›Führermuseums‹ Gegenstand einer Rückgabe nach dem KRG sein. Der Großteil der vom Bund treuhänderisch verwahrten, unbeanspruchten Kulturgüter wurde aber nicht den staatlichen Museen zugewiesen, sondern sukzessive in ein Depot in der Kartause Mauerbach verbracht. Insgesamt befanden sich in Mauerbach schließlich über 8.000 Kulturgüter, darunter knapp 1.000 Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen.119 Lange war unklar, 111

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Bailer-Galanda, Entstehung 2003, S. 420 f.; Simma/Folz, Restitution, 2004, S. 429 f. S. dazu ausführlich Sailer, in: Brückler (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 31, 31 ff.; Oberhammer, NZ 2001, 39, 41; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 400 ff.; Bailer-Galanda, Entstehung, 2003, S. 263 ff.; Simma/Folz, Restitution, 2004, S. 406 f.; Wladika, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 85, 85 ff. Sailer, in: Brückler (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 31, 38; Haslinger, in: Brückler (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 39, 40; Wladika, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 85, 89 ff. Brückler, Bergungsmaßnahmen, in: ders. (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 212, 254 f.; Wladika, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 85, 92 f. Brückler, Restitutionen, in: ders. (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 306, 366; Bailer-Galanda, Entstehung, 2003, S. 557 ff.; Caruso/ Schallmeier, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 99, 110 f. Archiv der Österreichischen Galerie Belvedere Zl. 702/1963. Archiv der Österreichischen Galerie Belvedere Zl. 466/1965. S. eingehend zum Eigentumserwerb der Bestände des ›Führermuseums‹ unter § 8 A.II., S. 257. Seidl-Hohenveldern, in: von Westphalen/Sandrock (Hrsg.), FS Trinkner, 1995, S. 51, 58 ff.; Brückler, Bergungsmaßnahmen, in: ders. (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 212, 256 ff.; Sailer, in: Brückler (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 31, 37 f.; Weidinger, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 71, 73 f.

37  A. Historischer Überblick zur Entziehung von Kulturgütern

wie mit diesen Kulturgütern zu verfahren ist. Erst im Juni 1969 wurde das Erste Kunst- und Kulturgutbereinigungsgesetz120 erlassen, das den ursprünglichen Eigentümer:innen eine erneute Geltendmachung der Ansprüche bis Dezember 1972 ermöglichte.121 Die erhoffte »Bereinigung« trat jedoch nicht ein, insgesamt wurden aufgrund von erneuten Zugangs- und Durchsetzungsschwierigkeiten bei der Geltendmachung unter 300 Objekte restituiert. Die restlichen knapp über 8.000 Kulturgüter gingen gegen eine Abschlagzahlung an die Sammelstellen in das Eigentum des Bundes über.122 Dem stand offenbar nicht entgegen, dass von staatlicher Seite noch bei der Übernahme von den Alliierten in die treuhänderische Verwahrung erklärt wurde, Österreich wolle insbesondere die unbeanspruchten Objekte nicht in Staatseigentum als Bereicherung der eigenen Sammlungen übernehmen.123 Die nachfolgenden Jahre waren von einer steten Diskussion über das Schicksal des weiterhin umfassenden – dann aber in Bundeseigentum stehenden – »Mauerbach-Bestandes« geprägt, die ihren Höhepunkt 1984 in einem kritischen US-amerikanischen Artikel fand.124 Infolge der internationalen Kritik wurde im Dezember 1985 das Zweite Kunst- und Kulturgutbereinigungsgesetz125 beschlossen. Danach konnten die ursprünglichen Eigentümer:innen und ihre Rechtsnachfolger:innen bis Ende September 1986 erneut Ansprüche auf die knapp 8.000 verbliebenen Kulturgüter geltend machen. Der Bund erklärte explizit, trotz der Abschlagszahlung keine Kulturgüter aus Mauerbach in seinem Besitz oder Eigentum belassen zu wollen. Aufgrund derselben Schwierigkeiten wie zuvor wurden indes wieder nur rund 100 Kulturgüter restituiert. Nach erneuter langwieriger Auseinandersetzung in Öffentlichkeit und Gesetzgebung wurden die übrigen, weiterhin unbeanspruchten Kulturgüter 1996 schließlich zugunsten der Geschädigten des Nationalsozialismus durch die Israelitische Kultusgemeinde Wien (IKG Wien) versteigert. Die in Mauerbach versteigerten und damit nicht mehr in Bundeseigentum stehenden Kulturgüter sind daher gerade nicht Gegenstand einer Rückgabe nach dem KRG und der nachfolgenden Untersuchung; es ist nicht bekannt, dass der Bund auf der »MauerbachVersteigerung« Kulturgüter (zurück)erworben hätte. Zunächst wurde die Auktion positiv wahrgenommen. Bald wurde jedoch auch diesbezüglich Kritik laut: Zwar seien die Kulturgüter nicht beansprucht worden, doch wäre durchaus eine Ermittlung der Berechtigten durch den Staat möglich gewesen, sodass durch die Versteigerung die Entziehung letztlich perpetuiert worden sei.126 Auch im zweiten gesetzlichen Anlauf konnte somit keine »Bereinigung« erreicht werden. Das KRG muss daher als für Kulturgüter bereits dritter gesetzlicher Versuch der »Bereinigung« in Österreich betrachtet werden, nachdem Mit120 Bundesgesetz über die Bereinigung der Eigentumsverhältnisse des im Gewahrsam des Bundesdenkmalamtes befindlichen 121

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Kunst- und Kulturgutes, BGBl. Nr. 294/1969 (im Folgenden: Erstes Kunst- und Kulturgutbereinigungsgesetz). Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 475 ff. Sailer, in: Brückler (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 31, 36; Haslinger, in: Brückler (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 39, 44; Bailer-Galanda, Entstehung, 2003, S. 557 ff.; Loitfellner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 13, 23; Fritscher, Kontroversen, 2012, S. 195 f.; Weidinger, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 71, 74; Wladika, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 85, 94. Brückler, Zentralkunstdepot, in: ders. (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 260, 295. Decker, Legacy, ARTnews 12/1984. Bundesgesetz über die Herausgabe und Verwertung ehemals herrenlosen Kunst- und Kulturgutes, das sich im Eigentum des Bundes befindet, BGBl. Nr. 2/1986 (im Folgenden: Zweites Kunst- und Kulturgutbereinigungsgesetz). Vgl. dazu Seidl-Hohenveldern, in: von Westphalen/Sandrock (Hrsg.), FS Trinkner, 1995, S. 51, 61 f.; Haslinger, in: Brückler (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 39, 51; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 480 ff.; Bailer-Galanda, Entstehung, 2003, S. 557 ff.; Fritscher, Kontroversen, 2012, S. 428 ff.; Weidinger, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 71, 75.

38  § 4  Überblick über Historie und Rechtsgrundlagen

te der 1980–er Jahre auch eine öffentliche Abkehr auf politischer Ebene von der »Opfer-These« begonnen hatte.127

B. Überblick über das Regelungsregime der Washingtoner Prinzipien Während die unmittelbare Nachkriegszeit vornehmlich von nationalen Restitutionsbestrebungen geprägt war, stehen die Washingtoner Prinzipien von 1998 stellvertretend für das Streben nach einem Paradigmenwechsel zu einem international harmonisierten Ansatz im Umgang mit im Nationalsozialismus entzogenen Kulturgütern.128 Zunächst soll daher der Weg zu diesem Pa­ radigmenwechsel nachgezeichnet werden. Dies wird mit kurzen Ausführungen zur Rechtsnatur sowie einer kursorischen inhaltlichen Erläuterung der Prinzipien ergänzt. Details zum Inhalt finden sich erst in der anschließenden Gegenüberstellung mit dem KRG.

I. Zur Genese der Washingtoner Prinzipien In den 1990–er Jahren rückten die Vermögensentziehungen im Nationalsozialismus nach mehreren Jahrzehnten erneut in den Fokus der Aufmerksamkeit.129 Die Konferenzen zu Holocaust Era Assets begannen zunächst mit Verhandlungen über Transaktionen entzogenen Goldes zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich, das in der Nachkriegszeit nicht restituiert worden war.130 Die Verhandlungen erfassten im weiteren Verlauf jedoch auch andere Vermögenskategorien, darunter die von den Washingtoner Prinzipien adressierten Kulturgüter. Angesichts der Einbettung in diese auf Vermögenswerte fokussierten Konferenzen lässt sich nicht leugnen, dass die Washingtoner Prinzipien maßgeblich durch die Absicht geprägt sind, vermögensrechtliche Kontinuitäten des Nationalsozialismus im Kulturbereich aufzuzeigen und für einzelne Vermögensgegenstände zu unterbrechen. Sie beabsichtigen daher keine unmittelbare Kompensation für die außerhalb von Vermögensverlusten liegenden, zahlreichen Rechtsverletzungen im Nationalsozialismus.131 Die Anerkennung dieser kann wohlgemerkt mittelbar erfolgen, und zwar indem das mit dem Kulturgut verbundene Familienschicksal dargestellt wird.132 So wird der von den Konferenzen angestoßenen Debatte durchaus zugesprochen, ein stärkeres Bewusstsein für und eine umfassende Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen und die Schicksale der Geschädigten geschaffen zu haben.133

127

S. dazu nur Uhl, ÖZP 2001, 19, 26 ff.; Wodak et al., Konstruktion, 2. Aufl. 2016, S. 146 ff.

128 Die Washingtoner Prinzipien beziehen sich mithin nicht auf entzogene Kulturgüter aus kolonialen Kontexten. Teils wird aber

129

130 131

132

133

ein interdisziplinärer Dialog vor dem Hintergrund der Prinzipien gefordert, s. Reichelt, in: Weller et al. (Hrsg.), Handel, 2020, S. 45, 58. S. dazu eindrücklich Nietzel, in: Brunner et al. (Hrsg.), Globalisierung, 2013, S. 149, 149 ff. Bazyler, Holocaust, 2003, S. 1 ff.; Eizenstat, Justice, 2004, S. 190 ff.; Thonke, Schatten, 2004, S. 118 ff. In diese Richtung auch Weller, in: FS Dreier, 2022, S. 525, 531 f. Kritisch zu dieser Ausrichtung Schönberger, Was heilt Kunst?, 2019, S. 224 f. Veraart, Beyond Property, SSRN-ID 3524852, 2019, S. 3; Winands, in: Saß et al. (Hrsg.), Provenienz, 2022, S.17, 18. Wiesel, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 13, 13 f.; Bronfman, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 73, 73; Vraalsen, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 79, 80; Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 722; Schnabel/Tatzkow, Nazi Looted Art, 2007, S. 193; Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 19, 20; Tisa Francini, in: Blimlinger/ Schödl (Hrsg.), (k)ein Ende, 2018, S. 63, 76; Campfens, AAL 2020, 1, 23 f.

39  B. Überblick über das Regelungsregime der Washingtoner Prinzipien

Als Initialzündung für die internationale Auseinandersetzung mit der speziellen Vermögens­ kategorie der Kulturgüter gilt die Beschlagnahme von zwei Gemälden des Wiener Sammlers Rudolf Leopold aufgrund ihrer »schwierigen Vergangenheit« 134 im Januar 1998 in New York.135 Infolge der anschließenden öffentlichen Diskussion trafen sich im Juni 1998 Personen internationaler Expertise, um länderübergreifende Lösungen für den Umgang mit entzogenen Kulturgütern zu entwickeln.136 Zu diesem Zeitpunkt war zum einen der Zugang zu Forschungseinrichtungen und Archiven äußerst begrenzt, zum anderen waren Verfahren vor den ordentlichen Gerichten regelmäßig zu zeit- und kostenintensiv für die Beteiligten. Auch mangelte es an Verantwortungsbewusstsein und Sensibilität bei den Institutionen und Staaten.137 Zudem bestanden länderübergreifende formalrechtliche Hindernisse für eine erfolgreiche Anspruchsgeltendmachung wie Verjährung, Beweisschwierigkeiten und gutgläubiger Erwerb. Die bis dato vorhandenen nationalen Lösungsansätze waren infolge der Verschiedenheit des anglo-amerikanischen Common Law und des kontinentaleuropäischen Civil Law uneinheitlich.138 Diese Schwierigkeiten galt es für einen internationalen und rechtssicheren Zugang zu überwinden oder zumindest abzumildern.139 Auf der Washington Conference on Holocaust-Era Assets vom 20. November bis 3. Dezember 1998 musste also im Einklang mit dem internationalen und jeweiligen nationalen Recht der kleinste gemeinsame Nenner unter den 44 teilnehmenden Staaten und 13 Nicht-Regierungs­ organisationen gefunden werden.140 Schnell wurde deutlich, dass ein »starker und andauernder Konsens«141 aufgrund der unterschiedlichen Rechtssysteme nur durch eine unverbindliche Vereinbarung zu erreichen war, deren Implementierung dann in die Hände der einzelnen Staaten zu legen war.142 Wie diese Unverbindlichkeit erreicht worden ist und welche konkreten Vorgaben nichtsdestotrotz für diese Implementierung idealiter vereinbart worden sind, ist Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen. 134 Dobrzynski, Collector, in: NYT Online v. 24.12.1997.

135 Vgl. nur Eizenstat, Justice, 2004, S. 191 ff.; Bindenagel, in: Saß et al. (Hrsg.), Provenienz, 2022, S. 79, 81 f.

136 Mikva, Opening Statement, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 23, 26 f.; Eizenstat,

Justice, 2004, S. 193 ff.; Crezelius, KUR 2007, 125, 126; Raschèr, KUR 2009, 75, 75; Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 3; Bindenagel, in: Saß et al. (Hrsg.), Provenienz, 2022, S. 79, 83. 137 Vgl. Raschèr, AJP/PJA 1999, 155, 155; von Trott zu Solz/Gielen, ZOV 2006, 256, 257 f.; Crezelius, KUR 2007, 125, 126 ff.; Raschèr, KUR 2009, 75, 75; Parzinger, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 49, 54. 138 Eizenstat, Justice, 2004, S. 198 ff.; Palmer, AAL 2007, 1, 12; Raschèr, KUR 2009, 75, 75 ff.; Unfried, Unrecht, 2014, S. 440 f.; Renold/Chechi, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 187, 187; Hartung, NJW 2020, 718, 721; Eggert, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 13, 29; Herman, Restitution, 2021, S. 58. 139 Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999; Eizenstat, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 68, 76; Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 736 f.; Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 11; Campfens, SAACLR 2018, 185, 215. 140 Mikva, Opening Statement, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 23, 26 f.; Eizenstat, Justice, 2004, S. 198 ff.; Nietzel, in: Brunner et al. (Hrsg.), Globalisierung, 2013, S. 149, 164 ff.; Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 19, 21. 141 Eizenstat, Concluding Statement, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 125, 127; Mikva, Concluding Statement in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 133, 134; Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 19, 20; Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 3. 142 Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999; Eizenstat, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 68, 72 f.; Raschèr, AJP/PJA 1999, 155, 157; Heuer, NJW 1999, 2558, 2559; Eizenstat, Justice, 2004, S. 198 ff.; Kreder, Brook. L. Rev. 2007, 155, 171; Raschèr, KUR 2009, 75, 75; Parzinger, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 49, 54; Nietzel, in: Brunner et al. (Hrsg.), Globalisierung, 2013, S. 149, 164; Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 19, 24; Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 68; Bindenagel, in: Saß et al. (Hrsg.), Provenienz, 2022, S. 79, 84.

40  § 4  Überblick über Historie und Rechtsgrundlagen

II. Zur Rechtsnatur und zum Gehalt der Washingtoner Prinzipien Die am 3. Dezember 1998 vereinbarten elf Washingtoner Prinzipien werden als soft law betrachtet.143 Regelungen des soft law sind zwar eine völkerrechtlich anerkannte Rechtsquelle, aufgrund der Unbestimmtheit ihrer normativen Aussagen und des fehlenden subjektiven Bindungswillen der Vertragsschließenden sind sie aber nicht durchsetzbar, sondern können lediglich als Auslegungshilfe herangezogen werden.144 Die Washingtoner Prinzipien können als soft law somit gerade nicht als verbindliche Rechtsgrundlage für Restitution oder Kompensation dienen.145 Sie wirken vielmehr lediglich als starke »moralische Antriebskraft und Orientierungs­ hilfe«146 der teilnehmenden Staaten für nationale Initiativen auf freiwilliger Basis. Ob das Ergebnis dieses »moralischen Antriebes« schließlich Gesetzesform annimmt oder auf bilateralen Regelungen zwischen den haltenden Institutionen oder Personen und Anspruchstellenden beruht, ist vollends den teilnehmenden Staaten überlassen.147 Entscheidend ist allein, dass die Washingtoner Prinzipien trotz ihrer Unverbindlichkeit als »narrative Normen« 148 auf die nationale Rechtsanwendung ausstrahlen. Sie schaffen somit lediglich einen »Fahrplan zur Erlangung eines gewissen Maßes an Gerechtigkeit«149. Auf der bereits im Jahre 2000 nachfolgenden Konferenz in Vilnius wurden kaum über die Washingtoner Prinzipien hinausgehende Regelungen formuliert.150 Neun Jahre später auf der Konferenz in Prag bestätigte sich zumindest die bis dahin etablierte Auslegung der Prinzipien. Die dort beschlossene Theresienstädter Erklärung151 bezweckte, die vorhandenen Richtlinien anhand der best practice der bisherigen Bestrebungen fortzuentwickeln und zu konkretisie-

143 Raschèr, AJP/PJA 1999, 155, 159; von Selle/Zschunke, osteuropa 2006, 383, 384 ff.; Raschèr, KUR 2009, 75, 75 ff.; Schönberger,

Was heilt Kunst?, 2019, S. 193 ff.; Eggert, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 13, 29; Hellwig, Entwicklung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 35, 35; Papier, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 79, 79; Stephany, KUR 2022, 60, 61; a.A. Crezelius, KUR 2007, 125, 128. 144 Vgl. Blutman, ICLQ 2010, 605, 605; Guzman/Meyer, J. Leg. Anal. 2010, 171, 172 ff.; Druzin, AsianJIL 2017, 361, 361. Zur Funktion von soft law als Auslegungshilfe in Österreich s. Rummel/Lukas/Kodek, ABGB, 2015, § 7 Rn. 84. 145 Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 722; Crezelius, KUR 2007, 125, 127 f.; Schnabel/ Tatzkow, Nazi Looted Art, 2007, S. 193 ff.; Jayme, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Zwielicht, 2007, S. 257, 259; Raschèr, KUR 2009, 75, 77; Mullery, CJCR 2010, 643, 658 ff.; Nietzel, in: Brunner et al. (Hrsg.), Globalisierung, 2013, S. 149, 164 ff. 146 Eizenstat, Concluding Statement, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 125, 127; Mikva, Concluding Statement in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 133, 137; Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999; Eizenstat, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 68, 72 f. 147 Vgl. Demarsin, Brooklyn J. Int. Law 2011, 117, 136 ff.; Martinek, in: FS Fiedler, 2011, S. 415, 417 ff.; Bindenagel, in: Weller et al. (Hrsg.), Handel, 2020, S. 59, 68; Schönberger, Was heilt Kunst?, 2019, S. 218. 148 Jayme, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Zwielicht, 2007, S. 257, 258 f. 149 Bindenagel, in: Weller et al. (Hrsg.), Handel, 2020, S. 59, 66. 150 Vilnius Declaration v. 05.10.2002, im englischen Original abrufbar unter: https://dfs.ny.gov/system/files/documents/2019/02/ vilnius-forum-declaration.pdf. 151 Theresienstädter Erklärung v. 30.06.2009, im englischen Original abrufbar unter: https://www.state.gov/prague-holocaust-era-assets-conference-terezin-declaration/; in deutscher Übersetzung abrufbar unter: https://www.kulturgutverluste.de/ Content/08_Downloads/DE/Grundlagen/Theresienstaedter-Erklaerung/Theresienstaedter-Erklaerung.pdf ?__blob=publicationFile&v=3. Da sich die Bezeichnung als »Theresienstädter Erklärung« im deutschen Sprachgebrauch als feststehender Begriff etabliert hat, wird hier auch die deutsche Bezeichnung der Stadt, »Theresienstadt«, anstelle ihrer korrekten, tschechischen Bezeichnung, »Terezín«, verwendet. Kritisch zu Verwendung deutscher Städtenahmen bereits Klemperer, LTI, 22. Aufl. 2007, S. 111; so auch Steinke, Antisemitismus, 2. Aufl. 2022, S. 44.

41  B. Überblick über das Regelungsregime der Washingtoner Prinzipien

ren.152 Obwohl bisher nur wenige Staaten Maßnahmen zur Implementierung der Washingtoner Prinzipien unternommen haben, lässt sich nicht leugnen, dass sie insbesondere in der öffentlichen Wahrnehmung die anerkannte Grundlage für den Umgang mit im Nationalsozialismus entzogenen Kulturgütern darstellen und diesem Themenkomplex zu internationaler Aufmerksamkeit verholfen haben. Der Inhalt der elf Washingtoner Prinzipien wird an dieser Stelle bloß skizziert, da die Auslegung der einzelnen Prinzipien in Theorie und Praxis erst in der Gegenüberstellung mit dem KRG dargestellt werden soll. Als Einstieg in den Inhalt der Washingtoner Prinzipien bedarf es einer kurzen Erläuterung ihrer Präambel und deren Bedeutung für die Konkretisierung der Prinzipien. Anschließend wird der Inhalt einzelner Prinzipien vorgezeichnet. 1. Der Gehalt der Präambel

Die Präambel erklärt, dass auf der einen Seite die Washingtoner Prinzipien ausdrücklich unter Anerkennung der unterschiedlichen Rechtssysteme vereinbart worden sind und die teilnehmenden Staaten »im Rahmen ihrer eigenen Rechtsvorschriften« handeln. Auch aus den Entstehungsmaterialien wird klar, dass es stets einer Berücksichtigung des nationalen Rechts bedarf.153 Auf der anderen Seite bilden die Washingtoner Prinzipien einen Gegenentwurf zu den länderspezifisch verfügbaren Lösungsansätzen: So sollen den Entstehungsmaterialien und der Rezeption der Prinzipien zufolge gerade bestimmte Vorschriften aus dem nationalen Recht nicht den Umgang mit entzogenen Kulturgütern begrenzen. Dazu zählen ausdrücklich die »für den regulären Handel konzipierten Regeln«.154 Aus diesen Erwägungen folgt: Das nationale Recht soll zwar anerkannt werden, gleichzeitig darf es einer Lösung im Sinne der Washingtoner Prinzipien aber auch nicht entgegenstehen. Aus dem Zusammenspiel dieser Aspekte lässt sich entnehmen, dass die Washingtoner Prinzipien das nationale Recht als Mindeststandard der Privilegierung der Geschädigten verstehen. Mit anderen Worten: Es kann und muss zwar oftmals zugunsten der Geschädigten von formalrechtlichen Wertungen abgewichen werden, eine Unterschreitung des ihnen vom nationalen Recht bereits zugeschriebenen Schutzes ist jedoch unzulässig. Die Washingtoner Prinzipien sollen schließlich nur bestehende rechtliche Hindernisse überwinden und keine neuen aufstellen – eine überschießende Umsetzung ist demgegenüber ausdrücklich gewünscht. Dem nationalen Recht kommt somit eine »Vermutung der sachlichen Angemessenheit«155 zu, doch kann und muss zuweilen mit entsprechender Begründung durch die Washingtoner Prinzipien von diesem überschießend abgewichen werden. Die Anerkennung des nationalen Rechts ist damit zwar notwendige, aber zumeist nicht hinreichende Bedingung einer »gerechten und fairen Lösung«. 152 Eizenstat, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 68, 79; Krejčová, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings

Terezin, o. J., S. 744, 745.

153 Amigues, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 565, 567.

154 Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999; vgl. Eizenstat, Opening Statement,

in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 39, 41; Bindenagel, in: Saß et al. (Hrsg.), Provenienz, 2022, S. 79, 84. In diese Richtung auch Raschèr, KUR 2009, 75, 77; O’Donnell, EJIL 2011, 49, 55; Schönberger, Was heilt Kunst?, 2019, S. 231 f.; Felix Uhlmann, Vortrag beim Bonner Gesprächskreis für Kunst- und Kulturgutschutzrecht: »Der Fall Curt Glaser – historische und rechtliche Herausforderungen für gerechte und faire Lösungen« am 07.07.202020 (unveröffentlicht). Kritisch: Hellwig, Entwicklung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 35, 46 ff. 155 So Jabloner, Jurist, 2004, S. 19, im Zusammenhang mit dem Rückstellungsrecht, diese Formulierung erscheint aber ebenso im Kontext der Washingtoner Prinzipien passend.

42  § 4  Überblick über Historie und Rechtsgrundlagen

Ähnliches gilt übrigens auch für Wertungen aus dem Nachkriegsrecht: Dieses war zunächst offensichtlich in weiten Teilen unzureichend;156 andernfalls würde heutzutage kein Bedarf für Vereinbarungen wie die der Washingtoner Prinzipien gesehen werden. Die Verwendung von Wertungen aus dem Nachkriegsrecht in heutigen Restitutionsfällen wird daher vereinzelt als »Transformation aus dem Raum des Historischen in die Gegenwart« kritisch betrachtet.157 Dahingehende Kritik scheint sich jedoch vornehmlich an einer unreflektierten Übernahme dieser Wertungen zu entzünden und verkennt das Interesse an einer harmonisierenden I­ nterpretation normativer Maßstäbe.158 Ebenso wenig wie das heutige nationale Recht kann das Nachkriegsrecht nämlich unter einen »Generalverdacht« der Ungerechtigkeit und Unfairness gestellt werden. Vielmehr ist es gleichermaßen als Mindestmaß der Privilegierung der Geschädigten zu verstehen, das zu deren Gunsten überschritten werden kann. Die Washingtoner Prinzipien be­ absichtigen nämlich, ähnlich wie beim nationalen Recht, auch hinsichtlich des Nachkriegsrechts keine Unterschreitung der von ihnen implizit als unzulänglich erachteten Regelungen. Entscheidend ist daher, dass der Rekurs auf das Nachkriegsrecht in reflektierter Adaption erfolgt. Sodann findet nämlich entgegen der Kritik keine »juristisch naiv[e] oder historisch törich­ t[e]«159, sondern vielmehr eine äußerst behutsame Anwendung der Wertungen aus dem Nachkriegsrecht statt. Diese schafft einen Ausgleich zwischen dem Wunsch nach einer harmonisierenden Interpretation normativer Maßstäbe und einer den zeitgenössischen Erkenntnisstand berücksichtigenden Adaption des Nachkriegsrecht. Durch eine solche, dogmatisch ausgereifte Einbettung des Nachkriegsrechts in die Implementierung der Washingtoner Prinzipien entstehen Entscheidungen gerade nicht in einem »normativen Niemandsland«160, sondern finden in dem Wechselspiel vergangener und gegenwärtiger Erwägungsgründe ein »normatives Zuhause«.161 Gleichwohl bedeutet diese Auslegung nicht ein grundsätzliches Überwiegen der ­Interessen der Geschädigten. Vielmehr sollen die Interessen der haltenden Institutionen und Personen nur nicht mehr Gewichtung erfahren, als ihnen das nationale Recht zuschreibt oder das Nachkriegsrecht gewährte.162 Den Washingtoner Prinzipien ist damit eine Abwägung der involvierten Interessen inhärent, selbst wenn diese – wie bei Anspruchstellenden im Regelfall – nicht durch das heutige nationale Recht geschützt sind. Eine solch implizite Abwägung erscheint mittlerweile als nahezu einhelliger Konsens,163 obwohl sie von Eizenstat entgegen seinen anfänglichen und aktuellen Äußerungen zwischenzeitlich als »komplett konträr zu den Washingtoner Prinzipien« kategorisch abgelehnt wurde.164 Wenngleich nur als soft law, verleihen die 156 S. zu den Gründen für die Unzulänglichkeit der Nachkriegsgesetze in Österreich unter § 4 A.II., S. 34. 157 Lahusen, KUR 2022, 91, 94.

158 Berking, KUR 2019, 179, 183; Lahusen, KUR 2022, 91, 94; differenzierter noch in Lahusen/Vietzen, in: Network of Restitution

Commitees (Hrsg.), Newsletter 05/2022, S. 5, 6 f.

159 Lahusen, KUR 2022, 91, 94.

160 Lahusen, KUR 2022, 91, 96. Entgegengesetzte Tendenz wohl in Lahusen/Vietzen, in: Network of Restitution Commitees

(Hrsg.), Newsletter 05/2022, S. 5, 6 f. In diese Richtung deuten auch Eizenstat, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 68, 70; von Trott zu Solz/ Gielen, ZOV 2006, 256, 258. Diese Differenzierung verkennen Lahusen, KUR 2022, 91, 94, und Berking, KUR 2019, 179, 183. 162 Weller, in: FS Kowalski, 2020, S. 680, 684 ff.; Weller/Scheller, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.), Newsletter 12/2021, S. 44, 46. 163 Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999; Eizenstat, Opening Statement, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 39, 41; Edelson, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 539, 541; Soltes, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 547, 550; Raschèr, AJP/PJA 1999, 155, 157; Mullery, CJCR 2010, 643, 665; Zeidler, Restitution, 2016, S. 144; Weller, in: FS Kowalski, 2020, S. 680, 684 ff.; Weller/Scheller, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.), Newsletter 12/2021, S. 44, 46. 164 Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 69. 161

43  B. Überblick über das Regelungsregime der Washingtoner Prinzipien

Washingtoner Prinzipien mithin in der Interessensabwägung einer Position rechtliches Gewicht, die bei bloßer Anwendung des nationalen Rechts schwerelos bliebe. Ein Blick in die einzelnen Prinzipien bestätigt diese Wertung. 2. Der Gehalt der einzelnen Prinzipien

Die Washingtoner Prinzipien lassen sich in sechs Untergruppen einteilen. Vier davon sind als verfahrensrechtliche Vorgaben zu verstehen; dementsprechend wenig aussagekräftig sind die inhaltlichen Richtlinien der Washingtoner Prinzipien. Zunächst werden die verfahrensrechtlichen Vorgaben skizziert: Die ersten drei Prinzipien regeln die Identifikation und Erforschung von entzogenen Kulturgütern. Dafür sollen Zugang zu den erforderlichen Materialien und Insti­ tutionen sowie Forschungspersonal und -mittel geschaffen werden. Im fünften und sechsten Prinzip finden sich Richtlinien für die Veröffentlichung der durch die Forschung gewonnenen Erkenntnisse. So sollen die als entzogen vermerkten Kulturgüter zur Ermittlung der ursprünglichen Eigentümer:innen oder deren Rechtsnachfolger:innen veröffentlicht und in einem zen­ tralen Register alle diesbezüglichen Informationen gesammelt werden. Das siebte Prinzip korrespondiert stark mit den ersten sechs Prinzipien, indem es die teilnehmenden Staaten dazu aufruft, die ursprünglichen Eigentümer:innen oder deren Rechtsnachfolger:innen zu einer Geltendmachung der Ansprüche zu ermutigen. Die vierte verfahrensrechtliche Untergruppe bilden dann das zehnte und elfte Prinzip: Nach dem elften Prinzip sollen die teilnehmenden Staaten nationale Verfahren zur Umsetzung der Washingtoner Prinzipien, auch durch alternative Streitbeilegungsmechanismen, schaffen. Ziel dieser alternativen Verfahren ist vornehmlich die Vermeidung kosten- und zeitintensiver Gerichtsverfahren, die nur zugunsten einer Partei ausgehen können.165 In diesen Verfahren sollen gemäß dem zehnten Prinzip ausgeglichen besetzte Gremien über die Identifikation der entzogenen Kulturgüter und die Klärung der Eigentumsfragen entscheiden. Die Washingtoner Prinzipien sehen somit spezialisierte Gremien sowohl für die Provenienzforschung als auch für die juristische Beurteilung vor. Für diese alternativen Verfahren gelten dieselben verfahrensrechtlichen Mindestanforderungen hinsichtlich der Begründungspflicht wie für juridische Verfahren, wenn das nationale Recht auch in prozessualer Hinsicht als Mindestmaß dienen soll. Die Entscheidungsgründe der jeweiligen Gremien müssen somit zumindest »rational einsichtig und nachvollziehbar« sein.166 Die wenigen inhaltlichen Vorgaben der Washingtoner Prinzipien finden sich eindeutig im achten und neunten Prinzip. Doch auch das vierte Prinzip zu den Beweisanforderungen lässt sich als eine materielle Richtlinie, wenn auch an der Grenze zum Verfahren, verstehen. Es fordert, beim Nachweis einer Entziehung zu berücksichtigen, dass »aufgrund der verstrichenen Zeit und der besonderen Umstände des Holocaust Lücken und Unklarheiten in der Frage der 165 Vgl. Eizenstat, Opening Statement, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 39, 41; Mikva,

Opening Statement, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 23, 26; Edelson, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 539, 541; Soltes, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 547, 549 f.; Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 725; Kreder, Brook. L. Rev. 2007, 155, 184; Mullery, CJCR 2010, 643, 664; Palmer, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 153, 154; Renold/Chechi, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 187, 189 f.; Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 19, 32; Bindenagel, in: Weller et al. (Hrsg.), Handel, 2020, S. 59, 66; Bindenagel, in: Saß et al. (Hrsg.), Provenienz, 2022, S. 79, 84 ff. 166 Statt aller Brüggemann, Begründungspflicht, 1971, S. 48.

44  § 4  Überblick über Historie und Rechtsgrundlagen

Herkunft unvermeidlich sind«. Dieses Prinzip enthält mithin ausdrücklich die Absicht der Washingtoner Prinzipien die im nationalen Recht geltenden Hindernisse in der Beweisführung bezüglich der Provenienz zu überwinden.167 Das achte und das neunte Prinzip bilden trotz ihres geringen Aussagegehalts das Kernstück der Washingtoner Prinzipien. Nachdem die Entziehung und die Berechtigung festgestellt worden sind, sollen diesen beiden Prinzipien zufolge »gerechte und faire Lösungen« für den Umgang mit dem Kulturgut gefunden werden, die jedoch je nach Umständen des Einzelfalles unterschiedlich ausfallen können.168 Das Proportionalitätsprinzip wird damit zum Leitgedanken einer jeden »gerechten und fairen Lösung«. Mangels in den Washingtoner Prinzipien selbst verorteter anderer Anhaltspunkte werden an dieser Stelle verschiedene abstrakte Erwägungen gesammelt, die bei der Entwicklung einer »gerechten und fairen Lösung« zu beachten sind und auch in die anschließende Bewertung des KRG im Lichte der Washingtoner Prinzipien einfließen müssen. Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist nicht eine umfassende Exegese der Begrifflichkeiten von »Gerechtigkeit« und »Fairness«, dazu ist auf andere Arbeiten zu verweisen.169 Auf der Konferenz wurde jedenfalls deutlich, dass es eine erhebliche Beschränkung oder Instabilität des Kunstmarkts durch die infolge der Washingtoner Prinzipien ergriffenen Maßnahmen zu verhindern gilt.170 Damit sind in die »gerechte und faire Lösung« auf der Ebene der Abhilfemaßnahmen ausdrücklich ökonomische Interessen einzubeziehen. Im Rahmen der Voraussetzungen müssen diese gleichwohl keine Berücksichtigung finden; zumindest sind diesbezüglich keine Anhaltspunkte in den Prinzipien und ihrer Rezeption ersichtlich. Durch die Unbestimmtheit der wenigen materiellen Vorgaben der Washingtoner Prinzipien ist zwar theoretisch eine äußerst diverse Auslegung der »gerechten und fairen Lösungen« möglich.171 Gleichwohl besteht in der Literatur absolute Einigkeit, dass neben dem Proportionalitätsprinzip die Berücksichtigung des Gleichheitssatzes als »rechtsimmanenten Bewertungs­ maßstab«172 essenziell für die Entwicklung einer »gerechten und fairen Lösung« im Einzelfall ist, da andernfalls Ungerechtigkeit perpetuiert würde. Bei der Anwendung der Washingtoner Prinzipien darf mithin ohne sachlichen Grund Gleiches nicht ungleich und Ungleiches nicht gleich behandelt werden.173 Wenngleich sich also nach dem Wortlaut der beiden Prinzipien die »gerechten und fairen Lösungen« allein auf die Abhilfemaßnahmen beziehen, da Eigentum und 167 Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999; vgl. Eizenstat, Opening State-

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ment, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 39, 41; Bindenagel, in: Saß et al. (Hrsg.), Provenienz, 2022, S. 79, 84. In diese Richtung auch Felix Uhlmann, Vortrag beim Bonner Gesprächskreis für Kunst- und Kulturgutschutzrecht: »Der Fall Curt Glaser – historische und rechtliche Herausforderungen für gerechte und faire Lösungen« am 07.07.202020 (unveröffentlicht). Der Wahl dieser Formulierung lag kein philosophisches Konzept zugrunde, s. Weller, in: FS Kowalski, 2020, S. 680, 684; vgl. auch Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 68. Ein instruktiver Einblick in verschiedene Perspektiven auf »gerechte und faire Lösungen« findet sich bei Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, passim (darunter besonders: Davidson, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 91, 92 f.). Eizenstat, Opening Statement, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 39, 41; Eizenstat, Concluding Statement, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 125, 127; Mikva, Concluding Statement in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 133, 137. Nicholas, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 819, 820; Campfens, AAL 2020, 1, 22 f. So treffend Jabloner, juridikum 2003, 19, 20; Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 29 f.; Jabloner, Jurist, 2004, S. 19. Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 732; König, Vortrag Restitution, 2004, S. 9; von Trott zu Solz/Gielen, ZOV 2006, 256, 257 f.; Heuberger, KUR 2007, 65, 66; Woodhead, AAL 2013, 167, 171; Palmer, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 153, 167 ff.; Zeidler, Restitution, 2016, S. 142; Campfens, AAL 2017, 315, 316; Campfens, SAACLR 2018, 185, 215; Weller, Bulletin Kunst & Recht 2018/2019, 34, 37; Weller/Dewey, KUR 2019, 170, 171; Weller, in: FS Kowalski, 2020, S. 680, 691 ff.

45  B. Überblick über das Regelungsregime der Washingtoner Prinzipien

Berechtigung bereits feststehen müssen, strahlt der Aufruf zu Gerechtigkeit und Fairness – insbesondere in der Gestalt des Gleichbehandlungsgebotes – auch in die Voraussetzungen der Lösung hinein. In materieller Hinsicht müssen für eine »gerechte und faire Lösung« mithin die Wertungen sowohl bei der Prüfung der Voraussetzungen als auch auf Ebene der Abhilfemaßnahmen so konsistent sind, dass das Ergebnis der juristischen Beurteilung prognostizierbar ist. Entscheidend ist also, dass trotz einzelfallgerechter Lösungen Rechtssicherheit entsteht.174 Die formellen und materiellen Vorgaben der Washingtoner Prinzipien strahlen daher trotz ihrer teilweisen Unbestimmtheit »als selbstverständliche Richtlinien und Grundwerte […] aus und sollten […] zu Minimalstandards positiven Rechts entwickelt werden.«175 Damit wird aber zugleich verdeutlicht, dass die Washingtoner Prinzipien als soft law den erhofften Paradigmenwechsel nur dann verkörpern, wenn sie anerkannt werden.

C. Überblick über das Regelungsregime des Kunstrückgabegesetzes Nur einen Tag nach der Vereinbarung der Washingtoner Prinzipien, am 4. Dezember 1998, trat das österreichische KRG in Kraft. Der zeitliche Zusammenhang von internationaler und nationaler österreichischer Entwicklung ist somit evident. Umso erstaunlicher ist daher, dass die Washingtoner Prinzipien weder in den Entstehungsmaterialien des KRG noch ein einziges Mal in den 382 Beschlüssen des Beirats Erwähnung finden. Lediglich in einem Restitutionsbericht 176 sowie in der Literatur177 und Presse178 werden sie vereinzelt genannt, dort jedoch zumeist ohne Bezugnahme auf das KRG. Es drängt sich somit die Frage auf, ob das KRG die Washingtoner Prinzipien ausreichend anerkennt und es, wie seit ihrer Konferenz 1998 regelmäßig behaup­ tet,179 berechtigterweise als Vorbild einer »gerechten und fairen Lösung« gilt. Als Vorbereitung dieser Untersuchung wird zunächst die Genese des KRG nachgezeichnet, die eng mit der Frage nach der anschließend erläuterten Rechtsnatur des KRG zusammenhängt. Denn die Rechtsnatur bedingt erst die Ausgestaltung der Restitution entzogener Kulturgüter, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen.

I. Zur Genese des Kunstrückgabegesetzes Der enge zeitliche Zusammenhang von Washingtoner Prinzipien und KRG ist darauf zurück­ zuführen, dass beiden Regelungen dasselbe Ereignis als Initialzündung diente, nämlich die 174 Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 729; Woodhead, AAL 2013, 167, 170 ff.; Weller, in: FS

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Kowalski, 2020, S. 680, 691 ff.; Weller/Scheller, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.), Newsletter 12/2021, S. 44, 51; Weller, in: FS Schack, 2022, S. 85, 96; Bowley, Tricky First Case, in: NYT Online v. 23.01.2022. Martinek, in: FS Fiedler, 2011, S. 415, 426 f. Restitutionsbericht 2001/2002, S. 7. Ortner, juridikum 2003, 34, 37; Blimlinger, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 17, 30; Schallmeier, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 34, 45; Zechner, Etablierung, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 70, 74 f.; Noll, Anwesenheit, 2011, S. 58 f.; Noll, in: Konrad (Hrsg.), Rechtsprobleme, 2015, S. 442, 448. Leopold, Schielen, in: Der Standard Online v. v. 18.05.2009; Kronsteiner, Kunstrückgabe, in: Der Standard Online v. 28.01.2020. Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999; Eizenstat, Opening Statement, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 39, 41; Eizenstat, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 68, 75; Restitutionsbericht 2002/2003, S. 8 ff.; Eizenstat, Justice, 2004, S. 195 ff.; Jabloner, in: FS Bailer, 2012, S. 257, 267; Burris, J. Marshall Rev. Intell. Prop. L. 2016, 394, 426; Bindenagel, in: Weller et al. (Hrsg.), Handel, 2020, S. 59, 71; Schönberger, Was heilt Kunst?, 2019, S. 193 ff.

46  § 4  Überblick über Historie und Rechtsgrundlagen

­ eschlagnahme der zwei Gemälde des Wiener Kunstsammlers Rudolf Leopold im Januar 1998 B in New York.180 Das KRG ist demnach nicht als Konsequenz, sondern in Begleitung der Wa­ shingtoner Prinzipien entstanden. Bereits einen Monat nach der Beschlagnahme der Gemälde ­Leopolds, im Februar 1998, wurde mit der systematischen Erforschung der Bestände aus den Bundesmuseen begonnen.181 Ein gutes halbes Jahr später, im September 1998, war schon eine Regierungsvorlage für das KRG als Grundlage für Restitutionen von Kulturgütern in Bundes­ eigentum erarbeitet. Dieses wurde im November 1998 vom Nationalrat mit Zustimmung aller Parteien beschlossen wurde und trat schließlich Anfang Dezember 1998 in Kraft.182 Im Parlament wurde das KRG damals also von einem breiten Konsens getragen,183 nur vereinzelt lassen sich den Protokollen geschichtsrevisionistische Andeutungen einiger Abgeordneter entnehmen.184 Im Zeitpunkt der Washingtoner Konferenz konnte die Bundesrepublik Österreich daher bereits eine verhältnismäßig umfassende, konsensuale Auseinandersetzung mit Entziehungen von Kulturgütern im Nationalsozialismus aufweisen.185 Das KRG bezweckt den Gesetzesmaterialien zufolge, dass die Kulturgüter aus dem Bundeseigentum »an die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger von Todes wegen zurückgegeben werden sollen.«186 Hinter der gesetzlichen Umsetzung dieses Auftrages steht jedoch keine ausgefeilte Systematik. Vielmehr versuchte die Legislative, die 1998 bereits bekannten Sachverhalte aus der historischen Forschung in die Form gesetzlicher Tatbestände zu gießen und möglichst allgemeine Vorschriften zu schaffen.187 Angesichts seiner geringen Systematik wird häufig behauptet, das KRG sei infolge des politischen Drucks übereilt entstanden und daher gewissermaßen »unvollständig«.188 Vielmehr war es jedoch eine bewusste rechtspoli­tische Entscheidung, das Gesetz zügig zu erlassen und in vielen Punkten sehr weit zu formulieren, um so eine für kurze Verfahren sowie methodische Ausdifferenzierung geeignete, gesetzliche Grundlage zu schaffen.189 Durch den weiten Wortlaut soll also auch eine andauernde erneute Befassung des Parlaments aufgrund neuer historischer Erkenntnisse und dem damit einhergehenden Anpassungsbedarf der Vorschriften vermieden werden.190 Darüber hinaus ist die vergleichsweise geringe Systematik auch auf den Umstand zurückzuführen, dass von einer schnellen Erledigung der wenigen Fälle ausgegangen worden war, der tatsächliche Umfang diese Annahme jedoch um ein Vielfaches über-

180 Restitutionsbericht 1998/1999, S. 1; Kommission für Provenienzforschung, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.),

Guide, 2019, S. 21, 22. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 4; vgl. auch Restitutionsbericht 2002/2003, S. 3. 182 Delegation Statement Austria, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 151, 153. 183 Wortmeldung Gehrer bei der 146. Sitzung des Nationalrats am 05.11.1998, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XX. GP, S. 55. 184 Indem etwa der Fokus der Repressionen auf Kriegsvertriebene gelegt wird, s. Wortmeldung Ofner bei der 146. Sitzung des Nationalrats am 05.11.1998, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XX. GP, S. 59. 185 So auch die österreichische Selbstwahrnehmung, s. Wortmeldung Khol bei der 146. Sitzung des Nationalrats am 05.11.1998, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XX. GP, S. 39; Wortmeldung Vindl bei der 646. Sitzung des Bundesrats am 19.11.1998, Stenografische Protokolle des Bundesrats, S. 60. 186 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 5. 187 Ebenda. 188 Unfried, Unrecht, 2014, S. 445; Noll, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 233, 242. 189 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 5; so auch Graf, NZ 2005, 321, 322; Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 220; Zechner, Etablierung, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 70, 72 f. 190 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 5. 181

47  C. Überblick über das Regelungsregime des Kunstrückgabegesetzes

stiegen hat.191 So wurde noch 2002 a­ ngenommen, dass die systematische Überprüfung der im Nationalsozialismus entzogenen Kulturgüter bis 2005 abgeschlossen sein würde.192 Die nachfolgenden Jahre haben indes das Gegenteil bewiesen: 2009 wurde das KRG novelliert und 2023 feiert es – ohne ein Ende in Sicht – 25–jähriges Jubiläum. Während im Gesetzgebungsverfahren 1998 noch ein parteiübergreifender Konsens herrschte, traten im Zuge der Novellierung des KRG 2009 vermehrt rechtspopulistische und nationalistische Stimmen auf, etwa indem ein Ende der sich »bis in alle Ewigkeiten« fortsetzenden Restitutionsmaßnahmen zum »Schutz unseres [des österreichischen] Kulturerbes«193 vor diesem »Enteignungs­ gesetz«194 gefordert wurde.195 Schließlich wurde die Novelle des KRG – wenn auch mit Gegenstimmen rechtspopulistischer Parteien – 2009 verabschiedet, um den Wortlaut des Gesetzes an die bisherige Auslegung in der Empfehlungspraxis des Beirats anzupassen und damit »mehr Rechtssicherheit in diesem sensiblen Gebiet« zu schaffen.196 Warum die Restitution von Kulturgütern in Bundeseigentum jedoch anstelle außerparlamentarischer Vereinbarungen überhaupt in die Form eines Parlamentsgesetzes gegossen wurde, ist aus den Gesetzesmaterialien nicht ersichtlich.

II. Zur Rechtsnatur des Kunstrückgabegesetzes Die Erläuterung der Rechtsnatur des KRG dient daher zugleich als Erklärung, warum in Österreich im Umgang mit entzogenen Kulturgütern der Weg über die Legislative eingeschlagen wurde. Die gesetzliche Ausgestaltung ist bei einem genaueren Blick in das österreichische Recht nämlich vordergründig auf formalrechtliche Gründe zurückzuführen, wenn auch von Seiten des Bundes teils anders insinuiert.197 Zum einen kann das allgemeine Zivilrecht in der Regel nicht als Rechtsgrundlage einer Restitution in Österreich dienen:198 Zwar verjährt der Vindikationsanspruch nach § 366 ABGB in Österreich anders als in Deutschland nicht.199 Zumeist liegt

191

Restitutionsbericht 2002/2003, S. 3.

192 Restitutionsbericht 2001/2002, S. 7.

193 Wortmeldung Jury bei der 40. Sitzung des Nationalrats am 21.10.2009, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XXIV. GP,

S. 92.

194 Wortmeldung Kurzmann bei der 58. Sitzung des Nationalrats am 07.05.2008, Stenografische Protokolle des Nationalrats,

XXIII. GP, S. 236.

195 Vgl. außerdem Äußerungen der Freiheitlichen Partei Österreichs zur Novelle, Parlamentskorrespondenz Nr. 934 vom

10.12.2008, Nr. 823 vom 07.10.2009 und Nr. 886 vom 21.10.2009.

196 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 2. In diese Richtung auch Wortmeldung Zinggl bei

der 40. Sitzung des Nationalrats am 21.10.2009, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XXIV. GP, S. 94; Wortmeldung Hladny bei der 777. Sitzung des Bundesrats am 05.11.2009, Stenografische Protokolle des Bundesrats, S. 107 ff.; Kulturbericht 2009, S. 224; Schmied, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 155, 160. Kritisch: Wortmeldung Unterreiner bei der 40. Sitzung des Nationalrats am 21.10.2009, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XXIV. GP, S. 89; Wortmeldung Jury bei der 40. Sitzung des Nationalrats am 21.10.2009, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XXIV. GP, S. 92. 197 Restitutionsbericht 1999/2000, S. 1; Restitutionsbericht 2002/2003, S. 8, 11. 198 Dazu eindrücklich Ortner, juridikum 2003, 34, 34 ff. Kritisch: Noll, Anwesenheit, 2011, S. 68, der eine Änderung des Zivilrechts fordert. 199 OGH, Urt. v. 20.04.2010 – 1O b 38/10k, JBl 2011, 45, 46 f.; Rummel/Lukas/Bydlinski, ABGB, Januar 2002, § 1479 Rn. 1; Klang/Vollmaier, ABGB, 3. Aufl. 2012, § 1459 Rn. 2, § 1479 Rn. 6 ff.; Koziol/Bydlinski/Bollenberger/Meissel, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 1459 Rn. 1; Koziol/Bydlinski/Bollenberger/Dehnl, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 1479 Rn. 1; Kletečka/Schauer/Ehgartner/ Winkler, ABGB, September 2021, § 1459 Rn. 2; Kletečka/Schauer/Ehgartner/Madl, ABGB, Januar 2022, § 1479 Rn. 3.

48  § 4  Überblick über Historie und Rechtsgrundlagen

aber bereits durch gutgläubigen Erwerb oder Ersitzung keine Vindikationslage mehr vor200 und die nach § 369 ABGB der klagenden Partei obliegende Beweisführung des Eigentumsrechts gelingt regelmäßig nicht201. Zum anderen – und dies ist der ausschlaggebende Grund im Kontext des KRG – ist für die Restitution von Kulturgütern in Bundeseigentum die gesetzliche Aus­gestaltung verfassungsrechtlich notwendig. Dies erscheint mit Blick auf § 354 ABGB zunächst verwunderlich: Hiernach können die Eigentümer:innen »mit der Substanz und den Nutzungen einer Sache nach Willkür […] schalten«; die Zulässigkeit von Verfügungen bedarf grundsätzlich also gerade keiner gesetzlichen Grundlage neben dem Eigentumsrecht. Obwohl es sich bei dieser Arbeit nicht um eine verfassungsrechtliche Abhandlung handelt, soll die Notwendigkeit einer gesetzlichen Ausgestaltung für Verfügungen des Bundes über sein Eigentum ausführlich erläutert werden. Sie bildet die Ursache vieler zunächst irritierender Wertungen des KRG und seiner teils umständlichen Anwendung besonders auf formeller, aber auch materieller Ebene. Verfügungen über einzelne Bestandteile des beweglichen Bundesvermögens zählen zur Privatwirtschaftsverwaltung202 des Bundes im Sinne des Art. 17 Bundes-Verfassungsgesetz203. Grundsätzlich gilt für die Privatwirtschaftsverwaltung des Bundes nicht das Legalitätsprinzip aus Art. 18 B-VG, das den Gesetzesvorbehalt für hoheitliches Handeln regelt.204 Privatwirtschaftliches Handeln des Bundes muss mithin in der Regel nicht auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen. Eigens für Dispositionen über Bundesvermögen als haushaltsrechtlich relevante Maßnahme ergibt sich jedoch ein Gesetzesvorbehalt aus Art. 42 Abs. 5 B-VG.205 Es bedarf also ausnahmsweise im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung einer Gesetzesform, und zwar unter anderem, wenn der Bund über sein Eigentum verfügt. Das spezielle Gesetz kann sodann die pau­ schale Regelung mehrerer Verfügungen beabsichtigen oder aber sich auch nur auf eine einzelne Verfügung beziehen.206 Nur Objekte unter einer bestimmten Wertgrenze benötigen keine über das Bundeshaushaltsgesetz207 hinausgehende, besondere gesetzliche Ermächtigung.208 Ausrei-

200 So auch Noll, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 233, 237; a.A. offenbar Schnabel/Tatzkow, Nazi

201

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Looted Art, 2007, S. 132. In diese Richtung wohl auch Toman, in: Kräutler/Frodl (Hrsg.), Museum, 2004, S. 243, 250, wobei unklar ist, was unter »Verjährungsbestimmungen« zu verstehen sein soll. OGH, Urt. v. 08.07.2003 – 5 Ob 128/03i, Zusammenfassung in ecolex 2004, 270, 270. An dieser Bezeichnung wird trotz der begrifflichen Kritik festgehalten, s. dazu Rill/Schäffer/Kahl, Bundesverfassungsrecht, 11. Lfg. 2013, Art. 17 B-VG Rn. 3; Binder, Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 0737. Bundesverfassungs-Gesetz, BGBl. Nr. 1/1930 (im Folgenden: B-VG). S. dazu allgemein Rill/Schäffer, Bundesverfassungsrecht, 1. Lfg. 2001, Art. 18 B-VG 37 ff.; Rill/Schäffer/Kahl, Bundesverfassungsrecht, 11. Lfg. 2013, Art. 17 B-VG Rn. 4; Mayer et al., Bundesverfassungsrecht, 11. Aufl. 2015, Rn. 293; Kahl/Moser/ Müller, Bundesverfassungsrecht, 2021, Art. 17 B-VG Rn. 8 f.; Grabenwarter/Frank, B-VG, 2020, Art. 18 Rn. 3; Muzak, Bundes-Verfassungsrecht, 6. Aufl. 2020, Art. 18 Rn. 5; Binder, Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 0757; Koller, in: Holoubek/ Potacs (Hrsg.), Handbuch, 2007, S. 273, 289 ff.; so nun jüngst auch im Kontext der Kulturgüterrestitution Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 9 f.; a.A. offenbar Blimlinger/Jabloner, die den Gesetzvorbehalt für Verfügungen über Bundesvermögen auf das Legalitätsprinzip zurückführen, s. Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, 208. Rill/Schäffer, Bundesverfassungsrecht, 6. Lfg. 2010, Art. 42 Abs. 5 B-VG Rn. 5; Mayer et al., Bundesverfassungsrecht, 11. Aufl. 2015, Rn. 545; Kahl/Rattinger/Konrad, Bundesverfassungsrecht, 2021, Art. 42 B-VG Rn. 29; Koller, in: Holoubek/Potacs (Hrsg.), Handbuch, 2007, S. 273, 293. Rill/Schäffer, Bundesverfassungsrecht, 6. Lfg. 2010, Art. 42 Abs. 5 B-VG Rn. 13; Rill/Schäffer, Bundesverfassungsrecht, 6. Lfg. 2010, Art. 51 B-VG Rn. 35. Bundesgesetz über die Führung des Bundeshaushaltes, BGBl. I Nr. 139/2009 (im Folgenden: Bundeshaushaltsgesetz). S. dazu allgemein Rill/Schäffer, Bundesverfassungsrecht, 6. Lfg. 2010, Art. 42 Abs. 5 B-VG Rn. 13; Koller, in: Holoubek/Potacs (Hrsg.), Handbuch, 2007, S. 273, 293; Jaeger, in: Holoubek/Potacs (Hrsg.), Handbuch, 2007, S. 681, 730.

49  C. Überblick über das Regelungsregime des Kunstrückgabegesetzes

chend für die andernfalls erforderliche gesetzliche Ausgestaltung ist nach Art. 42 Abs. 5 B-VG ein besonderes Gesetzgebungsverfahren für haushaltsrechtliche Regelungen, das kein Mitwirkungsrecht des Bundesrats vorsieht, sondern allein durch den Nationalrat bestimmt wird.209 Diese Gesetze ermächtigen in der Regel den:die Bundesfinanzminister:in zur Disposition über das Bundesvermögen.210 Sie dienen dann als »in Gesetzesform gekleidete Weisungen«211 allein der internen Determinierung der Verwaltung und geben ihr »einen Katalog von Verhal­ tenspflichten«212 an die Hand.213 Eine Bindungswirkung dieser Gesetze besteht gerade nicht. Sie kann erst in Verbindung mit privatrechtlichen Vorschriften entstehen, mithin durch Abschluss eines Vertrages zwischen den Begünstigten der Ermächtigung und dem Bund.214 Solche nur die »innere« Organisation der Privatwirtschaftsverwaltung bezweckenden Gesetze verringern dementsprechend auf der einen Seite die Flexibilität des privatwirtschaftlichen Verwaltungshandelns, wenngleich sie zumeist als nicht-hoheitlich wirkende Regelungen nur über eine geringe Determinierungsdichte verfügen. Auf der anderen Seite ermöglichen sie eine hohe Publizität, eine verstärkte Rechtssicherheit sowie durch ihre parlamentarische Entstehung auch eine gewisse rechtsstaatliche Verankerung.215 Ein solches formelles, aber mangels vollziehbarer Anordnung nicht materielles216 Gesetz ist diesen Ausführungen zufolge die hinreichende, aber zugleich auch verfassungsrechtlich notwendige Bedingung einer verwaltungsprivatrechtlichen Disposition über Bundesvermögen. Diese gesetzliche Organisation der Privatwirtschaftsverwaltung wird oftmals als »Selbstbindungsgesetz« bezeichnet.217 Dabei ist der Begriff in zweierlei Hinsicht als irreführend zu betrachten: Zum einen wird im deutschen Recht der Begriff der »Selbstbindung« verwendet, wenn die Verwaltung aufgrund von inneren Verwaltungsvorschriften durch den Gleichheitssatz an ihre bisherige Verwaltungspraxis gebunden ist. Eine in formelle Gesetzesform gegossene, innere Verwaltungsvorschrift als Grundlage dieser Bindung existiert im deutschen Recht jedoch gerade nicht.218 209 VfGH, Urt. v. 08.12.1967 – G 18/67, VfSlg 5636/1967; Koller, in: Holoubek/Potacs (Hrsg.), Handbuch, 2007, S. 273, 277;

Mayer et al., Bundesverfassungsrecht, 11. Aufl. 2015, Rn. 475, 511; Grabenwarter/Frank, B-VG, 2020, Art. 42 Rn. 8; Muzak, Bundes-Verfassungsrecht, 6. Aufl. 2020, Art. 42 Rn. 1 ff. 210 Rill/Schäffer, Bundesverfassungsrecht, 6. Lfg. 2010, Art. 51 B-VG Rn. 34. 211 VfGH, Urt. v. 28.09.2017 – G 31/2017, VfSlg 20199/2017; vgl. Rill/Schäffer/Kahl, Bundesverfassungsrecht, 11. Lfg. 2013, Art. 17 B-VG Rn. 5. 212 OGH, Urt. v. 23.05.2018 – 3 Ob 83/18d, JBl 2019, 34, 36. 213 Vgl. dazu Rill/Schäffer/Kahl, Bundesverfassungsrecht, 11. Lfg. 2013, Art. 17 B-VG Rn. 5; Muzak, Bundes-Verfassungsrecht, 6. Aufl. 2020, Art. 17 Rn. 2; Kahl/Moser/Müller, Bundesverfassungsrecht, 2021, Art. 17 B-VG Rn. 9; Wilhelm, ecolex 2003, 301, 301; Binder, Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 0765. 214 OGH, Urt. v. 24.02.2003 – 1 Ob 272/02k, JBl 2004, 384, 385 f.; VfGH, Urt. v. 28.09.2017 – G 31/2017–9, VfSlg 20199/2017; OGH, Urt. v. 23.05.2018 – 3 Ob 83/18d, JBl 2019, 34, 36; Rill, in: Korinek (Hrsg.), FS Wenger, 1983, S. 57, 66; Korinek/ Holoubek, Grundlagen, 1993, S. 108 f.; Jaeger, in: Holoubek/Potacs (Hrsg.), Handbuch, 2007, S. 681, 736 f. 215 OGH, Urt. v. 18.11.1987 – 9 Ob A 134/87, JBl 1989, 127, 128; OGH, Urt. v. 24.02.2003 – 1 Ob 272/02k, JBl 2004, 384, 385 f.; OGH, Urt. v. 27.08.2003 – 9 Ob 71/03m, RIS-Justiz; VfGH, Urt. v. 28.09.2017 – G 31/2017, VfSlg 20199/2017; OGH, Urt. v. 23.05.2018 – 3 Ob 83/18d, JBl 2019, 34, 36 f.; Rill/Schäffer/Kahl, Bundesverfassungsrecht 11. Lfg. 2013, Art. 17 B-VG Rn. 9; Muzak, Bundes-Verfassungsrecht, 6. Aufl. 2020, Art. 17 Rn. 2; Binder, Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 0768; Wenger, in: Bös/Weber (Hrsg.), FS Korinek, 1972, S. 189, 206 ff.; Rill, in: Korinek (Hrsg.), FS Wenger, 1983, S. 57, 58 f.; Korinek/Holoubek, Grundlagen, 1993, S. 105 ff. 216 Koller, in: Holoubek/Potacs (Hrsg.), Handbuch, 2007, S. 273, 293. 217 S. dazu allgemein Mayer et al., Bundesverfassungsrecht, 11. Aufl. 2015, Rn. 293; Grabenwarter/Frank, B-VG, 2020, Art. 18 Rn. 3; Muzak, Bundes-Verfassungsrecht, 6. Aufl. 2020, Art. 18 Rn. 5; Binder, Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 0757; Koller, in: Holoubek/Potacs (Hrsg.), Handbuch, 2007, S. 273, 289 ff. 218 Vgl. Wenger, in: Bös/Weber (Hrsg.), FS Korinek, 1972, S. 189, 191.

50  § 4  Überblick über Historie und Rechtsgrundlagen

Zum anderen ist die Bezeichnung insoweit irreführend, als sie suggeriert, das Gesetz begründe für die privatwirtschaftlich handelnde Gebietskörperschaft219, hier den Bund, nach außen wirkende verbindliche Handlungspflichten. Daher wird gelegentlich auch der passende Begriff des »Statutargesetzes« für diese gesetzliche Festlegung von organschaftlichen »Statuten« gebraucht.220 In dieser Arbeit wird jedoch weiterhin der Begriff »Selbstbindungs­gesetz« verwendet, da er auch in der Rechtsprechung zur Beschreibung dieser Gesetze genutzt wird. 221 Das KRG ist als ein Selbstbindungsgesetz einzuordnen, wenngleich es sich nicht selbst als solches bezeichnet. Die Einordnung folgt aber zum einen aus dem Wortlaut des KRG, das in § 1 den:die Bundesfinanzminister:in222 zur unentgeltlichen Übereignung der Kulturgüter ermächtigt.223 Ein Anspruch auf Übereignung besteht zudem gerade nicht, wie § 2 Abs. 2 S. 2 KRG ausdrücklich normiert und auch höchstrichterlich bestätigt wurde.224 Zum anderen ergibt sich die Natur des KRG als Selbstbindungsgesetz aus den Gesetzesmaterialien: Diese bezeichnen das KRG als »haushaltsrechtliche Ermächtigung«225 und nennen die nach überwiegender Ansicht maßgebliche Kompetenzgrundlage226 für Selbstbindungsgesetze als Teil der Privatwirtschaftsverwaltung, Art. 17 B-VG.227 Zuletzt spricht auch die, bereits im Rahmen der Genese angesprochene und legislativ beabsichtigte, geringe Determinierungsdichte des KRG für eine Einordnung als Selbstbin219 Gebietskörperschaften wie der Bund, die Länder oder die Gemeinden, sind für einen konkretes Staatsgebiet zuständig und

bedienen sich zur Erledigung ihrer Aufgaben verschiedener Institutionen, s. https://www.oesterreich.gv.at/lexicon/G/ Seite.991120.html. 220 Vgl. Wenger, in: Bös/Weber (Hrsg.), FS Korinek, 1972, S. 189, 196; Laurer, in: Korinek (Hrsg.), FS Wenger, 1983, S. 109, 110; Korinek/Holoubek, Grundlagen, 1993, S. 105 f. 221 Vgl. bloß OGH, Urt. v. 18.11.1987 – 9 Ob A 134/87, JBl 1989, 127, 128; OGH, Urt. v. 24.02.2003 – 1 Ob 272/02k, JBl 2004, 384, 385 f.; OGH, Urt. v. 27.08.2003 – 9 Ob 71/03m, RIS-Justiz; VfGH, Urt. v. 28.09.2017 – G 31/2017, VfSlg 20199/2017; OGH, Urt. v. 23.05.2018 – 3 Ob 83/18d, JBl 2019, 34, 36 f. 222 Dem Wortlaut des KRG lässt sich nicht eindeutig entnehmen, welche:r Minister:in als zuständig erachtet wird. Denn § 1 Abs. 1 KRG ermächtigt ausschließlich den:die Finanzminister:in zur Übereignung, während § 2 Abs. 1 KRG den:die für die jeweils betroffenen Institutionen zuständige Minister:in ermächtigt. Formell betrachtet liegt also regelmäßig eine Parallelzuständigkeit zweier Minister:innen für die Übereignung vor. 223 Die Legislative hätte somit auch für jedes einzelne zu restituierende Kulturgut ein Gesetz erlassen können (so etwa in Frankreich, s. dazu von Lintig, KUR 2022, 2, 2 ff.), hat sich aber – vermutlich aus naheliegenden Gründen der Praktikabilität – für einen allgemeineren Ansatz mit weiten Tatbeständen entschieden. 224 VfGH, Entscheidung v. 30.06.2000 – B 422/00, VfSlg 15893/2000; OLG Wien, Entscheidung v. 08.10.2007 – 14 R 83/07i, abrufbar unter: http://www.bslaw.com/altmann/Zuckerkandl/Decisions/Urteil.pdf. Anders auf kommunaler Ebene der Stadt Wien, wo ein Anspruch nicht ausdrücklich ausgeschlossen wird und die Stadt Wien zur Rückgabe »verpflichtet« wird, s. Wladika, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 263, 266. 225 Teils wird das KRG auch als »haushaltsrechtliches Ermächtigungsgesetz« bezeichnet, s. Beschl. zu Rudolf Bittmann v. 18.08.2000, S. 4; ähnlich Wortmeldung Kier bei der 146. Sitzung des Nationalrats am 05.11.1998, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XX. GP, S. 65; Wladika, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 263, 266. Die Bezeichnung findet sich auch allgemein bei Gesetzen nach Art 42 Abs. 5 B-VG, s. Rill/Schäffer, Bundesverfassungsrecht, 6. Lfg. 2010, Art. 51 B-VG Rn. 36; Mayer et al., Bundesverfassungsrecht, 11. Aufl. 2015, Rn. 511. Von diesem Begriff wird in dieser Arbeit aufgrund der historischen Assoziation mit dem so genannten ›Ermächtigungsgesetz‹ von 1933 (Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933, RGBl. I Nr. 25, S. 141) abgesehen. 226 S. dazu allgemein VfGH, Urt. v. 25.02.1999 – V 89/97, VfSlg 15430/1999; Rill/Schäffer, Bundesverfassungsrecht, 1. Lfg. 2001, Art. 18 B-VG Rn. 40; Rill/Schäffer/Kahl, Bundesverfassungsrecht, 11. Lfg. 2013, Art. 17 B-VG Rn. 5 f.; Mayer et al., Bundesverfassungsrecht, 11. Aufl. 2015, Rn. 293; Muzak, Bundes-Verfassungsrecht, 6. Aufl. 2020, Art. 17 Rn. 2; Wenger, in: Bös/ Weber (Hrsg.), FS Korinek, 1972, S. 189, 190; Rill, in: Korinek (Hrsg.), FS Wenger, 1983, S. 57, 65 ff.; Korinek/Holoubek, Grundlagen, 1993, S. 106 f.; Binder, Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 0769 f.; Jaeger, in: Holoubek/Potacs (Hrsg.), Handbuch, 2007, S. 681, 693; dies jedoch jüngst zum KRG ablehnend Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 10. 227 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 4 f. In den Erläuterungen zur Novelle wird die Kompetenzgrundlage nicht mehr genannt, obwohl die fehlende Nennung der Kompetenzgrundlage im Zuge der Novellierung kritisiert wurde, vgl. Stellungnahme Bundeskanzleramt zum Ministerialentwurf vom 28.08.2008, 7/SN-214/ME XXIII. GP, S. 7 f.

51  C. Überblick über das Regelungsregime des Kunstrückgabegesetzes

dungsgesetz. Denn diese müssen mangels Geltung des Legalitätsprinzips aus Art. 18 B-VG nicht denselben Bestimmtheitsanforderungen wie die hoheitliche Verwaltung genügen. Die Einordnung des KRG als der Privatwirtschaftsverwaltung des Bundes dienendes Selbstbindungsgesetz ist daher sowohl in Rechtsprechung als auch Literatur anerkannt.228 Die Auswirkungen der Rechtsnatur auf konkrete Problemstellungen und diesbezügliche Kritik229 werden im weiteren Verlauf der Arbeit an den einschlägigen Stellen umfassend erläutert. Durch diese privatwirtschaftliche Ausgestaltung der Übereignung hat die österreichische Legislative mithin nicht viel mehr als eine gesetzliche Einkleidung einer verwaltungsinternen Weisung zur Restitution von Kulturgütern geschaffen, was vergleichbaren Gesetzen bereits den polemischen Vorwurf der »normative[n] Impotenz« einbrachte.230 Daran vermag auch die Tatsache nichts zu ändern, dass der Bund nach außen hin die gesetzliche Ausgestaltung mit der Sicherung von Publizität und Transparenz begründete.231 Die Gesetzesform der Kunstrestitution in Österreich ist letztlich auf zwingende verfassungsrechtliche Gründe zurückzuführen. Eine besondere Anerkennung »moralischer Verantwortung« ist mit dieser Form nicht zwangsläufig verbunden, wenngleich dies im Gesetzgebungsverfahren verlautbart wurde.232 Vielmehr hat die österreichische Legislative innerhalb der gesetzlichen Möglichkeiten mit einem Selbstbindungsgesetz die in ihrer Anwendung flexibelste und unverbindlichste Regelungsmöglichkeit gewählt. Diese Tatsache hat ausdrücklich nicht notwendigerweise zur Konsequenz, dass die Regelung der Kulturgüterrestitution in Österreich durch das KRG unzureichend ist oder die Verantwortlichen das Gesetz nicht bestmöglich im Sinne einer möglichst geringen Willkür anwenden. Die Feststellung und Ausarbeitung dieser Tatsache soll lediglich der Mär ein Ende setzen, Österreich hätte sich bereits formell durch die Wahl der gesetzlichen Ausgestaltung aus der Perspektive der Rechtsdurchsetzung stärker zur Kulturgüterrestitution bekannt als andere Staaten. Bei allein rechtspolitischer Betrachtung liegt in der parlamentarisch legitimierten Gesetzesform aber immerhin ein klares Bekenntnis zur Anerkennung der Restitutionsbestrebungen. Dies schlägt sich auch in dem Umstand nieder, dass der Beirat in insgesamt 317 der 382 Beschlüsse – und damit in etwa 83 Prozent der von ihm untersuchten Fälle – eine Rückgabe zumindest eines Teils der untersuchten Kulturgüter empfiehlt.

228 VfGH, Entscheidung v. 30.06.2000 – B 422/00, VfSlg 15893/2000; BVwG, Urt. v. 10.12.2014 – W195 2014039–1, RIS-

Justiz; VwGH, Beschluss v. 20.05.2015 – Ra 2015/10/0044, RIS-Justiz; BVwG, Beschluss v. 14.07.2015 – W195 2106849–1, RIS-Justiz; Muzak, Bundes-Verfassungsrecht, 6. Aufl. 2020, Art. 17 Rn. 8; Blimlinger, in: Reininghaus (Hrsg.), Recollecting, 2009, S. 67, 72; Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, 208; Rabl, JBl 2010, 681, 682; Brunbauer-Ilić, Kulturgut, 2019, S. 233; jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 9 ff. 229 Vgl. nur Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 2 f.; Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 211 ff.; Noll, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 233, 241 ff.; Schnabel/Tatzkow, Nazi Looted Art, 2007, S. 132 f.; Ploil, Parnass 03/2009, 10, 10 ff.; Rabl, JBl 2010, 681, 682; Noll, Anwesenheit, 2011, S. 26 ff.; Noll, in: Konrad (Hrsg.), Rechtsprobleme, 2015, S. 442, 448; Lillie, Feindliche Gewalten, 2017, S. 143; Cwitkovits/Huda, in: Redmond-Cooper (Hrsg.), Museums, 2021, S. 134, 138. 230 Wilhelm, ecolex 2003, 301, 301. 231 Restitutionsbericht 1999/2000, S. 1; Restitutionsbericht 2002/2003, S. 8, 11. 232 Wortmeldung Morak bei der 58. Sitzung des Nationalrats am 07.05.2008, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XXIII. GP, S. 236.

52  § 4  Überblick über Historie und Rechtsgrundlagen

§ 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

Insbesondere das Verfahren des KRG ist sehr stark durch seine Rechtsnatur als Selbstbindungsgesetz geprägt.233 Auf diese besondere Gesetzesform ist aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Privatwirtschaftsverwaltung das für hoheitliches Verwaltungshandeln bestimmte Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG) nicht anwendbar.234 Der Bundesverwaltung steht die Ausgestaltung des Rückgabeverfahrens damit weitestgehend frei.235 Das KRG selbst stellt kaum konkrete Verfahrensgrundsätze auf, diese werden vielmehr größtenteils in der Praxis entwickelt.236 Nichtsdestotrotz lässt sich seinen Vorschriften eine Mehrstufigkeit des Verfahrens unter der Beteiligung eigens zum Zwecke der Kunstrückgabe eingerichteter Gremien und jeweils zuständiger Bundesministerien entnehmen. Vorab ist ausdrücklich anzumerken, dass die Untersuchung in dieser Arbeit nicht den Bruch mit der Konstruktion des KRG als Selbstbindungsgesetz bezwecken kann und soll.237 Die damit verbundenen verwaltungsrechtlichen Ausführungen würden den Umfang der Arbeit überschreiten, wenngleich die Konstruktion als Selbstbindungsgesetz für viele verfahrensrechtliche Kritikpunkte verantwortlich ist. Die Kritik im Lichte der Washingtoner Prinzipien sucht daher nach »gerechten und fairen Lösungen« des Verfahrens, die sich im Rahmen der Konstruktion als Selbstbindungsgesetz umsetzen lassen. Dabei ist stets zu berücksichtigen, dass Verfahren »die hinter einer gesetzgeberischen Entscheidung stehenden normativen Wertungen am konkreten Fall« veranschaulichen und in den gesellschaftlichen Diskurs einbrin­ gen,238 also maßgeblich für die Gesamtwahrnehmung der Praxis als »gerechte und faire Lösung« sind.

233 S. zur Einordnung des KRG als Selbstbindungsgesetz unter § 4 C.II., S. 48.

234 BVwG, Urt. v. 10.12.2014 – W195 2014039–1, RIS-Justiz; VwGH, Beschluss v. 20.05.2015 – Ra 2015/10/0044, RIS-Justiz;

235

236

237

238

Binder-Krieglstein, Restitution, in: David Online 52/2002; Blimlinger, in: Reininghaus (Hrsg.), Recollecting, 2009, S. 67, 72; Graf, NZ 2020, 7, 14. Dass die Entscheidung für eine Restitution auf Grundlage des KRG vom Beirat in einem Beschluss als »Verwaltungsakt« bezeichnet wird (Beschl. zu Josef Blauhorn v. 29.06.2012, S. 11), muss daher als einmalige Fehlbezeichnung betrachtet oder untechnisch verstanden werden. Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 214; Zechner, Eingreiftruppe, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 230, 238; Rabl, JBl 2010, 681, 682. Kritisch dazu: Woodhead, AAL 2013, 167, 180; Oost, Int. J. Cult. Prop. 2021, 1, 4. Wie so oft gefordert, vgl. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 1, 3; Ploil, Parnass 03/2009, 10, 10 f.; Noll, Anwesenheit, 2011, S. 32, 66 f.; Cwitkovits/Huda, in: Redmond-Cooper (Hrsg.), Museums, 2021, S. 134, 138. Schönberger, Was heilt Kunst?, 2019, S. 214.

53 

A. Die besonderen Gremien des Kunstrückgabegesetzes Vor der konkreten Erläuterung des Verfahrensablaufes nach dem KRG werden im Folgenden zunächst die für die Restitution nach dem KRG eigens geschaffenen Gremien vorgestellt und an den Vorgaben der Washingtoner Prinzipien gemessen. Dabei handelt es sich um die Kommission für Provenienzforschung und den Kunstrückgabebeirat. Tätigkeit und Struktur der beiden Gremien werden sowohl im KRG selbst, das ausdrücklich der »Festlegung der Zuständigkeiten für die Abwicklung der Rückgaben«239 dienen soll, als auch in der gemäß § 3 Abs. 8 KRG beschlossenen, nicht öffentlichen240 Geschäftsordnung241 des Beirats konkretisiert. Diese bezweckt eine verstärkte Kooperation der beteiligten Gremien sowie eine verbesserte Strukturie­ rung ihrer jeweiligen Aufgaben.242

I. Die Kommission für Provenienzforschung Die Kommission für Provenienzforschung wurde bereits im Februar 1998 vom Bund zur systematischen Provenienzforschung in den Bundesmuseen eingesetzt. Trotz ihrer frühen Einrichtung wurde sie – anders als der Kunstrückgabebeirat – zunächst nicht als am Verfahren beteiligtes Gremium im KRG a.F. verankert, da mit einer schnellen Erledigung der Provenienzforschung gerechnet wurde.243 Gleichwohl wurde von einem »impliziten Hervorleuchten« des Auftrages zur Provenienzforschung auch im KRG a.F. ausgegangen.244 Erst seit der Novelle 2009 findet die Kommission in § 4a KRG aufgrund »ihrer bedeutenden Stellung im Rückgabe­ geschehen«245 ausdrücklich Erwähnung. Derzeit ist sie beim Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport246 angegliedert247 und wird ausschließlich in dessen Auftrag, also nicht im Auftrag des jeweiligen Museums, tätig. Die Kommission wurde 1998 eingerichtet, »um die in der Zeit zwischen 1938 und 1945 erworbenen Kunst- und Kulturgegenstände sowie die Restitutionen nach dem Zweiten Weltkrieg systematisch zu katalogisieren, um alle Fragen über die Besitzverhältnisse während der Zeit der NS-Herrschaft und der unmittelbaren Nachkriegszeit aufzuklären.«248 Seit der Novelle verfügt sie gemäß ihrer Normierung in § 4a KRG insbesondere über drei Aufgabenbereiche: die Ausarbeitung von Dossiers über die Provenienz der aus den Bundesmuseen stammenden Kulturgüter für den Beirat (Nr. 1), die zu diesem Zwecke erfolgende historische Erforschung der 239 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 3.

240 Die Verfasserin dankt dem Büro der Kommission für Provenienzforschung für die freundliche Bereitstellung der Geschäfts-

ordnung.

241 Geschäftsordnung des auf Grund § 3 Kunstrückgabegesetz eingerichteten Kunstrückgabebeirates v. 25.09.2020, genehmigt

vom Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport am 13.11.2020, Zl. 2020–0.618.625.

242 Kulturbericht 2008, S. 215.

243 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 3; BVwG, Entscheidung v. 16.10.2017 – W128

2110815–1, RIS-Justiz.

244 Restitutionsbericht 2002/2003, S. 8.

245 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 4; Kulturbericht 2009, S. 224.

246 Immer entsprechend der Bezeichnung des Bundesministeriums im geltenden Bundesministeriengesetz, BGBl. Nr. 76/1986.

247 Dies wurde vor der Verankerung der Kommission im KRG in der Geschäftsordnung des Beirats geregelt, Beilagen Stenogra-

fische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 4.

248 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 4; Restitutionsbericht 1998/1999, S. 1. ­Richtigerweise

müsste es »Fragen über Besitz- und Eigentumsverhältnisse« heißen, da sie vornehmlich die Eigentumsverhältnisse aufklären soll, ähnlich auch Zechner, Etablierung, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 70, 73.

54  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

betreffenden Sachverhalte (Nr. 2) sowie die Sammlung, Bearbeitung und Aktualisierung ihrer Ergebnisse (Nr. 3).249 Sie ist demzufolge insbesondere für die Erforschung der Provenienz der für eine Restitution in Betracht kommenden Gegenstände zuständig.250 Anders als noch im ersten Restitutionsbericht angegeben, ist sie spätestens seit der Novelle ausdrücklich nicht dafür zuständig, »den Rechtstitel der Republik Österreich an diesen Gegenständen zu überprü­ fen«251 – dies ist als juristische Frage Aufgabe des Kunstrückgabebeirats. Die Kommission verfügt über eine administrative Leitung sowie seit 2008 über eine wissenschaftliche Koordination.252 Das im Bundesdenkmalamt eingerichtete Büro der Kommission für Provenienzforschung unterstützt die Leitung sowie die einzelnen Mitglieder der ­Kommission als Kontakt- und Koordinierungsstelle. Die dortige Einrichtung wurde mehr aus historischen und pragmatischen denn strukturellen Gründen gewählt, da die Denkmalbehörde sowohl für die Vermögensverluste im Nationalsozialismus als auch für die Restitutionen in der Zweiten Republik als Drehscheibe diente. Sie verfügt daher über die wichtigsten historischen Quellen.253 Hauptsächlich ist das Büro als Anlaufstelle für Anfragen und Auskunftsbegehren von potenziellen Begünstigten tätig und verwaltet die von diesen zur Verfügung gestellten Dokumente. Damit soll dem Auskunftsbedürfnis der potenziellen Begünstigten und dem Auftrag des KRG besonders Rechnung getragen werden.254 Anders als für den Beirat sieht das KRG keine Bestimmungen über die Besetzung der Kommission vor. Die Mitglieder der Kommission stammen aus den für die Provenienzforschung relevanten Disziplinen, vornehmlich aus der Geschichte, Kunstgeschichte, Rechtswissenschaft und Informatik.255 Insgesamt basiert die Organisation der Kommission für Provenienzforschung auf einer sehr heterogenen Praxis, deren Harmonisierung in den letzten Jahren durch einen Übergang von Werk- und Honorarverträgen zu unbefristeten Festanstellungen angestrebt wurde.256 Die einzelnen Mitglieder werden über einen Kollektivvertrag vom für das jeweilige Museum zuständigen Bundesministerium257 in die Institution entsandt,258 sodass in jeder Einrich-

249 Anders als von Abgeordneten des Nationalrates 2008 gefordert (Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350,

XXIV. GP, S. 2), normiert § 4a KRG keine Verpflichtung des Bundes zur Provenienzforschung, sondern regelt lediglich die Aufgabenbereiche der Kommission. 250 S. zu den einzelnen Aufgaben BVwG, Entscheidung v. 16.10.2017 – W128 2110815–1, RIS-Justiz; Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 4; Ministerialentwurf der Novelle, 214/ME XXIII. GP, S. 4; Restitutionsbericht 2002/2003, S. 3; Restitutionsbericht 2003/2004, S. 8 f.; Kulturbericht 2008, S. 215 ff.; Kulturbericht 2011, S. 274; Kunst- und Kulturbericht 2016, S. 186. 251 Restitutionsbericht 1998/1999, S. 1. 252 Vgl. Restitutionsbericht 2002/2003, S. 3; Restitutionsbericht 2003/2004, S. 8 f.; Kulturbericht 2008, S. 215 ff.; Kulturbericht 2011, S. 274; Kunst- und Kulturbericht 2016, S. 186. 253 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 3; Restitutionsbericht 2002/2003, S. 3; Restitutions­ bericht 2003/2004, S. 8 f. 254 Webseite des Büros der Kommission für Provenienzforschung: https://provenienzforschung.gv.at/kommission/buero-der-­ kommission/. 255 So Caruso et al., in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 52, 67. 256 Restitutionsbericht 2002/2003, S. 8; Kulturbericht 2010, S. 262. 257 Dies ist in den meisten Fällen das Kulturministerium, andernfalls das Verteidigungsministerium für das Heeresgeschichtliche Museum, das Wirtschaftsministerium für das Bundesmobiliendepot (s. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 5), das Land- und Umweltwirtschaftsministerium für die Bundesgartenverwaltung (s. Beschl. zu Ernst Kronfeld v. 29.09.2011) sowie das Wissenschaftsministerium für die Akademie der bildenden Künste (s. Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 15.05.2023, S. 1) [Bezeichnungen vereinfacht]. 258 Löscher, im Gespräch mit Uchtmann, »Alles Wesentliche […] sichergestellt und in das Kunsthistorische Museum verbracht«, Februar 2021, abrufbar unter: https://youtu.be/ZgW6Zvf6YA8.

55  A. Die besonderen Gremien des Kunstrückgabegesetzes

tung Ansprechpersonen zur Verfügung stehen.259 Trotz der institutionellen Einbindung in die Museen haben die Mitglieder der Kommission »bei ihrer Tätigkeit objektiv und ausgewogen zu recherchieren, ohne dabei in die Rolle einer Vertretung von Interessen, seien es jene der Republik Österreich oder jene der Restitutionswerber, zu verfallen.«260 Dies soll durch die Trennung von Dienst- und Fachaufsicht gesichert werden: Während die Dienstaufsicht dem jeweili­ gen Museum obliegt, erfolgt die Fachaufsicht durch die Leitung der Kommission, um die Unabhängigkeit ihrer eigenen Mitglieder zu gewährleisten. Arbeitspläne kommen daher auch nicht vom jeweiligen Bundesmuseum, sondern vom zuständigen Bundesministerium, um eine inhaltliche Beeinflussung durch das Museum zu verhindern.261 Somit wird eine größtmögliche Unabhängigkeit der Kommission und ihrer Mitglieder vom jeweiligen Museum angestrebt, ihre Nähe zum Staat als Arbeitgeber ist jedoch unübersehbar.

II. Der Kunstrückgabebeirat Der Kunstrückgabebeirat ist bereits seit der alten Fassung des KRG von 1998 in § 3 verankert.262 Dem Beirat kommt seinem Namen entsprechend formell nur eine verwaltungsinterne, beratende Funktion und keine finale Entscheidungskompetenz zu. Diese liegt aufgrund der Selbstbindungskonstruktion des Gesetzes bei dem:der zuständigen Bundesminister:in.263 Die Empfehlung des Beirats stellt also lediglich eine unverbindliche Verhaltensempfehlung, vergleichbar mit einem verwaltungsinternen Gutachten, dar.264 Als Konsequenz dieses internen Charakters sind die Sitzungen des Beirats der Geschäftsordnung zufolge nicht öffentlich; selbst ausgewählte Beobachtende sind nicht zugelassen.265 Jährlich sollen vier Sitzungen des Beirats stattfinden.266 Dem Wortlaut des § 3 Abs. 1 KRG zufolge berät der Beirat den:die Bundesminis­ter:in »bei der Feststellung jener Personen, denen Gegenstände gemäß § 1 zu übereignen sind«.267 Jedoch untersucht der Beirat in seinen Empfehlungen im Gegensatz dazu gerade nicht, wem die Gegenstände zu restituieren sind, sondern vielmehr allein, ob eine Restitution erfolgen kann. In der Untersuchung enthalten ist auch die Prüfung, in wessen Eigentum die Objekte ursprünglich standen,268 nicht aber, wem sie aufgrund dieses ursprünglichen Eigentumsrechts heutzutage zurückzugeben sind. Diese Ermittlung der heutigen Begünstigten obliegt allein dem zustän259 Restitutionsbericht 2000/2001, S. 6.

260 Restitutionsbericht 2005/2006, S. 7.

261 BVwG, Entscheidung v. 16.10.2017 – W128 2110815–1, RIS-Justiz; Kulturbericht 2010, S. 262; Löscher, im Gespräch mit

Uchtmann, »Alles Wesentliche […] sichergestellt und in das Kunsthistorische Museum verbracht«, Februar 2021, abrufbar unter: https://youtu.be/ZgW6Zvf6YA8. 262 Der Beirat konstituierte sich erstmals am 09.12.1998 (Restitutionsbericht 1998/1999, S. 2), in seiner aktuellen Zusammensetzung nach der Novelle am 19.03.10 (Kulturbericht 2010, S. 262). 263 Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, 209; Kommission für Provenienzforschung, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.), Guide, 2019, S. 21, 26. 264 Vgl. Graf, NZ 2020, 7, 13 f.; »Entscheidungshilfe« nach Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 91. 265 Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 216. 266 Vgl. Löscher, im Gespräch mit Uchtmann, »Alles Wesentliche […] sichergestellt und in das Kunsthistorische Museum verbracht«, Februar 2021, abrufbar unter: https://youtu.be/ZgW6Zvf6YA8. Dies wurde erhöht auf Anregung der IKG Wien, vgl. Zechner, Eingreiftruppe, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 230, 241. 267 Die Formulierung »zu übereignen sind« wurde zudem kritisiert, da sie entgegen der Selbstbindungskonstruktion des KRG einen Anspruch auf Übereignung suggeriere, s. Stellungnahme Finanzprokuratur zum Ministerialentwurf v. 01.09.2008, 9/ SN-214/ME XXIII. GP, S. 9. 268 Nur in einem die Restitution empfehlenden Beschluss legt der Beirat dies nicht fest, s. Beschl. zu Wilhelm Müller-Hofmann v. 28.09.2007, S. 2. Zum ursprünglichen Eigentum s. eingehend unter § 7 C., S. 138.

56  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

digen Bundesministerium.269 Demnach prüft der Beirat also gerade nicht die Stellung der Restitutionsbegünstigten,270 sondern nur die Restitutionsvoraussetzungen; der eben zitierte Wortlaut ist insoweit missverständlich. Dies wurde bereits frühzeitig in der Litera­tur erkannt271 und auch in den Stellungnahmen zum Ministerialentwurf der Novelle des KRG angemerkt. 272 Es ist daher nicht ersichtlich, warum diese Formulierung nicht im anschließenden Gesetzesentwurf korrigiert wurde. Neben dem im KRG genannten Bundesministerium berät der Beirat § 3 Abs. 2 Nr. 4 KRG entsprechend auch auf Anfrage Institutionen, die keine in Bundeseigentum stehenden Objekte halten, wie das Volkskundemuseum, das Lentos Kunstmuseum Linz, die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien sowie das Salzburg Museum.273 Seit November 2020 ist der Beirat der Geschäftsordnung zufolge auch beratend für die Leopold Museum Privatstiftung durch eine hypothetische Prüfung des § 1 KRG tätig.274 Der Beirat besteht der Geschäftsordnung zufolge aus sieben stimmberechtigten Mitgliedern und einer vorsitzenden Person. Seine Mitglieder setzen sich gemäß § 3 Abs. 2 KRG aus je einer stimmberechtigten Vertretung verschiedener Bundesministerien,275 jeweils einer Person aus der Kunst- und Zeitgeschichte sowie der Finanzprokuratur als »Anwaltschaft der Republik«276 in beratender Funktion277 zusammen.278 Diese wird vom Bund ausdrücklich »als unverzichtbare Stütze« bei der Lösung juristischer Fragen betreffend die Ermittlung der Begünstigten bezeichnet.279 Während somit der juristischen Vertretung der Republik Österreich eine beratende Stimme zukommt, findet sich – formalrechtlich aufgrund der verwaltungsinternen Natur des KRG durchaus konsequent – keine Vertretung der potenziellen Begünstigten im Beirat, weder mit vollem Stimmrecht noch in beratender Funktion.280 Daneben steht der Geschäftsordnung 269 S. zur Ermittlung der Begünstigten durch das Bundesministerium unter § 5 B.III.2., S. 82.

270 Bloß im ersten Beschluss prüft der Beirat – vermutlich in Unkenntnis seines konkreten Kompetenzbereichs – die Begünstig-

tenstellung, s. Beschl. zu Louis u. Clarice Rothschild v. 11.02.1999, S. 3 ff. Zur Prüfung der individuellen Begünstigtenstellung durch den Beirat s. ausführlich unter § 10 B.I., S. 315. 271 Vgl. Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 212; Zechner, Eingreiftruppe, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 230, 238; jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 77. 272 Stellungnahme Finanzprokuratur zum Ministerialentwurf v. 01.09.2008, 9/SN-214/ME XXIII. GP, S. 9; Stellungnahme Bundeskanzleramt zum Ministerialentwurf v. 28.08.2008, 7/SN-214/ME XXIII. GP, S. 5 f. 273 S. zu nicht in unmittelbarem Bundeseigentum stehenden Kulturgütern unter § 6 C.II., S. 106. 274 S. eingehend zur Leopold Museum Privatstiftung unter § 6 C.II., S. 106. 275 Weitestgehend sind dies neben dem:der ermächtigten Finanzminister:in Personen aus den potenziell zuständigen Ministerien, vgl. § 3 Abs. 2 Nr. 4 KRG (so bspw. zusätzlich das Landwirtschaftsministerium im Beschl. zu Ernst Kronfeld v. 29.09.2011, S. 4, sowie das Wissenschaftsministerium im Beschl. zu Moriz Grünebaum v. 11.01.2019, S. 4); hinzu kommt noch das Justizministerium, vgl. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 4. 276 So ausdrücklich in § 1 Prokuraturgesetz, StGBl. Nr. 172/1945. S. ausführlich zur Funktion der Finanzprokuratur Böhmer/ Faber, Finanzverwaltung, 2003, S. 267 ff. 277 Seit der Novelle 2009 ist die Finanzprokuratur Mitglied in beratender Funktion, zuvor war sie voll stimmberechtigtes Mitglied, Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 4. 278 Die frühere Kritik, der Beirat sei vornehmlich mit Personen aus den Geisteswissenschaften statt den Rechtswissenschaften besetzt (s. Meissel/Jungwirth, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 104, 105; Lillie, Feindliche Gewalten, 2017, S. 143; Kronsteiner, Beethovenfries, in: Der Standard Online v. 06.03.2015), entspricht nicht der heutigen Besetzung des Beirats. Denn inklusive Vorsitz bestehen die Mitglieder 2022 aus jeweils vier Personen beider Bereiche (gleichwohl kritisch rechtswissenschaftliche Expertise fordernd Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 90 f.). 279 Kulturbericht 2012, S. 262. 280 Dazu kritisch: Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 216; Noll, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 233, 241 f.; Ploil, Parnass 03/2009, 10, 10 f.; Noll, Anwesenheit, 2011, S. 26 f., 31 ff., 67; Noll, in: Konrad (Hrsg.), Rechtsprobleme, 2015, S. 442, 448. Nicht zutreffend ist daher die Behauptung von Rowland/Schink/ Studzinski, KUR 2008, 148, 150, in Österreich sei ein ausgewiesener »Opfer-Vertreter« zugegen.

57  A. Die besonderen Gremien des Kunstrückgabegesetzes

zufolge Mitgliedern des ehemaligen Gremiums der Leopold Museum Privatstiftung sowie den nicht dem Bund zugehörigen Institutionen eine beratende Stimme bei den sie betreffenden Fällen zu. Vorsitzender des Beirats ist seit August 2007281 nach vermehrten Forderungen von einigen Abgeordneten und der IKG Wien kein weisungsgebundener Beamter mehr, sondern zur Unterstreichung der Unabhängigkeit des Beirats der Universitätsprofessor und frühere Präsident des Verwaltungsgerichtshofes sowie ehemalige Vizekanzler Clemens Jabloner.282 Die­ ser ist gleichzeitig auch das einzige Mitglied des Beirats, von dem zumindest seit 2022 öffentlich bekannt ist, dass Familienmitglieder im Nationalsozialismus verfolgt wurden.283 Sämtliche Mitglieder und der Vorsitz des Beirats sind ehrenamtlich tätig.284 Sie werden ge­ mäß § 3 Abs. 5 S. 1, 2 KRG auf drei Jahre von dem:der zuständigen Bundesminister:in bestellt. Der Zeitraum stellt im Vergleich zu der einjährigen Bestellung gemäß dem KRG a.F. eine Er­ weiterung der Novelle 2009 dar, um die Effektivität und Unabhängigkeit des Gremiums zu erhöhen.285 Eine erneute Bestellung der einzelnen Mitglieder nach Ablauf der drei Jahre ist nach § 3 Abs. 5 S. 3 KRG möglich. Der Vorsitz wird der Geschäftsordnung zufolge von demselben Bundesministerium bestellt, jedoch ist hier keine Befristung vorgesehen. Sowohl Mitglieder als auch Vorsitz können seit der Novelle 2009 gemäß § 3 Abs. 5 S. 4 KRG von dem:der zuständigen Bundesminister:in nur auf eigenen Wunsch oder wenn sie aus körperlichen, geistigen oder sonstigen schwerwiegenden Gründen nicht mehr in der Lage sind, ihre Aufgaben gewissenhaft und unparteiisch zu erfüllen, nach einer Anhörung abbestellt werden; eine Pflicht zur Abberufung besteht jedoch nicht.286 Daraus folgt, dass jedes Mitglied seine Tätigkeit im Beirat »gewissenhaft und unparteiisch« zu erfüllen hat. Alle Mitglieder müssen zudem den Gesetzesmateria­lien zufolge über die »notwendige Sachkunde«287 verfügen und sind bei der Ausübung ihrer Tätigkeit formell nur an ihre beruflichen Standards und persönlichen Überzeugungen, also nicht an Weisungen, gebunden.288 Das KRG verfügt somit für den Beirat über deutlich mehr Regelungsgehalt als für die Kommission.

III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien Für die Bewertung der beiden besonderen Gremien des KRG im Lichte der Washingtoner Prinzipien ist zunächst zu ermitteln, welche Richtlinien diesen hinsichtlich der entscheidenden 281 Erstmals im Beschl. zu Otto Frankfurter v. 28.09.2007.

282 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 3; Restitutionsbericht 2007, S. 5; Webseite der IKG

Wien, abrufbar unter: https://www.restitution.or.at/schwerpunkte/s-kunst-praxis.html.

283 Kozeschnik-Schlick, Flucht, in: MeinBezirk.at Online v. 27.01.2022.

284 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 5; Wortmeldung Lapp bei der 40. Sitzung des Natio­

nalrats am 21.10.2009, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XXIV. GP, S. 99.

285 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 1, 4; Kulturbericht 2009, S. 224; Blimlinger/Jabloner,

in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, 213; Brunbauer-Ilić, Kulturgut, 2019, S. 240 f. 286 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 4. Die Formulierung »auf eigenen Wunsch« ist auf das Bundeskanzleramt zurückzuführen, s. Stellungnahme Bundeskanzleramt zum Ministerialentwurf v. 28.08.2008, 7/SN-214/ME XXIII. GP, S. 4. Angeblich war zuvor ein Mitglied des Beirats bereits auf eigenen Wunsch aufgrund parteiischen Verhaltens und Unterdrucksetzung durch andere Mitglieder und der Vorgesetzten zurückgetreten, vgl. Petropoulos, Report, 2015, S. 69. 287 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 5. 288 Fragebogen an den Kunstrückgabebeirat durch die niederländische Kommission, zitiert nach Marck/Muller, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 41, 50; vgl. auch jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 57.

58  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

Stellen zu entnehmen sind. Ausnahmsweise finden sich im zehnten Prinzip ausdrückliche Vorgaben: Demnach sollten die »Kommissionen oder andere Gremien, welche die Identifizierung der durch die Nationalsozialisten beschlagnahmten Kunstwerke vornehmen und zur Klärung strittiger Eigentumsfragen beitragen, […] eine ausgeglichene Zusammensetzung haben.« Die Forderung einer »ausgeglichenen Zusammensetzung« beabsichtigt, die Objektivität und das öffentliche Vertrauen in die Gremien zu sichern.289 In den Entstehungsmaterialien der Washingtoner Prinzipien wurden vereinzelt noch Gremien mit – entsprechend den im Einzelfall zu behandelnden Fragen – alternierenden, von den Parteien bestimmten Mitgliedern gefordert.290 Mittlerweile ist der Literatur die Tendenz zu entnehmen, dass das beurteilende Gremium nicht ad hoc aus von den Parteien berufenen Mitgliedern bestehen soll, sondern eine Arbeit auf langfristiger und unparteiischer Basis, vergleichbar einem speziellen Gericht, erfolgsversprechender ist.291 Weitere Konkretisierungen zu den Anforderungen an die ausgeglichene Zusammensetzung finden sich in den Entstehungsmaterialien zu den Washingtoner Prinzipien sowie zur Theresienstädter Erklärung: So wird etwa ein Gremium gefordert, das mit jeweils zwei Expert:innen aus Geschichts-, Rechts- und Holocaustwissenschaft sowie der Museumswelt, außerdem mit jeweils zwei Personen als Vertretung der Anspruchstellenden und des Parlaments sowie einer Person mit journalistischer Erfahrung besetzt ist; überwiegende juristische Expertise wird nicht verlangt.292 Für eine ausgeglichene Zusammensetzung im Sinne des zehnten Prinzips scheint also maßgeblich zu sein, dass bei rein formeller Betrachtung keiner der Parteien und Disziplinen offensichtlich mehr Gewicht zukommt. Als notwendige Bedingung wird dabei bereits in den Entstehungsmaterialien der Washingtoner Prinzipien und der Theresienstädter Erklärung, aber auch in der anschließenden Rezeption, jedenfalls eine Repräsentation der Geschädigten des nationalsozialistischen Regimes, insbesondere im Zuge des Holocaust, in den Gremien verstanden.293 Dabei stellt sich jedoch die Frage, wer als eine solche Repräsentation der verschiedenen Geschädigten in Betracht kommt, wem also überhaupt eine Sprecher:innenposition für das heterogene Kollektiv der Geschädigten zusteht, zumal Zeitzeug:innen immer weniger hinzugezogen werden können. Naheliegend erscheint aufgrund der zweifelsfrei überwiegenden Quantität der Geschädigten, die vom nationalsozialistischen Regime als ›Juden‹ definiert wurden, zunächst die Repräsentation durch jüdische Interessenvertretungen. Durch eine solche Repräsentation blieben jedoch zum einen all die anderen Geschädigten des nationalsozialistischen Regimes unter Umständen unberücksichtigt, zum anderen stellte die nationalsozialistische Definition als ›Jude‹ eine Fremdzuschreibung dar, die nicht zwangsläufig mit der eigenen Identität der Personen übereinstimmte,294 und so fortgeschrieben würde. Es ist nämlich keineswegs evi­ 289 Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999; Bindenagel, in: Schneider et al.

(Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 725.

290 Edelson, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 539, 541.

291 Weller, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.), Guide, 2019, S. 9, 12; ähnlich Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.),

Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 19, 35.

292 Soltes, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 547, 549 f. In diese Richtung auch Eizenstat,

Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999; Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 725; Nicholas, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 819, 823. 293 Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999; Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 725; Heuberger, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 941, 948; Raschèr, AJP/PJA 1999, 155, 159; Heuberger, KUR 2007, 65, 66; von Selle/von Selle, osteuropa 2009, 131, 136; Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 11. 294 S. zum sprachlichen Umgang mit dieser Fremdzuschreibung unter § 2, S. 21.

59  A. Die besonderen Gremien des Kunstrückgabegesetzes

dent, dass von dem nationalsozialistischen Regime als ›Juden‹ definierte Personen und deren Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen sich heutzutage durch jüdische Interessenvertretungen repräsentiert fühlen. Denn selbst eine gemeinsame Geschichte bestimmter Personen aufgrund von Fremdzuschreibungen begründet nicht zwingend ein kollektives Selbstverständnis dieser Personen untereinander.295 Eine solche Generalisierung führt in ein »Dilemma der Ka­tegorien«296, birgt sie doch auf der einen Seite die Gefahr einer Perpetuierung der Divergenz von Fremd- und Selbstdefinition. Auf der anderen Seite bedarf es aber in konkreten Fällen einer Kategorienbildung, um Personengruppen besondere Rechte zu gewähren, etwa durch repräsentativen Zugang zu ihnen strukturell verschlossenen Räumen. Gleichwohl wandelt auch die Zugangsgewährung auf einem schmalen Grat, schließlich sollen die den Zugang begehrenden Personen nicht gezwungen sein, sich auf ihre Zugehörigkeit zu einer konkreten Personengruppe berufen zu müssen.297 Übertragen auf die Zusammensetzung des Gremiums im Sinne der Washingtoner Prinzipien bedeutet dies, dass nicht einzelne Mitglieder zu einer öffentlichen Kundgabe ihrer Familienbiografien verpflichtet sein sollen. Es würde sich vielmehr anbieten, eine dauerhafte Repräsentation aller Geschädigten durch eine Person in dem Gremium zu etablieren, die keiner konkreten Interessenvertretung oder Personengruppe zuzuordnen ist. So kann eine kollektive Repräsentation ohne erzwungene Kategorisierung von Individualpersonen erfolgen. Jedenfalls ist in der Konsequenz die alleinige Einsetzung von Staatsbediensteten als unzureichend für eine ausgeglichene Zusammensetzung im Sinne der Prinzipien zu betrachten.298 Dies gilt insbesondere, wenn diese Einsetzung aufgrund einer Art von Parteienstellung des Staates dazu führt, dass de facto der Staat als eine Partei »vertreten« durch seine Bediensteten alleine entscheidet.299 Besonders problematisch ist diese einseitige Besetzung, wenn es sich – nach heutigem Verständnis – nicht um einen besetzten Staat, sondern um einen täterschaftlich beteiligten oder zumindest kooperierenden Staat handelt. Entscheidend ist dabei das strukturelle Machtgefälle in dem binären Verhältnis von täterschaftlich beteiligtem oder kooperierendem Staat und Geschädigten, das sich im Falle einer einseitigen Zusammensetzung der Gremien durchzusetzen droht. Im Rahmen der Bewertung der Gremien des KRG im Lichte der Washingtoner Prinzipien sind die lang­fristige Besetzung der Gremien durch die oftmals unbefristet angestellten Mitglieder der Kommission und die dreijährige Besetzung des Beirats mit Option auf Verlängerung hier vorab positiv hervorzuheben. Bereits auf den ersten Blick wird jedoch deutlich, dass die Staatsnähe der beiden Gremien nicht den Vorgaben der Washingtoner Prinzipien entspricht, wenngleich sie bei formalrechtlicher Perspektive durchaus schlüssig ist: Denn bei dem KRG handelt es sich infolge seiner Selbstbindungskonstruktion bloß um verwaltungsinterne Normen, die dem Staat eine gewisse Orientierung für sein privatwirtschaftliches Handeln geben sollen.300 Welche Personen der Staat intern zur Beratung seiner privatwirtschaftlichen Tätig-

295 Vgl. dazu nur Wodak/Heer, in: dies. et al. (Hrsg.), Geschichte, 2003, S. 12, 18; Wodak et al., Konstruktion, 2. Aufl. 2016, S. 46 ff. 296 Mangold, Inklusion, 2021, S. 335.

297 Dazu eingehend Mangold, Inklusion, 2021, S. 334 ff., 346.

298 Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999; Bindenagel, in: Schneider et al.

(Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 725; Raschèr, AJP/PJA 1999, 155, 159; Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 11. 299 Heuberger, KUR 2007, 65, 66; Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 11. 300 S. zur Natur des KRG als Selbstbindungsgesetz ausführlich unter § 4 C.II., S. 48.

60  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

keit heranzieht, bleibt ihm überlassen. Die Untersuchung im Lichte der Washingtoner Prinzipien beabsichtigt indes eine Bewertung der vorhandenen, aber vom Beirat nicht genutzten verfahrensrechtlichen Spielräume des KRG. Dafür sind nachfolgend die Kommission für Provenienzforschung und der Kunstrückgabebeirat getrennt voneinander zu beleuchten. 1. Zur Besetzung der Kommission für Provenienzforschung

Die Besetzung der Kommission für Provenienzforschung war, anders als beim Beirat, bisher kaum Gegenstand der Kritik in Österreich.301 Dies mag darin begründet sein, dass der Kommission nach außen hin eher die Rolle einer objektiven »Sammlerin« aller erforderlichen Tatsachen zukommt, die keine umfassende eigene Bewertung vor- und damit auch eine geringere Repräsentationsfunktion einnimmt.302 Gleichwohl müsste die Kommission für Provenienzforschung als ein von den Washingtoner Prinzipien vorgesehenes Gremium noch transparenter machen, aus welchen Disziplinen ihre einzelnen Mitglieder stammen und welche berufliche Laufbahn, insbesondere welche vorherige institutionelle Anbindung, ihre Mitglieder aufweisen, um den Anforderungen des zehnten Prinzips zu genügen. Denn trotz der beschriebenen Trennung zwischen Dienst- und Fachaufsicht ist eine inhaltliche Beeinflussung staatlicherseits nicht ausgeschlossen: Indem die inhaltliche Schwerpunktsetzung nicht durch das staatliche Museum erfolgen kann, besteht zwar keine direkte berufliche Abhängigkeit von der haltenden Einrichtung der zu untersuchenden Kulturgüter. Gleichwohl bedeutet die Entsendung in die Museen im Auftrag und mit Fachaufsicht des jeweiligen Bundesministeriums eine gewisse Abhängigkeit vom Eigentümer der Kulturgüter, dem Bund. Dieser lässt letztlich seine eigenen Bediensteten ermitteln, von welchen Eigentumspositionen er sich in Zukunft zu verabschieden hat. Es ist daher nicht verwunderlich, dass häufig zumindest eine de facto bestehende »Weisungsgebundenheit« angenommen oder eine vom ­Halteinteresse des Museums und »Verlustängsten« der Museumsleitung unabhängige Arbeit bezweifelt wird.303 Zugleich darf gerade bei der Provenienzforschung nicht unberücksichtigt bleiben, dass eine gute Vernetzung innerhalb des zu untersuchenden Museums für eine größtmögliche Kooperationsbereitschaft der Direktion des Museums unabdingbar ist. Provenienzforschung ist auf erhebliche finanzielle Mittel angewiesen. Diese stellt der öster­ reichische Bund entsprechend dem Aufruf der Washingtoner Prinzipien zur staatlichen Ermöglichung umfassender Provenienzforschung zur Verfügung. Eine andere Finanzierung erscheint zudem kaum möglich, ohne einzelne wohlhabende Privatpersonen hinzuzuziehen, bei denen die Gefahr einseitiger Interessenvertretung und mangelnder Transparenz größer erscheint als bei einer öffentlich nachvollziehbaren Finanzierung durch den Bundeshaushalt. Die Provenienz­ forschung in eine vom Bund finanzierte externe Organisation auszulagern, würde letztlich dieselbe finanzielle Abhängigkeit bedeuten und darüber hinaus noch zu bürokratischem Mehraufwand führen, indem etwa die Finanzierung jedes Provenienzforschungsprojektes einzeln beantragt werden müsste. Die Anknüpfung an die zuständigen Bundesministerien garantiert somit angesichts der damit verbundenen finanziellen Absicherung die Systematik der Provenienzforschung. 301 S. nur Stellungnahme Heeresgeschichtliches Museum zu Ministerialentwurf v. 29.07.2008, 1/SN-214/ME XXIII. GP, S. 2. 302 S. zur Tätigkeit der Kommission für Provenienzforschung eingehend unter § 5 B.I., S. 65.

303 So etwa Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 213 ff.; Noll, Anwesenheit, 2011, S. 67;

Unfried, Unrecht, 2014, S. 457 f.

61  A. Die besonderen Gremien des Kunstrückgabegesetzes

Aufgrund des den Washingtoner Prinzipien eindeutig zu entnehmenden Anliegens, dass die Mitglieder der Gremien über keine überwiegende Staatsnähe verfügen, scheint die Konzeption der Kommission für Provenienzforschung auf der einen Seite nicht als vollständig konform mit dem zehnten Prinzip. Es lässt sich auf der anderen Seite aber nicht von der Hand weisen, dass die von den Washingtoner Prinzipien geforderte systematische Provenienzforschung möglichst umfangreich finanziert werden muss, ohne ihre Unabhängigkeit und Transparenz zu gefährden. Die Staatsnähe ist somit notwendige Bedingung einer systematischen Provenienzforschung – zumal in Österreich die differenzierte Aufteilung der Aufsichtskompetenzen ein hohes Bewusstsein für das Bedürfnis nach staatlicher Unabhängigkeit trotz Finanzierung erkennen lässt. Zwar droht mit dieser Abhängigkeit von der staatlichen Finanzierung stets auch eine Vulnerabilität bei Änderung der politischen Verhältnisse, dieses Risiko ist jedoch sämtlichen staatlichen Fördermaßnahmen inhärent. Angesichts der konfligierenden Vorgaben der Washingtoner Prinzipien ist die Konzeption der Kommission damit als konform mit dem zehnten Prinzip zu betrachten. 2. Zur Besetzung des Kunstrückgabebeirats

Während die Besetzung der Kommission für Provenienzforschung damit den Anforderungen des zehnten Prinzips weitestgehend genügt, entspricht die Besetzung des Beirats wohl kaum noch den Vorgaben der Washingtoner Prinzipien. Angesichts des im Vergleich zur Kommission umfassenden Bewertungsspielraumes ist dies besonders problematisch. Zwar stammen die Mitglieder des Beirats, wie von den Washingtoner Prinzipien gefordert, aus unterschiedlichen Disziplinen. Hauptkritikpunkt ist aber die staatsnahe Besetzung des Beirats, da dieser allein aus im Staatsdienst, konkret in der Justiz, den Ministerien und den Universitäten, tätigen Personen besteht. Abgemildert wird diese Staatsnähe zumindest formalrechtlich durch die geforderte »unparteiische« Erfüllung sowie die bloß ehrenamtliche Tätigkeit der Mitglieder im Beirat, wodurch sie ausdrücklich nicht an etwaige Weisungen, sondern nur an berufliche und persönliche Maßstäbe gebunden sind. Bei rein formalrechtlicher Betrachtung wäre die Besetzung des Beirats daher vollkommen unproblematisch, sind seine Mitglieder doch nicht in ihrer Funktion als Staatsbedienstete tätig. Außerdem sind einige der Mitglieder des Beirats bereits beruflich gar nicht erst weisungsgebunden, sondern als Richter:innen und Professor:innen sogar explizit unabhängig, sodass sich für diese Personen auch eine faktisch ausreichende Staatsferne vertreten lässt. Die Mehrheit der Mitglieder des Beirats wird jedoch ausdrücklich als »Vertreter« der Ministerien bezeichnet, in deren Verantwortungsbereich die von einer Rückgabe betroffenen Museen und damit auch die finalen Entscheidungen über die Restitution fallen.304 Die Ministerien verfügen bei der Beratung über die Zukunft der eigenen Bestände bereits quantitativ über ein solches Gewicht, dass sie aufgrund der geforderten einfachen Mehrheit das Stimmungsbild im Beirat entscheidend beeinflussen können. Der Bund, vertreten durch seine Ministerien, ist damit sowohl Richter als auch »Partei« infolge seiner Eigentümerstellung.305 Jedenfalls für diese Mitglieder greift 304 S. zur Entscheidung durch den:die Bundesminister:in unter § 5 B.III.1., S. 80.

305 Dazu ebenfalls kritisch: Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 2; Zechner, in: Pawlowsky/

Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 216; Noll, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 233, 241; Noll, Anwesenheit, 2011, S. 26 ff., 67; Oost, Justice, 2012, S. 38; Lillie, Feindliche Gewalten, 2017, S. 143; Webber/Fisher, in: DCPTCA (Hrsg.), Terezin, 2019, S. 39, 42.

62  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

somit eine formalrechtliche Betrachtung der Trennung von Staatsdienst und Ehrenamt zu kurz, da sich eine faktische Beeinflussung durch kultur- und finanzpolitische Erwägungen dort kaum vermeiden lässt.306 Als besonders problematisch ist die Rolle der Finanzprokuratur, also der »Anwaltschaft der Republik« zu betrachten.307 Die alleinige und gesetzlich ausdrücklich normierte Aufgabe der Finanzprokuratur ist die rechtliche Beratung und Rechtsvertretung im Interesse des österreichischen Staates. Sie würde also ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Aufgabe zuwider handeln, wenn sie diese staatlichen Interessen nicht verträte. Nun lässt sich anführen, dass das Interesse des österreichischen Staates auch die Rückgabe entzogener Kulturgüter ist. Wenn jedoch im vorgelagerten Schritt bereits unklar ist, ob es sich überhaupt um ein entzogenes Kulturgut handelt, liegt nahe, dass die Finanzprokuratur aufgrund der finanziellen Interessen des Staates nicht gerade für eine weite Auslegung plädiert. Eine Aussage des Vorsitzenden des Beirats und seiner ehemaligen Stellvertreterin scheint dies geradezu zu bestätigen: Sie verweisen darauf, dass etwa durch eine Stärkung der Position der potenziellen Begünstigten im Beirat die Finanzprokuratur »eher in die Lage kommen [würde], advokatorisch zu Ungunsten der Rückstellungsberechtigten zu agieren«308. Dies muss so verstanden werden, dass die Finanzprokuratur durch die Stärkung der Begünstigtenposition »ihr wahres Ich« als Interessenvertreterin des Bundes zu zeigen drohe. Diese Argumentation widerspricht jedoch eklatant den inter­national etablierten dogmatischen Grundlagen des proaktiven Gleichstellungsrechts, wonach die gezielte Förderung strukturell benachteiligter Personengruppen – und zu denen zählen oft­mals im Ausland lebende Geschädigte und deren Nachkommen in Fragen der Restitution – zu deren Stärkung und gerade nicht der Festigung bestehender, struktureller Machtgefälle führt.309 Mit anderen Worten: Es würden letztendlich etablierte Machtstrukturen stets perpetuiert, wenn aus Angst vor ihrer Verstärkung von ihrer proaktiven Überwindung abgesehen würde. Obwohl diese paternalistische Vorgehensweise des österreichischen Staates gut gemeint ist, indem den potenziellen Begünstigten so wenig Pflichten wie möglich auferlegt werden,310 führt sie zugleich zu so wenig Beteiligung wie möglich und perpetuiert so die strukturelle Benachteiligung der Geschädigten. Zwar ist aus formaljuristischer Perspektive nur folgerichtig, dass die potenziellen Begünstigten nicht im Beirat vertreten sind, da die Mitgliedschaft auf Dauer angelegt ist – dies ist ausdrücklich hier von der Frage nach der generellen Einbeziehung im Verfahren zu trennen.311 Das KRG könnte indes durchaus vorsehen, dass als Gegengewicht zur Finanzprokuratur ein Mitglied außerhalb des Staatsdienstes, ausdrücklich die Interessen der Geschädigten repräsentiert. Dabei sollten Einzelpersonen im Beirat, die Nachkommen von Geschädigten sind, nicht als Feigenblatt für die Interessen der Geschädigten herhalten müssen. Denn wie bereits 306 Dies lässt sich auch nicht durch einen Verweis auf eine vermeintliche Objektivität rechtlicher Subsumtion von der Hand

weisen, so aber Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 26 f.

307 Auch Fitz erachtet die Stellung der Finanzprokuratur als problematisch, scheint jedoch im Gegensatz gerade nicht weniger,

sondern mehr Macht für die Finanzprokuratur zu fordern, da allein diese zwangsläufig über juristische Expertise verfüge, vgl. Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 90. 308 Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, 212. In diese Richtung geht auch die Argumentation von Pferdmenges, KUR 2021, 50, 54. Kritisch in Ansätzen zu dieser Argumentationslinie jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 26 f. 309 Vgl. dazu statt vieler Mangold, Inklusion, 2021, S. 290 ff. 310 Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, 212. 311 S. zur Einbeziehung im Verfahren unter § 5 B.I.3.a), S. 69, und § 5 B.II.2., S. 76.

63  A. Die besonderen Gremien des Kunstrückgabegesetzes

ausführlich im Zuge der Vorgaben der Washingtoner Prinzipien dargelegt, führt eine angeblich gemeinsame Geschichte von Personen nicht zwingend zum Wunsch, auch gleich als Repräsentation dieses oftmals fremdbestimmten Kollektivs zu dienen. Allein die Tatsache, dass etwa die Familie des Vorsitzenden des Beirats im Nationalsozialismus verfolgt wurde, darf diesen somit nicht in die Rolle eines Repräsentanten der Geschädigten drängen. Zumal die späte ausdrückliche öffentliche Erzählung dieser Tatsache nach über zwanzig Jahren Empfehlungspraxis eine bewusste Zurückhaltung in der Öffentlichkeit vermuten lässt. Die Schwierigkeiten einer kollektiven Repräsentation der heterogenen Gruppe der Geschädigten wurden ausführlich dargelegt. In Österreich kann jedoch ausnahms- und praktischer­ weise auf eine Institution zurückgegriffen werden, die – anders als etwa die IKG Wien – allen Geschädigten des Nationalsozialismus dient, der Nationalfonds der Republik Österreich für Geschädigte des Nationalsozialismus (Nationalfonds). Da der Nationalfonds nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 auch als »Auffangbegünstigter« des KRG auftreten kann, fände auf diese Weise sogar eine direkte Integration der Begünstigten, wenn auch nur in »Auffangfunktion«, in den Beirat statt. Es sollte daher eine leitende Person aus dem Nationalfonds in beratender Funktion gleich der Finanzprokuratur Mitglied des Beirats sein, sodass sowohl der Staat als auch die Geschädigten über eine Repräsentation verfügen. Anstelle der verschiedenen Vertretungen aus den Bundesministerien könnte zur Verhinderung der Staatsnähe – wie in den Entstehungsmaterialien der Washingtoner Prinzipien gefordert – eine Person mit Praxiserfahrung aus der »Museumswelt«, die aber nicht bei Museen oder beim Staat angestellt ist und über besonderer Expertise in der Kunstrückgabe verfügt, Mitglied des Beirats werden.312

B. Der Verfahrensablauf nach dem Kunstrückgabegesetz Der Verfahrensablauf wird in Anlehnung an die drei beteiligten Stellen, bestehend aus der Provenienzforschung, dem Beirat sowie dem:der zuständigen Bundesminister:in, regelmäßig als dreiteilig betrachtet.313 Der nachfolgenden Darstellung wird aber als vierter, mehr oder minder verfahrenstechnischer Schritt noch die Überprüfung vorheriger Entscheidungen hinzugefügt. Am Ende der Erläuterung des jeweiligen Schrittes befindet sich eine Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien. Vorab ist die allgemeine verfahrenstechnische Richtlinie aus dem elften Prinzip darzulegen. Dieses ruft die teilnehmenden Staaten dazu auf, »innerstaatliche Verfahren zur Umsetzung dieser Richtlinien zu entwickeln«, darunter auch »alternative Mechanismen zur Klärung strittiger Eigentumsfragen«. Hier wird erneut deutlich, dass die Klärung der konfligierenden Eigentumsinteressen den Washingtoner Prinzipien zufolge gerade nicht auf das auf nationaler Ebene bereits geltende Recht und die ordentliche Gerichtsbarkeit begrenzt sein muss, sondern alternative Verfahren für die Auseinandersetzung mit entzogenen Kulturgütern eingerichtet werden können.314 Bereits die Ausführungen zu den beiden österreichischen Gremien ha-

312 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 3.

313 So Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 212; Kommission für Provenienzforschung, in:

Network of Restitution Committees (Hrsg.), Guide, 2019, S. 21, 24.

314 Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999; Raschèr, AJP/PJA 1999, 155, 159;

Raschèr, KUR 2009, 75, 77.

64  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

ben deutlich gemacht, dass die österreichische Legislative mit dem KRG in seiner gesetzlichen Ausgestaltung unstreitig ein alternatives Verfahren entwickelt hat. Aufgrund der besonderen Konstruktion als Selbstbindungsgesetz folgt aus der Gesetzesform nicht zwangsläufig ein Gerichtsverfahren, um die aus den konfligierenden Interessen von Geschädigten und Bund resultierenden Fragen zu klären.315 Wie genau diese Klärung auf verfahrenstechnischer Ebene erfolgt, ist Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung.

I. Die Verfahrenseinleitung Die Verfahrenseinleitung als erster Schritt erfolgt von Amts wegen. Der österreichische Staat selbst untersucht also ex officio proaktiv und systematisch die Provenienz der in seinem Eigentum stehenden Kulturgüter; er betrachtet die Restitution erstmals als »Bringschuld«316. Einen Handlungsbedarf seitens Dritter, etwa der potenziellen Begünstigten der Rückgabe, bedarf es also nicht. So können auch geringwertige Kulturgüter sowie Personen, die keine Kenntnis vom Verbleib ihres entzogenen Kulturguts haben, berücksichtigt werden.317 Das gesamte Verfahren ist mithin weder kontradiktorisch unter Beteiligung von Bund und potenziellen Begünstigten noch unter Berücksichtigung des Beibringungsgrundsatzes ausgestaltet. Vielmehr bestimmt der Bund allein den Gang des Verfahrens; der Beginn der Provenienzforschung stellt daher regelmäßig gleichzeitig die Verfahrenseinleitung dar. In der Praxis werden die Verfahren aber häufig auch durch Anregung potenzieller Begünstigter oder ihrer Vertretung initiiert.318 Insbesondere in den letzten Jahren ist die Kommission außerdem vermehrt auch von ausländischen Institutionen und Personen aus der Provenienzforschung kontaktiert worden.319 Die Kommission erarbeitet einen jährlichen, dem Beirat vorzulegenden Arbeitsplan, der veranschaulicht, welche Objekte Gegenstand der rezenten Provenienzforschung sind. Von diesem Arbeitsplan wird lediglich bei Anregungen von Dritten abgewichen. Weder für die Aufnahme des Verfahrens von Amts wegen noch für eine Betätigung auf Ersuchen Dritter besteht eine Frist.320 Dies ist mit Blick auf die rein verwaltungsinterne Natur des Verfahrens insoweit konsequent, als die Verwaltung andernfalls ihre eigene Ermächtigung präkludieren würde. So entfaltet das KRG erst dann keine Wirkung mehr, wenn keine Kulturgüter mehr vorhanden sind, die unter die gesetzlichen Voraussetzungen fallen.321

315 S. zur Natur des KRG als Selbstbindungsgesetz unter § 4 C.II., S. 48. 316 Barfuß, JBl 2010, 569, 570. 317

Restitutionsbericht 2002/2003, S. 8 f.; Barfuß, JBl 2010, 569, 569 f.

318 Diese Initiative wird im Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006 ausdrücklich – mit Blick auf die Selbstbindungskons-

truktion des KRG missverständlich – als »Antrag auf Rückgabe« bezeichnet. Eine Initiative der potenziellen Begünstigten ist daneben ersichtlich in: Beschl. zu Robert Schwarz v. 02.03.2012, S. 2 f.; Beschl. zu Alfred u. Rosa Kraus v. 03.07.2015, S. 2; Beschl. zu Marie u. Alfons Thorsch v. 04.05.2017, S. 5 f.; Beschl. zu Giulietta Mendelssohn v. 15.05.2023, S. 3; s. dazu auch Restitutionsbericht 2000/2001, S. 5; Restitutionsbericht 2002/2003, S. 9 f.; Kulturbericht 2008, S. 215 ff. 319 Bspw. durch das Holocaust Claims Processing Office im Beschl. zu Michael Berolzheimer v. 15.06.2018, S. 1, oder die ­Commission for Looted Art in Europe im Beschl. zu Adalbert Parlagi v. 30.03.2022, S. 1; s. dazu auch Restitutionsbericht 2002/2003, S. 7; Restitutionsbericht 2003/2004, S. 8 f.; Kulturbericht 2008, S. 217 f.; Kulturbericht 2009, S. 226. 320 Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 213 f.; Cwitkovits/Huda, in: Redmond-Cooper (Hrsg.), Museums, 2021, S. 134, 138. Kritisch: Wortmeldung Unterreiner bei der 40. Sitzung des Nationalrats am 21.10.2009, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XXIV. GP, S. 90; Stellungnahme Kärnten zum Ministerialentwurf v. 27.08.2008, 11/SN-214/ME XXIII. GP, S. 3, wo ohne weitergehende Begründung in dieser fehlenden Befristung ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz gesehen wird; Unfried, Unrecht, 2014, S. 449. 321 So auch Rabl, JBl 2010, 681, 684.

65  B. Der Verfahrensablauf nach dem Kunstrückgabegesetz

1. Das Tätigwerden der Provenienzforschung auf Anregung und von Amts wegen

Im Falle eines Tätigwerdens der Kommission auf Ersuchen von Dritten wird allein die Prove­ nienz des betroffenen Kulturguts erforscht. Die Kommission lädt regelmäßig auch die potenziellen Begünstigten zur Mitwirkung bei der Ermittlung des historischen Sachverhalts ein, um private Unterlagen ebenso einbeziehen zu können und deren Auskunftsinteresse gerecht zu werden.322 Trotz der hohen Anzahl der Anregungen besteht infolge der nicht mit subjektiven Rechten ausgestatteten Selbstbindungskonstruktion des KRG kein formelles Antragsrecht der potenziellen Begünstigten.323 Auch ist die Kommission formell betrachtet nicht verpflichtet, den informellen Anregungen nachzugehen. In der Praxis behandelt sie diese Ersuchen aber eigenen Angaben zufolge prioritär.324 Bisher habe sich das fehlende formelle Antragsrecht offiziellen Angaben zufolge daher nicht wesentlich zulasten der potenziellen Begünstigten ausgewirkt.325 Eine einmal eingebrachte Anregung von potenziellen Begünstigten kann offenbar stets auch unkompliziert zurückgenommen werden.326 Wird die Kommission von Amts wegen mit der Provenienzforschung in einem konkreten Bundesmuseum tätig, ist zunächst eine Selektierung erforderlich: Sie untersucht allein die Objekte, die in zeitlicher und sachlicher Hinsicht unter dem Blickwinkel des KRG relevant sein können.327 In zeitlicher Hinsicht fallen darunter selbstverständlich nur bis 1945 erschienene bzw. erschaffene Objekte,328 von diesen werden aber sämtliche Erwerbungen zwischen 1933 und der Gegenwart überprüft, da viele nach 1945 erworbene Objekte ebenso Gegenstand einer Entziehung gewesen sein könnten.329 2. Die Qualifikation der Kulturgüter durch die Provenienzforschung

Für die Qualifikation der untersuchten Kulturgüter erstellt die Provenienzforschung des jeweiligen Museums zunächst eine Sachverhaltsdarstellung, die dann gemeinsam mit der wissenschaftlichen Koordination der Kommission besprochen wird, um über eine Vorlage als Dossier an den Beirat zu entscheiden. Die Qualifikation erfolgt in sachlicher Hinsicht zumeist anhand

322 Restitutionsbericht 2000/2001, S. 6; Restitutionsbericht 2002/2003, S. 10; Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteig-

nete Kunst, 2006, S. 209, 216; Kommission für Provenienzforschung, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.), Guide, 2019, S. 21, 25. 323 Kritisch: Noll, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 233, 242; Ploil, Parnass 03/2009, 10, 10 f.; Rabl, JBl 2010, 681, 682; Noll, Anwesenheit, 2011, S. 27; Unfried, Unrecht, 2014, S. 447; Noll, in: Konrad (Hrsg.), Rechtsprobleme, 2015, S. 442, 448. 324 Kommission für Provenienzforschung, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.), Newsletter 10/2019, S. 5, 5 ff.; Kommission für Provenienzforschung, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.), Guide, 2019, S. 21, 25. 325 Restitutionsbericht 2002/2003, S. 9; Restitutionsbericht 2003/2004, S. 9 f. 326 Vgl. Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 27.10.1999, S. 1. 327 Beschl. zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 21.06.2013, S. 2. Leider konkretisiert der Beirat hier nicht, wann genau ein Objekt unter dem Blickwinkel des KRG relevant ist. 328 Beschl. zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 21.06.2013, S. 2; Beschl. zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 15.05.2014, S. 1 f. 329 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 2. Zunächst wurden nur die Erwerbungen bis 1960, dann 1965 untersucht. Mittlerweile ist aber auch die Untersuchung von »in jüngster Zeit« erworbenen Objekten selbstverständlich, s. Restitutionsbericht 2000/2001, S. 3; Restitutionsbericht 2003/2004, S. 4 ff.; Löscher, im Gespräch mit Uchtmann, »Alles Wesentliche […] sichergestellt und in das Kunsthistorische Museum verbracht«, Februar 2021, abrufbar unter: https:// youtu.be/ZgW6Zvf6YA8.

66  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

der drei Ordnungskriterien »bedenklich – unbedenklich – offen«.330 Für die Qualifikation eines Objekts als »unbedenklich« ist erforderlich, dass eine lückenlose Provenienzkette besteht und »keine klaren Ansatzpunkte« für die Erfüllung eines Tatbestandes vorliegen, mindestens »also die durch das NS-Regime bewirkten Geschehnisse nur mittelbar für den Verlust von Kunstgegenständen verantwortlich gemacht werden können.«331 Bei erfolglosen eigenen Nachforschun­gen greift die Kommission auf externe Expertise zurück, stellt zum Beispiel Anfragen bei etwai­gen Voreigentümer:innen und Zeitzeug:innen,332 bei anderen Museen im Inland und Ausland sowie beim Kunsthandel, insbesondere beim Auktionshaus Dorotheum, und arbeitet mit der IKG Wien sowie der Jewish Claims Conference zusammen.333 Die sodann als »bedenklich« ein­gestuften Sachverhalte werden in jedem Falle dem Beirat als Dossiers vorgelegt.334 Diese Ausführungen zeigen, dass eine maßgebliche Weiche bereits durch die Kommission gestellt wird, indem diese durch eine kursorische Subsumtion unter die Tatbestände entscheidet, welche Objekte überhaupt zu einem »Fall« werden.335 Die Tatsache, dass die Beschlüsse oftmals bereits am Tag der Beiratssitzung im Internet veröffentlicht werden, spricht außerdem dafür, dass die Kommission nicht nur eine oberflächliche Subsumtion vornimmt, sondern bereits Beschluss­entwürfe für die Beiratssitzungen anfertigt. Dies legt auch die Geschäftsordnung nahe, die ausdrücklich statuiert, dass Beschlussentwürfe den Mitgliedern des Beirats vorab zur Verfügung gestellt werden können.336 Die Kommission hat sämtliche Erkenntnisse als Sachverhaltsdarstellung festzuhalten, darunter auch »Negativdokumentationen«, wenn also anhand der Aktenlage keine Anhaltspunkte für eine Tatbestandserfüllung vorliegen.337 In der Regel wird sich um eine Zusammenfassung sämtlicher Objekte aus einer Sammlung bemüht, die oftmals in einem vorläufigen Gesamtbericht festgehalten wird, bei neuen Erkenntnissen werden »Nachtrags-Dossiers« angefertigt.338

330 Diese Kriterien gelten offenbar im Kunsthistorischen Museum, in der Albertina und der Österreichischen Galerie Belve-

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dere, das Museum für angewandte Kunst scheint fünf Ordnungskriterien zu haben (unbedenklich – nicht vorhanden – nicht klärbar – Restitutionsfall – offen), vgl. Restitutionsbericht 2005/2006, S. 8 f.; Kulturbericht 2010, S. 266; Zechner, Etablierung, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 70, 81; Löscher, im Gespräch mit Uchtmann, »Alles Wesentliche […] sichergestellt und in das Kunsthistorische Museum verbracht«, Februar 2021, abrufbar unter: https://youtu.be/ZgW6Zvf6YA8. Restitutionsbericht 2002/2003, S. 10. In diese Richtung auch Mayer, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 93, 99. Beschl. zu Erich Korngold v. 28.06.2006, S. 1.; Beschl. zu Martha Brown-Neumann v. 29.11.2022, S. 1. Offenbar werden Aussage von Zeitzeug:innen auch bspw. durch Aufzeichnung von Interviews miteinbezogen, s. Kulturbericht 2013, S. 286. Beschl. zu Marie u. Alphons Thorsch v. 04.05.2017, S. 9; Restitutionsbericht 2001/2002, S. 6 f.; Restitutionsbericht 2005/2006, S. 6; Mayer, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 93, 101; Zechner, Eingreiftruppe, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 230, 241. Restitutionsbericht 2000/2001, S. 3; Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, 212. Ausdrücklich bestätigt durch die Kommission für Provenienzforschung, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.), Guide, 2019, S. 21, 25. Dazu bereits kritisch Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 213; jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 22 f. Diese Beobachtung teilt nun auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 83. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 2; Restitutionsbericht 2001/2002, S. 4; Restitu­ tionsbericht 2003/2004, S. 9; Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 211; Brunbauer-Ilić, Kulturgut, 2019, S. 241. So etwa im Beschl. zu Rudolf Gutmann v. 09.05.2008, S. 1; Beschl. zu Oscar Bondy v. 30.11.2012, S. 1; Beschl. zu Ferdinand Bloch-Bauer v. 17.04.2015, S. 1; Beschl. zu Georg Rosenberg v. 29.06.2021, S. 1. Vgl. dazu Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 211.

67  B. Der Verfahrensablauf nach dem Kunstrückgabegesetz

Aufgrund der Konstruktion als Selbstbindungsgesetz besteht kein Akteneinsichtsrecht außerhalb archivalischer und historischer Materialien.339 Die Dossiers sind der Kommission zufolge zudem aus unterschiedlichen Gründen – anders als die Empfehlungen des Beirats – nicht öffentlich zugänglich:340 Gegen eine solche Veröffentlichung werden vornehmlich der Schutz der umfassenden personenbezogenen Daten und der nicht-öffentlichen Quellen sowie der Mehraufwand einer Anonymisierung angeführt.341 Ergebnis und Kompromissversuch von regelmäßigen internen Diskussionen über die fehlende Veröffentlichung und Kritik an der damit verbundenen mangelnden Würdigung der Verfolgungsschicksale342 scheint nun die ausführlichere Sachverhaltsdarstellung in den Beschlüssen des Beirats seit 2020 zu sein. Denn diese enthalten seitdem nicht nur die für die Subsumtion erforderlichen Tatsachen in der Sachverhaltsdarstellung, sondern es wird offenbar gezielt Raum für die historischen Begebenheiten und damit die Familienschicksale geschaffen. Die Ergebnisse der Provenienzforschung werden zudem seit 2017343 im »Lexikon der österreichischen Provenienzforschung« in verkürzter Form im Internet gesammelt,344 teils auch mit über die Ausführungen der Beschlüsse hinausgehenden Informationen.345 Die Dossiers der Leopold Museum Privatstiftung, die seit November 2020 ebenfalls vom Beirat beraten wird, wurden demgegenüber vor der Inkorporierung stets mit Anonymisierungen im Internet veröffentlicht.346 Es ist davon auszugehen, dass dies infolge der Inkorporierung in die Praxis des Beirats unterbleibt. 3. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien

Da Verfahrenseinleitung und Provenienzforschung durch den Amtsermittlungsgrundsatz im Verfahren des KRG oftmals zusammenfallen, werden diese beiden Aspekte hier auch gemeinsam im Lichte der Washingtoner Prinzipien bewertet. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Washingtoner Prinzipien selbst eine solche gleichzeitige Abhandlung nicht fordern.

339 BVwG, Urt. v. 10.12.2014 – W195 2014039–1, RIS-Justiz; BVwG, Urt. v. 04.07.2016 – W214 2105263–1, RIS-Justiz;

VwGH, Beschluss v. 29.03.2017 – Ra 2017/10/0021; Restitutionsbericht 2002/2003, S. 10; Restitutionsbericht 2005/2006, S. 7. Kritisch Noll, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 233, 242; Noll, Anwesenheit, 2011, S. 27. Eingehend zu Auskunftsbegehren im Allgemeinen jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 67 ff. 340 Die Dossiers wurden aber bis 2014 angeblich den Rechtsnachfolger:innen zur Verfügung gestellt, vgl. Lillie, Feindliche Gewalten, 2017, S. 142. 341 Blimlinger zitiert nach Lillie, Feindliche Gewalten, 2017, S. 142; Kommission für Provenienzforschung, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.), Newsletter 10/2019, S. 5, 5 ff.; Vgl. Löscher, im Gespräch mit Uchtmann, »Alles Wesentliche […] sichergestellt und in das Kunsthistorische Museum verbracht«, Februar 2021, abrufbar unter: https://youtu.be/ZgW6Zvf6YA8. Kritisch: Noll, Anwesenheit, 2011, S. 31; Graf, in: FS Bailer, 2012, S. 269, 271. 342 Noll, Anwesenheit, 2011, S. 11. 343 Kunst- und Kulturbericht 2016, S. 186. 344 Sämtliche Beiträge des Lexikons sind abrufbar unter: https://www.lexikon-provenienzforschung.org. 345 Vgl. Löscher, im Gespräch mit Uchtmann, »Alles Wesentliche […] sichergestellt und in das Kunsthistorische Museum verbracht«, Februar 2021, abrufbar unter: https://youtu.be/ZgW6Zvf6YA8. 346 Die Dossiers der Leopold Museums Privatstiftung sind abrufbar unter: https://www.bmkoes.gv.at/Kunst-und-Kultur/restitution/leopold-museum-privatstiftung.html.

68  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

a) Zur Einbindung der Begünstigten in die Verfahrenseinleitung

In den Washingtoner Prinzipien finden sich zwar keine konkreten Vorgaben zur Verfahrenseinleitung, nach dem siebten Prinzip sollen die potenziellen Begünstigten jedoch ausdrücklich ermutigt werden, ihre Ansprüche geltend zu machen. Die Verfahren müssen der Theresien­städter Erklärung zufolge nicht nur transparent, sondern auch leicht zugänglich und zügig sein,347 denn gerade langsame Verfahren halten insbesondere ältere Geschädigte von einer Beanspruchung eines Kulturguts ab. Für die Erleichterung des Zugangs ist entscheidend, dass die potenziellen Begünstigten nicht, wie in der Nachkriegszeit, in die Rolle von Bittstellenden gedrängt werden,348 sondern die Verfahren auf einer Kooperation aller Beteiligten aufbauen.349 Als eine wichtige Weichenstellung für die leichte Zugänglichkeit werden daher, wie auch in der ordentlichen Gerichtsbarkeit, geringe Kosten bei der Geltendmachung der Ansprüche betrachtet.350 Gerade in diesem Zusammenhang wird regelmäßig die Beteiligung von (kostenintensiver) anwaltlicher Vertretung der potenziellen Begünstigten in den Verfahren diskutiert; teils wird jener vorgeworfen, eine »gerechte und faire Lösung« zu torpedieren.351 Zu einer Befristung der Geltendmachung von Ansprüchen treffen die Washingtoner Prinzipien keine Aussage. In ihrer Rezeption wird lediglich deutlich, dass eine Befristung, insbesondere wenn Existenz und Belegenheitsort unbekannt sind, nicht erfolgen soll.352 Andernfalls bestehe die Gefahr, Ungerechtigkeit zu perpetuieren, wie an vorherigen Befristungsversuchen deutlich geworden sei.353 Demgegenüber scheinen insbesondere Akteur:innen aus dem Kunsthandel aufgrund der drohenden »langfristige[n] Verunsicherung des Marktes« eine Befristung zu befürworten.354 Durch die Etablierung des speziellen Verfahrens nach dem KRG vollzieht Österreich mit der gesetzlichen Ausgestaltung eindeutig den Auftrag des elften Prinzips, innerstaatliche Verfahren einzurichten. In der Regel sind diese Verfahren für die Begünstigten auch sehr kostengünstig – schließlich erfahren sie in vielen Fällen aufgrund des amtswegigen Tätigwerdens erst nach der ministerialen Entscheidung, dass sie als Begünstigte in Betracht kommen. Das amts347 Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 735; Weller, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015,

S. 201, 207; Palmer, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 153, 167 ff.; Webber/Fisher, in: DCPTCA (Hrsg.), Terezin, 2019, S. 39, 42; Pferdmenges, KUR 2021, 50, 57. 348 Heuberger, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 413, 421; Schönberger, Was heilt Kunst?, 2019, S. 213. 349 Amigues, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 565, 567. 350 Nicholas, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 449, 451; Expert Conclusions, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 35–52, 46 f.; Heuberger, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 941, 947. 351 Vgl. Unfried, Unrecht, 2014, S. 455. 352 Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 17; Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 74. In diese Richtung zumindest für Kulturgüter der öffentlichen Hand auch Hellwig, Wortmeldung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 103, 107, 115. 353 Fuhrmeister, Wortmeldung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 103, 113 f.; in diese Richtung auch bereits Barfuß, JBl 2010, 569, 570. 354 Berking, KUR 2019, 179, 180; in diese Richtung auch Eberl, KUR 2009, 155, 156; Hellwig, Wortmeldung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 103, 107. So wird etwa darauf verwiesen, dass die »wahre Geschichte« eines Kulturguts nicht zu »erkaufen« sei, oder erklärt wird, dass »Werke wieder frei […]kommen müssen« und »mit der Idee eines Schlussstrichs« im Sinne einer Befristung sympathisiert wird (Berking und Nathan, Wortmeldungen, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 103, 112 ff.).

69  B. Der Verfahrensablauf nach dem Kunstrückgabegesetz

wegige Verfahren, beginnend mit der systematischen Provenienzforschung, führt daher grundsätzlich dazu, sowohl Kosten als auch weitere Zugangsbarrieren zu reduzieren und drängt die potenziellen Begünstigten nicht (erneut) in die Position von Bittstellenden. Darüber hinaus ermöglicht das amtswegige Verfahren auch die Auseinandersetzung mit geringwertigen Objekten, die andernfalls unberücksichtigt blieben und für deren Provenienz sowie mittelbar das Schicksal ihrer Eigentümer:innen so Raum geschaffen wird. Fraglich ist jedoch, ob das österreichische System, wie vom siebten Prinzip gefordert, die potenziellen Begünstigten zur eigenen Geltendmachung ermutigt und eine ausreichende Kooperation zwischen Staat und potenziellen Begünstigten besteht. Zwar wirkt sich das amtswegige Verfahren sehr stark zugunsten unwissender Begünstigter aus. Ob jedoch auch Personen, die bereits Kenntnis von einem möglicherweise »bedenklichen« Kulturgut haben, einen leichteren Zugang zum österreichischen Verfahren haben, ist deutlich kritischer zu bewerten. Denn das KRG als Selbstbindungsgesetz schreibt den Begünstigten kein formelles Antragsrecht zu,355 wenngleich die Kommission ihren eigenen Angaben zufolge die informellen Anregungen von Dritten prioritär behandelt. Eine Garantie, dass sich die Kommission mit dem Fall beschäftigt, besteht gleichwohl nicht. Deshalb ziehen de facto viele potenzielle Begünstigte sehr f­ rühzeitig eine anwaltliche Beratung hinzu, um sich bei der Kommission Gehör zu verschaffen,356 was die löbliche Absicht einer Entlastung der Begünstigten ad absurdum zu führen droht. Die Verfahrenseinleitung nach dem KRG folgt demnach offensichtlich einem eher paternalistischen Verständnis staatlicher Rückgabebemühungen. Losgelöst von der konkreten rechtlichen Implementierung als v­ erwaltungsprivatrechtliches Handeln sollte daher ein offizielles Antragsformular in digitaler und analoger Form für die Verfahrenseinleitung geschaffen werden, verbunden mit einer Erklärung der Kommission, in der sie sich zu einem Tätigwerden nach Eingang des Formulars verpflichtet. Das bereits Usus gewordene Verfahren würde letztlich nur schriftlich und öffentlich verankert werden, aber dadurch mehr Vertrauen bei den potenziellen Begünstigten schaffen, da ihnen so die Beachtung ihres Anliegens auch offiziell zugesichert würde. Wenn der Bund selbst mehrfach betont, dass eine formalisierte Beantragung angesichts der unbedingten Berücksichtigung von Anfragen keinen faktischen Unterschied begründen würde,357 ist nicht ersichtlich, warum er an anderer Stelle dann die – mit Blick auf die 382 Beschlüsse des Beirats nicht zu leugnende – Effizienz des Verfahrens durch eine Stärkung der Begünstigtenposition gefährdet sieht.358 Gleiches gilt für den Einwand, dass die betroffenen Einrichtungen bereits »unter öffentlicher Beobachtung und damit unter starkem moralischem Druck«359 stünden und sich dies durch Änderungen zugunsten der Begünstigtenposition erhöhe. Ungeachtet der Tatsache, dass öffentliche Beobachtung und moralischer Handlungsdruck ausdrücklich von den Washingtoner Prinzipien beabsichtigt sind, ist zu vermuten, dass bei einer klaren Regelung hinsichtlich der Verfolgung von Anträgen eine entscheidende Angriffsfläche für Kritik entfiele. Denn das amtswegige Verfahren ist mit Blick auf die Washingtoner Prinzipien eine der großen Errungenschaf-

355 S. zur Natur des KRG als Selbstbindungsgesetz unter § 4 C.II., S. 48. 356 So zumindest Unfried, Unrecht, 2014, S. 446.

357 Restitutionsbericht 2002/2003, S. 9; Restitutionsbericht 2003/2004, S. 9 f.

358 Restitutionsbericht 2002/2003, S. 9; Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwor-

tung, 2009, S. 203, 212.

359 Restitutionsbericht 2002/2003, S. 9.

70  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

ten der österreichischen Rückgabepraxis als Garant für Effizienz und Systematik, die durch die geäußerte Kritik nicht geschmälert werden soll. Bloß darf es nicht zugleich ein – wenn auch angesichts der großzügigen Praxis nur formelles – Hindernis für den Zugang Dritter, insbesondere potenzieller Begünstigter, zum Verfahren sein. »Gut gemeint, aber schlecht gemacht«, reicht gerade nicht für die Zugangsanforderungen der Washingtoner Prinzipien. Um insbesondere dem Aufruf des siebten Prinzips zur Ermutigung der potenziellen Begünstigten zu genügen, müsste neben der ausgezeichneten amtswegigen Verfahrenseinleitung ein Tätigwerden auf Anregung Dritter, insbesondere der potenziellen Begünstigten, formell abgesichert werden. b) Zur systematischen Vorgehensweise der Provenienzforschung

Die Washingtoner Prinzipien enthalten dann verhältnismäßig viele Anhaltspunkte zur Provenienzforschung, sodass deren Bewertung auf einige konkrete Vorgaben aus den Prinzipien selbst zurückgreifen kann. Bereits das erste Prinzip enthält den Auftrag, einschlägige Kulturgüter zu identifizieren, wozu nach dem zweiten Prinzip Unterlagen und Archive der Forschung zugänglich gemacht werden sollen. Dem dritten Prinzip zufolge bedarf es zudem ausreichender Mittel und geeigneten Personals für diese Identifizierung der Kulturgüter. Diesen ersten drei Prinzipien lässt sich somit eindeutig der Auftrag zu einer systematischen und spezialisierten Provenienzforschung entnehmen. Dies wurde auch in der Theresienstädter Erklärung ausdrücklich verankert und bereits zuvor mehrfach herausgearbeitet.360 Als unabdingbare Voraussetzungen einer solch systematischen Provenienzforschung werden zum einen die ausreichende und nachhaltige Finanzierung der Forschung,361 zum anderen der Zugang der Forscher:innen zu Archiven verstanden.362 Daneben werden aber auch nachhaltige rechtliche Rahmenbedingungen, wissenschaftliche Diskussionen sowie eine weitgehende Vernetzung und spezialisierte Ausbildung genannt.363 Wie bereits die besondere Hervorhebung der Aufgaben der Provenienzforschung im Wortlaut von drei der elf Washingtoner Prinzipien zeigt, wird diese als essenziell für eine »gerechte und faire Lösung« betrachtet.364 Nach der Erforschung und Identifizierung der einschlägigen Kulturgüter fordert das fünfte Prinzip dazu auf, diese zur Ermittlung der Begünstigten zu veröffentlichen, bestenfalls nach dem sechsten Prinzip ein zentrales Register aufzubauen. Zwar ruft der Wortlaut der Washingtoner Prinzipien demnach nur zur Veröffentlichung zwecks Ermittlung der Begünstigten auf, die Vorgabe wird jedoch durchweg als Aufruf zur Veröffentlichung sämtlicher Erkenntnisse über ein

360 Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999; Mikva, Opening Statement, in:

361

362 363

364

Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 23, 24 ff.; Amigues, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 565, 566 f.; Heuberger, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 413, 417; Rosenberg, KUR 2014, 119, 123; Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 4 ff.; Bindenagel, in: Weller et al. (Hrsg.), Handel, 2020, S. 59, 71. Expert Conclusions, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 35–52, 46 f.; Kreder, Brook. L. Rev. 2007, 155, 212; Raschèr, KUR 2009, 75, 76; Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 4 ff.; Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 73. Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 723; Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 19, 25. Rosenberg, KUR 2014, 119, 123; Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 73. Parzinger, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 49, 62; Mahlo, in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 8, 8.

71  B. Der Verfahrensablauf nach dem Kunstrückgabegesetz

entzogenes Kulturgut verstanden; insgesamt wird »maximale Publizität« als Ziel gefordert.365 Die Provenienzforschung dürfe der Rezeption der Prinzipien zufolge keine »Geheimwissenschaft« sein.366 So wurde in der Theresienstädter Erklärung schließlich der Aufruf zur Veröffentlichung der Erkenntnisse im Internet ausdrücklich verankert. Die Forderung nach Transparenz stellt aber nicht nur eine Vorgabe an die heutigen Eigentümer:innen und haltenden Institu­ tionen dar. Vielmehr sollen der Theresienstädter Erklärung zufolge alle Beteiligten Unterlagen zur Verfügung stellen, also auch die potenziellen Begünstigten.367 Ein Blick in die Provenienzforschung auf Grundlage des KRG macht unmittelbar deutlich, dass die Umsetzung des Auftrages zur systematischen Provenienzforschung wohl in keinem an­ deren teilnehmenden Staat so gelungen ist wie in Österreich. Die Kommission für Provenienzforschung beweist, dass in ihrer Disziplin keineswegs »Subunternehmer der Kunstgeschichte« als »Vertreter eines Orchideenlaberfaches«368 tätig sind. Vielmehr verfügt die Provenienzforschung über essenzielle Expertise für die Sachverhaltsermittlung bei entzogenen Kulturgütern und bringt die »Mühlen« der juristischen Beurteilung überhaupt erst »zum Mahlen«. Der von Eizenstat 2019 erhobene Vorwurf, die Provenienzforschung habe in europäischen, staatlichen Museen »geringe Priorität«,369 scheint also auf Österreich nicht zu zuzutreffen. Durch die intern gesammelten Sachverhaltsdarstellungen sowie »Negativdokumentationen« und die Organisation anhand eines Arbeitsplans wird die Effizienz der Provenienzforschung in Österreich offensichtlich. Damit widerlegt der österreichische Ansatz die oftmals getätigte Behauptung, eine wirklich flächendeckende Provenienzforschung sei unmöglich.370 Sie erscheint vielmehr als eine Frage der Kosten und damit des politischen Willens. Dieser ist angesichts der in die Provenienz­ forschung investierten Mittel und des entsprechenden Personals in Österreich zweifelsfrei gegeben. Die Organisation der Provenienzforschung kann daher durchaus als die ideale Umsetzung der gestellten Anforderungen aus den ersten drei Prinzipien betrachtet werden. Deutlich problematischer ist jedoch der Umgang mit den Erkenntnissen der Provenienzforschung, also die Umsetzung des fünften und sechsten Prinzips. Denn die Erkenntnisse der Provenienzforschung aus den so genannten »Dossiers« werden – außer bei der Leopold Museum Privatstiftung – nicht veröffentlicht. Indem die Tatsachen aus den Dossiers nur im Wege der oftmals kurzen Sachverhaltsdarstellung in den Beschlüssen nach außen gelangen, wird den Vorgaben der Washingtoner Prinzipien nach »maximaler Publizität« nicht genügt. Ein wenig Abmilderung erfährt dies zwar durch den seit 2020 erhöhten Umfang der historischen Ausführungen in den Beschlüssen sowie durch die Eintragungen im »Lexikon für P ­ rovenienzforschung«. Zudem kann dieses durchaus als eine Annäherung an die Forderung eines zentralen Registers aus dem sechsten Prinzip gedeutet werden. 365 Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999.

366 Heuberger, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 413, 419; vgl. Expert Conclusions,

367

368 369

370

in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 35–52, 46 f.; Masurovsky, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 784, 786 ff.; Heuberger, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 941, 946 ff.; Raschèr, KUR 2009, 75, 76; Weller, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.), Guide, 2019, S. 9, 13; Mahlo, in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 8, 9; Baresel-Brand et al., in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 83, 93; Schönberger, Was heilt Kunst?, 2019, S. 214. Expert Conclusions, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 35–52, 46 f.; Heuberger, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 941, 947; Keim, Wortmeldung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 103, 111. Lahusen, KUR 2022, 91, 95. Eizenstat, Art, in: Washington Post Online v. 02.01.2019. Hellwig, Wortmeldung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 103, 108.

72  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

Eine die einzelnen Fälle betreffende vollständige Transparenz im Sinne der Washingtoner Prinzipien wird durch diese Maßnahmen gleichwohl nicht geschaffen. Es besteht daher weiterhin das Risiko, dass nicht erkennbar ist, auf welcher konkreten Sachverhaltsgrundlage der Beirat einen Beschluss gefasst hat. Wenn bereits die Provenienzforschung in der Leopold Museum Privatstiftung ihre Dossiers entsprechend vorbereiten konnte, sollte dies bei entsprechender finanzieller Absicherung eines etwaigen Mehraufwands auch für die staatlichen Sammlungen gelingen. Zumal sich dem datenschutzrechtlichen Vorbehalt unkompliziert durch Unkenntlichmachung der sensiblen Daten begegnen ließe und die Bedenken auch datenschutzrechtlich nicht zwingend sind.371 Mit Blick auf die Transparenz ist ebenfalls die Beobachtung problematisch, dass die Kommission dem Beirat vollständig ausgearbeitete Beschlussentwürfe zur Verfügung zu stellen scheint. Damit nimmt die Kommission letztlich die juristische Beurteilung vor, obwohl diese in die Kompetenz des Beirats als das juristische Gremium fällt. Dies sollte zumindest transparent – also außerhalb der Geschäftsordnung öffentlich – gemacht werden, indem auch über den Umfang der in einer Beiratssitzung dann noch möglichen Diskussion und Korrektur der Beurteilung durch die Kommission informiert wird. Während somit die Systematik der Provenienzforschung in Österreich auf dem internationalen Parkett ihresgleichen sucht, ist die Transparenz und Veröffentlichung der konkreten Ergebnisse noch ausbaubedürftig für eine ideale Erfüllung der Anforderungen des fünften und sechsten Prinzips.

II. Die juristische Beurteilung durch den Kunstrückgabebeirat Nach dem Erhalt des Dossiers nimmt der Beirat eine rechtliche Würdigung des von der Kommission erarbeiteten Sachverhalts anhand der einzelnen Tatbestände des KRG vor, § 3 Abs. 4 S. 1 KRG. An dieser Stelle ist jedoch erneut auf die Beobachtung hinzuweisen, dass der Beirat gerade nicht selbst die rechtliche Würdigung vorzunehmen scheint, sondern ihm diese offenbar durch einen Beschlussentwurf der Kommission vorgelegt wird.372 Jedenfalls spricht er sich beruhend auf den Unterlagen der Kommission in einem Beschluss für oder gegen eine Restitution aus.373 Der Beirat ist infolge der Selbstbindungskonstruktion des KRG ein internes Beratungsgremium des privatwirtschaftlich tätigen Bundes,374 seine Empfehlung ist daher nicht bindend. Der:die zuständige Bundesminister:in hat sodann die finale Entscheidungskompetenz über die Rückgabe inne. In der bisherigen Praxis wurde der Empfehlung aus den 382 Beschlüssen aber stets gefolgt.375 Die Anhörung – nicht die Beschlussfassung – des Beirats wird von § 2 Abs. 2 S. 1 KRG vor dieser finalen Entscheidung über die Restitution angeordnet und soll ein objektives Verfahren garantieren.376 Dabei kann sich eine Empfehlung sogar präventiv auf noch nicht aufgefunde-

371 S. dazu Baresel-Brand et al., in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 83, 92. 372 Zu dieser Beobachtung s. unter § 5 B.I.2., S. 66.

373 S. zur Binarität der Abhilfemaßnahmen ausführlich unter § 10 A., S. 307. 374 Zur Natur des KRG als Selbstbindungsgesetz s. unter § 4 C.II, S. 48.

375 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 3; Toman, in: Kräutler/Frodl (Hrsg.), Museum,

2004, S. 243, 250; Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, 209 f.; Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 213; Graf, in: FS Bailer, 2012, S. 269, 270. 376 Kommission für Provenienzforschung, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.), Newsletter 10/2019, S. 5, 5 ff.

73  B. Der Verfahrensablauf nach dem Kunstrückgabegesetz

ne,377 aber eindeutig identifizierbare, entzogene Gegenstände einer Sammlung mit Wirkung für die Zukunft beziehen.378 Es ist daher davon auszugehen, dass keine erneute Anhörung des Beirats erfolgt, wenn weitere Objekte aus der Sammlung auftauchen. 379 Wenngleich sich diese präventive Empfehlung bisher in der Regel auf geringwertige Objekte bezogen hat, lässt sich darin eine Abweichung von der Anhörungspflicht des Beirats sehen. 1. Die Beschlussfassung des Kunstrückgabebeirats

Bei seiner Beschlussfassung geht der Beirat ausdrücklich von der Richtigkeit der von der Kommission vorgelegten Unterlagen aus. Er begründet seine Beurteilung allein auf Grundlage des im Dossier dargestellten Sachverhaltes.380 Zu Beginn der Beiratssitzungen präsentiert die Leitung der Kommission für Provenienzforschung dem Beirat den zu beurteilenden Sachverhalt. Bestehen in einer Sitzung Unklarheiten zum Dossier kann der Beirat Mitglieder der K ­ ommission für Provenienzforschung zudem für Rückfragen telefonisch erreichen, gelegentlich wird die Sitzung bei erheblichen Unklarheiten auch vertagt. In der Regel erörtert der Beirat in seiner einem Gerichtsurteil gleichenden rechtlichen Beurteilung des Sachverhalts ausführlich, warum er eine Tatbestandsvoraussetzung als gegeben betrachtet. Wenn die Erfüllung des Tatbestandes offenkundig an einem anderen, später zu prüfenden Tatbestandsmerkmal scheitert, lässt der Beirat zumeist dahingestellt, ob das vorherige Tatbestandsmerkmal erfüllt ist. Eine hilfsweise Prüfung der weiteren Tatbestandsvoraussetzungen ist also unüblich;381 ebenso wenig prüft der Beirat unproblematische Voraussetzungen ausführlich.382 Die Länge der Beschlüsse variiert sehr stark, in den letzten Jahren ist jedoch eine Tendenz zur Ausführlichkeit zu erkennen.383 Entscheidungen betreffend dieselben Geschädigten vor ausländischen384 oder inländischen385 äquivalenten Gremien werden von Beirat zuweilen genannt oder sogar erläutert und 377 Wenn ein Dossier nachträglich entdeckte Objekte einer bereits vom Beirat behandelten Sammlung betrifft und diese ­O bjekte

über dasselbe Schicksal verfügen, verweist der Beirat meist lediglich auf den bereits ergangenen Beschluss, vgl. nur Beschl. zu Clarice Rothschild v. 27.03.2000, S. 1, u. Beschl. zu Louis Rothschild v. 18.08.2000, S. 1. 378 S. nur Beschl. zu Hans u. Gertrude Fischl v. 24.06.2009, S. 2; Beschl. zu Theodor Sternberg v. 15.04.2011, S. 2; Beschl. zu Wilhelm Hernfeld v. 14.06.2019, S. 2 f.; Beschl. zu Siegfried Fuchs v. 15.10.2015, S. 3 u. 29.06.2021, S. 4; Beschl. zum Stift Göttweig v. 25.09.2020, S. 6; Beschl. zu Anna Mautner v. 29.06.2021, S. 4; Beschl. zu Ernst Kris v. 29.06.2021, S. 5; Beschl. zu Oscar Bondy v. 05.11.2021, S. 8; Beschl. zu Hanns Fischl v. 05.11.2021, S. 7; Beschl. zu Sigmund Stiassny v. 05.11.2021, S. 9; Beschl. zu Saul Juer v. 29.11.2022, S. 5. 379 Nicht ersichtlich ist, warum der Beirat dann im Beschl. zu Sigmund Stiassny v. 05.11.2021, S. 9, ausführt, dass »erst eine Empfehlung ausgesprochen werden kann, sollte eine Identifizierung und genaue Zuordnung« der Objekte erfolgt sein. 380 Vgl. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 4; Beschl. zu Anton Lanckoronski v. 27.10.1999, S. 2. Bei freiwilliger Unterwerfung anderer Institutionen unter das KRG stützt sich der Beirat nicht auf die Dossiers und Beilagen der Kommission für Provenienzforschung, sondern die Unterlagen der anderen Institutionen, vgl. nur Beschl. zu Siegfried Julius v. 03.07.2014, S. 1. 381 Vgl. nur Beschl. zu Rudolf Gutmann v. 12.10.2012, S. 7; Beschl. zu Sammlung Zsolnay v. 26.09.2014, S. 7 (nicht ersichtlich ist, warum der Beirat diesen Beschluss nicht mit dem Namen der Eigentümer bezeichnet). 382 Besonders kritisch ist dies im Kontext der Rechtmäßigkeit des Übergangs in Bundeseigentum zu bewerten, s. dazu eingehend unter § 8 A.IV., S. 263. 383 Der wohl längste Beschluss ist der Beschl. zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011 mit 34 Seiten. 384 Im Beschl. zu Rudolf Mosse v. 16.03.2018, S. 3, verweist der Beirat darauf, dass das deutsche Bundesamt für offene Vermögensfragen einen verfolgungsbedingten Entzug annahm. Ebenso vermerkt er im Beschl. zu Arthur Feldmann v. 03.10.2008, S. 2, dass das britische SAP eine Entziehung der Objekte bejahte. 385 In dem Beschl. zu Hans u. Gretrude Fischl v. 01.06.2007, S. 1, dem Beschl. zu Siegfried Fuchs v. 15.10.2015, S. 2, sowie dem Beschl. zu Moriz Grünebaum v. 11.01.2019, S. 2, nennt der Beirat zumindest die Entscheidungen auf kommunaler Ebene der Stadt Wien.

74  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

damit offenbar zumindest als Argumentationshilfe herangezogen. Sie dienen jedoch nicht als Grundlage der Beschlussfindung und auch eine ausdrückliche umfassende Stellungnahme zu den Entscheidungen erfolgt nicht. Gemäß § 3 Abs. 4 S. 2 KRG kann der Beirat Sachverständige und geeignete Auskunftspersonen als externe Beratung einbeziehen, eine diesbezügliche Verpflichtung besteht aber nicht. Es ist nicht bekannt, dass der Beirat von dieser Möglichkeit bereits Gebrauch gemacht hat. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass er seiner Ansicht nach über ausreichende Expertise in den eigenen Reihen verfügt. So lässt der Beirat ein Rechtsgutachten von der Finanzprokuratur, »Anwaltschaft der Republik« und zugleich beratendes Mitglied, anfertigen und verwendet dieses im Anhang eines Beschlusses als Begründung des zuvor kurz festgestellten Ergebnisses.386 Augenscheinlich werden die Aussagen der Eigentümer:innen und ihrer Nachkommen, die das nationalsozialistische Regime überlebt haben, gelegentlich als »wohl am besten informier­ te«387 Zeitzeug:innen vom Beirat in die Entscheidungsfindung miteinbezogen. Diese Einbeziehung erfolgt jedoch nur äußerst selten und nie durch Anhörung in den Sitzungen,388 sondern ist allein durch schriftliche Stellungnahmen möglich,389 zu denen der Beirat aber dann nicht dezidiert Position bezieht.390 Ihm steht es mithin vollkommen frei, die schriftlichen Stellungnahmen der potenziellen Begünstigten zu berücksichtigen; eine Pflicht zur Einbeziehung besteht infolge seiner rein verwaltungsinternen Funktion im Rahmen eines Selbstbindungsgesetzes nicht.391 Ein Beschluss des Beirats setzt die Anwesenheit der Hälfte seiner Mitglieder inklusive der vorsitzenden Person – mithin vier Personen – und die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen voraus, § 3 Abs. 7 KRG.392 Bei Stimmengleichheit ist der Geschäftsordnung zufolge die Stimme des Vorsitzes maßgeblich. Den Regelfall bildet jedoch eine einstimmige Empfehlung. Lediglich in zwei Beschlüssen393 wurde mit Stimmenmehrheit entschieden, in weiteren drei Beschlüssen394 sind Enthaltungen dokumentiert und in einem ablehnenden Beschluss von 2018395 machte der Beirat keine Ausführungen zu den Stimmverhältnissen. Dies mutet zumindest aufgrund der Unüblichkeit dieser fehlenden Ausführung zum damaligen Zeitpunkt seltsam an; seit Juni 2021 enthalten indes die ergangenen Beschlüsse konsequent keine Ausführungen 386 Beschl. zu Salomon Rosenzweig v. 20.06.2008, Beilage. Wohlgemerkt war zu diesem Zeitpunkt eine Vertretung der Finanz-

prokuratur nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 KRG a.F. noch stimmberechtigtes Mitglied. Fraglich ist, ob der Beirat genauso gehandelt hätte, wenn die Finanzprokuratur schon damals nur über eine beratende Funktion verfügt hätte. 387 Beschl. zu Louis Rothschild v. 10.04.2002, S. 2. 388 Restitutionsbericht 2005/2006, S. 37. 389 Beschl. zu Rudolf Gutmann v. 12.10.2012, S. 1; Beschl. zu Erich Lederer v. 30.11.2012, S. 1 f.; Beschl. zu Martha BrownNeumann v. 29.11.2022, S. 1. 390 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 1 f. 391 Kritisch: Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 216; Noll, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 233, 242; Noll, Anwesenheit, 2011, S. 12, 26 f.; Noll, in: Konrad (Hrsg.), Rechtsprobleme, 2015, S. 442, 448. Demgegenüber gelten bei Verfahren der Stadt Wien die potenziellen Begünstigten als »am Verfahren Beteiligte« und werden in den Sitzungen gehört, s. Wladika, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 263, 266 f. 392 Bei Beschlüssen über die »extreme Ungerechtigkeit« von Nachkriegsentscheidungen wird Einstimmigkeit gefordert, s. Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 9; Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, Anfragebeantwortung Nationalrat, Nr. 2652/AB, XXIV. GP, S. 3. Zur »extremen Ungerechtigkeit« von Nachkriegsentscheidungen s. ausführlich unter § 9 B.II.4., S. 287. 393 Beschl. zu Irma u. Siegfried Kantor v. 22.11.1999, S. 1; Beschl. zu Heinrich Rieger v. 25.11.2004, S. 1. 394 Beschl. zu Ferdinand Bloch-Bauer v. 28.06.1999, S. 1; Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 18.08.1999, S. 13; Beschl. zu Jenny Steiner v. 10.10.2000, S. 4 f. 395 Beschl. zu Carl Heumann v. 16.03.2018, S. 1.

75  B. Der Verfahrensablauf nach dem Kunstrückgabegesetz

zu den jeweiligen Stimmverhältnissen mehr.396 Ein Grund für diese Änderung der bisherigen standardisierten Formulierung wird vom Beirat nicht genannt. Zu vermuten ist jedoch, dass sie auf die österreichische Diskussion zum Sondervotum und zur Transparenz der Stimmverhältnisse bei Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes zurückzuführen ist. Die Reform wurde von der Justiz, der auch einige Mitglieder des Beirats zuzuordnen sind, weitestgehend abgelehnt.397 Neben der fehlenden Öffentlichkeit der Sitzungen sind nach der Geschäftsordnung sämtliche Mitglieder des Beirats zur Verschwiegenheit verpflichtet, sodass eine Veröffentlichung der Beschlüsse von besonderer Bedeutung ist. Seit 2007398 werden die Beschlüsse des Beirats – im Gegensatz zu den Dossiers der Kommission399 – nach der Beschlussfassung im Internet veröffentlicht. Zuvor waren die einzelnen Empfehlungen nicht öffentlich, lediglich die grundlegenden Wertungen ließen sich dem jährlichen Restitutionsbericht entnehmen.400 Damit wird der Umgang mit den verwaltungsinternen Beratungen des Beirats auch den Anforderungen an die Privatwirtschaftsverwaltung gerecht. Dort wird nämlich der Veröffentlichung von Entscheidungen eine zentrale Bedeutung für die Gewährleistung ihrer Rechtmäßigkeit zugesprochen.401 Während die Eigentümer:innen im Beschluss stets namentlich genannt werden,402 dürfen die (potenziellen) Begünstigten der Geschäftsordnung zufolge grundsätzlich nur anonymisiert Erwähnung finden.403 2. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien

Während die Washingtoner Prinzipien verhältnismäßig ausführliche Vorgaben zur Provenienzforschung enthalten, lassen sich ihnen kaum konkreten Richtlinien für die juristische Beurteilung der von der Provenienzforschung ermittelten Sachverhalte entnehmen. Lediglich aus der Konkretisierung durch die Theresienstädter Erklärung folgt, dass entsprechend dem fünften Prinzip auch die juristische Beurteilung möglichst transparent und öffentlich zugänglich sein muss. Als ein entscheidendes Kriterium der Transparenz wird der »Dialog« mit den Geschädigten betrachtet, etwa durch eine Anhörung vor der Entscheidung, teils wird aber auch deren Beteiligung an der Entscheidung »auf gleicher Augenhöhe« gefordert.404 Die Transparenzforderung begrenzt sich jedoch nicht nur auf die Geschädigten, sondern auch die Öffentlichkeit muss ausreichend eingebunden werden, bestenfalls durch eine Publikation der juristischen Beurteilung auf Englisch.405 Zugleich ermöglichen alternative Verfahren im Gegensatz zu Gerichtsprozessen eine umfassendere Berücksichtigung der Privatsphäre der 396 Statt aller s. nur Beschl. zu Siegfried Julius v. 29.06.2021, S. 1; Beschl. zu Hanns Fischl v. 05.11.2021, S. 1; Beschl. zu Adalbert

Parlagi v. 30.03.2022, S. 1.

397 S. dazu Klatt, Sondervotum, in: JuWiss Online v. 21.04.2021.

398 Restitutionsbericht 2007, S. 9; Zechner, Eingreiftruppe, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 230, 242. Graf und Fitz zufolge

seit 2008, s. Graf, in: FS Bailer, 2012, S. 269, 281, 270; Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 5.

399 S. zu den Dossiers der Kommission unter § 5 B.I.2., S. 66. 400 Graf, NZ 2005, 321, 322.

401 Wenger, in: Bös/Weber (Hrsg.), FS Korinek, 1972, S. 189, 207 f.

402 Kritisch aus datenschutzrechtlicher Perspektive Rabl, JBl 2010, 681, Fn. 11.

403 Ausnahmen davon finden sich aber z.B. im Beschl. zu Louis u. Clarice Rothschild v. 20.01.1999, S. 1; Beschl. zu Alma Mahler-

Werfel v. 18.08.1999, 27.10.1999, S. 1; Beschl. zu Arthur Feldmann v. 03.10.2008, S. 1.

404 Heuberger, KUR 2007, 65, 66; Heuberger, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 413,

420; Schönberger, Was heilt Kunst?, 2019, S. 213; Pferdmenges, KUR 2021, 50, 53 ff.

405 Vgl. Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 17; Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 74.

76  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

Geschädigten. Es ist also stets eine Abwägungen zwischen ihrer Privatsphäre und dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit, das bei staatlich finanzierten oder getragenen Museen besonders hoch ist, vorzunehmen.406 In den Entstehungsmaterialien der Washingtoner Prinzipien wird für die juristische Beurteilung eine Sorgfältigkeit der Entscheidung, ein Bewusstsein für den Einzelfallcharakter und – trotz des Aufrufs zur Entwicklung von Lösungen jenseits des geltenden Rechts – eine Berücksichtigung der bestehenden Rechtsnormen gefordert.407 Wie bereits im Rahmen der Rechtsnatur und des Inhalts der Washingtoner Prinzipien erläutert wurde, bedeutet dies jedoch ledig­ lich die Anerkennung des geltenden Rechts, nicht aber eine limitierende Funktion für die Entwicklung »gerechter und fairer« Lösungen.408 Die letztendliche Stellungnahme des Gremiums soll umfassend und konsistent mit etwaigen »Präzedenzfällen« begründet werden,409 gegebenenfalls auch bindend sein.410 Im Zusammenhang mit den vom Beirat getroffenen Wertungen wird teils kritisiert, dass ihm bei lückenhaften Sachverhalten ein zu großer Interpretationsspielraum zustünde. Dieser führe nach teilweise vertretener Ansicht zu einer Ablehnung der Restitution,411 andere vertreten wiederum, dass dadurch auch bei fehlender Stichhaltigkeit des Rückgabebegehrens restituiert werde.412 Beide Richtungen der Kritik sind angesichts des weiten Wortlauts der Tatbestände des KRG und der umfassenden Rechtsfortbildung des Beirats nicht von der Hand zu weisen. Allerdings belegt die Konsistenz der Empfehlungspraxis, dass dieser Interpretationsspielraum in äußerst einheitlicher Ausprägung genutzt wird. Auch der Vorwurf, die Beschlüsse des Beirats seien zu knapp,413 bestätigt sich bei ihrer Lektüre nicht. Höchstens zu Beginn der Empfehlungspraxis waren die Ausführungen des Beirats ausbaufähig, mittlerweile sind seine Beschlüsse mit gelegentlich auch über 30 Seiten zweifelsohne als besonders ausführlich einzuordnen. Kritisch zu beurteilen ist jedoch, dass der Beirat nicht häufiger auch »hilfsgutachterlich« weiterprüft oder unproblematischen Punkte ausführlicher darlegt. Zwar ist es in juristischen Verfahren durchaus anerkannt, unproblematische Voraussetzungen nicht ausführlich zu prüfen; in Gerichtsverfahren werden außer Streit stehende Aspekte ebenso wenig umfassend dargelegt. Zum einen ist das Verfahren nach dem KRG jedoch kein Gerichtsverfahren, wie von den Verantwortlichen stets besonders betont wird, sondern letztlich ein verwaltungsinternes Beratungsverfahren, das mit einer unverbindlichen Einschätzung, dem »Beschluss«, endet. Zum anderen dient die Subsumtion des Beirats nicht nur dem schlichten »Abarbeiten« von Prüfungsschritten. Die Beschlüsse beabsichtigen vielmehr, im Zuge der Subsumtion alle »Fragen über die Besitzverhältnisse während der Zeit der NS-Herrschaft und der unmittelbaren 406 Palmer, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 153, 154, 171 f.; Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische

Übernahme, 2018, S. 19, 32.

407 Amigues, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 565, 567. 408 S. zum nationalen Recht als Mindeststandard unter § 4 B.II.1., S. 42.

409 Palmer, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 153, 167 ff.; Weller, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 201,

201 ff.; Campfens, in: dies. (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 231, 239 f.

410 Vgl. Raue, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Geschichte, 2007, S. 287, 301; a.A. offenbar Herman, Resti-

tution, 2021, S. 67. Dies entspricht auch den Anforderungen an die richterliche Begründungspflicht, s. Brüggemann, Begründungspflicht, 1971, S. 129. 411 Vgl. Kallir, Fries, in: Der Standard Online v. 04.03.2015. 412 Unfried, Unrecht, 2014, S. 451. 413 Jungwirth, in: Gschiel et al. (Hrsg.), Schneidern, 2010, S. 249, 254; Graf, in: FS Bailer, 2012, S. 269, 281.

77  B. Der Verfahrensablauf nach dem Kunstrückgabegesetz

Nachkriegszeit«414 aufzuklären. Dies illustrieren etwa auch die seit 2021 umfassenderen Sachverhaltsangaben in den Beschlüssen, die größtenteils nicht zwingend für die juristische Beurteilung des Falles sind. Gerade im vorliegenden Kontext der Entziehungen im Nationalsozialismus wären mithin über das juristisch Notwendige hinausgehende, »hilfsgutachterliche« Ausführungen angebracht. Dies bietet sich zur Absicherung der eigenen rechtlichen Beurteilung außerdem besonders bei Verfahren an, die in der Öffentlichkeit sehr präsent sind. Die Begründungspraxis des Beirats verdient gleichwohl besondere Anerkennung im Lichte der Washingtoner Prinzipien: In kaum einer anderen Jurisdiktion erfolgt die Argumentation so ausdifferenziert und konsistent, trotz der vielen Fallstricke des weitgefassten KRG. Auch wird insbesondere aus der Empfehlungspraxis der letzten Jahre deutlich, dass der Beirat trotz seiner konsistenten Abstrahierungen stets auch den Einzelfall berücksichtigt und etwaige Abweichungen von vorherigen Wertungen umfassend darlegt. Gerade aufgrund der Konsistenz seiner juristischen Beurteilung ist nicht ersichtlich, warum nicht festgeschrieben wird, dass sich der:die zuständige Bundesminister:in durch die Empfehlung des Beirats grundsätzlich gebunden sieht, zumal dies angesichts der hundertprozentigen Übereinstimmungsquote mit der Einschätzung des Beirats in seinen 382 Beschlüssen de facto der Fall ist. Der:die Bundesminister:in würde sich so zumindest zur faktischen Rolle als reiner Formalakt bekennen und damit auch verhindern, dass sich der Beirat auf seine formalrechtlich bloß beratende Tätigkeit zurückzieht. 415 Auch hier gilt, dass die Selbstbindungskonstruktion des KRG nicht einer Erklärung im Wege stünde, der zufolge der:die Bundesminister:in der Einschätzung des Beirats grundsätzlich folgt. Zugleich würde ein – wenn auch sich bisher nicht negativ auswirkender – Unsicherheitsfaktor entfernt. Hinsichtlich der Transparenz der juristischen Beurteilung des Beirats zeichnet sich ein ambivalenteres Bild. Zunächst ist zweifelsfrei positiv herauszustellen, dass seit 2007 die Beschlüsse des Beirats im Internet zur Verfügung stehen, teilweise sogar auf Englisch, und dies soll in Zukunft noch ausgebaut werden. Kritisch im Lichte der Transparenzforderung aus den Washingtoner Prinzipien ist indes die seit 2021 fehlende Darstellung der Stimmverhältnisse im Beirat zu betrachten. Die aus der verfassungsrechtlichen Diskussion stammenden Argumente sind zwar nachvollziehbar, scheinen jedoch für die Washingtoner Prinzipien, die eine möglichst hohe Publizität fordern, nicht übertragbar, schürt eine solche »Geheimhaltung« der Eindeutigkeit eines Ergebnisses doch stets auch das Misstrauen in solche – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – politisierten Verfahren. Der Beirat sollte daher zu seiner vorherigen Praxis zurückkehren und die Stimmverhältnisse transparent machen. Neben dem Ausschluss der Öffentlichkeit ist besonders die fehlende Anhörung der Geschädigten und der potenziellen Begünstigten in den Sitzungen des Beirats zu kritisieren. Zwar ist diese letztlich eine logische Fortsetzung der fehlenden formellen Integration in der Verfahrenseinleitung. Denn das KRG als Selbstbindungsgesetz sieht auch in der Beratung des verwaltungsinternen Gremiums keine Notwendigkeit, die von dem Gesetz möglicherweise profitierenden Personen miteinzubinden. Nichtsdestotrotz erscheint die Anhörung der potenziellen Begünstigten auch mit Blick auf ein gerechtes Verfahren zumindest geboten, wenn sie von ei414 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 4; Restitutionsbericht 1998/1999, S. 1.

415 So auch Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 3; Meissel/Jungwirth, in: Pawlowsky/

Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 104, 105; Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 211 ff.; Noll, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 233, 241 f.; Schnabel/Tatzkow, Nazi Looted Art, 2007, S. 135; Noll, Anwesenheit, 2011, S. 26 f., 31 ff., 67.

78  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

nem sie betreffenden Verfahren Kenntnis haben; die bloß schriftliche Stellungnahme – ohne Absicherung ihrer tatsächlichen Berücksichtigung durch den Beirat – ist nicht ausreichend.416 Dabei ist unerheblich, dass sich der mögliche Beitrag einer Anhörung der potenziellen Begünstigten in vielen Fällen gerade geringwertiger Objekte in Grenzen halten wird.417 Demgegenüber wird der Bund de facto angehört, indem er trotz der formellen Weisungs­ unabhängigkeit faktisch durch die Ministerien und die Finanzprokuratur repräsentiert wird. Die juristische Beurteilung durch die Finanzprokuratur wurde sogar einmalig als Gutachten in einen Beschluss übernommen. Diese Delegierung der Begründung an gewissermaßen »interne Dritte«, die nicht stimmberechtigt, aber beratungsberechtigt sind, ist äußerst kritisch zu betrachten, denn der Beirat soll gerade selbst eine rechtliche Würdigung des Sachverhalts vornehmen. Auch entsteht durch die Abtretung der Begründung an die Finanzprokuratur der Eindruck, der Beirat erachte seine eigenen Kompetenzen oder die der anderen Mitglieder als nicht ausreichend.418 Selbst, wenn dies der Fall wäre, erscheint weiterhin fraglich, warum der Beirat nicht ebenso von der – bisher ungenutzten – Möglichkeit externer Expertise nach § 3 Abs. 4 S. 2 KRG Gebrauch macht. Bisher hat der Beirat nicht erneut ein Gutachten der Finanzprokuratur angehängt, dabei sollte es für einen objektiveren Eindruck des Verfahrens auch bleiben. Von der Anrufung tatsächlich nicht aus seinen Reihen stammender Expertise kann und sollte er jedoch Gebrauch machen. Obwohl von Seiten des Beirats Verständnis für diese Kritikpunkte gezeigt und erklärt wird, dass nicht auf – offenbar dann bloß schriftliche – Äußerungen aus dem Kreis der potenziellen Begünstigten verzichtet werden könne oder solle, befürchten seine Mitglieder zugleich durch die Einbeziehung von potenziellen Begünstigten oder deren Vertretung eine einseitige Vereinnahmung.419 Dies ist jedoch wenig überzeugend, schließlich würde durch eine bloße Anhörung der potenziellen Begünstigten wahrhaftig noch keine einseitige Gewichtsverlagerung zugunsten dieser entstehen – eine Mehrheit der Beiratsmitglieder stammt aus dem ministerialen Staatsdienst, seine »Schlagseite« ist also evident nicht bei den Begünstigten zu verorten. Das KRG als Selbstbindungsgesetz erfordert keine Anhörung seiner potenziellen Begünstigten, doch verbietet es diese auch nicht. Auch hier gilt daher, dass es »zwei verschiedene Dinge [sind], ob man die Betroffenen von der Pflicht zur Mitwirkung entbindet oder ihnen das Recht auf Mitwirkung verwehrt.«420 Gerade aufgrund des im Vergleich zu Gerichtsprozessen weniger formalisierten Verfahrens vor dem Beirat ließe sich ein Raum für Anhörungen und Erzählungen der potenziellen Begünstigten schaffen, wenn diese ausnahmsweise bereits bekannt sind.

416 Vgl. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 1; Noll, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.),

417

418 419

420

Enteignete Kunst, 2006, S. 233, 242; Ploil, Parnass 03/2009, 10, 10 f.; Rabl, JBl 2010, 681, 683; Schoenberg, Austria, in: LA Opus Online v. 22.03.2011; Noll, Anwesenheit, 2011, S. 67; Noll, in: Konrad (Hrsg.), Rechtsprobleme, 2015, S. 442, 448; Petro­ poulos, Report, 2015, S. 67 f.; Cwitkovits/Huda, in: Redmond-Cooper (Hrsg.), Museums, 2021, S. 134, 138. Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 216; vgl. Restitutionsbericht 2002/2003, S. 9. So auch Graf, in: FS Bailer, 2012, S. 269, 275. Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, Fn. 38. Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 216.

79  B. Der Verfahrensablauf nach dem Kunstrückgabegesetz

III. Die Übereignung an die Begünstigten durch den:die Bundesminister:in Wenngleich auch aus dem Wortlaut des KRG nicht unmittelbar ersichtlich, zeigt die Praxis, dass ein Großteil der im Kontext der Rückgabe entzogener Kulturgüter relevanten Aufgaben in Österreich letztlich den zuständigen Bundesministerien zukommt. Der:die zuständige Minis­ ter:in kann zumindest gemäß dem Wortlaut des § 2 Abs. 2 KRG auch bereits nach der Anhörung des Beirats tätig werden; einer Beschlussfassung bedarf es demnach nicht.421 Soweit – wie bisher üblich – eine Beschlussfassung des Beirats vorliegt, ist der Geschäftsordnung des Beirats zufolge zunächst der:die zuständige Minister:in von der Empfehlung in Kenntnis zu setzen. Mangels Bindungswirkung der Empfehlung kann in der Entscheidung theoretisch auch von der Ansicht des Beirats abgewichen werden.422 Dies ist in der bisher 382 Beschlüsse umfassenden Empfehlungspraxis jedoch noch nicht eingetreten.423 Insofern ist zu vermuten, dass eine Abweichung von der Einschätzung des Beirats erhebliche politische Debatten entzünden würde.424 Entscheidet sich der:die Minister:in für eine Rückgabe, obliegt den jeweiligen Ministerien anschließend auch die Ermittlung der Begünstigten der Rückgabe sowie die Organisation und Abwicklung der Übereignung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den Entscheidungen nach dem KRG als Selbstbindungsgesetz nicht um Verwaltungsbescheide handelt.425 1. Die ministeriale Ermessensentscheidung

Die dem KRG als Selbstbindungsgesetz inhärente Ermächtigung anstelle einer Verpflichtung zur Übereignung der Kulturgüter vermittelt dem:der zuständigen Bundesminister:in ein Entschließungsermessen.426 Bei Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen kann mithin grundsätzlich frei entschieden werden, ob die rückgabefähigen Kulturgüter zu übereignen sind. 427 Wie bereits ausgeführt, begründet das KRG also aufgrund seiner Rechtsnatur als Selbstbindungsgesetz keinen Anspruch der potenziellen Begünstigten auf Rückgabe.428 In Betracht kommt jedoch ein aus dem Gleichheitssatz abgeleiteter Anspruch auf Rück­ gabe durch die so genannte »Fiskalgeltung der Grundrechte«. Demnach kann sich der Staat nicht durch privatwirtschaftliches Handeln der Grundrechtsbindung entziehen, es darf also

421 So jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 91 ff. 422 Vgl. Graf, JBl 2001, 746, Fn. 17; Graf, NZ 2020, 7, 16.

423 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 3; Toman, in: Kräutler/Frodl (Hrsg.), Museum,

2004, S. 243, 250; Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, 209 f.; Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 213; Graf, in: FS Bailer, 2012, S. 269, 270. 424 Vgl. Schnabel/Tatzkow, Nazi Looted Art, 2007, S. 132. 425 VfGH, Entscheidung v. 30.06.2000 – B 422/00, VfSlg 15893/2000. 426 Vgl. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 2; Simma/Folz, Restitution, 2004, S. 420; Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, 208; Rechberger, NZ 2020, 207, Fn. 2. 427 Es ist fraglich, wie letztlich die konkrete Übereignung in einem Fall erfolgte, bei dem der Beirat keine Rückgabefähigkeit des Objektes – also keine Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des KRG – annahm, aber eine Übereignung aufgrund der »Besonderheiten des Falles« empfahl, Beschl. zur IKG Wien v. 03.10.2008, S. 1. Naheliegend wäre gewesen, die Rückgabe auf das Bundehaushaltsgesetz zu stützen. Graf nimmt an, dass sich die jeweiligen Bundesminister:innen als Organwalter:innen wegen Untreue strafbar machen können, wenn ohne Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen restituiert wird, s. dazu Graf, NZ 2020, 7, 15; Rechberger, NZ 2020, 207, 213 f. Dies auch für Deutschland anführend Lahusen, KUR 2022, 91, 95. 428 S. zur Natur des KRG als Selbstbindungsgesetz unter § 4 C.II, S. 48.

80  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

»keine Flucht ins Privatrecht« geben.429 Der Staat ist mithin auch im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung an die Grundrechte und damit auch an den Gleichheitssatz als »rechtsimmanenten Bewertungs­maßstab«430 gebunden.431 Die öffentliche Hand hat somit Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.432 Wenn sich eine Gebietskörperschaft demnach mit einem Selbstbindungsgesetz unter konkreten Voraussetzungen eine bestimmte Leistung aufgetragen und diese bereits in anderen Fällen erbracht hat, folgt aus dem Gleichheitssatz die Verpflichtung, alle Personen zu begünstigen, die diese Voraussetzungen ebenfalls erfüllen.433 Die bloße Berufung auf den Umstand, dass die Rechtsgrundlage ausdrücklich keinen Anspruch gewährt, genügt zur Ablehnung der Leistung nicht.434 Dies gilt selbst dann, wenn die Gebietskörperschaft einen zuvor bestehenden Anspruch auf die Leistung durch das Selbstbindungsgesetz beseitigen woll­te.435 Im Einzelfall ist aber eine Abweichung von der bisherigen Praxis zulässig, wenn besonders sachliche, unwillkürliche, am Zweck der Leistung orientierte Gründe diese rechtfertigen;436 eine »Sanierung« der Verletzung des Gleichheitssatzes tritt nicht durch Gleichbehandlung im Unrecht ein.437 Diese allgemeinen Ausführungen machen deutlich, dass aus dem Gleichheitssatz in Verbin­ dung mit der Entscheidungspraxis durch eine:n Bundesminister:in aufgrund der Fiskalgeltung der Grundrechte ein mittelbarer Anspruch auf Leistung, hier der Restitution, durch die stän­ dige Verwaltungspraxis bestehen kann, obwohl ein unmittelbarer Anspruch aus § 1 Abs. 1 KRG ausdrücklich ausgeschlossen ist. Der:die jeweilige Bundesminister:in ist somit verpflichtet, 429 Rill/Schäffer/Kahl, Bundesverfassungsrecht, 11. Lfg. 2013, Art. 17 B-VG Rn. 10; Mayer et al., Bundesverfassungsrecht, 11.

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Aufl. 2015, Rn. 1350; Muzak, Bundes-Verfassungsrecht, 6. Aufl. 2020, Art. 17 Rn. 4; Binder, Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 0733 f.; Korinek/Holoubek, Grundlagen, 1993, S. 146 ff. Jabloner, juridikum 2003, 19, 20; Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 29 f.; Jabloner, Jurist, 2004, S. 19; Azizi/Gößler, JBl 2006, 415, 426; ähnlich Rechberger, juridikum 2005, 59, 62 ff. Vgl. nur Rill/Schäffer/Berka, Bundesverfassungsrecht, 1. Lfg. 2001, Art. 7 B-VG Rn. 29 ff.; Kahl/Khakzadeh, Bundesverfassungsrecht, 2021, Art. 7 B-VG Rn.17 ff. Entgegen dem Wortlaut der in Österreich maßgeblichen Art. 7 B-VG und Art. 2 StGG (Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. Nr. 142/1867) gilt der Gleichheitssatz unter Berücksichtigung völkerrechtlicher Vorschriften mittlerweile nicht nur für Personen österreichischer Staatsangehörigkeit, sondern ebenso für Personen ausländischer Staatsangehörigkeit untereinander, sodass ein dem deutschen »Jedermannsrecht« weitgehend entsprechender Schutz gewährleistet wird, vgl. Rill/Schäffer/Berka, Bundesverfassungsrecht, 1. Lfg. 2001, Art. 7 B-VG Rn. 23; Mayer et al., Bundesverfassungsrecht, 11. Aufl. 2015, Rn. 1355; Kahl/Moser/Müller, Bundesverfassungsrecht, 2021, Art. 17 B-VG Rn. 9; Muzak, BundesVerfassungsrecht, 6. Aufl. 2020, Art. 2 StGG Rn. 2. Dies erinnert an die Selbstbindung der Verwaltung im deutschen Recht, s. dazu im Restitutionskontext eingehend Stephany, KUR 2022, 60, 63 ff. OGH, Urt. v. 09.05.2001 – Ob 95/01p, RIS-Justiz; OGH, Urt. v. 24.02.2003 – 1 Ob 272 02k, JBl 2004, 384, 385 f.; OGH, Urt. v. 27.08.2003 – 9 Ob 71/03m, RIS-Justiz; OGH, Urt. v. 21.06.2004 – 10 Ob 23/03k, Zusammenfassung in ZIK 2004, 169, 169 ff.; OGH, Urt. v. 27.03.2012 – 4 Ob 213/11v, JBl 2012, 453, 455; OGH, Urt. v. 23.05.2018 – 3 Ob 83 18d, JBl 2019, 34, 36 f.; Rill/Schäffer/Kahl, Bundesverfassungsrecht, 11. Lfg. 2013, Art. 17 B-VG Rn. 5 ff.; Kahl/Moser/Müller, Bundesverfassungsrecht, 2021, Art. 17 B-VG Rn. 9; Kahl/Khakzadeh, Bundesverfassungsrecht, 2021, Art. 7 B-VG Rn. 121; Muzak, Bundes-Verfassungsrecht, 6. Aufl. 2020, Art. 17 Rn. 2; Jaeger, in: Holoubek/Potacs (Hrsg.), Handbuch, 2007, S. 681, 734. OGH, Urt. v. 27.03.2012 – 4 Ob 213/11v, JBl 2012, 453, 455. OGH, Urt. v. 24.02.2003 – 1 Ob 272/02k, JBl 2004, 384, 385 f.; OGH, Urt. v. 27.08.2003 – 9 Ob 71/03m, RIS-Justiz; OGH, Urt. v. 21.06.2004 – 10 Ob 23/03k, Zusammenfassung in ZIK 2004, 169, 169 ff.; OGH, Urt. v. 27.03.2012 – 4 Ob 213/11v, JBl 2012, 453, 455; OGH, Urt. v. 25.06.2014 – 3 Ob 36/14m, MR 2014, 265, 266; OGH, Urt. v. 23.05.2018 – 3 Ob 83 18d, JBl 2019, 34, 36 f.; Muzak, Bundes-Verfassungsrecht, 6. Aufl. 2020, Art. 17 B-VG Rn. 2 ff.; Korinek/Holoubek, Grundlagen, 1993, S. 146 ff.; Binder, Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 0794 ff. Kritisch: Laurer, in: Korinek (Hrsg.), FS Wenger, 1983, S. 109, 112 ff.; Wilhelm, ecolex 2003, 301, 301; Wilhelm, ecolex 2012, 189, 189; Wilhelm, ecolex 2012, 568, 568. OGH, Urt. v. 27.03.2012 – 4 Ob 213/11v, JBl 2012, 453, 455; Jaeger, in: Holoubek/Potacs (Hrsg.), Handbuch, 2007, S. 681, 735.

81  B. Der Verfahrensablauf nach dem Kunstrückgabegesetz

wesentlich gleiche Sachverhalte gleich und wesentliche ungleiche Sachverhalte ungleich zu behandeln, es sei denn die Ungleichbehandlung bzw. Gleichbehandlung ist durch besonders sachliche, unwillkürliche, am Zweck der Übereignung nach dem KRG orientierte Gründe zu rechtfertigen. Dies birgt zwar bereits im ersten Schritt die Schwierigkeit, im Kontext der Kunstrückgabe zu konturieren, wann eine Gleichheit der Sachverhalte vorliegt. Wenn jedoch entsprechend dieser Konturierung in mehreren wesentlich gleichen Einzelfällen der:die jeweilige Bundes­ minister:in trotz Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen gegen eine Restitution entschieden hat, liegt eine Gleichbehandlung im Unrecht vor, die eine Verletzung des Gleichheitssatzes nicht »sanieren« kann. Hat der Sachverhalt in einem Fall zur Restitution geführt, so besteht für den:die Minister:in eine Verpflichtung zur Restitution bei gleichgelagerten Sachverhalten in späteren Fällen.438 Im Zusammenhang mit anderen Selbstbindungsgesetzen, aber angesichts der Quantität der Restitutionen nach dem KRG durchaus auf dieses übertragbar, wird diese letztlich weitreichende Verpflichtung teils polemisch als »Kontrahierungszwang nach dem Gießkannenprinzip« bezeichnet.439 Damit steht dem:der Bundesminister:in zwar formell ein Entschließungsermessen zu, dies wird jedoch oftmals – mit den Worten des deutschen Verwaltungsrechts – aufgrund der Ausstrahlung des Gleichheitssatzes auf Null reduziert sein. 2. Die Ermittlung der Begünstigten

Infolge des Amtsermittlungsgrundsatzes hat sich im Verfahren des KRG die Vorgehensweise etabliert, dass die Feststellung der Begünstigten erst erfolgt, nachdem sich der:die zuständige Bundesminister:in für eine Restitution der verfahrensgegenständlichen Kulturgüter entschieden hat.440 An wen zu restituieren ist, wird also durch das Bundesministerium – nicht den Beirat – erst ermittelt, nachdem entschieden wurde, ob zu restituieren ist. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die meisten Begünstigten durch das amtswegige Tätigwerden des Bundes keine Kenntnis von den Untersuchungen haben.441 Falls die potenziellen Begünstigten ausnahmsweise bekannt sind, wird ihnen im Anschluss an die Entscheidung ein Schreiben des Ministeriums zugeschickt, das aber aufgrund der Selbstbindungskonstruktion des KRG über keine Bescheid­ qualität verfügt.442 Die Ermittlung der Begünstigten wird vollständig vom Bund finanziert. Das KRG regelt nicht, wie sie zu erfolgen hat. Zur Ermittlung und Kontaktierung der Begünstigten wird augenscheinlich insbesondere mit der IKG Wien und dem Nationalfonds zusammengearbeitet.443 Durchaus werden in die Ermittlung aber erneut auch Gespräche mit den potenziellen Begüns438 So – jedoch ohne umfassende Begründung – bereits angedeutet bei Graf, NZ 2005, 321, 322 f.; Graf, in: FS Bailer, 2012, S. 269,

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281; vgl. Graf, JBl 2001, 746, 755; Azizi/Gößler, JBl 2006, 415, 426; ausführlicher jüngst nun aber Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 12 ff. Wilhelm, ecolex 2003, 301, 301. Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 214; Rabl, JBl 2010, 681, 682; Zechner, Eingreif­ truppe, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 230, 238 f. Einzige Ausnahme scheint der erste Beschl. zu Louis u. Clarice Rothschild v. 11.02.1999, S. 2 ff., zu sein. Vgl. BVwG, Beschl. v. 14.07.2015 – W195 2106849–1, RIS-Justiz. Webseite der IKG Wien, aufrufbar unter: http://www.restitution.or.at/schwerpunkte/s-kunst-aufgaben-der-ikg.html; Restitutionsbericht 2000/2001, S. 5; Restitutionsbericht 2002/2003, S. 3; Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 212; Zechner, Eingreiftruppe, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 230, 238 f.; Lessing, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 88, 92 f.

82  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

tigten sowie von ihnen eingereichte Unterlagen miteinbezogen.444 Die IKG Wien erstellt schließ­ lich auf Anfrage des zuständigen Ministeriums eine Erbfolgendokumentation.445 Die finale Bestimmung der Begünstigten erfolgt dann in Absprache mit dem Ministerium und der Finanzpro­ kuratur als »Anwaltschaft der Republik«, die auf juristische Gutachten zurückgreifen.446 In besonders komplexen Fällen, insbesondere mit testamentarischer Verfügung oder Auslandsbezug, werden zur erbrechtlichen Festlegung auch externe, juristische Sachverständige aus dem Erb­ recht und/oder Internationalen Privatrecht hinzugezogen.447 Da ein solcher Auslandsbezug als Konsequenz der Verfolgung in den meisten Fällen gegeben ist, gestaltet sich die Ermittlung der Begünstigten zwar häufig schwierig und langwierig,448 ist dennoch zumeist letztendlich erfolgreich.449 Gelingt die Ermittlung der Begünstigten, kann der:die zuständige Bundesminister:in gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 KRG die in Rede stehenden Kulturgüter an diese übereignen.450 Dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 Nr. 2 KRG zufolge ist der:die Minister:in im Falle eines Scheiterns der Feststellung der ursprünglichen Eigentümer:innen oder deren Rechtsnachfolger:innen von ­Todes wegen zur Übereignung des Gegenstandes an den Nationalfonds ermächtigt, der jenen dann verwerten kann. Die Übereignung an den Nationalfonds erweckt daher eher den Eindruck einer »Auffangrechtsfolge« und wird deshalb erst im Rahmen der Abhilfemaßnahmen erläutert.451 3. Die Übereignung der Kulturgüter

Die Art und Weise der Übereignung an die Begünstigten wird vom KRG nicht geregelt.452 Der Wortlaut stellt bloß dar, dass die Rückgabe unentgeltlich zu erfolgen habe. Bei Selbstbindungsgesetzen entsteht außerhalb der besonderen Konstellationen der Fiskalgeltung der Grundrechte erst mit Abschluss eines Rechtsgeschäfts zwischen Staat und Begünstigten ein Anspruch letzterer gegen den Staat. Für eine Restitution nach dem KRG bedarf es also eines privatrechtlichen Vertragsabschlusses, auch wenn das Gesetz einen solchen Vertrag nicht explizit nennt. Dem Auftrag des KRG zur unentgeltlichen Übereignung entsprechend handelt es sich dabei wohl um einen unentgeltlichen Übereignungsvertrag zwischen dem Bund und den Begünstigten, die anschließende Übergabe richtet sich sodann nach den §§ 426 ff. ABGB.453 Als Rechtsgrund

444 Beschl. zu Louis u. Clarice Rothschild v. 11.02.1999, S. 2 ff.; Beschl. zu Erich Lederer v. 10.05.1999, S. 1.

445 Webseite der IKG Wien, aufrufbar unter: http://www.restitution.or.at/schwerpunkte/s-kunst-aufgaben-der-ikg.html; Kultur-

bericht 2012, S. 271; Zechner, Eingreiftruppe, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 230, 238 ff.

446 Kulturbericht 2012, S. 262; Kulturbericht 2013, S. 284; Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006,

S. 209, 212.

447 Webseite der IKG Wien, aufrufbar unter: http://www.restitution.or.at/schwerpunkte/s-kunst-aufgaben-der-ikg.html; Lessing/

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Seidinger/Fritsch, KUR 2006, 8, 9; Zechner, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 209, 212; Zechner, Eingreiftruppe, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 230, 238 f.; Rabl, JBl 2010, 681, 685. Restitutionsbericht 2002/2003, S. 3. Pleyer, in: Reininghaus (Hrsg.), Recollecting, 2009, S. 281, 284. Teils wird die Überschrift des § 2 KRG »Übereignung der Gegenstände« angesichts seines Inhaltes, der auch die Ermittlung der Begünstigten sowie die fehlende Anspruchsgewährung regelt, als zu eng betrachtet, vgl. Stellungnahme Bundeskanzleramt zum Ministerialentwurf v. 28.08.2008, 7/SN-214/ME XXIII. GP, S. 6. S. zur Begünstigung des Nationalfonds ausführlich unter § 10 B.II., S. 318. Rabl, JBl 2010, 681, 684 f. BVwG, Urt. v. 10.12.2014 – W195 2014039–1, RIS-Justiz; OLG Wien, Entscheidung v. 08.10.2007 – 14 R 83/07i, abrufbar unter: http://www.bslaw.com/altmann/Zuckerkandl/Decisions/Urteil.pdf; Rabl, JBl 2010, 681, 684 f.; vgl. jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 95 f.

83  B. Der Verfahrensablauf nach dem Kunstrückgabegesetz

dieser Übereignung wird allgemein entweder eine »moralische, sittliche und Anstandspflicht« 454 oder aber ein formbefreiter Schenkungsvertrag nach § 938 ff. ABGB455 angenommen.456 Vor der Übereignung des Kulturguts müssen die Begünstigten zum einen eine Haftungserklärung abgeben,457 wonach sie die Richtigkeit der gemachten Angaben bestätigen und sich zur Entgegennahme sowie bei mehreren Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen zur entsprechenden Aufteilung des Kulturguts nach den testamentarischen Bestimmungen verpflichten. Sie erklären außerdem, dass sie keine Ansprüche bezüglich des übereigneten Kulturguts gegen die Republik Österreich und ihre Mitarbeitenden stellen werden, auch nicht im Falle des Auftretens weiterer, bis dahin unbekannter Personen als Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen, und die Republik sowie ihre das KRG vollziehenden Organe und Beauftragten hinsichtlich der Richtigkeit und Vollständigkeit der gemachten Angaben und Urkunden schad- und klaglos halten. Zum anderen muss der Übereignung regelmäßig eine Bevollmächtigung zur Übernahme der Kulturgüter vorausgehen,458 in der Teile der Haftungserklärung wiederholt werden.459 Im Anschluss an die Unterzeichnung dieser Unterlagen wird dann dem jeweiligen Museum mitgeteilt, dass die bevollmächtigte Person erscheint und dieser das Objekt zu übergeben ist. Dazu wird dann eine Übergabequittung erstellt, ein schriftlicher unentgeltlicher Übereignungsvertrag wird offenbar nicht geschlossen. Was nach der Übereignung passiert, liegt im Ermessen der Begünstigten. Vom Bund wird im Rahmen der Gespräche nie die Option eines Rückkaufs, sondern stets allein die Rückgabe des Kulturguts angeboten. Der Verbleib in Bundeseigentum und dessen Bedingungen sollen vollständig in die Hände der Begünstigten gelegt werden.460 Teils werden sogar zusätzlich zur Restitution Gedenktafeln angebracht.461 Wenn die Begünstigten einen Erhalt für die Bundesmuseen ausdrücklich wünschen, scheinen gemeinsame Lösungen gefunden zu werden. Ebenso werden sie weiterhin unterstützt, wenn etwa eine Versteigerung angestrebt wird. So ist bereits mehrfach der Verlust des Bundes gar nicht erst eingetreten oder von Dauer gewesen, da die Begünstigten des KRG die Objekte dem Bund veräußerten oder schenkten.462 In jedem Falle

454 Dies wird mit einer fehlenden Schenkungsabsicht begründet, s. Erlass des Bundesfinanzministeriums v. 30.04.2003 zur

Kunstrückgabe, abgedruckt in: ecolex 2003, 720, 720. Dazu allgemein Kletečka/Schauer/Löcker, ABGB, Februar 2020, § 938 Rn. 16. 455 Die grundsätzlich einschlägigen, soweit ersichtlich bei der Kunstrückgabe nicht erfüllten Formerfordernisse werden also für nicht einschlägig gehalten, s. Kletečka/Schauer/Löcker, ABGB, Februar 2020, § 938 Rn. 17 f. 456 Rabl bezeichnet den Rechtsgrund lediglich als »Vereinbarung über die unentgeltliche Übereignung zwischen dem Bund […] und dem Begünstigten«, Rabl, JBl 2010, 681, 684. Daneben ist ein Vergleichsvertrag nach § 1380 jedenfalls abzulehnen, da dieser ein gegenseitiges Nachgeben der Parteien erfordert. Der Bund restituiert jedoch ohne jegliches Insistieren auf seiner Position; ein Nachgeben der Begünstigten ist gerade nicht notwendig. 457 Beschl. zu Louis u. Clarice Rothschild v. 11.02.1999, S. 5. 458 Beschl. zu Louis u. Clarice Rothschild v. 11.02.1999, S. 5. 459 Die Verfasserin dankt dem Büro der Kommission für Provenienzforschung für die freundliche Bereitstellung der Haftungserklärung. 460 Wortmeldung Gehrer bei der 650. Sitzung des Bundesrats am 19.02.1999, Stenografische Protokolle des Bundesrats, S. 75 ff.; Wortmeldung Schüsssel bei der 137. Sitzung des Nationalrats am 02.02.2006, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XXII. GP, S. 56 f.; vgl. Werner, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 395, 410. 461 So Spring, in: Blimlinger/Schödl (Hrsg.), (k)ein Ende, 2018, S. 205, 210. 462 Zum Rückkauf: Technisches Museum aus der Sammlung Glückselig, s. Reininghaus, in: dies. (Hrsg.), Recollecting, 2009, S. 11, 15; Österreichische Galerie Belvedere aus den Sammlungen Karplus und Spiegler, s. Kulturbericht 2013, S. 288; Kunsthistorisches Museum aus der Sammlung Dukes, s. Kunst- und Kulturbericht 2018, S. 208; Museum für angewandte Kunst aus den Sammlungen Herzfeld, Sternberg, Stiassny, Horwitz, Fischl, Ehrenfest-Egger und Sonnenschein, s. Klösch, in: Blimlinger/

84  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

sind gemäß § 5 KRG die durch das KRG unmittelbar veranlassten Zuwendungen von allen Abgaben befreit.463 4. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien

Ein Blick in die Washingtoner Prinzipien zeigt schnell, dass diese letztlich keine Aussagen enthalten, die auf die beschriebene ministeriale Tätigkeit unmittelbar übertragen werden können. Lediglich dem siebten Prinzip lässt sich entnehmen, dass die potenziellen Begünstigten zur »Anmeldung« von Ansprüchen ermutigt werden sollen. Die Washingtoner Prinzipien sind mithin durchaus für eine Gewährung von subjektiven Rechten offen, zwingend ist sie jedoch keineswegs. In der Literatur wird gleichwohl mehrfach gefordert, dass ein Rechtsanspruch geschaffen werde,464 wobei nicht konkretisiert wird, was genau darunter zu verstehen ist. Bezüglich der Ermittlung der Begünstigten scheint jedenfalls auch anerkannt zu sein, dass diese erst im Nachgang an die Einordnung des untersuchten Gegenstandes als entzogenes Kulturgut erfolgt.465 Ersichtlich fällt es schwer, aufgrund dieser dünnen Ausgangslage eine Bewertung der Tätigkeit im Lichte der Washingtoner Prinzipien vorzunehmen. Hinsichtlich der Ermittlung der ­Begünstigten kann festgehalten werden, dass diese im internationalen Vergleich durch ihren späten Zeitpunkt atypisch ist, aber durchaus den Anforderungen der Washingtoner Prinzipien gerecht wird. Schließlich folgt der späte Zeitpunkt allein aus der Tatsache, dass das KRG ein amtswegiges Verfahren vorsieht,466 sodass die potenziellen Begünstigten oftmals gar nicht von ihrer baldigen Zuwendung wissen. Angesichts der systematischen Provenienzforschung im gesamten Bestand wäre eine vorgelagerte Ermittlung unökonomisch, da das Ergebnis der Provenienzforschung und der juristischen Beurteilung stets auch die Ablehnung der Rückgabe sein kann – ungeachtet der regelmäßigen Bejahung der Rückgabevoraussetzungen. Ferner sind Fälle bekannt, in denen eine Rückgabe nach dem KRG eindeutig indiziert ist, aber die Begünstigten erst nach über zehn Jahren oder bis heute nicht ermittelt werden können. Diese Fälle wären bei zwingender vorgelagerter Ermittlung nicht an die Öffentlichkeit gelangt, was wiederum die Ermittlung von Begünstigten erschweren würde. Davon zu trennen ist die im Zuge der anderen Verfahrensschritte erörterte Frage, ob die potenziellen Begünstigten einbezogen werden sollten, wenn sie im Einzelfall bekannt sind.467 Indem der Bund die Ermittlung der Begünstigten vollständig finanziert und bei Bedarf auch noch externe Sachverständige für die juristischen Fragen des Erbrechts und Internationalen Privatrechts hinzuzieht, trägt die öffentliche Hand nicht nur vollumfänglich die kostspielige Suche nach den Begünstigten. Sie übernimmt außerdem bis zuletzt die Verantwortung für

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Schödl (Hrsg.), (k)ein Ende, 2018, S. 141, 142 ff.). Zur Schenkung: Kunsthistorisches Museum aus der Sammlung Bondy, s. Löscher, im Gespräch mit Uchtmann, »Alles Wesentliche […] sichergestellt und in das Kunsthistorische Museum verbracht«, Februar 2021, abrufbar unter: https://youtu.be/ZgW6Zvf6YA8. S. dazu eingehend Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 233 ff. Keim, PDRLJ 2003, 295, 308 ff.; Mullery, CJCR 2010, 643, 673; Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 19, 35. Lupfer/Obernaus, in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 10, 12. S. zum Tätigwerden von Amts wegen unter § 5 B.I.1., S. 66. S. zur Einbeziehung im Verfahren unter § 5 B.I.3.a), S. 69, und § 5 B.II.2., S. 76.

85  B. Der Verfahrensablauf nach dem Kunstrückgabegesetz

die Umsetzung des Auftrages des KRG zur Rückga­be der entzogenen Kulturgüter – und damit auch für den Auftrag der Washingtoner Prinzipien. Auch auf der Ebene des Bundesministeriums kristallisiert sich somit nochmals heraus, was sich bereits durch alle vorherigen Schritte des Verfahrens gezogen hat und wohl als »zweischneidiges Schwert« zu betrachten ist: Die Rückgabe nach dem KRG beruht bei negativer Betrachtung auf einem paternalistischen Verständnis der Rückgabe als »gönnerhafte[…] Ges­ te«468. So ist zwar ausdrücklich positiv hervorzuheben, dass das zuständige Bundesministerium die Begünstigten nicht nur ermittelt, sondern ihnen auch noch die gesamte Tatsachen- und Rechtsprüfung »abnimmt«, doch werden diese letztlich bloß Begünstigte »einer gesetzlichen Behördenermächtigung« mit »Erwerbshoffnung«469. Auch wenn diese »Erwerbshoffnung« in der Regel erfüllt wird, wird so kein rechtssicherer Rahmen für die Rückgabe entzogener Kul­turgüter geschaffen. Zwar ließe sich durch den Nachweis eines gleichen Sachverhalts theoretisch ein Anspruch aus der Fiskalgeltung der Grundrechte ableiten, doch ist absolut unklar, wann eine Gleichheit der Tatsachen im spezifischen Kontext der Kunstrückgabe vorliegt. So besteht infolge des Entschließungsermessen stets das Risiko, dass sich der:die einzelne Bun­desminister:in nicht dem Auftrag des KRG zur Rückgabe entzogener Kulturgüter verpflichtet sieht und aus politischen Gründen auf eine tatbestandlich eigentlich induzierte Restitution verzichtet.470 Keineswegs ist das KRG deswegen ein »stumpfes Schwert«471, doch könnte es durch eine Stärkung der Begünstigtenposition, auch auf der Ebene der ministeriellen Entscheidung, weiter geschliffen werden. Eine Anspruchsgewährung ist dafür nicht notwendig, da die Konstruktion als Selbstbindungsgesetz auch über erhebliche Vorzüge verfügt. So verbleibt der Verwaltung in der inhaltlichen Ausgestaltung ihrer Aufgaben zwar stets ein breiter Spielraum. Durch »die allgemeine Determinierungsfunktion des Gesetzes«472 kann aber gewährleistet werden, dass keine völlig neuen Erwägungsgründe berücksichtigt werden und die entscheidungserheblichen Aspekte zumindest in einer infolge eines geregelten Verfahrens entstandenen Entscheidung Niederschlag finden. Die fehlende Gewährung eines subjektiven Rechts auf Restitution steht somit nicht im Widerspruch mit den Washingtoner Prinzipien, wenn anderweitig eine ausreichende Stärkung der Begünstigten stattfindet, wie etwa durch klare Verfahrensregeln. Es ist daher zwar als ausreichend zu erachten, dass der unmittelbare Anspruch auf die Übereignung erst im letzten Schritt entsteht, dieser muss sodann aber auch durch einen unentgeltlichen Übereignungsvertrag verschriftlicht werden, die bloße Übergabequittung reicht gerade nicht als Absicherung aus. In den schriftlichen Übereignungsvertrag wären auch die Haftungserklärung und Vollmacht einzugliedern, sodass am Ende ein allumfassendes Schriftstück sowohl dem Bund als auch den Begünstigten, dann als Vertragsparteien, zur Verfügung steht. Im Übrigen ist auch die Vorlage einer Haftungserklärung im Lichte der Washingtoner Prinzipien nicht zu beanstanden. Diese dient letztlich der gegenseitigen Absicherung der Par-

468 Lillie, Feindliche Gewalten, 2017, S. 143. In diese Richtung auch Ploil, Parnass 03/2009, 10, 11; Noll, Anwesenheit, 2011, S. 28;

469

470 471

472

Cwitkovits/Huda, in: Redmond-Cooper (Hrsg.), Museums, 2021, S. 134, 138. Ähnlich im deutschen Kontext auch Lahusen, KUR 2022, 91, 95 (»juristische Gnade«). Rabl, JBl 2010, 681, 682. In diese Richtung auch Noll, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 233, 237. In diese Richtung auch Noll, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 233, 242; Schnabel/Tatzkow, Nazi Looted Art, 2007, S. 133 f.; Noll, Anwesenheit, 2011, S. 26; Lillie, Feindliche Gewalten, 2017, S. 143. So jedoch Schnabel/Tatzkow, Nazi Looted Art, 2007, S. 132. Korinek/Holoubek, Grundlagen, 1993, S. 227 f.

86  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

teien und hilft im besten Falle bei der Lösung nachfolgender Konflikte, ist somit Grundlage einer notfalls erforderlichen, »zweiten« »gerechten und fairen Lösung«. Dass von Seiten des Bundes nicht die Initiative für alternative Lösungen, wie Rückkauf oder Schenkung, ergriffen wird, ist angesichts der Begrenzung der Abhilfemaßnahmen auf »Restitution – keine Restitution« und der bis zur Übereignung fehlenden Rechtsposition der potenziellen Begünstigten geboten. Würde der Bund bereits bei Eintritt in die Verhandlungen einen Rückkauf oder eine Schenkung in den Raum werfen, könnte bei den potenziellen Begünstigten der Eindruck entstehen, das Maß an Rechtsgewährung hinge von ihrer Kooperationsbereitschaft ab. Genau dieses Machtverhältnis zwischen potenziellen Begünstigten und Staat soll das KRG jedoch überwinden, sodass der:die zuständige Bundesminister:in nur mit der tatbestandlich vorgesehenen Abhilfemaßnahme der Naturalrestitution ins Gespräch gehen sollte. Dass schließlich im Falle eines Interesses an Rückkauf, Schenkung oder Veräußerung das Ministerium die Begünstigten unterstützt, ist sodann zwingend. Davon zu trennen ist die Frage, ob andere Abhilfemaßnahmen gesetzlich vorgesehen werden sollten.473

IV. Die Überprüfung vorheriger Entscheidungen Weder für die Beschlüsse des Beirats noch für die ministeriale Entscheidung ist eine Überprüfung vorheriger Entscheidungen in Form einer nächstinstanzlichen Beurteilung vorgesehen.474 Während im Verwaltungsverfahren ausdrücklich die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs besteht, bleibt den potenziellen Begünstigten im Rahmen des verwaltungsinternen Kunstrückgabeverfahrens daher lediglich die Bitte um Wiederaufnahme des Verfahrens an den:die Bundesminis­ ter:in. Wird dieser Bitte nicht gefolgt, liegt die letzte Möglichkeit in Österreich zumeist in einer vom Bund und von den potenziellen Begünstigten gemeinsam betriebenen Anrufung eines Schiedsgerichts,475 wodurch sich beide mit gegenseitiger Zustimmung als Parteien gegenüberstehen.476 Da aber für die Anrufung eines Schiedsgerichts die Einigung beider Parteien durch einen Schiedsvertrag erforderlich ist, sind die potenziellen Begünstigten auch für diesen Schritt abhängig vom Bund. Einige potenzielle Begünstigte haben deswegen bereits kostenintensive Verfahren vor ausländischen Gerichten angestrengt, insbesondere in den USA.477 Außerhalb des Schiedsverfahrens bleibt den potenziellen Begünstigten innerhalb Österreichs bloß die Bitte um Überprüfung einer Entscheidung an den:die Bundes­minister:in; dann muss der Beirat aufgrund der Anhörungspflicht erneut konsultiert werden. Die Erfüllung dieser Bitte steht, ebenso wie jede vorherige und zukünftige Entscheidung über die Restitution, formell vollumfänglich im ministerialen Ermessen. Tatsächlich ist aber eine erneute Befassung mit 473 S. zur Binarität der Abhilfemaßnahmen im Lichte der Washingtoner Prinzipien unter § 10 A.III., S. 310.

474 Schnabel/Tatzkow, Nazi Looted Art, 2007, S. 137; Graf, in: FS Bailer, 2012, S. 269, 281; Lillie, Feindliche Gewalten, 2017,

S. 143.

475 Bspw. Schiedsgerichtsverfahren zu Kulturgütern aus der Sammlung Bloch-Bauer (sämtliche Dokumente der Verfahren abruf-

bar unter: http://www.bslaw.com/altmann/documents/; http://www.bslaw.com/altmann/Zuckerkandl/).

476 Das Schiedsgericht ist dabei nicht an die Empfehlungspraxis des Beirats gebunden, da es von den Parteien als selbstständig

entscheidendes Organ eingesetzt wurde. Im Schiedsverfahren zum Zuckerkandl-Portrait erklärte das Schiedsgericht aber, es werde nicht ohne zwingende Gründe von der Praxis des Beirats abweichen, s. Schiedsspruch Zuckerkandl-Portrait v. 07.05. 2006, S. 45, abrufbar unter http://www.bslaw.com/altmann/Zuckerkandl/Decisions/decision.pdf; Protokoll Schiedsgerichtsverhandlung Zuckerkandl-Portrait v. 07.05.2006, S. 53, abrufbar unter: http://www.bslaw.com/altmann/Zuckerkandl/Klage/ protokol.pdf. 477 Vgl. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 3.

87  B. Der Verfahrensablauf nach dem Kunstrückgabegesetz

einem Fall bisher in der Regel auf Initiative des Beirats erfolgt, der dann seine neue Beurteilung in Form einer Empfehlung an den:die Minister:in weitergeben kann. Eine Ver­pflichtung des Beirats gegenüber dem:der Minister:in zur Vorlage einer Neubewertung lässt sich weder aus dem KRG noch der Geschäftsordnung ableiten.478 Denn die gesetzliche Normierung verpflichtet den:die Minister:in lediglich zur Anhörung des Beirats, enthält aber keine weiteren Vorgaben für eine darüberhinausgehende Interaktion zwischen den beiden Beteiligten.479 1. Die vom Beirat entwickelten Überprüfungsgründe

Der Empfehlungspraxis des Beirats können verschiedene Gründe entnommen werden, die be­ reits zu einer Überprüfung einer Entscheidung geführt haben: Zum einen erfolgt eine erneute Befassung des Beirats, wenn aufgrund intensiver Provenienzforschung und neuer Materialien eine veränderte Tatsachenlage besteht.480 Zum anderen ist eine Überprüfung aufgrund einer Veränderung der Rechtslage möglich, etwa durch die Novelle aus dem Jahr 2009.481 Unter die Überprüfung aufgrund einer geänderten Rechtslage lässt sich bei großzügiger Auslegung wohl auch die erneute Befassung des Beirats mit einem Fall in Folge des Inkrafttretens eines anderen Gesetzes subsumieren, das Auswirkungen auf die Auslegung des KRG hat.482 Diese beiden Gründe korrespondieren noch mit den bekannten prozessrechtlichen Gründen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens, die eine Neubehandlung bereits entschiedener Fälle ermög­ lichen.483 Darüber hinaus hat der Beirat aber auch Fälle erneut untersucht, nachdem externe Gutachten für eine Neubewertung auf derselben Tatsachen- und Rechtsgrundlage plädiert haben. Er nimmt das Verfahren also wieder auf, wenn extern eine umfassendere juristische Überprüfung erfolgt ist, die er für beachtlich hält.484 Liegt aus Sicht des Beirats kein Bedarf für eine Überprüfung vor, kann er lediglich auf die vorherige Empfehlung verweisen, eine darüberhinausgehende Begründungspflicht trifft ihn nicht. Daran lässt sich deutlich erkennen, dass eine Überprüfung der Entscheidung durch den Beirat auch möglich ist, wenn keine Änderung der Tatsachen- und Rechtslage vorliegt. Der Beirat scheint sich vielmehr – allgemeinen prozessrechtlichen Wertungen zuwider485 – stets dann erneut mit einem Fall zu befassen, wenn er eine vorherige Empfehlung ex post für falsch hält. Er zeigt somit eine Bereitschaft zur Korrektur der eigenen Fehler, jedoch ohne erkennbare Voraussetzung für die tatsächliche Vornahme dieser Korrektur. In allen bisher aus der Empfehlungspraxis ersichtlichen Fällen war der erneuten Befassung indes eine wissenschaftliche oder mediale Diskussion vorausgegangen, sodass die

478 In der Tendenz wohl a.A. Graf, NZ 2020, 7, 12 f.

479 In diese Richtung auch Rechberger, NZ 2020, 207, 212 ff.

480 S. nur. zu Ferdinand Bloch-Bauer v. 25.11.2004 u. 01.06.2007; Beschl. zu Ludwig Neurath v. 20.11.2009 u. 22.09.2010; Beschl.

zu Erich Lederer v. 10.05.1999 u. 30.11.2012; Beschl. zu Georg Rosenberg v. 28.11.2006 u. 29.06.2021, S. 1.

481 S. nur Beschl. zu Oskar Bondy v. 27.10.1999 u. 30.11.2012; Beschl. zu George Grosz/Alfred Flechtheim v. 29.03.2006 u.

08.03.2013; Beschl. zu Luise Simon v. 10.04.2002 u. 14.06.2019.

482 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 7. Zu dieser Neubefassung in materieller Hinsicht s. unter § 9 B.II.4., S. 287. 483 Vgl. Fasching/Konecny/Klicka, Zivilprozessgesetze, 3. Aufl. 2017, § 411 Rn. 95 ff.; Klauser/Kodek, ZPO, 18. Aufl. 2018, § 411

Rn. 305 ff.; Rechberger/Klicka, ZPO, 5. Aufl. 2019, § 530 Rn. 1 ff.; Höllwerth/Ziehensack/Brenn, ZPO, 1. Aufl. 2019, § 411 Rn. 39 f. 484 Beschl. zu Hermann Eissler v. 24.06.2009 u. 20.11.2009, S. 1; Beschl. zu Gertrude Felsövanyi v. 23.01.2001 u. 12.04.2019, S. 1. 485 Vgl. Fasching/Konecny/Klicka, Zivilprozessgesetze, 3. Aufl. 2017, § 411 Rn. 101.

88  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

Überprüfungen vorheriger Entscheidungen auch als Reaktion auf diese öffentlichen Auseinandersetzungen betrachtet werden können.486 2. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien

Weder in den Washingtoner Prinzipien selbst noch ihren Entstehungsmaterialien finden sich Ausführungen zur erneuten Befassung mit einem Fall. Es muss also unmittelbar auf die einschlägige Literatur zurückgegriffen werden. Dort ist Konsens, dass die Entscheidungen der eingesetzten Gremien überprüfbar sein müssen.487 Als besonders geeignet für eine Überprüfung scheint in der Literatur das Schiedsverfahren betrachtet zu werden, da dort die Parteien juristisch vertreten sind, das Schiedsgericht über den Sachverhalt entscheidet und dabei an die von den Parteien aufgestellten Regeln gebunden ist.488 Zu berücksichtigen ist dabei jedoch, dass ein Schiedsgerichtsverfahren stets die Initiative beider Parteien voraussetzt und sich deren verfahrenstechnischen Vorstellungen anpasst, also kein formalisiertes Verfahren für die Überprüfung einer Entscheidung geschaffen wird. Dass für die nach dem zehnten Prinzip eingerichteten Gremien eine unabhängige Kontrolle bestehen muss, ist jedenfalls im Lichte der einschlägigen Sekundärliteratur unstreitig,489 lediglich das Wie bleibt demnach offen. Damit wird unmittelbar deutlich, dass die österreichische Vorgehensweise innerhalb des Systems des KRG nicht den Anforderungen der Washingtoner Prinzipien entspricht. Denn das KRG sieht keine unabhängige Kontrollinstanz vor. Vielmehr entscheidet dasselbe Gremium wie zuvor, der Beirat, erneut über den Fall, was bereits mehrfach Gegenstand umfassender Kritik auf nationaler Ebene war.490 Dies ist als ein erster Schritt im Sinne eines »internen Überdenkungsverfahrens« zu begrüßen, doch darf die darüberhinausgehende externe Überprüfung nicht ausgeschlossen sein. Dass gelegentlich ein Schiedsgericht angerufen wird, in dem der Bund und die potenziellen Begünstigten als Parteien auftreten, ist nicht dem Umstand geschuldet, dass ein Schiedsverfahren als geeignetste Möglichkeit betrachtet wird, sondern dass den Begünstigten schlichtweg keine andere Option zur Verfügung steht, als den Bund so lange unter medialen Druck zu setzen, bis er irgendwann einem Schiedsverfahren zustimmt. Diese können damit allenfalls als ultima ratio betrachtet werden, es bedarf somit einer vorgelagerten Möglichkeit der Wiederaufnahme, insbesondere um öffentlichkeitswirksame Konflikte zu vermeiden. Im ersten Schritt würde bereits eine Verbesserung eintreten, wenn sich der Beirat konkrete Voraussetzungen für eine interne Überprüfung gibt, obwohl dann das Manko der fehlenden Unabhängigkeit weiterbesteht. Dem Beirat eine »zweite Chance« zu geben, ist aber auch mit Blick auf die geringen Kapazitäten der potenziellen Begünstigten und die hohe Reputation des Beirats sinnvoll. Dabei ist mit den Washingtoner Prinzipien vereinbar, dass der Beirat bei den 486 Vgl. Graf, NZ 2020, 7, 12.

487 Mullery, CJCR 2010, 643, 673 f.; Campfens, AAL 2020, 1, 22.

488 Mullery, CJCR 2010, 643, 665 f.; Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 19, 28 f.; ähnlich

Schnabel/Tatzkow, Nazi Looted Art, 2007, S. 195.

489 Doch auch außerhalb des Kontextes der Washingtoner Prinzipien wird betont, dass Berufungsverfahren als essenziell für

faire Verfahren betrachtet werden, vgl. statt vieler Leventhal, in: Gergen et al. (Hrsg.), Social Exchange, 1980, S. 27, 27 ff.

490 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 2; Graf, JBl 2001, 746, 755; Ploil, Parnass 03/2009,

10, 10 f.; Noll, Anwesenheit, 2011, S. 32; Schoenberg, Austria, in: LA Opus Online v. 22.03.2011; Graf, in: FS Bailer, 2012, S. 269, 281; Noll, in: Konrad (Hrsg.), Rechtsprobleme, 2015, S. 442, 448; Graf, NZ 2020, 7, 13 ff.; Rechberger, NZ 2020, 207, 212 ff.; Cwitkovits/Huda, in: Redmond-Cooper (Hrsg.), Museums, 2021, S. 134, 138.

89  B. Der Verfahrensablauf nach dem Kunstrückgabegesetz

vom ihm entwickelten Überprüfungsgründen deutlich über die aus dem Prozessrecht bekannten Wiederaufnahmegründe hinausgeht. Wie bereits mehrfach erläutert, muss das nationale Recht als Mindeststandard der Privilegierung der Begünstigten gelten.491 So müssen zwar die prozessrechtlich etablierten Wiederaufnahmegründe der veränderten Tatsachen- oder Rechts­ lage zweifelsfrei in den Katalog der Überprüfungsgründe des KRG übernommen werden. Doch darüber hinaus kann der Beirat auch weitere Überprüfungsgründe entwickeln. Allein die Betrachtung einer Entscheidung als »falsch«, mag dafür jedoch nicht ausreichen. Vielmehr müsste dann die Definition einer »falschen Entscheidung« konkretisiert werden, etwa indem der Beirat erklärt, er nehme einen Fall wieder auf, wenn einzelne seiner Wertungen seiner ständigen Emp­ fehlungspraxis widersprechen. Die Tatsache, dass die Überprüfungsgründe des Beirats über die prozessrechtlichen Gründe hinausgehen, ist daher zu begrüßen, doch müssen diese im Interes­ se der Rechtssicherheit klar normiert werden – dies gilt besonders mit Blick auf personelle Veränderungen in der Besetzung des Beirats. Wenn der Beirat erneut zu dem Schluss kommt, dass keine Restitution angezeigt ist, müsste eine unabhängige nächste Instanz zur Verfügung stehen, deren Tätigwerden anders als in Schiedsverfahren nicht von der Zustimmung des Bundes und der potenziellen Begünstigten abhängt, etwa durch eine Integration in die bestehenden Instanzenzüge.492 Die Kapazitäten der bereits überlasteten Justiz sollten dabei nicht überstrapaziert werden, doch kann damit wohl kaum gerechnet werden, wenn der Beirat in etwa 83 Prozent der Beschlüsse eine Rückgabe empfiehlt und diese stets von dem:der zuständigen Minister:in umgesetzt wird. Dass anschließend auch diese speziellen Kammern der Gerichte fehlerhafte Urteile fällen können, ist ein rechtsstaatlichen Verfahren inhärentes Risiko. Zumindest wäre auf diese Weise aber die Wiederaufnahme in ein formalisiertes Verfahren eingebettet, dessen Erfolgschancen durch geregelte Wiederaufahmegründe vorhersehbarer sind und das damit zu mehr Rechtssicherheit in der Kunstrückgabe nach dem KRG beiträgt.

491 Zum nationalen Recht als Mindeststandard s. unter § 4 B.II.1., S. 42.

492 Ähnlich etwa in den Niederlanden für die »Binding Opinions« der dortigen Restitutionskommission, s. Art. 11 der Restitutions

Committee Procedural Regulations 2021, abrufbar unter: https://www.restitutiecommissie.nl/wp-content/uploads/2021/07/ RC-Regulations-per15July2021.pdf. Kritisch im Kontext des KRG: Barfuß, JBl 2010, 569, 570.

90  § 5  Das Verfahren des Kunstrückgabegesetzes

§ 6  Die allgemeinen Rückgabevoraussetzungen des Kunstrückgabegesetzes

Die entscheidenden materiellen Vorgaben des KRG finden sich in § 1 Abs. 1 KRG. Die Überschrift »Rückgabefähige Gegenstände« des § 1 KRG suggeriert, der Fokus des § 1 KRG liege auf der Frage, welche Gegenstände restituiert werden können. Vielmehr beruht dieser jedoch auf der Frage, ob Gegenstände zurückgegeben werden können, also auf den Restitutionsvoraussetzungen. Die Überschrift erscheint angesichts des Inhalts der Vorschrift zu eng.493 § 1 Abs. 1 KRG enthält vier Tatbestände, die über eine unterschiedliche Relevanz in der Empfehlungspraxis des Beirats verfügen. Bevor die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen einer Rückgabe dargestellt werden, ist vorweg eine kurze Einführung in die Systematik der vier Tatbestände des § 1 Abs. 1 KRG geboten.

A. Vorbemerkung: Zur Systematik der Tatbestände des Kunstrückgabegesetzes Wie bereits im Rahmen der Genese des KRG erläutert, wurde das KRG in einem überdurchschnittlich schnellen Gesetzgebungsverfahren beschlossen. Aufgrund dessen werden die vier Tatbestände des § 1 Abs. 1 KRG nicht als abschließend betrachtet, sondern als eine Momentaufnahme der im Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses vorliegenden Kenntnisse. Die Tatbestände sind bewusst weit formuliert, um ihre Anwendbarkeit auch bei fortschreitender Erforschung der historischen Zusammenhänge zu garantieren.494 Gerade in der juristischen Beurteilung der Tatbestände darf daher nicht verkannt werden, dass die in den Tatbeständen enthaltenen Wertungen aufgrund der zu erfassenden Einzelfälle und des fortgeschrittenen Zeitablaufs generalisierend sind und sein müssen.495 In dem nachfolgenden Überblick über die Systematik wird bewusst nicht auf die konkrete Auslegung der Tatbestände eingegangen, sondern nur ein erster Eindruck ihrer Zweckbestimmung beabsichtigt. Dieser veranschaulicht, dass sich die Tatbestände anhand ihres Regelungszweckes aufteilen lassen, und zwar einerseits in die Regelung von die Entziehung perpetuierendem Fehlverhalten der Zweiten Republik in der Nachkriegszeit durch § 1 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 KRG, andererseits in die unmittelbare Regelung von Entziehungen während der nationalsozialistischen Herrschaft in § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG. Diese unterschiedlichen Zweckbe493 So auch Stellungnahme Bundeskanzleramt zum Ministerialentwurf v. 28.08.2008, 7/SN-214/ME XXIII. GP, S. 6. 494 S. zur Genese des KRG unter § 4 C.I., S. 46.

495 Vgl. Binder-Krieglstein, Restitution, in: David Online 52/2002.

91 

stimmungen begründen schließlich unter Berücksichtigung der Washingtoner Prinzipien die Begrenzung der hiesigen Untersuchung auf die zwei letztgenannten Tatbestände.

I. Die Tatbestände zur Regelung von Fehlverhalten der Zweiten Republik § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG regelt die Rückgabe von Kulturgütern, die »Gegenstand von Rückstellungen an die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger von Todes wegen waren oder nach den damaligen Bestimmungen zu restituieren gewesen wären und nach dem 8. Mai 1945 im engen Zusammenhang mit einem daraus folgenden Verfahren nach den Bestimmungen des […] [Ausfuhrverbotsgesetzes496], in das Eigentum des Bundes übergegangen sind«. Die in Rede stehenden Kulturgüter müssen demnach erstens zumindest potenzieller Gegenstand von Restitutionsverfahren in der Nachkriegszeit gewesen und zweitens mit einem Ausfuhrverbot in der Nachkriegszeit belegt worden sein. Darüber hinaus ist drittens ein enger Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen erforderlich. Insgesamt hat der Beirat in 38 von 382 Beschlüssen umfassend eine Rückgabe nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG untersucht,497 damit macht dieser erste Tatbestand lediglich zehn Prozent der Beschlüsse des Beirats aus. Die Rückgabe von Kulturgütern, die »nach Abschluss von Rückstellungsverfahren nicht an die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger von Todes wegen zurückgegeben werden konnten, [und die] als herrenloses Gut unentgeltlich in das Eigentum des Bundes übergegangen sind«, wird von § 1 Abs. 1 Nr. 3 KRG geregelt. Dieser Tatbestand betrifft somit Kulturgüter, die erstens in der Nachkriegszeit trotz Abschluss von Restitutionsverfahren nicht zurückgeben wurden und zweitens schließlich als »herrenlose«498 Güter in Bundeseigentum über­ gegangen sind. Der Beirat zieht den Tatbestand aus § 1 Abs. 1 Nr. 3 KRG nur in elf von 382 Beschlüssen heran, also in knapp drei Prozent seiner Empfehlung. Der Tatbestand ist somit deutlich weniger relevant als § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG und dementsprechend auch in der Auslegung weniger ausdifferenziert. Der Wortlaut der beiden Tatbestände zeigt jedenfalls, dass die Legislative mit ihnen vor allem Fehlverhalten und Versäumnisse der jungen Zweiten Republik unmittelbar regeln wollte. Sie beabsichtigte mithin auf Fehler in der Nachkriegszeit und nur mittelbar, im Sinne der Verhinderung einer Perpetuierung, auf die Entziehungen im Nationalsozialismus zu reagieren. Dies wird auch aus den Gesetzesmaterialien deutlich, wonach auch Objekte erfasst sind, die »als Folge der NS-Gewaltherrschaft in das Eigentum des Bundes gelangt sind.«499 Beide Tatbestände regeln dennoch unterschiedliche Formen des Fehlverhaltens der Zweiten Republik in der Nachkriegszeit, denn während § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG auf mindestens in Kauf genommenes, wenn nicht sogar beabsichtigtes Fehlverhalten der jungen Republik Bezug nimmt, dient § 1 Abs. 1 Nr. 3 KRG der Korrektur von Unaufmerksamkeit und Unkenntnis des Bundes.

496 Bundesgesetz vom 5. Dezember 1918 über das Verbot der Ausfuhr von Gegenständen von geschichtlicher, künstlerischer oder

kultureller Bedeutung, StGBl Nr. 90/1918 (im Folgenden nur: Ausfuhrverbotsgesetz).

497 In ca. fünf weiteren Beschlüssen wird § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG neben § 1 Abs. 1 Nr. 2 KRG kursorisch geprüft.

498 »Herrenlos« kann hier nicht im Sinne des ABGB gemeint sein, da eine Sache nur herrenlos sein kann, wenn sie nie in jeman-

des Eigentum stand oder derelinquiert worden ist (vgl. Rummel/Lukas/Winner, ABGB, Juli 2016, § 381 Rn. 2; Kletečka/ Schauer/Mader, ABGB, März 2019, § 381 Rn. 1). Dies ist bei entzogenen Kulturgütern gerade nicht der Fall, so nun jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 205 ff. 499 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 3.

92  § 6  Die allgemeinen Rückgabevoraussetzungen des Kunstrückgabegesetzes

Das nachfolgend nun ausführlich dargelegte Fehlverhalten der Republik Österreich soll § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG korrigieren: Die in der Nachkriegszeit bereits restituierten Gegenstände wurden häufig im Anschluss an die Restitution einem Ausfuhrverbot nach dem Ausfuhrverbotsgesetz durch das Bundesdenkmalamt unterstellt. Das Ausfuhrverbotsgesetz trat bereits 1918 in Kraft, um nach dem Ende des Ersten Weltkrieges der Ausfuhr österreichischen Kulturguts aus der Donaumonarchie ins Ausland zu begegnen. Es wurde dann vom nationalsozialistischen Regime zur Diskriminierung von flüchtenden sowie emigrierenden Personen genutzt und nach Kriegsende ohne Bedenken in die Rechtsordnung der Zweiten Republik übergeleitet.500 Die Anwendung in der Nachkriegszeit auf zurückgestellte Kulturgüter führte für die infolge der Verfolgung oftmals im Ausland lebenden Eigentümer:innen zu einer erheblichen Beschränkung ihres wiederhergestellten Eigentumsrechts, die faktisch nur die Wahl zwischen dem kostspieligen Lagern eines Kulturguts aus der Ferne oder dessen Verkauf innerhalb Österreichs ließ. Die junge Republik entwickelte daher die folgenden Strategien: Bei einzelnen Werken wurde abgewartet, bis die Eigentümer:innen mangels umfassender rechtlicher sowie faktischer Ver­ fügungsmacht einem Verkauf an den Bund – teils unter Wert – zustimmten. Oder die Eigentü­ mer:innen größerer Sammlungen erklärten sich auf Anregung des Bundes im Gegenzug für die Erteilung einer Ausfuhrbewilligung bezüglich eines Teils des begehrten Ausfuhrguts bereit, den österreichischen Bundesmuseen den anderen Teil zu schenken (»widmen«) oder zu verkaufen (do-ut-des).501 Der Bund nutze also die Nachwirkungen der nationalsozialistischen Verfolgung in der Nachkriegszeit aus. Demgegenüber bezweckt § 1 Abs. 1 Nr. 3 KRG die Rückgabe von Objekten, die aus faktischen Gründen trotz Durchführung eines Rückstellungsverfahrens in der Nachkriegszeit nicht an die Eigentümer:innen zurückgestellt werden konnten und als »herrenloses« Gut in Bundeseigentum übergegangen sind. Die Rückgabe des entzogenen Kulturgutes fand also trotz anderweitiger Rückstellungen in der Nachkriegszeit nicht statt.502 Es ist daher fraglich, über welchen Anwendungsbereich § 1 Abs. 1 Nr. 3 KRG überhaupt noch verfügt, da sämtliche denkbaren Fälle auch vom nachfolgend zu erläuternden § 1 Abs. 1 Nr. 2 KRG erfasst wären; gegen eine ersatzlose Streichung des Tatbestands ist daher nichts einzuwenden.503

500 Fürnsinn, Denkmalschutzrecht, 2002, S. 15; Ploil, Parnass 04/2006, 12, 12 f.; Bazil et al., Denkmalschutzrecht, 2. Aufl. 2015,

Einführung, S. 2 f.; Ploil, Bulletin Kunst & Recht 2015, 30, 30. Zur Instrumentalisierung des geltenden Rechts im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie, s. Jabloner, juridikum 2003, 19, 19 ff.; Jabloner, Jurist, 2004, S. 26. 501 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 4; Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 3; Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 1; Wortmeldung Böhm bei der 646. Sitzung des Bundesrats am 19.11.1998, Stenografische Protokolle des Bundesrats, S. 62 f.; vgl. Schiedsspruch Zuckerkandl-Portrait v. 07.05.2006, S. 39, abrufbar unter http://www.bslaw.com/altmann/Zuckerkandl/Decisions/decision. pdf; Rechberger, Bulletin Kunst & Recht 2020/2021, 39, 47; Unkritisch zu dieser Praxis Toman, in: Kräutler/Frodl (Hrsg.), Museum, 2004, S. 243, 248. 502 S. dazu Beschl. zu Stefan von Auspitz/Harald Reininghaus v. 27.01.2004, S. 2 ff.; Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 4; Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 6 f.; Wortmeldung Böhm bei der 646. Sitzung des Bundesrats am 19.11.1998, Stenografische Protokolle des Bundesrats, S. 61; Stellungnahme Finanzprokuratur zum Ministerialentwurf v. 01.09.2008, 9/SN-214/ME XXIII. GP, S. 6 f.; vgl. Wilhelm, ecolex 2006, 89, 89; Graf, NZ 2005, 321, 323; Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, Fn. 25; jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 203 ff. 503 Stellungnahme Finanzprokuratur zum Ministerialentwurf v. 01.09.2008, 9/SN-214/ME XXIII. GP, S. 6 f.; so nun auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 208.

93  A. Vorbemerkung: Zur Systematik der Tatbestände des Kunstrückgabegesetzes

II. Die Tatbestände zur Regelung von Entziehungen im Nationalsozialismus Im Vergleich mit den Tatbeständen § 1 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 KRG ist festzustellen, dass sich die Tatbestände § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG unmittelbar mit Entziehungen auseinandersetzen, indem sie – sehr pauschalisiert betrachtet – Verluste während der nationalsozialistischen Herrschaft zum Gegenstand haben. § 1 Abs. 1 Nr. 2 KRG erfasst Kulturgüter, die »zwar rechtmäßig in das Eigentum des Bundes übergegangen sind, jedoch zuvor Gegenstand eines Rechtsgeschäfts oder einer Rechtshandlung gemäß § 1 des Bundesgesetzes über die Nichtigerklärung von Rechtsgeschäften und sonstigen Rechtshandlungen, die während der deutschen Besetzung Österreichs erfolgt sind, […] waren«. Dieser Tatbestand setzt somit erstens voraus, dass die Kulturgüter rechtmäßig in Bundeseigentum übergegangen sind und zweitens – diese Voraussetzung stammt aus dem genannten § 1 NichtigkeitsG – Gegenstand eines Verlusts im »besetzten«504 Österreich waren. Daran anknüpfend regelt § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG die Rückgabe von Kulturgütern, die ebenfalls rechtmäßig in Bundeseigentum übergegangen sind, »jedoch zwischen dem 30. Jänner 1933 und dem 8. Mai 1945 in einem Herrschaftsgebiet des Deutschen Reiches außerhalb des Gebietes der heutigen Republik Österreich Gegenstand eines Rechtsgeschäfts oder einer Rechtshandlung waren, die Rechtsgeschäften oder Rechtshandlungen gemäß […] [§ 1 NichtigkeitsG] vergleichbar sind«. Dieser Tatbestand verfügt somit über beinahe die gleichen Voraussetzungen wie der zuvor erläuterte Tatbestand: Erstens ist ein rechtmäßiger Übergang des Kulturguts in Bundeseigentum erforderlich, zweitens muss ein mit § 1 NichtigkeitsG vergleichbarer Vermögensverlust außerhalb Österreichs in nationalsozialistisch beherrschten Gebieten eingetreten sein. Eine ausführliche Erläuterung des NichtigkeitsG und seiner Rolle im KRG kann aufgrund der damit verbundenen Komplexität in diesem Überblick noch nicht vorgenommen werden.505 Vorab ist dennoch Folgendes festzuhalten: § 1 Abs. 1 Nr. 2 umfasst aufgrund des Verweises auf § 1 NichtigkeitsG somit lediglich Rechtsgeschäfte und Rechtshandlungen innerhalb des »besetzten« Österreichs, während der durch die Novelle 2009 eingeführte § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG auf vergleichbare Rechtsgeschäfte und Rechtshandlungen außerhalb des »besetzten« Österreichs anwendbar ist.506 Entsprechend den Gesetzesmaterialien zur Novelle sind als »vergleich­ bar« sämtliche Rechtsgeschäfte und Rechtshandlungen anzusehen, die von § 1 NichtigkeitsG erfasst wären, wenn sie nicht außerhalb des »besetzten« Österreichs erfolgt wären.507 Beide Tatbestände betreffen somit die Restitution von im Sinne des § 1 NichtigkeitsG während und unter der nationalsozialistischen Herrschaft verlorenen Kulturgüter, unterscheiden sich aber in ihrem örtlichen sowie zeitlichen Anwendungsbereich.508 Es ist nicht ersichtlich, warum im Zuge der Novelle nicht ein einziger Tatbestand geschaffen wurde, der Entziehungen innerhalb des gesamten nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs erfasst. 504 Der Begriff »Besetzung« wird aufgrund des Wortlautes des KRG verwendet, obwohl die Bezeichnung nicht den historischen

Fakten zum ›Anschluss‹ entspricht, dazu eingehend Simma/Folz, Restitution, 2004, passim. Das »besetze Österreich« ist identisch mit dem Gebiet des »heutigen Österreichs«. Der Beirat stellt daher gelegentlich auch auf das »heutige österreichische Staatsgebiet« ab, s. Beschl. zu Michael Berolzheimer v. 10.05.2001, S. 7. 506 S. zum Verhältnis zwischen Nachkriegsgesetz und KRG unter § 7 A.I., S. 112. 506 Im Zuge der Novellierung des KRG wurde dem Kriterium der »Vergleichbarkeit« mit einem Rechtsgeschäft oder eine Rechtshandlung im Sinne des § 1 NichtigkeitsG mangelnde Bestimmtheit vorgeworfen, Stellungnahme Bundeskanzleramt zum Ministerialentwurf v. 28.08.2008, 7/SN-214/ME XXIII. GP, S. 4. 507 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 4. 508 S. zum örtlichen und zeitlichen Rahmen der Entziehung unter § 7 B., S. 124.

94  § 6  Die allgemeinen Rückgabevoraussetzungen des Kunstrückgabegesetzes

Aufgrund des identischen Regelungsinteresses und Wortlauts werden diese beiden Tatbestände in der Folge – abgesehen vom örtlichen und zeitlichen Anwendungsbereich – stets gemeinsam untersucht. Zusammen bilden sie die Generalklausel des KRG, da die Legislative mit ihnen lediglich auf normative Wertmaßstäbe des Nachkriegsrechts verweist, ohne jedoch über die Verweisung hinaus Vorgaben für die Anwendung bereitzustellen.509 Sie können infolge ihrer im Vergleich mit den anderen Tatbeständen unbestimmten Tatbestandsvoraussetzungen durch­aus als in diesem Falle ausdrücklich beabsichtigtes510 Offenlassen legislativer Wertungen betrachtet werden. Dementsprechend verfügen sie über einen besonders weiten Anwendungs­ bereich,511 was sich auch quantitativ niederschlägt: Sie machen über 87 Prozent der 382 Beschlüsse des Beirats aus, wobei nur knapp fünf Prozent aller Beschlüsse § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG betreffen.512

III. Notwendigkeit einer Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes Die vorherigen Ausführungen dienen nicht bloß einer Einführung in den materiellen Gehalt des KRG, sondern bezwecken auch eine Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes: Die nachfolgende Untersuchung beschränkt sich nämlich auf die Tatbestände zur unmittelbaren Regelung von Entziehungen im Nationalsozialismus, also § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG. Für eine solche Begrenzung lässt sich bereits anführen, dass diese beiden Tatbestände über 87 Prozent der Beschlüsse des Beirats ausmachen. Doch allein die Quantität vermag selbstverständlich noch nicht die Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes zu rechtfertigen. Für eine Beschränkung lässt sich darüber hinaus die Systematik der Tatbestände anführen. Nach einer vertieften Auseinandersetzung mit der systematischen Konstruktion wird zum einen deutlich, dass letztlich § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG lediglich als lex specialis zu § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG zu betrachten ist.513 Zum anderen verfügt § 1 Abs. 1 Nr. 3 KRG gegenüber § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG über keinen eigenen Anwendungsbereich, was sich auch in seiner gegen Null tendierenden Relevanz in der Empfehlungspraxis manifestiert.514 Es ist daher nicht ersichtlich, warum trotz des fehlenden Anwendungsbereichs im Zuge der Novellierung des KRG an diesem Tatbestand festgehalten wurde; er wird in den nachfolgenden Erwägungen außer Acht gelassen. Die Begründung dieser systematischen Verhältnisse ohne vorherigen Einblick in die Auslegung des KRG würde indes an dieser Stelle zu weit gehen.515 Den ausschlaggebenden Grund für eine Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes bilden die Washingtoner Prinzipien, an denen schließlich in dieser Arbeit alle Tatbestände des § 1 Abs. 1 KRG gemessen werden sollen. Es wird zwar erkannt, dass der Tatbestand von § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG als Reaktion auf Fehlverhalten der Zweiten Republik »technisch nicht Nationalsozialisten involviert«, gleichwohl wird er in der Literatur teils »konzeptuell« unter den Begriff des 509 S. zur Funktion von Generalklauseln bei der Rechtsanwendung Rüthers, Auslegung, 8. Aufl. 2017, S. 213 f. 510 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 5. 511

So auch Graf, NZ 2005, 321, 323.

512 Im Zeitpunkt der Novelle fielen rund 76 Prozent unter § 1 Nr. 2 KRG a.F., s. Beilagen Stenografische Protokolle des Natio-

nalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 2.

513 Stellungnahme Finanzprokuratur zum Ministerialentwurf v. 01.09.2008, 9/SN-214/ME XXIII. GP, S. 2 ff. Dies verkennt

­jedoch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 143, indem er § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG einen anderen Entziehungsbegriff als § 1 Abs. 1 Nr. 2 und 2a KRG zuschreibt. 514 Stellungnahme Finanzprokuratur zum Ministerialentwurf v. 01.09.2008, 9/SN-214/ME XXIII. GP, S. 2 ff. 515 Bezüge zum systematischen Verhältnis finden sich unter § 9 A., S. 273, und § 9 D., S. 300.

95  A. Vorbemerkung: Zur Systematik der Tatbestände des Kunstrückgabegesetzes

»Zwangsverkaufs« gefasst.516 Dies spricht angesichts der ausdrücklichen Erfassung von »Zwangs­ verkäufen« in der Theresienstädter Erklärung zunächst für eine Anwendung der Washingtoner Prinzipien. Ihrem Wortlaut nach erfassen sie aber nur Kulturgüter, die entzogen »und in der Folge nicht zurückerstattet« oder »nicht zurückgegeben wurden«. Das Einfallstor für die Anwen­ dung der Washingtoner Prinzipien ist demnach die Unterlassung einer Rückgabe nach der Entziehung. Zudem legt ein Blick in die Entstehungsmaterialien der Washingtoner Prinzipien nahe, dass diese kein solches staatliches Fehlverhalten in der Nachkriegszeit abdecken: Denn den Teilnehmerstaaten war das österreichische KRG mit seinen Reaktionen auf die österreichischen Versäumnisse der Nachkriegszeit bereits auf der Washingtoner Konferenz bekannt.517 Infolgedessen hätten sie vergleichbare internationale Regelungen treffen können. Aus keinem anderen Unterzeichnerstaat der Washingtoner Prinzipien ist jedoch eine vergleichbar systematische, die nationalsozialistischen Entziehungen strukturell perpetuierende Ausfuhrpraxis in der Nach­ kriegszeit bekannt; auszuschließen ist die Üblichkeit einer solchen Praxis auch in anderen europäischen Staaten freilich aber nicht.518 Angesichts der zumindest bisher herausstechenden Singularität der österreichischen Regelung ist daher davon auszugehen, dass die Unterzeichnerstaaten bewusst auf eine vergleichbare, staatenübergreifende Regelung verzichtet haben. Die Washingtoner Prinzipien umfassen damit nicht die Restitution von entzogenen Kulturgütern, die in der Nachkriegszeit restituiert wurden, dann aber Gegenstand eines anschließenden, anderen staatlichen Fehlverhaltens waren – dieses unterbricht mithin den Zurechnungszusammenhang zur Entziehung im Nationalsozialismus. Die ratio von § 1 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 KRG beschreibt aber genau diese Reaktion auf staatliches Fehlverhalten nach 1945: Beide Tatbestände setzen im weiteren Sinne Rückgabebemühungen voraus und knüpfen somit nicht an die fehlende formelle Restitution, sondern an anschließendes Fehlverhalten der Republik Österreich an. Die Bezeichnung als »Zwangsverkauf« ist daher wohl nicht im Sinne der Theresienstädter Erklärung, sondern bloß als Hinweis auf den durch das Ausfuhrverbotsgesetz begründeten Zwang zu verstehen. Dies hat nicht zur Konsequenz, dass die Republik Österreich sich nicht mit ihrem eigenen Verhalten in der Nachkriegszeit auseinandersetzen muss. Angesichts der strukturellen Perpetuierung der Entziehungen durch die restriktive Anwendung des Ausfuhrverbotsgesetzes in der Nachkriegszeit ist die Regelung des § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG zwingend geboten, um eine umfassende Bereinigung der Bundeseinrichtungen von »bedenklichen« Kulturgütern zu erreichen. Es handelt sich jedoch um eine nationale Besonderheit, die nicht im Lichte einer Vereinbarung auf Völkerrechtsebene untersucht werden muss, die ausdrücklich ein die historischen Besonderheiten überwindendes Regelungsregime beabsichtigt.519 Die österreichischen Bemühungen, das eigene an die nationalsozialistische Herrschaft anknüpfende Fehlverhalten zu korrigieren, sind daher unbedingt zu befürworten, doch sollen sie nicht Gegenstand dieser Untersuchung

516 Adler, Int. J. Cult. Prop. 2007, 57, 60.

517 Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999; Eizenstat, Opening Statement,

in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 39, 41; Delegation Statement Austria, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 151, 151 ff. 518 In dieser Hinsicht besteht erheblicher Forschungsbedarf: In der Bundesrepublik Deutschland führten Ausfuhrverbote zumindest auch zu Komplikationen in der Nachkriegszeit. So wurde die Ausfuhr an die Geflüchteten in die Vereinigten Staaten zunächst verweigert, aber dann 1953 genehmigt, vgl. Lauterbach, Central Collecting Point, 2015, S. 160. 519 Ähnlich auch Unfried, Unrecht, 2014, S. 441 ff.

96  § 6  Die allgemeinen Rückgabevoraussetzungen des Kunstrückgabegesetzes

sein. Die nachfolgenden Ausführungen im Lichte der Washingtoner Prinzipien widmen sich daher zunächst den allen Tatbeständen gemeinen Rückgabevoraussetzungen, bevor allein auf die Spezifika der Tatbestände aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG eingegangen wird.

B. Das bewegliche Kulturgut als Rückgabeobjekt Gemäß § 1 Abs. 1 KRG setzen alle vier Tatbestände voraus, dass es sich bei den Rückgabeobjek­ ten um »Kunstgegenstände und sonstiges bewegliches Kulturgut« handelt. Insbesondere Immobilien können somit nicht Gegenstand eines Verfahrens sein. Die Erweiterung auf sonstiges Kulturgut im Wortlaut des Gesetzes erfolgte erst im Zuge der Novelle 2009 nach einer bereits zehnjährigen Empfehlungspraxis des Beirats zu § 1 KRG a.F.520 Dieser war seinem Wortlaut zufolge lediglich auf Kunstgegenstände anwendbar. Die nachfolgende Untersuchung orientiert sich chronologisch an der Konturierung des Begriffs »Kulturgut« durch die Empfehlungspraxis des Beirats vom Kunstgegenstand zum Kulturgut als »museumswürdiges« Objekt. Diese Entwicklung wird zuletzt im Lichte der Washingtoner Prinzipien bewertet.

I. Vom Kunstgegenstand zum Kulturgut als museumswürdiges Objekt Die Konturierung des Begriffs »Kulturgut« erfordert eine sehr detaillierte Auseinandersetzung mit den Gesetzesmaterialien des KRG. Maßgeblich für die Untersuchung dieses Tatbestandsmerkmals ist daher eine historische Auslegung, insbesondere durch den Vergleich der alten und novellierten Version des KRG.521 Der beschränkte Wortlaut des § 1 KRG a.F. ermächtigte den:die Minister:in zunächst lediglich zur Restitution von Kunstgegenständen, da 1998 noch hauptsächlich Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen im Mittelpunkt der Diskussion standen. Trotz des auf Kunstgegenstände begrenzten Wortlautes legte der Beirat diesen Begriff bereits früh extensiv als »Kulturgüter« aus: Schon im ersten Jahr der Empfehlungspraxis wurden auch zeitgenössisches Mobiliar und Hausrat restituiert, darunter beispielsweise zwei dreiteilige Matratzen sowie ein zerlegbares Offiziersbett.522 Die extensive Auslegung erfolgte jedoch in den ersten Beschlüssen noch ohne ausdrückliche Definition und Begründung. Letztere lieferte der Beirat erst 2000: Im Beschluss zu Moritz Kuffner subsumiert er trotz des auf Kunstgegenstände limitierten Wortlauts Druckschriften im Wege der historischen Auslegung unter § 1 KRG a.F., da die Erläuterungen zum KRG ausdrücklich von »Kunst- und Kulturgegenständen« sprechen.523

520 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 2 f.; Kulturbericht 2009, S. 224. Kritisch: Wort­

meldung Unterreiner bei der 40. Sitzung des Nationalrats am 21.10.2009, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XXIV. GP, S. 89. 521 Zum Vergleich neuer und alter Normen im Rahmen der historischen Auslegung s. unter § 3 A., S. 25. 522 Beschl. zu Paul Weiß v. 22.11.1999, S. 1; Beschl. zu Hans u. Hedwig Schwarz v. 27.03.000, S. 3. Daneben etwa Tische und Uhren (Beschl. zu Emil Stiassny v. 27.03.2000, S. 2), Vitrinen, Sessel, Teppiche (Beschl. zu Wilhelm Goldenberg v. 22.11.1999, S. 2), Kästen und Spiegel (Beschl. zu Hugo Breitner v. 22.11.1999, S. 2) sowie später Waagen (Beschl. zu Ernst Egger v. 28.06. 2006, S. 1; Beschl. zu Theodor Wolf v. 01.06.2007, S. 1) und Zigarrenzubehör (Beschl. zu Margarethe u. Henriette Sonnenthal v. 03.10.2008, S. 1). 523 Beschl. zu Moritz Kuffner v. 10.10.2000, S. 2 f. Wie Fitz richtigerweise erkennt, hätte der Beirat diese Auslegung darüber hinaus dogmengeschichtlich anhand des Kunst- und Kulturgutbereinigungsgesetzes begründen können, s. Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 101.

97  B. Das bewegliche Kulturgut als Rückgabeobjekt

Obwohl zu vermuten ist, dass dem Beirat bereits zuvor die Begrifflichkeit aus den Gesetzesmaterialien von 1998 bekannt war, zieht er diese hier erstmals ausdrücklich zur Begründung der weiten Auslegung heran. Den Gesetzesmaterialien zufolge ist vom KRG »Kunst- und Kulturgut jeder Art [erfasst], wie es von den Bundesmuseen und der Nationalbibliothek sowie den Sammlungen der Bundesmobilienverwaltung, für die dieses Bundesgesetz gilt, gesammelt wird«524. Dabei besteht dem Beirat zufolge ausdrücklich keine Wertgrenze. Mithin können auch solche Objekte restituiert werden, die über einen geringen oder keinen Verkehrswert verfügen.525 Die Restitution eines geringwertigen Objektes ist jedoch dann oftmals bereits auf Grundlage des Bundeshaushaltsgesetzes möglich;526 dies ist aber bei Kulturgütern in Bundeseigentum nur selten der Fall.527 Entscheidendes Kriterium für die Charakterisierung als ein Kulturgut ist demnach allein die gegenwärtige Zugehörigkeit zu einer der genannten Institutionen, vornehmlich Museen.528 Darauf baut auch die anschließende Praxis auf, in der vom Beirat teils ausdrücklich auf die Einordnung des Gegenstandes als »museumswürdig« abgestellt wird, ohne dabei dieses Adjektiv weiter zu definieren.529 In der Folge subsumiert der Beirat diverse Archivalien530 und Notendrucke531 aus der ÖNB unter das KRG. Daneben werden naturhistorische Objekte532 aus dem Naturhistorischen Museum ebenso wie Münzen533 aus dem Münzkabinett des ­Kunsthistorischen Museums vom Gesetz erfasst. Auch Musikinstrumente534, einfache Fotografien535 aus dem Theatermuseum sowie zeitgenössische technische Geräte536 aus dem Technischen Museum, darunter ein 1931537 produzierter Fiat 522538 oder ein Heißwassererhitzer539,

524 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 5.

525 Beschl. zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 07.03.2008, S. 2 (nicht mehr online abrufbar); Bundesministerium für Unter-

richt, Kunst und Kultur, Anfragebeantwortung Nationalrat, Nr. 2652/AB, XXIV. GP, S. 2.

526 S. zum Gesetzesvorbehalt für Verfügungen über Bundesvermögen unter § 4 C.II., S. 48.

527 So etwa im Beschl. zu Moritz Kuffner v. 10.10.2000, S. 2. Irritierend ist, dass vereinzelt bei geringwertigen Objekten eher auf

528 529 530 531 532

533

534 535 536 537

538 539

die »Gesamtwürdigung der Umstände« sowie die »Zielsetzung des Kunstrückgabegesetzes« verwiesen wird, anstatt explizit und ausführlich auf das Bundeshaushaltsgesetz zu rekurrieren, s. Beschl. zu Gertrude Zarfl v. 11.09.2009, S. 3. So auch Zechner, Eingreiftruppe, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 230, 232 f.; Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, Fn. 36; jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 100 f. Beschl. zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 07.03.2008, S. 2 (nicht mehr online abrufbar); Beschl. zu Ernst Sonnenschein v. 20.03.2009, S. 2. Etwa Nachlässe und Briefkuverts (Beschl. zu Alexander Friedrich Rosenfeld (Roda Roda) v. 26.06.2000, S. 1; Beschl. zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 07.03.2008, S. 1 (nicht mehr online abrufbar)). Beschl. zu Gottfried Bermann-Fischer v. 17.01.2004, S.1; Beschl. zu Robert Kronfeld v. 27.04.2004, S. 2; Beschl. zu Ernestine von Skoda v. 25.11.2004, S. 2; Beschl. zu Arnold Rosé v. 25.11.2004, S. 2; Beschl. zu Siegfried Fuchs v. 29.06.2005, S. 1. Etwa zwei Fossile Fische (Beschl. zu Martha Schlesinger v. 28.06.2006, S. 2) und Vogelbälge (Beschl. zu Siegfried Roubicek v. 28.09.2007, S. 2). Humanpräparate fasst der Beirat jedoch nicht unter Kulturgüter im Sinne des KRG (Restitutionsbericht 2005/2006, S. 9). Beschl. zu Leo Fürst v. 10.10.2000, S. 1; Beschl. zu Alfred Menziles v. 19.06.2002, S. 1; Beschl. zu Leo Heymann v. 03.12.2002, S. 1. Bereits während der NS-Herrschaft führte die Einordnung von Münzen als Kunstgegenstände zu Konflikten, da diese ebenso über einen Edelmetallwert verfügen, vgl. Brückler, Beschlagnahmungen, in: ders. (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 94, 112, 126 f. Beschlüsse zu Theodor Sternberg v. 01.06.2007, S. 2, u. v. 07.03.2008, S. 2; Beschl. zu Siegfried Fuchs v. 20.04.2012, S. 1. Beschlüsse zu Salomon Kohn v. 22.06.2004, S. 2, 29.03.2006, S. 2, u. v. 28.09.2007, S. 2; Beschl. zu Helene u. Elise Richter v. 28.09.2007, S. 2. Etwa ein Radioapparat, ein Dampfindikator, ein Edison Phonograph (Beschl. zu Regine Ehrenfest-Egger v. 07.12.2007, S. 2), eine Münzwaage, zwei Alkoholmeter (Beschl. zu Theodor Wolf v. 01.06.2007, S. 2). Das Produktionsjahr findet sich nicht im Beschluss, aber bei Klösch, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 442, 442. Beschl. zu Rosa Glückselig v. 01.06.2007, S. 2. Beschl. zu Ernst Sonnenschein v. 20.03.2009, S. 2.

98  § 6  Die allgemeinen Rückgabevoraussetzungen des Kunstrückgabegesetzes

sind Gegenstand von Beschlüssen des Beirats und werden von diesem als Kulturgüter im Sinne des KRG betrachtet.540 Zudem fallen auch Ritualgegenstände unter den Kulturgutbegriff des Beirats.541 Interessanterweise wurde im Zusammenhang mit der Rückgabe des Fiats von der Provenienzforschung argumentiert, die Einordnung als Kulturgut ließe sich aus der Provenienz selbst ableiten. Damit gälte das, was das nationalsozialistische Regime für »entziehungsfähig« hielt, als restitutionsfähig für die Republik Österreich.542 Ungeachtet der konkreten Begründung führt diese extensive Auslegung, ausgehend von den Gesetzesmaterialien von 1998, zur Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 1 KRG a.F. von Kunstgegenstände auf Kulturgüter, worunter sämtliche als potenziell »museumswürdig« zu betrachtenden Objekte zu fallen scheinen.543 Die Erweiterung des Wortlauts von § 1 Abs. 1 KRG auf »Kunstgegenstände und sonstige Kulturgüter« im Zuge der Novelle hatte sodann in rein begrifflicher Hinsicht keine Auswirkung auf die Empfehlungspraxis. Die Novelle passte jedoch nicht nur den Wortlaut des KRG an, sondern führte über ihre Gesetzesmaterialien auch eine Definition der Kulturgüter als »Gegenstände von geschichtlicher, künstlerischer und sonstiger kultureller Bedeutung«544 ein. Während also sowohl den Gesetzesmaterialien von 1998 als auch der Empfehlungspraxis des Beirats ein besonderer Fokus auf den Wirkbereich von Museen zu entnehmen ist, stellt die Definition der Novelle verschiedene Wertigkeitskriterien ungeachtet der Institutionalisierung auf. Diese scheinen zunächst der denkmalschutzrechtlichen Definition des Kulturguts nach § 1 Abs. 1, 11 Denkmalschutzgesetz545 entnommen zu sein:546 Sie erfasst »von Menschen geschaffene unbewegliche und bewegliche Gegenstände […] von geschichtlicher, künstlerischer und sonstiger kultureller Bedeutung«.547 Aufgrund der Verwendung des Begriffs »Kulturgut« im Wortlaut sowohl des KRG als auch des Denkmalschutzgesetzes liegt eine Identität seiner Bedeutung nahe. Diese hätte auch mit Blick auf die harmonisierende Interpretation normativer Maßstäbe zunächst ihre Vorzüge. Noch in den Gesetzesmaterialien der Novelle zum KRG wurde ein ausdrücklicher Verweis auf die denkmalschutzrechtliche Definition in den Erläuterungen548 oder überdies im Wortlaut549 des KRG gefordert. In der Regierungsvorlage findet sich dieser explizite Verweis jedoch weder im Gesetzestext noch in den Erläuterungen. Es ist daher zu vermuten, dass die Legislative bewusst von einer Deckungsgleichheit der Definitionen abgesehen und nur einen Auszug über540 Dies bestätigen auch die Gesetzesmaterialien zur Novelle, s. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238,

XXIV. GP, S. 3.

541 Beschl. zu Arthur Kohn v. 20.03.2022, S. 1.

542 Reininghaus, in: dies. (Hrsg.), Recollecting, 2009, S. 11, 11; Anderl, in: Blimlinger/Schödl (Hrsg.), (k)ein Ende, 2018, S. 97, 99,

103.

543 Wobei »museumswürdig« hier als »eines österreichischen Bundesmuseums würdig« verstanden werden muss, sodass etwa auch

Druckschriften aus der Österreichischen Nationalbibliothek, die als Bundesmuseum gilt, erfasst werden.

544 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 3.

545 Bundesgesetz betreffend den Schutz von Denkmalen wegen ihrer geschichtlichen, künstlerischen oder sonstigen kulturellen

Bedeutung (Denkmalschutzgesetz), BGBl. Nr. 533/1923 (im Folgenden: Denkmalschutzgesetz).

546 Im österreichischen Denkmal- und Kulturgutschutzrecht ist der Begriff des »Kulturgutes« ausdrücklich gleichbedeutend mit

dem des »Denkmales«, § 1 Abs. 11 Denkmalschutzgesetz.

547 Bei Kulturgütern in Bundeseigentum – und damit allen vom Wortlaut des KRG erfassten Objekten – wird gemäß § 2 Abs. 1

Nr. 1 Denkmalschutzgesetz ein öffentliches Interesse an der Erhaltung vermutet, s. Bazil et al., Denkmalschutzrecht, 2. Aufl. 2015, § 2 Rn. 1 ff.; Bazil, Rechtsfragen, 2001, S. 87 ff. 548 Ministerialentwurf der Novelle, 214/ME XXIII. GP, S. 3; Stellungnahme Finanzprokuratur zum Ministerialentwurf v. 01.09. 2008, 9/SN-214/ME XXIII. GP, S. 2. 549 Stellungnahme Bundeskanzleramt zum Ministerialentwurf v. 28.08.2008, 7/SN-214/ME XXIII. GP, S. 3.

99  B. Das bewegliche Kulturgut als Rückgabeobjekt

nommen hat.550 Eine vollständige Übernahme der denkmalschutzrechtlichen Definition würde nämlich einen erheblichen Widerspruch zur Empfehlungspraxis des Beirats vor der Novelle begründen. So subsumiert der Beirat in ständiger Empfehlungspraxis ohne Weiteres beispielsweise tierische Überreste unter § 1 Abs. 1 KRG, die jedoch eindeutig nicht das denkmalschutzrechtliche Kriterium des menschlichen Schaffensprozesses erfüllen.551 Die Novelle sollte aber gerade der Umsetzung der Empfehlungspraxis dienen, nicht aber eine neue Auslegung indizieren. Eine Deckungsgleichheit mit dem denkmalschutzrechtlichen Begriff des Kulturguts ist daher nicht anzunehmen. Mit Blick auf die Umsetzungsabsicht ist ebenso die Frage aufzuwerfen, ob nicht selbst das in den Erläuterungen der Novelle zu findende Kriterium der »geschichtlichen, künstlerischen und sonstigen kulturellen Bedeutung« angesichts der Empfehlungspraxis des Beirats zu eng ist. So ist fraglich, ob etwa Matratzen, ein unter 100 Jahre alter, fahruntüchtiger Fiat oder ein Heißwassererhitzer den denkmalschutzrechtlichen Anforderungen einer historischen oder sonstigen kulturellen Bedeutung gerecht werden.552 Es ist daher nicht ersichtlich, warum die Legislative in der Novelle in teilweiser Anlehnung an das Denkmalschutzrecht eine Definition vorgeschlagen hat, die in der vorherigen Empfehlungspraxis keinen Niederschlag findet, anstatt das Verständnis als potenziell »museumswürdiges« Objekt aus der Empfehlungspraxis aufzugreifen.553 Schließlich war allseits bekannt, dass die Novelle eine Anpassung des Gesetzestextes an die bisherige Auslegung durch den Beirat beabsichtigte, also gerade nicht einen von der Auslegung abweichenden und diese verkürzenden Begriff etablieren wollte.554 Zu vermuten ist daher, dass der Legislative schlichtweg nicht bewusst war, dass die Rechtsfortbildung des Beirats noch über den denkmalschutzrechtlich geprägten Begriff des »Kulturgutes« hinausgeht und die Definition so gerade keine Anpassung, sondern eine formelle Verengung vornimmt. Es ist davon auszugehen, dass die Gesetzesmaterialien durch die Verkürzung der denkmalschutzrechtlichen Definition auf die historische, künstlerische oder sonstige kulturelle Bedeutung tatsächlich einen möglichst weiten Anwendungsbereich durch Verschriftlichung garantieren wollten. Der Beirat nimmt diese Verengung jedenfalls – ob bewusst oder unbewusst – nicht an, da er sich an keiner Stelle mit der Begrifflichkeit des »Kulturgutes« unter Berücksichtigung der durch die Gesetzesmaterialien der Novelle eingeführten Definition auseinandersetzt. Diese fehlende Beachtung widerspricht jedoch seiner ansonsten umfassenden Berücksichtigung der historischen Auslegung. Zudem hätte der Beirat eine Auseinandersetzung mit den Materialien gelungen für eine Kritik an der Legislative aufgrund der mangelnden Umsetzung seiner Praxis

550 S. zur historischen Auslegung anhand der Gesetzesmaterialien unter § 3 A., S. 25.

551 So nun auch jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 104. Zu den denkmalschutzrechtlichen Anforderungen s. Bazil et al.,

Denkmalschutzrecht, 2. Aufl. 2015, § 1 Rn. 5 ff.; Bazil, Rechtsfragen, 2001, S. 20 ff. Zum Vergleich mit der Definition von »Kulturgut« nach der UNIDROIT-Konvention s. Reichelt, in: dies. (Hrsg.), Rechtsfragen, 2008, S. 43, 44 f.; Reichelt, in: Weller/ Kemle (Hrsg.), Kultur, 2016, S. 39, 42 f. 552 So nun auch jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 106 f. 553 Die im Gesetzgebungsverfahren geäußerte Sorge um eine Ausuferung des Tatbestandes durch einen Rekurs auf den denkmalschutzrechtlichen Begriff (Stellungnahme Kärnten zum Ministerialentwurf v. 27.08.2008, 11/SN-214/ME XXIII. GP, S. 1 f.), ist daher insoweit verfehlt, als der durch Auslegung des KRG entwickelte Begriff bereits deutlich weiter als der vorgeschlagene gefasst war. 554 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 2 f.; Beilagen Stenografische Protokolle des Natio­ nalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 1; Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, 213.

100  § 6  Die allgemeinen Rückgabevoraussetzungen des Kunstrückgabegesetzes

nutzen können. Die Einführung der an das Denkmalschutzgesetz angelehnten Definition von Kulturgütern als Objekte mit historischer, künstlerischer oder sonstiger kultureller Bedeutung im Zuge der Novelle darf also nicht als Abkehr von der Empfehlungspraxis verstanden werden. Alleiniges entscheidendes Kriterium scheint für den Beirat weiterhin die durch eine institutionelle Perspektive geprägte Einordnung des Kulturguts als potenziell »museumswürdig« zu sein.555

II. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien Trotz des sehr heterogenen Bildes vom Kulturgutbegriff in der Empfehlungspraxis des Beirats soll hier ein Versuch ihrer Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien unternommen werden.556 Die Washingtoner Prinzipien begrenzen ihren Anwendungsbereich dem Wortlaut nach auf Kunstwerke, doch wird schon bei einem Blick in die Stellungnahmen der Delegationen auf der Washingtoner Konferenz deutlich, dass sämtliche Kulturgüter erfasst sein sollen.557 Gute zehn Jahre später wird dies in der an die Washingtoner Prinzipien anknüpfenden Theresienstädter Erklärung 2009 bestätigt. Diese weist ausdrücklich darauf hin, dass die Washingtoner Prinzipien auch auf »cultural property« anwendbar sind. Dabei ist hervorzuheben, dass die Washingtoner Prinzipien keinerlei Anhaltspunkte für eine Wertgrenze dieser Kulturgüter enthalten. Vielmehr wird in ihrer Rezeption in der Regel ausdrücklich positiv hervorgehoben, wenn geringwertige Objekte restituiert werden.558 Angesichts dieses wertoffenen Begriffsverständnisses ist die vereinzelte Behauptung verfehlt, geringwertige Objekte seien aufgrund des Missverhältnisses zwischen Verkehrswert und Forschungsaufwand nicht erfasst.559 Aus den Washingtoner Prinzipien leuchtet gerade nicht die Absicht hervor, die Rückgabe während der nationalsozialistischen Herrschaft entzogener Objekte den Wertinteressen der Begünstigten oder der Kosteneffizienzkalkulation des Staates zu unterwerfen. Die Forderung nach einer Selektion der erfassten Objekte nach ihrer Wirtschaftlichkeit entspricht nicht dem die rein finanziellen Interessen überlagernden objektbezogenen, erinnerungspolitischen Zweck der Rückgabe von Kulturgütern, der offenbar aber teils aus den Augen verloren wird. So kann aus den Entstehungsmaterialien der Washingtoner Prinzipien bloß gefolgert werden, dass ein weites Begriffsverständnis, ausdrücklich unter Nichtberücksichtigung des Wertes, zugrunde gelegt wird.560 Im Besonderen liegt dabei ein Verständnis nahe, das sich aus der kollektiven Wertschätzung von vergangenheitsbezogenen Objekten mit zugleich individueller 555 Es ist kein Fall bekannt, in dem der Beirat eine Rückgabe mangels Kulturguteigenschaft abgelehnt hat; dieser würde ihm je-

doch vermutlich auch nicht vorgelegt werden.

556 In diesem Zusammenhang wird nicht diskutiert, ob die Begrenzung der Washingtoner Prinzipien auf Kunst- und Kulturgüter

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zu eng ist, da in dieser Arbeit die österreichische Praxis an den Washingtoner Prinzipien gemessen wird, nicht aber die Washingtoner Prinzipien an darüberhinausgehenden Maßstäben, zumal die Bundesrepublik Österreich auch für andere entzogene Vermögenswerte ein eigenes Regelwerk geschaffen hat. S. nur Delegation Statement. Hungary, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 271–274, 271 ff.; Delegation Statement. Belgium, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 203–206, 203 ff. Soltes, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 547, 550; Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 6 ff.; Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 67. Keim, Grußwort, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 3, 3 f. Dies korreliert etwa mit dem Verständnis, dass »die Kategorie dessen, was als sammlungsfähig eingestuft wird, grundsätzlich offen« ist, so Assmann, in: Reininghaus (Hrsg.), Recollecting, 2009, S. 143, 147.

101  B. Das bewegliche Kulturgut als Rückgabeobjekt

Symbolkraft speist,561 seien dies nun – unter Heranziehung eines österreichischen Beispiels – von Klimt geschaffene Portraits des Wiener Bürgertums zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder deren Matratzen und Kraftfahrzeuge. Dieses weite, auf den historischen Kontext rekurrierende Begriffsverständnis, das »etwas Abwesendes präsent zu machen«562 vermag, erscheint gerade im Rahmen der Washingtoner Prinzipien geboten. Zumal diese »Präsenz des Abwesenden« zugleich auch den »Gegenwarts- und Zukunftsbezug«563 des Kulturgutes als ­Anschauungsobjekt der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus illustriert. Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass kein Zirkelschluss entsteht, da schließlich die Eigenschaft als Kulturgut formell erst den Anstoß zu einem die Provenienz erforschenden Verfahren gibt. Schon auf der Washingtoner Konferenz am 3. Dezember 1998 übersetzte die österreichische Delegation entgegen dem auf Kunstgegenstände begrenzten, deutschen Wortlaut des KRG, dessen objektbezogenen Anwendungsbereich als »art and cultural objects«.564 Damit machte sie bereits einen Tag vor dem Inkrafttreten des KRG am 4. Dezember 1998, also auch vor dem ersten Beschluss des Beirats, auf internationaler Ebene deutlich, dass neben Kunstgegenständen auch Kulturgüter vom KRG abgedeckt werden. Auf der Konferenz zur Theresien­ städter Erklärung wurde von der österreichischen Delegationsleitung ergänzt, dass einige der Kulturgüter aus der Empfehlungspraxis des Beirats über keinen hohen materiellen Wert verfügen, aber sich ihr Wert aus der Verbindung mit dem Leben und Schicksal der Geschädigten speise.565 Dementsprechend scheint auch die österreichische Praxis maßgeblich von dem Verständnis der »Präsenz des Abwesenden«, und damit einem weiten, historisch anknüpfenden Kulturgutbegriff, geprägt zu sein – wie auch das Beispiel des Fiats zeigt, dessen Provenienz für die Einordnung als Kulturgut herangezogen wurde. Obwohl die begriffliche Ausgestaltung des Kulturguts durch den Beirat als »museumswürdiges« Objekt auf den ersten Blick weit von diesem freien Kulturgutbegriff entfernt scheint, wird bei einem zweiten Blick auf die faktischen Konsequenzen dieses Verständnisses deutlich, dass der Kulturgutbegriff kaum weiter sein könnte. Denn der Beirat verfolgt mit dem zunächst eng erscheinenden Kriterium der Charakterisierung als »museumswürdig« de facto ein weites Begriffsverständnis, das darauf abzielt, sämtliche Objekte aus den Bundesmuseen zu erfassen. Wenngleich die Charakterisierung als »museumswürdig« aufgrund der drohenden Verengung durch die institutionelle Anbindung an Museen nicht als internationale Definition taugt, entspricht der Ansatz in seiner nationalen Ausgestaltung durch den Beirat dem in den Washingtoner Prinzipien angelegten, weiten Kulturgutbegriff. Angesichts der Begründungsanforderungen der Washingtoner Prinzipien wäre entweder eine Auseinandersetzung des Beirats mit den Gesetzesmaterialien oder eine Berücksichtigung der Empfehlungspraxis durch die Legislative wünschenswert.

561 Instruktiv dazu Lenski, Batik, 2014, S. 18 ff.; ähnlich bereits Eizenstat, Opening Statement, in: Government Printing Office

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(Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 39, 39 f.; Zeidler, Restitution, 2016, S. 74 ff.; Bindenagel, in: Weller et al. (Hrsg.), Handel, 2020, S. 59, 60; Veraart, Beyond Property, SSRN-ID 3524852, 2019, S.3; Bindenagel, in: Saß et al. (Hrsg.), Provenienz, 2022, S. 79, 80. Lenski, Batik, 2014, S. 20. Böhm, Kulturgüter, 2021, S. 168. Delegation Statement Austria, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 151, 165 f. Stellungnahme Österreich durch Schmied, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 155, 159 f.

102  § 6  Die allgemeinen Rückgabevoraussetzungen des Kunstrückgabegesetzes

C. Das unmittelbare Bundeseigentum am Kulturgut Das KRG ermächtigt gemäß § 1 Abs. 1 KRG den:die Bundesminister:in zur Übereignung von Kulturgütern »aus den österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen, wozu auch die Sammlungen der Bundesmobilienverwaltung zählen, und aus dem sonstigen unmittelbaren Bundeseigentum«.566 Das Kulturgut muss also grundsätzlich eigentumsrechtlich dem Bund zugeordnet werden; Bundesbesitz ist gerade nicht ausreichend. Wie bereits im Rahmen der Genese des KRG erläutert, begründet das Eigentum des Bundes an den Kulturgütern nicht nur die Verfügungskompetenz des Bundes,567 sondern das unmittelbare Eigentum des Bundes ist ebenso allen Tatbeständen gemeinsame Voraussetzung einer Rückgabe.568 Dabei wird an dieser Stelle nicht die Rechtmäßigkeit des Übergangs in Bundeseigentum untersucht, da diese in den Tatbeständen aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG formell als ein eigenes, spezielles Tatbestandsmerkmal ausgestaltet ist.569 Der Umfang dieser grundsätzlichen Begrenzung auf Staatseigentum wird zunächst durch die Darstellung der Empfehlungspraxis umrissen, bevor untersucht wird, ob auch die Washingtoner Prinzipien eine vergleichbare Begrenzung vorsehen.

I. Von den Bundesmuseen zum unmittelbaren Bundeseigentum Zunächst ist zu ermitteln, wann der Regelfall des unmittelbaren Bundeseigentums, die Zugehörigkeit zu den Bundesmuseen und -sammlungen, erfüllt ist. Ebenso wie bei den Kulturgütern ist für diese Ermittlung die historische Auslegung durch einen Vergleich der alten und novellierten Fassung des KRG von Bedeutung.570 Gemäß § 1 KRG a.F. konnten nur Kunstgegenstände aus Bundesmuseen und -sammlungen, inklusive der Bundesmobilienverwaltung, Gegenstand eines Beschlusses nach dem KRG sein. Dem Wortlaut des § 1 KRG a.F. zufolge war also die haltende Einrichtung und nicht das Eigentum als Rückgabevoraussetzung entscheidend. Welche Einrichtungen zu den Bundesmuseen gehören, bestimmt seit seinem Inkrafttreten im Jahr 2002 § 1 Bundesmuseen-Gesetz571.572 Die dort genannten Institutionen erhalten gemäß § 2 566 In § 1 Nr. 2 a.E. KRG a.F. befand sich aufgrund eines Redaktionsversehens noch die Dopplung »in das Eigentum der Repu-

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blik Österreich gelangt sind«. Dies wurde aber im Zuge der Novelle 2009 korrigiert, s. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 3. S. zu Verfügungen über Bundeseigentum ausführlich unter § 4 C.II., S. 48. So ausdrücklich im Beschl. zu Stefanie Demeter v. 14.12.2005, S. 3; vgl. auch Beschl. zu Robert Wadler v. 14.12.2005, S. 2, in dem der Beirat jedoch eine Rückgabe ablehnt, da der Bund gemäß den fundrechtlichen Vorschriften §§ 399, 401 ABGB höchstens Miteigentümer nach § 883 ABGB der Objekte ist. S. zur Rechtmäßigkeit des Übergangs in Bundeseigentum und zur i.E. obsoleten Trennung der Prüfung von Bundeseigentum und der Rechtmäßigkeit des Übergangs unter § 8 A., S. 254. Zum Vergleich neuer und alter Normen im Rahmen der historischen Auslegung s. unter § 3 A., S. 25. Bundesmuseen-Gesetz 2002, BGBl. I Nr. 14/2002. Das Bundesmuseen-Gesetz gilt gemäß § 1 für die Albertina, die Österreichische Galerie Belvedere, das Österreichische Museum für angewandte Kunst, das Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, das Naturhistorische Museum Wien, das Technische Museum Wien, den KHM-Museumsverband bestehend aus dem Kunsthistorischen Museum, Theatermuseum Wien und seit 2002 dem Weltmuseum Wien sowie der Österreichische Nationalbibliothek. Die Bundesmobilienverwaltung wird im KRG vermutlich ausdrücklich genannt, da sie vom Bundesmuseen-Gesetz nicht erfasst ist. Nicht dem Bundesmuseen-Gesetz unterliegen außerdem das Heeresgeschichtliche Museum und die Bundesgartenverwaltung, die weiterhin nachgeordnete Dienststellen der jeweiligen Ministerien darstellen. Die Auflistung zeigt, dass der österreichische Bund im Gegensatz zum deutschen Bund Eigentümer vieler bedeutender Museen ist, sodass das KRG trotz der Beschränkung auf Bundeseigentum einen weiten Anwendungsbereich hat, vgl. dazu Öhlinger, in: Berka et al. (Hrsg.), FS Funk, 2003, S. 113, 113; Öhlinger, Museen, 2008, S. 13.

103  C. Das unmittelbare Bundeseigentum am Kulturgut

Abs. 1, 2 Bundesmuseen-Gesetz als wissenschaftliche Anstalten öffentlichen Rechts des Bundes mit einer Geschäftsordnung eine eigene Rechtspersönlichkeit und können für sich Rechte und Pflichten begründen.573 Damit verfügen sie zwar über eine gesetzlich abgesicherte, rechtliche Selbstständigkeit; der Bund ist aber dennoch Eigentümer der Sammlungen, die als »Volksvermögen« betrachtet werden.574 Die rechtliche Grundlage für die Eingliederung von in Bundeseigentum stehenden Objekten in die Sammlungen der Bundesmuseen bildet der § 5 Bundesmuseen-Gesetz. Dieser ermächtigt den:die Bundesfinanzminister:in zur Überlassung der in Bundeseigentum stehenden Objekte als Leihgaben an die Museen im Einvernehmen mit diesen.575 Bereits in den ersten Jahren der Empfehlungspraxis des Beirats war die Begrenzung des Wortlauts auf die genannten Einrichtungen problematisch, da de lege lata sonstiges, sich nicht in Bundesmuseen und -sammlungen befindliches Bundeseigentum, nicht umfasst war. Die infolge der Praxisprobleme entstandene Erweiterung auf »sonstiges unmittelbares Bundeseigentum« erfolgte erst 2009 im Zuge der Novelle. Der Weg zu dieser Erweiterung wurde vom Beirat im Beschluss zu Lothar Egger-Möllwald von 2007 geebnet. Um einen Zugriff auf sein Vermögen nach seinem Tod zu verhindern, setzte Lothar Egger-Möllwald in seiner letztwilligen Verfügung eine als ›arisch‹ definierte Person anstelle seiner als ›Jude‹ definierten Ehefrau Eveline Egger-Möllwald ein. Das verfahrensgegenständliche Gemälde war Teil einer Schätzliste von September 1941 betreffend die Gemälde aus dem Nachlass Lothar Egger-Möllwalds, die nach dessen Tod aufgrund des Testaments nicht auf Eveline Egger-Möllwald übergehen konnten. Diese Gemälde wurden höchstwahrscheinlich bis Kriegsende bei einer Wiener Spedition eingelagert, im August 1945 von der US-Militärregierung ausgelagert und für die Einrichtung verschiedener Villen in Wien verwendet. Der weitere Verbleib des Werkes bis zu seiner Inventarisierung in einer Behörde im Februar 1955 ist nicht bekannt. Anschließend gelangte es in das Finanzamt in Hollabrunn. Nach Ansicht des Beirats ist zwar der Bund in diesem Falle Eigentümer des verfahrensgegenständlichen Gemäldes geworden. Dieses befindet sich aber nicht in einem Bundesmuseum oder einer Bundessammlung, sondern im Finanzamt einer Gemeinde. Der Beirat setzt sich daher mit der Frage auseinander, ob eine Restitution nach dem KRG a.F. auch erfolgen kann, wenn das Kunstwerk zwar in Bundeseigentum steht, aber sich nicht in einer der im Gesetzeswortlaut genannten Institutionen, also »den österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen«, befindet.576 Der Beirat löst dies über eine analoge Anwendung des § 1 Abs. 1 KRG a.F. auf

573 Bis 1989 waren die Bundesmuseen lediglich nachgeordnete Dienststellen des Unterrichtsministeriums. Sie verfügen erst seit

2002 über rechtliche Selbstständigkeit, vgl. Öhlinger, in: Berka et al. (Hrsg.), FS Funk, 2003, S. 113, 121 f.; Öhlinger, Museen, 2008, S. 30 ff.; Frey, in: Hölzl/Pichorner (Hrsg.), Museen, 2014, S. 63, 63 f. 574 Frey, in: Hölzl/Pichorner (Hrsg.), Museen, 2014, S. 63, 66. Lediglich bei Neuerwerbungen besteht nach § 4 Abs. 1 Bundesmuseen-Gesetz die Wahl der Parteien, ob das Museum oder der Bund Eigentum an dem unentgeltlich erworbenen Kulturgut erhalten soll, s. zu den Beweggründen dieser Regelung Öhlinger, Museen, 2008, S. 43 ff. 575 Vgl. Öhlinger, in: Berka et al. (Hrsg.), FS Funk, 2003, S. 113, 122 f.; Öhlinger, Museen, 2008, S. 40 ff.; Öhlinger, Bulletin Kunst & Recht 2016/2017, 66, 76 f. 576 Beschl. zu Lothar Egger-Möllwald v. 07.12.2007, S. 3.

104  § 6  Die allgemeinen Rückgabevoraussetzungen des Kunstrückgabegesetzes

das im Finanzamt der Gemeinde befindliche Gemälde.577 Die Analogievoraussetzungen der planwidrigen Regelungslücke und vergleichbaren Interessenslage prüft er nur rudimentär, 578 indem er anführt, dass die Legislative mit dem KRG die Restitution von Bundeseigentum unabhängig vom derzeitigen Belegenheitsort beabsichtigt habe und sie die Ermächtigung daher weiter formuliert hätte, wenn sie Fälle wie den vorliegenden vor Augen gehabt hätte.579 Im Ergebnis ist dem Beirat in jedem Falle zuzustimmen. Eine bloße Auslegung gelangt in diesem Fall an die Grenzen, da die Gesetzesmaterialien des KRG allein vom »Besitz der Österreichischen Museen und Sammlungen« sprechen.580 Bei einer grammatikalischen und historischen Auslegung des KRG fiele das im Finanzamt Hollabrunn hängende Gemälde mithin nicht unter die Ermächtigung des KRG. Für die Planwidrigkeit der Regelungslücke lässt sich aber anführen, dass sowohl die einzelnen Tatbestände des § 1 Abs. 1 KRG a.F. als auch die Gesetzesmaterialien zumindest implizit ein bestehendes Bundeseigentum fordern. Letztere verweisen außerdem auf Art. 42 Abs. 5 B-VG,581 der Verfügungen über in Bundeseigentum stehendes Vermögen, nicht aber über Bundesbesitz, unter Gesetzesvorbehalt stellt.582 Es ist mithin davon auszugehen, dass die Legislative sämtliche Kulturgüter in Bundeseigentum erfasst hätte, wenn ihr dieser Anwendungsfall bekannt gewesen wäre. Wie diese nur selten in der anschließenden Empfehlungspraxis auftretende Konstellation verdeutlicht,583 handelt es sich dabei um einen leicht übersehbaren Sonderfall, da sich die Mehrheit der im Eigentum des Bundes stehenden Objekte in seinen Museen befindet.584 Auch die vergleichbare Interessenslage erscheint evident, denn ebenso wenig wie die Bundesmuseen sollen andere Einrichtungen davon profitieren, dass der Bund ihnen sein »bedenkliches« Eigentum überlässt. Die Novelle passte dementsprechend durch die Erweiterung auf »sonstiges unmittelbares Bundeseigentum« das KRG an die bereits durch den Beirat erfolgte Rechtsfortbildung aus dem Beschluss zu Lothar Egger-Möllwald an. Sie beabsichtigte ausdrücklich die Anwendung des KRG auf Objekte, die zwar in Bundeseigentum stehen, nicht aber in den Bundesmuseen und -sammlungen inventarisiert sind, damit der Zufall der Inventarisierung eines Kulturguts nicht mehr einer Restitution entgegenstehen kann.585 Dem heutigen KRG ist daher deutlich zu entnehmen, dass es auf das Eigentum des Bundes und nicht auf den Besitz seiner Museen ankommt.586 Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass es sich ausdrücklich um »unmittelbares Bundeseigentum« handeln muss. Während der Ministerialentwurf bloß von »sonstigem Bun-

577 Beschl. zu Lothar Egger-Möllwald v. 07.12.2007, S. 3; vgl. Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste

(Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, 217 f.; Loitfellner, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 375, 391.

578 S. zu den Analogievoraussetzungen unter § 3 A., S. 25. 579 Beschl. zu Lothar Egger-Möllwald v. 07.12.2007, S. 3.

580 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 4 f. 581 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 4.

582 S. zum Gesetzesvorbehalt für Verfügungen über Bundesvermögen unter § 4 C.II., S. 48.

583 S. Beschl. zu Karl Banhans v. 29.09.2011, S. 1 (Österreichisches Staatsarchiv); Beschl. zu Ernst Kronfeld v. 29.09.2011, S. 1

(Bundesgärten Schönbrunn); Beschl. zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 21.06.2013, S. 1 (Parlamentsbibliothek); Beschl. zu Moriz Grünebaum v. 11.01.2019, S. 1; Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 15.05.2023, S. 1 (Akademie der bildenden Künste). Zum Bundeseigentum an diesen Beständen s. eingehend Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 121. 584 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 2. 585 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 2 f.; Stellungnahme Finanzprokuratur zum Ministerialentwurf v. 01.09.2008, 9/SN-214/ME XXIII. GP, S. 2; vgl. auch Loitfellner, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 375, 392. 586 Daraus können jedoch keine Rückschlüsse auf die Restitution aus Privateigentum gezogen werden, aber offenbar a.A. Trenkler, Geraubte Kunst, in: Der Standard Online v. 31.12.2007/01.01.2008, der zudem den in diesem Fall entscheidenden Unterschied zwischen Eigentum und Besitz verkennt.

105  C. Das unmittelbare Bundeseigentum am Kulturgut

deseigentum« sprach, erreichte das Bundesfinanzministerium durch seine Stellungnahme, die Voraussetzung der Unmittelbarkeit zu integrieren, um den Ausschluss »ausgegliederter Rechtsträger« vom Anwendungsbereich des KRG zu gewährleisten.587

II. Nicht in unmittelbarem Bundeseigentum stehende Kulturgüter Die nachfolgenden Ausführungen erklären, warum das Bundesfinanzministerium auf der Unmittelbarkeit des Bundeseigentums insistiert hat. Denn durch diese Einschränkung der Novelle können nicht in unmittelbarem Bundeseigentum stehende Objekte nicht nach dem KRG restituiert werden, beispielsweise Kulturgüter in Privateigentum oder im Eigentum anderer öffentlicher Stellen, aber auch im (fortbestehenden) Eigentum der Geschädigten oder deren Rechtsnachfolger:innen. Im letztgenannten Fall des fortbestehenden Eigentums weist der Beirat zumeist auf die zivilrechtlichen Rechtsgrundlagen einer Herausgabe nach § 366 ABGB hin.588 Oftmals besteht dann aber noch ein Besitzrecht des Bundes, etwa aufgrund eines Leihvertrages, sodass es für einen Herausgabeanspruch noch einer Kündigung der das Besitzrecht begründenden Vereinbarungen bedarf;589 zu diesem Zweck solle gelegentlich sogar mit den Rechtsnachfolger:innen Kontakt aufgenommen werden.590 Warum sich der Beirat entgegen dem Wortlaut des KRG mit weiterhin im Eigentum der Geschädigten stehenden Kulturgütern auseinandersetzt, erläutert er nicht. Lediglich im Restitutionsbericht von 2003/2004 wird angeführt, dass der Verbleib im Besitz der Bundesmuseen teils auf Umständen beruhe, »die analog zu den vom Kunstrückgabegesetz erfassten Tatbeständen als bedenklich gelten müssen«, und daher der Bund auch mit diesen nicht in seinem Eigentum stehenden Objekten »einen geeigneten Umgang« zu finden habe.591 Zugunsten der nicht dem Bund zuzuordnenden, öffentlichen Hand ist zu erwähnen, dass die Bemühungen auf Bundesebene einen erheblichen Einfluss auf die Landes- und teils auch Kommunalebene hatten. Dort haben sich in den letzten Jahren Regelungen zur Restitution von Kulturgütern etabliert592 und es erfolgt eine enge Zusammenarbeit mit der Provenienzforschung auf Bundesebene.593 Besonders bemerkenswert ist, dass die Bemühungen auf Landesebene offenbar ebenso wie in Deutschland auf einer Erklärung beruhen, wonach sich die Länder für die Etablierung von Rechtsgrundlagen für die Rückgabe während der nationalsozialistischen Herrschaft entzogener Kulturgüter einsetzen sollen.594 Jene sind jedoch mehrheitlich vom für sämtliche Vermögenswerte – und nicht Kulturgüter – erlassenen Entschädigungsfonds587 Stellungnahme Bundesfinanzministerium zu ME v. 28.08.2008, 8/SN-214/ME XXIII. GP, S. 2 f.

588 Vgl. nur Beschl. zu Paul Herzfeld v. 07.03.2008, S. 2 f.; Beschl. zu Mathilde Strnad v. 21.11.2008, S. 4; Beschl. zu Ernst Son-

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nenschein v. 20.03.2009, S. 3; Beschl. zu Hermann Eissler v. 24.06.2009, S. 18; Beschl. zu Otto u. Gisela Braun v. 24.06.2009, S. 3. Vgl. nur Beschl. zu Rudolf Gutmann v. 22.06.2004, S. 3; Beschl. zu Stefanie Demeter v. 14.12.2005, S. 2 f.; Beschl. zu Flora Wilhelm v. 14.12.2005, S. 1 f.; Beschl. zu Theodor Wolf v. 01.06.2007, S. 2; Beschl. zu Otto Frankfurter v. 28.09.2007, S. 2; Beschl. zu Otto u. Gisela Braun v. 24.06.2009, S. 3; Beschl. zu Arthur Rosthorn v. 03.07.2014, S. 3. Beschl. zu Valentine Springer v. 03.05.2013, S. 7; Beschl. zu Arthur Kohn v. 30.03.2022, S. 4. Restitutionsbericht 2003/2004, S. 5. In diese Richtung jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 122. Wiener und Stockerauer Gemeinderatsbeschluss, Restitutionsgesetze aus der Steiermark, Kärnten sowie Oberösterreich und Restitutionsbeschlüsse aus dem Burgenland, Niederösterreich, Salzburgs, Tirol und Vorarlberg (sämtliche Regelungen abrufbar unter: https://www.kunstdatenbank.at/gesetze). Dazu jüngst ausführlich Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 237 ff. Restitutionsbericht 2002/2003, S. 11. Liška-Birk, in: Blimlinger/Schödl (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 155, 155.

106  § 6  Die allgemeinen Rückgabevoraussetzungen des Kunstrückgabegesetzes

gesetz595 inspiriert. Nur der Wiener Gemeinderatsbeschluss scheint sich am KRG zu orien­ tieren,596 was vermutlich auch auf die örtliche Nähe zu den Bundesmuseen in Wien zurückzuführen ist. Ungeachtet des entgegenstehenden Wortlauts des KRG setzt sich der Beirat, wie zumindest in der Geschäftsordnung erwähnt, in Ausnahmefällen mit nicht im unmittelbaren Bundeseigentum stehenden Objekten auseinander, wenn sich die haltenden Institutionen freiwillig der Beurteilung durch den Beirat nach dem KRG unterwerfen. Dabei nimmt er eine hypothetische Prüfung des KRG vor, untersucht also, ob dessen Restitutionsvoraussetzungen erfüllt wären, wenn das verfahrensgegenständliche Objekt im Bundeseigentum stünde. Erstmals bat die Landeshauptstadt Linz 2014 den Beirat um Unterstützung bei einer Restitutionsentscheidung aus dem Lentos Kunstmuseum Linz.597 Auch der Verein für Volkskunde, der das Österreichische Museum für Volkskunde betreibt, wandte sich bereits mehrfach an den Beirat.598 Die Empfehlungen des Beirats für den Verein für Volkskunde behandeln zumeist Sammlungen, die bereits Gegenstand von Beschlüssen betreffend Bundeseigentum waren.599 Sowohl für das Volkskundemuseum Wien als auch das Lentos Kunstmuseum Linz liegen unverbindliche Selbstverpflichtungen vor, dass sie sich an die hypothetischen Empfehlungen des Beirats halten. Zudem befasste sich der Beirat 2019 mit einem Hammerflügel, der 2002 vom Eigentum des Bundes in das Eigentum der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien übergegangen war, also im Zeitpunkt des Beschlusses nicht mehr im Eigentum des Bundes stand.600 Zuletzt ersuchte das Salzburg Museum den Beirat um Rat.601 Nach einem mehrjährigen Konflikt und stetigen Veränderungen erfolgte dann im Herbst 2020 die freiwillige Unterwerfung der Leopold Museum Privatstiftung unter die Beurteilung des Beirats nach § 1 KRG. Die Stiftung steht als private Institution nicht im unmittelbaren Eigentum des Bundes,602 aber entsprechend § 1 Nr. 1 Sammlung Leopold-Gesetz603 in dessen maßgeblicher finanzieller Trägerschaft, da der Bund die Sammlung Leopold erworben und gemäß § 1 Nr. 3 lit a. Sammlung Leopold-Gesetz in die Stiftung übertragen hat. Darüber hinaus sind in ihrem Vorstand Delegierte aus den Bundesministerien vertreten und im Falle einer Auflösung der Stiftung würde ihr Vermögen in das Eigentum des Bundes übergehen.604 Es lässt sich also im Umkehrschluss des Gesetzeswortlauts durchaus von einem »mittelbaren« Bundeseigentum 595 Bundesgesetz über die Einrichtung eines Allgemeinen Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus und über

Restitutionsmaßnahmen (Entschädigungsfondsgesetz), BGBl. I Nr. 12/2001 (im Folgenden: EFG).

596 Vgl. Wladika, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 263, 263.

597 Beschl. zu Siegfried Julius v. 03.07.2014, S. 1; Beschl. zu Ida Baer v. 03.07.2014, S. 1.

598 Beschl. zu Siegfried Fuchs v. 15.10.2015, S. 1; Beschl. zu Anna Mautner v. 05.10.2016 u. 29.06.2021, S. 1; Beschl. zu Robert

Jonas v. 06.07.2017, S. 1; Beschl. zu Hermine, Paul u. Hilde Wittgenstein v. 12.04.2019, S. 1; Beschl. zu Wilhelm Hernfeld v. 14.06.2019, S. 1; Beschl. zu Albert Pollak v. 25.09.2020, S. 1; Beschl. zu Arthur Kohn v. 30.03.2022, S. 1. 599 Beschl. zu Siegfried Fuchs v. 15.10.2015, S. 1 f.; Beschl. zu Hermine, Paul u. Hilde Wittgenstein v. 12. April 2019, S. 1; Beschl. zu Albert Pollak v. 25.09.2020, S. 1 f. 600 Beschl. zum Deutschen Orden v. 14.06.2019, S. 1 f. Zur konkreten Art und Weise des Eigentumsübergangs s. jüngst eingehend Fitz, Kunstrückgabegesetz, S. 119 f. 601 Beschl. zu Oscar Bondy v. 05.11.2021, S. 1. 602 S. ausführlich zu den rechtlichen Rahmenbedingungen der Leopold Museum Privatstiftung Doralt/Kalss, Parnass Sonderheft 10/1994, 136, 136 ff. 603 Bundesgesetz betreffend die Finanzierung des Erwerbs der »Sammlung Leopold«, BGBl. Nr. 621/1994 (im Folgenden: Sammlung Leopold-Gesetz). 604 Vgl. Doralt/Kalss, Parnass Sonderheft 10/1994, 136, 138 ff.; Öhlinger, in: Berka et al. (Hrsg.), FS Funk, 2003, S. 113, 120 f.; Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, 214 f.; Öhlinger, Bulletin Kunst & Recht 2016/2017, 66, 75 f.

107  C. Das unmittelbare Bundeseigentum am Kulturgut

sprechen. Folglich ist bereits eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des KRG gefordert worden.605 Zumal ein Gemälde aus dem Leopold Museum 1998 den Anlass für die Verabschiedung des KRG darstellte. Unter Verweis auf Probleme mit dem verfassungsrechtlich geschützten Eigentumsrecht606 wurde schließlich 2008 zumindest ein Verfahren entwickelt, das analog dem KRG aus zur Provenienzforschung und rechtlichen Beurteilung geschaffenen Gremien bestand und mit einer Entscheidung des Stiftungsvorstandes endete.607 Die Legislative hat daher im Zuge der Novellierung ausdrücklich von einer Erweiterung auf »im Eigentum von ausgegliederten Rechtsträgern«608 stehende Objekte abgesehen, sodass die Fälle der Leo­pold Museum Privatstiftung formaljuristisch nicht auf Grundlage des KRG untersucht werden konnten. Aufgrund der trotz der analogen Regelungen weiterhin bestehenden Trennung von Eigentum des Bundes und der Privatstiftung setzte sich die Kritik fort, sodass der Beirat in seiner Sitzung vom 25. September 2020 eine neue Geschäftsordnung beschloss, die eine Inkorporierung der Provenienzforschung aus dem Leopold Museum in die Kommission für Provenienzforschung sowie des Gremiums der Leopold Museum Privatstiftung in den Kunstrückgabebeirat vorsieht. Zu der Entwicklung und den Motiven dieser entscheidenden Änderung ist nur wenig bekannt, sie wurde nur durch wenige Zeilen im Kunst- und Kulturbericht 2020 sowie im Newsletter der European Restitution Commissions von Januar 2021 bekanntgegeben. 609 Eine öffentliche Reaktion blieb bisher jedoch aus. Dies mag auch darauf zurückzuführen sein, dass die Geschäftsordnung nicht öffentlich ist. Dadurch ist nämlich auch die im Verhältnis zum Newsletter und Internet-Auftritt des Ministeriums umfassendste Erläuterung der neuen Vorgehensweise nicht zugänglich. Einer darüberhinausgehenden, öffentlichkeitswirksamen Erklärung des Beirats stünde dies aber nicht entgegen. Bei Beschlüssen zu Werken aus der Leopold Museum Privatstiftung hat der Beirat nun der Geschäftsordnung zufolge seine Empfehlung unter Berücksichtigung der Praxis des Gremiums aus der Leopold Museum Privatstiftung zu treffen, deren ehemalige Mitglieder auch bei den Sitzungen des Beirats in beratender Funktion anwesend sein dürfen. Anders als bei den Einzel­ anfragen des Vereins für Volkskunde und der Stadt Linz soll somit über die Geschäftsordnung eine allgemeine Integration der Bestände aus dem Leopold Museum in das Regelungsregime des § 1 KRG erfolgen. Ein Rückgriff auf den etablierten Umgang mit selbstunterworfenen Einrichtungen liegt gleichwohl nahe. Es ist nicht bekannt, ob im Zuge der Inkorporierung die Leopold Museum Privatstiftung, gleich dem Volkskundemuseum Wien und dem Lentos Kunstmu605 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 1; Wortmeldung Zinggl bei der 40. Sitzung des

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Nationalrats am 21.10.2009, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XXIV. GP, S. 94; s. Wortmeldung Schennach bei der 777. Sitzung des Bundesrats am 05.11.2009, Stenografische Protokolle des Bundesrats, S. 110; zuletzt Entschließungsantrag Nr. 476/A(E), XXVI. GP, S. 1. Die verfassungsrechtliche Untersuchung einer Unterwerfung nicht im Bundeseigentum stehender Objekte unter das KRG soll nicht Gegenstand dieser Arbeit sein, s. dazu aber jüngst eingehend Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 258 ff. Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, Anfragebeantwortung Nationalrat, Nr. 2652/AB, XXIV. GP, S. 2; Wortmeldung Schmied bei der 40. Sitzung des Nationalrats am 21.10.2009, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XXIV. GP, S. 96; Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, 214 f.; vgl. Lillie, Was einmal war, 2003, S. 1250. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 3. Interessanterweise finden die »ausgegliederten Rechtsträger« noch keine Erwähnung im Ministerialentwurf der Novelle (214/ME XXIII. GP, S. 3), sondern erst in der zitier­ ten Regierungsvorlage. Kunst- und Kulturbericht 2020, S. 156; Kommission für Provenienzforschung, in: Network of Restitution Commitees (Hrsg.), Newsletter 01/2021, S. 7.

108  § 6  Die allgemeinen Rückgabevoraussetzungen des Kunstrückgabegesetzes

seum Linz, eine Selbstverpflichtung zur Befolgung der Empfehlung des Beirats unterzeichnet hat. Auch wenn das Ergebnis der Einbeziehung des Leopold Museums in die Praxis der Kommission und des Beirats unbedingt zu befürworten ist, erscheint die Art und Weise der Inkorporierung in der Geschäftsordnung mit Blick auf deren Regelungsbereich problematisch.610 Gemäß § 3 Abs. 8 S. 2 KRG hat die Geschäftsordnung »die Tätigkeit des Beirates möglichst zweckmäßig zu regeln.« Die Inkorporierung der Leopold Museum Privatstiftung erweckt aber den Eindruck, nicht bloß eine zweckmäßige Regelung der Tätigkeit des Beirats darzustellen, sondern über diesen Regelungsbereich hinauszugehen, da sie de facto den Anwendungsbereich des KRG auf einen Einzelfall des Privateigentums erweitert und zudem neue Aufgaben der Kommission für Provenienzforschung bestimmt. Zu vermuten ist daher, dass die Lösung über die Geschäftsordnung auch gewählt wurde, um ein neuerliches Aktivwerden der Legislative zu verhindern. Beschlüsse des Beirats betreffend die Leopold Museum Privatstiftung sind bisher nicht ergangen. Es bleibt daher abzuwarten, welche Auswirkungen diese Inkorporierung in die Geschäftsordnung haben wird; auch mit Blick auf die öffentliche Wahrnehmung der Rückgabepraxis in Österreich. Jedenfalls verdeutlicht die mühselige Inkorporierung der Leopold Museum Privatstiftung erneut die formell unbedingte Beschränkung des KRG auf Bundeseigentum, die nur durch freiwillige Unterwerfung unter die Beurteilung des Beirats faktisch aufgelöst werden kann.

III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien Die trotz der möglichen freiwilligen Unterwerfung formell bestehende Beschränkung auf unmittelbares Staatseigentum ist nun im Lichte der Washingtoner Prinzipien zu beurteilen. Ihrem Wortlaut ist keine direkte Beschränkung auf Staatseigentum zu entnehmen, lediglich Prinzip Nr. 11 kann als Indiz verstanden werden, dass nur die Staaten zur Errichtung innerstaatlicher Verfahren aufgerufen werden. Erneut können aber die Entstehungsmaterialien für Konkretisierung sorgen: So wurde in den Verhandlungen zunächst betont, dass die Prinzipien »nicht auf geraubte Kunstwerke im Besitz von privaten Individuen« anwendbar seien,611 da eine Rückgabe aus privaten Beständen eine höhere Komplexität aufweise,612 wenngleich auch kommerzielle Galerien und Auktionshäuser adressiert werden sollten.613 Die Theresienstädter Erklärung muss sodann als Paradigmenwechsel in dieser Hinsicht gelten, da sie explizit auch zur Anwendung der Washingtoner Prinzipien auf private Einrichtungen sowie Privatpersonen »ermutigt«. Das Zusammenspiel von Washingtoner Prinzipien und Theresienstädter Erklärung hat daher zur Konsequenz, dass Private ebenfalls dazu aufgerufen

610 Auf die Vereinbarkeit einer Restitution mit dem urkundlichen Stiftungszweck, wonach die Stiftung »die vom Stifter gegrün-

dete Sammlung auf Dauer […] erhalten« soll, ist hier nicht näher einzugehen; diese eher bezweifelnd jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 256. 611 Lowenthal, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 529, 533; Amigues, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 565, 567. 612 Eizenstat, Concluding Statement, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 125, 131 f.; ähnlich auch Raue, Wortmeldung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 61, 72; Berking, KUR 2019, 179, 180. 613 Eizenstat, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 68, 72; Eizenstat, Justice, 2004, S. 198.

109  C. Das unmittelbare Bundeseigentum am Kulturgut

werden, sich den Washingtoner Prinzipien freiwillig zu unterwerfen. 614 Konzipiert sind sie jedoch weiterhin vordergründig für öffentliches Eigentum. Damit stimmt das vom KRG verfolgte Konzept der grundsätzlichen Anwendung auf Staatseigentum und der Möglichkeit einer freiwilligen Unterwerfung anderer Eigentümer:innen, insbesondere der Leopold Museum Privat­stiftung,615 mit den Vorgaben der Washingtoner Prinzipien überein. Zudem könnte von Seiten des Staates noch eine verstärkte »Ermutigung« von Privatpersonen und privaten Einrichtungen zur Anerkennung der Washingtoner Prinzipien in ihrer Ausformung durch die Theresienstädter Erklärung erfolgen, beispielsweise durch einen Aufruf zur Unterwerfung unter oder Anlehnung an die Empfehlungspraxis des Beirats. Dies ließe sich beispielsweise mit Erleichterungen bei behördlichen Verfahren als Anreiz flankieren. Hier ist etwa die Kulturgüterausfuhr bei Restitutionsabsicht der Privatperson zu nennen. Die Tatsache, dass der Beirat bei Kulturgütern, die im (fortbestehenden) Eigentum der Geschädigten oder deren Rechtsnachfolger:innen stehen, sich aber im Besitz des Bundes befinden, auf die Herausgabe auf Grundlage des allgemeinen Zivilrechts hinweist, ist im Lichte der Washingtoner Prinzipien zu begrüßen. Denn diese bezwecken eine möglichst umfassende Aufklärung der Besitz- und Eigentumsverhältnisse. Der Beirat müsste aber deutlicher machen, dass er zu diesen Feststellungen eigentlich keine Kompetenz hat, sondern diese bei den ordentlichen Gerichten liegt. Indem er nicht nur die Restitutionsvoraussetzungen prüft, sondern auch bei deren Nicht-Vorliegen Empfehlungen beziehungsweise Hinweise formuliert, setzt er sich über die ihm de iure zugeschriebenen Kompetenzen hinweg. Zugleich hat der Beirat auch den Eigentumsübergang zu prüfen. Stellt er das fortbestehende Eigentum der Geschädigten anstelle des Bundes fest, ist es nur konsequent, dass er nicht die Prüfung ergebnisoffen abbricht, sondern auf alternative Lösungswege, hier die Herausgabe nach dem allgemeinen Zivilrecht hinweist. So wird er schließlich seiner Funktion als verwaltungsinternes Beratungsgremium gerecht, indem er in Relation zu seinem legislativen Auftrag ein – wenn auch schlecht begründetes – »Mehr« leistet. Zur Wahrung der »Regeln des juristischen Diskurses«616 ist jedoch mehr Transparenz bezüglich der Überschreitung des legislativen Auftrages wünschenswert.

614 So auch Bindenagel, in: Weller et al. (Hrsg.), Handel, 2020, S. 59, 71; Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018,

S. 16; Eizenstat, Art, in: Washington Post Online v. 02.01.2019; Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 68; Bindenagel, in: Saß et al. (Hrsg.), Provenienz, 2022, S. 79, 85. Kritisch Berking, KUR 2019, 179, 179 ff.; Hellwig, Entwicklung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 35, 50. 615 Zuvor wurde darin mangels Unterwerfung unter die Regelungen des KRG bereits eine Verletzung der Washingtoner Prinzipien gesehen, Dowd, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 837, 840. 616 Graf, in: FS Bailer, 2012, S. 269, 271 ff., mit ähnlicher Argumentation.

110  § 6  Die allgemeinen Rückgabevoraussetzungen des Kunstrückgabegesetzes

§ 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

Die Entziehung des Kulturguts ist die erste und wichtigste spezielle Rückgabevoraussetzung der Tatbestände aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG, wobei sich der Begriff »Entziehung« nicht im Wortlaut der beiden Tatbestände findet. Demnach regeln sie die Rückgabe von Kulturgütern, die Gegenstand eines »Rechtsgeschäfts oder einer Rechtshandlung« gemäß oder vergleichbar mit § 1 NichtigkeitsG von 1946 waren.617 Ein solches Rechtsgeschäft oder eine solche Rechtshandlung ist somit durch die Eingliederung in den Gesetzeswortlaut ein eigenes Tatbestandsmerkmal des KRG. Aus einer komplexen Verweiskaskade auf das Nachkriegsrecht folgt, dass die Einordnung als »Entziehung« als Konkretisierung dieses Tatbestandmerkmals die entscheidende Voraussetzung einer Rückgabe darstellt. Das Nachkriegsrecht wirkt durch die Rezeption mithin als Tatbestandsvoraussetzung in den heutigen Regelungen fort.618 Zunächst wird daher vorab diese Verweiskaskade dargestellt, um das Verständnis einer Entziehung im Sinne des KRG herauszuarbeiten. Auf Grundlage dieses Begriffsverständnisses folgt im Anschluss die umfassende Untersuchung der Voraussetzungen einer Entziehung.

A. Vorbemerkung: Zur Bestimmung des Entziehungsbegriffs Die begriffliche Konkretisierung der Entziehung durch Verweise auf das österreichische Nachkriegsrecht kann als eine der umstrittensten Auslegungsfragen im Kontext des KRG bezeichnet werden.619 Sie bedarf einer vorgelagerten Erläuterung, da sie maßgeblich für die a­ nschließende Struktur der Arbeit und die Auslegung der verschiedenen Tatbestandsmerkmale der Tatbestände aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG ist. Der Entziehungsbegriff war bereits Gegenstand von Schiedsverfahren sowie Prozessen vor den ordentlichen Gerichten, wobei auf diese Ereignisse nur als Vergleichsperspektive eingegangen werden soll. Im Fokus der nachfolgenden Ausführungen steht allein die Empfehlungspraxis des Beirats.

617 § 1 Nr. 2 KRG a.F. erfasste aufgrund eines Redaktionsversehens lediglich »Rechtsgeschäfte«, der Beirat hat jedoch bereits früh

entschieden, dass infolge einer teleologischen und historischen Auslegung auch »Rechtshandlungen« vom Tatbestand des § 1 Nr. 2 KRG a.F. erfasst sind (vgl. nur Beschl. zu Ernst Pollack v. 27.03.2000, S. 4; Beschl. zu Leo Fürst v. 10.10.2000, S. 2). Der Wortlaut des Gesetzes wurde 2009 im Zuge der Novelle korrigiert und damit an die Empfehlungspraxis angepasst, Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 3. 618 Vgl. zu dieser Fortwirkung eindrücklich Jabloner, Jurist, 2004, S. 22. 619 S. zum Rekurs auf das Nachkriegsrecht im Lichte der Washingtoner Prinzipien unter § 4 B.II.1., S. 42.

111 

Schon der frühen Empfehlungspraxis ist zu entnehmen, dass die Verweiskaskade letztlich aus drei Modulen besteht, beginnend mit dem KRG als erstem Modul, das in dem zweiten Modul auf § 1 NichtigkeitsG verweist, welches wiederum im dritten Modul einen Verweis auf die Rückgabegesetze der Nachkriegszeit – die Rückstellungsgesetze, insbesondere das Dritte Rückstellungsgesetz – enthält. Die nachfolgende Untersuchung soll den Weg der Entwicklung dieser Verweiskaskade in der Empfehlungspraxis des Beirats skizzieren. Dafür ist zunächst erforderlich, das Verhältnis von NichtigkeitsG, Rückstellungsgesetzen und KRG zu klären. Andernfalls ist nicht nachvollziehbar, warum es überhaupt eines über das NichtigkeitsG hinausgehenden Verweises auf das Rückstellungsrecht bedarf. Die Auswirkungen dieses Verhältnisses der beiden gesetzlichen Grundlagen werden dann anhand der Empfehlungspraxis des Beirats ausführlich erläutert und abschließend bewertet.

I. Das Verhältnis zwischen Nachkriegsgesetzen und Kunstrückgabegesetz Bei der Erläuterung des Verhältnisses von NichtigkeitsG, Rückstellungsgesetzen und Kunstrück­ gabegesetz wird mit dem Verhältnis von § 1 NichtigkeitsG und den Rückstellungsgesetzen begonnen. Dieses kann unter Rückgriff auf die diesbezügliche Nachkriegsrechtsprechung und -literatur als eine Art Ankündigungs- und Ausführungsverhältnis bezeichnet werden. Denn das NichtigkeitsG kündigte die Ausführung der Rückstellungsgesetze an: § 1 NichtigkeitsG erklärte Vermögensverschiebungen infolge der nationalsozialistischen Herrschaft für nichtig, gemäß § 2 NichtigkeitsG waren aber Art, Geltendmachung sowie Umfang der Ansprüche ausdrücklich einer Regelung durch weiteres Bundesrecht vorbehalten. Aus dem drei Paragrafen umfassenden NichtigkeitsG selbst konnten also weder formelle Vorgaben noch materielle Rechte und damit keine konkreten Maßnahmen abgeleitet werden.620 Denn durch das NichtigkeitsG wollte die Legislative 1946 die bisherige, auf Herausgabeansprüche nach dem allgemeinen Zivilrecht beschränkte Rechtslage (noch) nicht ändern. Vielmehr sollte das Gesetz als »erster Schritt«621 und »politisches Instrument«622 lediglich auf die legislativen Pläne zur Regelung der Rückabwicklung von Entziehungen hinweisen.623 Das NichtigkeitsG ist mithin als rein deklaratorisches »Ankündigungsgesetz« ohne Regelungsgehalt zu betrachten, das aufgrund der Suspendierung der Nichtigkeit de facto nie angewendet werden konnte.624 Erst das auf ihm basierende Bundesrecht, die Rückstellungsgesetzgebung und

620 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 95. Dazu äußerte sich der Ministerrat kritisch, vgl. Ministerratssitzung

am. 22.02.1946, in: Knight, »Ich bin dafür…«, 2000, S. 91 ff.; Bailer-Galanda, Entstehung, 2003, S. 68; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 147; Jungwirth, NS-Restitutionen, 2008, S. 12 f.; Dewey, KUR 2020, 154, 156; Dewey, Tsafon 12/2022, 39, 40 f. 621 Wortmeldung Scheff bei der 14. Sitzung des Nationalrates am 15.05.1946, Stenografische Protokolle des Nationalrats, V. GP, S. 188. 622 Wortmeldungen Gruber und Zimmermann bei der Ministerratssitzung am 22.02.1946 in: Knight, »Ich bin dafür…«, 2000, S. 95. 623 Wortmeldung Krauland bei der Ministerratssitzung am 22.02.1946, in: Knight, »Ich bin dafür…«, 2000, S. 92; VwGH, Beschl. v. 18.12.1947 – 928/47, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 188, S. 407, 408; Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 95 f.; Neuburg, Kommentar, 1949, S. 14; Klein, JBl 1947, 486, 487; Bailer-Galanda, Entstehung, 2003, S. 72; Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 254; Graf, NZ 2007, 65, 68 f.; Jungwirth, NS-Restitutionen, 2008, S. 12 f.; Graf, in: Veraart/Winkel (Hrsg.), Post-War Restitution, 2011, S. 35, 37. 624 Wortmeldungen Krauland und Altmann bei der Ministerratssitzung am 22.02.1946, in: Knight, »Ich bin dafür…«, 2000, S. 92 ff.; Bailer-Galanda, Entstehung, 2003, S. 72; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 147; Graf, in: Veraart/Winkel (Hrsg.), Post-War Restitution, 2011, S. 35, 37; Dewey, KUR 2020, 154, 156; Dewey, Tsafon 12/2022, 39, 40 f.

112  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

davon insbesondere das wichtigste 3. RStG,625 stellte die Ausführung der legislativen Intention des NichtigkeitsG dar und wurde Grundlage einer umfassenden Judikatur in der Nachkriegszeit.626 Nun vertritt die heutige, höchstrichterliche Rechtsprechung jedoch in Anknüpfung an die Rückstellungsjudikatur nicht nur, dass die Rückstellungsgesetze das NichtigkeitsG ausführen. Darüber hinaus nimmt sie an, dass das KRG selbst infolge der Zitierung des § 1 NichtigkeitsG ein »Ausführungsgesetz eigener Art darstellt, das zwar keine Restitutionsansprüche schafft, wohl aber unter den Voraussetzungen des § 1 NichtigkeitsG eine Ermächtigung zur Rückgabe von rechtmäßig ins Eigentum des Bundes übertragenen Kunstgegenständen statuiert.«627 Die Ankündigung der Restitutionsregelung durch Bundesrecht in § 2 NichtigkeitsG 1946 habe demnach nicht nur die kurze Zeit später erlassenen Rückstellungsgesetze erfasst, sondern auch das über 50 Jahre später verabschiedete KRG. Diese Deutung ist sodann prompt vom Beirat ohne nähere Begründung übernommen worden.628 Ein auch zwischen NichtigkeitsG und KRG bestehendes Ankündigungs- und Ausführungsverhältnisses ist jedoch kaum vertretbar, wie die nachfolgende Kritik anhand des juristischen Methodenkanons zeigt.629 Gegen die Einordnung des KRG als Ausführungsgesetz des NichtigkeitsG spricht bereits der Wortlaut des § 2 NichtigkeitsG, wonach »die Art der Geltendmachung und der Umfang der Ansprüche, die sich aus § 1 ergeben, […] durch Bundesgesetz geregelt« werden sollten. Die das NichtigkeitsG ausführenden Bundesgesetze sollen mithin der Regelung der aus der Nichtigkeitsankündigung resultierenden Ansprüche dienen. Das KRG gewährt nach § 2 Abs. 2 aber ausdrücklich gerade keine Ansprüche auf Restitution, sondern ist als Selbstbindungsgesetz rein verwaltungsinterner Natur.630 Für die historische Auslegung sind auch die Gesetzesmaterialien des NichtigkeitsG heranzuziehen, da die Auslegung des KRG auf diesem Gesetz beruht. Die Materialien bestätigen den Eindruck der grammatikalischen Auslegung, denn die Ausführungsgesetze des NichtigkeitsG sollten der Legislative zufolge so genannte »Wiedergutmachungsansprüche« regeln und eine Geltendmachung durch die Betroffenen ermöglichen.631 Zudem wurde bereits im Gesetzgebungsverfahren zum NichtigkeitsG das zeitliche »Vakuum« zwischen Ankündigungs- und Ausführungsgesetz kritisiert und auf eine schnelle Verabschiedung der Ausführungsgesetze gedrängt.632 Es sollte ausdrücklich eine klare Linie von der Londoner Erklärung 1943 über das NichtigkeitsG 1946 bis zu den Rückstellungsgesetzen führen.633 Eine mehrere Jahrzehnte spätere Fortsetzung dieser Linie war gerade nicht beabsichtigt. Freilich muss berücksichtig werden, dass dies auch auf die Annahme der damaligen Legislative zurückzuführen ist, mit den 625 In der Folge wird lediglich auf das 3. RStG abgestellt, da dies das einzige der sieben Rückstellungsgesetze darstellt, das bisher

in der Praxis des Beirats angewendet worden ist. Bloß in den Beschlüssen zu Jaromir Czernin und zu Sigmund Stiassny nennt der Beirat das 2. RStG als Ausführungsgesetz des NichtigkeitsG (Beschl. zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011, S. 27; Beschl. zu Sigmund Stiassny v. 05.11.2021, S. 9). 626 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 92; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 147. 627 OGH, Entscheidung v. 01.04.2008 – 5 Ob 272/07x, Zusammenfassung in ecolex 2008, 1005, 1005 f. 628 Beschl. zu Hermann Eissler v. 20.11.2009, S. 7; Beschl. zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011, S. 27. 629 S. zum Methodenkanon unter § 3 A., S. 25. 630 S. zur Natur des KRG als Selbstbindungsgesetz unter § 4 C.II, S. 48. 631 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 95. 632 Wortmeldungen Fleischacker bei der Ministerratssitzung am 22.02.1946, in: Knight, »Ich bin dafür…«, 2000, S. 94; Wortmeldung Scheff bei der 14. Sitzung des Nationalrates am 15.05.1946, Stenografische Protokolle des Nationalrats, V. GP, S. 187 ff. 633 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 91. In diese Richtung dann auch VwGH, Beschl. v. 18.12.1947 – 928/47, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 188, S. 407, 408.

113  A. Vorbemerkung: Zur Bestimmung des Entziehungsbegriffs

Rückstellungsgesetzen werde die Restitution entzogenen Vermögens abschließend geregelt. Doch schon bei den beiden Kunst- und Kulturgutbereinigungsgesetzen aus den 1960er- und 1980–er Jahren wurde nie angenommen, dass diese eine Ausführung des NichtigkeitsG darstellen, obwohl beide Gesetze – im Gegensatz zum KRG – Ansprüche begründeten. Es ist daher nicht ersichtlich, warum nun das KRG im Unterschied zu den vorangegangenen Gesetzen den Ausführungsauftrag des NichtigkeitsG erfüllen soll. Die aus der Auslegung des NichtigkeitsG folgende Erkenntnis bestätigt sich außerdem durch eine systematische Auslegung des KRG selbst: Wenn das KRG als Ausführungsgesetz des NichtigkeitsG betrachtet wird, entsteht ein Zirkelschluss. Das KRG zitiert dann das Nichtig­ keitsG, das wiederum durch § 2 auf seine Ausführungsgesetze, darunter das KRG, verweist, welches dann erneut das NichtigkeitsG zitiert. Ein normativer Aussagemehrwert wird auf diese Weise nicht gewonnen. Dies zeigt auch die fehlende, tatsächliche Relevanz der Einordnung des KRG als Ausführungsgesetz des NichtigkeitsG in der Empfehlungspraxis des Beirats. Die nachfolgende Untersuchung lässt dieses konstruierte Verhältnis von KRG und NichtigkeitsG daher außen vor und konzentriert sich allein auf das im NichtigkeitsG angelegte Verhältnis zu den Rückstellungsgesetzen und dessen Auswirkungen auf das KRG.

II. Die Auswirkungen des Verhältnisses auf den Entziehungsbegriff Obwohl das NichtigkeitsG mangels Regelungsgehalt und entsprechender Konturierung durch die Rechtsprechung vergleichsweise »inhaltsleer« war, wird es anstelle der Rückstellungsgesetze im KRG zitiert. Es ist zu ermitteln, welche Auswirkungen diese »Inhaltsleere« auf die Anwendung des KRG hat. Dies beinhaltet auch die Frage, inwiefern die Rückstellungsgesetze als Ausführung der Nichtigkeitsankündigung des NichtigkeitsG in die Prüfung der Tatbestände aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG einzubeziehen sind, obwohl sie explizit keine Erwähnung im KRG finden. 1. Konkretisierung des Entziehungsbegriffs

Die »Inhaltsleere« des NichtigkeitsG zwingt den Beirat letztlich zu einer Konkretisierung der Voraussetzungen einer Rückgabe nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG, insbesondere des Entziehungsbegriffs. Aus § 1 NichtigkeitsG folgte bloß, dass der Verlust im Zuge der »politischen und wirtschaftlichen Durchdringung« durch den Nationalsozialismus mit der Zielsetzung vorgenommen worden sein musste, das Vermögen zu entziehen.634 Den Gesetzesmaterialien zum NichtigkeitsG lässt sich zudem entnehmen, dass als Entziehungen im Sinne des § 1 Nichtig­ keitsG alle Rechtshandlungen zu verstehen waren, die ohne die innere Zustimmung der ursprünglichen Eigentümer:innen sowie allein unter dem Druck der nationalsozialistischen »Besetzung« und Verfolgung abgeschlossen wurden. Offenbar sollten durch dieses weite Begriffsverständnis möglichst verschiedene Formen des »offenen« beziehungsweise »allgemeinen« Zwangs im Nationalsozialismus erfasst werden. Die Legislative verfolgte mit dem NichtigkeitsG 634 Die Formulierung »im Zuge« wurde jedoch kritisiert und stattdessen »zum Zwecke« vorgeschlagen, s. Wortmeldung Fleisch-

acker bei der Ministerratssitzung am 22.02.1946, in: Knight, »Ich bin dafür…«, 2000, S. 95. Es wurde schließlich aber bewusst der weitere Begriff gewählt, unter Verweis auf das Beispiel des subtilen Druckes auf Angehörige von als ›Juden‹ oder ›Mischlinge‹ definierten Personen, s. Wortmeldung Scheff bei der 14. Sitzung des Nationalrates am 15.05.1946, Stenografische Protokolle des Nationalrats, V. GP, S. 187 f.

114  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

also ein sehr weites Verständnis des Begriffs der »Entziehung«,635 weitere Anhaltspunkte finden sich im Zusammenhang mit dem NichtigkeitsG jedoch nicht. Naheliegend erscheint dann eine Konkretisierung durch seine Ausführungsgesetze, die Rückstellungsgesetze, die zumindest auf den ersten Blick weitestgehend deckungsgleich mit den Ansätzen des NichtigkeitsG waren. Das Rückstellungsrecht enthielt zwar ebenfalls viele unbestimmten Rechtsbegriffe, konnte aber eine umfassende Judikatur zur Konturierung dieser Begriffe vorweisen. Nach § 1 Abs. 1 erfasste das 3. RStG »Vermögen, das während der deutschen Besetzung Österreichs, sei es eigenmächtig, sei es auf Grund von Gesetzen oder anderen Anordnungen, insbesondere auch durch Rechtsgeschäfte und sonstige Rechtshandlungen, dem Eigentümer […] im Zusammenhange mit der nationalsozialistischen Machtübernahme entzogen« wurde, wobei diese Definition als nicht abschließend betrachtet wurde.636 Sowohl § 1 NichtigkeitsG als auch § 1 Abs. 1 3. RStG wurden mithin so verstanden, dass für eine Entziehung in objektiver Hinsicht jedenfalls ein Kausalzusammenhang zwischen der nationalsozialistischen Herrschaft und dem Verlust bestehen musste.637 Auf den zweiten Blick ist dem § 1 NichtigkeitsG jedoch ein weiteres Erfordernis zu entnehmen, das aber vom Beirat in der anfänglichen Empfehlungspraxis noch übersehen wurde. Es trat erst im Zuge eines Verfahrens zu einem Klimt-Portrait von Amalie Zuckerkandl zu Tage, das nicht nur vor dem Beirat, sondern auch vor einem Schiedsgericht und ordentlichen Gerichten geführt wurde.638 So setzte die Entziehung im Sinne des § 1 NichtigkeitsG voraus, dass die Rechtshandlung oder das Rechtsgeschäft vorgenommen wurde, »um […] zu entziehen«. Demnach habe § 1 NichtigkeitsG in subjektiver Hinsicht eine Entziehungsabsicht der Erwerber:innen erfordert. Diesen müsse zumindest bewusst gewesen sein, dass die Eigentümer:innen lediglich aufgrund des allgemeinen Zwangs unter einem der freien Willensbildung entgegenstehenden Druck veräußert haben.639 Demgegenüber sah die Konzeption des 3. RStG eine Berücksichtigung subjektiver Elemente im Rahmen der Entziehung gerade nicht vor. Mithin war unerheblich, ob die Erwerber:innen vom Entziehungscharakter der Rechtshandlung oder des Rechtsgeschäfts gewusst haben.640 § 1 NichtigkeitsG und § 1 Abs. 1 3. RStG können daher zwar in objektiver Hinsicht als weitestgehend deckungsgleich betrachtet werden, weichen jedoch voneinander hinsichtlich der subjektiven Anforderungen ab. Anhand der Empfehlungspraxis des Beirats sowie den als Vergleichsperspektive herangezogenen Verfahren vor dem Schiedsgericht und den ordentlichen 635 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 83, V. GP, S. 45; Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats

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Nr. 244, V. GP, in: Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 141; Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 90 ff.; ähnlich auch Wortmeldung Kolb und Scheff bei der 14. Sitzung des Nationalrates am 15.05.1946, Stenografische Protokolle des Nationalrats, V. GP, S. 186 ff. Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 79, m.w.N. Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 90 ff.; Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 178; Sirowy, ÖJZ 1948, 410, 410; Krämer-Noppeney, Kausalzusammenhang, 1991, S. 116 ff.; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 61 f., 101; Jungwirth, in: Gschiel et al. (Hrsg.), Schneidern, 2010, S. 249, 257; vgl. auch Wortmeldung Kolb und Scheff bei der 14. Sitzung des Nationalrates am 15.05.1946, Stenografische Protokolle des Nationalrats, V. GP, S. 186 ff. Beschl. zu Amalie Zuckerkandl/Ferdinand Bloch-Bauer v. 29.06.2005; Schiedsspruch Zuckerkandl-Portrait v. 07.05.2006, abrufbar unter http://www.bslaw.com/altmann/Zuckerkandl/Decisions/decision.pdf; LG Wien, Entscheidung v. 28.02.07 – 26 Cg 101/06y; OGH, Entscheidung v. 01.04.2008 – 5 Ob 272/07x, Zusammenfassung in ecolex 2008, 1005, 1005 f. Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 94. ORK, Entscheidung v. 11.09.1948 – Rkv 122/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 131, S. 277; ORK, Entscheidung v. 08.01.1949 – Rkv 205/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 295, S. 112; ORK, Entscheidung v. 02.06.1951 – Rkv 236/51; vgl. Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 77 f.; Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 47 f.; Graf, NZ 2007, 65, 70; Graf, NZ 2020, 7, 8.

115  A. Vorbemerkung: Zur Bestimmung des Entziehungsbegriffs

Gerichten ist nun zu bestimmen, welchem Entziehungsbegriff der Vorzug gebührt – dem rein objektiven Begriff des Rückstellungsrechts oder dem subjektiven Verständnis des NichtigkeitsG. a) Der objektive Entziehungsbegriff des Beirats

Der Beirat verfolgt einen objektiven Entziehungsbegriff im Sinne des Rückstellungsrechts. In der anfänglichen Empfehlungspraxis ist dies jedoch eher unbewusst denn in bewusster Abgren­ zung vom subjektiven Begriffsverständnis passiert. In den ersten Jahren seiner Empfehlungspraxis hat der Beirat wie selbstverständlich das 3. RStG zur Auslegung des § 1 Nr. 2 KRG a.F. herangezogen, vermutlich mangels anderer Anhaltspunkte im »inhaltsleeren« NichtigkeitsG. Erstmals rekurriert er im Beschluss zu Livia und Otto Brill von 2000 umfassend auf das 3. RStG zur Konkretisierung der Tatbestandsvoraussetzung »Rechtsgeschäft im Sinne des § 1 Nichtig­keitsG«. Der Beirat stellt in diesem Beschluss fest, dass die Kaufvereinbarungen zweifelsfrei als Rechtsgeschäfte im Sinne des § 1 NichtigkeitsG zu betrachten seien, da sie Entziehungen nach dem 3. RStG darstellten.641 Die beiden direkt aufeinander folgenden Sätze zeigen, dass der Beirat vollkommen selbstverständlich NichtigkeitsG und 3. RStG in einem Atemzug nennt, eine nähere Begründung für die Anwendung des 3. RStG zur Konkretisierung der Tatbestandsvoraussetzung fehlt. Ein wenig ausführlicher fällt dann der ebenfalls aus dem Jahr 2000 stammende Beschluss zu Valerie Eisler aus. Der Beirat fügt den mit dem Wortlaut des Beschlusses zu Livia und Otto Brill identischen Ausführungen zum 3. RStG einen weiteren Satz hinzu: »Diese bereits auf Grund des NichtigkeitsG […] gegebene Nichtigkeit bedurfte einer Geltendmachung im Wege eines auf die Rückstellungsgesetzgebung gegründeten Antrages.« 642 Dieser Satz kann zwar noch nicht als Begründung für den Rekurs auf den objektiven Entziehungsbegriff des Rückstellungsrechts betrachtet werden. Dennoch illustriert er deutlich, dass sich der Beirat der Korrelation zwischen ankündigendem NichtigkeitsG und ausführenden Rückstellungsgesetzen bewusst ist. Eine ausführliche Begründung findet sich erst 2000 im Beschluss zu Rudolf Bittmann. Dort stellt der Beirat zunächst ausdrücklich fest, dass das 3. RStG die legislative Intention des NichtigkeitsG ausführe. Daraus folgert er, dass zumindest hinsichtlich des Entziehungsbegriffs ein Rekurs auf das Rückstellungsrecht geboten sei.643 Diesen bezeichnet der Beirat sogar als »wört­ liche Auslegung dieser Gesetzesbestimmung«644, als beinhalte der auf § 1 NichtigkeitsG verweisende Wortlaut des KRG bereits – vermutlich über die Ankündigung von Ausführungsgesetzen in § 2 NichtigkeitsG – eine Inbezugnahme auf das Rückstellungsrecht. Den Rekurs auf das 3. RStG zur Konkretisierung des § 1 Nr. 2 KRG a.F. bestätigt der Beirat im Beschluss zu Hermine Lasus von 2000. Dort erklärt er sogar, es müsse »von einem im Sinne des Nichtigkeitsgesetzes bzw. des § 2 Abs. 1 des 3. Rückstellungsgesetzes anfechtbaren Rechtsgeschäft ausgegangen wer­ den«.645 Der Beirat erachtet also beide Gesetze als gleichermaßen entscheidend für die Anwendung des KRG. 641 Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 27.03.2000, S. 3. 642 Beschl. zu Valerie Eisler v. 26.06.2000, S. 2.

643 Beschl. zu Rudolf Bittmann v. 18.08.2000, S. 4. 644 Ebenda.

645 Beschl. zu Hermine Lasus v. 28.11.2000, S. 3; ähnlich Beschl. zu Stefan Auspitz/Harald Reininghaus v. 27.01.2004, S. 4.

116  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

Der in den Beschlüssen zu Livia und Otto Brill sowie Valerie Eisler ent­wickelte Textbaustein betreffend das 3. RStG wird vom Beirat in über 30 weiteren Beschlüs-sen beinahe identisch verwendet.646 Im Beschluss zu Max Berger wird das NichtigkeitsG überdies gar nicht erst zur Bestimmung der Entziehung erwähnt, sondern nur der Textbaustein zum 3. RStG verwendet.647 Auch im Beschluss zu Alma Mahler-Werfel führt der Beirat 2006 aus, dass zwar ein Rechtsgeschäft oder eine Rechtshandlung im Sinne des NichtigkeitsG vorliegen müsse. Dies könne jedoch nicht angenommen werden, wenn nach dem Rückstellungsrecht keine Entziehung vorliegt.648 Der Widerspruch zwischen NichtigkeitsG und Rückstellungsgesetzen in ihren subjektiven Anforderungen wurde mithin vom Beirat – ob bewusst oder unbewusst – zunächst nicht beachtet. Dies ist umso bemerkenswerter, als in den meisten der zuvor entschiedenen Fälle davon ausgegangen werden muss, dass die Erwerber:innen keine Kenntnis von der Entziehung hatten. Der Tatbestand im Sinne des NichtigkeitsG wäre mithin nicht erfüllt gewesen. Der Beirat hat den Verweis auf § 1 NichtigkeitsG aber stets als gleichzeitige Referenz auf das 3. RStG verstanden und in seiner frühen Empfehlungspraxis wie selbstverständlich den objektiven Entziehungsbegriff der Rückstellungsgesetze zur Konkretisierung des § 1 Nr. 2 KRG a.F. herangezogen. b) Der subjektive Entziehungsbegriff des Schiedsgerichts und des OGH

Die Selbstverständlichkeit des Rekurses auf den objektiven Entziehungsbegriff aus dem 3. RStG zur Konkretisierung des Tatbestands änderte sich mit dem sich über acht Jahre erstreckenden Verfahren betreffend Ferdinand Bloch-Bauer/Amalie Zuckerkandl, in dessen Zuge offenbar erstmalig die in § 1 NichtigkeitsG enthaltene Entziehungsabsicht entdeckt wurde. Die Entdeckung erfolgte jedoch nicht durch den Beirat: Dieser geht in seinem Beschluss zu Fer­ dinand Bloch-Bauer/Amalie Zuckerkandl von 2005 – wie auch in seinen vorherigen Beschlüssen – von einem objektiven Verständnis des Entziehungsbegriffs aus und lehnt die Rückgabe aus anderen Gründen ab.649 Ebenso wenig scheint das anschließend von den Parteien angerufene Schiedsgericht die Problematik umfassend erkannt zu haben:650 Es verweist zunächst bloß darauf, dass das Tatbestandsmerkmal des § 1 NichtigkeitsG »um […] zu entziehen« nicht erfüllt sei. Dann zieht es aber die Rückstellungsrechtsprechung,651 die sich wohlgemerkt dezidiert mit der Anwendung der Rückstellungsgesetze – nicht aber des NichtigkeitsG – auseinandersetzte, zur Auslegung des § 1 NichtigkeitsG heran.652 Das Schiedsgericht scheint also ohne nähere Begründung einerseits 646 S. nur Beschl. zu Josefine Winter v. 28.11.2000, S. 2; Beschl. zu Emma Schiff-Suvero v. 10.04.2002, S. 3; Beschl. zu Heinrich

Rieger v. 25.11.2004, S. 3, Beschl. zu Martha Schlesinger v. 28.06.2006, S. 1 f.; Beschl. zu Vally Honig-Roeren v. 28.06.2006, S. 2 f. 647 Beschl. zu Max Berger v. 22.06.2004, S. 1 f. In diese Richtung weist auch der Beschl. zu Siegfried Lämmle v. 10.10.2000, S. 2, in dem allein von »einer Entziehung im Sinne des § 2 des 3. Rückstellungsgesetzes« gesprochen wird. Im Beschl. zu Gustav u. Claire Kirstein v. 23.01.2001 empfiehlt der Beirat eine Restitution, nachdem er zwar ein Rechtsgeschäft im Sinne des § 1 NichtigkeitsG verneint, aber eine »Entziehungshandlung« nach dem 3. RStG ausdrücklich angenommen hat. 648 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 6 f. 649 Beschl. zu Amalie Zuckerkandl/Ferdinand Bloch-Bauer v. 29.06.2005, S. 1 ff. 650 Ähnlich Graf, NZ 2007, 65, 73; Dolinar, Rechtsgutachten v. 16.07.2007, S. 28. 651 ORK, Entscheidung v. 07.09.1948 – Rkv 136/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 145, S. 311, 314. 652 Schiedsspruch Zuckerkandl-Portrait v. 15.01.2006, S. 15 f., abrufbar unter http://www.bslaw.com/altmann/Zuckerkandl/­ Decisions/decision.pdf.

117  A. Vorbemerkung: Zur Bestimmung des Entziehungsbegriffs

eine Entziehungsabsicht im Sinne des § 1 NichtigkeitsG zu fordern, andererseits innerhalb dessen Prüfung auf die Rückstellungsjudikatur zu verweisen, die keine solche Absicht voraussetzte. Die anschließenden Verfahren vor den ordentlichen Gerichten betreffen vordergründig einen Verstoß gegen den ordre public durch den Schiedsspruch, auf den hier nicht eingegangen werden soll. 653 Doch enthalten sie – im Gegensatz zu Schiedsspruch und Beiratsbeschluss – daneben reichhaltige Ausführungen zum Umgang mit der Diskrepanz zwischen NichtigkeitsG und Rückstellungsgesetzen. Der OGH erkennt – in eindeutigem Widerspruch zur Empfehlungspraxis des Beirats – keinen Bedarf nach einem Rückgriff auf das 3. RStG zur Bestimmung des Entziehungsbegriffs, da »weder der Gesetzestext des KunstrückgabeG noch die erläuternden Bemerkungen […] einen Bezug zum Dritten Rückstellungsgesetz« herstellen würden. Die Anwendung des 3. RStG führe dazu, dass die andernfalls seit Langem präkludierten Ansprüche nach dem 3. RStG trotz Folgeerwerber:innen und Zeitablaufs erneut oder weiterhin geltend gemacht werden können. Es sei daher ausreichend wahrscheinlich, dass legislativ bewusst von einer Anwendung des 3. RStG im KRG abgesehen wurde.654 Indem er eine Anwendung des Rückstellungsrechts zur Konkretisierung der Tatbestände aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG verneint, verfolgt der OGH implizit einen subjektiven Entziehungsbegriff im Sinne des § 1 NichtigkeitsG und widerspricht so eindeutig der ständigen Empfehlungspraxis des Beirats. Diese Ansicht wurde trotz des Bruchs mit der Empfehlungspraxis zumindest in der Literatur breit rezipiert und wird in regelmäßigen Abständen in den Diskurs eingebracht.655 c) Das Festhalten des Beirats am objektiven Entziehungsbegriff

Trotz dieses eklatanten Widerspruchs setzt sich der Beirat weder mit dem Schiedsspruch noch mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung explizit auseinander und verfolgt weiter einen objektiven Entziehungsbegriff.656 Gleichwohl kann der Einfluss der Verfahren, aber auch ihrer kritischen parlamentarischen Rezeption,657 auf die Empfehlungspraxis des Beirats nicht geleug­ net werden. Seit dem Abschluss der Verfahren 2008 wird der zuvor im Kontext der Beschlüsse zu Livia und Otto Brill sowie Valerie Eisler erwähnte Textbaustein zur Entziehung im Sinne des 3. RStG vom Beirat nicht mehr verwendet.658 Der Verzicht auf den Textbaustein kann aber nicht als Abkehr vom objektiven Entziehungsbegriff gedeutet werden. Denn schon 2009 – im ersten Beschluss, der überhaupt Überlegungen zu subjektiven Elementen der Entziehung enthält – stellt der Beirat ohne nähere Begrün-

653 Schiedsspruch Zuckerkandl-Portrait v. 07.05.2006, abrufbar unter http://www.bslaw.com/altmann/Zuckerkandl/Decisions/

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decision.pdf; LG Wien, Entscheidung v. 28.02.07 – 26 Cg 101/06y; OGH, Entscheidung v. 01.04.2008 – 5 Ob 272/07x, Zusammenfassung in ecolex 2008, 1005, 1005 f. OGH, Entscheidung v. 01.04.2008 – 5 Ob 272/07x, Zusammenfassung in ecolex 2008, 1005, 1005 f.; in diese Richtung auch Wiederin, Kunstrückgabegesetz, 2006, S. 16 ff.; Rechberger, NZ 2020, 207, 209; jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 186 f. Meissel/Jungwirth, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 104, 113; Oberhammer, Rechtsgutachten v. 28.09.2006, S. 6; Jungwirth, in: Gschiel et al. (Hrsg.), Schneidern, 2010, S. 249, 255 ff.; Rechberger, NZ 2020, 207, 209 f.; jüngst auch wieder Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 186 f. So auch in der Außenwahrnehmung, s. Kommission für Provenienzforschung, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.), Guide, 2019, S. 21, 24. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 2. Bloß noch Anfang 2008, s. Beschl. zu Marianne Nechansky v. 09.05.2008, S. 3.

118  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

dung fest, dass »eine Schädigungsabsicht des Erwerbers keine Voraussetzung der Erfüllung des Tatbestandes einer Entziehung«659 sei. Damit widerspricht er eindeutig der Rechtsprechung des OGH und bestätigt zugleich seine eigene ständige Empfehlungspraxis. Zudem verweist der Beirat im Rahmen der Prüfung einer »Entziehung im Sinne des Nichtigkeitsgesetzes« wie zuvor auf eine Kommentierung der Rechtsprechung zu den Rückstellungsgesetzen.660 Er füllt also die Tatbestandsvoraussetzung des »Rechts­geschäfts im Sinne des § 1 NichtigkeitsG« weiterhin mit dem objektiven Entziehungsbegriff des Rückstellungsrechts. Dies bestätigt er ausdrücklich im November 2009 im Beschluss zu Hermann Eissler. Unter Verweis auf die Ankündigung von Ausführungsgesetzen in § 2 NichtigkeitsG könnte seine Beurteilung kaum deutlicher sein: »Da es mangels unmittelbarer Anwendbarkeit zum Nichtigkeitsgesetz keine eigene Rechtsprechung gibt, hat der Beirat bei der Auslegung des Begriffs der Entziehung in der Vergangenheit vielfach auf die Judikatur der Rückstellungskommissionen, insbesondere zum 3. Rückstellungsgesetz, Bezug genommen. Der Beirat hält hieran fest, auch wenn der Wortlaut des § 1 NichtigkeitsG den Tatbestand der Entziehung (des nichtigen Rechtsgeschäfts bzw. der nichtigen Rechtshandlung) vor allem durch die subjektiven Tatelemente des Erwerbers (›… um zu entziehen…‹) zu bestimmen scheint, während der Wortlaut des § 2 Abs. 1 3. Rückstellungsgesetz eine Entziehung durch die objektive Lage des Veräußerers […] definiert.« Er lehnt demnach ausdrücklich die vom OGH geforderte Einschränkung der Tatbestandsvoraussetzung durch ein subjektives Erfordernis ab. Denn ungeachtet der Entziehungsabsicht der Erwerber:innen seien die Rechtshandlung oder das Rechtsgeschäft in einem objektiven Kontext mit der nationalsozialistischen Herrschaft zu betrachten.661 Letztlich bestätigt der Beirat nach dem Zuckerkandl-Verfahren also nur seine bisherige Rechtsfortbildung, bloß mit mehr Problembewusstsein als zuvor. Teils unter Bezugnahme auf den Textbaustein aus dem Beschluss zu Hermann Eissler reichert der Beirat diese Rechtsfortbildung in seiner weiteren Empfehlungspraxis dogmatisch weiter an.662 So verweist er im Beschluss zu Josef Blauhorn auf die »stets herangezogene[…] Judikatur der Rückstellungskommissionen«.663 Im Beschluss zu Karl Mayländer stützt er die Konkretisierung durch das 3. RStG zusätzlich durch Schiedssprüche für Entschädigungen von sonstigen Vermögensentziehungen nach dem EFG, die ebenfalls auf die Rückstellungsgesetze rekurrieren.664 Die Brücke zur Empfehlungspraxis der ersten Jahre schlägt der Beirat erstmals 659 Beschl. zum Stift Heiligenkreuz v. 23.01.2009, S. 3. Dies scheint auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 159, zu erkennen,

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gleichwohl spricht er sich nicht für einen am 3. RStG orientierten Entziehungsbegriff aus, Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 186 f. Beschl. zu Hermann Eissler v. 24.06.2009, S. 17 ff. Beschl. zu Hermann Eissler v. 20.11.2009, S. 7. Dabei führt der Beirat an, ein solcher objektiver Begriff werde auch durch den Wortlaut des § 1 Nichtigkeitsgesetz gestützt, der mit der »politischen und wirtschaftlichen Durchdringung« durch das nationalsozialistische Regime auf dessen allgemeine Zielsetzung der Verfolgung Bezug nimmt. Dies ist eine Auslegung, die für die Legislative des NichtigkeitsG sehr schmeichelnd ist, jedoch nicht den damaligen Tatsachen entspricht. Das Gesetz wurde gerade nicht verabschiedet, um auf die Verfolgung verschiedener Bevölkerungsgruppen zu reagieren, sondern vornehmlich zur Befriedigung der alliierten Forderungen, s. dazu unter § 4 A.II., S. 34. S. nur Beschl. zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011, S. 27 f.; Beschl. zu Karl Mayländer v. 10.06.2011, S. 4 f.; Beschl. zu Oskar Reichel v. 06.12.2011, S. 4; Beschl. zu Josef Blauhorn v. 03.05.2013, S. 3; Beschl. zu Fritz Grünbaum v. 15.10.2015, S. 7 f.; Beschl. zu Gertrude Felsövanyi v. 12.04.2019, S. 4; Beschl. zum Stift Göttweig v. 25.09.2020, S. 6; Beschl. zu Maria Wesselski v. 29.11.2022, S. 8. Beschl. zu Josef Blauhorn v. 03.05.2013, S. 3. Beschl. zu Karl Mayländer v. 10.06.2011, S. 5 f.

119  A. Vorbemerkung: Zur Bestimmung des Entziehungsbegriffs

im Beschluss zu Oskar Reichel, indem er nicht nur auf den späten Beschluss zu Karl Mayländer von 2011, sondern ausdrücklich auf den Beschluss zu Valerie Eisler aus 2000 verweist, um die Konkretisierung der Tatbestandsvoraussetzung durch das 3. RStG zu unterstreichen.665 Zusammenfassend lässt sich die folgende Entwicklung in der Empfehlungspraxis des Beirats festhalten: In den ersten zehn Jahren hat der Beirat wie selbstverständlich den objektiven Entziehungsbegriff des 3. RStG zur Konkretisierung der Tatbestandsvoraussetzung »Rechtshandlung oder Rechtsgeschäft im Sinne des § 1 NichtigkeitsG« aus § 1 Nr. 1 KRG a.F. herangezogen. Erst seit dem Abschluss des Verfahrens zum Zuckerkandl-Portrait setzt sich der Beirat mit dieser ständigen Empfehlungspraxis kritisch und ausführlich begründet auseinander. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass in diesem Zuge der Widerspruch zwischen dem eine Entziehungsabsicht fordernden, subjektiven Entziehungsbegriff im Sinne des § 1 NichtigkeitsG und dem allein auf den Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft abstellenden, objektiven Entziehungsbegriff des Rückstellungsrechts sichtbar geworden ist. Trotz der dem subjektiven Entziehungsbegriff folgenden höchstrichterlichen Rechtsprechung weicht der Beirat im Ergebnis aber nicht von der bisherigen Rechtsfortbildung ab und wendet unter Rückgriff auf seine bereits etablierte Empfehlungspraxis und weitere Begründungsansätze einen rein objektiven Entziehungsbegriff an. Er rekurriert somit als ständige Empfehlungspraxis ungeachtet des in § 1 NichtigkeitsG enthaltenen subjektiven Erfordernisses auf das 3. RStG zur Konkretisierung des Entziehungsbegriffs nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG. 2. Notwendigkeit eines objektiven Verständnisses der Entziehung

Die nachfolgenden Ausführungen sollen verdeutlichen, warum ein Festhalten am objektiven Entziehungsbegriff im Sinne des Rückstellungsrechts – so wie vom Beirat praktiziert – unter Rückgriff auf den juristischen Methodenkanon notwendig ist und wie dieses Begriffsverständnis rechtssicher im KRG verankert werden kann. Denn die Empfehlungspraxis des Beirats allein kann diesen Rekurs freilich nicht rechtfertigen, da auch eine über zwei Jahrzehnte gewachsene Praxis unrechtmäßig sein kann (»keine Gleichbehandlung im Unrecht«). Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass der Rekurs des Beirats auf das 3. RStG zur Konkretisierung der Tatbestandsvoraussetzung »geradezu selbstverständlich« ist und der von Schiedsgericht und OGH vertretene subjektive Entziehungsbegriff dieser Praxis »diametral« widerspricht.666 Entscheidend ist jedoch die Frage, ob dieser selbstverständliche Rekurs auf das Rückstellungsrecht zulässig ist oder die Grenzen der Auslegung überschritten sind.667 Dem Wortlaut von § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG zufolge ist § 1 NichtigkeitsG anstelle des Rückstellungsrechts maßgeblich. Der Wortlaut allein, anders als oftmals im Kontext des KRG angedeutet,668 stellt nur den Beginn der Auslegung und kein Hindernis für weitere Erwägungen dar.669

665 Beschl. zu Oskar Reichel v. 06.12.2011, S. 4.

666 Graf, NZ 2020, 7, 8 f.; vgl. Protokoll Schiedsgerichtsverhandlung Zuckerkandl-Portrait v. 07.05.2006, S. 46, 52 f., abrufbar

unter: http://www.bslaw.com/altmann/Zuckerkandl/Klage/protokol.pdf; Pleyer, Zuckerkandl, 2003, S. 20.

667 S. zu den methodischen Grundlagen unter § 3 A., S. 25.

668 Meissel/Jungwirth, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 104, 113; Oberhammer, Rechtsgutachten v.

28.09.2006, S. 6; Jungwirth, in: Gschiel et al. (Hrsg.), Schneidern, 2010, S. 249, 255 ff.

669 So auch in diesem Kontext: Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 2; Dolinar, Rechtsgut-

achten v. 16.07.2007, S. 33 f.

120  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

Für eine systematische Auslegung von § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG ist darauf hinzuweisen, dass diese auch auf andere Gesetze mit gleichem Regelungsziel Bezug nehmen kann. Dies scheint geradezu geboten, wenn sich wie hier im auszulegenden Tatbestand ein ausdrücklicher Verweis auf andere Gesetze findet. Da es sich dabei um ein älteres Gesetz aus der Nach­ kriegszeit handelt, auf dem das heutige Gesetz aufbaut, verschwimmen hier systematische und dogmengeschichtliche Auslegung.670 Dies kann insbesondere bei der Entkräftung der Kritik helfen, durch einen Rekurs auf den objektiven Entziehungsbegriff des Rückstellungsrechts zur Konkretisierung der Tatbestände des KRG würden präkludierte Ansprüche reaktiviert. Dabei kann das KRG aufgrund seiner Konstruktion als Selbstbindungsgesetz schon rein dogmatisch keine Ansprüche reanimieren, zumal es gerade als Gegenentwurf zu der notwendigen Eigeninitiative der Betroffenen im Rückstellungsrecht dienen soll.671 Insbesondere ist sodann das Argument der Kritik zu beleuchten, wonach das KRG nur auf § 1 NichtigkeitsG, nicht aber (auch) auf § 2 NichtigkeitsG verweise.672 Wenn aber die Rückstellungsgesetze aufgrund von § 2 NichtigkeitsG als unmittelbar anwendbare Umsetzung des nicht unmittelbar anwendbaren § 1 NichtigkeitsG verstanden werden, bedarf es keines weiteren Verweises auf § 2 NichtigkeitsG. Die Auslegung anhand der Rückstellungsgesetze ist § 1 NichtigkeitsG dann immanent, da erst diese der Ankündigung des § 1 NichtigkeitsG normativen Gehalt vermitteln. Aufgrund des systematischen Verhältnisses von NichtigkeitsG und 3. RStG als Ankündigungs- und Ausführungsgesetz sind durch die Zitierung des § 1 NichtigkeitsG dann auch die Rückstellungsgesetze als bei der Auslegung zu berücksichtigende Vorschriften mitgemeint.673 In der Nachkriegsrechtsprechung wurde sogar ausdrücklich festgehalten, dass »Ausführungsgesetze […] über die Bestimmungen des Grundsatzgesetzes [Ankündigungsgesetzes] hinausgehen« und damit »die Rückstellungsgesetze […] die Bestimmungen des Nichtigkeitsgesetzes […] ausdehnen« können.674 Diese Nachkriegsrechtsprechung illustriert zum einen, dass dem NichtigkeitsG die Rückstellungsgesetze immanent sind; das Eine also nicht ohne das Andere gedacht werden kann. Zum anderen erklärt sie zweifelsfrei, dass die Rückstellungsgesetze aufgrund ihres ausführenden Charakters über einen weiteren Anwendungsbereich als das NichtigkeitsG verfügen dürfen. Es ließe sich damit sogar vertreten, dass überhaupt kein Widerspruch zwischen dem subjektiven Begriff des NichtigkeitsG und dem objektiven Verständnis des 3. RStG vorliegt, sondern die Ausweitung des Anwendungsbereichs durch das 3. RStG vielmehr legislativ vorgesehen ist. Darüber hinaus wurde in der Parlamentsberatung zum KRG lediglich von Objekten, die »Gegenstand eines Rechtsgeschäfts gemäß dem Nichtigkeitsgesetz«675 gewesen sind, gesprochen; die konkrete Norm des § 1 NichtigkeitsG wurde also nicht genannt. So lässt sich vermuten, dass die alleinige Nennung des § 1 NichtigkeitsG für die Legislative weniger relevant war als teils angenommen wird; vielleicht sogar als redaktionelles Versehen einzuordnen ist.

670 S. zu den verschiedenen Auslegungsmethoden unter § 3 A., S. 25.

671 S. zur Natur des KRG als Selbstbindungsgesetz unter § 4 C.II, S. 48, und zur Genese des KRG unter § 4 C.I., S. 46.

672 Meissel/Jungwirth, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 104, 113; Oberhammer, Rechtsgutachten v.

28.09.2006, S. 6; Jungwirth, in: Gschiel et al. (Hrsg.), Schneidern, 2010, S. 249, 255 ff.

673 So auch Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 2; Graf, NZ 2005, 321, 322; Graf, NZ 2007,

65 ff.; Dolinar, Rechtsgutachten v. 16.07.2007, S. 28 ff.

674 ORK, Entscheidung v. 10.04.1948 – Rkv 41/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 51, S. 116 f.

675 Wortmeldung Gehrer bei der 146. Sitzung des Nationalrats am 05.11.1998, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XX.

GP, S. 54.

121  A. Vorbemerkung: Zur Bestimmung des Entziehungsbegriffs

Zudem spricht der Wunsch nach einer harmonisierenden Interpretation normativer Maßstäbe für eine Konkretisierung der Tatbestände durch das Rückstellungsrecht, da das 3. RStG durch eine umfassende Judikatur eine einheitliche Terminologie und Auslegung etabliert hat. Insbesondere gibt es mangels unmittelbarer Anwendbarkeit des NichtigkeitsG keine sonstigen Anhaltspunkte und eine Neuinterpretation ohne jegliche Rückkopplung an das Nachkriegsrecht wäre äußerst unökonomisch.676 Hinzu kommt, dass die Vorschriften des NichtigkeitsG – zumindest außenpolitisch – der Umsetzung der Londoner Deklaration von 1943 dienen sollten, die gerade keine subjektive Komponente enthielt.677 Entscheidende Bedeutung kommt neben der Systematik und Dogmengeschichte der teleologischen Auslegung zu. Diese Auslegung nach dem mutmaßlichen Willen der Legislative ist im Kontext des KRG besonders zu beachten, da die Legislative den Anwendungsbereich des KRG bewusst offen gehalten hat, um auch auf neue Erkenntnisse ohne legislatives Tätigwerden reagieren zu können.678 Dieser mutmaßliche Wille lässt sich aus dem nachweislichen Zweck des KRG ableiten: Als Zweck der Tatbestände aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG ist die ­vollständige Restitution »bedenklicher« Kulturgüter,679 die aufgrund der Versäumnisse und Fehler in der Nachkriegszeit noch nicht an die Berechtigten restituiert wurden, zu betrachten. Das KRG soll mithin »dort fortsetzen bzw. wiederaufgreifen, wo eine moralische Beurteilung aus heutiger Sicht dies nahelegt und rechtfertigt«680. Diese Versäumnisse und Fehler der Nachkriegszeit sind aber keineswegs auf das nicht unmittelbar anwendbare NichtigkeitsG, sondern auf die sieben Rückstellungsgesetze zurückzuführen.681 Konsequenterweise darf das KRG als Korrektiv bzw. Fortentwicklung dann nicht enger als die Rückstellungsgesetze gefasst sein, unabhängig von den Anforderungen des NichtigkeitsG. Das Rückstellungsrecht stellt dem mutmaßlichen legislativen Willen zufolge den Mindeststandard des KRG dar, der nicht unterschritten, aber im Rahmen des Telos des KRG überschritten werden darf.682 Während die bisherige Auslegung den Rekurs auf das Rückstellungsrecht umfassend stützt, bereitet die genetische Auslegung des KRG anhand des legislativen Willens mehr Schwierigkeiten. Gegen eine Konkretisierung der Tatbestände durch das Rückstellungsrecht scheint hier vor allem zu sprechen, dass die Legislative im Zuge der Novelle keine Anpassung des Wortlauts an die seit zehn Jahren etablierte, auf das Rückstellungsrecht rekurrierende Empfehlungspraxis vorgenommen hat, obwohl diverse andere Anpassungen vorgenommen wurden. Zugleich kann die fehlende Anpassung durch die Legislative aber auch eine Billigung der seit Langem etablierten Spruchpraxis darstellen; sie bedeutet mithin nicht zwingend eine Ablehnung ihrer Wertungen.683 Im Rahmen des Novellierungsverfahrens bestätigte das zuständige Bundesministerium zwar dem Parlament die bisherige Rechtsfortbildung des Beirats: »Der Beirat wendet in seinen 676 Graf, NZ 2007, 65, 70 f.; Dolinar, Rechtsgutachten v. 16.07.2007, S. 28 f. 677 S. zur Genese des NichtigkeitsG unter § 4 A.II., S. 34.

678 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 5.

679 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 1. 680 Bacher, in: Brückler (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 7, 7.

681 Vgl. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 4; Graf, NZ 2007, 65, 71; Graf, ecolex 2008, 433,

433; ähnlich auch Pitkowitz, ecolex 2007, 663, 664; Dolinar, Rechtsgutachten v. 16.07.2007, S. 28 f.

682 Vgl. Graf, NZ 2007, 65, 71; Graf, ecolex 2008, 433, 433. Dies entkräftet auch Wiederins Annahme, von einem Verweis auf das

3. RStG sei aufgrund der Bindungswirkung rechtskräftiger Rückstellungsentscheidungen abgesehen worden, s. Wiederin, Kunstrückgabegesetz, 2006, S. 16 ff. 683 S. zur historischen Auslegung unter § 3 A., S. 25.

122  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

Empfehlungen das Kunstrückgabegesetz […] an. Da dieses auf das Nichtigkeitsgesetz […] verweist, welches durch die nachfolgenden Rückstellungsgesetze ausgeführt wurde, bezieht sich der Beirat in seiner Auslegung regelmäßig auf die einschlägige Judikatur der Rückstellungskommissionen«. Gleichwohl sei bewusst von einer Zitierung des Rückstellungsrechts, vornehmlich des 3. RStG, mit der Begründung abgesehen worden, dass das NichtigkeitsG teils weiter als das 3. RStG gefasst sei. Daher müsse zur Bestimmung des Entziehungsbegriffs auf § 1 NichtigkeitsG abgestellt werden.684 Auf unter anderem diesen Ausführungen des Bundesministeriums beruhte so dann die legislative Entscheidung. Bei der Zitierung des NichtigkeitsG handelt es sich mithin vermutlich nicht um ein Redaktionsversehen; die Legislative hat sich offenbar vielmehr dezidiert gegen einen Verweis auf das Rückstellungsrecht entschieden. Die Beibehaltung der Zitierung des NichtigkeitsG in der Novelle wird also mit der Gewährleistung eines möglichst weiten Anwendungsbereichs des KRG begründet. Diese Argumentation übersieht, dass das NichtigkeitsG hinsichtlich des Entziehungsbegriffs aufgrund des in ihm enthaltenen subjektiven Elements enger als das 3. RStG gefasst ist. Eine über den Entziehungsbegriff hinausgehende, bruchlose Rezeption sämtlicher Vorschriften aus dem Rückstellungsrecht wurde nie gefordert685 und wäre zudem zweckwidrig, wenn auch die Fehler und Versäum­ nisse des Nachkriegsrechts korrigiert werden sollen. So kann nicht geleugnet werden, dass einem Rekurs auf den objektiven Entziehungsbegriff des Rückstellungsrechts der legislative Wille entgegensteht, obwohl dieser zugleich eine Bezugnahme auf das gehaltvollere Rückstellungsrecht billigt. Dieser entgegenstehende Wille wurde jedoch auf Grundlage falscher Annahmen gebildet, da der legislativ angestrebte, weite Anwendungsbereich nur durch den Rekurs auf die Rückstellungsgesetze anstelle des NichtigkeitsG möglich wird. Fazit dieser methodischen Untersuchung des Entziehungsbegriffs ist, dass die Zitierung des § 1 NichtigkeitsG als Tatbestandsvoraussetzung erhebliche Auswirkungen auf die Anwendung der Tatbestände aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG hat. Somit kann zwar die systematische, dogmengeschichtliche und teleologische Auslegung als eine starke Stütze der Konkretisierung von § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG durch den regelmäßigen Rekurs des Beirats auf den objektiven Entziehungsbegriff des Rückstellungsrechts betrachtet werden. Die Legislative hat sich jedoch trotz der ständigen Empfehlungspraxis des Beirats bei der Novelle 2009 offenbar gegen ein Verständnis der Entziehung im Sinne des Rückstellungsrechts ausgesprochen, wenn auch in augenscheinlicher Unkenntnis des dadurch verkürzten Anwendungsbereichs des KRG. Indem der Beirat trotz dieses entgegenstehenden Willens und trotz der Rechtsprechung des OGH an dem objektiven Entziehungsbegriff des Rückstellungsrechts bei der Anwendung von § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG festhält, flüchtet er – wenn auch aus im Ergebnis zustimmungswürdigen Gründen – in ein äußerst selbstreferentielles Verständnis seiner juristischen Beurteilung. Zwar ist er nicht Teil der Judikative, sondern als Beratung der Exekutive tätig, jedoch ist von ihm angesichts der faktischen, rechtspolitischen Auswirkungen seiner Entscheidungen ebenfalls zu erwarten, dass er sich eindeutiger zur Gesetzesbindung bekennt. Schließlich ist das Vertrauen auf den Wortlaut eines Gesetzes ein wesentliches Charakteristikum des Rechtsstaates, das nicht durch eine zu weitreichende Rechtsfortbildung ausgehöhlt werden darf.

684 Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, Anfragebeantwortung Nationalrat, Nr. 2652/AB, XXIV. GP, S. 2 f.; in

diese Richtung jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 186 ff.

685 Vgl. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 2.

123  A. Vorbemerkung: Zur Bestimmung des Entziehungsbegriffs

Jedenfalls im Rahmen der Novellierung hätte daher auf den Umstand hingewiesen werden können, dass der Beirat in ständiger Empfehlungspraxis den objektiven Entziehungsbegriff des Rückstellungsrechts anwendet und daher eine Änderung des Gesetzestextes in Anpassung an die bisherige Empfehlungspraxis geboten sei. Schließlich wurde die Novelle gerade zum Zwecke der Anpassung des Gesetzes an die Praxis verabschiedet. Eine die Empfehlungspraxis anerkennende Änderung des Gesetzestextes müsste anstelle der Zitierung des § 1 NichtigkeitsG den Verweis auf den Entziehungsbegriff aus § 1 Abs. 1 RStG enthalten, um endgültig Rechtssicherheit zu schaffen. Daher ist der Rekurs auf den objektiven Entziehungsbegriff des Rückstellungsrechts anstelle des subjektiven Entziehungsbegriffs des NichtigkeitsG in seiner normativen Wertung angezeigt, doch erfordert eine methodisch einwandfreie und historisch verantwortungsbewusste Lösung ein Tätigwerden der Legislative durch eine Substitution von § 1 NichtigkeitsG mit § 1 Abs. 1 3. RStG. Durch den Rekurs auf das Rückstellungsrecht wird im Übrigen die den Washingtoner Prinzipien inhärente reflektierte Adaption des Nachkriegsrechts möglich.686 Denn nur durch das Rückstellungsrecht als Ausgangspunkt normativer Überlegungen wird verhindert, dass die heutigen Erwägungen das Nachkriegsrecht unterschreiten. In Anknüpfung an die Empfehlungspraxis des Beirats wird der nachfolgenden Untersuchung von § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG trotz des legislativen Handlungsbedarfs der objektive Entziehungsbegriff des Beirats unter Rekurs auf das Rückstellungsrecht zugrunde gelegt. Eine Entziehung setzt somit in Anknüpfung an § 1 Abs. 1 3. RStG voraus, dass die Eigentümer:innen das Kulturgut in einem Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft verloren haben.

B. Der zeitliche und örtliche Rahmen der Entziehung Als zeitlicher und örtlicher Rahmen der Entziehung dient der Begriff der »nationalsozialistischen Herrschaft«. Er stammt aus der Empfehlungspraxis des Beirats,687 taucht aber weder im KRG noch in den Nachkriegsgesetzen auf: § 1 NichtigkeitsG verwendet den Ausdruck der »wirtschaftlichen und politischen Durchdringung« durch das Deutsche Reich und das 3. RStG stellt auf die »nationalsozialistische Machtübernahme« oder die »Machtergreifung des Nationalsozialismus« ab. Diese Formulierungen werden jedoch für diese Untersuchung des Anwendungsbereichs der Tatbestände aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG abgelehnt und durch den Begriff »nationalsozialistische Herrschaft« ersetzt. Grund für die Ablehnung ist zum einen, dass die Bezeichnung als »deutsche Durchdringung« im NichtigkeitsG eine fehlende Verantwortung Österreichs für die begangenen Verbrechen impliziert. Zum anderen sind die Bezeichnungen »Machtergreifung« oder »Machtübernahme« aus dem 3. RStG für die Untersuchung der österreichischen Praxis unpassend, da sie neben ihrer historischen Fehlerhaftigkeit688 den Anwendungsbereich des KRG durch die Einschränkung auf diesen Zeitpunkt erheblich verkürzen würden.689 686 S. zum Rekurs auf das Nachkriegsrecht im Lichte der Washingtoner Prinzipien unter § 4 B.II.1., S. 42.

687 S. nur Beschl. zu Gertrude Felsövanyi v. 23.01.2001, S. 3; Beschl. zu Otto Klein v. 03.12.2002, S. 2; Beschl. zu Rudolf Gutmann

v. 22.06.2004, S. 4; Beschl. zu Gaston Belf v. 20.06.2008, S. 2.

688 S. instruktiv zu der Terminologie Frei, VfZ, 1983, S. 136, 136 ff.

689 So bereits Stradal, JBl 1946, 242, 243. Der Beirat benutzt allein im Beschl. zu Ferdinand Bloch-Bauer v. 25.11.2004, S. 2,

­außerhalb des direkten Zitates aus dem Nachkriegsrecht den Begriff ›Machtergreifung‹.

124  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

Zunächst wird unter Rekurs auf das Nachkriegsrecht erläutert, inwiefern die nationalsozia­ listische Herrschaft den zeitlichen und örtlichen Rahmen der Entziehung im Sinne der Tatbestände aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG bildet. Dies ist der einzige Aspekt, in dem sich Nummer 2 und Nummer 2a der Vorschrift unterscheiden. Denn § 1 Abs. 1 Nr. 2 KRG erfasst lediglich Verluste während der deutschen »Besetzung« Österreichs innerhalb des heutigen Gebiets der Republik Österreich, wohingegen § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG Verluste während der nationalsozialistischen Herrschaft außerhalb des heutigen Österreichs regelt. Wie die Bezifferung als Nummer 2a bereits verrät, wurde dieser Tatbestand erst im Zuge der Novelle 2009 nach vorheriger Kritik690 eingefügt, um den zeitlichen und örtlichen Rahmen einer Entziehung zu erweitern. Mit der Erweiterung beabsichtigte die Legislative, der bisherigen Empfehlungspraxis des Beirats Rechnung zu tragen. Denn diese hatte gezeigt, dass der Wortlaut des § 1 Nr. 2 KRG a.F. (»während der deutschen Besetzung Österreichs«) unter Ansehung des legislativen Willens zu eng gefasst war, woraufhin der Beirat eine Erweiterung des zeitlichen und örtlichen Rahmens durch eine analoge Anwendung des Tatbestandes vornahm. § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG bezweckt daher, auch solche Entziehungen zu erfassen, »die seit der Machtergreifung der Nationalsozia­ listen (30. Jänner 1933) stattgefunden haben, und zwar im nationalsozialistischen Deutschen Reich und in den von diesem beherrschten Gebieten«691. Dementsprechend hätte die Legislative ebenso gut den Tatbestand der Nummer 2 durch einen die gesamte nationalsozialistische Herr­schaft erfassenden Tatbestand ersetzen und so eine Dopplung verhindern können. Im Gesetzgebungsverfahren der Novelle traf die Erweiterung weitestgehend auf Zustimmung.692 Kritik wurde vornehmlich unter Verweis auf die vormalige rechtsfortbildende Praxis des Beirats dahingehend geäußert, dass dieser »sich an die Gesetze zu halten« habe, statt durch umfassende Auslegung eine Novelle zu veranlassen.693 Dem ist jedoch entgegenzusetzen, dass legislativ ausdrücklich betont wurde, dass das KRG a.F. bewusst weit gefasst wurde, um auch für unbekannte Fälle eine gesetzliche Regelung zu schaffen.694 Jedenfalls wird der implizierte Vorwurf einer unbegrenzten Auslegung hinsichtlich des zeitlichen und örtlichen Rahmens dann spätestens mit der Novelle nivelliert. In der nachfolgenden Untersuchung werden der zeitliche und örtliche Rahmen der nationalsozialistischen Herrschaft getrennt dargestellt, freilich müssen diese aber für eine Entziehung während der nationalsozialistischen Herrschaft kumulativ vorliegen. Zuletzt wird sowohl die zeitliche als auch die örtliche Einrahmung der Entziehung im Lichte der Washingtoner Prinzipien untersucht.

I. Der zeitliche Rahmen Die Darstellung der nationalsozialistischen Herrschaft als zeitlicher Rahmen erfolgt angesichts der tatbestandlichen Unterschiede zwischen Nummer 2 und Nummer 2a getrennt, obwohl Nummer 2, wie bereits ausgeführt, auch in Nummer 2a aufgelöst werden könnte. Der Zeitraum der nationalsozialistischen Herrschaft soll daher im Folgenden zunächst anhand von § 1 Abs. 1 Nr. 2 KRG, und damit für den Zeitraum der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich, 690 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 2.

691 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 3 f.

692 Stellungnahme Finanzprokuratur zum Ministerialentwurf v. 01.09.2008, 9/SN-214/ME XXIII. GP, S. 6.

693 Wortmeldung Unterreiner bei der 40. Sitzung des Nationalrats am 21.10.2009, Stenografische Protokolle des Nationalrats,

XXIV. GP, S. 89.

694 S. zur Genese des KRG unter § 4 C.I., S. 46.

125  B. Der zeitliche und örtliche Rahmen der Entziehung

konkretisiert werden. Anschließend ist auf den erweiterten zeitlichen Rahmen des § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG, den gesamten Zeitraum der nationalsozialistischen Herrschaft, einzugehen. Dazu kann nur auf ein begrenztes Fallrepertoire zugegriffen werden. Denn Fälle, bei denen bereits während der Provenienzforschung zweifelsfrei erkennbar ist, dass der maßgebliche Verlust in zeitlicher Hinsicht außerhalb der nationalsozialistischen Herrschaft erfolgt ist, werden vermutlich gar nicht erst Gegenstand eines Beschlusses des Beirats. 1. Vom ›Anschluss‹ zur Kapitulation als zeitlicher Rahmen

Für die Bestimmung des zeitlichen Rahmens der nationalsozialistischen Herrschaft im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 KRG ist trotz der Konkretisierung durch das Dritte Rückstellungsgesetz ­zunächst ein Blick in die zeitlichen Vorgaben des § 1 NichtigkeitsG zu werfen. Diese Vorschrift erforderte, dass die zu untersuchenden Rechtsgeschäfte oder Rechtshandlungen »während der deutschen Besetzung Österreichs« vorgenommenen wurden, deren Beginn im Wortlaut strikt auf den 13. März 1938 gesetzt wurde. Dies galt selbst dann, wenn etwa die Veräußerung vor dem 13. März 1938 aus Furcht vor dem ›Anschluss‹ erfolgte.695 Zum Ende des Zeitraumes der nationalsozialistischen Herrschaft enthielt § 1 NichtigkeitsG keinerlei Bestimmungen. Ein systematischer Abgleich mit dem Wortlaut des § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG legt indes nahe, auch für Nummer 2 das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft auf den 8. Mai 1945 zu legen.696 Auffällig ist, dass im Rückstellungsrecht der als »Besetzung« zu verstehende Zeitraum anders als in § 1 NichtigkeitsG nicht zusätzlich durch konkrete Daten begrenzt wurde. Vielmehr waren der Rückstellungsrechtsprechung zufolge die tatsächlichen Begebenheiten entscheidend. Das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft wurde daher entsprechend dem alliierten Fortschritt bestimmt,697 sodass es spätestens auf das Datum der Kapitulation der deutschen Wehrmacht fiel, den 8. Mai 1945. Gleichermaßen wurde entgegen dem NichtigkeitsG, das strikt auf den 13. März 1938 abstellt, auch ihr Beginn durch das Vordringen der deutschen Wehrmacht ermittelt. Mithin konnte auch ein Verlust am 12. März 1938698 umfasst sein.699 In seiner Empfehlungspraxis hat sich der Beirat noch nicht mit einem Grenzfall der nationalsozialistischen Herrschaft befasst. Es ist daher nicht bekannt, ob er für ihren Beginn auf das starre Datum des NichtigkeitsG oder die flexible Ermittlung des Rückstellungsrechts abstellt. Im Beschluss zu Alfred Flechtheim/George Grosz von 2006 findet eine kursorische Auseinandersetzung mit dem Beginn des zeitlichen Rahmens einer Entziehung im Sinne des § 1 Nr. 2 KRG a.F., der dem Rahmen des heutigen § 1 Abs. 1 Nr. 2 KRG entspricht, statt.700 695 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 83, V. GP, S. 46; Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats

696 697

698

699 700

Nr. 91, V. GP, S. 47; Wortmeldung Brunner bei der 14. Sitzung des Nationalrates am 15.05.1946, Stenografische Protokolle des Nationalrats, V. GP, S. 191; Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 92. Kritisch: Wolff in Novak, JBl 1946, 276, 278; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 49 Fn. 125. Demgegenüber erfassen die Restitutionsvorschriften der Länder teils Verluste bis zum 9. Mai 1945, gebündelt abrufbar unter: https://www.kunstdatenbank.at/gesetze. Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 176. Der 12. März 1938 war der frühestmögliche Zeitpunkt einer Entziehung, s. Jungwirth, NS-Restitutionen, 2008, S. 29 f.; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 81. In den ersten beiden Entwürfen zum 3. RStG war noch vorgesehen, dass auch eine Veräußerung zwischen dem 11. und 13. März 1938 eine Entziehung darstellen konnte, wenn glaubhaft gemacht wurde, dass die Veräußerung durch die drohende nationalsozialistische Herrschaft motiviert worden war, vgl. Bailer-Galanda, Entstehung, 2003, S. 93. ORK, Entscheidung v. 17.12.1949 – Rkv 439/49; vgl. ORK, Entscheidung v. 24.01.1953 – Rkv 224/52; Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 176; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 129 f. S. dazu Weller/Dewey, KUR 2019, 170, 173.

126  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

George Grosz gab das verfahrensgegenständliche Gemälde im April 1931 in Deutschland dem als ›Jude‹ definierten Kunsthändler und -sammler Alfred Flechtheim in Kommission. Zwecks Ausstellung und Verkauf des Gemäldes wurde es 1936 von Flechtheim einer Amsterdamer Kunsthandlung übergeben, jedoch ließ es sich in den Niederlanden nur schwer verkaufen. Nach Flechtheims Tod wurden die Werke im Februar 1938 in den Niederlanden versteigert. Der Beirat verneint hier den Tatbestand des § 1 Nr. 2 KRG a.F., da sämtliche als Entziehung in Betracht kommenden Handlungen »vor dem im Nichtigkeitsgesetz angeführten Zeitpunkt«, dem 13. März 1938, erfolgten, nämlich zwischen 1936 und Februar 1938.701 Auf den ersten Blick ließe sich dieser Aussage zumindest eine Tendenz zu einer Befolgung des starren Datums des ›Anschluss‹ am 13. März 1938 entnehmen.702 Doch verfügt der Beirat erst seit Abschluss des Zuckerkandl-Verfahrens von 2008 überhaupt über ein Problembewusstsein bezüglich der Divergenzen in den Entziehungsbegriffen von NichtigkeitsG und Rückstellungsgesetzen, sodass eine wenn überhaupt abzuleitende Tendenz mittlerweile als überholt zu betrachten ist. 2. Von der ›Machtergreifung‹ zur Kapitulation als zeitlicher Rahmen

Mit dem im Zuge der Novelle 2009 eingeführten § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG wurde der zeitliche Rahmen der vom KRG erfassten Entziehungen auf den Zeitraum vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 ausgeweitet.703 Entscheidend wurde damit, dass der Verlust während des Gesamtzeitraumes der nationalsozialistischen Herrschaft eintrat, stets kumulativ mit dem entsprechenden örtlichen Bezug. Der Beirat beschäftigt sich allein im Beschluss zu Raoul Hausmann ausdrücklich mit einem Verlust nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft. Der in Berlin lebende Künstler Raoul Hausmann wurde aus verschiedenen Gründen verfolgt: Er war mit als ›Juden‹ definierten Frauen liiert, galt als linker Künstler und sein Werk wurde nach der nationalsozialistischen Ideologie als ›entartet‹ betrachtet. Die verfahrensgegenständlichen Zeichnungen erwarb das Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien 1961 von der Witwe des Künstlers László Moholy-Nagy, Sibyl MoholyNagy. Es bestand Uneinigkeit zwischen Sybil Moholy-Nagy und Raoul Hausmann hinsichtlich der Bedingungen, unter denen Moholy-Nagy die Zeichnungen erhalten hatte. Jedenfalls ist jedoch aus einschlägigen Korrespondenzen der Zeit erkennbar, dass die Zeichnungen bis 1946 im Eigentum Hausmanns standen. Da sich aus den Korrespondenzen ergibt, dass Raoul Hausmann bis 1946 Eigentümer der verfah­ rensgegenständlichen Zeichnungen war, könne nach Ansicht des Beirats festgestellt werden, dass Hausmann bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft am 8. Mai 1945 die Verfügungsmacht über diese Zeichnungen innegehabt habe. Dementsprechend sei keine Entziehung

701 Beschl. zu Alfred Flechtheim/George Grosz v. 29.03.2006, S. 2.

702 Da im Zeitpunkt der ersten Auseinandersetzung des Beirats mit diesem Fall noch nicht der erweiterte Anwendungsbereich

des § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG zur Verfügung stand, untersuchte der Beirat den Fall nicht über den zeitlichen Anwendungsbereich hinaus auch in örtlicher Hinsicht. 703 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 2.

127  B. Der zeitliche und örtliche Rahmen der Entziehung

anzunehmen.704 Die Ausweitung des zeitlichen Rahmens der nationalsozialistischen Herrschaft im Zuge der Novelle hatte eine Wiederaufnahme des bereits geschilderten Falles Alfred Flechtheim/George Grosz zu Folge: Schließlich konnten nun auch Handlungen zwischen 1936 und März 1938 erfasst sein. Doch scheiterte die Restitution dann am – nachfolgend erläuterten – örtlichen Rahmen, denn zwischen 1936 und Februar 1938 waren die Niederlande noch nicht vom nationalsozialistischen Regime besetzt.705 Hier wird deutlich, dass die zumeist entscheidende Problematik im örtlichen Rahmen der nationalsozialistischen Herrschaft liegt. Allein in zeitlicher Hinsicht problematische Fälle – etwa aufgrund eines Verlusts in den ersten oder letzten Tagen der je nach Ortsbezug bestehenden nationalsozialistischen Herrschaft – waren auch nach der Novelle bisher nicht Gegenstand der Überlegungen des Beirats. Aus dem Beschluss zu Betty Blum von 2016 folgt bloß die Tendenz, dass bei der Prüfung einer Entziehung auch zu berücksichtigen sei, dass (zukünftig) verfolgte Personen, besonders kurz vor Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, von dieser Entwicklung beeinflusst sind. Das gelte in besonderem Maße, wenn sie bereits aus einem nationalsozialistisch beherrschten in einen zunächst sicheren, dann aber ebenfalls beherrschten Staat geflüchtet sind.706 Dies spricht für ein eher weites Verständnis des zeitlichen Rahmens.

II. Der örtliche Rahmen Dementsprechend umfassend sind die Ausführungen des Beirats zum örtlichen Rahmen einer Entziehung im Sinne der Tatbestände aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG, der ebenso wie der zeitliche Rahmen nach Nummer 2 und Nummer 2a getrennt dargestellt wird. Als örtliche Anknüpfungspunkte einer Entziehung dienen grundsätzlich gemäß dem Rückstellungsrecht 707 alternativ der Aufenthaltsort der Eigentümer:innen sowie der Belegenheitsort des Kulturguts im Zeitpunkt des Verlustes. Im Regelfall befanden sich Eigentümer:innen und Kulturgut aber an einem Ort. Die Alternativität zwischen Aufenthaltsort und Belegenheitsort bei einer örtlichen Divergenz von Eigentümer:innen und Kulturgut entnahm die Rückstellungsrechtsprechung der Londoner Erklärung. Diese erforderte, dass das zu restituierende Vermögen in einem von den Achsenmächten besetzten oder kontrollierten Gebiet belegen war oder die ursprünglichen Eigentümer:innen in diesem Gebiet wohnhaft waren. Insoweit irritiert zunächst, dass die Rückstellungsrechtsprechung vereinzelt in ihren Ausführungen auch auf den Ort der den Verlust bedingenden Druckausübung abstellte. Doch wird schnell deutlich, dass diese Fälle stets zumindest auch Vermögenswerte erfassten, die innerhalb des territorialen Anwendungsbereichs belegen waren und nur der Vertragsschluss außerhalb erfolgte.708

704 Beschl. zu Raoul Hausmann v. 29.11.2022, S. 6 f.

705 Beschl. zu Alfred Flechtheim/George Grosz v. 08.03.2013, S. 2 f. 706 Beschl. zu Betty Blum v. 05.10.2016, S. 2 f.

707 ORK, Entscheidung v. 19.07.1952 – Rkv 159/52, JBl 1952, 596, 596. Dieser Entscheidung ging ein Streit in der Literatur

voraus, s. Schwind, JBl 1949, 231, 231 ff.; Wahle, ÖJZ 1950, 27, 27 ff.; Schwind, ÖJZ 1950, 79, 79 ff. Die Rechtsprechung folgte Wahle, anknüpfend an die vorherige Judikatur, s. ORK, Entscheidung v. 21.01.1948 – Rkv 7/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 17, S. 59; ORK, Entscheidung v. 15.01.1949 – Rkv 9/49, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 322, S. 157. Ein gelungener Überblick über den Streit findet sich bei Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 130 ff. 708 ORK, Entscheidung v. 30.06.1951 – Rkv 187/51; ORK, Entscheidung v. 21.06.1952 – Rkv 112/52; ORK, Entscheidung v. 19.07.1952 – Rkv 159/52, JBl 1952, 596, 596; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 130 ff.

128  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

In der Empfehlungspraxis des Beirats findet sich zwar kein Fall, in dem sich die Eigentü­ mer:innen weiterhin im Inland aufhalten, aber das Vermögen bereits im Ausland belegen ist. Doch scheint der Beirat theoretisch diese Alternativität der Anknüpfungspunkte auch für § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG gelten zu lassen, da er die einschlägige Rückstellungsrechtsprechung709 zitiert.710 Demgegenüber ist er gelegentlich mit Fällen konfrontiert, in denen sich die Eigentümer:innen bereits in einem nicht nationalsozialistisch beherrschten Land (»sicherer Drittstaat«) aufhielten, die betreffenden Kulturgüter aber im beherrschten Gebiet verblieben waren.711 Andernfalls würde der Beirat einen Großteil der Fälle nicht erfassen, da regelmäßig der hoheitliche Zugriff auf das Vermögen an die Flucht der Eigentümer:innen geknüpft war.712 Die Empfehlungspraxis des Beirats erfasst dabei sogar die Konstellation, dass die ursprünglichen Eigentümer:innen zwar bereits vor dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft emigriert waren. Aber zugleich verfügten sie noch über von der Ausfuhr gesperrtes Vermögen im anschließend beherrschten Gebiet und veräußerten dieses aus dem sicheren Drittstaat über Vermittlung im nationalsozialistisch beherrschten Gebiet, wie der Beschluss zu Wilhelm Freund illustriert. Der Kunstsammler Wilhelm Freund lebte bis 1936 in Wien, bevor er nach London und anschließend in die USA emigrierte. 1938 stellte der als ›Jude‹ definierte Freund aus London einen Ausfuhrantrag für seine in Wien verbliebene Kunstsammlung, der jedoch partiell abgelehnt wurde. Unter den für eine Ausfuhr verbotenen Objekten befanden sich auch die beiden verfahrensgegenständlichen Gemälde. Über die Vermittlung eines Wiener Anwalts erwarb die Österreichische Galerie Belvedere von Freund diese beiden Gemälde. Wie selbstverständlich auch die Erfassung dieser Fälle ist, beweist der Umstand, dass der Beirat in diesem Beschluss nicht einmal von seinem standardisierten Textbaustein zur Entziehung abweicht; er sieht also keine Begründungspflicht zur Erfassung dieser Fälle vorzeitiger Emigration.713 Unzweifelhaft ist daher allein der Belegenheitsort des Kulturguts im örtlichen Rahmen der nationalsozialistischen Herrschaft als Anknüpfungspunkt ausreichend, ungeachtet der Emigration der Eigentümer:innen vor dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft.714 In Kenntnis der möglichen Anknüpfungspunkte ist nun zu bestimmen, welche Gebiete unter den örtlichen Rahmen der nationalsozialistischen Herrschaft fallen. Der genaue Umfang des örtlichen Rahmens wird nachfolgend zunächst für § 1 Abs. 1 Nr. 2 KRG, der sich auf das »besetzte« Österreich begrenzt, konkretisiert, bevor der auf den gesamten nationalsozialistischen Herrschaftsbereich erweiterte örtliche Rahmen der Entziehung gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG untersucht wird. 709 ORK, Entscheidung v. 30.10.1948 – Rkv 177/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 267, S. 65.

710 Etwa im Beschl. zu Leo und Elise Smoschewer v. 30.10.2002, S. 2. Die fehlende Konfrontation des Beirats mit diesem Sze-

nario ist vermutlich auf den Umstand zurückzuführen, dass Kunstwerke als Mobilien zumeist in der Nähe des Wohnortes gelagert oder sogar im Wohnsitz verwendet wurden. Den Regelfall dieses Szenarios stellten also Immobilien außerhalb der besetzten Gebiete dar, die beispielsweise als Druckmittel gegenüber der sich innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs befindlichen Person verwendet wurden. 711 S. nur Beschl. zu Emma Schiff-Suvero v. 10.04.2002, S. 2 f.; Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 2, 11. 712 S. zur Verknüpfung zwischen hoheitlichem Zugriff und Flucht unter § 7 F.II.1.b), S. 208. 713 Beschl. zu Wilhelm Freund v. 30.10.2002, S. 2 f. 714 So auch Beschl. zu Alice Lilli Rona v. 20.03.2009, S. 2; Beschl. zu Marie u. Alfons Thorsch v. 04.05.2017, S. 1; Beschl. zu Fritz Illner v. 18.10.2019, S. 1.

129  B. Der zeitliche und örtliche Rahmen der Entziehung

1. Das »besetzte« Österreich als örtlicher Rahmen

Um den konkreten Umfang des örtlichen Rahmens einer Entziehung im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 KRG zu bestimmen, ist erneut zunächst ein Abgleich zwischen dem Rückstellungsrecht und § 1 NichtigkeitsG vorzunehmen. Nach § 1 NichtigkeitsG muss die maßgebliche Rechtshandlung »während der deutschen Besetzung Österreichs« erfolgt sein, was nach den Gesetzesmaterialien des NichtigkeitsG als eine Begrenzung seines örtlichen Anwendungsbereichs auf das »besetze« Österreich zu verstehen ist.715 Da das NichtigkeitsG dieses Merkmal – anders als den zeitlichen Rahmen – jedoch über die Gesetzesmaterialien hinaus nicht weiter durch eine eigene Judikatur konkretisierte, ist hier umgehend das 3. RStG zur Konkretisierung heranzuziehen. Dieses forderte in § 1 Abs. 1 3. RStG ebenfalls einen Vermögensverlust »während der deutschen Besetzung Österreichs« und konturierte mit einer umfangreichen Judikatur diese Formulierung als nicht nur zeitliche, sondern auch örtliche Begrenzung.716 In ihrem für den örtlichen Rahmen relevanten Wortlaut des »besetzten« Österreichs sind damit – im Gegensatz zum zeitlichen Rahmen – das NichtigkeitsG und 3. RStG vollkommen deckungsgleich. Vom Wortlaut des § 1 Abs. 1 Nr. 2 KRG sind folglich nur Entziehungen innerhalb des »besetzten« Österreichs erfasst. Gleichwohl subsumierte der Beirat vor Inkrafttreten der Novelle 2009 auch noch Verluste außerhalb Österreichs, aber im ›Altreich‹ und damit innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs, unter den Tatbestand des § 1 Nr. 2 KRG a.F., den heutigen § 1 Abs. 1 Nr. 2 KRG, so etwa im Beschluss zu Siegfried Lämmle. Die Gestapo‹ beschlagnahmte 1938 in München die Sammlung des als ›Jude‹ definierten Kunsthändlers Siegfried Lämmle und übergab einen Teil dem Münchener Auktionshaus Adolph Weinmüller. Die verfahrensgegenständlichen Zeichnungen wurden bei einer Auktion des Unternehmens am 9. und 10. März 1939 versteigert und von der Alber­ tina erworben. Der Beirat wendet in diesem Beschluss ohne nähere Begründung § 1 Nr. 2 KRG a.F. direkt an, obwohl Lämmle sich im Zeitpunkt des Verlusts mangels gegenläufiger Hinweise nicht in Österreich befand und das Kulturgut zwecks Versteigerung in München belegen war. Beide möglichen Anknüpfungspunkte lagen im ›Altreich‹, also außerhalb des Gebiets der Republik Österreich und damit auch des eigentlichen Anwendungsbereichs des Tatbestandes. Dies übersieht der Beirat offenbar, stellt er doch ausdrücklich fest, dass die Einbringung der Zeichnung zur Auktion durch die ›Gestapo‹ in München eine Entziehung im Sinne des 3. RStG darstelle, ohne aber auf die örtlichen Voraussetzungen einer Entziehung weiter einzugehen.717 Der wenige Monate später gefasste Beschluss zu Gustav und Claire Kirstein, ebenfalls einen Verlust im ›Altreich‹ betreffend, enthält zumindest eine Begründung der direkten Anwendung des Tatbestandes. Diese weist jedoch erhebliche juristische Mängel auf: Insbesondere 715 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 83, V. GP, S. 45 f.; Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1,

1946, S. 90 ff.

716 ORK, Entscheidung v. 30.10.1948 – Rkv 177/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 267, S. 65;

ORK, Entscheidung v. 15.01.1949 – Rkv 6/49, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 322, S. 157; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 131; Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 90 f. 717 Beschl. zu Siegfried Lämmle v. 10.10.2000, S. 1 f.

130  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

verkennt der Beirat die bereits dargelegte Deckungsgleichheit des Wortlauts von § 1 NichtigkeitsG und § 1 Abs. 1 3. RStG in örtlicher Hinsicht. Dass auch der Beirat von seinen eigenen Ausführungen nicht vollumfänglich überzeugt ist, zeigt die nachfolgende, in der Empfehlungspraxis singuläre, unsichere Formulierung: »Folge man dieser Interpretation, können die Sachverhaltsvoraussetzungen des Tatbestandes […] als erfüllt angesehen werden«718. Er hält es dementsprechend offenbar auch für möglich, einer anderen Interpretation zu folgen. Diese wird jedoch nicht weiter erläutert, sodass der Vorzug der gewählten Interpretation unklar bleibt. Zusammenfassend war § 1 Nr. 2 KRG a.F. – und dies gilt weiterhin für § 1 Abs. 1 Nr. 2 KRG – lediglich auf Entziehungen im Gebiet des »besetzten« Österreichs anwendbar. Dennoch wandte der Beirat entgegen der grammatikalischen und historischen Auslegung den Tatbestand des § 1 Nr. 2 KRG a.F. in seiner anfänglichen Empfehlungspraxis direkt auf außerhalb Österreichs, aber innerhalb des ›Altreichs‹ erfolgte Verluste an. Diese Praxis überschreitet deutlich die Grenzen der Auslegung und bezeugt die anfänglich noch mangelhafte, dogmatische Auseinandersetzung des Beirats mit dem Nachkriegsrecht. Die wenig später vom Beirat mit höchster dogmatischer Präzision entwickelte analoge Anwendung des § 1 Nr. 2 KRG a.F. bildet die Grund­ lage der Integration außerhalb Österreichs, aber innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs, verlorener Kulturgüter im Zuge der Novellierung. 2. Der nationalsozialistische Herrschaftsbereich als örtlicher Rahmen

Mit der Einführung des § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG in der Novelle des KRG wird die Rückgabemöglich­ keit von außerhalb Österreichs, aber innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs verlorenen Kulturgütern ausdrücklich im Gesetz verankert. Dieser Normierung liegt eine langjäh­ rige analoge Anwendung des § 1 Nr. 2 KRG a.F. zugrunde, die im Anschluss an die zuvor erläuter­ ten, in ihrer Begründung fehlerhaften Beschlüsse entwickelt wurde. Der Beirat hatte offenbar letztlich erkannt, dass eine direkte Anwendung des § 1 Nr. 2 KRG auf außerhalb Österreichs ver­ lorene Kulturgüter die Grenzen der Auslegung überschreitet und nur eine analoge Anwendung der Vorschrift in Betracht kommt. Diese analoge Anwendung des § 1 Nr. 2 KRG a.F. ist identisch mit dem örtlichen Rahmen des § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG und bildet so die Überleitung zur Novelle. Erstmals wurde dieser örtliche Rahmen im Beschluss zu Leo und Elise Smoschewer herausgearbeitet, der zugleich ein Beispiel für die ausgesprochen präzise Dogmatik des Beirats ist. Der Fabrikant Leo Smoschewer war Eigentümer einer bedeutenden Kunstsammlung in Breslau, darunter das verfahrensgegenständliche Gemälde. Smoschewer verstarb bereits 1938, sein gesamtes Vermögen wurde nach dem Tod der als ›Jude‹ definierten Witwe, Elise Smoschewer, im Mai 1939 beschlagnahmt und einem Museum in Breslau ausgehändigt. Dieses verkaufte das Gemälde zunächst an einen Kunsthändler, der es an eine Galerie veräußerte, von der es wiederum die Österreichische Galerie Belvedere im November 1940 erwarb. Während der Beirat im Beschluss zu Gustav und Claire Kirstein noch verkennt, dass NichtigkeitsG und 3. RStG in örtlicher Hinsicht über denselben Wortlaut (»während der deutschen 718 Beschl. zu Gustav u. Claire Kirstein v. 23.01.2001, S. 3; so auch im Beschl. zu Michael Berolzheimer v. 10.05.2001, S. 6 f. In

Ansätzen kritisch jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 197 f.

131  B. Der zeitliche und örtliche Rahmen der Entziehung

Besetzung Österreichs«) verfügen, stellt er diese Identität des örtlichen Rahmens im Beschluss zu Leo und Elise Smoschewer ausdrücklich fest: Da NichtigkeitsG und 3. RStG »die idente Wortgruppe […] verwendet« haben,719 zieht er erstmals die Rechtsprechung720 zum 3. RStG zur Bestimmung des örtlichen Rahmens einer Entziehung heran: Demnach habe das »Nichtigkeitsgesetz […] infolge seines örtlichen Anwendungsbereichs nicht die in diesem Fall außerhalb des Gebietes der Republik Österreich erfolgte Entziehungshandlung« umfasst. Dieser Nachkriegsrechtsprechung sei daher eine eindeutige Begrenzung auf das Gebiet der Republik Österreich vor dem ›Anschluss‹ zu entnehmen, die auch für § 1 Nr. 2 KRG a.F. gelte. Eine über den Wortlaut hinausgehende Auslegung des § 1 Nr. 2 KRG a.F., um auch Veräußerungen im gesamten Herrschaftsbereich zu erfassen, lehne der Beirat aufgrund der ausdrücklich widersprechenden Rechtsprechung und Kommentierung aus der Nachkriegszeit sowie des Wortlauts der Vorschriften aus NichtigkeitsG und 3. RStG ab.721 Die Grenzen der Auslegung erreichend, untersucht der Beirat anschließend die analoge Anwendung des § 1 Nr. 2 KRG a.F.722 Die für eine Analogie erforderliche, planwidrige Regelungslücke im KRG sei dem Beirat zufolge anzunehmen, da das Gesetz den Fall der Entziehung im außerhalb Österreichs liegenden nationalsozialistischen Herrschaftsbereich nicht regle. Zugleich habe die Legislative mit dem KRG beabsichtigt, rechtliche Grundlagen für die Restitution von sämtlichen Kulturgütern, »welche im Zuge oder als Folge der NS-Gewaltherrschaft in das Eigentum des Bundes gelangt sind«,723 zu gestalten. Aus der fehlenden Regelung könne daher kein fehlender Regelungswille geschlossen werden. Denn hätte die Legislative das hier geschilderte Szenario der Entziehung im sonstigen nationalsozialistischen Herrschaftsbereich vor Augen gehabt, so wäre dieses in die Tatbestände des KRG integriert worden. Auch die für eine Analogie ebenfalls erforderliche vergleichbare Interessenslage zwischen innerhalb des gesamten nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs und ausschließlich innerhalb Österreichs erfolgten Entziehungen liege dem Beirat zufolge vor, da diverse andere europäische Länder dem NichtigkeitsG vergleichbare Regelungen getroffen haben. Daher gebiete der Gleichheitssatz eine Subsumtion des vorliegenden Sachverhalts unter den § 1 Nr. 2 KRG a.F. analog.724 Vom Beirat nicht miteinbezogen, aber gleichwohl zu berücksichtigen, ist der Umstand, dass heutzutage die Belegenheit des Kulturguts für die Auswahl eines Restitutions­regimes maßgeblich ist. Demgegenüber waren in der Nachkriegszeit auch Rückgaben oder Kompensationen für in Österreich belegene, aber anderswo entzogene Objekte möglich, etwa eine Entschädigung durch die Bundesrepublik Deutschland.725 Im Gegensatz zum Nachkriegsrecht besteht somit heute kein »Auffangmechanismus« für in Österreich belegene Kulturgüter durch weitestgehend

719 Beschl. zu Leo u. Elise Smoschewer v. 30.10.2002, S. 2.

720 ORK, Entscheidung v. 30.10.1948 – Rkv 177/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 267, S. 65;

721

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724 725

ORK, Entscheidung v. 15.01.1949 – Rkv 6/49, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 322, S. 157; s. dazu Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 131; Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 90 f. Beschl. zu Leo u. Elise Smoschewer v. 30.10.2002, S. 2 f. S. zu den Analogievoraussetzungen unter § 3 A., S. 25. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 3. Beschl. zu Leo und Elise Smoschewer v. 30.10.2002, S. 3 f. ORK, Entscheidung v. 30.10.1948 – Rkv 177/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 267, S. 66; Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 244, V. GP, in: Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 140, 144.

132  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

äquivalente Regeln in anderen Jurisdiktionen.726 An der aus diesen Gründen offenkundig gebotenen, analogen Anwendung des § 1 Nr. 2 KRG a.F. hat der Beirat bis zur Novelle 2009 in ständiger Empfehlungspraxis festgehalten, wobei er nicht immer explizit auf die Analogie hinweist.727 Seit der Novelle dient der § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG als Tatbestand für die zuvor durch eine analoge Anwendung der Nummer 2 erfassten Fälle,728 also für außerhalb Österreichs, aber innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs verlorene Kulturgüter. Die Erweiterung durch Nummer 2a zeigt deutlich, dass die österreichische Republik Kunstrückgabe nicht allein als »staatshaftungsrechtliche« Aufgabe versteht, indem sie nur Entziehungen auf ihrem eigenen Gebiet erfasst, sondern als einen die eigene Verantwortlichkeit überschreitenden Auftrag. Unter diese nun durch das KRG erfassten Verluste innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsgebiets fallen laut den Gesetzesmaterialien – unter Bezugnahme auf den Beschluss zu Smoschewer – »sämtliche Entziehungen […] im nationalsozialistischen Deutschen Reich und in den von diesem beherrschten Gebieten […]. Als beherrschte Gebiete sind neben dem eigentlichen Staatsgebiet, also beispielsweise ab 1935 einschließlich des Saarlandes, auch jene Gebiete zu verstehen, die durch vom Deutschen Reich unmittelbar eingesetzte Dienststellen beherrscht wurden (etwa das so genannten [sic] ›Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete‹ und das so genannte ›Reichsprotektorat Böhmen und Mähren‹).«729 Dementsprechend bejahte der Beirat den Anwendungsbereich des § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG im Beschluss zu Leon de Vaux, dessen Archivalien 1940 im ›Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete‹ beschlagnahmt wurden.730 Gleiches gilt für den Verkauf im ›Reichsprotektorat Böhmen und Mähren‹731 sowie für die Entziehung im ›Reichsgau Sudentenland‹732. Freilich waren auch Entziehungen innerhalb des ›Altreichs‹ als »eigentliches Staatsgebiet« erfasst,733 wie allein der Beschluss zu Alice und Carl Bach von 2017 zeigt: Deren Sammlung war bereits Gegenstand eines Beschlusses von 2006 und fiel damals noch unter § 1 Nr. 2 KRG a.F. analog.734 Zwar wird die besetzte Zone Frankreichs nicht ausdrücklich in den Gesetzesmaterialien der Novelle als erfasstes Gebiet genannt, doch problematisiert der Beirat diese fehlende Erwähnung im Beschluss zu Ernst Bunzl betreffend eine dortige Beschlagnahme mit keinem Wort. Daraus kann nur gefolgert werden, dass auch die besetzte Zone Frankreichs unter ein vom Deutschen Reich »beherrschtes Gebiet« fällt; die Aufzählung in den Gesetzesmaterialien ist mithin nicht abschließend.735 726 Damit lässt sich auch das Argument des Beirats erklären, dass jede »andere Auslegung des örtlichen Geltungsbereiches […]

727 728 729

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auch im Wiederspruch zu grundsätzlichen Regeln des Völkerrechts« stünde, das der Beirat stellvertretend für die Begrenzung im Nachkriegsrecht anführt, aber nicht weiter ausführt, s. Beschl. zu Leo u. Elise Smoschewer v. 30.10.2002, S. 2. Beschlüsse zu Arthur Feldmann v. 14.12.2005, S. 2, u. 03.10.2008, S. 4; Beschl. zu Jacques Goudstikker v. 14.12.2005, S. 2; Beschl. zu Alice u. Carl Bach v. 08.11.2006, S. 2. Interessanterweise bezieht sich der Beirat bereits im Beschl. zu Ludwig Mayer v. 20.11.2009, S. 3, anstatt auf § 1 Nr. 2 KRG a.F. analog auf § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG, obwohl dieser noch nicht in Kraft getreten, wohl aber bereits beschlossen, war. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 3 f. Beschl. zu Leon de Vaux v. 20.04.2012, S. 1 f. Zum ›Reichsprotektorat Böhmen und Mähren‹ s. Beschl. zu Valerie Heissfeld v. 02.03.2012, S. 3. Beschl. zu Maria Wesselski v. 29.11.2022, S. 8. Beschl. zum Deutschen Orden v. 14.06.2019, S. 2. Beschl. zu Ella Lewenz v. 15.04.2011, S. 3; Beschl. zu Marianne Schmidl v. 08.03.2013, S. 3; Beschl. zu Otto Feist v. 03.05.2013, S. 3; Beschl. zu Emma Budge v. 08.10.2013, S. 2; Beschl. zu Max u. Martha Liebermann v. 15.05.2014, S. 3; Beschl. zu Ida Baer v. 03.07.2014, S. 2 f.; Beschl. zu Siegfried Julius v. 03.07.2014, S. 2 f.; Beschl. zu Adele Pächter v. 03.07.2014, S. 3 f.; Beschl. zu Rudolf Mosse v. 16.03.2018, S. 3. Beschl. zu Alice u. Carl Bach v. 17.03.2017, S. 2; ebenso Beschl. zu Michael Berolzheimer v. 15.06.2018, S. 2. Beschl. zu Ernst Bunzl v. 11.01.2019, S. 4.

133  B. Der zeitliche und örtliche Rahmen der Entziehung

Der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG ist – wie bereits der Partikel »etwa« aus den Gesetzesmaterialien vermuten lässt736 – auf sämtliche innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs erfolgten Verluste anwendbar. Durch die Novelle sind daher die örtlichen Rahmen der Entziehung in den beiden Tatbeständen eindeutig ab­gesteckt: § 1 Abs. 1 Nr. 2 KRG erfasst allein Verluste innerhalb Österreichs, während sich § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG auf den gesamten nationalsozialistischen Herrschaftsbereich außerhalb Öster­reichs erstreckt. 3. Ausschluss der Gebiete außerhalb des Herrschaftsbereichs

Fraglich bleibt dann aber, ob der örtliche Rahmen von § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG auch Gebiete außer­ halb des nationalsozialistischen Herrschaftsgebiets erfasst. Dies betrifft Fälle, bei denen sich im Zeitpunkt des Verlusts die beiden Anknüpfungspunkte Eigentümer:in und Kulturgut außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs befanden. Diese Fallgruppe wird regelmäßig als »Fluchtgut« bezeichnet.737 In dieser Arbeit wird aber von einer Verwendung des Begriffs, der ursprünglich bloß zur historischen Kategorisierung und nicht zur juristischen Beurteilung geschaffen wurde,738 abgesehen, da er mittlerweile verschiedentlich aufgegriffen und für ein buntes Konglomerat unterschiedlicher Sachverhaltskonstellationen verwendet wird.739 Zur Bezeichnung der einschlägigen Fälle wird an der technischen Formulierung »Verluste außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs« festgehalten. Die zu diesen Sachverhaltskonstellationen untersuchten Beschlüsse des Beirats zeigen eindeutig, dass er die Restitution von unter solchen Umständen verlorenen Kulturgütern ausnahmslos ablehnt. 740 Der erste Beschluss, der sich mit dieser Fallgruppe ausdrücklich auseinandersetzt, ist der Beschluss zu Hugo Simon. Der ehemalige preußische Finanzminister und Berliner Bankier Hugo Simon wurde als ›Jude‹ definiert und flüchtete sowohl aufgrund dieser antisemitischen als auch der politischen Verfolgung als ehemaliger Minister der Weimarer Republik bereits im März 1933 nach Frankreich. Im August 1939 ließ Hugo Simon einen Teil der Kunstsammlung in Luzern versteigern. Die beiden verfahrensgegenständlichen Gemälde wurden anschließend jedoch durch den Auktionator selbst übernommen. Bereits Monate vor der Versteigerung war der Berliner Kunsthändler Karl Haberstock, der im Auftrag des natio736 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 4.

737 So Aronowitz-Mercer, in: Mosimann/Schönenberger (Hrsg.), Fluchtgut, 2015, S. 129, 130; Campfens, AAL 2017, 315, 329 ff.;

Weller/Dewey, KUR 2019, 170, 172 f.; Heuß/Heuß, KUR 2019, 101, 102 f.; Weller, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.), Guide, 2019, S. 9, 13; Gramlich/Thielecke, in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 15, 18; Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 73. 738 Tisa Francini et al., Fluchtgut – Raubgut, 2001, S. 25; Tisa Francini, in: Mosimann/Schönenberger (Hrsg.), Fluchtgut, 2015, S. 25, 25 ff.; Heuß/Heuß, KUR 2019, 101, 102; Buomberger, KUR 2020, 2, 2. 739 Für Veräußerungen von außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs befindlichen Eigentümer:innen und Kulturgütern s. Aronowitz-Mercer, in: Mosimann/Schönenberger (Hrsg.), Fluchtgut, 2015, S. 129, 130; Campfens, AAL 2017, 315, 329 ff.; Weller/Dewey, KUR 2019, 170, 172 f. Für Veräußerungen von innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs befindlichen Eigentümer:innen und Kulturgütern s. bloß Anton, Kulturgüterverkehr, 2010, S. 401 ff. Berechtigterweise kritisch zur Debatte: Tisa Francini, in: Mosimann/Schönenberger (Hrsg.), Fluchtgut, 2015, S. 25, 28; Heuß/Heuß, KUR 2019, 101, 102. 740 Dementsprechend unberechtigt war damit die Befürchtung der Kärtener Landesregierung, dass mit der Novelle auch zwischen 1933 und 1938 in Österreich veräußertes Kulturgut aus dem Eigentum »reichsdeutscher« Geflüchteter erfasst sei (Stellungnahme Kärnten zum Ministerialentwurf v. 27.08.2008, 11/SN-214/ME XXIII. GP, S. 2), da Österreich bis März 1938 noch sicherer Drittstaat war.

134  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

nalsozialistischen Regimes auftrat, auf die Gemälde aufmerksam geworden. Er stellte den Kontakt zur Österreichischen Galerie Belvedere her, die vom Auktionator nach der Versteigerung umgehend kontaktiert wurde. Im Tausch gegen vier andere Werke übereignete er der Österreichischen Galerie Belvedere im Februar 1940 unter anderem die in Rede stehenden Gemälde. Der Beirat lehnt eine Entziehung der verfahrensgegenständlichen Gemälde ab, da sich die beiden Gemälde »außerhalb des NS-Herrschaftsbereichs, nämlich in der Schweiz«, befanden. Unerheblich sei dabei, dass »nicht ausgeschlossen werden [könne], dass Hugo Simon die gegen­ ständlichen Werke ohne die verfolgungsbedingte Flucht zu einem anderen Preis oder unter sonst anderen Umständen oder auch gar nicht veräußert hätte.«741 Mithin erkennt der Beirat einen etwaigen Kausalzusammenhang zwischen nationalsozialistischer Herrschaft und Verlust an, dieser kann jedoch mangels örtlichen Rahmens einer Entziehung keine Anwendung des § 1 Nr. 2 KRG a.F. begründen. Zwar bestehe dem Beirat zufolge anders als in der Rückstellungsrechtsprechung für das KRG keine örtliche Begrenzung auf in Österreich verlorene Kulturgüter. Allerdings erscheint die »Beurteilung eines Rechtsgeschäfts, welches eindeutig außerhalb des NS-Herrschaftsbereichs erfolgte, […] auch im Zusammenhang mit der für das Kunstrückgabegesetz gebotenen weiten Auslegung im Grundsatz weder nach dem Wortlaut des Gesetzes noch nach den parlamentarischen Materialien geboten.«742 Dabei ist anzumerken, dass der Beschluss von 2008 noch auf § 1 Nr. 2 KRG a.F. (analog) beruhte, da § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG noch nicht in Kraft getreten war. Mit dessen Inkrafttreten wurde die Wertung aus dem Beschluss zu Hugo Simon gleichwohl bestätigt. Denn der Wortlaut des § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG ist eindeutig: Es werden nur Vermögensverluste »im Herrschaftsgebiet des Deutschen Reichs« erfasst. Nach der Erweiterung des örtlichen Anwendungsbereichs im Zuge der Novelle lehnt der Beirat also weiterhin eine Anwendung des KRG auf außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsgebiets verlorene Kulturgüter ab, wie der Beschluss zu Valerie und Lotte Heissfeld743 sowie der wiederaufgenommene Fall George Grosz/Alfred Flechtheim zeigen. Auch in diesem Beschluss führt der Beirat aus, dass zwar »nicht ausgeschlossen werden [könne], dass George Grosz und Alfred Flechtheim ohne die 1933 erfolgte Machtergrei­fung der Nationalsozialisten in Deutschland rechtsgeschäftlich anders über das Gemälde verfügt hätten«. Allein in diesem Umstand könne indes noch keine Tatbestandserfüllung liegen.744 Der Beirat macht also erneut deutlich, dass er sich des Kausalzusammenhanges bewusst ist, dieser aber bei Verlusten außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsgebiets – hier in den Niederlanden vor 1940 – ausdrücklich nicht den örtlichen Rahmen der Entziehung aushebeln kann. Genauso entscheidet der Beirat im Beschluss zu Julius Freund, wo sich die verfahrensgegenständlichen Werke in der Schweiz und die Eigentümerin in Südamerika befanden, obwohl die Werke sogar für das ›Führermuseum‹ erworben wurden und sich damit ein Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft geradezu aufdrängt.745 Entscheidend ist 741 Beschl. zu Hugo Simon v. 21.11.2008, S. 3. 742 Ebenda.

743 Diskutiert wird dort eine Veräußerung in London, s. Beschl. zu Lotte u. Valerie Heissfeld v. 02.03.2012, S. 3. 744 Beschl. zu George Grosz/Alfred Flechtheim v. 08.03.2013, S. 3.

745 Beschl. zu Julius Freund v. 23.06.2016, S. 3 f.; a.A. Empfehlung der deutschen Beratenden Kommission zu Julius Freund

v. 12.01.2005, S. 1, abrufbar unter: https://www.beratende-kommission.de/Content/06_Kommission/DE/Empfehlungen/05–01–12–Empfehlung-der-Beratenden-Kommission-im-Fall-Freund-Deutschland.pdf ?__blob=publicationFile&v=6.

135  B. Der zeitliche und örtliche Rahmen der Entziehung

auch unter diesen Umständen erneut allein der Belegenheitsort des Kulturguts oder der Aufenthaltsort der Eigentümer:innen innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsgebietes. Es spielt mithin auch keine Rolle, wer oder wo die Erwerber:innen des verfahrensgegenständlichen Objekts waren. Die Ausführungen des Beirats in den genannten Beschlüssen veranschaulichen, dass es sich bei der Problematik außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs verlorener Kulturgüter nicht um eine Frage der Kausalität, sondern allein des örtlichen Rahmens handelt. Mit anderen Worten: Die Verortung von Eigentümer:in und Kulturgut außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsgebiets führt zu einer Ablehnung der Entziehung ungeachtet eines Kausalzusammenhangs.746 Eine Entziehung im Sinne des KRG kann nur innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs vorliegen, entweder zwischen ›Anschluss‹ und Kapitulation in Österreich nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 KRG oder außerhalb Österreichs zwischen – je nach Gebiet unterschiedlichem – Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft und Kapitulation gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG.

III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien Die Washingtoner Prinzipien sprechen lediglich von »den Nationalsozialisten«, ihr Wortlaut enthält somit keine zeitliche oder örtliche Konkretisierung. Gleiches gilt für ihre Entstehungsmaterialien. Ihnen kann daher auch keine klare Begrenzung des örtlichen und zeitlichen Rahmens entnommen werden. Bloß Formulierungen aus der Theresienstädter Erklärung lassen sich als örtliche und zeitliche Bestimmungen verstehen. Diese verweist zum einen nämlich auf Verluste »von den Nationalsozialisten, den Faschisten und ihren Kollaborateuren«, womit offenbar auch Vichy-Frankreich und das faschistische Italien gemeint sind, zum anderen erfasst sie ausdrücklich Verluste »während der Zeit des Holocaust zwischen 1933 und 1945«, wobei der zeitliche Anknüpfungspunkt des Holocaust hier wohl die nationalsozialistische Herrschaft im Allgemeinen meint.747 So kann der gesamte nationalsozialistische Herrschafts- und Einflussbereich als von den Washingtoner Prinzipien erfasst gelten. Weder die Washingtoner Prinzipien noch die Theresienstädter Erklärung schließen damit eine Rückgabe von außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs verlorenen Kulturgütern als »gerechte und faire Lösung« ausdrücklich aus. Vielmehr scheint die Theresien­ städter Erklärung auch den Verlust »als seine [des Holocaust] unmittelbare Folge« zu adressieren, worunter durchaus auch Verluste außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs infolge der Verfolgung subsumiert werden können. Es fragt sich daher, welche Gründe für und gegen den äußerst umstrittenen Ausschluss von Verlusten außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs sprechen.748 Dieser Ausschluss wird insbesondere in der Literatur durchaus befürwortet. Dabei wird darauf verwiesen, dass die einschlägigen Kulturgüter »am Ende des Spektrums einer Zwangsverkaufs«749 746 Kritisch: Weller, Bulletin Kunst & Recht 2018/2019, 34, 39.

747 So auch Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 735.

748 S. die Diskussion bei von Trott zu Solz/Gielen, ZOV 2006, 256, 259 f.; Adler, Int. J. Cult. Prop. 2007, 57 ff.; Campfens, AAL

2017, 315, 329 ff.; Oost, Int. J. Cult. Prop. 2019, 139, 158 ff.; Weller, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.), Guide, 2019, S. 9, 13 ff.; Buomberger, KUR 2020, 2, 2 ff. 749 Campfens, AAL 2017, 315, 329. In diese Richtung weist auch der »deutlich geringere Schweregrad« in der Entscheidung des britischen Spoliation Advisory Panels zu Otto Koch/Ida Netter v. 07.03.2012, S. 7 f., abrufbar unter: https://www.britishmuseum.org/sites/default/files/2019–11/spoliationreport_14clocks_2012_0.pdf.

136  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

zu verorten seien. Zwar könne – ähnlich der Argumentation des Beirats – die Ursache für den Verlust ebenfalls die Verfolgung gewesen sei, jedoch bestehe kein direkter Kausalzusammenhang zwischen Verlust und Verfolgung, wenn die Verfolgung im sicheren Drittstaat bereits abge­ nommen hatte.750 Dort mussten in der Regel nach der Flucht keine diskriminierenden Abgaben gezahlt werden und die Geflüchteten konnten üblicherweise frei über den gezahlten Kaufpreis verfügen.751 Durch die Restitution von außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs veräußerten Kulturgütern werde daher »die Definition von ›NS-Raubkunst‹ überdehnt«752. Demgegenüber wird gegen diesen Ausschluss angeführt, dass die sicheren Drittstaaten während der nationalsozialistischen Herrschaft, insbesondere die Schweiz, nicht »als Inseln der Freiheit«753 betrachtet werden dürften. Vielmehr wirke die vorherige Zwangslage fort und der Fokus müsse damit auf der trotz territorialen Unterschiedes bestehenden Kausalität zwischen Verfolgung und Vermögensverlust liegen.754 Ohne dies näher zu begründen nimmt Eizenstat jedenfalls zweifelsfrei an, dass auch Verluste außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs erfasst seien.755 Bei einer Übertragung dieses Diskurses auf Österreich ist zu berücksichtigen, dass das KRG sehr eng formuliert ist. Bereits der Wortlaut von § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG schließt Verluste außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs kategorisch aus. Eine Analogie des § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG in Anlehnung an die anfängliche analoge Anwendung des § 1 Nr. 2 KRG a.F. auf außerhalb Österreichs, aber innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsgebiets erfolgte Verluste im Fall Smoschewer kommt nicht in Betracht. Denn es mangelt bereits an der Planwidrigkeit der Regelungslücke: Der Beirat hatte sich schon vor der Novelle mit außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs verlorenen Kulturgütern auseinandergesetzt, nämlich im Fall Hugo Simon. Die Legislative hat sich sodann trotz Kenntnis dieses Beschlusses bewusst gegen eine Ausweitung des örtlichen Rahmens der Entziehung entschieden.756 Auch stößt die Annahme einer vergleichbaren Interessenslage in diesem Fall an Grenzen. Zwar besteht auch bei Verlusten außerhalb der nationalsozialistischen Herrschaft regelmäßig ein Kausalzusammenhang angesichts der Flucht. Die Zwangslage infolge finanzieller Schwierigkeiten ist jedoch eine andere als durch unmittelbare Verfolgung. Dies bedeutet nicht, dass die Zwangslage infolge finanzieller Schwierigkeiten nach der Flucht keine Abhilfemaßnahmen im Sinne der Washingtoner Prinzipien rechtfertigt, sondern lediglich, dass sie nicht im Wege der Analogie unter § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG subsumiert werden kann. Im Falle einer Integration von Verlusten außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs in den Regelungsbereich des KRG, unabhängig von einer Befürwortung oder Ablehnung dieser Integration, würden also die Grenzen der Rechtsfortbildung überschritten. Es

750 Palmer, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 153, 175 f.; Campfens, AAL 2017, 315, 329; ähnlich von Trott zu Solz/

Gielen, ZOV 2006, 256, 259 f.

751 Tisa Francini, in: Mosimann/Schönenberger (Hrsg.), Fluchtgut, 2015, S. 25, 27; Tatzkow, in: Mosimann/Schönenberger

752

753

754 755

756

(Hrsg.), Fluchtgut, 2015, S. 37, 37; von Brühl, in: Mosimann/Schönenberger (Hrsg.), Fluchtgut, 2015, S. 149, 158; Heuß/Heuß, KUR 2019, 101, 102 f. Campfens, AAL 2017, 315, 329. Buomberger, KUR 2020, 2, 2 f. Ossmann, in: Mosimann/Schönenberger (Hrsg.), Fluchtgut, 2015, S. 17, 21; Buomberger, KUR 2020, 2, 2 f.; in diese Richtung auch Mosimann et al., Kultur, 2020, S. 615. Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 73. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 3 f.

137  B. Der zeitliche und örtliche Rahmen der Entziehung

bedürfte mithin eines Tätigwerdens der Legislative in Form eines weiteren Tatbestandes, etwa eines § 1 Abs. 1 Nr. 2b KRG.757 Diese Erweiterung auf außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs verlorene Kulturgüter bei einem eng definierten Kausalzusammenhang durch einen neuen Tatbestand widerspricht keineswegs den Vorstellungen einer »gerechten und fairen Lösung« im Sinne der Washingtoner Prinzipien. Im Gegenteil spricht einiges dafür, den Appell der Washingtoner Prinzipien für eine »gerechte und faire Lösung« auch im Falle einer intensiven Fortwirkung der wirtschaftlichen Notlage in sicheren Drittstaaten gelten zu lassen. In eine »gerechte und faire Lösung« für diese Fälle muss jedoch die fehlende Verfolgung im sicheren Drittstaat einfließen; es können nicht dieselben dogmatischen Privilegien wie bei Verlusten innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs greifen, wie etwa Vermutungsregeln.758 Auch erscheint die Begrenzung der Abhilfemaßnahmen auf »Restitution – keine Restitution« in diesen Fällen im Vergleich mit Verlusten unter unmittelbarem Verfolgungsdruck nicht sachgerecht.759 Die Inklusion von vordergründig finanziell- und nicht unmittelbar verfolgungsbedingten Verlusten außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs im Sinne einer »gerechten und fairen Lösung« würde somit aber letztlich eine vollständige Transformation der normativen Wertungen der österreichischen Restitutionspraxis darstellen.

C. Das Eigentum am Kulturgut als Vorbedingung der Entziehung Vorbedingung der Entziehung eines Kulturguts ist zunächst einmal die Tatsache, dass dieses je­ mandem gehörte. Diese Tatsache, also das Eigentum einer Person, ist rechtlich überprüfbar760 und somit einer Untersuchung durch den Beirat als Gremium der juristischen Beurteilung zugänglich. In den vorherigen Ausführungen ist schon oft das Wort »Eigentümer:in« gefallen, aber noch an keiner Stelle erläutert worden. Für diese Erläuterung ist erneut ein Blick in den Wortlaut von § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG sowie die zitierten Nachkriegsgesetze zu werfen. § 1 Abs. 1 KRG ermächtigt zur Rückgabe an die ursprünglichen Eigentümer:innen oder deren Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen.761 Dies definiert jedoch zunächst bloß die ­potenziellen Begünstigten des Gesetzes, zumal die hier untersuchten Tatbestände Nr. 2 und Nr. 2a – im Gegensatz zu Nr. 1 – das Eigentumserfordernis nicht wiederholen. Gleichwohl impliziert der Wortlaut des § 1 Abs. 1 KRG die Notwendigkeit eines auf das verfahrensgegenständliche Kulturgut bezogenen Eigentumsrechts, da andernfalls die Begünstigten nicht ermittelt werden könnten. Erneut ist hier ein Rekurs auf das Nachkriegsrecht hilfreich: § 1 NichtigkeitsG sprach nicht ausdrücklich von einem Eigentumsrecht, doch ist auch in diesem Falle das Rückstellungsrecht gehaltsreicher; § 1 Abs. 1 Drittes Rückstellungsgesetz erfasste Entziehungen zulasten der Eigen­ tümer:innen.762 Über den Verweis auf das Rückstellungsrecht setzt damit auch eine Rückgabe 757 Erstaunlicherweise enthält das Restitutionsgesetz der Steiermark lediglich eine zeitliche, aber keine örtliche Begrenzung, und

müsste damit auch auf Fälle von Entziehungen außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs anwendbar sein, abrufbar unter: https://www.kunstdatenbank.at/gesetze. 758 S. zu den Vermutungsregeln in der österreichischen Praxis unter § § 7 D.II., S. 166, und § 7 F.I., S. 197. 759 S. zur Binarität der Abhilfemaßnahmen im Lichte der Washingtoner Prinzipien unter § 10 A.III., S. 310. 760 Dazu Weller, in: FS Dreier, 2022, S. 525, 530 ff. 761 Wenn in der Empfehlungspraxis unter Verweis auf das Nachkriegsrecht vom »Eigentümer« gesprochen wird, meint dies also nicht den Bund als heutigen Eigentümer, sondern ein vorheriges Eigentumsrecht. 762 So ausdrücklich auch Rauscher, ÖJZ 1947, 387, 389.

138  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

nach dem KRG ein damaliges Eigentumsrecht voraus. Mithin ist eine Rückgabe an die damaligen Besitzer:innen nicht möglich.763 Ebenso wenig sind Fälle zu faktisch eingeschränkten Eigentumsrechten, wie dem formell vollwertigen Sicherungseigentum, bekannt. Dazu ist vorab festzuhalten, dass sowohl den Prinzipien als auch der Theresienstädter Erklärung und ihrer Rezeption eindeutig die Beschränkung auf das Eigentumsrecht zu entnehmen ist; ausgeschlossen sind damit zweifelsfrei bloße Besitzrechte.764 Für die Bestimmung der Eigentümer:innen im Sinne des KRG ist zunächst zu untersuchen, welcher Zeitraum maßgeblich für die Zuordnung des Eigentumsrechts ist. Diese ist dann Gegenstand der weiteren Untersuchung, die schwerpunktmäßig die vom Beirat vorgenommene Beweiswürdigung zur Bestimmung der Eigentümer:innen behandelt.

I. Der maßgebliche Zeitraum des Eigentumsrechts Das KRG selbst konkretisiert nicht, wann genau das Eigentumsrecht bestanden haben muss. Die Bestimmung des maßgeblichen Zeitraumes, in dem Eigentum bestanden haben muss, korrespondiert aufgrund der zeitlichen Komponente stark mit den Ausführungen zum zeitlichen Anwendungsbereich der Tatbestände von § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG.765 Daher bedarf es auch für diese Untersuchung einer Betrachtung des Nachkriegsrechts. Von § 1 NichtigkeitsG sind nur Vermögenswerte erfasst, die den in Frage stehenden Personen »am 13. März 1938 zugestanden sind«. Dem Wortlaut zufolge scheint nach dem ›Anschluss‹ erworbenes Eigentum somit nicht vom NichtigkeitsG abgedeckt zu sein. Die nachfolgende Untersuchung der Empfehlungspraxis zeigt auf, dass dieses enge Verständnis des maßgeblichen Zeitraumes für das Eigen­tumsrecht zu kurz gegriffen ist. Dann ist aber zu klären, welche Konsequenzen die Erfassung von nach dem ›Anschluss‹ begründetem Eigentum im Falle mehrfacher Entziehungen hat. Die Erkenntnisse dieser Untersuchung der Empfehlungspraxis sind sodann im Lichte der Washingtoner Prinzipien zu beurteilen. 1. Während der nationalsozialistischen Herrschaft begründetes Eigentum

Zunächst ist also herzuleiten, dass der aus dem Wortlaut des § 1 NichtigkeitsG folgende Ausschluss von nach dem Zeitpunkt des ›Anschluss‹ – beziehungsweise bei Berücksichtigung des § 1 Abs. 1 Nr. 2a KRG nach dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft – begründetem und dann entzogenem Eigentum nicht gerechtfertigt ist. Infolge eines solchen engen Verständnisses könnten beispielsweise Fälle nicht erfasst sein, in denen eine verfolgte Person wenige Tage nach dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft völlig unabhängig von dieser ein Kulturgut erwirbt, welches ihr dann zu einem viel späteren Zeitpunkt entzogen wird. Die Begrenzung auf im Zeitpunkt des Beginns der nationalsozialistischen Herrschaft bestehendes Eigentum hätte somit zur Konsequenz, dass Personen, die noch unter der nationalsozialistischen Herrschaft Vermögen erwerben konnten, benachteiligt werden. Die für verfolgte Personen wohl ohnehin rare Möglichkeit der weiteren Teilnahme am Sozial- und Wirtschaftsleben 763 A.A. im Kontext des Rückstellungsrechts Burkhart-Schenk, ÖJZ 1947, 347, 348.

764 Eizenstat, Explanation, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 411, 415 ff.; Bindenagel, in:

Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 722; Campfens, AAL 2017, 315, 316; Mahlo, in: DZK (Hrsg.), Leit­ faden, 2019, S. 8, 9; Weller, in: FS Dreier, 2022, S. 525, 530 ff. 765 S. zum zeitlichen Rahmen der Entziehung unter § 7 B.I., S. 125.

139  C. Das Eigentum am Kulturgut als Vorbedingung der Entziehung

nach Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft würde sich durch diese Begrenzung des Anwendungsbereichs im Nachgang zu ihren Lasten auswirken. Denn Objekte, die sie etwa trotz der Verfolgung noch erwerben konnten, wären nicht rückgabefähig im Sinne des § 1 KRG. Diese Benachteiligung infolge einer grammatikalischen Auslegung wurde aber bereits in der Nachkriegszeit erkannt und diskutiert. Schon in der Rezeption des NichtigkeitsG von 1946 wurde eine wörtliche Auslegung der zeitlichen Begrenzung des Eigentumsrechts kritisch betrachtet, da sie »kaum der Absicht des Gesetzgebers entsprechen« könne. Dies gelte insbesondere in Anbetracht der legislativ beabsichtigten Anlehnung an internationale Nichtigkeitsvorschriften, die keine Begrenzung auf im Zeitpunkt des Beginns der nationalsozialistischen Herrschaft bereits bestehendes Eigentum vorgesehen haben. Die »richtige Auslegung« habe daher das Datum »am 13. März 1938« um die Formulierung »oder später« zu ergänzen, sodass auch nachfolgende Eigentumserwerbungen geschützt sein können.766 Ein Blick in das Ausführungsgesetz des NichtigkeitsG, das 3. RStG, zeigt ebenfalls, dass die Legislative bei der Umsetzung des Nichtigkeitsauftrages offenbar keine zeitliche Begrenzung des Anwendungsbereichs (mehr) vornehmen wollte. Der Wortlaut des 3. RStG erforderte bloß, dass das verfahrensgegenständliche Kulturgut während der »Besetzung« Österreichs entzogen wurde. Damit sind auch nach dem ›Anschluss‹ erworbene Kulturgüter erfasst, soweit sie anschließend Gegenstand einer Entziehung waren. Bereits die Rückstellungsrechtsprechung hatte gerade im Kontext des maßgeblichen Zeitraumes des Eigentums in systematischer Hinsicht festgestellt, dass das Ausführungsgesetz auch über das Ankündigungsgesetz hinausgehen konnte. Die »Rückstellungsgesetze konnten daher die Bestimmungen des Nichtigkeitsgesetzes auch dadurch ausdehnen, dass sie dem geschädigten Eigentümer einen Rückstellungsanspruch auch in dem Falle gewährten, als er die Vermögenschaft oder das Vermögensrecht nach dem 13. März 1938 erwarb.«767 Bereits die Nachkriegsrechtsprechung hatte sich also mit diesem Widerspruch zwischen NichtigkeitsG und Rückstellungsgesetzen explizit auseinandergesetzt und sich auch unter systematischen Gesichtspunkten für den weiten Anwendungsbereich des Rückstellungsrechts entschieden. Infolge der historischen Auslegung ist mithin nicht ersichtlich, warum dem KRG ein begrenzter Anwendungsbereich auf bereits vor dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft bestehendes Eigentum zugeschrieben werden sollte. Doch auch das Telos des KRG spricht gegen eine solche Begrenzung, da es eine »vollständige Rückgabe bedenklicher Bestände«768 bezweckt, die aufgrund der Unzulänglichkeiten des Nachkriegsrechts noch nicht an die ursprünglichen Eigentümer:innen restituiert wurden. Wie bereits im Rahmen der durch das KRG erschaffenen Verweiskaskade auf das Nachkriegsrecht erläutert, darf das KRG konsequenterweise dann nicht enger als das 3. RStG gefasst sein. 769 Die Tatbestände des KRG wären enger als das 3. RStG gefasst, wenn an dieser Stelle allein der Wortlaut des § 1 NichtigkeitsG entscheidend wäre; seine über den Wortlaut hinausgehende Auslegung kommt, wie die Nachkriegsliteratur bereits gezeigt hat, zu einem anderen Ergebnis. Eine Begrenzung des maßgeblichen Zeitraums auf die nationalsozialistische Herrschaft, in Österreich also den ›Anschluss‹, widerspricht dem den Vorschriften des KRG inhärenten Gedanken des Rückstellungsrechts als Mindeststandard. Dieser Untersuchung zufolge müssen auch

766 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 92; äußerst kritische a.A. Neuburg, Kommentar, 1949, S. 6 f.

767 ORK, Entscheidung v. 10.04.1948 – Rkv 41/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 51, S. 116 f. 768 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 1.

769 S. zur Notwendigkeit eines Rekurses auf das Rückstellungsrecht unter § 7 A.II.2., S. 120.

140  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

nach dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft erworbene und anschließend entzogene Kulturgüter vom KRG erfasst sein. 2. Der Umgang mit mehrfachen Eigentumswechseln

Dies führt jedoch zu der Folgefrage, wer als Eigentümer:in im Sinne des KRG gilt, wenn durch mehrfache Eigentumswechsel Primär- und Sekundäreigentümer:innen existieren. Diese Frage ist immer dann virulent, wenn derselbe Gegenstand mehr als einer Person entzogen wurde, etwa eine verfolgte Person im Zeitpunkt des ›Anschluss‹ Eigentümer:in eines Kulturguts war, dieses aber anschließend an eine andere verfolgte Person übertragen hatte, der es dann zu einem späteren Zeitpunkt entzogen wurde. Der Beirat hat bis November 2021 zu dieser Frage nicht ausdrücklich Stellung genommen.770 Nur dem Beschluss zur Sammlung der verfolgten Eheleute Hermann und Hortense Eissler betreffend eine Schenkung von Hermann an H ­ ortense 771 Eissler konnte bis dahin eine Tendenz entnommen werden. Dort hält der Beirat fest, dass »selbst wenn Hortense Eissler verfolgungsbedingt […] Eigentümerin der Gemälde gewesen war, […] Hermann Eissler als Erstgeschädigter rückstellungsberechtigt« wäre772. Indem der Beirat den ersten Eigentümer Hermann Eissler als berechtigt bezeichnet, folgt er, wenn auch ohne weitere Erläuterung, dem »Prioritätsprinzip« zur Bestimmung der Eigentümer:innen. Eine umfassende Auseinandersetzung mit mehrfachen Entziehungen findet sich schließlich erstmals über zehn Jahre später im Beschluss zu Sigmund Stiassny von November 2021. Sigmund Stiassny war Eigentümer einer umfangreichen Grafiksammlung, die er von sei­ nem Vater erbte. Offenbar trennte der als ›Jude‹ definierte Stiassny sich bereits kurz nach dem ›Anschluss‹ von Teilen seiner Sammlung. Bis Juni 1938 übergab er seine wertvolleren Objekte dem Auktionshaus Dorotheum, den Rest verkaufte er im sonstigen Kunsthandel oder an Privatpersonen. Stiassny musste Ende 1939/Anfang 1940 in eine Sammelwohnung umziehen. Die verfahrensgegenständlichen 33 Werke gelangten offenbar in den Kunsthandel, da sie 1940 und 1943 vom Kunstsammler Adolf Schmidt in der Kunsthandlung der ebenfalls als ›Juden‹ definierten Eheleute Rudolf und Maria Perlberger erworben wurden. Wie Perlberger an die Werke gelangte, ist nicht bekannt. Die verfahrensgegenständlichen Blätter wurden erst von dem Verfolgten Stiassny an das verfolgte Ehepaar Perlberger und von diesem an den nicht verfolgten Schmidt veräußert. Unter Verweis auf § 1 Abs. 3 des Zweiten Rückstellungsgesetzes773 geht nach Ansicht des Beirats »bei mehrmaliger Entziehung von Vermögen der Rückstellungsanspruch des geschädigten Eigentü770 Die Aussage des Beirats im Beschluss zu Leo und Elise Smoschewer, dass das KRG »nur den Vermögensübergang vom ur-

sprünglichen Eigentümer auf den Entzieher« als Entziehung betrachtet (Beschl. zu Leo u. Elise Smoschewer vom 30.10.2002, S. 2), darf nicht missverstanden werden. Sie meint gerade nicht die Situation der mehrfachen Entziehung, also dass zwei Personen dasselbe Objekt entzogen wird, sondern einen Sachverhalt, bei dem einer Person das Objekt entzogen wird und dieses dann von den Erwerber:innen weiterveräußert wird – ohne, dass die Weiterveräußerungen ihrerseits Entziehungen darstellen (vgl. zu der Differenzierung auch Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 204). 771 Beschl. zu Hermann Eissler v. 24.06.2009, S. 17 f. Die Frage wäre auch im Fall des Zuckerkandl-Portraits vom Beirat zu erörtern gewesen, s. dazu Graf, NZ 2007, 65, 78. 772 Beschl. zu Hermann Eissler v. 24.06.2009, S. 18. 773 Bundesgesetz über die Rückstellung entzogener Vermögen, die sich im Eigentum der Republik Österreich befinden (Zweites Rückstellungsgesetz), BGBl. Nr. 53/1947 (im Folgenden: 2. RStG).

141  C. Das Eigentum am Kulturgut als Vorbedingung der Entziehung

mers vor, gegen den sich die erste Vermögensentziehung gerichtet hat«774. Damit bestätigt er die bereits im Beschluss zu Hermann Eissler angedeutete Wertung, dass auch bei Anhaltspunkten für mehrfache Entziehungen unter Verfolgten das »Prioritätsprinzip« gilt. Auffällig ist, dass der Beirat in seiner Begründung ausnahmsweise auf das 2. RStG und nicht das 3. RStG verweist, vermutlich da letzteres keine äquivalente Regelung enthielt. Der Beirat klärt mit diesem Beschluss – ob bewusst oder unbewusst – die bereits im obiter dictum des Schiedsspruchs zu Amalie Zuckerkandl/Ferdinand Bloch-Bauer aufgeworfene Frage, ob eine Restitution nach dem Prioritätsprinzip bei zwei verfolgten Personen dem Zweck des KRG entspricht.775 Da der Beirat als Begründung nicht mehr als das 2. RStG anführt, scheint er sich mit den im Zuckerkandl-Verfahren vorgebrachten Argumenten zumindest nicht umfassend auseinandergesetzt zu haben. Nachfolgend soll daher in gebotener Kürze die bereits im Beschluss zu Hermann Eissler angedeutete Berücksichtigung des »Prioritätsprinzips« mithilfe des juristischen Methodenkanons untermauert werden. Im NichtigkeitsG finden sich keine Anhaltspunkte, weil sein Wortlaut ohnehin kein nach dem ›Anschluss‹ begründetes Eigentum – und damit nicht die in solchen Fällen vorliegenden Folgeerwerbungen – erfasst.776 Auch an dieser Stelle ist dementsprechend wieder eine – über die hiesige Nennung von § 1 Abs. 3 2. RStG hinausgehende – historische Auslegung durch einen Blick in das Rückstellungsrecht erforderlich. Nach der Rückstellungsrechtsprechung erfolgte im Falle einer mehrfachen Entziehung die Rückstellung ausdrücklich an die Eigentümer:innen, zu deren Lasten zuerst ent­ zogen wurde, auch wenn die Entziehung ebenfalls zugunsten anderer Verfolgter stattfand. 777 Da der Entziehungsbegriff des Rückstellungsrechts, wie bereits mehrfach erläutert, infolge einer historisch-teleologischen Auslegung des KRG als Mindeststandard des KRG zu verstehen ist, darf dieses nicht zulasten der Begünstigten hinter das Nachkriegsrecht zurücktreten.778 Dies kann aus heutiger Perspektive im Falle einer entgeltlichen Leistung der nachfolgenden Eigentümer:innen aufgrund der Benachteiligung der zweiten, ebenfalls verfolgten Eigentümer:in­ nen durchaus kritisch betrachtet werden. Denn einen Regress ermöglicht das KRG als Selbstbindungsgesetz anders als das Rückstellungsrecht nicht.779 Erfolgte aber der Vermögensübergang unentgeltlich, wie im Beschluss zu Hermann Eissler, besteht zumindest keine finanzielle Schädigungsgefahr für die nachfolgenden Eigentümer:innen.780 Eine Entziehung im Sinne des KRG erfordert mithin ein im Zeitraum der nationalsozialistischen Herrschaft (noch) bestehendes, nicht aber bereits zuvor begründetes Eigentumsrecht.

774 Beschl. zu Sigmund Stiassny v. 05.11.2021, S. 9; Beschl. zu Maria Perlberger v. 05.11.2021, S. 5.

775 Schiedsspruch Zuckerkandl-Portrait v. 07.05.2006, S. 18, abrufbar unter http://www.bslaw.com/altmann/Zuckerkandl/Deci-

sions/decision.pdf.

776 Vgl. Lütgenau et al., Dorotheum, 2006, S. 354 f.

777 ORK, Entscheidung v. 26.02.1949 – Rkv 64/49, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 380, S. 269;

Neuburg, Kommentar, 1949, S. 26; Rauscher, ÖJZ 1947, 387, 389.

778 S. zur Notwendigkeit eines Rekurses auf das Rückstellungsrecht unter § 7 A.II.2., S. 120.

779 Zwar konnten nach dem Rückstellungsrecht auch die Betroffene der nachfolgenden Entziehungen Ansprüche geltend ma-

chen, sie waren jedoch gegenüber dem ersten Entziehungsopfer lediglich passiv legitimiert. Sobald eine Geltendmachung der Ansprüche durch die erste geschädigte Person erfolgte, hatten die nachfolgenden Eigentümer:innen also nur die Möglichkeit eines Regresses bei den Primärgeschädigten, s. Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 174 ff.; Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 219 f.; Graf, NZ 2007, 65, 78. 780 Graf, NZ 2007, 65, 78.

142  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

3. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien

Die Washingtoner Prinzipien adressieren ihrem Wortlaut nach lediglich »Vorkriegseigentümer«. Wenn sie aber tatsächlich nur Kulturgüter erfassen würden, die vor dem Krieg den in Rede stehenden Eigentümer:innen gehörten, wären Kulturgüter, die erst nach Kriegsbeginn erworben wurden, von ihrem Anwendungsbereich ausgeschlossen. Gleichzeitig könnten möglicherweise die Eigentümer:innen zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft nicht mehr erfasst sein, wenn eine unmittelbare Nähe des Eigentums zum Kriegsbeginn gefordert würde. In Ansehung des Zweckes der Washingtoner Prinzipien, Lösungen für »durch die Nationalsozialisten« entzogene Kulturgüter zu entwickeln, ist jedoch davon auszugehen, dass die in Rede stehende Person nicht vor dem Krieg, sondern während der nationalsozialistischen Herrschaft Eigentümer:in des verfahrensgegenständlichen Objekts gewesen sein muss. Der Regelfall ist dabei, dass die Person bereits vor dem Beginn der Herrschaft Eigentümer:in war und das Eigentum in diese hinein fortbesteht. Doch gerade im Lichte der den »gerechten und fairen Lösungen« inhärenten Berücksichtigung des Gleichheitssatzes muss auch erst nach dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft erworbenes Eigentum unter das Regelungsregime der Washingtoner Prinzipien fallen. Graf erkennt im österreichischen Kontext richtigerweise, dass »der Unrechtsgehalt einer […] Vermögensentziehung ja gänzlich unabhängig davon war, ob die geschädigte Person zu einem bestimmten Stichtag Eigentümer der entzogenen Gegenstände war; worauf es ankam, war lediglich, dass sich die Sachen im Zeitpunkt der Vermögensentziehung in seinem Eigentum befanden.«781 Angesichts des identischen Eingriffs in das Eigentumsrecht durch die Entziehung gebietet es also der Gleichheitssatz, sowohl das vor als auch das während der nationalsozialistischen Herrschaft erworbene Eigentum unter die Washingtoner Prinzipien zu subsumieren. Aus den Washingtoner Prinzipien selbst folgt in diesem Zusammenhang keine Privilegierung der Primär- gegenüber den Sekundäreigentümer:innen, wie sie der Beirat in seiner Empfehlungspraxis vertritt. Es ließe sich durchaus argumentieren, dass die Privilegierung der Primä­ reigentümer:innen eine Verletzung des Gleichheitssatzes darstellt.782 Indem das KRG lediglich eine Naturalrestitution der Kulturgüter ermöglicht, kommt nämlich der sekundärgeschädigten Person mangels Kompensationszahlung keine Leistung zu, obwohl möglicherweise angesichts des späteren Verlustzeitpunkts vergleichbare oder noch eindeutigere Verfolgungs- und Verlustumstände vorlagen. Gleichzeitig kann wohl kaum eine Hierarchisierung der Verfolgungsschicksale im Falle einer nachgewiesenen Entziehung zur Ablehnung einer Restitution führen.783 Zudem dient der Grundsatz prior tempore potior iure, demnach ein zeitlich früher entstandenes Recht stärker als ein später entstandenes ist, als insbesondere in Eigentumsstreitigkeiten auch allgemeiner Gerechtigkeitsgrundsatz – hinsichtlich ihrer zeitlichen Reihenfolge sind die Fälle nämlich ungleich. Eine »gerechte und faire Lösung« kann daher nicht in der Ablehnung der Restitution an die Primäreigentümer:innen bestehen, denen schließlich durch die Sekundäreigentümer:innen ungeachtet deren späterer Selbstbetroffenheit das Kulturgut entzogen wurde. Unter der Prämisse

781 Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 130.

782 Vgl. O’Donnell, EJIL 2011, 49, 53.

783 In diese Richtung von Selle/von Selle, osteuropa 2009, 131, 138; Lahusen/Vietzen, in: Network of Restitution Commitees

(Hrsg.), Newsletter 05/2022, S. 5, 7; Lahusen, KUR 2022, 91, 94 f., ohne jedoch eine Lösung des Problems vorzuschlagen.

143  C. Das Eigentum am Kulturgut als Vorbedingung der Entziehung

der weiter bestehenden Begrenzung der Abhilfemaßnahmen des KRG auf »Restitution – keine Restitution« kommt daher Folgendes in Betracht: Das mit der Privilegierung der Primäreigentü­ mer:innen verbundene Ungleichgewicht könnte auf einer nachgelagerten Ebene angegangen werden, nämlich im Zuge der Kontaktaufnahme mit den ermittelten Begünstigten. Diesen könnte von Seiten des Bundesministeriums nahegelegt werden, die Sekundäreigentümer:innen in die Entscheidung über das Schicksal des restituierten Kulturguts miteinzubeziehen, nachdem der Bund auch dort die Ermittlung unterstützt. So wird ihnen ihr ungeteiltes Eigentum an dem Kulturgut übertragen, aber gleichzeitig dessen weiteres Schicksal erläutert und staatliche Unterstützung angeboten. Diese Lösung kann jedoch nicht vom Beirat in einem Beschluss empfohlen werden, da dieser lediglich eine Rückgabe empfehlen oder von dieser abraten kann, sondern müsste vom zuständigen Ministerium angestrebt werden.

II. Die Bestimmung der Eigentümer:innen durch Indizien Nachdem der maßgebliche Zeitraum des Eigentumsrechts bestimmt wurde, ist nun zu untersuchen, welcher Person das Eigentumsrecht am Kulturgut in diesem Zeitraum zugeordnet wurde. Bei der Bestimmung der Eigentümer:innen ist zu berücksichtigen, dass nur in seltenen Fällen ein unmittelbarer Beweis der Eigentümer:innenstellung vorliegt, da Kulturgüter als bewegliche Sachen nicht über eine dem Grundbuch von Immobilien äquivalente Dokumentation verfügen.784 Der Beirat nimmt daher zur Bestimmung der Eigentümer:innen eine freie Beweiswürdigung anhand des mittelbaren Indizienbeweises vor, zieht mithin verschiedene für oder gegen die Eigentümer:innenstellung sprechende Tatsachen als Indizien heran.785 Eine Beweislastregelung in Form einer Vermutung der Eigentümer:innenstellung besteht nicht und eine Verwendung eines Anscheinsbeweises in Form des Eigentumsnachweises durch ein einziges Indiz, ist aus der Praxis ebenso wenig erkennbar. Am Ende dieser Beweiswürdigung durch Indizien muss das Eigentum der in Rede stehenden Person »hinreichenden nachgewiesen« oder »hinreichend belegt« sein.786 Aus der Empfehlungspraxis des Beirats ist jedoch nicht ersichtlich, welcher Wahrscheinlichkeitsmaßstab für diesen hinreichenden Nachweis oder Beleg gilt. Es finden sich sämtliche Wahrscheinlichkeitsgrade von »sehr wahrscheinlich«787 über »einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit«788 bis zu »an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit«789; das letztgenannte und strengste Beweismaß tritt dabei am häufigsten auf. Die Anforderungen an die Bestimmung der Eigentümer:innen können

784 Vgl. Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 328 f.; Zechner, Eingreiftruppe, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 230, 235;

Jungwirth, in: Gschiel et al. (Hrsg.), Schneidern, 2010, S. 249, 250.

785 S. zum Indizienbeweis allgemein nur Rechberger/Klicka, ZPO, 5. Aufl. 2019, Vor § 266 Rn. 21.

786 Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 27.03.2000, S. 3; Beschl. zu Ferdinand Bloch-Bauer v. 01.06.2007, S. 2; Beschl. zu Arthur

Feldmann v. 03.10.2008, S. 2; Beschl. zu Salomon Meisels v. 03.10.2008, S. 2; Beschl. zu Ludwig Neurath v. 22.09.2010, S. 6; Beschl. zu Oskar Reichel v. 06.12.2011, S. 5; Beschl. zu Adele Pächter v. 07.03.2014, S. 4; Beschl. zu Käthe Kellner v. 05.10.2017, S. 2. 787 Beschl. zu Luise Simon v. 11.03.2003, S. 2; Beschl. zu Viktor Treumann v. 25.11.2004, S. 1. 788 Beschl. zu Heinrich Rieger v. 25.11.2004, S. 2 f. 789 Beschl. zu Irma u. Siegfried Kantor v. 22.11.1999, S. 3 f.; Beschl. zu Hermine Lasus v. 28.11.2000, S. 2; Beschl. zu Gottlieb Kraus v. 19.06.2002, S. 3; Beschl. zu Leo Heymann v. 03.12.2002, S. 2; Beschl. zu Clarice u. Alphons Rothschild v. 27.04.2004, S. 2; Beschl. zu Annie u. Paul Duschnitz v. 22.06.2004, S. 1; Beschl. zu Alfred u. Rosa Kraus v. 03.07.2015, S. 1 f.; Beschl. zu Michael Berolzheimer v. 15.06.2018, S. 2. Im Beschl. zu Nora Stiasny v. 10.10.2000, S. 2, wird die »an Sicherheit grenzende Wahrscheinliche« als Maßstab zum Ausschluss des Eigentums Serena Lederers verwendet.

144  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

damit nicht an einem abstrakten Wahrscheinlichkeitsmaßstab gemessen werden, sondern müssen allein aus den in der Empfehlungspraxis herangezogenen Indizien ermittelt werden. Dabei variieren die Indizien je nach mit der Eigentümer:innenstellung verbundener Fragestellung. Es kann bereits in Frage stehen, welche von mehreren in Betracht kommenden Personen Eigentümer:in war. Ebenso kann fraglich sein, ob die in Rede stehende Person – überhaupt jemals oder noch im maßgeblichen Zeitraum der nationalsozialistischen Herrschaft – Eigentümer:in war. Außerdem können Unklarheiten hinsichtlich der Werkidentität bestehen. Damit ist die Übereinstimmung des Kulturguts in Bundeseigentum mit dem Objekt aus dem Eigentum der in Rede stehenden Person gemeint. Mit anderen Worten: Das heute untersuchte Kulturgut muss mit dem Objekt identisch sein, das der in Rede stehenden Person gehörte. Zudem müssen besondere Fallkonstellationen, die eine Ermittlung der Eigentümer:innen erschweren, ausreichend berücksichtigt werden. All diese Fragen können anhand der Indizien aus der Empfehlungspraxis für eine Eigentümer:innenstellung beantwortet werden. Ob diese Antworten mit den Washingtoner Prinzipien zu vereinbaren sind, ist im Anschluss an die Darstellung der Beweisführung zu diskutieren. 1. Bei mehreren namentlich in Betracht kommenden Personen

Die Frage, welche von mehreren namentlich in Betracht kommenden Personen Eigentümer:in des verfahrensgegenständlichen Kulturguts im Sinne des § 1 KRG war, untersucht der Beirat in zwei Beschlüssen, obwohl dies zunächst als eine der Provenienzforschung zuzuordnende Aufgabe erscheint. Jedoch soll die Kommission für Provenienzforschung nach § 4a Nr. 2 KRG lediglich die historischen Sachverhalte erforschen und diese in Dossiers zusammenfassen, nicht aber eine Bewertung der Sachverhalte vornehmen. Diese Bewertung, insbesondere wenn sie die juristische Frage nach der Zuordnung des Eigentumsrechts betrifft, ist gerade dem Beirat vorbehalten.790 Demnach entspricht es der vom KRG vorgesehenen Aufgabenverteilung, wenn der Beirat die Identität der Eigentümer:innen bei mehreren in Betracht kommenden Personen durch Indizienauswertung ermittelt.791 Im Beschluss zu Paul Herzfeld ermittelt der Beirat, welche von drei in Betracht kommenden, in Wien lebenden Personen namens Paul Herzfeld Eigentümer der verfahrensgegenständlichen Sprechplatten war. Im Mai 1942 wurde die ›Vugesta‹ um Überlassung von aus ›jüdischem Umzugsgut‹ stammenden Tonaufnahmen an die Akademie der Wissenschaften (heute im Technischen Museum) ersucht. Daraufhin überließ die ›Vugesta‹ der Akademie Sprechplatten, die zuvor als Gegenstände einer Person namens Paul Herzfeld beschlagnahmt worden waren. Von den drei in Betracht kommenden Personen namens Paul Herzfeld (ein Kaufmann, ein Beamter, ein Spediteur) erachtet der Beirat im Ergebnis den Kaufmann Paul Herzfeld als Eigentümer der Sprechplatten. Er stellt dabei auf das »eindeutige[…] Indiz« der zeitlichen Nähe von der Deportation im April 1942 und der Anfrage bei der ›Vugesta‹ im Mai 1942 ab. Außerdem sei 790 S. zu den Aufgaben des Beirats unter § 5 B.II., S. 73.

791 Die Ausführungen des Beirats zeigen aber, dass die Kommission nichtsdestotrotz eine erste Einschätzung im Dossier vor-

nimmt. Denn die Bewertung des Sachverhaltes durch den Beirat erfolgt »im Einklang mit den Ausführungen im gegenständlichen Dossier« der Kommission, Beschl. zu Paul Herzfeld v. 07.03.2008, S. 2.

145  C. Das Eigentum am Kulturgut als Vorbedingung der Entziehung

der Beamte Paul Herzfeld bis zu seinem Tod 1945 in Wien gemeldet gewesen, also nicht umgezogen, und der Spediteur Paul Herzfeld bereits 1938 nach Israel geflüchtet. In diesen beiden Fällen sei daher ein Zugriff der ›Vugesta‹ im Frühjahr 1942 »weitestgehend auszuschließen«.792 Ähnlich geht der Beirat auch im Beschluss zu Eduard Epstein vor, denn auch dort würdigt er sämtliche Lebensumstände zur Bestimmung des Eigentümers. Dazu zählen neben dem Zeitpunkt von Verlust, etwaiger Inhaftierung und Flucht auch das Alter, die Klasse sowie die aus Dokumenten ersichtliche Definition nach der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz.793 Wenn mehrere Personen namentlich als Eigentümer:in in Betracht kommen, ermittelt der Beirat somit anhand einer Gesamtwürdigung der konkreten Lebensumstände der Personen, wem das Eigentum an dem verfahrensgegenständlichen Objekt zuzuordnen ist. 2. Bei Unklarheiten über das Eigentum zu irgendeinem Zeitpunkt

Zwar ist entscheidend, dass die in Rede stehende Person im maßgeblichen Zeitraum der natio­ nalsozialistischen Herrschaft Eigentümer:in des verfahrensgegenständlichen Objekts war. In vielen Fällen ist jedoch bereits fraglich, ob das Objekt überhaupt jemals der in Rede stehenden Person gehört hatte.794 Dies ist der Fall, wenn faktische Unklarheiten hinsichtlich der Eigentü­ mer:innenstellung bestehen – etwa weil die Objekte nicht immer mit einem Sammlungsstempel versehen oder sie in der kunsthistorischen Literatur nur unzureichend gewürdigt wurden.795 Dann muss der Beirat die verschiedenen Indizien für und gegen eine Eigentümer:innenstellung auswerten. In Anbetracht der Anzahl der einschlägigen Beschlüsse werden zunächst verschiedene, in der Empfehlungspraxis auftretende Indizien für und gegen eine Eigentümer:innenstellung genannt. Im Anschluss wird die Indizienbeweisführung aus einem aussagekräftigen Beschluss mit komplexerem Sachverhalt umfassend erläutert. Zu den Indizien, die der Beirat in seiner Empfehlungspraxis dafür anführt, dass die in Rede stehende Person zumindest zu irgendeinem Zeitpunkt einmal Eigentümer:in des verfahrensgegenständlichen Kulturguts war, gehören vor allem Innenaufnahmen des Wohnsitzes mit dem Kulturgut796, private Verzeichnisse der Urheber:innen797, Zuschreibungen in der kunsthistorischen Literatur798 sowie das Eigentum bestätigende Aussagen der potenziellen Eigentümer:in­ nen und ihrer Familienmitglieder oder Bekannten aus der Nachkriegszeit799. Häufig ist die Indi792 Beschl. zu Paul Herzfeld v. 07.03.2008, S. 1 f.

793 Beschl. zu Eduard Epstein v. 08.03.2013, S. 2.

794 Wobei nicht die Fälle diskutiert werden sollen, bei denen die Eigentümer:innenstellung aus zivilrechtlichen Gründen unklar

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ist, wie etwa beim Schatzfund nach §§ 399, 401 ABGB im Beschl. zu Robert Wadler v. 14.12.2005, S. 2. Dazu eingehend jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 136 f. Sammlungsstempel z.B. im Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 10.04.2002, S. 2 (s. dazu auch Reininghaus, in: dies. (Hrsg.), Recollecting, 2009, S. 11, 15), Beschl. zu Heinrich Rieger v. 25.11.2004, S. 2; Beschl. zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 29.06.2021, S. 5; Beschl. zu Sigmund Stiassny v. 05.11.2021, S. 7; Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 15.05.2023, S. 4; s. dazu im Allgemeinen: Zechner, Eingreiftruppe, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 230, 236 f. Beschl. zu Ella Lewenz v. 15.04.2011, S. 2 f.; Beschl. zu Adele Pächter v. 07.03.2014, S. 3 f.; Beschl. zu Josef Morgenstern v. 06.03.2020, S. 1. Beschl. zu Siegfried Julius v. 03.07.2014, S. 2. Im Beschl. zu Anna Mautner v. 29.06.2021, S. 3, wird die Eigentümerinnenstellung Mautners unter anderem angenommen, da die Objekte inhaltlich zum Forschungsgebiet ihres verstorbenen Gatten und seiner Beschriftungs- und Verzeichnissystematik passen. Dies gilt selbst, wenn die Angaben in den verschiedenen Quellen divergieren, s. Beschl. zu Arthur Feldmann v. 03.10.2008, S. 2; Beschl. zu Adele Pächter v. 07.03.2014, S. 3 f.; Beschl. zu Josef Morgenstern v. 06.03.2020, S. 1. Beschl. zu Louis Rothschild v. 10.04.2002, S. 2; Beschl. zu Adele Pächter v. 07.03.2014, S. 4; Beschl. zu Ida Baer v. 03.07.2014, S. 1 f.; Beschl. zu Siegfried Julius v. 03.07.2014, S. 2; Beschl. zu Josef Morgenstern v. 06.03.2020, S. 2 f.

146  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

zienlage äußerst ambivalent und dementsprechend schwierig ihre Auswertung, wie der nachfolgende Blick in die Empfehlungspraxis veranschaulicht. Im Beschluss zu Amalie Zuckerkandl/Ferdinand Bloch-Bauer zeigt bereits die Bezeichnung des Beschlusses mit beiden Namen,800 dass dort die Eigentümer:innenstellung für den Beirat bis zuletzt unklar geblieben ist. Anzumerken ist aber, dass im Anschluss an diesen Beschluss nach jahrelangen Schieds- und Gerichtsverfahren höchstinstanzlich vor den ordentlichen Gerichten ohne nähere Begründung ein Eigentum Bloch-Bauers angenommen wurde.801 Nichtsdestotrotz ist der Beschluss hier ausführlich darzustellen, da er sich besonders zur Illustrierung von Antinomien in der Empfehlungspraxis eignet. Das Portrait stand bis in die 1920–er Jahre im Eigentum der portraitierten Amalie Zuckerkandl. Bei der Klimt-Gedächtnisausstellung 1928 wurde es aber als »Besitz F.BlochBauer« ausgestellt. Dieser unterstützte Amalie Zuckerkandl finanziell nach der Scheidung und dem Tod ihres Ehemannes. Auch in einem zu Versicherungszwecken angelegten Inventarverzeichnis des Palais Bloch-Bauer von 1932 wurde das Gemälde unter »Schlafzimmer. Klimt, Portrait, handschriftliche Ergänzung Zuckerkandl« vermerkt. Bei einer Ausstellung in Paris 1937 wurde das Objekt im Katalog unter »Madame M. Zuckerkandl […] Coll. M.F.Bloch-Bauer« aufgeführt. Nach der Flucht des als ›Jude‹ definierten Bloch-Bauer wurde seine Wohnung im Januar 1939 von Referenten der Zentralstelle für Denkmalschutz besichtigt, um Objekte herauszusuchen, die von einer Ausfuhr gesperrt werden sollen. Auf dieser Sperrliste befand sich auch »Gustav Klimt, Frau Zuckerkandl«. Auf dem der Ausfuhrsperre dienenden Sicherstellungsbescheid von Fe­ bruar 1939 war es jedoch nicht mehr enthalten. Lediglich ein Portrait von Kokoschka wurde zur Ausfuhr freigegeben, der Rest der Sammlung Bloch-Bauer wurde verwertet. Zum Verbleib des Portraits von Zuckerkandl ist wenig bekannt. Es wird aber angenommen, dass es über eine Kunsthändlerin aus dem Besitz des Schwiegersohns von Zucker­ kandl in die Österreichische Galerie Belvedere gelangte. Der Beirat hält bereits im ersten Absatz des Beschlusses fest, dass er aus den vorgelegten Unterlagen der Kommission »die Eigentumsfrage nicht klären könne«. 802 Es sei, führt er an spä­ terer Stelle aus, »nicht einmal gesichert, dass Ferdinand Bloch-Bauer Eigentümer des Portraits war. Es wäre vorstellbar, dass er es lediglich als Leihgabe Amalie Zuckerkandls besaß.«803 Der Beirat erachtet mithin die beiden Vermerke in den Ausstellungskatalogen 1928 und 1937 auf den Besitz Bloch-Bauers beziehungsweise die Zugehörigkeit des Portraits zu dessen Sammlung ebenso wie die Auflistung des Portraits im Versicherungsinventar seines Wohnsitzes 1932 als unzureichend, um eine Eigentümerstellung Bloch-Bauers zu bejahen.804 Vielmehr zieht der Beirat dem obigen Zitat zufolge sogar ein fortbestehendes Eigentum Zuckerkandls und eine

800 So auch in den Beschl. zu Alfred Flechtheim/George Grosz v. 29.03.2006 und 08.03.2013.

801 OGH, Entscheidung v. 01.04.2008 – 5 Ob 272/07x, Zusammenfassung in ecolex 2008, 1005, 1005 f. So i.E. bereits Graf, NZ

2007, 65, 65, 78; Graf, NZ 2020, 7, 7. Kritisch: Rechberger, NZ 2020, 207, 208, 213, der dabei jedoch verkennt, dass auch der OGH unproblematisch ein Eigentum Bloch-Bauers angenommen hat. 802 Beschl. zu Amalie Zuckerkandl/Ferdinand Bloch-Bauer v. 29.06.2005, S. 1. 803 Beschl. zu Amalie Zuckerkandl/Ferdinand Bloch-Bauer v. 29.06.2005, S. 3. 804 Zudem weisen verschiedene Quellen ein Eigentum Bloch-Bauers an dem verfahrensgegenständlichen Portrait seit den 1920-er Jahren aus, vgl. Czernin, Die Fälschung, 1999, S. 379; Pleyer, Zuckerkandl, 2003, S. 20; Petropoulos, Report, 2015, S. 40.

147  C. Das Eigentum am Kulturgut als Vorbedingung der Entziehung

Leihgabe an Bloch-Bauer in Betracht. Dabei ist nicht ersichtlich, warum Bloch-Bauer das Portrait zu Versicherungszwecken hätte schätzen lassen sollen, wenn es gar nicht ihm gehörte und er damit auch keinen Anspruch auf eine Versicherungssumme gehabt hätte. Im Widerspruch zur dieser Ablehnung der Eigentümerstellung Bloch-Bauers stehen die Ausführungen des Beirats in zwei Beschlüssen von 2004 und 2007 betreffend zwei Skulpturen aus der Sammlung Bloch-Bauer.805 Anders als im zuvor erläuterten Beschluss zum Zuckerkandl-Portrait schlussfolgert der Beirat im Falle der Skulpturen aus der Zurverfügungstellung für eine Ausstellung und dem Vermerk in demselben Versicherungsinventar der Wohnung, dass Bloch-Bauer einmal Eigentümer der verfahrensgegenständlichen Skulpturen gewesen sei. 806 Mit anderen Worten: In diesem Fall erachtet der Beirat offenbar die Überlassung für eine Aus­ stellung mit Besitzvermerk und die Auflistung im Inventar des Wohnsitzes als ausreichende Indizien für die Eigentümerstellung Bloch-Bauers. Während der Beirat im Beschluss Amalie Zuckerkandl/Ferdinand Bloch-Bauer also vom Besitz, nachgewiesen durch die Überlassung für Ausstellungen und die Inventarliste, nicht auf ein Eigentum Bloch-Bauers am Portrait schließt, differenziert er in den Beschlüssen zu Ferdinand Bloch-Bauer betreffend die Skulpturen nicht ausdrücklich zwischen den beiden vermögenswerten Positionen, sondern leitet offenbar vom Besitznachweis das Eigentum Bloch-Bauers ab. Diese auch in anderen Beschlüssen807 zu findende Wertung steht im Einklang mit § 323 ABGB, der zugunsten der Besitzer:innen einer Sache das Eigentum vermutet. Dadurch stellt der Beirat jedoch unterschiedliche Anforderungen an den Nachweis des Eigentumsrechts auf. Dies ist umso irritierender, als Besitz und Eigentum nicht nur im allgemeinen Sprachgebrauch synonym verwendet werden, sondern selbst durch den Beirat, wie etwa der Beschluss zu Victor Treumann zeigt. Dort führt er aus, dass die Identität des »Vorbesitzers« nicht eindeutig geklärt werden könne, obwohl er in der Sache zweifelsfrei die vorherige Eigentümerstellung und nicht das Besitzrecht Treumanns untersucht.808 Damit kann der Empfehlungspraxis kaum ein allgemeingültiges Indizienbündel für eine zu irgendeinem Zeitpunkt vorliegende Eigentümer:innenstellung entnommen werden. So lässt sich aus der äußerst heterogenen Praxis bloß destillieren, dass oftmals ein Indizienbündel aus Sammlungsstempel, Fotografien der Wohnung, privaten und behördlichen Verzeichnissen, Zuschreibungen in der kunsthistorischen Literatur sowie Zeug:innenaussagen für ein Eigentum der in Rede stehenden Person zu irgendeinem Zeitpunkt spricht. 3. Bei Unklarheiten über das Eigentum im Nationalsozialismus

Entscheidend ist jedoch nicht nur, wie zuvor dargelegt, dass die in Rede stehende Person irgendwann einmal Eigentümer:in des Kulturguts war, sondern dass das Eigentum auch zeitweise noch während der nationalsozialistischen Herrschaft bestand. Auch bei der Bestimmung der Eigentümer:innenstellung in diesem entscheidenden Zeitraum arbeitet der Beirat mit dem Indizienbeweis. Starke aus der Empfehlungspraxis zu entnehmende Indizien sind vom nationalsozialistischen Regime erstellte oder zumindest initiierte Dokumente, wie Vermögensverzeich805 Im ersten Beschl. hat der Beirat mangels eines ausreichenden Kenntnisstandes noch keine Restitution der verfahrensgegen-

ständlichen Skulpturen empfohlen, s. Beschl. zu Ferdinand Bloch-Bauer v. 25.11.2004 u. 01.06.2007, S. 2.

806 Beschl. zu Ferdinand Bloch-Bauer v. 25.11.2004, S. 1.

807 S. nur Beschl. zu Ida Baer v. 03.07.2014, S. 1 f.; Beschl. zu Adele Pächter v. 07.03.2014, S. 3 f. 808 Beschl. zu Viktor Treumann v. 25.11.2004, S. 1.

148  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

nisse und -anmeldungen,809 namentliche Eintragungen in Museumsinventaren und -rechnungen810 sowie Sicherstellungs- und Ausfuhrformulare.811 In vielen Fällen liegen jedoch gerade diese Dokumente nicht vor und die Eigentümer:innenstellung im maßgeblichen Zeitraum muss anhand von vor und nach Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft entstandenen Indizien bestimmt werden.812 Von besonderem Interesse für die Untersuchung der Anforderungen an die Eigentümer:in­ nenstellung während der nationalsozialistischen Herrschaft ist der Beschluss zu Heinrich Rieger betreffend ein Ölgemälde von Schiele. Heinrich Rieger war Eigentümer einer umfassenden Kunstsammlung mit dem Schwerpunkt auf dem Oeuvre Schieles. Das verfahrensgegenständliche Gemälde von Schiele trägt den Sammlungsstempel Riegers. Zur Finanzierung seiner Flucht veräußerte Rieger 1939 einen nicht näher bestimmten Teil der Sammlung an eine Wiener Galerie. Ein Zahlungsverkehr mit dem Galeristen vor 1939 ist nicht feststellbar. Es ist nicht bekannt, ob das Gemälde unter den angekauften Werken war. Jedenfalls wurde es aber 1944 von diesem Galeristen einem für den ›Sonderauftrag Linz‹ tätigen Kunsthändler angeboten, aber offenbar nicht erworben. 1948 wurden die Republik Österreich sowie der Wiener Galerist zur Rückstellung einiger Kunstwerke an die Erbberechtigten Riegers verpflichtet. Darunter befand sich aber offenbar nicht das in Rede stehende Gemälde. Dieses wurde im März/April 1949 kurz nach Ende der Rückstellungsverfahren vom besagten Wiener Galeristen der Österreichischen Galerie Belvedere angeboten, die es im Mai 1949 erwarb. In diesem Beschluss ist nicht fraglich, ob Rieger jemals Eigentümer des Gemäldes war, denn aufgrund des Sammlungsstempels gehörte das verfahrensgegenständliche Gemälde dem Beirat zufolge »zweifelsfrei zu irgendeinem Zeitpunkt« zur Sammlung Rieger. Nicht bekannt ist lediglich, in welchem konkreten Zeitraum das Gemälde im Eigentum Riegers stand. Für ein fortbestehendes Eigentum Riegers während der nationalsozialistischen Herrschaft spreche dem Beirat zufolge aber zum einen, dass es vor der Veräußerung 1939 keinen Zahlungsverkehr zwischen dem Erwerber und Rieger gegeben habe. Zum anderen führt der Beirat den Umstand,

809 Beschl. zu Oskar Reichel v. 06.12.2011, S. 5; Beschl. zu Hermann Eissler v. 24.06.2009, S. 8 f.; Beschlüsse zu Georg Popper v.

24.06.2009, S. 2, u. 15.01.2016, S. 2; Beschl. zu Martha Brown-Neumann v. 29.11.2022, S. 1. In der Regel waren diese Vermögensanmeldungen jedoch nicht sehr detailliert, sondern enthielten nur eine Gesamtsumme, die in einem angehängten Schätzgutachten aufgeschlüsselt werden sollte. Dieses war jedoch zumeist nicht deutlich detaillierter und fehlt heute in vielen Fällen, s. Zechner, Eingreiftruppe, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 230, 236 f. 810 Beschl. zu Luise Simon v. 11.03.2003, S. 2. Dies gilt selbst, wenn Unterlagen codiert sind, wie z.B. durch Geschäftszahlen bei ablieferungspflichtigen Gegenständen (Beschl. zu Erny und Richard Gombrich v. 07.03.2008, S. 2, Beschl. zu Alfred Kirchenberger v. 29.06.2021, S. 4), die ›Vugesta-Zahl‹ (Beschl. zu August Blumberg v. 20.11.2009, S. 1 f.) oder durch eine bewusste Verschlüsselung mithilfe einer Zahlen-Buchstabenkombination (Beschl. zu Hans-Peter Kraus v. 15.06.2018, S. 2). Ein falscher Vorname im Inventar schadet bei entsprechenden anderen Indizien nicht, s. Beschl. zu Robert Jonas v. 06.07.2017, S. 2 f. 811 Beschl. zu Luise Simon v. 11.03.2003, S. 2; Beschl. zu Serena Lederer v. 02.03.2012, S. 2 f.; Beschl. zu Josef Blauhorn v. 29.06.2012, S. 2; Beschl. zu Anna Mautner v. 29.06.2021, S. 2. 812 D.h. das Fehlen in nationalsozialistischen Dokumenten ist bei entsprechenden anderen Indizien nicht zwingend ein Indiz gegen Eigentum (Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 27.03.2000, S. 2 f.; Beschl. zu Ferdinand Bloch-Bauer v. 01.06.2007, S. 2), es sei denn das Vermögensverzeichnis ist besonders detailliert (vgl. Beschl. zu Robert Schwarz v. 02.03.2012, S. 4).

149  C. Das Eigentum am Kulturgut als Vorbedingung der Entziehung

dass Schiele das »Hauptsammlungsgebiet«813 Riegers war, als Indiz für einen Fortbestand des Eigentums an, da Rieger ein Gemälde aus diesem Bestand niemals hätte verkaufen wollen.814 Als Indizien für einen Verkauf während der nationalsozialistischen Herrschaft können mithin die Zugehörigkeit des Werkes zum Sammlungsschwerpunkt der Eigentümer:innen und der fehlende Nachweis eines vorherigen Zahlungsverkehrs mit den Erwerber:innen dienen. Das Indiz des »Hauptsammlungsgebietes« weitet der Beirat im über zehn Jahre später gefassten Beschluss zu Alfred und Rosa Kraus offenbar noch großzügiger aus: Dort führt er bereits den Besitz mehrerer Werke des Urhebers als Indiz für ein fortbestehendes Eigentum während der nationalsozialistischen Herrschaft an.815 Selbst wenn das Werk vor dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft Gegenstand von Verkaufsbemühungen war,816 geht der Beirat bei entsprechenden Indizien von einem Fortbestand des Eigentums aus, wie der Beschluss zu Arthur Feldmann zeigt. In diesem Fall ist bekannt, dass die verfahrensgegenständliche Zeichnung noch 1934 im Eigentum Feldmanns in Brünn stand, da dieser sie in jenem Jahr zum Verkauf angeboten hatte. Der Beirat geht aber davon aus, dass die Zeichnung 1934 nicht verkauft worden sei. Vielmehr habe sie sich einer eidesstattlichen Erklärung des Sohnes Feldmanns, verschiedenen Zeug:innenaussagen aus der Nachkriegszeit und kunsthistorischen Abhandlungen zufolge im Zeitpunkt des Beginns der nationalsozialistischen Herrschaft noch in Feldmanns Eigentum befunden.817 Freilich ist diese Annahme unproblematischer, wenn das Eigentum nachweislich noch in den 1930–er Jahren, und nicht etwa nur zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bestand. Dem Beschluss kann mithin vor allem entnommen werden, dass trotz vorheriger Verkaufsbemühungen neben der kunsthistorischen Literatur auch das Eigentum bestätigende (eidesstattliche) Erklärungen der potenziellen Eigen­ tümer:innen, ihrer Familienmitglieder sowie sonstige Zeug:innenaussagen als Indizien für einen Eigentumsfortbestand dienen können – zumindest bei nachgewiesenem Eigentum Ende der 1920–er bis Anfang der 1930–er Jahre.818 Demgegenüber wird ein Verzeichnis mit dem Werk aus dem Jahr 1914 – also über zwanzig Jahre vor dem ›Anschluss‹ – vom Beirat offenbar nicht als aus­reichend zum Nachweis der Eigentümer:innen­ stellung während der nationalsozialistischen Herrschaft betrachtet.819 813 Dies wird richtigerweise auch in der Empfehlung der deutschen Beratenden Kommission zu Heinrich Rieger aufgegriffen.

814 815 816

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819

Leider schrieb die Kommission in der ersten Fassung der Empfehlung eine andere Aussage fälschlicherweise dem Beirat zu, die tatsächlich aber aus der Michalek Kommission der Leopold Museum Privatstiftung stammt (s. Empfehlung der Beratenden Kommission zu Heinrich Rieger v. 08.02.2021, a.F., 6 f.). Dies ist angesichts der Spannungen hinsichtlich der Integration der Leopold Museum Privatstiftung in das KRG misslich. Nach einem Hinweis der Verfasserin dieser Arbeit hat die Beratende Kommission den Fehler korrigiert, aber ohne diese Korrektur in irgendeiner Weise kenntlich zu machen (Empfehlung der Beratenden Kommission zu Heinrich Rieger v. 08.02.2021, 6 f., abrufbar unter: https://www.beratende-kommission.de/ media/pages/empfehlungen/rieger/b7c2c7100f-1644579899/21–02–­08–empfehlung-rieger-koeln.pdf ). Beschl. zu Heinrich Rieger v. 25.11.2004, S. 2 f. Beschl. zu Alfred u. Rosa Kraus v. 03.07.2015, S. 2. Im Beschl. zu Ferdinand Bloch-Bauer v. 01.06.2007, S. 2, wertet der Beirat es bereits als Indiz für ein noch während der natio­ nalsozialistischen Herrschaft bestehendes Eigentum, dass keinerlei Hinweise auf eine Veräußerung von Objekten aus der Sammlung vor dem ›Anschluss‹ vorliegen. Beschl. zu Arthur Feldmann v. 03.10.2008, S. 3. Für einen Eigentumsnachweis Ende der 1920–er bis Mitte der 1930–er Jahre, s. Beschl. zu Hermann Eissler v. 24.06.2009, S. 16 f.; Beschl. zu Ida Baer v. 03.07.2014, S. 2 f.; Beschl. zu Josef Morgenstern v. 06.03.2020, S. 3 f. Dies gilt jedoch nicht, wenn die Aussagen in der Nachkriegszeit nachweislich zur Erhöhung der Rückstellungsaussichten getätigt wurden, Beschl. zu Giulietta Mendelssohn v. 15.05.2023, S. 15. S. Beschl. zu Camilla Kuffner v. 14.12.2005, S. 2. Bei diesem Beschluss ist jedoch zu berücksichtigen, dass zudem auch noch die Werkidentität zweifelhaft war.

150  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

Hervorzuheben ist in diesem Kontext außerdem der Beschluss zu Oskar Reichel, in dem es an einem starken Indiz für ein fortbestehendes Eigentum aus den 1920–er Jahren mangelt. Denn die verfahrensgegenständlichen Blätter – im Gegensatz zu anderen Zeichnungen aus der Sammlung – sind nicht mehr im Vermögensverzeichnis von Juni 1938 aufgeführt. Allein das Feh­ len im Verzeichnis erachtet der Beirat aber als unerheblich, da sich eine Veräußerung kurz vor der Erstellung des Vermögensverzeichnisses von 1938 unter anderem aus widerspruchsfreien Ausführungen der Erwerberin in einem Werkverzeichnis der Nachkriegszeit ergebe.820 So unterstreicht die vorherige Untersuchung, dass auch erst nach dem Krieg festgehaltene Prove­ nienzangaben rückwirkend als Indiz für ein während der nationalsozialistischen Herrschaft bestehendes Eigentum dienen können.821 Dies gilt nicht nur für Aussagen von Familienmitgliedern aus der Nachkriegszeit, sondern augenscheinlich sogar für Aussagen der Erwerber:innen der entzogenen Kulturgüter. Ob aber nun von den potenziellen Eigentümer:innen oder den Erwerber:innen, sämtliche Aussagen finden jedenfalls nur unter der Bedingung der Widerspruchsfreiheit Berücksichtigung in der Beweiswürdigung des Beirats.822 Anders als bei der zuvor untersuchten Frage, ob die in Rede stehende Person jemals Ei­ gentümer:in der verfahrensgegenständlichen Kulturgüter war, sind hinsichtlich des während der nationalsozialistischen Herrschaft bestehenden Eigentumsrechts keine Widersprüche in der Empfehlungspraxis des Beirats zu erkennen. Vielmehr sind die Fallkonstellationen äußerst heterogen und damit weniger einem direkten Vergleich zugänglich. Die unter diesen Bedingungen mögliche Auswertung der Indizienbeweisführung des Beirats illustriert, dass im Falle eines nachweislichen Eigentums Ende der 1920-er bis Anfang der 1930-er Jahre mangels entgegenstehender Anhaltspunkte regelmäßig ein Fortbestand des Eigentums während der nationalsozialistischen Herrschaft angenommen wird. Zudem zieht der Beirat, wenn keine eindeutigen Indizien aus nationalsozialistischen oder kunsthistorischen Dokumenten vorhanden sind, vor allem Aussagen von Beteiligten aus der Nachkriegszeit heran. Darunter sind nicht nur Ausführungen von den potenziellen Eigentümer:innen und ihren Nachkommen, sondern auch von den Erwerber:innen der entzogenen Kulturgüter. 4. Bei Unklarheiten über die Werkidentität

Die Bestimmung der Eigentümer:innen erschöpft sich nicht allein in der Ermittlung konkreter Personen. Sie erfasst vielmehr auch die Frage nach der Werkidentität. Liegt diese Identität zwischen dem untersuchten und dem der in Rede stehenden Person zuzuordnenden Kulturgut nicht vor, war diese Person nicht Eigentümer:in des untersuchten Werkes.823 Da die Werkidenti­ tät regelmäßig aufgrund der offensichtlichen Übereinstimmung verschiedener Grunddaten un­ problematisch anzunehmen ist, wird sie vom Beirat zumeist nicht thematisiert. Demgegenüber sprechen in einigen anderen Fällen zwar die Indizien dafür, dass die Person Eigentümer:in eines vergleichbaren Kulturguts war. Zugleich bestehen aber vereinzelte Unklarheiten, ­beispielsweise

820 Beschl. zu Oskar Reichel v. 06.12.2011, S. 5.

821 Erst recht können auch aus der Nachkriegszeit stammende, offizielle Dokumente als Nachweis dienen, z.B. von den Alliierten

oder der Denkmalschutzbehörde, vgl. Beschl. zu Marianne Nechansky v. 09.05.2008, S. 2.

822 So ausdrücklich im Beschl. zu Robert Schwarz v. 02.03.2012, S. 4; Beschl. zu Josef Blauhorn v. 03.05.2013, S. 2 f.

823 Dies war bereits in der Rückstellungsrechtsprechung bezüglich sämtlicher Vermögenswerte problematisch, s. Faber, Vermö-

gensrestitution, 2007, S. 152.

151  C. Das Eigentum am Kulturgut als Vorbedingung der Entziehung

weil einzelne Grunddaten abweichen oder bereits keine Grunddaten des potenziell aus der Sammlung stammenden Werkes überliefert sind.824 Besteht eine solche Unklarheit, nimmt der Beirat eine Auswertung der verschiedenen für und gegen die Werkidentität sprechenden Indizien vor. Als Indiz dient vornehmlich der Grad der Übereinstimmung der Grunddaten des Werkes. So können identische Maße825, Datierungen826 und Techniken827, ähnliche Bezeichnungen828, Darstellungen829, vermerkte Beschädigungen830 sowie dieselben Urheber:innen831 starke Indizien für eine Werkidentität sein. Eine Abweichung einzelner Grunddaten resultiert jedoch nicht zwangsläufig in der Ablehnung der Identität. Beispielsweise verfügt das in den Beschlüssen zu Bernhard Altmann verfahrensgegenständliche Gemälde in verschiedenen Quellen über unterschiedliche Maße.832 Der Beirat hält aber nach vertieften Recherchen der Provenienzforschung ausdrücklich fest, dass »die geringfügige Abweichung der […] angegebenen Maße […] tolerierbar« sei, da bereits andere Indizien »eindeutig« für eine Werkidentität sprechen würden.833 Dementsprechend müssen oftmals andere Indizien, die sich weniger aus den Grunddaten, sondern vornehmlich aus der Verlust- und Erwerbsgeschichte der jeweiligen Kulturgüter speisen, für die Werkidentität herangezogen werden. Im Folgenden werden einige Fälle ausführlich vorgestellt, deren Schwerpunkt auf der Werkidentität liegt und die daher eine umfassende Beweiswürdigung des Beirats anhand der verschiedenen Indizien erfordern. Im Fall Ludwig Neurath hat der Beirat im ersten Beschluss zunächst eine Restitution des verfahrensgegenständlichen Gemäldes auf Grundlage des von der Kommission erarbeiteten Sachverhalts abgelehnt, da kein »hinreichender Nachweis« für die Werkidentität vorgelegen habe.834 Auf Grundlage weiteren Recherchen der Kommission und einer Stellungnahme der IKG Wien empfiehlt der Beirat in der zweiten Auseinandersetzung mit dem Fall dann die Resti­ tution des Gemäldes, da er die Werkidentität »als erwiesen« ansieht.835 In seiner Vermögensanmeldung von Juli 1938 vermerkte der als ›Jude‹ definierte Ludwig Neurath einige nicht näher spezifizierte Gegenstände, darunter auch verschiedene Gemälde. Auf einer undatierten Liste über Wiener Maler im Besitz von als ›Juden‹ 824 Beschl. zu Camilla Kuffner v. 14.12.2005, S. 2; Beschl. zu Heinrich Rieger v. 15.10.2018, S. 3; Beschl. zu Fritz Grünbaum v.

15.10.2015, S. 7.

825 Ausreichend bereits fast identische Maße, vgl. nur Beschl. zu Otto Klein v. 12.03.2002, S. 2; Beschl. zu Arthur Feldmann v.

826 827

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14.12.2005, S. 1 f.; Beschl. zu Armin Reichmann v. 02.03.2012, S. 2 ff.; Beschl. zu Hugo Marmorek v. 01.04.2016, S. 3; Beschl. zu Michael Berolzheimer v. 15.06.2018, S. 2; Beschl. zu Bernhard Altmann v. 18.06.2003, S. 2 f. Beschl. zu Ludwig Neurath v. 22.09.2010, S. 5 ff. Beschl. zu Salomon Meisels v. 03.10.2008, S. 2; Beschl. zu Ludwig Neurath v. 22.09.2010, S. 5 ff.; Beschl. zu Michael Berolzheimer v. 15.06.2018, S. 2. Beschl. zu Arthur Feldmann v. 14.12.2005, S. 1 f.; Beschl. zu Käthe Kellner v. 05.10.2017, S. 2 f.; ähnlich auch Beschl. zu Bernhard Altmann v. 18.06.2003, S. 2 f. Beschl. zu Armin Reichmann v. 02.03.2012, S. 2 ff.; Beschl. zu Michael Berolzheimer v. 15.06.2018, S. 2; Beschl. zu Heinrich Rieger v. 15.10.2018, S. 3; ähnlich auch Beschl. zu Camilla Kuffner v. 14.12.2005, S. 2; Beschl. zu Käthe Kellner v. 05.10.2017, S. 2 f. Beschl. zu Hermine Lasus v. 28.11.2000, S. 2; Beschl. zu Oscar Bondy v. 30.03.2022, S. 5 f. Beschl. zu Armin Reichmann v. 02.03.2012, S. 2 ff.; Beschl. zu Michael Berolzheimer v. 15.06.2018, S. 2; ähnlich Beschl. zu Salomon Meisels v. 03.10.2008, S. 2. Beschl. zu Bernhard Altmann v. 18.06.2003, S. 2 f. Beschl. zu Bernhard Altmann v. 20.11.2003, S. 2; so auch Beschl. zu Jenny Steiner v. 10.10.2000, S. 1. Beschl. zu Ludwig Neurath v. 20.11.2009, S. 3. Beschl. zu Ludwig Neurath v. 22.09.2010, S. 5 ff.

152  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

definierten Personen eines Kunstsachverständigen an die Zentralstelle für Denkmalschutz wurde ein Gemälde unter der Bezeichnung »Jakob Alt, Oel a.Lwd., Cholera­ kapelle« der Sammlung Neurath zugeordnet. Diese Liste sollte offenbar für die ›Reichsliste‹ verwendet werden, die Kunstwerke enthielt, die einem Ausfuhrverbot unterstellt werden sollten. Im März 1939 legte Neurath offensichtlich zur Vorbereitung seiner Flucht der Zentralstelle für Denkmalschutz 17 Kunstwerke zur Begutachtung für die Ausfuhr vor, darunter auch eine Position »Jakob Alt, Cholerakapelle«. Mitte März erstellte zudem ein Wiener Kunsthändler ein Schätzgutachten für Neuraths Kunst- und Einrichtungsgegenstände, das 53 Kunstwerke enthielt, darunter auch ein Gemälde von Jakob Alt, »Die Cholera-Kapelle, Öl auf Leinwand, signiert«. Bei diesem wurde die Wertangabe handschriftlich durchgestrichen und mit »0« vermerkt. Die von Neurath vermutlich im Zuge seines Umzugs in eine Pension beauftragte Spedition erstellte Mitte Mai 1939 (Änderung Ende Juni 1939) eine Liste mit dem »Umzugsgut« Neuraths, das zwischen 1902 und 1919 erworben worden war. Auf der Liste sind nach der Änderung durch Neurath weniger Werke als im Schätzgutachten des Kunsthändlers von Mitte März vermerkt, darunter weitestgehend nur noch die Werke, deren Wertangabe zuvor im Gutachten nicht durchgestrichen worden war. Die Liste der Ausfuhrbewilligung der Zentralstelle für Denkmalschutz von August 1939 an den dann bereits in London lebenden Neurath enthielt den Vermerk »zurück bleiben« unter anderem für »Jakob Alt: Cholerakapelle, Aquarell 1832«. Das verfahrensgegenständliche Gemälde aus der Österreichischen Galerie Belvedere (Öl auf Leinwand) ist auf 1832 datiert und war 1914 im Auktionshaus Wawra versteigert worden. Mitte Mai 1939 beantragte die Österreichische Galerie Belvedere die Genehmigung für den Erwerb einer Landschaft von Alt. Bereits zwei Tage nach der Beantragung und noch vor der Genehmigung bestätigte eine Wiener Kunsthändlerin die Zahlung für das Gemälde, die Genehmigung wurde wenige Tage später erteilt. Die Beweiswürdigung des Beirats beruht dabei auf der Annahme, dass Neurath zur Vorbereitung seiner Flucht im August 1939 Teile seiner Sammlung veräußerte. Anlass der ausführlichen Auseinandersetzung mit der Werkidentität ist in diesem Fall erneut eine Abweichung in den Grunddaten ausgehend von den vorliegenden Dokumenten. Es müssen also andere Indizien für eine Werkidentität herangezogen werden. Als ein Indiz für eine Werkidentität wertet der Beirat den Umstand, dass während der nationalsozialistischen Herrschaft der Spedition von Neurath offenbar weniger Objekte übergeben wurden, als sich noch laut Schätzgutachten von März 1939 in der Sammlung Neurath befanden. Zudem waren in der Liste der Spedition weitestgehend gerade die Werke nicht aufgeführt, deren Wertangabe im Schätzgutachten durchgestrichen worden war, wie bei dem verfahrensgegenständlichen Gemälde. Dies spreche dafür, dass die »durchgestrichenen« Werke nicht der Spedition übergeben und damit nicht ausgeführt wurden, sondern vielmehr in Österreich verblieben. Dies stütze auch die Bezeichnung »zurück bleiben« in der Ausfuhrgenehmigung: Den Recherchen der Kommission für Provenienzforschung zufolge bedeute diese Bezeichnung, dass das jeweilige Kulturgut nicht mehr Gegenstand eines Ausfuhrverfahrens war, also in Österreich verblieb, beispielsweise in Folge eines Verkaufs.836 836 Ebenda.

153  C. Das Eigentum am Kulturgut als Vorbedingung der Entziehung

Die auf das in der Österreichischen Galerie Belvedere befindliche Gemälde passende Beschreibung des Werkes aus der Sammlung Neurath im Schätzgutachten von März 1939 sei außerdem ein Indiz für die Werk­identität. Zudem falle sein Erwerb durch das Museum im Mai 1939 genau in den Zeitraum zwischen der Erstellung dieses Gutachtens im März und der Änderung der Liste des »Umzugsguts« im Juni 1939. Auch der Vermerk in der für die ›Reichsliste‹ vorgesehenen Aufstellung mit Ausfuhrverboten an die Zentralstelle für Denkmalschutz spreche bereits für ein staatliches Ankaufsinteresse und einen Verbleib in Österreich. Darüber hinaus stimmen sowohl der Zeitpunkt der Versteigerung im Auktionshaus 1914 mit dem von Neurath bei der Spedition angegebenen Erwerbszeitraum von 1902–1919 als auch die Datierung des Gemäldes auf das Jahr 1832 überein. Die abweichende Bezeichnung der Technik in der Ausfuhrgenehmigung als »Aquarell« lasse sich also vermutlich darauf zurückführen, dass das Gemälde der Zentralstelle im Zeitpunkt der Genehmigung im August 1939 nicht mehr vorlag, da es bereits seit drei Monaten an das Museum verkauft war.837 Aus den umfassenden Ausführungen des Beirats können zusammenfassend verschiedene Indizien destilliert werden: Zunächst ist festzuhalten, dass ähnlich dem Umgang mit abweichenden Maßen und Urheber:innenbezeichnungen eine divergierende Bezeichnung der Technik des Werkes nicht zwingend zu einer Ablehnung der Werkidentität führt. Diese lässt sich vielmehr trotzdem annehmen, wenn sich die Abweichung durch andere Indizien, etwa eine identische Datierung oder eine übereinstimmende Beschreibung des Motivs in einem zeitgenössischen Gutachten, kompensieren lässt.838 Zu diesen anderen Indizien zählen, wie der Beirat in diesem Beschluss besonders deutlich macht, aber nicht nur die Grunddaten eines Werkes, sondern ganz besonders seine Verlust- und Erwerbsgeschichte. Denn die Werkidentität ergibt sich im vorliegenden Fall vor allem aus dem Umstand, dass die zeitgenössischen Dokumente einen Verbleib des Gemäldes in Österreich sowie ein starkes staatliches Ankaufsinteresse nahe­ legen.839 Der Beschluss zu Heinrich Rieger betreffend eine Kokoschka Zeichnung macht wiederum deutlich, wann die Anforderungen an eine Werkidentität für den Beirat nicht erfüllt sind. Zwar folge nach Ansicht des Beirats aus den vorgelegten Unterlagen, dass eine Zeichnung Kokoschkas mit dem verfahrensgegenständlichen Motiv Teil der Sammlung Rieger gewesen sei, die wäh­ rend der nationalsozialistischen Herrschaft in den Besitz eines österreichischen Kunsthändlers übergegangen war.840 Jedoch könne anhand dieser Unterlagen keine Werkidentität dieser Zeichnung mit der in der Nachkriegszeit vom Bund erworbenen Zeichnung angenommen werden. Denn für die Identität spreche lediglich, dass der Sohn Riegers die Zeichnung als Eigentum seines Vaters 1971 wiedererkannt hat, ohne jedoch aussagekräftige Angaben zu den ­Grunddaten, wie Titel, Maßen und Materialien machen zu können. Demgegenüber sei gegen eine Werkidentität anzuführen, dass die Zeichnung in der Nachkriegszeit nicht von dem besagten Kunsthändler, sondern von einer ebenfalls verfolgten und geflüchteten Person erworben wurde. Damit habe nur ein kleines Zeitfensters zwischen Kriegsende und Erwerb der Albertina 1950 für den 837 Ebenda.

838 Der Beirat nimmt etwa auch bei einer vermuteten Fehlbezeichnung der Urheber:innen eine Werkidentität an, soweit andere

Indizien die Werke identisch erscheinen lassen, s. Beschl. zu Hugo Marmorek v. 01.04.2016, S. 3; Beschl. zu Käthe Kellner v. 05.10.2017, S. 2 f. 839 Ähnlich auch im Beschl. zu Armin Reichmann v. 02.03.2012, S. 3 f. 840 Beschl. zu Heinrich Rieger v. 15.10.2018, S. 3. Dies ist der Unterschied zum Beschl. zu Robert Schwarz v. 02.03.2012, S. 4, in dem gerade kein Nachweis vorlag, dass er jemals Eigentümer eines ähnlichen Kunstwerks war.

154  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

Zweiterwerb des ebenfalls verfolgten Verkäufers vom Kunsthändler bestanden.841 Außerdem sei nicht auszuschließen, dass noch weitere zum Titel passende Zeich­nungen Kokoschkas existieren.842 Aus den Ausführungen des Beirats folgt mithin, dass eine Werkidentität nicht allein basierend auf der Erinnerung der Nachkommen der Eigentümer:innen angenommen werden kann. Dies gilt besonders, wenn die Existenz ähnlicher Werke nicht ausgeschlossen ist und keine Grunddaten des Werkes überliefert sind.843 Bei der Untersuchung der Werkidentität zeigt sich erneut, dass es stets auf das Zusammen­ spiel der verschiedenen Indizien ankommt, die vom Beirat umfassend ausgewertet werden. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang selbstverständlich die Grunddaten eines Werkes. Aber auch den Verlust- und Erwerbsumständen kommt daneben eine starke indizielle Wirkung zu. Ebenso wie nach der Untersuchung des während der nationalsozialistischen Herrschaft bestehenden Eigentums sind in der Empfehlungspraxis zur Werkidentität keine unmittelbaren Widersprüche zu erkennen. Lediglich die Grunddaten des Werkes scheinen mal mehr und mal weniger Gewicht bei der Bewertung des Indizienbündels zu erfahren. Nichtsdestotrotz ist auch hier auffällig, dass der Beirat aufgrund der Heterogenität der Sachverhaltskonstellationen sehr einzelfallbezogen argumentiert und damit erneut keine abstrakt anwendbaren Standards zur Bestimmung der Werkidentität entwickelt. 5. Bei besonderen Fallkonstellationen von Eigentumsverhältnissen

Bevor die Empfehlungspraxis des Beirats zur Bestimmung der Eigentümer:innen im Lichte der Washingtoner Prinzipien bewertet wird, widmet sich diese Arbeit drei besonderen Fallkonstellationen, die typischerweise die Ermittlung der Eigentümer:innen erschweren: die Eigentumsverhältnisse im Kunsthandel, unter engen Familienmitgliedern sowie bei Veräußerungen durch Dritte für die Eigentümer:innen. a) Eigentumsverhältnisse im Kunsthandel

Die Eigentumsverhältnisse bei im Kunsthandel tätigen Personen stellen einen Sonderfall dar, weil eine Differenzierung von Privatsammlung und Verkaufsware der mit Kunst handelnden Person regelmäßig kaum möglich ist. Zumal sich Handel und Privatleben oftmals auch örtlich überschnitten. Dies ist insoweit problematisch, als die Verkaufsware der Kunsthandlung zumeist nur als Kommissionsware übergeben wurde, also bis zur Veräußerung weiterhin im Eigentum der Einliefernden stand. Zum einen besteht also die Schwierigkeit, zwischen Privatsammlung und Verkaufsware zu unterscheiden; zum anderen wirft eine Zuordnung zur Verkaufsware die Frage auf, ob das Kulturgut als Kommissionsware noch im Eigentum der Einliefernden stand oder der Kunsthandlung oder ihren Inhaber:innen übereignet wurde.844

841 Es ist nicht ersichtlich, warum das Zeitfenster zwischen 1945 und 1950 als klein betrachtet wird, zumal der Kunsthändler die

Zeichnung durchaus auch während der nationalsozialistischen Herrschaft im Ausland hätte verkaufen können.

842 Beschl. zu Heinrich Rieger v. 15.10.2018, S. 3.

843 Vgl. Beschl. zu Ferdinand Bloch-Bauer v. 25.11.2004, S. 2; Beschl. zu Camilla Kuffner v. 14.12.2005, S. 2.

844 Der Beirat diskutiert jedoch keine unterschiedliche Behandlung von Handelsware und Privateigentum bei den Entziehungs-

anforderungen, s. dazu nur OLG Köln, Urt. v. 08.07.2016 – I-1 U 36/13, KUR 2016, 150, 150 ff.

155  C. Das Eigentum am Kulturgut als Vorbedingung der Entziehung

Der Beirat ist bereits in zwei Fällen mit den Schwierigkeiten der Bestimmung der Eigentumsverhältnisse im Kunsthandel konfrontiert gewesen. Aber lediglich im Beschluss zu Ignatz Pick entscheidet er über die Zuordnung zu Privatsammlung oder Verkaufsware. Ignatz Pick war ein Wiener Kunsthändler und -sammler. Da er als ›Jude‹ definiert wurde, befand sich seine Kunsthandlung ab 1938 unter kommissarischer Verwaltung; im Mai 1939 wurde sie ›arisiert‹. Er verfügte aber zugleich über eine umfassende Privatsammlung, auf die die Vollmacht des kommissarischen Verwalters erst Ende 1938 ausgedehnt wurde. Die beiden verfahrensgegenständlichen Werke waren nicht auf einer Inventarliste des Warenlagers der Kunsthandlung von Dezember 1938 vermerkt. Eine ­Schätzliste der privaten Sammlung ist nicht mehr vorhanden. Dem Beirat reicht in diesem Fall bereits ein Indiz aus, um eine Zuordnung vorzunehmen: Er geht von der Zugehörigkeit der beiden verfahrensgegenständlichen Werke zur Privatsammlung Picks aus, da sie nicht auf der Inventarliste des Warenlagers der Kunsthandlung vermerkt gewe­sen seien.845 Eine Differenzierung innerhalb der Verkaufsware in Eigentum Picks oder kommissionsweise überlassene Werke anderer Eigentümer:innen war damit gar nicht erst vorzunehmen. Anders ist die Ausgangslage im Beschluss zu Alfred Flechtheim/George Grosz: Die Restitution des verfahrensgegenständlichen Gemäldes scheitert letztlich aus anderen Gründen, sodass der Beirat in dieser Frage keine Auswertung des von ihm dargestellten Sachverhalts vornimmt. Die Eigentumsverhältnisse bleiben somit unklar, wie bereits die Nennung beider Namen in der Bezeichnung des Beschlusses veranschaulicht.846 Dadurch umschifft der Beirat die im Falle Flechtheims stets sehr komplexen Eigentums- und Besitzverhältnisse, da sowohl eine Trennung von Privat- und Galeriebesitz als auch innerhalb des Galeriebesitzes eine Differenzierung von Eigentum Flechtheims und Kommissionsware kaum möglich ist. Das in Rede stehende Gemälde sei dem Beirat zufolge zweifelsfrei nicht der Privatsammlung Flechtheims zuzuordnen. Indes sei fraglich, ob es im Eigentum des Kunsthändlers oder seiner ­Kunsthandlung stand oder diesem bloß kommissionsweise von Grosz überlassen wurde – eine Frage, die im Zusammenhang mit Flechtheim bisher kaum geklärt werden konnte.847 Zwar setzt sich der Beirat auch in weiteren Beschlüssen mit Kulturgütern von im Kunsthandel tätigen Personen auseinander,848 jedoch sind in diesen Fällen den Sachverhaltsdarstellungen zufolge die Eigentumsverhältnisse unproblematisch. Wenn somit das verfahrensgegenständliche Kulturgut nicht im Inventar der Kunsthandlung vermerkt ist und keine anderweitigen Anhaltspunkte für fremdes Eigentum vorliegen, nimmt der Beirat eine Zuordnung zur im Kunsthandel tätigen Person an; unerheblich, ob Privat- oder Unternehmenseigentum. b) Eigentumsverhältnisse unter engen Familienmitgliedern

Einen weiteren Sonderfall bei der Bestimmung der Eigentümer:innenstellung stellen die Eigentumsverhältnisse unter Familienmitgliedern dar. Hier stehen häufig kaum Indizien für eine kon845 Beschl. zu Ignatz Pick v. 01.10.2001, S. 2.

846 Beschl. zu Alfred Flechtheim/George Grosz v. 29.03.2006, S. 1 ff. u. 08.03.2013, S. 1 ff.

847 Krohn, in: Blimlinger/Schödl (Hrsg.), Praxis, 2014, S. 221, 223 ff.; Jentsch, Flechtheim – Grosz, 2008, S. 67 ff.

848 Beschl. zu Siegfried Lämmle v. 10.10.2000; Beschl. zu Abraham u. Elkan Silbermann v. 11.09.2009; Beschl. zu Betty Blum v.

05.10.2016.

156  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

krete Eigentumszuordnung zur Verfügung. Erstmals wird der Beirat im Beschluss zu Wilhelm Müller-Hofmann mit dieser Problematik konfrontiert. Der Beirat stellt zunächst ausdrücklich fest, dass ein Eigentum eines anderen Familienmitgliedes als Wilhelm Müller-Hofmann möglich sei. Er versucht in der Konsequenz jedoch nicht, diese Person anhand von Indizien zu ermitteln, sondern führt aus, dass »auf die angeführte Unklarheit hinsichtlich des tatsächlichen seinerzeitigen Eigentümers […] nach Möglichkeit bei Ausmittlung der für die Rückgabe in Betracht kommenden Personen Bedacht zu nehmen« sei.849 Somit erachtet der Beirat es – entgegen seiner ständigen Empfehlungspraxis – offenbar als ausreichend, dass erst im Rahmen der Ermittlung der Begünstigten durch das zuständige Ministerium die Eigentümer:innen festgestellt werden. Gleichwohl ist auffällig, dass er dennoch die Restitution an die »Erben nach Wilhelm MüllerHofmann«850 empfiehlt – und damit offenbar Wilhelm Müller-Hofmann als Eigentümer betrachtet. Diese Ausnahme von seiner bisherigen Praxis, in welcher der Beirat die Eigentümer:innen stets durch Indizienauswertung selbst bestimmt hat, scheint er unter Verweis auf das gemeinsame Zusammenleben in einer familiären Hausgemeinschaft als gerechtfertigt anzusehen. Eine nähere Begründung der Abweichung von der bisherigen Praxis liefert er gleichwohl nicht. Diese wäre aber geboten, etwa unter Verweis auf eine Unerheblichkeit der Bestimmung innerhalb der Familie angesichts einer im Ergebnis identischen Erbfolge. Andernfalls liegt die als Einstieg entscheidende Entziehungsvoraussetzung des Eigentums nicht vor. Durch die Verlagerung der Ermittlung der Eigentümer:innenstellung auf die Ebene des Ministeriums nimmt der Beirat die ihm gesetzlich zugeschriebene Aufgabe der Tatbestandsprüfung nicht vollständig wahr. Diese Delegation der ihm gesetzlich zugewiesenen Aufgaben erscheint jedoch einmalig in Ansehung der sonstigen Empfehlungspraxis: Im Beschluss zu Felix und Josefine Löw-Beer, in dem anders als im Fall Müller-Hofmann nicht die Eigentumsverhältnisse unter sämtlichen Fami­ lienmitgliedern, sondern bloß unter Eheleuten zu untersuchen sind, begründet der Beirat seine Entscheidung ausführlich. Die Einrichtung der als ›Juden‹ definierten Eheleute Felix und Josefine Löw-Beer wurde auf einer »Wohnungsversteigerung« des Auktionshauses Dorotheum verkauft. Die beiden verfahrensgegenständlichen Musikinstrumente wurden jedoch zuvor ausgenommen und gelangten in die Sammlung des Kunsthistorischen Museums. Es liegen keine Verzeichnisse vor, die Auskunft über die Eigentumsverhältnisse der Eheleute geben können. In seiner Begründung zieht der Beirat erstmals familienrechtliche Wertungen heran. Er übersehe »nicht, dass auf Grund der vorliegenden Ermittlungen nicht festgestellt werden kann, ob die verfahrensgegenständlichen Musikinstrumente im Eigentum von Felix Löw-Beer oder seiner Ehefrau Josefine Löw-Beer standen. Wenn auch das ABGB in § 1237 vom Grundsatz der Güter­ trennung ausgeht, hält der Beirat im Hinblick auf die gemeinsame Verfolgung des Ehepaares und dessen offensichtlich gemeinsamer Haushaltsführung sowie der – zumindest nach derzeitigem Stand – Unmöglichkeit einer konkreten Feststellung der Eigentumsverhältnisse für ge-

849 Beschl. zu Wilhelm Müller-Hofmann v. 28.09.2007, S. 2.

850 Beschl. zu Wilhelm Müller-Hofmann v. 28.09.2007, S. 1.

157  C. Das Eigentum am Kulturgut als Vorbedingung der Entziehung

rechtfertigt, für die Feststellung der rückgabeberechtigten Rechtsnachfolger von Todes wegen vom ungeteilten Eigentum des Ehepaares an den Musikinstrumenten auszugehen.«851 Der Beirat erkennt also die Unmöglichkeit der Ermittlung des Eigentums unter den Eheleuten und begründet dementsprechend, warum er trotz des zivilrechtlichen Grundsatzes der Gütertrennung aus § 1237 ABGB ein gemeinsames Eigentum der Eheleute annimmt. Es liegen keine dies indizierenden, offiziellen Dokumente vor, etwa die Bezeichnung als »gemeinsames Eigentum« in der Vermögensanmeldung wie im wenige Monate später gefassten Beschluss zu Samuel und Gittel Bauer.852 Vielmehr geht der Beirat allein aufgrund der gemeinsamen Verfolgung und Haushaltsführung – wie auch immer letztere ausgesehen haben soll – von einem ebenso gemeinsamen Eigentum aus. Diese Argumentation hätte aber zur Folge, dass in Restitutionssachen entgegen dem allgemeinen Zivilrecht per se ein gemeinsames Eigentum von Eheleuten anzunehmen wäre, da in den vom Beirat untersuchten Fällen die Eheleute in der Regel gemeinsam »den Haushalt führten« und zusammen verfolgt wurden.853 Unter dieser Prämisse könnte ein getrenntes Eigentum nur noch angenommen werden, wenn konkrete Anhaltspunkte für das Eigentum einer einzelnen Person vorlägen. Diese Argumentation findet jedoch keinen Rückhalt in der sonstigen Empfehlungspraxis des Beirats, die entweder gar nicht auf die Aufteilung des Eigentums unter Eheleuten eingeht854 oder die jeweiligen Eigentumsverhältnisse umfassend prüft855. Während das Zivilrecht – ungeachtet der Ausklammerung durch den Beirat – typisierte Eigentumsverhältnisse für Eheleute normiert, enthält es keine solche Typisierung für Geschwis­ ter. Vermutlich knüpft der Beirat im Beschluss betreffend die Geschwister Hermann und Käthe Kolisch aus diesem Grund – im Vergleich zum Beschluss zu Felix und Josefine Löw-Beer – deutlich stärker wieder an die konkreten Tatsachen des Falles als Indizien an. Der Beirat nimmt ein gemeinsames Eigentum der Geschwister an, obwohl einerseits der Verkauf der verfahrensgegenständlichen Blätter durch Hermann Kolisch erfolgte, andererseits die Ausfuhrgenehmigung auf Käthe Kolisch umgeschrieben wurde. Für das gemeinsame und paritätisch aufgeteilte Eigentum spreche nach Ansicht des Beirats dennoch sowohl die vollkommen identische Vermögensanmeldung der Geschwister als auch die Erklärung ihres Onkels, wonach dieser den Geschwistern gemeinsam Kunstwerke geschenkt habe.856 Diese Beispiele aus der Empfehlungspraxis haben gezeigt, dass die juristische Bewertung der Eigentumsverhältnisse unter Familien­ mitgliedern durch den Beirat deutlich mehr Probleme aufwirft als die zuvor dargestellten Fall­­­ konstellationen, obwohl der Beirat in diesen Konstellationen sogar teils auf familienrechtliche Typisierungen zurückgreifen kann.

851 Beschl. zu Felix u. Josefine Löw-Beer v. 20.03.2009, S. 2 f. 852 Beschl. zu Samuel u. Gittel Bauer v. 20.11.2009, S. 2 f.

853 Die gemeinsame Verfolgung von Eheleuten wurde auch in der Nachkriegszeit im Falle eines als ›Jude‹ definierten Teils des

Ehepaares als grundsätzliche Wertung von der Rückstellungsrechtsprechung aufgegriffen, s. dazu unter § 7 D.II.2.a), S. 171.

854 Vgl. nur Beschl. zu Edwin u. Karoline Czeczowiczka v. 18.08.1999; Beschl. zu Irma u. Siegfried Kantor v. 22.11.1999; Beschl.

zu Henri u. Pauline Grünzweig v. 18.08.2000; Beschl. zu Claire u. Gustav Kirstein v. 23.01.2001; Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 10.04.2002. 855 Beschl. zu Hermann Eissler v. 24.06.2009, S. 15 ff. 856 Beschl. zu Hermann u. Käthe Kolisch v. 08.10.2013, S. 2 f.

158  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

c) Eigentumsverhältnisse bei Veräußerungen durch Dritte

Eine weitere Fallkonstellation, die typischerweise einer vertieften Beweiswürdigung zur Bestimmung der Eigentümer:innen bedarf, ist die Veräußerung durch Dritte für die Eigentümer:in­ nen. In manchen Fällen liegt dieser eine Stellvertretung zugrunde. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn anhand von Indizien davon ausgegangen werden kann, dass den Erwerber:innen das Eigentum einer anderen als der handelnden Person offenkundig war und zumindest eine konkludente Bevollmächtigung dieser angenommen werden kann.857 In der Regel kann eine Veräußerung durch Dritte für als ›Juden‹ definierte Personen aber nicht als Stellvertretung im zivilrechtlichen Sinne betrachtet werden. Denn ab Dezember 1938 durften als ›Juden‹ definierte Personen inländischer Staatsangehörigkeit gemäß § 14 der Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens858 keine Juwelen, Schmuck- und Kunstgegenstände für mehr als RM 1000 verkaufen. Es galt also in vielen Fällen, die Offenkundigkeit, also das Handeln im Namen der als ›Juden‹ definierten Eigentümer:innen, zu vermeiden, indem die­ se als ›arisch‹ definierte Dritte die Veräußerung vornehmen ließen. Eine Ausnahme vom Offenkundigkeitsgrundsatz lässt sich in diesen Konstellationen nur schwerlich vertreten, war es doch während der nationalsozialistischen Herrschaft für viele Erwerber:innen durchaus von Bedeutung, keine Geschäfte mit als ›Juden‹ definierten Personen abzuschließen. Der Beirat hat dann zu ermitteln, ob die handelnde Person Eigentümer:in war und für sich selbst oder aber für eine andere Person handelte. Im Beschluss zu Adele Pächter untersucht der Beirat, ob ein Eigentum Pächters angenommen werden kann, obwohl ihr als ›arisch‹ definierter Schwiegersohn als Einlieferer des verfahrensgegenständlichen Kulturguts in der Versteigerung auftrat. Adele Pächter war Alleinerbin des 1902 verstorbenen Hermann Pächter und stellte die Sammlung für verschiedene Ausstellungen zur Verfügung. Darunter war auch das verfahrensgegenständliche Blatt »Rüstkammerphantasie«, das 1905 in einem Ausstellungskatalog mit der Eigentumsangabe »Frau H. Pächter« vermerkt wurde. 1928 und 1932 wur­ de das Blatt gemeinsam mit weiteren Objekten, die 1905 dem Eigentum Adele Pächters zugeschrieben wurden, in Ausstellungen gezeigt. Zudem ist es auf einer nicht datierten Innenaufnahme des Hauses der Familie Pächter abgebildet. Einer Aussage der Tochter Adele Pächters von 1957 zufolge sei ihre als ›Jude‹ definierte Mutter noch 1938 wohlhabend gewesen, sie habe aber das Vermögen bis zu ihrer Deportation für den Unterhalt vollständig verbraucht. 1935 wurde ein anderes Blatt des Künstlers aus dem »Besitz P. Berlin« unter Verweis auf den Katalog von 1905 bei einer so genannten ›Judenauktion‹ versteigert. Im April 1940 wurden zehn Blätter aus dem Besitz von »Sch. Dahlem« in demselben Auktionshaus versteigert. In einem Schreiben des Auktionshauses an den in Dahlem lebenden, als ›arisch‹ definierten Schwiegersohn Pächters, Bruno Schel-

857 Offenbar ausdrückliche Vollmacht im Beschl. zu Gertrude Felsövanyi v. 12.04.2019, S. 2 ff. Im Beschl. zu Alfred Menzel v.

15.10.2015, S. 2, veräußerte der Bruder, aber es lagen ein vorheriger Ausfuhrantrag Alfred Menzels und ein Vermerk der Wiener Museen vom Eigentum Alfred Menzels vor. Im Beschl. zu Fritz Illner v. 18.10.2019, S. 3, erfolgte die Veräußerung durch die Schwägerin, aber das Museum vermerkte eine Veräußerung durch die Schwägerin »für Fritz Illner«. 858 Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938, RGBl. I Nr. 206, S. 1709–1712 (im Folgenden: Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens).

159  C. Das Eigentum am Kulturgut als Vorbedingung der Entziehung

long, führte der Auktionator aus, dass er ihm den Katalog der Versteigerung übersende, »in dem ihr [sic] Beitrag rot angestrichen ist«. Auf der Rückseite des Schreibens findet sich eine handschriftliche Aufstellung der verkauften Blätter, darunter »Rüstungen«. Der Beirat geht davon aus, dass Adele Pächter im Zeitpunkt der Einbringung zur Versteigerung Eigentümerin des Blatts war. Zwar sei durch das Schreiben an ihren Schwiegersohn eindeutig belegt, dass dieser das Blatt zur Versteigerung eingebracht hat, jedoch sei er »lediglich als (›arischer‹) Vertreter seiner Schwiegermutter« aufgetreten.859 Die Bezeichnung als »Vertretung« ist hier bei formaljuristischer Betrachtung insoweit unpassend, als zwar von einer Bevollmächtigung des Schwiegersohnes durch die Schwiegermutter ausgegangen werden kann, jedoch es dem Sachverhalt zufolge an der Offenkundigkeit für eine Stellvertretung mangelte. Ungeachtet dieser sprachlichen Ungenauigkeit betrachtet der Beirat die folgenden Umstände als Indizien für das trotz des Verkaufs durch den Schwiegersohn ungeteilte Eigentumsrecht Pächters: Zum einen spreche die gemeinsame Ausstellung des Blattes mit anderen Werken bis 1932 und die Aussage der Tochter Pächters über deren bis 1938 bestehendes Vermögen für Pächters Eigentum. Zum anderen lasse sich für eine Eigentum Pächters die Versteigerung eines weiteren Blattes 1935 mit Verweis auf den »Besitz P. Berlin« zusammen mit dem Katalog von 1905 anführen.860 Dem Eigentum einer als ›Jude‹ definierten Person steht mithin der Verkauf durch als ›arisch‹ definierte Verwandten nicht entgegen, wenn keine Indizien für eine vorherige Eigentumsübertragung vorliegen. Im Beschluss zu Vera Dukes handelt es sich bei der veräußernden Person nicht um ein enges Familienmitglied, sondern um einen entfernt familiär verbundenen Freund der Familie. Der Beirat nimmt hier kein Eigentum des Freundes am verfahrensgegenständlichen Hammerflügel an, sondern geht von einer Veräußerung für Dukes durch den von ihr bevollmächtigten Freund aus. Auch in diesem Fall liegt zwar eine Bevollmächtigung durch die Eigentümerin vor, es mangelt aber erneut vermutlich an der Offenkundigkeit der Vertretung bei der Veräußerung. Für Dukes‹ Eigentum spreche dem Beirat zufolge aber trotz fehlender Offenkundigkeit zum einen, dass sich der Hammerflügel im von ihr bewohnten Haus befand und er in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu ihrer Flucht veräußert wurde. Zum anderen sei der Freund nicht nur aufgrund der Vollmacht, sondern mit Dukes auch entfernt familiär verbunden und ihr privat behilflich gewesen. Zudem sei er 1943 wegen Unterstützung verfolgter Personen verhaftet worden. Der Beirat nimmt daher an, dass dieser Freund den Hammerflügel für Dukes veräußert hatte.861 Zusammenfassend ist mithin festzuhalten, dass mangels Offenkundigkeit in den seltensten Fällen eine Stellvertretung im zivilrechtlichen Sinne bei Veräußerungen durch Dritte vorlag, selbst wenn diese von den tatsächlichen Eigentümer:innen bevollmächtigt wurden. Vielmehr treten die Veräußernden zur Verschleierung der Provenienz vielfach als Eigentümer:innen auf, handeln also im eigenen Namen, um für als ›Juden‹ definierte Personen Objekte zu veräußern. In diesen Fällen ist dann eine umfassende Indizienauswertung notwendig, um ein Eigentum der in Rede stehenden verfolgten Person anzunehmen.

859 Beschl. zu Adele Pächter v. 07.03.2014, S. 4. 860 Ebenda.

861 Beschl. zu Vera Dukes v. 06.07.2017, S. 3.

160  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

6. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien

Um die Bestimmung der Eigentümer:innen durch Indizienbeweisführung im Lichte der Washing­ toner Prinzipien zu bewerten, sind vorab die Beweisanforderungen der Prinzipien zu destillieren: Nach Prinzip Nr. 4 soll bei »dem Nachweis, dass ein Kunstwerk durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückerstattet wurde, […] berücksichtigt werden, dass aufgrund der verstrichenen Zeit und der besonderen Umstände des Holocaust Lücken und Unklarheiten in der Frage der Herkunft unvermeidlich sind.« Die Washingtoner Prinzipien rufen also explizit dazu auf, die Beweisanforderungen an die den Verfolgungs- und Kriegsumständen geschuldete, schwierige Beweislage anzupassen. Auf den ersten Blick scheint diese Anpassung der Beweisanforderungen nur für die Frage des Verlusts zu gelten, doch der Verweis auf die Unklarheiten bei der Provenienz macht deutlich, dass auch an den Nachweis des Eigentumsrechts keine allzu hohen Anforderungen zu stellen sind. Wie genau diese Anpassung der Anforderungen erfolgen soll und inwieweit die auf nationaler Ebene etablierten Beweisregeln Anwendung finden, lösen die Washingtoner Prinzipien ebenso wenig wie die Theresienstädter Erklärung auf. Dazu bedarf es erneut einer Hinzuziehung ihrer Entstehungsmaterialien und der Literatur. In den Statements der Delegationen auf der Washingtoner Konferenz wird die Frage nach den Beweisanforderungen konkret zum Eigentumsrecht erstaunlicherweise nur äußerst selten adressiert. Eher wird allgemein betont, dass Prinzip Nr. 4 einen wohlwollenden Spielraum beim Provenienznachweis erfordere. 862 So solle die Beweisführung nicht durch die formalrechtlichen Grenzen des Eigentumsbeweises beschränkt werden. Wenn eine Verkaufsrechnung oder Beschlagnahmeliste fehlt, seien auch Tagebucheinträge, Versicherungsinventare oder andere archivarische Dokumente als ausreichender Nachweis des Eigentumsrechts zu erachten.863 Dies bestätigen auch die Entstehungsmaterialien der Theresienstädter Erklärung, wo teils »erleichterte Beweisstandards« beim Nachweis des Eigentumsrechts gefordert werden.864 Dabei solle insbesondere auch berücksichtigt werden, dass die Grunddaten eines Kulturguts – die insbesondere dem Nachweis der Werkidentität dienen – abweichen können und nicht selten verschiedene Fassungen ein- und desselben Motivs existieren.865 Ähnliches wird auch in ihrer Rezeption deutlich, Bindenagel zufolge müsse etwa die Anpassung der Beweisanforderungen an die Washingtoner Prinzipien bezwecken, »die Belastungen für die Geschädigten bei der Beweiserbringung […] zu minimieren«, da eine lückenlose Provenienzkette regelmäßig ausge-

862 Berlinger, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 331, 331; Switzerland and World War

II: A General Presentation, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 349–354, 352.

863 Eizenstat, Explanation, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 411, 416 f. Kritisch bzgl.

Verwendung privater Dokumente offenbar Ossmann, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 929, 938.

864 Heuberger, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 941, 947. In diese Richtung auch: Expert Conclusions, in:

Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 35–52, 46 f.; Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 724; Rubin, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 865, 867 f. 865 Rubin, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 865, 874; s. zur Bedeutung der Grunddaten ausführlich Kocourek et al., in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 43, 43 f. Dort findet sich auch eine äußerst umfassende Darstellung sämtlicher für die Feststellung des Eigentums relevanten Indizien.

161  C. Das Eigentum am Kulturgut als Vorbedingung der Entziehung

schlossen sei.866 An diesen Ausführungen zu den Beweisanforderungen der Washingtoner Prin­ zipien ist nun die Empfehlungspraxis des Beirats zu messen: Zunächst ist dafür das vom Beirat verwendete Beweismaß zu betrachten. Dieses könnte kaum heterogener sein, wobei sich aber eine leichte Tendenz zu einer »an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit« erkennen lässt. Angesichts dieser uneinheitlichen Ausgangslage erscheint es geboten, einen Blick in das Zivilprozessrecht zu werfen. Dieses muss als geltendes nationales Recht als Mindeststandard der Privilegierung der Geschädigten beim Umgang mit entzogenen Kulturgütern gelten.867 Die im österreichischen Zivilprozessrecht herrschende Wahrscheinlichkeitstheorie fordert, dass die behauptete Tatsache, also hier das Eigentum, mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr sein muss.868 Die herrschende Meinung in der Literatur zum Pro­zessrecht entspricht folglich am ehesten dem vom Beirat geforderten Beweismaß, wonach das damalige Eigentum »sehr wahrscheinlich« sein muss. Der Maßstab der »an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit«, geht demgegenüber zulasten der potenziellen Begünstigten über das Zivilprozessrecht hinaus. Indem der Beirat so an den Nachweis der Eigentümer:innenstellung strengere Anforderungen als das Zivilprozessrecht stellt, verletzt er den oben formulierten Grundgedanken des nationalen Rechts als Mindeststandard der Privilegierung aus den Washingtoner Prinzipien. Eine dem Prinzip Nr. 4 genügende Beweiswürdigung darf daher kein strengeres Beweismaß als »sehr wahrscheinlich« für die Eigentümer:innenstellung verwenden – und muss dabei auf Konsistenz bedacht sein. Gleichwohl bestimmt selbst bei einer abstrakten Festlegung eines erforderlichen Beweismaßes, wie im allgemeinen Prozessrecht, letztlich stets die subjektive Einschätzung der entscheidenden Stelle, also hier dem Beirat, ob ausreichende Umstände für die zu beweisende Tatsache sprechen.869 Zur allgemeinen Beweisführung durch die vom Beirat angeführten Indizien ist vorab hervorzuheben, dass sie mehrheitlich äußerst umfassend und tiefgehend ist. Auffällig ist, dass der Beirat – vermutlich unbeabsichtigt – regelmäßig genau die Indizien mit einbezieht, auf die Eizen­ stat auf der Washingtoner Konferenz verwiesen hat, namentlich Beschlagnahmelisten, private Aufzeichnungen, Versicherungsinventare oder archivarische Dokumente. Teils geht er sogar noch über diese hinaus, etwa indem er auch die Verlust- und Erwerbsumstände als Indizien für eine Eigentümer:innenstellung wertet. Gerade angesichts der ausdrücklichen Erwähnung von privaten Versicherungsinventaren als Indizien für die Eigentümer:innenstellung auf der Washingtoner Konferenz erstaunt die Ablehnung der Eigentümerstellung Bloch-Bauers durch den Beirat im Beschluss zu Amalie Zuckerkandl/Ferdinand Bloch-Bauer. Zumal er in einem vorheri­ gen Beschluss zu Ferdinand Bloch-Bauer dasselbe (!) Inventar noch als Indiz für dessen Eigen­ tümerstellung heranzieht. Indem der Beirat identische Indizien in einem Fall als Eigentumsnachweis ausreichen lässt, aber im anderen Fall bei ähnlicher Beweislage ein Eigentumsrecht 866 Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 19, 24. In diese Richtung auch Raschèr, AJP/PJA

1999, 155, 158; Crezelius, KUR 2007, 125, 126; Raschèr, KUR 2009, 75, 76; Eberl, KUR 2009, 155, 158; Parzinger, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 49, 54; von Selle/von Selle, osteuropa 2009, 131, 137; Demarsin, Brooklyn J. Int. Law 2011, 117, 138; Veraart/Winkel, in: dies. (Hrsg.), Post-War Restitution, 2011, S. 1, 3; Rosenberg, KUR 2014, 119, 122; Woodhead, Int. J. Cult. Prop. 2016, 385, 388; Baresel-Brand et al., in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 83, 83; a.A. Berking, KUR 2019, 179, 183 f. 867 S. zum nationalen Recht als Mindeststandard unter § 4 B.II.1., S. 42. 868 Fucik/Klauser/Kloiber, ZPO, 12. Aufl. 2015, § 272, S. 354; Klauser/Kodek, ZPO, 18. Aufl. 2018, § 272 Rn. 23; Rechberger/ Klicka, ZPO, 5. Aufl. 2019, Vor § 266 Rn. 5, § 272 Rn. 1. 869 Vgl. Klauser/Kodek, ZPO, 18. Aufl. 2018, § 272 Rn. 23/1.

162  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

ablehnt, behandelt er wesentlich gleiche Sachverhalte ungleich. Damit liegt ein drastischer Fall einer Verletzung des für eine »gerechte und faire Lösung« elementaren Gleichheitssatzes vor. Der Beirat bricht in diesem Beschluss jedoch nicht nur mit dem Gleichheitssatz, sondern auch dem Gedanken des nationalen Rechts als Mindeststandard der Privilegierung. Der sachenrechtliche Herausgabeanspruch sieht zwar keine Privilegierung für den Beweis des Eigentumsrechts bei nationalsozialistischen Entziehungen vor.870 Gemäß § 323 ABGB greift zugunsten der Besitzer:innen einer Sache aber die Vermutung des Eigentumsrechts, die angesichts des durch Ausstellungsvermerke nachgewiesenen Besitzes dann auch für ein Eigentum BlochBauers greifen müsste. Vom Besitz wird also das Eigentum abgeleitet. Unter Verweis auf § 323 ABGB hätte sich der Beirat in Anlehnung an die Vermutungswiderlegung umfassender mit Gründen auseinandersetzen müssen, die trotz des Besitzvermerks gegen ein Eigentum BlochBauers sprechen. Zumal er in anderen Beschlüssen vom Besitz Bloch-Bauers auf dessen Eigentum zu schließen scheint. So ist nachdrücklich zu betonen, dass sich die Kritik an der Beurteilung des Beirats gerade nicht an der bloßen Entscheidung für eine bestimmte Deutung des Sachverhalts entzündet – schließlich ist dieser Beurteilungsspielraum charakteristisch für eine freie Beweiswürdigung.871 Vielmehr macht sich die Kritik an der spezifischen Ungleichbehandlung trotz gleichen Sachverhalts sowie der nicht näher begründeten Abweichung von allgemeinen zivilrechtlichen Wertungen zulasten der Geschädigten fest. Letzteres gilt ebenso für die Beweisführung zur Frage des Eigentums unter engen Familien­ mitgliedern. Allen Fällen gemeinsam ist zwar auch in dieser Sonderkonstellation die umfassende Auswertung der verschiedenen Indizien durch den Beirat. Jedoch weicht der Beirat bei der Be­ stimmung der Eigentumsverhältnisse unter Eheleuten von dem zivilrechtlichen Grundsatz der Gütertrennung nach § 1237 ABGB ab,872 indem er aufgrund der gemeinsamen Verfolgung und Haushaltsführung ein gemeinsames Eigentum annimmt. Dies scheint weder mit Blick auf die Gütertrennung nach dem heutigen Familienrecht gerechtfertigt noch entspricht es dem zum damaligen Zeitpunkt noch stärker patriarchal geprägten Familienrecht. Denn § 1237 S. 2 ABGB a.F. sah eine Vermutung zugunsten des Alleineigentums des Ehemannes an während der Ehe erworbenen Gegenständen vor. Diese Vermutung wird aber vom Beirat in keinem der Beschlüs­ se ausdrücklich herangezogen, obwohl sie wohl weitestgehend auf die damaligen Eigentumsverhältnisse anzuwenden wäre.873 Vom Beirat wäre eine deutlich umfassendere Begründung für die Annahme des gemeinsamen Eigentums – und damit die Abweichung vom damaligen so­ wie heutigen Zivilrecht – zu erwarten gewesen. Nach der Gesamtschau auf die Beweiswürdigung des Beirats zur Bestimmung der Eigentü­ mer:innen wird deutlich, dass der Beirat einen hohen Begründungsaufwand in die Bündelung der Indizien steckt. Zu kritisieren ist jedoch, dass er die Ergebnisse dieser Bündelung offenbar – im Gegensatz zu den meisten materiellen Erkenntnissen – nicht zu systematisieren scheint, sondern stets äußerst einzelfallbezogen entscheidet. Eine verstärkte Berücksichtigung des Einzelfalls ist der freien Beweiswürdigung freilich zu einem gewissen Grad inhärent. Indem der Beirat bei der Bestimmung der Eigentümer:innen aber jegliche Systematisierung und Vereinheitlichung 870 Vgl. nur Klang/Kodek, ABGB, 3. Aufl. 2011, § 366 Rn. 74 f. 871 Klauser/Kodek, ZPO, 18. Aufl. 2018, § 272 Rn. 24/1.

872 Kletečka/Schauer/Fucik, ABGB, März 2019, § 1237 Rn. 1; Rummel/Lukas/Bydlinski, ABGB, Juni 2019, § 1237 Rn. 1;

Koziol/Bydlinski/Bollenberger/Koch, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 1237 Rn. 1 ff.

873 Es wird sich lediglich in der Literatur betreffend das Portrait »Adele I« aus der Sammlung Bloch-Bauer auf § 1237 ABGB

bezogen, s. Welser/Rabl, Der Fall Klimt, 2005, S. 75 ff.; Welser, ÖJZ 2005, 689, 693 f.; Krejci, Der Klimt-Streit, 2005, S. 100 ff.

163  C. Das Eigentum am Kulturgut als Vorbedingung der Entziehung

seiner Empfehlungspraxis unterlässt, verkennt er augenscheinlich die Vergleichbarkeit von Fällen. Dies macht sich regelmäßig bei der Bestimmung des Beweismaßes bemerkbar und führt im Beschluss Amalie Zuckerkandl/Ferdinand Bloch-Bauer zu einer drastischen Ungleichbehand­ lung. Darüber hinaus lässt der Beirat bei Abweichungen vom allgemeinen Zivilrecht, das bereits konkrete Beweiserleichterungen für bestimmte Eigentumskonstellationen enthält, eine nähere Begründung vermissen. Wenn der Beirat die äußert gelungene Indizienauswertung in einen sys­ tematischen Rahmen einbetten und das allgemeine Zivilrecht als Ausgangslage stärker einbeziehen würde, stünde einer insoweit vollends »gerechten und fairen« Beweiswürdigung im Lichte der Washingtoner Prinzipien nichts mehr entgegen.

D. Die Verfolgung der Eigentümer:innen als Weichenstellung der Entziehung Das Kriterium der Verfolgung findet sich nicht ausdrücklich im KRG,874 sondern stammt vornehmlich aus dem Rückstellungsrecht. Als Bezeichnung »völkische, rassistische oder politische Verfolgung« hatte es zudem bereits in der Rezeption des NichtigkeitsG Erwähnung gefunden.875 Die Verfolgung ist die Weichenstellung für den Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft: Nach § 2 Abs. 1 Drittes Rückstellungsgesetz lag eine Entziehung im Sinne des § 1 Abs. 1 des Gesetzes – und damit der geforderte Zusammenhang – »insbesondere vor, wenn der Eigentümer politischer Verfolgung durch den Nationalsozialismus unterworfen war und der Erwerber des Vermögens nicht dartut, daß die Vermögensübertragung auch unabhängig von der Machtergreifung des Nationalsozialismus erfolgt wäre.« Gemäß § 2 Abs. 2 3. RStG lag »in anderen Fällen«, also bei nicht-verfolgten Personen, eine Entziehung »insbesonde­ re nicht vor, wenn der Erwerber dartut, daß der Eigentümer die Person des Käufers frei ausgewählt und eine angemessene Gegenleistung erhalten hat«. Das Rückstellungsrecht nahm also eine Typisierung in verfolgte und nicht-verfolgte Personen vor, die gleichzeitig die Weichen für die Anforderungen an den Kausalzusammenhang stellte. Der Beirat hat sich in der Prüfung der Tatbestände aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG bisher nicht von diesem »zweispurigen Modell«876 des 3. RStG auf Grundlage des Differenzierungs­ kriteriums der Verfolgung distanziert, da er gelegentlich auch Verluste von Kulturgütern aus dem Eigentum nicht-verfolgter Personen diskutiert. Jedoch machen diese Fälle lediglich knapp zwei Prozent der Beschlüsse des Beirats aus; in keinem wird eine Restitution empfohlen. In Ansehung der über 98 Prozent der Fälle zu verfolgten Personen orientiert sich diese Arbeit an der Prüfung einer Entziehung zulasten Verfolgter. Da also die Verfolgung der Eigentümer:innen bestimmt, wie die Weiche an der Gabelung für die Anforderungen an den Kausalzusammenhang gestellt wird, ist vorab zu konkretisieren, was der Beirat unter dem Begriff der »Verfolgung«

874 Anders in den Restitutionsregelungen der Länder und Kommunen, in denen teils ausdrücklich die verfolgten Gruppen ge-

nannt werden, gebündelt abrufbar unter: https://www.kunstdatenbank.at/gesetze.

875 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 93. Noch im Gesetzgebungsverfahren im Parlament wurde unter

Zustimmung des Saales behauptet: »Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß wir genau so bettelarm und ausgeplündert sind wie der einzelne arme Jude, dem der Gestapoagent und Ariseur des letzte [sic] erpreßt und ihn dann aus dem Lande hinausgejagt hat. […] Ist es nicht so, daß wir genau so wie dieser zurückgekehrte vertriebene, entrechtete Jude arm neben dem stehen, was der Hitlerfaschismus uns entzogen hat?«, Wortmeldung Migsch bei der 14. Sitzung des Nationalrates am 15.05.1946, Stenografische Protokolle des Nationalrats, V. GP, S. 193. 876 Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 61.

164  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

versteht. Dieses Begriffsverständnis leitet über zu den zwei verschiedenen Verfolgungskategorien in der Empfehlungspraxis des Beirats, der Kollektiv- sowie der Individualverfolgung und zu deren Beweisanforderungen. Im Anschluss werden die Besonderheiten der Verfolgung von juristischen Personen sowie zwecks Abgrenzung die wenigen Fälle des Beirats, die nicht-verfolgte Personen zum Gegenstand haben, kurz erläutert. Abschließend werden die ermittelten Verfolgungskategorien und deren Hierarchisierung untereinander im Lichte der Washingtoner Prinzipien beurteilt.

I. Vorbemerkung: Zum Begriff der Verfolgung Zunächst ist der Verfolgungsbegriff des Beirats unter Rekurs auf das Nachkriegsrecht zu umreißen. Erstmals wurde die Verfolgung in § 2 Abs. 1 3. RStG als dem Wortlaut nach ausschließlich »politische Verfolgung«877 zu einer Restitutionsvoraussetzung. Die österreichische Nachkriegslegislative beabsichtigte mit der Bezeichnung durch das Adjektiv »politisch« jedoch einen möglichst weiten Verfolgungsbegriff. In Rückstellungsrechtsprechung und -literatur wurde gerade auch antisemitische und rassistische Verfolgung unter das Merkmal subsumiert.878 Der Begriff der »politischen Verfolgung« meinte mithin nicht allein die Verfolgung aufgrund der politischen Tätigkeit oder Einstellung der Geschädigten. Er ließ sich vielmehr als generelle Bezeichnung für die Verfolgung durch die Politik des nationalsozialistischen Regimes verstehen und kann daher auch verkürzt als »Verfolgung« bezeichnet werden. Im Gegensatz zum alliierten Rückerstattungsrecht in Deutschland differenzierten innerhalb des Begriffs der Verfolgung weder die österreichische Rückstellungsrechtsprechung noch die damalige Legislative begrifflich zwischen den beiden Kategorien der kollektiv und der individuell verfolgten Personen.879 In Anlehnung an die Regelungen in Deutschland nahm die öster­ reichische Rückstellungsrechtsprechung aber eine Auslegung des Begriffs der Verfolgung durch eine Aufteilung in zwei Kategorien vor, die funktional den Kategorien der Individual- und Kollek­ tivverfolgung entsprachen.880 Der Beirat macht sich diese Kategorisierung aus der Nachkriegsrechtsprechung zu eigen, erfasst im funktionalen Sinne also sowohl Kollektiv- als auch Individualverfolgte. Er benennt zunächst aber ganz in der Tradition des Rückstellungsrechts die beiden Kategorien nicht und liefert auch keine allgemeingültige Definition der Verfolgung. Lediglich die Kollektivverfolgung bezeichnet er gelegentlich in der späteren Empfehlungspraxis als »sys­tematische«881 oder »generelle«882 Verfolgung. Die nachfolgende Untersuchung besteht aufgrund des Rückgriffs des Beirats auf diese funktionale Kategorisierung des Nachkriegsrechts gleichwohl aus einer Unterteilung in Kollektiv- und Individualverfolgung natürlicher Personen. Diese Unterteilung wiederum beruht auf einer aus der nationalsozialistischen Zuschreibung folgenden Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit von Personen zu einer bestimmten Gruppe.

877 Diese Formulierung scheint erst in der parlamentarischen Debatte entwickelt worden zu sein. Zuvor wurde offenbar lediglich

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879

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von ›Arisierungen‹ gesprochen, s. Wortmeldung Übeleis bei der 45. Ministerratssitzung am 12.11.1946, in: Knight, »Ich bin dafür…«, 2000, S. 115 f. Bailer, Wiedergutmachung, 1993, S. 141; Burkhart-Schenk, ÖJZ 1947, 347, 347; Klein, JBl 1947, 486, 489. Krämer-Noppeney, Kausalzusammenhang, 1991, S. 118. Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 64. Beschl. zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011, S. 29. Beschl. zu Stift Göttweig v. 25.09.2020, S. 6.

165  D. Die Verfolgung der Eigentümer:innen als Weichenstellung der Entziehung

II. Die Vermutung der kollektiven Verfolgung Angehörige bestimmter Personengruppen wurden in der Nachkriegszeit gegenüber sonstigen Personen insofern von der Rückstellungsjudikatur »privilegiert«, als das Tatbestandsmerkmal der Verfolgung widerleglich vermutet wurde; zu ihren Gunsten wirkte also eine Beweislast­ umkehr.883 Sie mussten im Gegensatz zu nicht zu diesen Gruppen zugehörigen Personen ihre Verfolgung nicht konkret beweisen, vielmehr war von der Gegenseite darzulegen, dass im konkreten Einzelfall keine Verfolgung vorlag.884 Zu diesen »privilegierten« Personen zählten im Rückstellungsrecht alle Personen, die durch »Beschränkung ihrer Rechte förmlich zu Staatsangehörigen zweiten Ranges degradiert wurden«, also einer strukturellen Diskriminierung unterlagen.885 Die wichtigste Fallgruppe der in dieser Arbeit als »Kollektivverfolgte« Bezeichneten bildeten im Rückstellungsrecht als ›Juden‹ definierte Personen sowie deren Familienmitglieder. Darüber hinaus waren jedoch »auch andere Personengruppen erfasst, deren Entrechtung, und ›Ausscheidung aus dem Volkskörper‹ in der machtpolitischen Zielsetzung des Nationalsozialismus gelegen war und die somit von diesem […] Entrechtung, Deportation, […] Ausrottung zu befürchten hatten«886, wie insbesondere Sinti und Roma887.888 Der Beirat orientiert sich in seiner Empfehlungspraxis stark am Rückstellungsrecht, doch entfällt die verfahrensrechtliche Funktion der Vermutung als Beweisregel des kontradiktorischen Verfahrens im amtswegigen Verfahren nach dem KRG. Vielmehr prüft der Beirat allein, ob die jeweiligen Eigentümer:innen zu den kollektiv verfolgten Personen zählten. Darunter fasst er, ebenso wie die Rückstellungsrechtsprechung, als ›Juden‹ definierte Personen sowie teils auch deren Familienmitglieder, die gemeinsam etwa 95 Prozent der Beschlüsse des Beirats ausmachen. Kulturgüter aus dem Eigentum der ebenfalls als kollektiv verfolgt betrachteten, »anderen Personengruppen« waren bisher noch nicht Gegenstand der Empfehlungspraxis des Beirats und sind damit ebenso wenig Gegenstand dieser Untersuchung. Für die einschlägigen Personen vermutet der Beirat sodann eine Verfolgung. Es sind keine Fälle bekannt, in denen trotz entsprechender Gruppenzugehörigkeit diese Vermutung als widerlegt betrachtet wurde. Im Folgenden soll zunächst erläutert werden, welche Personen als ›Juden‹ definiert und verfolgt wurden, bevor auf deren Familienmitglieder eingegangen wird.

883 Ausführlich zur Beweislastumkehr im internationalen Kulturgüterschutz s. Reichelt, in: dies. (Hrsg.), Rechtsfragen, 2008, S. 43,

48 f.; Reichelt, in: Weller/Kemle (Hrsg.), Kultur, 2016, S. 39, 47.

884 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 306, V. GP, in: Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947,

885

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S. 151; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 67; Graf, NZ 2007, 65, 76; Gößler, JBl 2008, 691, 697; Kritisch: Neuburg, Kommentar, 1949, S. 29 ff. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 306, V. GP, in: Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 151; vgl. auch Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 244, V. GP, in: Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 140; Burkhart-Schenk, ÖJZ 1947, 347, 347 f.; Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 259; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 101. Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 181 f. Zum gendersensibilisierten Umgang mit der Selbstbezeichnung »Sinti und Roma« s. https://vdsr-rlp.de/wp-content/uploads/2023/04/Positionspapier_­Zum-Gendern-der-Selbstbezeichnung-Sinti-und-Roma.pdf. Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 181 f.; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 66. Es sind zwar keine Fälle betreffend die Verfolgung aufgrund der Behinderung, Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung bekannt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass äquivalent zu den bereits erwähnten Kategorien auch diese Personen bei entsprechenden Indizien vom Beirat als Verfolgte betrachtet würden (so z.B. bereits in § 6 Abs. 1 EFG).

166  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

1. Kollektive Verfolgung von als ›Juden‹ definierten Personen

Bei der Definition einer Person als ›Jude‹ im Sinne der nationalsozialistischen Gesetzgebung ist vorab in besonderem Maße auf die Ausführungen zum Umgang mit der ›Sprache des Dritten Reichs‹ zu Beginn dieser Arbeit zu verweisen: 889 Die zugeschriebene Gruppenzugehörigkeit dieser Definition beruhte auf der Fremdzuschreibung durch die nationalsozialistische Gesetzgebung, stellte also weder auf eine religiöse Zuschreibung noch auf das Selbstverständnis der Personen ab. Der Charakter als Fremdzuschreibung muss daher bei der Lektüre der nachfolgenden, diskriminierenden gesetzlichen Vorschriften stets mitgedacht werden. Nach § 5 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz890 wurden als ›Juden‹ zum einen Personen definiert, die über mindestens drei ›volljüdische‹891 Großeltern verfügten (§ 5 Abs. 1), so genannte ›Volljuden‹; unerheblich war ihr Austritt aus der jüdischen Religionsgemeinschaft. Ebenso erfasste die Gesetzgebung zum Judentum konvertierte Personen; so genannte ›Glaubensjuden‹ unterlagen also gleichermaßen der nationalsozialistischen Verfolgung wie sogenannte ›Rasse­juden‹.892 Zum anderen definierte die nationalsozialistische Gesetzgebung als ›Juden‹ auch so genannte ›Geltungsjuden‹ (§ 5 Abs. 2). Darunter fielen Personen mit nur zwei ›volljüdischen‹ Großeltern, wenn sie an einem konkreten Stichtag der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten, mit einer als ›Jude‹ definierten Person verheiratet waren, aus einer Ehe zwischen einer als ›Jude‹ definierten Person und einer als ›arisch‹ definierten Person (›Mischehe‹) oder dem außerehelichen Geschlechtsverkehr mit einer als ›Jude‹ definierten Person stammten.893 Der Beirat stellt seinen Ausführungen zwar nicht voran, welche Personen vom national­ sozialistischen Regime gesetzlich als ›Juden‹ definiert und verfolgt wurden. Er rekurriert aber seit Beginn seiner Empfehlungspraxis auf die Rückstellungsrechtsprechung zur Verfolgung von als ›Juden‹ definierten Personen,894 die regelmäßig auf die nationalsozialistische Terminologie zur Kategorisierung der Verfolgung abstellte. Damit erfasst der Anwendungsbereich des KRG sämtliche als ›Juden‹ definierten Personen, also auch bereits vor der nationalsozialistischen Herrschaft zum christlichen Glauben konvertierte Personen.895 Im nachfolgend dargestellten Beschluss zum Ehepaar Brill zitiert der Beirat erstmals die von der Rückstellungsrechtsprechung etablierte Verfolgungsvermutung für als ›Juden‹ definierte Personen. Das Vermögen der als ›Juden‹ definierten Eheleute Livia und Otto Brill wurde vor Juli 1938 beschlagnahmt. Im Juli/August 1938 verkaufte das Ehepaar Zeichnungen an die Albertina, bevor es im September 1938 flüchtete. 889 S. zum sprachlichen Umgang mit dieser Fremdzuschreibung unter § 2, S. 21.

890 Sie galt in Österreich per Verordnung über die Einführung der Nürnberger Rassegesetze im Lande Österreich v. 20. Mai 1938,

RBGl. I 1938, S. 594 f.

891 Als ›volljüdisch‹ galten nach § 2 Abs. 2 S. 2 der Ersten der Verordnung zum Reichsbürgergesetz die Großeltern, wenn sie der

jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten oder angehört hatten.

892 So ausdrücklich im Beschl. zu Hanns Fischl v. 05.11.2021, S. 2; vgl. Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 65, Fn. 44. 893 S. dazu ausführlicher Tarrab-Maslaton, Rechtliche Strukturen, 1993, S. 66 ff.

894 Vgl. nur ORK, Entscheidung v. 19.06.1948 – Rkv 83/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 92,

S. 194; ORK, Entscheidung v. 03.07.1948 – Rkv 63/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 73, S. 158; ORK, Entscheidung v. 21.06.1952 – Rkv 112/52. 895 Vgl. nur Beschl. zu Carl Heumann v. 16.03.2018, S. 2; Beschl. zu Georg Rosenberg v. 29.06.2021, S. 2.; Beschl. zu Ernst Kris v. 29.06.2021, S. 5; Beschl. zu Alfred Kirchenberger v. 29.06.2021, S. 1.

167  D. Die Verfolgung der Eigentümer:innen als Weichenstellung der Entziehung

Der Rückstellungsjudikatur zufolge habe es keines weiteren Beweises bedurft, dass »Juden in Österreich der politischen Verfolgung durch die nationalsozialistischen Machthaber ausgesetzt waren«.896 Die aus dieser Beweislastumkehr zu entnehmende Wertung fließt seither in die stän­ dige Empfehlungspraxis des Beirats ein. Bei als ›Juden‹ definierten Personen nimmt er die Ver­ folgung immer als gegeben an; er erachtet die Vermutung also in keinem Fall als widerlegt.897 Dies gilt auch für in ›Mischehe‹ lebende, als ›Juden‹ definierte Personen, sowie für solche mit Auslandsbezug, wie der nachfolgende Blick in die Empfehlungspraxis des Beirats zeigt. a) Als ›Juden‹ definierte Personen mit Auslandsbezug

Die Einordnung von als ›Juden‹ definierten Personen als Kollektivverfolgte hindert dem Beirat zufolge weder deren ausländische Staatsangehörigkeit noch die Flucht in sichere Drittstaaten, wenn sie über Vermögen innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs verfügten. Rückstellungsrechtsprechung und -literatur begründeten diese Anwendung der Vermutung auf als ›Juden‹ definierte Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit, neben der ideologischen Erstreckung der Diskriminierung auf sämtliche als ›Juden‹ definierten Personen, mit den weitestgehend ebenfalls für diese geltenden Restriktionen des nationalsozialistischen Regimes.898 Dieser Wertung folgt der Beirat unter Verweis auf das Rückstellungsrecht auch in den Fällen Serena Lederer, die ungarische Staatsangehörige war,899 Valentine Springer, die über die bri­tische Staatangehörigkeit verfügte,900 sowie der tschechoslowakischen Staatsangehörigen ­Ernestine Skoda901 und der polnischen Staatsangehörigen Betty Blum902. In allen Fällen werden die Eigentümerinnen als kollektiv verfolgte Personen betrachtet. Die Vermutung findet somit auch bei als ›Juden‹ definierten Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit Anwendung. Noch in der Nachkriegszeit wurde häufig argumentiert, dass bereits in sichere Drittstaaten geflüchtete, als ›Juden‹ definierte Personen keiner Kollektivverfolgung unterlegen hätten,903 und auch heutzutage scheint diese Ansicht nicht unpopulär zu sein.904 Dem schließt sich der Beirat jedoch nicht an, wie der Beschluss zu Serena Lederer veranschaulicht. Die als ›Jude‹ definierte Kunstsammlerin Serena Lederer verfügte über die ungarische Staatsangehörigkeit und flüchtete nach Budapest, ihre Tochter veräußerte dann aus Ungarn Teile der in Wien verbliebenen, von der Ausfuhr gesperrten Sammlung Lederers. 896 Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 27.03.2000, S. 3 f.

897 Statt aller vgl. nur Beschl. zu Valerie Eisler v. 26.06.2000, S. 2; Beschl. zu Wilhelm Freund v. 30.10.2002, S. 2 f.; Beschl. zu

Heinrich Rieger v. 25.11.2004, S. 3; Beschl. zu Theodor Sternberg v. 07.03.2008, S. 1; Beschl. zu Ella Lewenz v. 15.04.2011, S. 1; Beschl. zu Siegfried Julius v. 03.07.2014, S. 1; Beschl. zu Robert Jonas v. 06.07.2017, S. 1. 898 ORK, Entscheidung v. 21.01.1948 – Rkv 7/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 17, S. 61; ORK, Entscheidung v. 03.07.1948 – Rkv 100/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 109, S. 226; ORK, Entscheidung v. 12.02.1949 – Rkv 27/49, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 343, S. 201; ORK, Entscheidung v. 21.06.1952 – Rkv 112/52; ORK, Entscheidung v. 19.07.1952 – Rkv 159/52, JBl 1952, 596, 596; W ­ ahle, ÖJZ 1950, 27, 30 Fn. 23. 899 Beschl. zu Serena Lederer v. 02.03.2012, S. 2 f. Dies gilt auch für als ›Mischlinge 1. Grades‹ definierte Personen etwa italienischer Staatsangehörigkeit, s. Beschl. zu Stefan Poglayen-Neuwall v. 02.03.2012, S. 4. 900 Beschl. zu Valentine Springer v. 03.05.2013, S. 5. 901 Beschl. zu Ernestine Skoda v. 25.11.2004, S. 1. 902 Beschl. zu Betty Blum v. 05.10.2016, S. 2 f. 903 Vgl. Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 43 f. 904 In diese Richtung Hellwig, Entwicklung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 35, 36 f.

168  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

Nicht nur die ausländische Staatsangehörigkeit Serena Lederers, sondern auch ihre bereits erfolgte Flucht waren also für ihre Zugehörigkeit zu den Kollektivverfolgten unerheblich. 905 Auch der Beschluss zu Alice Lilli Rona zeigt, dass der Beirat eine Kollektivverfolgung selbst im Falle einer Emigration vor dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft annimmt.906 Dies entspricht vollständig der Rückstellungsjudikatur, die maßgeblich darauf abstellte, ob die Verfolgung trotz der Flucht noch innerhalb des nationalsozialistischen Machtbereichs Wirkung entfalten konnte, zum Beispiel aufgrund dort belegenen, »verfolgten« Vermögens. Dies war der Regelfall mangels Transportkapazitäten für das gesamte bewegliche Vermögen.907 Die noch rechtzeitige Flucht ins sichere Ausland – die regelmäßig einzige Überlebensmöglichkeit – sollte den Geschädigten nicht zum Nachteil gereichen.908 An dieser Wertung hält der Beirat fest, was angesichts der örtlichen Anwendbarkeit des KRG auf innerhalb des Herrschaftsgebiets belegene Kulturgüter von außerhalb dieses Gebiets befindlichen Eigentümer:innen nur folgerichtig erscheint.909 Auch auf bereits in sichere Drittstaaten geflüchtete, als ›Juden‹ definierte Personen, selbst bei Flucht vor Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, findet demnach die Verfolgungsvermutung Anwendung. b) Als ›Juden‹ definierte Personen in ›Mischehen‹

Ferner steht nach Ansicht des Beirats der Zuordnung einer als ›Jude‹ definierten Person zum Kreis der Kollektivverfolgten nicht das Leben in einer ›Mischehe‹ entgegen. Als ›Mischehe‹ im nationalsozialistischen Sinne galten Ehen zwischen als ›Volljuden‹ definierten und als ›arisch‹ definierten Personen.910 In ›Mischehen‹ lebende, als ›Juden‹ definierte Personen konnten vor allem aufgrund ihrer zwangsläufig familiären Nähe zur als ›arisch‹ definierten Bevölkerung und dem damit verbundenen Widerstandsrisiko gegen Verfolgungsmaßnahmen ›privilegiert‹ werden. Sie wurden sodann von gewissen Verfolgungsmaßnahmen ausgenommen, wobei diese ›Privilegierung‹ immer wieder in Frage gestellt wurde.911 Die Voraussetzung einer solchen ›Privilegierung‹ war jedoch, dass entweder der Ehemann als ›arisch‹ definiert wurde oder im Falle eines als ›Juden‹ definierten Ehemannes gemeinsame Kinder nicht ›jüdisch‹ im Sinne der natio­ nalsozialistischen Vorstellung erzogen wurden.912 Als ›Juden‹ definierte Frauen wurden mithin bereits durch ihre als ›arisch‹ definierten Ehemänner, als ›Juden‹ definierte Männer erst zusätzlich zu ihren als ›arisch‹ definierten Ehefrauen durch ihre nicht ›jüdisch‹ erzogenen Kinder »geschützt«.913 Der Beschluss zu Carl Heumann zeigt, dass auch in ›privilegierter Mischehe‹ lebende, als ›Juden‹ definierte Personen nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen, wenn auch einge905 Beschl. zu Serena Lederer v. 02.03.2012, S. 2 f.

906 Beschl. zu Alice Lilli Rona v. 20.03.2009, S. 2; Beschl. zu Marie u. Alphons Thorsch v. 04.05.2017, S. 1; Beschl. zu Martha

Brown-Neumann v. 29.11.2022, S. 6.

907 Vgl. ORK, Entscheidung v. 21.01.1948 – Rkv 7/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 17, S. 61. 908 So auch Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 43 f.

909 S. zum örtlichen Rahmen der Entziehung § 7 B.II., S. 128. 910 Strnad, Privileg Mischehe?, 2021, S. 22. 911

Besonders instruktiv dazu Strnad, Privileg Mischehe?, 2021, S. 147 ff.; s. auch Jasch, in: Kampe/Klein (Hrsg.), Wannsee-Konferenz, 2013, S. 276, 293 ff. Zur »Diabolie« der Erfindung dieser ›Privilegierung‹ s. eingehend Klemperer, LTI, 22. Aufl. 2007, S. 227. 912 Strnad, Privileg Mischehe?, 2021, S. 22. 913 So lebte z.B. das Ehepaar Eissler nicht in einer ›privilegierten Mischehe‹, da Hermann Eissler als ›Jude‹ definiert wurde und die Ehe mit seiner als ›arisch‹ definierten Frau Hortense kinderlos war, vgl. Beschl. zu Hermann Eissler v. 24.06.2009, S. 17.

169  D. Die Verfolgung der Eigentümer:innen als Weichenstellung der Entziehung

schränkt, unterlagen. Der Beirat führt aus, dass Carl Heumanns Ehe als eine ›privilegierte Mischehe‹ eingeordnet wurde, da neben seiner als ›arisch‹ definierten Ehefrau Irmgard Heumann die gemeinsamen Kinder in Folge seiner Konvertierung 1917 vom Judentum zum Protestantismus nicht ›jüdisch‹ erzogen wurden. Die wenn auch eingeschränkte Verfolgung infolge der ›Privilegierung‹ rechtfertige aber weiterhin eine Zuordnung der in ›Mischehe‹ lebenden, als ›Juden‹ definierten Personen zum Kreis der Kollektivverfolgten.914 Dies liegt zum einen in der Willkür der Missachtung dieser ›Privilegierung‹ begründet: So wurde die als ›Jude‹ definierte Valerie Honig-Roeren trotz einer – wahrscheinlich gerade zum Schutz vor Verfolgung geschlossenen – Ehe mit einem norwegischen, offenbar als ›arisch‹ definierten Staatsangehörigen deportiert und ermordet.915 Zum anderen bestand stets ein hohes Verlustrisiko dieser ›Privilegierung‹ durch Scheidung oder Tod des als ›arisch‹ definierten Teils, was unmittelbar zu einer uneingeschränkten Diskriminierung führte.916 Die Konsequenzen des Todes des als ›arisch‹ definierten Ehemannes veranschaulicht eindrücklich der Beschluss zu Karl Banhans. Nach dem Tod des als ›arisch‹ definierten Karl Banhans im Juli 1942 wurde seine als ›Jude‹ definierte Ehefrau Eugenie Banhans nach Theresienstadt deportiert und dort bereits wenige Wochen später im August 1942 ermordet. Der Beschluss zu Karl Banhans zeigt, wie schnell und in welcher Härte der Verlust des ›Privilegs Mischehe‹ eintreten konnte. Mit dem Tod ihres Ehemannes wurde der unmittelbare Zugriff auf das Leben von Eugenie Banhans möglich.917 Der Beirat scheint dementsprechend bei keiner in einer ›privilegierten Mischehe‹ lebenden, als ›Jude‹ definierten Person auch nur die Widerlegung der Verfolgungsvermutung in Betracht zu ziehen.918 Dies lässt keine Zweifel, dass auch in ›privilegierter Mischehe‹ lebende, als ›Juden‹ definierte Personen einer Verfolgung bzw. einem dauerhaften Verfolgungsrisiko ausgesetzt waren und damit zum Kreis der Kollektivverfolgten zu zählen sind.919 2. Kollektive Verfolgung der Familienmitglieder von als ›Juden‹ definierten Personen

Familienmitglieder von als ›Juden‹ definierten Personen konnten ebenfalls der strukturellen Verfolgung des nationalsozialistischen Regimes unterliegen. Der Umfang der strukturellen Verfolgung variierte dabei je nach Verhältnis zum als ›Jude‹ definierten Familienmitglied. In der Empfehlungspraxis des Beirats wird vor allem die Einordnung von als ›arisch‹ geltenden Ehe­ partner:innen sowie den gemeinsamen Kindern und Enkelkindern, definiert als ›Mischlinge‹, diskutiert.

914 Beschl. zu Carl Heumann v. 16.03.2018, S. 2.

915 Beschl. zu Valerie Honig-Roeren v. 28.06.2006, S. 1.

916 Instruktiv zur Scheidung Strnad, Privileg Mischehe?, 2021, S. 232 ff., 262 ff. 917 Beschlüsse zu Karl Banhans v. 10.06.2011, S. 1, u. 29.09.2011, S. 2.

918 So auch Beschl. zu Alfred Kirchenberger v. 29.06.2021, S. 1; Beschl. zu Hanns Fischl v. 05.11.2021, S. 3.

919 Offenbar war auch die Ehefrau Carl Heumanns, Irmgard Heumann, vor Ende der nationalsozialistischen Herrschaft verstor-

ben und Heumann konnte vor allem durch die Unterstützung von Bekannten der Deportation entgehen, vgl. Eintrag zu Carl Heumann im Lexikon der Provenienzforschung, abrufbar unter: https://www.lexikon-provenienzforschung.org/heumann-carl.

170  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

a) Als ›arisch‹ definierte Ehepartner:innen

Die ›Mischehe‹ bedeutete für die als ›arisch‹ definierte Person zumeist die soziale, aber auch ökonomische Isolation, denn die Verdrängung aus dem Arbeitsleben betraf regelmäßig auch diesen Teil der Ehe. Die betroffenen Familien waren daher zur Finanzierung ihres Lebensunter­ halts häufig auf die Veräußerung ihres Vermögens angewiesen.920 Aufgrund der sie ebenfalls betreffenden, strukturellen Repressionen ordnet der Beirat in Anknüpfung an das Rückstellungsrecht921 als ›arisch‹ definierte Ehepartner:innen von Kollektivverfolgten als ebenfalls Kollektivverfolgte ein. Die Zugehörigkeit zum Kreis der Kollektivverfolgten greift somit auf den als ›arisch‹ definierten Teil der Eheleute über. Aus den Beschlüssen der ersten Dekade kann dies nur konkludent entnommen werden, da der Beirat die andernfalls notwendige, explizite Prüfung einer individuellen Verfolgung unterlassen hat.922 Mit Beginn der zweiten Dekade seiner Empfehlungspraxis ordnet er die in ›Mischehe‹ lebenden, als ›arisch‹ definierten Personen unter Verweis auf das Rückstellungsrecht »eindeutig dem Kreis der verfolgten Personen« zu.923 Im Beschluss zu Hans Leitmeier erklärt er sogar ausdrücklich, dass dies nicht bloß dadurch widerlegt werden könne, dass Leitmeier vor seiner Hochzeit mit einer als ›Jude‹ definierten Frau Mitglied eines deutschnationalantisemitischen Netzwerkes war. 924 Damit ist eine Kollektivverfolgung der Ehepartner:innen von als ›Juden‹ definierten Personen selbst dann anzunehmen, wenn sich der als ›arisch‹ definierte Teil vor der Hochzeit in ideologischer Nähe zum Nationalsozialismus engagierte. Voraussetzung dafür ist für den Beirat aber ebenso wie für die Rückstellungskommissio925 nen grundsätzlich das Bestehen der Ehe. Denn der als ›Jude‹ definierte Teil verlor mit dem Ende der Ehe die wenigen »Privilegien« der ›Mischehe‹, während dieses für den als ›arisch‹ definierten Teil vielmals zugleich ein Ende der strukturellen Repressionen bedeutete. Insbesondere mit der rechtskräftigen Scheidung oder dem Tod des als ›Jude‹ definierten Teils betrachtet daher der Beirat die strukturelle Verfolgung des als ›arisch‹ definierten Teils als beendet. Dies verdeutlicht der nachfolgende Blick in die Empfehlungspraxis. aa) Geschiedene, als ›arisch‹ definierte Ehepartner:innen

Der Beschluss zu Hermann Eissler widmet sich der Scheidung als eine der beiden Alternativen zum Ende der ›Mischehe‹ und damit der strukturellen Verfolgung. Hermann Eissler war seit 1923 mit Hortense Eissler verheiratet. Vermutlich zur Vorbereitung der Flucht und Sicherung des Vermögens beantragte die als ›arisch‹ definierte Hortense Eissler die Scheidung von dem als ›Jude‹ definierten Hermann Eissler. Im 920 Strnad, Privileg Mischehe?, 2021, S. 184 ff.; Riedl-Dorn, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 176, 179.

921 ORK, Entscheidung v. 13.09.1948 – Rkv. 131/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 140, S. 301;

Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 47; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 64 f.; Graf, NZ 2007, 65, 70.

922 So z.B. Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 11; Beschl. zu Maria u. Michael Ottokar Popper v. 01.06.2007, S. 1;

Beschl. zu Wilhelm Müller-Hofmann v. 28.09.2007, S. 1; Beschl. zu Lothar Egger-Möllwald v. 07.12.2007, S. 1.

923 Beschl. zu Josefine u. Felix Löw-Beer v. 20.03.2009, S. 2; so auch Beschl. zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011, S. 28; Beschl. zu

Adele Pächter v. 07.03.2014, S. 3 f.; Beschl. zu Adelheid u. Alexander Beer v. 03.07.2015, S. 2; Beschl. zu Carl Heumann v. 16.03.2018, S. 5; Beschl. zu Maria Perlberger v. 05.11.2021, S. 5. 924 Beschl. zu Hans Leitmeier v. 05.11.2021, S. 6 f. 925 ORK, Entscheidung v. 13.09.1948 – Rkv. 131/48, in: Heller/Rauscher., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 140, S. 301.

171  D. Die Verfolgung der Eigentümer:innen als Weichenstellung der Entziehung

August 1939 wurde die Scheidung der Eheleute Eissler rechtskräftig. Eines der verfahrensgegenständlichen Gemälde veräußerte Hortense Eissler im Oktober 1940 für den von ihr geforderten Kaufpreis an Hans Posse für den ›Sonderauftrag Linz‹. Hermann und Hortense Eissler heirateten 1951 erneut. Zwar waren Hermann und Hortense Eissler noch während der nationalsozialistischen Herrschaft bis August 1939 verheiratet. Im Zeitpunkt des Verkaufs, im Oktober 1940 war die Ehe jedoch bereits geschieden. Der Zeitpunkt der Scheidung und die Wiederheirat nach Kriegs­ ende legen zwar durchaus nahe, dass die Scheidung zum Schutz des Vermögens erfolgte, also die (vorherige) Verfolgung als Ehefrau eines als ›Jude‹ definierten Mannes im Zeitpunkt des Verkaufs noch fortwirkte.926 Der Beirat verneint jedoch aufgrund der rechtskräftigen Scheidung eine strukturelle Verfolgung Hortense Eisslers. Es lägen außerdem keine Anhaltspunkte für eine individuelle Verfolgung Hortense Eisslers vor.927 Geschiedene, als ›arisch‹ definierte Ehepart­ ner:innen sind nach Ansicht des Beirats damit – wie im Rückstellungsrecht928 – ab dem Zeitpunkt der Rechtskraft der Scheidung keiner kollektiven Verfolgung mehr ausgesetzt, sondern es müssen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle Verfolgung vorliegen. bb) Verwitwete, als ›arisch‹ definierte Ehepartner:innen

Der nachfolgend untersuchte Beschluss zu Leopoldine Mannaberg von 2014 hat die zweite Alternative des Endes der systematischen Verfolgung von Ehepartner:innen zum Gegenstand, und zwar den Tod des als ›arisch‹ definierten Teils der Ehepartner:innen. Leopoldine Mannaberg war mit Julius Mannaberg verheiratet. Als der als ›Jude‹ definierte Julius Mannaberg im August 1941 verstarb, stand die Zahlung der ›Judenvermögensabgabe‹ noch aus. Nach Angaben eines Kunsthändlers lebte die als ›arisch‹ definierte Leopoldine Mannaberg in dieser Zeit »in wenig guten Verhältnissen […] und [war] mehr oder weniger auf den Verkauf ihrer Sachen angewiesen«. 1944 veräußerte sie die verfahrensgegenständliche Zeichnung an den Kunstreferenten des ›Sonderbeauftragten‹ Hitlers, Hermann Voss. Der Beirat erkennt in diesem Fall, »dass der Verkauf des Blattes durch Leopoldine Mannaberg erst im Jahr 1944 und daher nach dem Tod von Julius Mannaberg erfolgte.« Er wertet die Veräußerung aber trotzdem als Entziehung, da »die finanzielle Lage von Leopoldine Mannaberg auch nach dem Tod ihres Mannes durch die [vorherige] Verfolgung bestimmt war, weil bei Ableben von Julius Mannaberg noch eine ›Judenvermögensabgabe‹ aushaftete. Darüber hinaus war sie auch für ihre minderjährige, dem Kreis der Verfolgten zuzurechnende Tochter sorge­

926 Die Kunstverwaltung des Bundes in Deutschland nahm aufgrund der eindeutigen Verfolgungsbedingtheit der Scheidung eine

NS-verfolgungsbedingte Veräußerung der Werke an, s. Pressemitteilung der Kunstverwaltung v. 12.02.2020, abrufbar unter: https://kunstverwaltung.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/PM_02_2020.html. Auch innerhalb der österreichischen Provenienzforschung scheint mittlerweile angenommen zu werden, dass die Veräußerung der Fluchtvorbereitung diente, s. Caruso/Schallmeier, in: Blimlinger/Schödl (Hrsg.), Praxis, 2014, S. 99, 133; Eintrag zu Hermann Eissler im Lexikon der Provenienzforschung, abrufbar unter: https://www.lexikon-provenienzforschung.org/eissler-hermann. 927 Beschl. zu Hortense Eissler v. 20.11.2009, S. 9. 928 ORK, Entscheidung v. 13.09.1948 – Rkv. 131/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 140, S. 301.

172  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

pflichtig.«929 Die ausdrückliche Nennung dieser konkreten Verfolgungsumstände anstelle der bloßen Annahme einer Verfolgung legt eine individuelle Verfolgung nahe; eine gewisse Unsicherheit bleibt jedoch.930 Diese legt sich mit dem späteren Beschluss von 2016 zu dem als ›Jude‹ definierten Carl Reininghaus, in dem der Beirat dessen als ›arisch‹ definierte Witwe, Friederike Reininghaus, nicht als verfolgt betrachtet.931 Dies bestätigt zudem erneut der Blick in die Rückstellungsrechtsprechung: Die Kollektivverfolgung von aus ›Mischehen‹ verwitweten, als ›arisch‹ definierten Personen wurde grundsätzlich verneint, mithin nicht vermutet, sodass lediglich eine konkrete, individuelle Verfolgung geltend gemacht werden konnte.932 Im Einklang mit dem Rückstellungsrecht ordnet der Beirat verwitwete, als ›arisch‹ definierte Personen also nur bei entsprechenden konkreten Anhaltspunkten als Verfolgte ein. b) Als ›Mischlinge‹ definierte Personen

Die aus den ›Mischehen‹ hervorgehenden Kinder wurden, soweit nicht im Sinne der nationalsozialistischen Vorstellung ›jüdisch‹ erzogen, von der nationalsozialistischen Gesetzgebung als ›Mischlinge‹ definiert.933 Dazu zählte nach § 2 Abs. 2 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz, »wer von einem oder zwei der Rasse nach volljüdischen Großelternteilen abstammt«. Innerhalb der so definierten ›Mischlinge‹ differenzierte das nationalsozialistische Regime zwischen ›Mischlingen 1. Grades‹ mit zwei ›volljüdischen‹ Großelternteilen und ›Mischlingen 2. Grades‹ mit einem ›volljüdischen‹ Großelternteil.934 Während ›Mischlinge 1. Grades‹ in weiten Teilen in ähnlichem Maße wie ›Volljuden‹ den Verfolgungsmaßnahmen des Regimes unterlagen, ­wurden ›Mischlinge 2. Grades‹ zu Anfang von bestimmten Diskriminierungen ausgenommen.935 Diese nahmen aber mit der sich abzeichnenden Kapitulation zu.936 So waren als ›Mischlinge‹ ­definierte Personen im Allgemeinen zwar weder zur Anmeldung ihres Vermögens noch zum Tragen eines »Judensterns« verpflichtet. Als ›Mischlinge 1. Grades‹ definierte Personen mussten jedoch Zwangsarbeit leisten und wurden nach anfänglichem Zögern ebenfalls deportiert, während als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierte Personen grundsätzlich von der Deportation ausgenommen wurden.937 Diese Ungleichbehandlung innerhalb der diskriminierten, als ›Mischlinge‹ definierten Personengruppe schlägt sich auch in der Empfehlungspraxis des Beirats nieder. 929 Beschl. zu Leopoldine Mannaberg v. 03.07.2014, S. 3.

930 Ebenfalls unklar bei Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 66; vereinzelt auch jüngst bei Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022,

S. 159.

931 Beschl. zu Carl Reininghaus v. 01.04.2016, S. 3; ebenso Beschl. zu Giulietta Mendelssohn v. 15.05.2023, S. 15.

932 ORK, Entscheidung v. 03.07.1948 – Rkv 94/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 103, S. 212 f.;

ORK, Entscheidung v. 13.09.1948 – Rkv. 131/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 140, S. 301; Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 50. 933 S. zur Verwendung der in diesem Abschnitt fallenden Begriffe im heutigen, alltäglichen Sprachgebrauch Steinke, Antisemitismus, 2. Aufl. 2022, S. 56 f. 934 Runderlass des Reichsinnenministers v. 26. November 1935. Im ›Altreich‹ und in Österreich und dem Sudetenland lebten insgesamt 64.000 als ›Mischlinge 1. Grades‹ und 43.000 als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierte Personen, s. Roseman, WannseeKonferenz, 2002, S. 119. 935 Dazu besonders instruktiv Perz, in: Hehenberger/Löscher (Hrsg.), Malkunst, 2012, S. 221, 229 ff. 936 Vgl. Tarrab-Maslaton, Rechtliche Strukturen, 1993, S. 74 f. 937 Zu Bildungsmöglichkeiten, Berufsausübung und Eheschließungen im Vergleich, s. ausführlich Perz, in: Hehenberger/Löscher (Hrsg.), Malkunst, 2012, S. 221, 229 ff.

173  D. Die Verfolgung der Eigentümer:innen als Weichenstellung der Entziehung

aa) Als ›Mischlinge 1. Grades‹ definierte Personen

Eine ausdrückliche Auseinandersetzung des Beirats mit als ›Mischlinge 1. Grades‹ definierten Personen findet erstmals im Beschluss zu Hermann Eissler von Juni 2009 statt. Hermann Eissler hatte die beiden verfahrensgegenständlichen Werke vermutlich vor der nationalsozialistischen Herrschaft auf seine uneheliche, 1901 legitimierte Tochter, Berta Morelli, übertragen, die als ›Mischling 1. Grades‹ definiert wurde. In nur einem Satz stellt der Beirat unter Verweis auf das Rückstellungsrecht938 fest, dass die Tochter Hermann Eisslers, Berta Morelli, zu den verfolgten Personen zählte.939 Diese Beurteilung setzt sich in der späteren Empfehlungspraxis fort, und zwar unter ausdrücklicher Betonung der Unerheblichkeit für die Kollektivverfolgung, ob die Person als ›Mischling 1. Grades‹ oder ›Volljude‹ definiert wurde.940 bb) Als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierte Personen

Während der Beirat keinen Bedarf für eine nähere Begründung der Kollektivverfolgung von als ›Mischlinge 1. Grades‹ definierten Personen sieht, diskutiert er ausführlich die Subsumtion von als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierten Personen unter die beiden Kategorien der Kollektiv- und Individualverfolgung. Erstmals wurde die Einordnung von als ›Mischling 2. Grades‹ definierten Personen im Beschluss zu Jaromir Czernin relevant. Dort war fraglich, ob seine als ›Mischling 2. Grades‹ definierte941 Ehefrau Alix Czernin – und damit auch ihr Ehemann Jaromir – zu den Kollektivverfolgten zählte.942 Eine umfassendere Auseinandersetzung findet sich erst über zehn Jahre später im Beschluss zu Otto Engländer. Otto Engländer war Generaldirektor des größten Chemieunternehmens Österreichs. Seine Eltern sowie seine Großeltern mütterlicherseits waren römisch-katholisch getauft, sein Großvater väterlicherseits war mit einer Katholikin verheiratet, zuvor jedoch vom Judentum zum Katholizismus konvertiert. Demnach fiel Engländer unter die Definition der ›Mischlinge 2. Grades‹. Es sind jedoch keine Quellen bekannt, denen zufolge das nationalsozialistische Regime von dieser Einordnung wusste beziehungsweise sich auf diese berufen hätte. Das deutsche Chemieunternehmen »IG Farben« war bereits vor dem ›Anschluss‹ an der Übernahme des Chemieunternehmens interessiert. Diese schei938 In Datum und Seitenzahl falsch zitiert, aber vermutlich gemeint ist: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949,

939

940

941

942

S. 4, wobei hier zu berücksichtigen ist, dass dort als ›Mischlinge‹ definierte Personen als »politisch verfolgt« eingeordnet werden, ohne dass zwischen dem ›Mischlingsgrad‹ sowie der Kollektiv- und Individualverfolgung unterschieden wird. Beschl. zu Hermann Eissler v. 24.06.2009, S. 19. Beschl. zu Michael Ottokar u. Maria Popper v. 01.06.2007, S. 1; Beschl. zu Marianne Schmidl v. 08.03.2013, S. 3; Beschl. zu Robert Mayer v. 26.09.2014, S. 2; i.E. auch Beschl. zu Stefan Poglayen-Neuwall v. 02.03.2012, S. 1, 4; Beschl. zu Serena Lederer v. 02.03.2012, S. 3. Trotz der divergierenden Angaben, auch aus der Nachkriegszeit, hält der Beirat an der Einordnung von Alix Czernin als ›Mischling 2. Grades‹ fest (Beschl. zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011, S. 18 f.; a.A. Schoenberg, Legal Analysis, 2011, S. 24), die auch nach der nationalsozialistischen Herrschaft bestätigt wurde (VwGH, Entscheidung v. 30.06.1960 – 2476/55, der ausdrücklich eine kollektive Verfolgung Alix Czernins ablehnte). Beschl. zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011, S. 18 f.

174  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

terte jedoch am Widerstand der Mehrheitseigentümerin. Nach dem ›Anschluss‹ wurde der Erwerb des Unternehmens durch die »IG Farben« forciert und schließlich genehmigt. Während die als ›Juden‹ definierten Generaldirektoren kurz darauf entlassen wurden, blieb Engländer zunächst interimistischer Generaldirektor des Unternehmens und Vorstandsmitglied eines Tochterunternehmens. Für den Vorstand oder den Verwaltungsrat des durch den Ankauf fusionierten Unternehmens wurde er sodann jedoch nicht mehr vorgesehen. Im Juni 1939 wurde Engländer vielmehr vorzeitig pensio­niert, zudem musste er seine Anteile an einem anderen Unternehmen verkaufen. Er war kein Mitglied der NSDAP. Seine als ›arisch‹ definierte Frau, Maria Engländer, verkaufte den verfahrensgegenständlichen Mumienkopf 1941/1942 an das Naturhistorische Museum. In der Nachkriegszeit beantragte Engländer die Rückstellung der verkauften Unternehmensanteile. Er zog den Antrag jedoch zurück, da die Antragsgegnerin insolvent wurde. Zunächst hält der Beirat bezüglich der Definition Engländers als ›Mischling 2. Grades‹ fest, dass »heute nicht mehr festgestellt werden [könne], ob dieses Faktum den NS-Machthabern bzw. den Entscheidungsträgern hinsichtlich des Umstrukturierungsprozesses […] überhaupt bekannt war«.943 Anschließend erkennt der Beirat zwar die schwierige wirtschaftliche Situation Engländers nach dem ›Anschluss‹ an. Jedoch könne er keine Verfolgung des Ehepaares Engländer annehmen: Denn nach »dem Stand der zeitgeschichtlichen Forschung waren ›Mischlinge 2. Grades‹ auch tatsächlich keiner systematischen Verfolgung oder Diskriminierung ­unterworfen, die jener von als ›Volljuden‹ oder ›Mischlinge 1. Grades‹ eingestuften Menschen vergleichbar wäre.«944 Der Beirat führt sodann aus, dass er »keinen Anlass [sehe], die Vermutung, dass von diesen Personen abgeschlossene Rechtsgeschäfte als Entziehung zu bewerten sind, […] zu erweitern.« Der Verkauf des Mumienkopfes sei daher nicht in einer »politisch motivierten Verfolgung bzw. Notlage« begründet.945 Indem der Beirat explizit die Entziehungsvermutung nicht auf als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierte Personen anwendet, greift er letztlich in den späteren Prü­fungsschritt des Kausalzusammenhangs vor, anstatt zunächst die Verfolgung zu bestimmen. Zu­erst ist nämlich stets zu beurteilen, ob die Vermutung der Verfolgung – nicht der Entziehung – auch für als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierte Personen gelten soll. Erst im Anschluss ist auf die Vermutung der Entziehung einzugehen. Die Ausführungen des Beirats sind deswegen wohl dahingehend zu verstehen, dass er bereits die Verfolgungsvermutung ablehnt. Dafür spricht auch die identische Einschätzung in den Fällen Czernin und Mendelssohn.946 Infolge der Ablehnung einer Kollektivverfolgung müssten mithin konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle Verfolgung der als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierten Personen vorliegen.947 Mitnichten folgt dementsprechend aus der Ablehnung einer Kollektivverfolgung die Verneinung einer individuellen, konkreten Verfolgung. Vielmehr wird vom Beirat lediglich fest-

943 Beschl. zu Otto Engländer v. 29.11.2022, S. 5.

944 Beschl. zu Otto Engländer v. 29.11.2022, S. 6; so auch Beschl. zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011, S. 28; a.A. Schoenberg, Legal

Analysis, 2011, S. 24 f.

945 Beschl. zu Otto Engländer v. 29.11.2022, S. 6.

946 Beschl. zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011, S. 28; Beschl. zu Giulietta Mendelssohn v. 15.05.2023, S. 15.

947 Zudem gelten damit die Ehepartner:innen nicht als grundsätzlich verfolgt, wie bereits die Rückstellungsrechtsprechung fest-

hielt, ORK, Entscheidung v. 20.11.1948 – Rkv 184/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 274, S. 75 f.

175  D. Die Verfolgung der Eigentümer:innen als Weichenstellung der Entziehung

gestellt, dass keine systematische Verfolgung von als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierten Personen vorlag, die eine Vermutung rechtfertigt. Ob eine konkrete Verfolgung Engländers in Betracht kommt, ist demzufolge im Rahmen der Individualverfolgung zu untersuchen.948 Bei einer kritischen Betrachtung dieses Beschlusses fällt sofort auf, dass der Beirat in Ab­ weichung zur sonstigen Praxis nicht die einschlägigen Rückstellungsentscheidungen zitiert, denen er die Ablehnung der Kollektivverfolgung von als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierten Per­ sonen entnimmt. Dies könnte auf die – entgegen der Behauptung des Beirats – eher h ­ eterogene Entscheidungspraxis der Rückstellungsrechtsprechung zurückzuführen sein. In dieser schlug sich die Unterscheidung innerhalb der diskriminierten Gruppe der als ›Mischlinge‹ definierten Personen zumindest in den Anfängen kaum nieder: Als ›Mischlinge‹ definierte Personen gehörten »als solche«949 zu den Verfolgten;950 es wurde mithin keine Differenzierung nach ›Mischlingsgraden‹ vorgenommen. Die Verfolgung wurde damit begründet, dass ›Mischlinge‹ »nicht nur auf Grund reichsgesetzlicher Sondervorschriften in ihren Rechten, insbesondere hinsichtlich der Fähigkeit, gewisse Berufe zu ergreifen, beschränkt, sondern […] auch hinsichtlich der praktischen Behandlung auf allen Lebensgebieten gegenüber den übrigen Staatsangehörigen zurückgesetzt«951 waren. Die »allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen […], soweit sie die Mischlinge den anderen Volksgenossen gleichstellten, [bestanden] eher in der Theorie als in der Praxis […], in der sie bald mehr, bald weniger verletzt worden sind.« Wie bei allen Kollektivverfolgten war eine Widerlegung möglich, wenn »im konkreten Falle der Mischling erwiesenermaßen politischer Verfolgung nicht unterworfen gewesen ist«. Dafür wurde aber der Verweis auf die geringere Diskriminierung gegenüber als ›Volljuden‹ definierten Personen nicht als ausreichend erachtet.952 Eine Differenzierung nach ›Mischlingsgraden‹ erfolgte somit durch die Judikatur der Nachkriegszeit zu Anfang gerade nicht ausdrücklich.953 Zu berücksichtigen ist zu­gleich, dass alle untersuchten Entscheidungen, die von als ›Mischlinge‹ definierten Personen ohne Differenzierung nach dem ›Mischlingsgrad‹ sprechen, lediglich als ›Mischlinge 1. Grades‹ definierte Personen betrafen.954 Damit differenzierte die Rückstellungsrechtsprechung zu Beginn zwar nicht

948 S. zur Individualverfolgung unter § 7 D.III., S. 177.

949 ORK, Entscheidung v. 06.03.1948 – Rkv 21/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 31, S. 79.

Ähnlich ist die Formulierung »im allgemeinen [sic]«, ORK, Entscheidung v. 07.09.1948 – Rkv 136/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 145, S. 314. 950 Dies folgerte die ORK aus den Ausführungen des Ausschussberichtes und der Kommentierung des 3. RStG. Jedoch nannte der Ausschussbericht die als ›Mischlinge‹ definierten Personen nicht konkret, sondern verwies lediglich auf die Degradierung zu »Staatsangehörigen Zweiter Klasse« (Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 306, V. GP, in: Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 151). Erst die Kommentierung des 3. RStG führte als ›Mischlinge‹ definierte Personen in diesem Zusammenhang auf, differenziert aber ebenso wenig zwischen den verschiedenen ›Mischlingsgraden‹ (Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 181). 951 ORK, Entscheidung v. 13.11.1948 – Rkv 185/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 275, S. 76 f. 952 ORK, Entscheidung v. 13.11.1948 – Rkv 166/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 256, S. 47 f. 953 Kritisch: Sirowy, ÖJZ 1948, 410, 410 ff. Leider differenziert Graf ebenfalls nicht ausreichend zwischen den ›Mischlingsgraden‹, sondern führt aus, dass »größtenteils« die Rückstellungsrechtsprechung eine Verfolgung von als ›Mischlinge‹ definierten Personen (im Allgemeinen) annahm, s. Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 65. Die beiden von ihm zu dieser Beurteilung zitierten Rückstellungsbeschlüsse betreffen jedoch ausschließlich als ›Mischlinge 1. Grades‹ definierte Personen. Ebenso bleibt unklar, ob er der Rückstellungsrechtsprechung in der Ablehnung einer Kollektivverfolgung von als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierten Personen zustimmt. 954 Teils werden diese ausdrücklich als solche bezeichnet, so bspw. in ORK, Entscheidung v. 07.09.1948 – Rkv 136/48, in: Heller/ Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 145, S. 311; ORK, Entscheidung v. 13.11.1948 – Rkv 185/48, in: Heller/ Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 275, S. 76; ORK, Entscheidung v. 11.09.1948 – Rkv 123/48, in: Heller/

176  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

explizit zwischen den beiden ›Mischlingsgraden‹, de facto ordnete sie jedoch nur als ›Mischlinge 1. Grades‹ definierte Personen den Kollektivverfolgten zu. Die beiden – vom Beirat vermutlich gemeinten – Entscheidungen aus der späteren Rückstellungsrechtsprechung, die ausdrücklich als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierte Personen zum Gegenstand haben, verneinten zwar eine Verfolgung, dies jedoch aus unterschiedlichen Gründen: Einer Entscheidung zufolge war die Einordnung als ›Mischling 2. Grades‹ »ohne Bedeutung, da Vierteljuden nicht zu den politisch verfolgten Personen gehörten. Sie waren wirtschaftlich nicht weiter beschränkt.« Demnach gehörten auch »Ehegatten von Vierteljuden […] nicht zu den politisch verfolgten Personen.«955 Insbesondere aus der Klarstellung bezüglich der Ehepart­ ner:innen wird hier die Ablehnung der Kollektivverfolgung von als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierten Personen deutlich. Mit dieser Ansicht steht jedoch eine vorherige Entscheidung nicht vollends im Einklang, in der die Judikatur annahm, dass ein als ›Mischling 2. Grades‹ definierter Mensch »dann nicht zum Kreise der rassisch verfolgten Personen [gehörte], wenn es ihm gelungen wäre, sich so zu tarnen, daß er keiner politischen Verfolgung ausgesetzt war.«956 Dies deutet wiederum auf die, durch eine gute Tarnung widerlegliche, generelle Zugehörigkeit zum Kreis der verfolgten Personen – und damit auf eine Kollektivverfolgung – hin. Während die letztgenannte Entscheidung also eine Kollektivverfolgung anzunehmen scheint, die aber im konkreten Fall widerlegt wurde, scheint die erstere eine Kollektivverfolgung einer als ›Mischling 2. Grades‹ definierten Person generell abzulehnen. Für eine Zugehörigkeit der als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierten Personen zu den Kollektiv­ verfolgten spricht folglich zunächst die pauschal alle als ›Mischlinge‹ definierten Personen erfassende, anfängliche Rückstellungsrechtsprechung. Ebenso lässt sich die Rückstellungsentscheidung, die suggeriert, auch für ›Mischlinge 2. Grades‹ bestehe eine widerlegbare Vermutung, für eine Kollektivverfolgung anführen. Zugleich ist nicht zu verkennen, dass sich die anfängliche Rückstellungsrechtsprechung de facto allein auf als ›Mischlinge 1. Grades‹ definierte Personen bezog, also – möglicherweise – gerade keine Aussage zu als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierten Personen tätigen wollte oder diese gar nicht erst als potenzielle Fallgruppe begriff. Hinzu kommt die eindeutig ablehnende Entscheidung in der späteren Rückstellungsjudikatur. Der Blick in das Rückstellungsrecht kann also ausnahmsweise nicht zur Auflösung der Widersprüche beitragen, sondern verstärkt diese vielmehr.

III. Die Feststellung der individuellen Verfolgung In etwas unter fünf Prozent der Beschlüsse diskutiert der Beirat eine konkrete, individuelle Verfolgung der Eigentümer:innen. Damit machen individuell verfolgte Personen nur einen sehr geringen Bestandteil der Empfehlungspraxis des Beirats aus. Der Unterschied zwischen Individual- und Kollektivverfolgung bestand nach der Rückstellungsrechtsprechung in der VorausRauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 132, S. 278. Oftmals ist der genaue Grad jedoch bloß der Definition der anderen Familienmitglieder zu entnehmen, s. ORK, Entscheidung v. 06.03.1948 – Rkv 21/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 31, S. 79; ORK, Entscheidung v. 11.09.1948 – Rkv 117/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 126, S. 47 ff.; ORK, Entscheidung v. 13.11.1948 – Rkv 166/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 256, S. 47 ff. 955 ORK, Entscheidung v. 21.06.1952 – Rkv 129/52. 956 ORK, Entscheidung v. 19.05.1951 – Rkv 201/51.

177  D. Die Verfolgung der Eigentümer:innen als Weichenstellung der Entziehung

setzung, dass Personen, die nicht zu den strukturell diskriminierten und damit von der Verfolgungsvermutung »privilegierten« Bevölkerungsgruppen gehörten, nachweislich einem konkreten Verfolgungsakt ausgesetzt gewesen sein mussten.957 Aufgrund des amtswegigen Verfahrens nach dem KRG besteht keine Nachweispflicht bezüglich des konkreten Verfolgungsaktes. Vielmehr obliegt dessen Feststellung dem Beirat; unter mangels Vermutung erhöhtem Begründungsaufwand. Der nachfolgende Einblick in seine Empfehlungspraxis arbeitet zunächst den für den konkreten Verfolgungsakt maßgeblichen Zeitpunkt heraus, bevor auf die verschiedenen Formen des konkreten Verfolgungsakts eingegangen wird. 1. Der Zeitpunkt des konkreten Verfolgungsakts

Bereits in der Rückstellungsrechtsprechung wurde der erforderliche Zeitpunkt des konkreten Verfolgungsakts diskutiert. Virulent war dabei vornehmlich die Frage, ob ein früherer Verfolgungsakt auch bis zum Zeitpunkt des Vermögensverlusts fortwirken kann. Die Judikatur stellte daraufhin heraus, dass auch auf vorherige Verfolgungsakte abgestellt werden könne, »da bei den unter dem nat.soz. [nationalsozialistischen] Regime herrschenden unsicheren Rechtsverhältnissen jeder einmal politisch Verfolgte Gefahr lief, dass ohne besonderen Grund die Verfolgungshandlungen wieder aufgenommen werden.« Die betroffenen Personen konnten sich anschließend »auch wirtschaftlich nicht so frei bewegen, wie diejenigen Personen, die politisch nie verfolgt wurden.«958 Diese Wertung aus dem Rückstellungsrecht bestätigt der Beirat im Beschluss zu Adolf Proksch. Adolf Proksch war als Anhänger des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes im Austrofaschismus der 1930-er Jahre in leitender Funktion für die faschistische ›Vaterländische Front‹ tätig. Bereits am Tag des ›Anschluss‹, dem 13. März 1938, wurde er aufgrund dieser Tätig­ keit verhaftet und am 1. April 1938 mit dem ›Prominententransport‹ in das Konzentra­ tionslager Dachau verbracht, aus dem er im Januar 1939 entlassen wurde. Aufgrund seiner Verhaftung hatte er zunächst Probleme eine Anstellung zu finden. Bereits im Juli 1939 wurde er jedoch in der Wehrmachtsverwaltung angestellt, da gegen seine Anstellung »keine politischen Bedenken bestünden«. Spätestens im Herbst 1939 wurde er zum Wehrdienst eingezogen. Er war Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt sowie der Deutschen Arbeitsfront und hatte ab 1940 eine Referentenstelle bei der Wehrkreisverwaltung inne. Trotz vereinzelt auftretender Kritik aufgrund seiner Tätigkeit für die ›Vaterländische Front‹ wurde er im Wehrdienst befördert und ausgezeich­ net. Er konnte 1943/1944 sogar zwei ›arisierte‹ Immobilien erwerben. Im gleichen Zeitraum verkaufte er verschiedene Kunstwerke. Nach dem Krieg machte er einzelne Ansprüche auf Entschädigung für seine Haft erfolgreich geltend. Die Ausführungen des Beirats sind auf den ersten Blick zunächst uneindeutig: Zum einen kann er eine tatsächlich seit 1938 »fortdauernde politische Verfolgung« bis zum Verlust 1944 nicht feststellen. Zum anderen hält er zweimal ausdrücklich fest, dass Proksch »zweifelsfrei« zu den 957 Vgl. nur ORK, Entscheidung v. 08.10.1949 – Rkv 356/49.

958 ORK, Entscheidung v. 05.06.1950 – Rkv 223/50; so auch ORK, Entscheidung v. 02.06.1951 – Rkv 236/51.

178  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

verfolgten Personen zähle.959 Angesichts der sehr klar formulierten Feststellungen der »zweifelsfreien« Verfolgung spricht einiges dafür, dass der Beirat im Einklang mit dem Rückstellungsrecht einen einmaligen konkreten Verfolgungsakt, wie eine Haft in einem Konzentrationslager aufgrund politischer Tätigkeit, für eine dauerhafte Zuordnung zu den verfolgten Personen ausreichen lässt. Dies gilt dem Beirat zufolge selbst bei anschließenden, hochdekorierten Tätigkeiten für das nationalsozialistische Regime und eigener Profitierung von ›Arisierungen‹. Der einige Jahre jüngere Beschluss zu Jaromir Czernin zeigt demgegenüber, dass eine Verhaftung Jahre nach dem Verlust nicht zu einer rückwirkenden Verfolgung führt.960 Damit ist eine einmal verfolgte Person auch bei Ende des konkreten Verfolgungsakts immer verfolgt im Sinne einer dauerhaften Fortwirkung, während zugleich eine Verfolgung durch einen späteren Akt nicht rückwirkend zum Zeitpunkt des Verlusts angenommen werden kann. 2. Die Formen des konkreten Verfolgungsakts

Für eine individuelle Verfolgung kommen verschiedene Formen des konkreten Verfolgungsakts in Betracht, die bereits in der Rückstellungsrechtsprechung angelegt sind. Diese führte jedoch zumeist nicht aus, auf Grundlage welcher Kriterien ein solcher Akt im Allgemeinen anzunehmen war, vielmehr beschränkte sie sich auf dessen Bejahung oder Verneinung.961 Die ­wichtigste Fallgruppe der konkreten Verfolgungsakte bilden – ebenso wie im Rückstellungsrecht – Maßnahmen aufgrund der politischen Einstellung der Eigentümer:innen. Wie der Fall de Vaux zeigt, setzt eine Individualverfolgung im Sinne des Beirats konkrete, aufgrund der politischen Einstellung erfolgte Maßnahmen voraus. Die Ausführungen des Beirats in diesem Fall sind nicht besonders umfassend. Ihnen ist aber zu entnehmen, dass der Beirat die Maßnahmen gegen de Vaux, wie Bezichtigungen und Beschlagnahmen, in seiner »politischen Haltung« begründet sieht. Ebenso nimmt der Beirat »ohne Zweifel« eine Verfolgung von George Grosz an,962 die mangels Definition als ›Jude‹ vermutlich auf sein kommunistisches Engagement zurückzuführen ist. Beide nicht näher erläuterten Annahmen entsprechen dem Verständnis des Rückstellungsrechts, das eine konkrete Verfolgung beispielsweise in Betracht zieht, wenn die Person bereits »Gegenstand des staatspolizeilichen Interesses« war oder auf einer ›Schwarzen Liste‹ des natio­nalsozialistischen Regimes stand.963 Vermutlich ebenfalls an das Nachkriegsrecht964 ­anknüpfend, ordnet der Beirat für die Dollfuß-Schuschnigg-Regierung965 tätige Personen als individuell verfolgt ein, wenn sie aufgrund ihrer Tätigkeit für die Regierung entlassen, verhaftet oder in Konzentrationslagern interniert

959 Beschl. zu Adolf Proksch v. 30.03.2022, S. 9 f. Interessant ist in diesem Kontext der Beschl. zu Giulietta Mendelssohn v.

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15.05.2023, S. 15: Der Beirat betrachtet sie als nicht-verfolgte Person, obwohl ihre Liegenschaften 1938 zunächst in der Annahme, sie sei als ›Jude‹ zu definieren, unter kommissarische Verwaltung gestellt wurden. Nachdem sie nachweisen konnte, dass sie als ›arisch‹ zu definieren ist, wurde die kommissarische Verwaltung aufgehoben. Beschl. zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011, S. 29; so auch i. E. Beschl. zu Elisabeth Petznek v. 15.01.2016, S. 5. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 306, V. GP, in: Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 151; vgl. ORK, Entscheidung v. 25.06.1949 – Rkv 263/49, S. 4; ORK, Entscheidung v. 08.10.1949 – Rkv 356/49; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 67 f. Beschl. zu Alfred Flechtheim/George Grosz v. 29.03.2006, S. 2. Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 182; vgl. auch ORK, Entscheidung v. 25.06.1949 – Rkv 263/49. ORK, Entscheidung v. 25.09.1948 – Rkv 158/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 167, S. 364 f.; ORK, Entscheidung v. 05.06.1950 – Rkv 223/50, S. 5 f.; ähnlich ORK, Entscheidung v. 02.06.1951 – Rkv 236/51. S. zum historischen Hintergrund unter § 4 A.I., S. 31.

179  D. Die Verfolgung der Eigentümer:innen als Weichenstellung der Entziehung

wurden.966 Ähnliches scheint auch für Künstler:innen zu gelten, deren Werk nach der nationalsozialistischen Ideologie als ›entartet‹ betrachtet wurde.967 Der Beschluss zu Arthur Rosthorn zeigt aber, dass eine bloß ablehnende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus nicht ausreicht, um eine Individualverfolgung anzunehmen. Der ehemalige Diplomat Arthur Rosthorn hatte Berichten zufolge ein distanziertes, auch ablehnendes Verhältnis zum Nationalsozialismus. Er soll etwa den Diensteid an der Universität Wien verweigert haben. Weitere Anhaltspunkte für eine Verfolgung ergeben sich aber weder aus den Akten der Universität noch aus den Akten des Bundespensionsamtes, die etwa eine Kürzung seiner Pension vermerkt hätten. Auch den Opferfürsorgeakten ist kein Hinweis auf eine Verfolgung zu entnehmen. Die beiden verfahrensgegenständlichen Objekte wurden 1939 vom Museum für angewandte Kunst erworben. Das lediglich in Berichten dokumentierte distanzierte, auch ablehnende Verhältnis Rosthorns zum Regime und die nicht gesicherte Verweigerung des Diensteides reichen für den Beirat als konkrete Anhaltspunkte einer individuellen Verfolgung nicht aus. Vielmehr bedürfe es wie bereits in der Rückstellungsrechtsprechung968 über die bloßen Gefahren der Nicht-Mitgliedschaft in der NSDAP hinausgehende Indizien für konkrete Nachteile, beispielsweise durch Kürzung oder Einstellung der Pension. Diese ist bei Rosthorn jedenfalls nicht ersichtlich.969 Umso mehr erstaunt sodann die Schlussfolgerung des Beirats im Fall Engländer: Dieser wurde vom Beirat nicht als kollektiv verfolgt betrachtet, da er »nur« als ›Mischling 2. Grades‹ definiert wurde. Obwohl er mit 58 Jahren vorzeitig pensioniert und zum Verkauf von Aktienanteilen gezwungen wurde, nimmt der Beirat indes ebenso wenig eine individuelle Verfolgung an.970 Als ein bei der individuellen Verfolgung zu berücksichtigender, konkreter Nachteil gilt für den Beirat darüber hinaus nicht die Ablehnung eines NSDAP-Mitgliedsantrages; insbesondere wenn die Person Mitglied in diversen anderen nationalsozialistischen Vereinigungen war.971 Bereits die Rückstellungsrechtsprechung führte aus, dass die NSDAP die »Hauptträgerin der nationalsozialistischen Ideologie« war und schon die Parteianwartschaft die Person zumindest für strukturell Verfolgte in einen »mit Misstrauen betrachteten, ja gefürchteten Personenkreis« stellte.972 Der Wunsch der Mitgliedschaft verdeutlicht also gerade die zustimmende politische Einstellung, die damit auch nicht Grund eines Verfolgungsakts werden konnte. Eine individuelle Verfolgung aufgrund der politischen Einstellung kann demnach nur angenommen werden, wenn sich die Verfolgung in einem konkreten Akt manifestiert, der gerade die anti-national­ sozialistische Einstellung sanktionieren soll.973 966 Beschl. zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 21.06.2013, S. 9; Beschl. zu Adolf Proksch v. 30.03.2022, S. 9 f. 967 Vgl. Beschl. zu Raoul Hausmann v. 29.11.2022, S. 2 f.

968 ORK, Entscheidung v. 25.06.1949 – Rkv 263/49; ORK, Entscheidung v. 08.10.1949 – Rkv 356/49. 969 Beschl. zu Arthur Rosthorn v. 03.07.2014, S. 2 f. 970 Beschl. zu Otto Engländer v. 29.11.2022, S. 6.

971 Beschl. zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011, S. 29.

972 ORK, Entscheidung v. 04.07.1953 – Rkv 55/53.

973 Im Beschl. zu Lothar Egger-Möllwald führt der Beirat aus, dieser sei »wegen seiner Gesinnung« verfolgt worden, konkrete

Maßnahmen werden jedoch nicht genannt (Beschl. zu Lothar Egger-Möllwald v. 07.12.2007, S. 1). Dies lässt sich bloß darauf zurückführen, dass seine Ehefrau Eveline Egger-Möllwald als ›Jude‹ verfolgt wurde und daher für ihn ohnehin die Verfolgungsvermutung als Ehepartner einer Kollektivverfolgten galt, s. dazu unter § 7 D.II.2.a), S. 171.

180  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

IV. Die Besonderheiten bei der Verfolgung juristischer Personen In unter fünf Prozent der Beschlüsse setzt sich der Beirat mit juristischen Personen auseinander, wie sie bereits von § 1 NichtigkeitsG und den Rückstellungsgesetzen erfasst waren.974 Als juristische Personen im Sinne des § 26 ABGB werden Zusammenschlüsse von Personen oder Vermögen verstanden, die über eigene Rechte und Pflichten verfügen, eine Legaldefinition exis­ tiert jedoch nicht.975 Dazu zählen beispielsweise gesetzlich anerkannte ­Religionsgemeinschaften und ihre Einrichtungen, Vereine sowie Aktiengesellschaften.976 In der nachfolgenden Darstellung der Empfehlungspraxis des Beirats wird zwischen der Verfolgung von Religionsgemeinschaften und juristischen Personen des Privatrechts – vornehmliche Vereine, aber auch eine GmbH977 – unterschieden.978 Innerhalb der vom Beirat untersuchten, verfolgten juristischen Personen bilden die Reli­ gionsgemeinschaften und deren Einrichtungen die größte Fallgruppe. In der ersten Dekade seiner Empfehlungspraxis wird nicht deutlich, ob der Beirat für Religionsgemeinschaften auch eine Kollektivverfolgung oder nur eine Individualverfolgung vorsieht.979 Jedenfalls für die jüdische Religionsgemeinschaft erscheint eine Kollektivverfolgung jedoch zwingend.980 Darüber hinaus entschied die Rückstellungsrechtsprechung aber deutlich, dass die »katholische Kirche und ihre Orden […] hinsichtlich der Verfolgung durch den Nationalsozialismus keineswegs den Juden gleichgestellt werden [können]; es kann zwar nicht in Abrede gestellt werden, daß die nationalsozialistischen Machthaber gegen die Kirche und ihre Einrichtungen mehr ablehnend als entgegenkommend eingestellt gewesen sind, doch sind Maßnahmen, die auf eine generelle Verfolgung hätten schließen lassen, nicht bekannt geworden.«981 Erstmals untersucht der Beirat 2009 im Beschluss zum Stift Heiligenkreuz die konkreten Verfolgungsumstände der Einrichtung einer Religionsgemeinschaft. Eine Auflösung des Stifts Heiligenkreuz erfolgte nicht, sodass ihm auch nicht sein gesamtes Vermögen entzogen wurde. Jedoch fanden einzelne Verfügungen über dessen Vermögen statt, darunter die verfahrensgegenständlichen Glasgemälde. Sie wurden im Dezember 1938 sichergestellt und im März 1940 erworben. In der Nachkriegszeit streng­ te das Stift die Rückstellung von Teilen des Vermögens an, nicht aber der in Rede stehenden Gemälde. Im Rückstellungsverfahren von Dezember 1949 betreffend eine 1939 974 ORK, Entscheidung v. 03.07.1948 – Rkv 99/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 108, S. 224;

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ORK, Entscheidung v. 10.12.1947 – Rkv 2/47, JBl 1948, 92, 92; Neuburg, Kommentar, 1949, S. 38; Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 49. Vgl. Schwimann/Kodek/Posch, ABGB, 5. Aufl. 2018, § 26 Rn. 4; Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 26 Rn. 4; Koziol/ Bydlinski/Bollenberger/Koch, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 26 Rn. 1 f. Vgl. Rummel/Lukas/Aicher, ABGB, Juli 2015, § 26 Rn. 3 f.; Kletečka/Schauer, ABGB, März 2017, § 26 Rn. 6 f.; Schwimann/ Kodek/Posch, ABGB, 5. Aufl. 2018, § 6 Rn. 21, § 26 Rn. 6 ff.; Koziol/Bydlinski/Bollenberger/Koch, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 26 Rn. 4 ff. Beschl. zum Psychoanalytischen Verlag v. 16.03.2005, S. 1. Bei der Tschechischen Kulturhistorischen Kommission (Beschl. zur Tschechischen Kulturhistorischen Kommission v. 25.11. 2004, S. 1 f.) sowie der Organisation Karen Hayesod (Beschl. zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 29.06.2021, S. 5) wird nicht deutlich, ob sie als juristische Person des öffentlichen oder privaten Rechts einzuordnen sind. Sie werden daher außenvor gelassen. Beschl. zum Missionshaus St. Gabriel v. 07.12.2007, S. 1 f. Dafür spricht auch die fehlende Problematisierung im Beschl. zur IKG Wien v. 03.10.2008, S. 1 f. ORK, Entscheidung v. 16.02.1952 – Rkv 26/52.

181  D. Die Verfolgung der Eigentümer:innen als Weichenstellung der Entziehung

verkaufte Liegenschaft des Stifts bejahte die Rückstellungskommission dessen konkrete Verfolgung und stellte fest, dass die Veräußerung »einzig und allein [auf] durch die […] politische Lage hervorgerufene Erwägungen« zurückzuführen sei, wirtschaftliche Gründe also nicht entscheidend gewesen seien. In Anknüpfung an die Rückstellungsrechtsprechung führt der Beirat an, dass die katholische Kirche und ihre Einrichtungen keiner kollektiven Verfolgung unterlagen, sodass zu untersuchen sei, ob das Stift Heiligenkreuz gleichwohl einer konkreten Verfolgung unterlag. Dies bejahte er unter Verweis auf das die konkrete Verfolgung des Stifts feststellende Rückstellungsverfahren.982 Über zehn Jahre später, im Beschluss zum Stift Göttweig, bestätigt er die Notwendigkeit konkreter Anhaltspunkte einer Verfolgung von Kirchen, wobei er dort die Verfolgung offenbar in dem Verlustakt selbst begründet sieht und nicht ausführlich belegt.983 In der späteren Praxis zu Einrichtungen von Religionsgemeinschaften, etwa den beiden Beschlüssen zum Deutschen Orden, stellt der Beirat, wie zu Beginn seiner Praxis, erneut ohne Ausführungen zur Verfolgung eine Entziehung fest.984 Dies könnte auf die vollständige Auflösung des Ordens zurückzuführen sein, da bereits die Rückstellungsjudikatur bei vollständig aufgelösten, juristischen Personen ohne umfassende Erläuterung eine Entziehung annahm.985 Angesichts der für Religionsgemeinschaften grundsätzlich erforderlichen, konkreten Anhaltspunkte müsste dies jedoch vom Beirat explizit ausgeführt werden.986 Ebenso wie bei den Religionsgemeinschaften fällt bei Beschlüssen zu juristischen Personen des Privatrechts auf, dass der Beirat zu Beginn seiner Empfehlungspraxis die Verfolgung nicht ausdrücklich prüft.987 Dies kann lediglich in einem Teil der einschlägigen Fälle darauf zurückgeführt werden, dass die betroffenen juristischen Personen bereits erfolgreiche Rückstellungsverfahren geführt haben und dabei lediglich einzelne Objekte vergessen wurden.988 Erst in einem Beschluss zu Objekten aus dem Eigentum verschiedener juristischer Personen stellt der Beirat heraus, welche juristischen Personen des Privatrechts er als verfolgt betrachtet. So zählt er etwa jüdische Vereine, wie die Lese- und Redehalle jüdischer Hochschüler in Wien und die Zionistische Technikervereinigung Avoda aufgrund ihrer Auflösung, sowie den Verein der Vivisektionsgegner wegen der Eingliederung in den ›Reichstierschutzbund‹ zu den verfolgten Vereinen. Demgegenüber gehören dem Ständestaat zuzuordnende Einrichtungen oder formell aufgelöste, aber dem Nationalsozialismus nahestehende Organisationen nicht zu den verfolgten juristischen Personen.989 Wenngleich der Beirat der Begründungspflicht zumeist nicht nachkommt, müssen sowohl für Religionsgemeinschaften und deren Einrichtungen als auch für ju-

982 Beschl. zum Stift Heiligenkreuz v. 23.01.2009, S. 3. 983 Beschl. zu Stift Göttweig v. 25.09.2020, S. 6.

984 Beschlüsse zum Deutschen Orden v. 03.07.2014, S. 5, u. 14.06.2019, S. 2.

985 ORK, Entscheidung v. 30.04.1949 – Rkv 178/49; ORK, Entscheidung v. 07.05.1949 – Rkv 176/49.

986 Graf entnimmt der Rückstellungsrechtsprechung eine Kollektivverfolgung von aufgelösten Vereinen, s. Graf, Rückstellungs-

gesetzgebung, 2003, S. 66 f. Diese erscheint jedoch nicht notwendig und dogmatisch unpassend, da gerade die Auflösung die kollektive Verfolgung zu rechtfertigen scheint. Diese stellt aber zugleich den individuellen Verfolgungsakt dar. 987 Beschl. zur Großloge Wien v. 27.01.2004, S. 1; Beschl. zum Komensky Schulverein v. 27.04.2004, S. 1; Beschl. zum Jüdischen Museum Wien v. 16.03.2005, S. 1, u. 29.03.2006, S. 1; Beschl. zum Psychoanalytischen Verlag v. 16.03.2005, S. 1. 988 So z.B. beim Beschl. zur Großloge von Wien v. 27.01.2004, S. 1; Beschl. zum Komensky Schulverein v. 27.04.2004, S. 1. 989 Beschl. zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 21.06.2013, S. 11.

182  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

ristische Personen des Privatrechts konkrete Anhaltspunkte vorliegen, um eine Verfolgung feststellen zu können.990

V. Die Besonderheiten bei nicht-verfolgten Personen In der Empfehlungspraxis finden sich sechs Fälle, die eine Restitution zugunsten von nicht-ver­ folgten Personen untersuchen. Damit machen die nicht-verfolgten Personen knapp zwei Prozent der untersuchten Sachverhalte aus; in keinem der Fälle hat der Beirat eine Restitution empfohlen. Sein Fokus liegt also eindeutig auf der Berücksichtigung verfolgter Personen. Dementsprechend komprimiert fällt die nachfolgende Darstellung der einschlägigen Fälle aus. Die Tatsache, dass der Beirat sich in seiner Empfehlungspraxis überhaupt mit Vermögensverlusten nicht-verfolgter Personen befasst, ist – wie so oft – vermutlich auf das Rückstellungsrecht zurückzuführen: Das Dritte Rückstellungsgesetz sah in § 2 Abs. 2 eine Rückstellungsmöglichkeit für von nicht-verfolgten Personen entzogenes Vermögen vor, wenn die nationalsozialistische Herrschaft kausal für den Verlust, die Gegenleistung unangemessen und die Auswahl der anderen Partei unfrei war.991 Die Vorschrift sollte dem Umstand gerecht werden, dass auch nicht verfolgten-Personen im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft Vermögen entzogen wurde, beispielsweise durch die Enteignung zu Wehrmachtszwecken oder die deutsche Übernahme österreichischer Großunternehmen..992 Der damit sehr weite Kreis an möglichen Anspruchstellenden lässt sich historisch auch auf die innenpolitisch in der Nachkriegszeit stets bestärkte »Opfer-These« zurückführen,993 wonach auch die »österreichischen Opfer« des nationalsozialistischen Regimes berücksichtigt werden mussten.994 Wie die nachfolgend kursorisch dargestellten Beschlüsse zu nicht-verfolgten Personen zeigen, diskutiert der Beirat lediglich Fälle, in denen aus unterschiedlichen Gründen überhaupt ein solcher Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft in Betracht kommt. Ohne ausdrückliche Nennung des § 2 Abs. 2 3. RStG übernimmt er demnach die Wertung des Rückstellungsrechts, dass auch bei nicht-verfolgten Personen zumindest irgendein Zusammenhang erforderlich ist. Erstmals scheint der Beirat im Beschluss zu Jaromir Czernin eine Vermögensentziehung zulasten einer nicht-verfolgten Person zu untersuchen. Dort prüft er im Anschluss an die explizite Verneinung einer Verfolgung, ob der Verkauf »aus anderen Gründen« als Entziehung gelten kann.995 Der Beirat stellt indes nicht ausdrücklich klar, dass er damit eine Vermögensentziehung zulasten einer nicht-verfolgten Person prüft, sondern schafft mit der Entziehung »aus anderen Gründen« eine eigene Kategorie, innerhalb derer er letztlich auch mit den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 3. RStG vergleichbare Kriterien verarbeitet. Es ist daher 990 Wie die Bestimmung der Begünstigten der juristischen Personen als Eigentümerinnen erfolgt, wird aus der Empfehlungspra-

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xis nicht ausreichend ersichtlich. Zu vermuten ist jedoch, dass sich auch dies nach den gesellschafts- und erbrechtlichen Vorgaben richtet, s. zur Begünstigung unter § 10 B.I., S. 315. S. dazu instruktiv Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 62 f. In der Unfreiheit der Auswahl der anderen Partei selbst liegt mithin noch kein Verfolgungsmoment. ORK, Entscheidung v. 03.12.1949 – Rkv 408/49, JBl 1950, 42, 42; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 62. S. zum Hintergrund der »Opfer-These« unter § 4 A.II., S. 34. Denn die österreichische Bevölkerung habe der Legislative zufolge den Wunsch gehegt, »daß alles, was die Deutschen […] durch offenen Zwang oder zumindest durch eine infolge ihrer allgegenwärtigen militanten Anwesenheit auf österreichischer Seite bewirkte Unfreiheit in der Entschlussfassung an sich gebracht hatten«, restituiert würde (Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 93). Beschl. zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011, S. 29; so auch Beschl. zu Maria Wesselski v. 29.11.2022, S. 8.

183  D. Die Verfolgung der Eigentümer:innen als Weichenstellung der Entziehung

nicht ersichtlich, warum der Beirat an dieser Stelle nicht – wie in seiner Empfehlungspraxis zu verfolgten Personen – ausdrücklich auf das 3. RStG rekurriert. Nichtsdestotrotz wird an diesem Beschluss deutlich, dass der Beirat die Restitution an nicht-verfolgte Personen nicht per se außerhalb des Anwendungsbereichs des KRG sieht. Bestätigt wird diese Einschätzung im Beschluss zu Arthur Rosthorn, in dem der Beirat eine Verfol­ gung Rosthorns ablehnt und dann ausführt, dass auch keine »andere[n], für das NS-Regime spe­ zifische[n] Elemente hinzutreten«.996 Wann diese »anderen Elemente« oder, wie im Beschluss zu Carl Reininghaus, »anderen Hinweise«997 vorliegen, führt der Beirat jedoch nicht aus. Die Veräußerung an das nationalsozialistische Regime allein reicht dafür ebenso wenig aus wie die allgemeine Veränderung der politischen Umstände aufgrund des Kriegsbeginns.998 Daraus ist abzuleiten, dass dem Beirat zufolge durchaus eine Restitution aufgrund eines Verlusts aus dem Eigentum einer nicht-verfolgten Person erfolgen kann. Dies ist jedoch nur unter der Bedingung möglich, dass andere, im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft stehende Umstände für den Verlust kausal geworden sind. Nicht ersichtlich ist, warum der Beirat zum einen diese »anderen Umstände« nicht konkretisiert und zum anderen sich für diese Fallkonstellationen entgegen seiner sonstigen Arbeitsweise keine einheitliche Terminologie zulegt, etwa indem er ausdrücklich auf das Rückstellungsrecht rekurriert.

VI. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien Für eine Beurteilung der Verfolgungskategorien ist zunächst zu ermitteln, wie das Kriterium der Verfolgung im Lichte der Washingtoner Prinzipien zu betrachten ist und welche der gebildeten Verfolgungskategorien vom Regelungszweck der Prinzipien erfasst sind. Anschließend ist auf die Hierarchisierung innerhalb der gebildeten Kategorien einzugehen. 1. Zum Kriterium der Verfolgung als Weichenstellung

In den Washingtoner Prinzipien selbst finden sich kaum konkrete Anhaltspunkte zur Verfolgung als maßgebliches Kriterium. Sie sind sehr auf die Handlungen des nationalsozialistischen Regimes fokussiert. Lediglich aus dem Prinzip Nr. 4 kann ein Schwerpunkt auf die Geschädigten des Holocaust, und damit insbesondere auf die Kategorie der als ›Juden‹ und ›Mischlinge‹ definierten Personen, abgeleitet werden. Zudem ist nicht zu vergessen, dass die Washingtoner Prinzipien im Zuge der Washington Conference on Holocaust-Era Assets entstanden sind; ihnen und auch den Entstehungsmaterialien ist damit die Einbeziehung von Geschädigten des Holocaust als Hauptanliegen zu entnehmen.999 Auch die zum Erlass der Theresienstädter Erklärung führende Konferenz bezog sich dem Titel nach allein auf Holocaust-Era Assets, doch kann der Erklärung sowie den Entstehungsmaterialien eine klare Integrationsabsicht bezüglich aller Verfolgten entnommen werden: Sie erfasst als Konkretisierung der Washingtoner Prinzipien »Kulturgüter der Opfer des Holocaust

996 Beschl. zu Arthur Rosthorn v. 03.07.2014, S. 2 f.; ähnlich auch Beschl. zu Wilhelm Kimbel v. 17.04.2015, S. 4. 997 Beschl. zu Carl Reininghaus v. 01.04.2016, S. 3.

998 Beschl. zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011, S. 30 ff.; Beschl. zu Carl Reininghaus v. 01.04.2016, S. 3; Beschl. zu Maria Wesselski

v. 29.11.2022, S. 8 f.; Beschl. zu Giulietta Mendelssohn v. 15.05.2023, S. 15.

999 Eizenstat, Explanation, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 411, 412.

184  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

(der Shoah) und anderer Opfer nationalsozialistischer Verfolgung«.1000 Interessanterweise wird erst auf dieser Konferenz auf die Tatsache eingegangen, dass die Fremddefinition als ›Jude‹ durch das nationalsozialistische Regime oftmals mit der Selbstzuschreibung der Personen divergierte.1001 Somit decken die Washingtoner Prinzipien nicht nur die Verluste von antisemitisch diskriminierten Personen – damit über 95 Prozent der Fälle des Beirats – ab, sondern auch Verluste von anderweitig verfolgten Personen. Aus den Washingtoner Prinzipien folgt darüber hinaus zwar kein direkter Ausschluss nichtverfolgter Personen, da sie sich eher auf die Handlungen des nationalsozialistischen Regimes beziehen und gelegentlich auch nicht-verfolgte Personen etwa nationalsozialistischen Beschlagnahmen ausgesetzt waren. Doch finden sich weder in den Entstehungsmaterialien noch der Literatur Hinweise auf Verluste nicht-verfolgter Personen. Ebenso wenig scheint die Theresienstädter Erklärung diese Verluste abdecken zu wollen. Vielmehr wird in der Literatur ausdrücklich betont, dass die Integration aller Kriegsgeschädigten zu einer Ungleichbehandlung mit Geschädigten anderer Kriege und Konflikte führen würde.1002 Selbst wenn somit ein außerhalb einer Verfolgung liegender Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft, etwa durch Kriegsschäden, besteht, spricht viel dafür, diese Fälle außerhalb des Regelungszwecks der Washingtoner Prinzipien und der Theresienstädter Erklärung zu verorten. Die Washingtoner Prinzipien reagieren auf den Umstand, dass viele verfolgte Personen, anders als Betroffene von allgemeinen Kriegs- und Besatzungsverlusten dieser Zeit, in der Nachkriegszeit aufgrund der massenhaften Flucht oder der Ermordung ihrer Familie nicht in der Lage waren, ihre Ansprüche umfassend geltend zu machen. Diese Umstände rechtfertigen den Appell der Prinzipien zur Aufgabe beziehungsweise Beschränkung der Eigentumsrechte, während bei allgemeinen Kriegs- und Besatzungsverlusten nicht-verfolgter Personen nicht ersichtlich ist, warum für diese in der Nachkriegszeit kein hinreichender Zugang zu Restitutionsbeziehungsweise Ausgleichsverfahren bestanden haben sollte.1003 Würden allgemeine Kriegsund Besatzungsverluste auch von den Washingtoner Prinzipien erfasst, drängt sich zudem die Frage auf, warum dann nicht längst für andere Besatzungsregime Restitutionsregeln existieren. Die Washingtoner Prinzipien beabsichtigen somit gerade und nur die Rückabwicklung von Verlusten, die aus der umfassenden Verfolgung, die über die allgemeine Not von Krieg und Besatzung hinausgeht, resultieren.1004 Im Lichte der Washingtoner Prinzipien sollte der Beirat somit den Anwendungsbereich von § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG auf die Verluste von Verfolgten begrenzen, insbesondere da das österreichische Nachkriegsrecht ausreichende Möglichkeiten der Rückstellung für nicht-verfolgte Personen vorsah.

1000 Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 735. 1001 Bauer, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 102, 113 f. 1002 O’Donnell, EJIL 2011, 49, 70 f.

1003 Vgl. O’Donnell, EJIL 2011, 49, 70 f.; s. in diese Richtung auch Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 185;

jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 162.

1004 Daher kritisch zu einem Verständnis, das nicht einmal mehr einen Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft

fordert, Woodhead, Int. J. Cult. Prop. 2014, 113, 119; Woodhead, AAL 2013, 167, 179.

185  D. Die Verfolgung der Eigentümer:innen als Weichenstellung der Entziehung

2. Zur starren Hierarchisierung innerhalb der Verfolgungskategorien

Nach der Herausarbeitung der verfolgten Personen als von den Washingtoner Prinzipien erfasste Personengruppe ist nun auf die Hierarchisierung innerhalb der Verfolgungskategorien einzugehen, die durch die Differenzierung von Kollektiv- und Individualverfolgung stattfindet. Während bei den Personen, die einer kollektiv verfolgten Gruppe zugeordnet werden, keine Nachweise für eine konkrete Verfolgung – und damit das erste Merkmal der Entziehung – vorliegen müssen, benötigt der Beirat bei anderen Personen einen Beleg des Verfolgungsaktes. Die strukturelle Benachteiligung bestimmter Personengruppen während der nationalsozialistischen Herrschaft wandelt sich in Form der Verfolgungsvermutung somit zu einer »Privilegierung« in der heutigen Restitutionspraxis. Den Washingtoner Prinzipien kann, wie bereits im Rahmen des Eigentumsnachweises erläutert,1005 ein grundsätzlich starker Wunsch zur Beweiserleichterung für den Nachweis einer Entziehung entnommen werden. Dies gilt gerade für Zustände, die kaum einem Beweis für jede Einzelperson zugänglich sind, wie etwa die Verfolgung von als ›Juden‹ definierten Personen. Vielmehr unterlagen bestimmte Gruppen eben kollektiv diskriminierenden Maßnahmen, deren Implementierung im Einzelfall nicht stets erfolgt ist, deren Ankündigung jedoch für eine Verfolgung ausreicht. Es bedarf also einer Hierarchisierung, um dem Umfang der Diskriminierung gerecht zu werden.1006 Auch hier entsteht daher das »Dilemma der Kategorien«1007: Denn diese Hierarchisierung der verfolgten Personen im Wege der Verfolgungsvermutung für einzelne Gruppen erweckt zunächst den Eindruck, eine bestimmte Art der Verfolgung sei nicht »schlimm genug«, um in den »Genuss der Privilegierung« durch die Vermutung zu kommen. Zugleich führt die Vermutung zwar zu einer faktischen Hierarchisierung, jedoch bildet sich diese nicht durch eine Bewertung der Qualität und Quantität der Verfolgung heraus. Es ist für die Anwendung der Verfolgungsvermutung also nicht entscheidend, wie tiefgreifend und gewaltvoll die Verfolgung war und wie viele Personen sie betraf. Vielmehr ist allein maßgeblich, wie planmäßig und konsequent sie erfolgte, ob es – mit anderen Worten – für einzelne der konstruierten Personengruppen die Möglichkeit gab, nicht betroffen zu sein. Die fehlende Anwendung des »Privilegs« der Vermutung auf ›Mischlinge 2. Grades‹ zeigt diese Problematik wie unter einem Brennglas: Unter Rekurs auf die Nachkriegsrechtsprechung lehnt der Beirat eine Kollektivverfolgung von ›Mischlingen 2. Grades‹ ab. Dabei darf jedoch – wie auch der Beirat explizit betont – nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Nachkriegsjudikatur noch über andere Kenntnisse verfügte: Heute ist bekannt, dass, im Vergleich zu als ›Volljuden‹ oder ›Mischlinge 1. Grades‹ definierten Personen, als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierte Personen zwar nicht deportiert wurden und »bloß« geringeren wirtschaftlichen Beschränkungen, vornehmlich in der Berufswahl, ausgesetzt waren.1008 Dennoch bestand über den gesamten Zeitraum der nationalsozialistischen Herrschaft stets Uneinigkeit über die Behandlung von als ›Mischlinge 2. Gerades‹ definierten Personen. So wurde auf der für die Planung des Holocausts zentralen Wannseekonferenz1009 1942 eine Ausweitungsabsicht der Verfolgungsmaßnah1005 S. zur Bestimmung der Eigentümer:innen im Lichte der Washingtoner Prinzipien unter § 7 C.II.6., S. 161. 1006 In diese Richtung auch O’Donnell, EJIL 2011, 49, 57.

1007 Mangold, Inklusion, 2021, S. 335. Dazu eingehend im Kontext der Besetzung des Beirats unter § 5 A.III.2., S. 62. 1008 Perz, in: Hehenberger/Löscher (Hrsg.), Malkunst, 2012, S. 221, 230 ff.

1009 Dem Wortlaut der Einladung Heydrichs zufolge weniger eine Konferenz denn eine »Besprechung mit anschließendem Früh-

stück«.

186  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

men, etwa durch Sterilisation bei zusätzlichem Rekurs auf rassistische Phänotypen, bei als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierten Personen geäußert.1010 Im Gegensatz zu politischen Geg­ner:innen stand ihnen folglich mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft der Weg ins »innere Exil« nicht frei. Vielmehr haftete ihnen die Zuschreibung durch die antisemitische Gesetzgebung unüberwindbar und mit drohender Ausweitung an. Ein Vertrauen auf die Beibehaltung des status quo der vergleichsweise milde erscheinenden Diskriminierung ökonomischer Dimension konnte wohl kaum erwartet werden. Die Systematik der Verfolgung zeigt sich in ihrer ökonomischen Dimension gerade in der Kombination der Unsicherheiten bezüglich der Ausweitung mit der Unüberwindbarkeit der Zuschreibung – Qualität und Quantität der Verfolgung sind schließlich gerade unerheblich. Daher sollte die Verfolgungsvermutung auch auf als ›Mischlinge 2. Grades‹ definierte Personen anwendbar sein, da sie ohne Weiteres durch Aufzählung von Gegengründen, wie etwa wirtschaftliche Flexibilität, widerlegt werden kann. So problematisch folglich die faktische Hierarchisierung durch die Verfolgungsvermutung auch erscheint, ist sie notwendig, um auf die Systematik der Verfolgung bestimmter Personengruppen zu reagieren. Es kann gleichwohl nicht oft genug betont werden, dass diese Systematik nicht die im Einzelfall erlebte Gewalt anderer Personen relativieren soll. Denn die Verfolgungsvermutung enthält gerade weder eine qualitative noch quantitative Wertung. Angesicht der den Washingtoner Prinzipien inhärenten Absicht zur Beweiserleichterung stellt sie gleichwohl ein wichtiges Mittel auf dem Weg zu einer »gerechten und fairen Lösung« dar.

E. Der Verlust als ungeschriebenes Merkmal der Entziehung In dieser Arbeit ist bereits oft der Begriff »Verlust« gefallen. Bei einem Blick in den Wortlaut des KRG und der Nachkriegsgesetze fällt jedoch auf, dass keines der Gesetze diesen Begriff enthält. Vielmehr sprechen die Gesetzestexte des NichtigkeitsG und 3. RStG von »entziehen« beziehungsweise »entzogenem Vermögen« sowie von »Vermögensübertragungen«. Mit dem Begriff der »Entziehung« wird aber eine Terminologie gewählt, die – anders als die Bezeichnung »Verlust« – bereits eine weitere normative Wertung impliziert; nämlich den Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft. Um darzustellen, dass unabhängig von einem etwai­ gen Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft zunächst ein Abgang des Kulturguts aus dem Vermögen der Eigentümer:innen stattgefunden haben muss, der erst im nächsten Schritt infolge des Zusammenhangs mit der nationalsozialistischen Herrschaft eine Entziehung darstellen kann, verwendet diese Arbeit die Bezeichnung »Verlust«. Sie ist damit ausdrücklich ergebnisoffen, trifft also noch keine Aussage über den Kausalzusammenhang. Zudem ist die Bezeichnung als »Verlust« auch deutlich offener als der Begriff der »Vermögensübertragung«, der ein aktives Handeln der Übertragenden nahelegt.1011 1010 Roseman, Wannsee-Konferenz, 2002, S. 117 f.; Jasch, in: Kampe/Klein (Hrsg.), Wannsee-Konferenz, 2013, S. 276, 296; Heine-

mann, in: Kampe/Klein (Hrsg.), Wannsee-Konferenz, 2013, S. 328, 331 ff.; Longerich, Wannseekonferenz, 2016, S. 117 ff.

1011 In der Regierungsvorlage zum NichtigkeitsG war noch allein von »Vermögensübertragungen« die Rede (Beilagen Stenogra-

fische Protokolle des Nationalrats Nr. 91, V. GP, S. 47), dies wurde anschließend jedoch »stilistisch« zu »Rechtsgeschäfte und Rechtshandlungen« geändert, auch um einen weiteren Anwendungsbereich zu sichern (Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 92; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 61). Gleichwohl wurde sodann im 3. RStG sowohl die Bezeichnung als »Rechtsgeschäfte und sonstige Rechtshandlungen« als auch erneut als »Vermögensübertragung« gewählt.

187  E. Der Verlust als ungeschriebenes Merkmal der Entziehung

Sowohl in der Literatur1012 als auch in der Rückstellungsrechtsprechung1013 sowie der jüngeren Empfehlungspraxis1014 des Beirats ist die Bezeichnung »Verlust« als Oberbegriff etabliert. Gleichwohl definiert der Beirat diesen an keiner Stelle ausdrücklich. Daher beabsichtigt die nachfolgende Untersuchung, aus der Empfehlungspraxis eine funktionale Definition des Verlusts herauszudestillieren, die über die rechtlichen Kategorien von Besitz und Eigentum hinausgeht. Anschließend wird ermittelt, welche Beweisanforderungen dort an das Vorliegen dieses Verlusts gestellt werden. Diese Erkenntnisse werden zuletzt einer Beurteilung im Lichte der Washingtoner Prinzipien zugeführt.

I. Zur Definition des Verlusts Zur abstrakten Ermittlung einer Definition des Verlusts aus der Empfehlungspraxis des Beirats werden die einzelnen Verlustformen noch nicht vertieft untersucht. Denn für die Bestimmung des Begriffs ist allein erforderlich, die konkrete Position zu ermitteln, die »verlorengegangen« ist. In Betracht kommt entweder die faktische Verfügungsmacht – nach deutscher Terminologie wohl vergleichbar mit der faktischen Gewalt über eine Sache –, oder als rechtliche Positionen der Besitz oder das Eigentum am Kulturgut.1015 Bei dieser Untersuchung handelt es sich wohlgemerkt um eine sehr formaljuristische Betrachtung. Denn für die damaligen Eigentümer:innen machte es funktional keinen Unterschied, welcher konkreten Position sie entledigt wurden.1016 Gleichwohl bedarf es für die juristische Untersuchung einer Konkretisierung, da der Zeitpunkt der Verluste der verschiedenen Positionen nicht zwingend identisch ist; im Einzelfall kommt es also durchaus auf eine Differenzierung an. Anknüpfend an die Empfehlungspraxis entwickelt sich diese Differenzierung entlang der beiden diskutierten Anknüpfungspunkte des Eigentums und der faktischen Verfügungsmacht. Ausnahmsweise ist zur Klärung dieser Problematik die Rückstellungsrechtsprechung aus der Nachkriegszeit wenig hilfreich, da ihr infolge der Widersprüche zwischen ihrer frühen und späten Praxis keine einheitliche Verlustdefinition zu entnehmen ist.1017 In der anfänglichen Rück­ stellungsrechtsprechung wurden auch Verluste der faktischen Verfügungsmacht ohne Eigentumsverlust, etwa Beschlagnahmen, als maßgebliche Verlusthandlungen betrachtet.1018 Dabei fand keine Auseinandersetzung mit der Frage nach der Notwendigkeit eines Eigentumsverlusts statt. Entscheidend war offenbar allein, dass nach außen hin die Eigentümer:innen nicht mehr 1012 Lillie, Was einmal war, 2003, S. 1138; Welser/Rabl, Der Fall Klimt, 2005, S. 104; Heuberger, in: Koordinierungsstelle für Kul-

turgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 413, 421.

1013 ORK, Entscheidung v. 15.05.1948 – Rkv 49/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 59, S. 134;

ORK, Entscheidung v. 22.05.1948 – Rkv 60/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 70, S. 154; ORK, Entscheidung v. 11.09.1948 – Rkv 113/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 122, S. 253. 1014 Beschl. zu Albert Klein v. 26.11.2010, S. 3; Beschl. zu Julius Siegfried v. 03.07.2014, S. 3; Beschl. zu Nathan Eidinger v. 03.07. 2014, S.3; Beschl. zu Carl Heumann v. 16.03.2018, S. 7; Beschl. zu Heinrich Klang v. 18.10.2019, S. 3; Beschl. zu Ernst Bunzl v. 11.01.2019, S. 3. 1015 Während also Eigentum und Besitz rechtliche Positionen darstellen, meint die faktische Verfügungsmacht gerade eine nichtrechtliche Position. 1016 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 177; Klein, JBl 1948, 8, 11; Simma/Folz, Restitution, 2004, S. 216 ff.; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 116 f. 1017 Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 39. 1018 ORK, Entscheidung v. 25.09.1948 – Rkv 155/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 164, S. 356 f.; ORK, Entscheidung v. 02.10.1948 – Rkv 137/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 146, S. 317 f.; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 101 ff.; Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 262.

188  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

die faktische Verfügungsmacht innehatten.1019 Dafür lässt sich auch § 2 Abs. 3 3. RStG anführen, der als rückstellungspflichtigen »Erwerber« jeden »Besitzer« nach der Entziehung definierte; also zumindest nicht ein neubegründetes Eigentumsrecht voraussetzte. Ebenso spricht die faktische Unerheblichkeit für die Eigentümer:innen für einen möglichst weiten, funktionalen Verlustbegriff. Denn entscheidend war für sie die de facto Unmöglichkeit einer Einflussnahme auf das Kulturgut, unabhängig von der konkreten rechtlichen Position. Dem steht jedoch neben Kritik aus der Literatur1020 eine Entscheidung aus der späteren Rückstellungspraxis entgegen: So liege eine Entziehung nur vor, wenn der »Eigentümer sein Eigentumsrecht durch einen […] Erwerbsakt, wie Verfall, Kauf oder dergleichen verloren hat. Die bloße Beschlagnahme […] an sich ist weder eine Entziehung noch ein Erwerb, da durch die­ se der geschädigte Eigentümer nur sein Verfügungsrecht, nicht aber sein Eigentum verliert.« 1021 Diese Sichtweise ist nicht nur auf die generell strengere Spätphase der Rückstellungsrechtsprechung zurückzuführen.1022 Vielmehr lässt sie sich auch mit dem Umstand erklären, dass im Falle eines fortbestehenden Eigentums weiterhin der zivilrechtliche Weg gemeinsam mit einer Aufhebung der Beschränkung der Verfügungsmacht offenstand. In der heutigen Empfehlungspraxis nach dem KRG ist ein fortbestehendes Eigentumsrecht aufgrund der Tatbestandsvoraussetzung des Bundeseigentums jedoch zwangsläufig ausgeschlossen.1023 Diese Widersprüche aus dem Nachkriegsrecht löst der Beirat leider nicht auf, seine Empfehlungspraxis ist zur Frage des Verlusts ebenso inkonsistent. Er bezieht sich zwar kaum auf das Rückstellungsrecht, erkennt aber zumindest in einem Beschluss an, dass dieses keine allge­ meingültige Definition eines Verlusts liefert.1024 Erste konkrete Anhaltspunkte für ein Abstellen auf den faktischen Verlust der Verfügungsmacht finden sich im Beschluss zu Ernst Pollack. Die Sammlung des als ›Jude‹ definierten Ernst Pollack wurde 1942 »sichergestellt«. Etwa gleichzeitig wurde das Ehepaar Pollack nach Theresienstadt deportiert. Der Beirat führt in diesem Beschluss ausdrücklich an, dass ein nach dem staatlichen Zugriff er­ folgtes »Rechtsgeschäft, das zu einem Eigentumsübergang an den Kunstgegenständen geführt haben könnte, […] nicht ersichtlich« sei und stellt sodann auf das vorherige staatliche Handeln als Verlust ab.1025 Daraus lässt sich entnehmen, dass das staatliche Handeln zwar nicht zu einem Eigentumsverlust führte, gleichwohl aber einen Verlust im Sinne des KRG darstellen kann; ein faktischer Verlust der Verfügungsmacht genügt somit. Wenige Monate darauf scheint der Beirat jedoch anderer Ansicht zu sein: Im Beschluss zu Josefine Winter stellt er ausdrücklich auf die spätere Veräußerung ab, da das vorherige staatliche Handeln noch nicht zu einem Eigentumsverlust geführt habe.1026 Damit erweckt der Beirat den Eindruck, der faktische Verlust der Verfügungsmacht durch das staatliche Handeln sei unzureichend. 1019 Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 39; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 112 ff.

1020 Neuburg, Kommentar, 1949, S. 34 f.; Klein, JBl 1948, 8, 8 ff.; Kulka, JBl 1948, 134, 135; ähnlich Schwind, JBl 1949, 231, 232.

1021 ORK, Entscheidung v. 09.05.1953 – Rkv 91, 92/53. In diese Richtung ging bereits die ORK, Entscheidung 17.01.1948 – Rkv

1/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 11, S. 58, wo sie eine Rückstellung ablehnt, da die »Antragsteller […] Eigentümer der Realität geblieben sind und […] ihnen nur die tatsächliche Innehabung der Realität entzogen« wurde. 1022 Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 249; Olechowski, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Die Republik, 2005, S. 67, 77. 1023 S. zur Voraussetzung des Bundeseigentums unter § 6 C.I., S. 103. 1024 Beschl. zu Stefanie Demeter v. 14.12.2005, S. 2. 1025 Beschl. zu Ernst Pollack v. 27.03.2000, S. 2. 1026 Beschl. zu Josefine Winter v. 29.11.2000, S. 2; ähnlich Beschl. zu Fritz Grünbaum v. 15.10.2015, S. 8.

189  E. Der Verlust als ungeschriebenes Merkmal der Entziehung

Wiederum fünf Jahre später, im Beschluss zu Stefanie Demeter, scheint dieser offenbar auszureichen:1027 Dort zieht der Beirat eine »Beschränkung der Verfügungsmacht des Eigentümers« als tatbestandlichen Verlust in Betracht.1028 Schließlich erklärt der Beirat im Beschluss zu Karl Banhans und weiteren Empfehlungen ausdrücklich, dass es unerheblich sei, ob die Maßnahmen »eine Entziehung des Eigentums bewirkten oder faktischer Natur waren«1029. Zuletzt führt der Beirat jedoch wiederum aus, dass im Fall Grünbaum keine Entziehung vorliege, da kein Eingriff in Eigentumsrechte erfolgt sei.1030 Die Empfehlungspraxis ist mithin maximal volatil, wenngleich sich eine Tendenz für eine Konturierung des Verlustbegriffs durch den faktischen Verlust der Verfügungsmacht entnehmen lässt,1031 die auch im Nachkriegsrecht überwiegend Rückhalt findet. Diese Tendenz wird aber immer wieder durch das angedeutete Erfordernis eines Eigentumsverlusts erschüttert.1032

II. Die Ermittlung des Verlusts durch Indizien Der Beirat stellt in seiner Empfehlungspraxis keine allgemeinen Anforderungen an den Beweis des Verlusts auf. Vielmehr müssen diese, wie bereits der Verlustbegriff selbst, aus den konkreten Beschlüssen abgeleitet werden. Ob im ersten Schritt überhaupt ein Verlust im Sinne des KRG vorliegt, ermittelt der Beirat, ähnlich wie bei der Bestimmung der Eigentümer:innen, 1033 anhand eines Indizienbeweises. Der Verlust wird also – anders als etwa die Verfolgung und der Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft – nicht vermutet. Gleiches gilt im zweiten Schritt für den Nachweis der konkreten Verlustform, ob also der Verlust etwa durch Rechtshandlung, Rechtsgeschäft oder Realakt erfolgte. Weder hinsichtlich der bloßen Feststellung, ob ein Verlust eingetreten ist, noch hinsichtlich der Bestimmung der konkreten Verlustform lässt sich der Empfehlungspraxis ein einheitliches Beweismaß für die Indizienbeweis­führung entnehmen. Es kann lediglich festgehalten werden, dass eine absolute Sicherheit hinsichtlich des Verlusteintritts und seiner konkreten Form dabei nicht erforderlich ist. Für beide Beweisfragen erscheint vielmehr eine »an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit«1034 ausreichend, wobei der Beirat dieses Beweismaß erst

1027 Unerheblich ist an dieser Stelle, ob neben der dinglichen auch eine schuldrechtliche Beschränkung der Verfügungsmacht

durch einen Leihvertrag für den Verlust genügt, s. Beschl. zu Stefanie Demeter v. 14.12.2005, S. 2. Entscheidend ist allein, dass der Verlust der Verfügungsmacht als maßgeblich erachtet wird. 1028 Beschl. zu Stefanie Demeter v. 14.12.2005, S. 2 f.; so auch Beschl. zu Flora Wilhelm v. 14.12.2005, S. 1 f.; Beschl. zu Gottlieb Kaldeck v. 29.03.2006, S. 2; ähnlich Beschl. zu Josef Morgenstern v. 06.03.2020, S. 5; Beschl. zu Valerie Karplus v. 12.10.2012, S. 4. 1029 Beschl. zu Karl Banhans v. 29.09.2011, S. 3; in diese Richtung auch Beschl. zu Ernst Sonnenschein v. 20.03.2009, S. 3; Beschl. zu Ludwig Mayer v. 20.11.2009, S. 3; Beschl. zu Valerie Karplus v. 12.10.2012, S. 5. 1030 Beschl. zu Fritz Grünbaum v. 15.10.2015, S. 8. 1031 A.A. jedoch jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 166 f. (bereits angedeutet auf S. 143 und S. 161). 1032 In jedem Fall fallen Maßnahmen, die ungeachtet ihres Zwangscharakters nicht zu einer Verringerung des bestehenden Vermögens führten, wie etwa die zwangsweise Herstellung eines Objektes im Auftrag des nationalsozialistischen Regimes, nicht unter einen Verlust im Sinne der Tatbestände, s. Beschl. zur IKG Wien v. 03.10.2008, S. 2. 1033 S. zur Ermittlung der Eigentümer:innenstellung unter § 7 C.II., S. 144. 1034 Beschl. zu Margarethe u. Eva Henriette Sonnenthal v. 03.10.2008, S. 3; Beschl. zu Alice Lilli Rona v. 20.03.2009, S. 2; Beschl. zu Ernst Sonnenschein v. 20.03.2009, S. 3; Beschl. zu verschiedenen Eigentümer:innen betreffend Objekte aus der Bibliothek der Österreichischen Galerie Belvedere v. 15.05.2014, S. 2; Beschl. zu Siegfried Julius v. 03.07.2014, S. 3; Beschl. zu Ida Baer v. 03.07.2014, S. 3; Beschl. zu Moriz Grünebaum v. 11.01.2019, S. 3.

190  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

in der zweiten Dekade nennt, und keine einheitliche Verwendung zu beobachten ist. 1035 Es wäre daher verfehlt, diesen Wahrscheinlichkeitsmaßstab als allgemeingültiges Beweismaß der Empfehlungspraxis zu verstehen, wenngleich es an anderen Anhaltspunkten mangelt. Aufgrund dieser Unklarheiten bezüglich des Beweismaßes werden die Beweisanforderungen allein anhand der vom Beirat als maßgeblich betrachteten Indizien ermittelt, und zwar im ersten Schritt für den Eintritt des Verlusts, im zweiten Schritt für die konkrete Verlustform. 1. Bei Unklarheiten über das Eintreten des Verlusts

Die erste Frage, also ob überhaupt ein faktischer Verlust der Verfügungsmacht über das Kulturgut eingetreten ist, stellt im Sinne einer kursorischen Prüfung zunächst eine von der Kommis­ sion für Provenienzforschung zu ermittelnde Tatsache dar. Wenn also bereits eindeutig ist, dass ein Verlust im Sinne des KRG nicht eingetreten ist, leitet die Kommission den Fall grundsätzlich gar nicht erst an den Beirat weiter.1036 Lediglich wenn ausnahmsweise die verschiedenen bekannten Tatsachen sowohl die Annahme als auch die Ablehnung eines Verlusts rechtfertigen, scheint der Beirat mit der Auswertung dieser Indizien beauftragt zu werden. Dies erklärt die besonders geringe Anzahl an Beschlüssen, in denen bereits das Vorliegen eines Verlusts vom Beirat diskutiert werden muss, so etwa im Beschluss zu Valerie und Lotte Heissfeld. Valerie Heissfeld und ihre Tochter Lotte wurden als »Juden‹ definiert. Sie beantragten im September 1938 die Ausfuhr nach Prag für ihre jeweiligen Sammlungen, die be­ reits bei einer Spedition gelagert waren. Der Ausfuhrantrag von Lotte Heissfeld ent­ hielt 50 Kunstwerke, unter der Nummer 37 das verfahrensgegenständliche Gemälde. Aus den Bahn- und Zollstempeln ergibt sich, dass die Ausfuhr des Gemäldes sowie von 46 weiteren, zur Ausfuhr freigegebenen Werken in die Tschechoslowakei erfolgte. Valerie und Lotte Heissfeld flüchteten im Februar 1939 nach Brünn, Lotte konnte ihre Flucht wenige Tage später nach London fortsetzen. Ihre Mutter wurde im April 1942 in Theresienstadt ermordet. Lotte Heissfeld verstarb im November 1983 in London. Sie bemühte sich zuvor erfolgreich um die Rückstellung ihres Vermögens, stellte jedoch keine Ansprüche hinsichtlich der Kunstsammlung. Nach ihrem Tod wurden für die gerichtliche Feststellung der Erbschaft 30 Kunstwerke vermerkt, davon stimmten 25 mit der Liste ihres Ausfuhrantrages von 1938 überein. Das in Rede stehende Gemälde wurde 1956 im Auktionshaus Dorotheum versteigert, sein Verbleib zwischen 1939 und 1956 ist unbekannt. Es ist zudem nicht mehr feststellbar, wer das Gemälde 1956 einlieferte. Die Österreichische Galerie Belvedere erwarb das Gemälde jedenfalls 1957 auf dem Kunstmarkt. An diesem Beschluss fällt zunächst auf, dass der Beirat in seiner Subsumtion keine eindeutige Differenzierung zwischen Verlust und Kausalzusammenhang vornimmt. Er lehnt eine »Entziehung« ab, macht aber nicht deutlich, ob er diese mangels Verlusts oder mangels Kausalzusammenhangs ablehnt. 1035 Im Beschl. zu Ernst Kassowitz v. 27.04.2004, S. 1, nimmt der Beirat in der ersten Dekade, »mit ziemlicher Sicherheit« eine

Beschlagnahme an.

1036 S. zu den Aufgaben der Kommission für Provenienzforschung unter § 5 B.I., S. 65.

191  E. Der Verlust als ungeschriebenes Merkmal der Entziehung

Ein vertiefter Blick in den Beschluss berechtigt jedoch zur Annahme, dass es hier bereits an einem Verlust des Kulturguts mangelte. Denn dem Beirat zufolge sei zwar der Verbleib der Sammlung zwischen der erfolgreichen Ausfuhr in einen sicheren Drittstaat 1938 und der einen Großteil der Kunstwerke vermerkenden Verlassenschaftsabhandlung Lotte Heissfelds von 1983 ungeklärt. »Da allerdings Lotte Heissfeld noch 1983 über mehr als die Hälfte der 1938 aus Österreich ausgeführten Kunstsammlung verfügte und keine Versuche Lotte Heissfelds wegen einer Rückstellung von Kunstwerken bekannt sind, ist zumindest nicht ausschließbar, dass sie die Kunstsammlung ungeschmälert (und damit auch das hier gegenständliche Gemälde) nach London verbringen konnte.«1037 Diese Ausführungen des Beirats können nur so verstanden werden, dass er bereits einen Verlust im zeitlichen und örtlichen Anwendungsbereich des KRG – und nicht erst den Kausalzusammenhang – ablehnt.1038 Daran knüpft auch der Beschluss zu Robert Mayer an. Dieser verkaufte in der Nachkriegszeit die im Vermögensverzeichnis seiner als ›arisch‹ definierten Ehefrau Amalie Mayer aufgelisteten Kulturgüter selbst an das Museum.1039 Der Umstand, dass er persönlich als Verkäufer auftrat, spreche dem Beirat zufolge für einen faktischen Fortbestand der Verfügungsmacht an den Kulturgütern bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft. Im Vergleich dazu lehnt der Beirat allerdings im Beschluss zu Käthe Kellner eine fortbestehende Verfügungsmacht ab. Zum einen habe die Ausfuhrgenehmigung während der nationalsozialistischen Herrschaft nur fünf, im Gegensatz zum Fall Heissfeld nicht weiter spezifizierte Ölgemälde enthalten; mithin sei unklar, ob das verfahrensgegenständliche Gemälde überhaupt zur Ausfuhr freigegeben wurde. Zum anderen sei eine nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft bestehende Verfügungsmacht hinsichtlich anderer Objekte aus der Sammlung nicht bekannt, sodass für einen faktischen Fortbestand der Verfügungsmacht Kellners »jede Wahrscheinlichkeit« fehle.1040 Entscheidende Indizien für diesen Fortbestand scheinen demnach einerseits die erfolgreiche Ausfuhr der Kulturgüter aus dem nationalsozialistischen Herrschaftsgebiet in einen (noch) ­sicheren Drittstaat zu sein. Andererseits dient die nach der nationalsozialistischen Herrschaft belegte faktische Verfügungsmacht über den Großteil dieser ausgeführten Kulturgüter als Indiz gegen den Verlust.1041 Angesichts der wenigen Beschlüsse, in denen der Beirat überhaupt den Eintritt eines Verlusts diskutiert, wird deutlich, dass bereits mit Vorliegen weniger Indizien ein Verlust anzunehmen ist. Zu beobachten ist, dass oftmals neben dem Eigentum nur ein einziges Indiz für die Feststellung eines Verlusts ausreicht, nämlich die Verfolgung.1042 Selbst, wenn der Beirat trotz der geringen Aussagen zum Beweismaß also tatsächlich den Verlust nur bei »an Sicherheit

1037 Beschl. zu Lotte u. Valerie Heissfeld v. 02.03.2012, S. 2 f. 1038 Ebenda.

1039 Beschl. zu Robert Mayer v. 26.09.2014, S. 2.

1040 Beschl. zu Käthe Kellner v. 05.10.2017, S. 3.

1041 Vgl. Beschl. zu Hermann Eissler v. 24.06.2009, S. 14 f., 20 f.; Beschl. zu Ludwig Neurath v. 22.09.2010, S. 5 f.; Beschl. zu Livia

u. Otto Brill v. 15.05.2023, S. 9.

1042 Beschl. zu Ernst Moritz Kronfeld v. 23.01.2009, S. 3; Beschl. zu Otto u. Gisela Braun v. 24.06.2009, S. 2 f.; Beschl. zu Ludwig

Mayer v. 20.11.2009, S. 3; Beschl. zu Josef Blauhorn v. 03.05.2013, S. 3 f.; Beschl. zu Max u. Martha Liebermann v. 15.05.2014, S. 3; Beschl. zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 15.05.2014, S. 2; Beschl. zu Ida Baer v. 03.07.2014, S. 3; Beschl. zu Siegfried Julius v. 03.07.2014, S. 3; Beschl. zu Käthe Kellner v. 03.07.2014, S. 3; Beschl. zu Alfred u. Rosa Kraus v. 03.07.2015, S. 3; Beschl. zu Alice und Carl Bach v. 17.03.2017, S. 2; Beschl. zu Moriz Grünebaum v. 11.01.2019, S. 4; Beschl. zu Ernst Bunzl v. 11.01.2019, S. 4; Beschl. zu Josef Morgenstern v. 06.03.2020, S. 5.

192  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

grenzender Wahrscheinlichkeit« annehmen sollte, könnten seine Anforderungen an die für diese Sicherheit erforderlichen Indizien kaum geringer sein.1043 2. Bei Unklarheiten über die Form des Verlusts

Wenn feststeht, dass ein Verlust im Sinne des KRG eingetreten ist, besteht nicht zwingend auch Klarheit hinsichtlich der konkreten Form des Verlusts. Denn regelmäßig ist nicht mehr ermittelbar, wie der Verlust genau eingetreten ist;1044 oftmals fehlt es an Nachweisen wie Verkaufsbelegen oder Beschlagnahmeverfügungen. Die Untersuchung der Empfehlungspraxis zeichnet ein äußerst pragmatisches Bild des Umgangs mit unklaren Verlustumständen: Zu beobachten ist zunächst, dass der Beirat zu Beginn seiner Empfehlungspraxis zum einen seltener mit unklaren Verlustumständen konfrontiert war. Darüber hinaus verfügte er auch über ein geringeres Problembewusstsein, da er sich häufig ohne konkrete Anhaltspunkte aus dem Sachverhalt auf eine Verlustform festlegte.1045 Erst mit Beginn der zweiten Dekade, hier veranschaulicht durch den Beschluss zu Maria Kalbeck Mautner, scheint er ein Problembewusstsein für unklare Verlustumstände zu entwickeln. Maria Kalbeck Mautner war Eigentümerin einer umfassenden theatergeschichtlichen Sammlung. Sie wurde als ›Jude‹ definiert und lagerte ihre Sammlung aufgrund ihrer Flucht bei einer Spedition. Jedoch hatte der Umzugslift diese nach ihrer Flucht im November 1938 nicht verlassen. Im Mai 1939 und April 1943 vermerkte die Österreichische Nationalbibliothek den Eingang von Objekten aus der Sammlung Mautner. Die fehlende Kenntnis der konkreten Verlustumstände aus der Spedition ist dem Beirat in diesem Beschluss durchaus bewusst. Es könne seiner Ansicht nach aber »dahingestellt bleiben […], ob die Objekte aus dem von der Spedition nicht abgegangenen Umzugslift stammen und in der Folge beschlagnahmt wurden oder von Maria Kalbeck Mautner aus Anlass ihrer Flucht der Theatersammlung geschenkt oder an diese veräußert wurden.«1046 Der Beirat sieht mithin bewusst über Unklarheiten hinsichtlich des konkreten Verlustakts hinweg, wenn die beiden Indizien der Verfolgung und der fehlenden faktischen Verfügungsmacht vorliegen. Ausdrücklich bekräftigt der Beirat die Unerheblichkeit der konkreten Verlustumstände im Beschluss zu Fritz Grünbaum: Dort führt er aus, dass für einen Verlust »nicht grundsätzlich erforderlich [sei], dass der konkrete Rechtsakt oder das konkrete Rechtsgeschäft, mit welchem der Gegenstand entzogen wurde, festgestellt werden kann, sondern es genügt, wenn auf das Vorliegen einer Entziehung aus einer Würdigung aller Umstände geschlossen werden kann.«1047 1043 Ähnlich Cwitkovits/Huda, die auch zu dem Ergebnis kommen, dass aufgrund der zeitlichen Distanz ein Verlusteintritt im

Anwendungsbereich des KRG faktisch bereits angenommen wird, wenn bereits eine »bloße Wahrscheinlichkeit« für einen Verlust spricht, Cwitkovits/Huda, in: Redmond-Cooper (Hrsg.), Museums, 2021, S. 134, 137. 1044 Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die untersuchten Fälle mit unbekannten Verlustumständen häufig mit den Fällen überschneiden, bei denen unklar ist, ob die in Rede stehende Person noch Eigentümer:in des verfahrensgegenständlichen Kulturguts war. Denn die Kenntnis der Verlustumstände setzt regelmäßig die Kenntnis vom Verbleib des Kulturgutes bei den Eigentümer:innen voraus, s. nur Beschl. zu Ludwig Neurath v. 22.09.2010; Beschl. zu Armin Reichmann v. 02.03.2012; ­Beschl. zu Heinrich Rieger v. 15.10.2018. 1045 Beschl. zu Ernst Kassowitz v. 27.04.2004, S. 1; Beschl. zu Walter Federn v. 29.03.2006, S. 1. 1046 Beschl. zu Maria Kalbeck Mautner v. 23.01.2009, S. 2. 1047 Beschl. zu Fritz Grünbaum v. 15.10.2015, S. 8.

193  E. Der Verlust als ungeschriebenes Merkmal der Entziehung

Dies bestätigt sich in der gesamten Empfehlungspraxis, in der die Verfolgung der Eigentü­ mer:innen und der faktische Verlust der Verfügungsmacht oftmals die einzigen bekannten Tatsachen sind.1048 Auch der Umgang mit unklaren Verlustumständen legt also nahe, dass es für den Beirat nicht auf den Verlust des Eigentums, sondern den faktischen Verlust der Verfügungsmacht ankommt.

III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien Für die Bewertung der Empfehlungspraxis zum Verlust im Lichte der Washingtoner Prinzipien ist erneut auf über die Prinzipien hinausgehende Quellen zurückzugreifen. Dabei ist aufgrund der sehr volatilen Empfehlungspraxis bei der Beurteilung dem einer »gerechten und fairen Lösung« inhärenten Gleichheitssatz besonders Beachtung zu schenken.1049 1. Zur Definition als faktischer Verlust der Verfügungsmacht

Vorab ist dabei anzumerken, dass zwar die Washingtoner Prinzipien selbst nicht den Begriff »Verlust« enthalten, sich dieser aber in den Entstehungsmaterialien oftmals findet.1050 Den Washingtoner Prinzipien lässt sich nur zwischen den Zeilen eine Andeutung entnehmen, was abstrakt unter diesem Verlust zu verstehen ist: Ihrem Wortlaut nach erfassen sie »beschlagnahmte« Objekte. Sie nennen also bereits den konkreten Verlustakt, ohne den Verlust selbst vorab generell zu definieren.1051 Gleichwohl kann aus diesem Wortlaut bereits geschlossen werden, dass es für die Washingtoner Prinzipien nicht auf den Verlust des Eigentums ankommt, sondern auf den faktischen Verlust der Verfügungsmacht, da die Beschlagnahme keinen Eigentumsverlust bewirkt.1052 Dies bestätigt sich dann in der Theresienstädter Erklärung, die verschiedene Verlustformen aufzählt, von denen viele gerade keinen Eigentumsverlust begründen, wie beispielsweise ein »Diebstahl«. Ebenso wenig scheint die Literatur einen Eigentumsverlust zu fordern. Ganz im Gegenteil wird in der Literatur an keiner Stelle die Frage aufgeworfen, ob nun im funktionalen Sinne auf den faktischen Verlust der Verfügungsmacht oder den Verlust des Eigentumsrechts abzustellen sei. Stets werden bloß die konkreten erfassten Verlustformen genannt, die aber größtenteils eben keinen Eigentumsverlust bewirken.1053 Auf das funktionale Verständnis abzustellen, entspricht zudem auch dem der Washingtoner Erklärung inhärenten Anliegen, eine weniger 1048 Beschl. zu Ernst Moritz Kronfeld v. 23.01.2009, S. 3; Beschl. zu Otto u. Gisela Braun v. 24.06.2009, S. 2 f.; Beschl. zu Ludwig

Mayer v. 20.11.2009, S. 3; Beschl. zu Josef Blauhorn v. 03.05.2013, S. 3 f.; Beschl. zu Max u. Martha Liebermann v. 15.05.2014, S. 3; Beschl. zu Ida Baer v. 03.07.2014, S. 3; Beschl. zu Siegfried Julius v. 03.07.2014, S. 3; Beschl. zu Käthe Kellner v. 03.07. 2014, S. 3; Beschl. zu Alfred u. Rosa Kraus v. 03.07.2015, S. 3; Beschl. zu Alice u. Carl Bach v. 17.03.2017, S. 2; Beschl. zu Moriz Grünebaum v. 11.01.2019, S. 4; Beschl. zu Ernst Bunzl v. 11.01.2019, S. 4; Beschl. zu Josef Morgenstern v. 06.03.2020, S. 5. 1049 S. zur Bedeutung des Gleichheitssatzes für eine »gerechte und faire Lösung« unter § 4 B.II.2., S. 44. 1050 Als »loss«, vgl. nur Delegation Statement Argentina, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 148–150, 148; Delegation Statement. Greece, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 265–270, 268 f.; Eizenstat, Explanation, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 411, 417. 1051 Dazu kritisch Webber/Fisher, in: DCPTCA (Hrsg.), Terezin, 2019, S. 39, 42 f. 1052 S. eingehend zur Beschlagnahme als Verlustform unter § 7 F.II.1.a)aa), S. 204. 1053 Heuberger, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 941, 946 f.; von Trott zu Solz/Gielen, ZOV 2006, 256, 258; Crezelius, KUR 2007, 125, 126; Rowland/Schink/Studzinski, KUR 2008, 148, 149; Raschèr, KUR 2009, 75, 76; Woodhead, Woodhead, AAL 2013, 167, 169; Woodhead, Int. J. Cult. Prop. 2016, 385, 390 f.; Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 11.

194  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

formalistische Herangehensweise zu verfolgen. Wie bereits zuvor erläutert, wirkten sich der faktische Verlust der Verfügungsmacht und der Verlust des Eigentums für die Eigentümer:innen funktional identisch aus. Die Untersuchung der Empfehlungspraxis des Beirats hat zunächst gezeigt, dass dieser nicht in allen Beschlüssen den faktischen Verlust der Verfügungsmacht als ausreichend erachtet, sondern er teils einen Verlust erst in nachgelagerten, einen Eigentumsverlust begründenden Maßnahmen sieht. Diese Inkonsistenz bei der Bestimmung des Verlustakts stellt eine Verletzung des für eine »gerechte und faire Lösung« stets zu wahrenden Gleichheitssatzes dar. Denn in keinem der Fälle ist ersichtlich, warum der Beirat zuweilen auf den faktischen Verlust der Verfügungsmacht, zuweilen auf den Eigentumsverlust abstellt; er behandelt ­gleichgelagerte Sachverhalte mithin ungleich. Wohlgemerkt haben die unterschiedlichen Verlustbegriffe oftmals keinen Einfluss auf das Ergebnis der Empfehlung. Sie sind damit bisher nur von geringer Relevanz, weil einem faktischen Verlust der Verfügungsmacht zumeist noch während der nationalsozialistischen Herrschaft ein Eigentumsverlust folgte. Da im Regelfall also ein Eigentumsverlust eingetreten ist, wirkt die Diskussion über den Verlustbegriff in solchen Fällen zunächst formalistisch. Dabei wird jedoch übersehen, dass sehr wohl auch Fälle denkbar sind, in denen ein solcher doppelter Verlust faktischer und rechtlicher Positionen gerade nicht eingetreten und der formelle Eigentumsverlust erst nach Kriegsende erfolgt ist. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein gestohlenes Kulturgut nach der nationalsozialistischen Herrschaft im Wege der Versteigerung von Dritten gutgläubig gemäß §§ 367, 368 ABGB erworben wurde. Zudem würde die Begrenzung des Verlustbegriffs auf den Eigentumsverlust im Falle eines derivativen Eigentumserwerbs stets eine Zustimmung der Eigentümer:innen voraussetzen,1054 die oftmals im Kontext der nationalsozialistischen Herrschaft nicht gegeben war. Für eine »gerechte und faire Lösung« muss daher für alle Fälle gleichermaßen auf den faktischen Verlust der Verfügungsmacht abgestellt werden. Andernfalls würde ein Diebstahl mangels Eigentumsverlust keinen Verlust darstellen, die Veräußerung, selbst zu angemessenem Kaufpreis, aber schon. 2. Zu den volatilen Beweisanforderungen an den Verlust

Die Vorgaben der Washingtoner Prinzipien zu den Beweisanforderungen sind im Vergleich zu den Anhaltspunkten für den Verlustbegriff sehr gehaltreich: Denn wie bereits im Rahmen der Eigentümer:innenstellung festgestellt, rufen die Washingtoner Prinzipien in Nr. 4 ausdrücklich zu einer Anpassung der Beweisanforderungen an die schwierige Beweislage auf. Interessanterweise enthält die Theresienstädter Erklärung dann keine weiteren diesbezüglichen Richtlinien. Auch den Entstehungsmaterialien und der Literatur können eher Anhaltspunkte zu Eigentum und Kausalzusammenhang denn zum Verlust entnommen werden.1055 Somit folgt aus den Washingtoner Prinzipien lediglich die Vorgabe, keine hohen Beweisanforderungen zu stellen. Das bedeutet allerdings nicht, dass eine Vermutung des Verlusts greifen soll. Vielmehr muss der Verlust – wenn auch durch eine »wohlwollende Beweislückenfüllung«1056 – mit ver1054 Rummel/Lukas/Holzner, ABGB, Juli 2016, § 426 Rn. 2, § 425 Rn. 2; Kletečka/Schauer/Mader, ABGB, März 2019, § 426 Rn. 1. 1055 Eine äußerst gelungene Darstellung sämtlicher für die Feststellung des Verlusts relevanten Indizien findet sich bei Kocourek et

al., in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 43, 43 ff.

1056 Felix Uhlmann, Vortrag beim Bonner Gesprächskreis für Kunst- und Kulturgutschutzrecht: »Der Fall Curt Glaser – histori-

sche und rechtliche Herausforderungen für gerechte und faire Lösungen« am 07.07.2020 (unveröffentlicht); ähnlich BareselBrand et al., in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 83, 83.

195  E. Der Verlust als ungeschriebenes Merkmal der Entziehung

schiedenen Indizien belegt werden,1057 teils wird aber auch ausdrücklich ein Anscheinsbeweis, also der Nachweis durch ein einziges Indiz, für zulässig erachtet.1058 Der Anscheinsbeweis als Sonderfall der mittelbaren Beweisführung und Grenzfall des Indizienbeweises bedeutet letztlich eine Verwertung von allgemeinen Erfahrungsgrundsätzen. Diese lassen infolge stereotypischer Geschehensabläufe auf den Eintritt oder Nichteintritt einer Tatsache aufgrund des Vorliegens einer anderen, mit dieser regelmäßig zusammenhängenden Tatsache schließen.1059 Ebenso wie bei der Untersuchung der Eigentümer:innenstellung ist im Rahmen der Beweisanforderungen zunächst das in manchen Beschlüssen auftauchende Beweismaß für den Verlust an den Washingtoner Prinzipien zu messen. Während die Empfehlungspraxis zum Beweismaß bei der Eigentümer:innenstellung äußerst heterogen ist, fordert der Beirat bei der Feststellung eines Verlusts – wenn er überhaupt ein Beweismaß nennt – eine »an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit«. Bereits im Rahmen der Eigentümer:innenstellung wurde angeführt, dass der Beirat damit höhere Anforderungen an den Beweis der streitigen Tatsache stellt als das Zivilprozessrecht, das lediglich eine hohe Wahrscheinlichkeit fordert.1060 Indem der Beirat auch hier strengere Anforderungen als das Zivilprozessrecht anlegt, behandelt er dem Grundgedanken der Washingtoner Prinzipien entgegen erneut nicht das nationale Recht als Mindeststandard der Privilegierung der potenziellen Begünstigten.1061 In diesem Sinne wäre daher die einheitliche Anwendung des Beweismaß der hohen Wahrscheinlichkeit geboten. Die Indizienbeweisführung des Beirats berücksichtigt zugleich die von den Washingtoner Prinzi­pien adressierten erleichterten Beweisanforderungen. Dabei lässt sich durchaus von einem Anscheinsbeweis sprechen: Im Falle des Verlusts im Sinne des KRG scheint der Beirat aus dem Eigentum und der Verfolgung der Eigentümer:innen auf einen Verlust zu schließen. Dementsprechend ist das stereotypische – und sich dem konkreten Beweis oftmals entziehende – Schicksal des Vermögens verfolgter Personen maßgeblich. Dieser Anscheinsbeweis durch Eigentum und Verfolgung führt letztlich zu der Paradoxie, dass ein Verlust desto eher vom Beirat bejaht wird, je weniger Tatsachen bekannt sind. Denn ein Anscheinsbeweis kann nur durch eine ernsthafte, konkret benennbare Möglichkeit eines atypischen Geschehensablauf entkräftet werden.1062 Sachverhalte mit Provenienzlücken können dadurch gegenüber Fällen mit umfassend bekannten Verlustumständen privilegiert werden, obwohl der Verlust gerade eine der wenigen zu beweisenden Tatsachen ist – wenn auch bloß durch prima facie Beweis. Um die Bedeutung der Beweisführung zu unterstreichen, sollte der Beirat, wie auch seit 2021 zu beobachten ist, die Verlustumstände genauer darlegen. So würde ersichtlich, dass im Einzelfall kein atypischer Fall des Verlusts bei einer verfolgten Person vorliegt, also keine Entkräftung des Anscheins möglich ist. Vergleichbares gilt für die Beweisanforderungen an die konkrete Verlustform. Denn die nachfolgend untersuchte Empfehlungspraxis zum Kausalzusammenhang der einzelnen Verlustformen mit der nationalsozialistischen Herrschaft zeigt, dass – hier muss ein wenig vorwegge-

1057 Vgl. den Ausdruck »once theft is established”, Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 11; ähnlich auch

Hartmann, Wortmeldung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 65, 74.

1058 Lahusen/Vietzen, in: Network of Restitution Commitees (Hrsg.), Newsletter 05/2022, S. 5, 7.

1059 Zum Unterschied zwischen Indizienbeweis und Anscheinsbeweis s. Rechberger/Klicka, ZPO, 5. Aufl. 2019, Vor § 266 Rn. 22;

vgl. auch Klauser/Kodek, ZPO, 18. Aufl. 2018, § 272 Rn. 4 ff.; Fucik/Klauser/Kloiber, ZPO, 12. Aufl. 2015, § 272, S. 354.

1060 S. zu den Beweisanforderung des Eigentumsrechts unter § 7 C.II.6., S. 161. 1061 Zum nationalen Recht als Mindeststandard s. unter § 4 B.II.1., S. 42. 1062 Klauser/Kodek, ZPO, 18. Aufl. 2018, § 272 Rn. 11.

196  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

nommen werden – der Beirat durchaus unterschiedliche Anforderungen an den Kausalzusammenhang bei verschiedenen Verlustformen stellt. Für bestimmte Verlustformen sind mehr Ausnahmen des Kausalzusammenhangs als für andere möglich; es spielt mithin eine entscheidende Rolle, in welcher Form der Verlust eingetreten ist.1063 Damit diese Empfehlungspraxis angesichts dieser unterschiedlichen Anforderungen »gerecht und fair« ist, muss der Beirat stets ausführlich darlegen, warum eine Entziehung trotz Unkenntnis des konkreten Verlustakts anzunehmen ist. Maßgeblich müssen dabei die Anforderungen der schwerer zu beweisenden Verlustform sein. Andernfalls würde auch hier eine ungerechtfertigte – und damit nicht »gerechte und faire« – Privilegierung der Fälle mit Provenienzlücken entstehen, wie die nachfolgenden, detaillierten Ausführungen zum Kausalzusammenhang illustrieren.

F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung Der Kausalzusammenhang zwischen dem Verlust und der nationalsozialistischen Herrschaft ist in Anknüpfung an das Nachkriegsrecht das normative Zentrum der Entziehung und damit auch einer Rückgabe nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG.1064 Im Einklang mit dem Erfordernis der »durch das Deutsche Reich erfolgten politischen und wirtschaftlichen Durchdringung« aus § 1 NichtigkeitsG war gemäß § 1 Abs. 1 Drittes Rückstellungsgesetz in der Nachkriegszeit zurückzustellen, was eigenmächtig, auf gesetzlicher Grundlage oder anderer Anordnung, wie Rechtsgeschäften oder sonstigen Rechtshandlungen, »im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Machtübernahme entzogen« wurde. Unabhängig von der konkreten Verlustform musste folglich ein Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft vorliegen. Zunächst ist die entscheidende dogmatische Grundlage für die Feststellung dieses Kausalzusammenhangs von Verlust und nationalsozialistischer Herrschaft zu erläutern, nämlich die Vermutung des Kausalzusammenhangs zugunsten verfolgter Personen. Daran schließt sich die konkrete Anwendung dieser Vermutung auf die jeweiligen Verlustformen an.

I. Die Vermutung des Kausalzusammenhangs bei Verfolgung Zum Verständnis der dogmatischen Grundlagen des Kausalzusammenhangs zwischen Verlust und nationalsozialistischer Herrschaft im Sinne des KRG bedarf es eines Blickes in das Rückstellungsrecht. Für alle verfolgten Personen, also sowohl Kollektiv- als auch Individualverfolgte, galt im Nachkriegsrecht eine besondere »Privilegierung«: Nach § 2 Abs. 1 3. RStG mussten im Falle einer Verfolgung der Eigentümer:innen die Erwerber:innen »dartun«, dass der Verlust unabhängig von der nationalsozialistischen Herrschaft erfolgte. Eine Abhängigkeit vom Nationalsozialismus war daher bei Verfolgung im Ergebnis stets anzunehmen, »wenn die Vermögensübertragung ohne die Machtergreifung des Nationalsozialismus entweder gar nicht oder doch nicht auf solche Art wie die der konkreten Vermögensübertragung erfolgt wäre«1065.

1063 S. eingehend zum Kausalzusammenhang bei verschiedenen Verlustformen unter § 7 F.II., S. 202.

1064 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 178; Neuburg, Kommentar, 1949, S. 28; Sirowy, ÖJZ 1948, 410, 410;

Krämer-Noppeney, Kausalzusammenhang, 1991, S. 116 ff.; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 61 f.; Jungwirth, in: Gschiel et al. (Hrsg.), Schneidern, 2010, S. 249, 257. 1065 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 180.

197  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

Sowohl in der damaligen parlamentarischen Debatte1066 als auch in der anschließenden Literatur1067 und Rückstellungsrechtsprechung1068 wurde diese Formulierung, dass die Erwer­ ber:innen die Unabhängigkeit von der nationalsozialistischen Herrschaft »dartun« mussten, zu­ gunsten Verfolgter als widerlegbare Vermutung für eine Entziehung verstanden. Bestand eine Verfolgung wurde somit ein Kausalzusammenhang zwischen Verlust und nationalsozialistischer Herrschaft widerleglich vermutet. Die während im Nationalsozialismus am stärksten benachteiligten Gruppen, die Kollektivverfolgten, wurden folglich in der Nachkriegszeit rechtlich betrachtet »doppelt privilegiert«, indem für sie sowohl die Verfolgung als auch infolgedessen die Entziehung widerlegbar vermutet wurde.1069 Für Individualverfolgte galt »nur« die hier untersuchte Vermutung des Kausalzusammenhangs, die jedoch im Vergleich mit dem allgemeinen Zivilrecht bereits erhebliche Erleichterungen mit sich brachte; denn »dartun« wurde als »beweisen« verstanden.1070 Die Erwerber:innen als beklagte Partei trugen damit – anders als im allgemeinen Zivilrecht – die Beweislast, in diesem Falle für den fehlenden Kausalzusammenhang zwischen Verlust und nationalsozialistischer Herrschaft.1071 Die Widerlegungsmöglichkeiten der Vermutung wurden sodann von der Rückstellungsrechtsprechung und -literatur sehr eng ausgelegt.1072 Ob es an einem solchen Kau­salzusammenhang zwischen Verlust und nationalsozialistischer Herrschaft mangelte, bedurfte demnach bei verfolgten Personen immer einer strengen »Prüfung des Einzelfalls auf das Vorlie­gen eines verneinenden Kennzeichens«1073. Es hatte also eine Untersuchung zu erfolgen, ob ausnahmsweise Anhaltspunkte gegen eine Abhängigkeit von der nationalsozialistischen Herrschaft vorlagen.1074 Schon in der Nachkriegszeit wurden die Beweisschwierigkeiten angesichts der historischen Umstände als entscheidender Grund für die Vermutungsregel angeführt.1075 Diese Schwierigkeiten mehren sich mit der zeitlichen Distanz zur nationalsozialistischen Herrschaft, stellen also auch und erst recht in der heutigen Restitutionspraxis ein omnipräsentes Hindernis dar. Dies zeigt auch die nachfolgende dogmatische Einbettung der Vermutung in die Empfehlungspraxis des Beirats, die im Anschluss im Lichte der Washingtoner Prinzipien beurteilt wird.

1066 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 244, V. GP, in: Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947,

S. 146; Wortmeldung Gerö bei der 45. Ministerratssitzung am 12.11.1946, in: Knight, »Ich bin dafür…«, 2000, S. 116.

1067 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 181 f.; Bamberger, ÖJZ 1947, 511, 513. Kritisch: Sirowy, ÖJZ 1948,

410, 410 f.

1068 ORK, Entscheidung v. 26.06.1948 – Rkv 90/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 99, S. 204;

ORK, Entscheidung v. 11.09.1948 – Rkv 113/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 122, S. 254.

1069 Bereits als »doppelte Vermutung« bei Dewey, KUR 2020, 154, 156 f.; Dewey, Tsafon 12/2022, 39, 44.

1070 ORK, Entscheidung v. 11.09.1948 – Rkv 116/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 125, S. 261 f.

1071 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 184; Klein, JBl 1947, 486, 488; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003,

S. 61 ff.; Gößler, JBl 2008, 691, 697; Graf, NZ 2020, 7, 9. Interessanterweise ist § 2 Abs. 1 der Regierungsvorlage zum 3. RStG zufolge eine Vermögensentziehung i.S.d. § 1 Abs. 1 3. RStG insbesondere anzunehmen, wenn der Eigentümer politischer Verfolgung durch den Nationalsozialismus unterworfen war. Die Regierungsvorlage enthielt also keine Einschränkung durch eine Abhängigkeit von der Machtergreifung. 1072 Neuburg, Kommentar, 1949, S. 7; Burkhart-Schenk, ÖJZ 1947, 347, 348; Braun, JBl 1948, 1, 2; Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 53 ff.; Graf, NZ 2020, 7, 9. Kritisch: Sirowy, ÖJZ 1948, 410, 410. 1073 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 179. 1074 ORK, Entscheidung v. 24.01.1953 – Rkv 224/52. 1075 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 244, V. GP, in: Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 146.

198  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

1. Zur dogmatischen Einbettung der Vermutung

Die Empfehlungspraxis veranschaulicht, dass die widerlegbare Vermutung der Entziehung bei verfolgten Personen dogmatisch bloß als eine normative Wertung zur Prüfung der Tatbestands­ merkmale in die Beurteilung des Beirats eingebettet wird.1076 Denn der Beirat übernimmt zwar das der Vermutung inhärente Regel-Ausnahme-Verhältnis, wonach bei Verfolgten grundsätzlich ein Kausalzusammenhang anzunehmen ist. Doch entfällt im amtswegigen Verfahren freilich das kontradiktorisch geprägte »Dartun« der Widerlegungsgründe. Mit anderen Worten obliegt es nicht dem Bund, Anhaltspunkte für eine Ausnahme des Kausalzusammenhangs vorzutragen, da sämtliche Tatsachen von Amts wegen von der Kommission für Provenienzforschung ermittelt und vom Beirat juristisch bewertet werden. Während der Beirat in seiner anfänglichen Empfeh­lungspraxis für die Feststellung des Kausalzusammenhangs lediglich auf die Beweislast aus § 2 Abs. 1 3. RStG verweist,1077 und in diesem Zuge auch gelegentlich den Begriff der »Vermutung« verwendet,1078 ist der Empfehlungspraxis der zweiten Dekade zu entnehmen, dass der Beirat bei Verlusten von verfolgten Personen »grundsätzlich« eine Entziehung annimmt.1079 Aufgrund der normativen Wertung der Vermutung wird also der Kausalzusammenhang zwischen nationalsozialistischer Herrschaft und Verlust grundsätzlich angenommen, sobald die Eigentümer:in­nen verfolgt wurden. Es sei denn, es liegen ausnahmsweise Gründe für eine Unabhängigkeit des Verlusts von der nationalsozialistischen Herrschaft vor.1080 Da der Beirat die normative Wertung der Vermutung in die Rechtsnatur des heutigen Verfahrens funktional identisch transferiert, wird hier an dieser Bezeichnung festgehalten. Den vermuteten Kausalzusammenhang unterstreicht der Beirat zwar gelegentlich, indem er einige objektive Ausprägungen der Verfolgung im Zusammenhang mit Vermögensverlusten anführt. Als Begründung des Kausalzusammenhangs dienen diese jedoch nie. Sie scheinen vielmehr eine Bestätigung des vermuteten Kausalzusammenhangs zu bezwecken. Als w ­ ichtigste Ausprägung der Verfolgung neben Deportation und Ermordung1081 nennt der Beirat die Flucht der Eigentümer:innen,1082 da diese regelmäßig durch eine Verwertung des Vermögens finanziert wurde. Eine weitere Ausprägung der Verfolgung, die einen Verkauf von Kulturgütern zur Finanzierung des Lebensunterhalts erforderlich machte, war die Zahlungspflicht diskriminie1076 Graf, NZ 2005, 321, Fn. 14; Oberhammer, Rechtsgutachten v. 28.09.2006, S. 17; Graf, NZ 2007, 65, 75.

1077 Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 27.03.2000, S. 3 f.; Beschl. zu Valerie Eisler v. 26.06.2000, S. 2; Beschl. zu Josefine Winter v.

28.11.2000, S. 2; Beschl. zu Emma Schiff-Suvero v. 10.04.2002, S. 3; Beschl. zu Heinrich Rieger v. 25.11.2004, S. 3, Beschl. zu Martha Schlesinger v. 28.06.2006, S. 1 f.; Beschl. zu Vally Honig-Roeren v. 28.06.2006, S. 2 f. 1078 Beschl. zu Gertrude Zarfl v. 11.09.2009, S. 3; vgl. auch aus der zweiten Dekade Beschl. zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011, S. 28. 1079 Beschl. zu Karl Mayländer v. 10.06.2011, S. 6; Beschl. zu Stefan Poglayen-Neuwall v. 02.03.2012, S. 4; Beschl. zu Ida Baer v. 03.07.2014, S. 3; Beschl. zu Adelheid Beer v. 03.07.2015, S. 2; Beschl. zu Betty Blum v. 05.10.2016, S. 2; Beschl. zu Carl Heumann v. 16.03.2018, S. 6. 1080 Daher ist dann auch die fehlende Kenntnis von der konkreten Verlustform unerheblich, vgl. nur Beschl. zu Maria Kalbeck Mautner v. 23.01.2009, S. 2; Beschl. zu Ernst Moriz Kronfeld v. 23.01.2009, S. 2 f.; Beschl. zu Ernst Sonnenschein v. 20.03. 2009, S. 2; Beschl. zu Otto u. Gisela Braun v. 24.06.2009, S. 3; Beschl. zu Armin Reichmann v. 02.03.2012, S. 4; Beschl. zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 21.06.2013, S. 12; Beschl. zu Josef Morgenstern v. 06.03.2020, S. 5. 1081 Vgl. nur Beschl. zu Ludwig Mayer v. 20.11.2009, S. 3; Beschl. zu Oskar Reichel v. 06.12.2011, S. 5; Beschl. zu Käthe Kellner v. 05.10.2017, S. 3. 1082 Vgl. nur Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 27.03.2000, S. 3 f.; Beschl. zu Gaston Belf v. 20.06.2008, S. 2; Beschl. zu Max MandlMaldenau v. 20.11.2009, S. 3; Beschl. zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 15.05.2014, S. 3; Beschl. zu Siegfried Fuchs v. 15.10.2015, S. 2 f.; Beschl. zu Carl Heumann v. 16.03.2018, S. 7; Beschl. zu Michael Berolzheimer v. 15.06.2018, S. 2; Beschl. zu Fritz Illner v. 18.10.2019, S. 3; Beschl. zu Josef Morgenstern v. 06.03.2020, S. 5.

199  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

render Abgaben. Zu denen zählten neben der im Falle der Flucht anfallenden ›Reichsflucht­ steuer‹1083 insbesondere die ›Judenvermögensabgabe‹1084 und die ›Sühneabgabe‹1085. Doch auch ein mittelbares oder unmittelbares Berufsverbot1086 sowie der Umzug in eine Sammelwohnung machten regelmäßig eine Verwertung des Vermögens erforderlich.1087 Da der Kausalzusammenhang zwischen Verlust und nationalsozialistischer Herrschaft bei verfolgten Personen als Regelfall gilt, sind die Ausführungen des Beirats sehr umfassend, wenn ausnahmsweise kein solcher Kausalzusammenhang besteht; er schließt sich damit der engen Auslegung der Ausnahmen aus dem Rückstellungsrecht an.1088 Dass dieser hohe Begründungsaufwand für Ausnahmen vom Kausalzusammenhang im Lichte der Washingtoner Prinzipien ge­ boten ist, zeigt die nachfolgende Bewertung. 2. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien

Die Vermutungsregel aus der österreichischen Empfehlungspraxis ist gleich an zwei korrespondierenden Prinzipien zu messen, den Beweisanforderungen aus Prinzip Nr. 4 sowie den »gerechten und fairen Lösungen« aus den Prinzipien Nr. 8 und Nr. 9. Für die spezifischen Beweis­ anforderungen der Washingtoner Prinzipien an den Kausalzusammenhang ist zunächst das Prin­zip Nr. 4 heranzuziehen, wonach beim Nachweis der Entziehung aufgrund des Zeitablaufs und der besonderen Umstände der nationalsozialistischen Herrschaft Provenienzlücken zu berücksichtigen sind. Bei der Etablierung der Vermutungsregel – und der damit verbundenen Privilegierung einer Seite – hat das Ziel einer insgesamt »gerechten und fairen Lösung« aus den Prinzipien Nr. 8 und Nr. 9 im besonderen Maße einzufließen. Denn diese liegt den Entstehungsmaterialien der Washingtoner Prinzipien zufolge ausdrücklich nicht zwangsläufig in der »Privilegierung« der Geschädigten. Sie erfordert allem voran einen »Ausgleich konkurrierender Eigentumsverhältnisse«,1089 also eine Abwägung kollidierender Eigentumsinteressen.1090 Die Washingtoner Prinzipien sowie ihre Entstehungsmaterialien enthalten kaum Hinweise auf eine Vermutungsregel. In letzteren wird lediglich an einer Stelle angeführt, dass eine Restitution nicht vollständig auf bloßen Vermutungen beruhen dürfe; 1091 einer Anwendung bei einzelnen Voraussetzungen steht dies jedoch nicht entgegen. Unter Verweis auf die Benachteiligung der heutigen Eigentümer:innen werden Entziehungsvermutungen in den Entstehungsmaterialien der Theresienstädter Erklärung zwar vereinzelt kritisiert.1092 Mehrheitlich werden 1083 Beschl. zu Josefine Winter v. 16.03.2005, S. 2; Beschl. zu Eva Henriette u. Margarethe Sonnenthal v. 03.10.2008, S. 3; Beschl. zu

Max Mandl-Maldenau v. 20.11.2009, S. 2; s. zur ›Reichsfluchtsteuer‹ ausführlich Mußgnug, Reichsfluchtsteuer, 1993, passim.

1084 Beschl. zu Max Mandl-Maldenau v. 20.11.2009, S. 2; Beschl. zu Albert Klein v. 26.11.2010, S. 2 f.; Beschl. zu Siegfried Fuchs

v. 29.06.2021, S. 2.

1085 Beschl. zu Eva Henriette u. Margarethe Sonnenthal v. 03.10.2008, S. 3.

1086 Beschl. zu Hermine Lasus v. 28.11.2000, S. 2; Beschl. zu Siegfried Fuchs v. 29.06.2021, S. 2; Beschl. zu Hans Leitmeier v.

05.11.2021, S. 6 f.; Beschl. zu Maria u. Perlberger v. 05.11.2021, S. 5.

1087 Beschl. zu Carl Heumann v. 16.03.2018, S. 7; Beschl. zu Sigmund Stiassny v. 05.11.2021, S. 8 f. 1088 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 11.

1089 Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999.

1090 Eizenstat, Opening Statement, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 39, 41; Campfens,

in: dies. (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 231, 236; De Girolamo, Int. J. Cult. Prop. 2019, 357, 357 ff.; Weller/Scheller, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.), Newsletter 12/2021, S. 44, 46. 1091 Amigues, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 565, 567. 1092 Nicholas, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 819, 822. In diese Richtung sodann auch Unfried, Unrecht, 2014, S. 448; Berking, KUR 2019, 179, 184; wohl auch Pferdmenges, KUR 2021, 50, 54. In der Nachkriegszeit bereits kritisch: Sirowy, ÖJZ 1948, 410, 410.

200  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

sie aber in den Materialien als geeignetes Instrument einer »gerechten und fairen Lösung« betrachtet, um auf die strukturellen Beweisschwierigkeiten zu reagieren.1093 Dabei wird betont, dass diese Vermutung nicht jeglichen Beweis obsolet machen soll, etwa den der Eigentümer:in­ nenstellung oder des Verlustes. Vielmehr müsse durch ihre Einbettung in die Prüfung des Kau­ salzusammenhangs ohne gegenteilige Beweise vom in der Vermutung enthaltenen typischen Geschehensablauf ausgegangen werden. Als Voraussetzung einer »gerechten und fairen« Umsetzung von Vermutungsregeln werden daher klar definierte Beweisstandards betrachtet,1094 damit keine Ausuferung des Entziehungstatbestandes erfolgt.1095 Die anschließende Gegenüberstellung dieser Vorgaben und der vom Beirat angewendeten widerleglichen Vermutung betrachtet noch nicht ihre Anwendung auf konkrete Verlustformen. Vielmehr konzentriert sie sich allein auf die Dogmatik. Indem der Kausalzusammenhang zwischen dem Verlust und der nationalsozialistischen Herrschaft bei der Verfolgung der Eigentü­ mer:innen grundsätzlich vermutet wird und die Ausnahmen sehr eng auszulegen sind, ist die österreichische Vermutungsregel relativ weitreichend konzipiert. Bereits aus der umfangreichen dogmatischen Herleitung des Beirats wird auf der einen Seite deutlich, dass er sich in der Anwendung dieser weitreichenden Vermutungsregel klar definierte Standards setzt. Auf der anderen Seite ist nicht ersichtlich, warum diese an die Vermutung zu stellenden Standards nicht im Gesetzestext selbst verankert sind. Soweit die konkreten Verlustumstände bekannt sind, erörtert der Beirat eingehend gegen den Kausalzusammenhang sprechende Anhaltspunkte und macht damit auch atypische Fälle handhabbar. So privilegiert die Vermutung zwar Fälle in denen kaum Verlustumstände bekannt sind, doch ist diese Dynamik von Vermutungsregeln als essenzielle Instrumente zur Überwindung struktureller Beweisschwierigkeiten geradezu beabsichtigt, um überhaupt erst eine Berücksichtigung aller Interessen zu ermöglichen.1096 Denn durch die Widerlegungsmöglichkeiten werden auch die Interessen der aktuellen Eigentümer:innen ausreichend gewahrt, ohne die strukturellen Beweisschwierigkeiten der ehemaligen Eigentümer:innen zu negieren. Widerlegbare Vermutungen liefern somit nicht das fehlende Puzzleteil für den Beweis einer Tatsache. Vielmehr lassen sie aufgrund struktureller Benachteiligung die Unvollständigkeit des Puzzles für die Wahrnehmung seines Motivs ausreichen. Damit dienen sie gerade nicht als Substitut für Begründungsaufwand. Es ist daher kein Widerspruch zwischen den internationalen Vorgaben und der österreichischen Praxis zu erkennen. Der Beirat berücksichtigt so im 1093 Expert Conclusions, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 35–52, 46 f.; Rubin, in: Schneider et al. (Hrsg.),

Proceedings Terezin, o. J., S. 865, 867 ff.; Heuberger, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 941, 946 f. In diese Richtung auch Heuberger, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 413, 421; Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 19, 34 f. 1094 Vgl. Rubin, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 865, 869 ff.: »Though the definition of ›relaxed standards of proof‹ differs from one entity to the next, they fundamentally all endorse the same principle: a claim cannot be rejected on the grounds that the claimant lacks complete documentary evidence. This does not suggest that proof is unnecessary: claimants are still required to demonstrate that they are entitled to inherit the asset as an heir to the original owner, that the property was owned by their predecessor in interest at the time of its loss, and that the owner was subject to Nazi persecution. However, the application of relaxed standards of proof protects the claimant from unreasonable demands for documentation that is impossible to obtain or may simply no longer exist.« 1095 Vgl. Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, sowie Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 723: »It is equally important to know what was not confiscated […]. The taint of ›stolen art‹ should not be applied to works that do not deserve it.« 1096 So auch Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 350, XXIV. GP, S. 3; i. E. so bereits in der Nachkriegszeit Bamberger, ÖJZ 1947, 511, 513.

201  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

Sinne der Prinzipien Nr. 8 und Nr. 9 stets die unterschiedlichen »Gegebenheiten und Umstände des spezifischen Falls«; auch bei Anwendung standardisierter Wertungen, wie einer widerlegbaren Vermutung.

II. Die Anwendung der Vermutung auf die einzelnen Verlustformen Nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG sind Kulturgüter zu restituieren, die zuvor Gegenstand eines Rechtsgeschäfts oder einer Rechtshandlung im Sinne des oder vergleichbar mit § 1 NichtigkeitsG waren.1097 Jedoch zeigt die nachfolgende Untersuchung der Empfehlungspraxis, dass der Beirat auch Realakte unter die Tatbestände subsumiert. Welche Anforderungen an den Kausalzusammenhang zwischen Verlust und nationalsozialistischer Herrschaft bei der jeweiligen Verlustform gelten, wird erneut weder aus dem KRG noch aus dem NichtigkeitsG deutlich. Dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 3. RStG zufolge fand formell im Rückstellungsrecht keine Diffe­renzierung zwischen den einzelnen Verlustformen bei Anwendung der Vermutung statt. Doch bereits ein Blick in die Rückstellungsjudikatur zeigt, dass je nach Verlustform unterschiedlich viel argumentativer Aufwand in die Widerlegung des Kausalzusammenhangs geflossen ist. Die Abhängigkeit von der nationalsozialistischen Herrschaft bei Rechtshandlungen wurde aufgrund des ihnen inhärenten staatlichen Zwangs oftmals bereits aus den äußeren Umständen geschlos­sen. Demgegenüber lag bei Rechtsgeschäften, als Akte der Privatautonomie, der Fokus auf den inneren Beweggründen der Eigentümer:innen. Dies scheint der Beirat heute weitestgehend zu übernehmen, sodass auch in der nachfolgenden Untersuchung des Kausalzusammenhangs zwischen den einzelnen Verlustformen differenziert wird. Zunächst werden die Anforderungen an den Kausalzusammenhang bei Rechtshandlungen und Rechtsgeschäften im Sinne des KRG bestimmt, bevor die wenigen Anhaltspunkte zum Kausalzusammenhang bei Realakten vorgestellt werden. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Systematisierung nach diesen juristischen Kategorien hier an ihre Grenzen stößt. Die nachfolgenden Kategorien ergeben sich also eher aus der funktionalen Behandlung durch den Beirat, denn aus einer formalistischen Einordnung. 1. Der Verlust durch Rechtshandlung

Der Verlust durch Rechtshandlung findet sich neben dem KRG sowohl in § 1 NichtigkeitsG als auch in § 1 Abs. 1 Drittes Rückstellungsgesetz. Als Rechtshandlungen im Sinne des § 1 NichtigkeitsG waren nach der einschlägigen Literatur »alle menschlichen Handlungen (auch Unterlassungen) zu verstehen […], welche nach der Rechtsordnung rechtliche Wirkungen erzeugen«.1098 Dieser Definition zufolge fiel unter den Begriff der »Rechtshandlung« jedes rechtserhebliche Handeln, womit letztlich auch Rechtsgeschäfte eine Unterkategorie der Rechtshandlungen darstellen würden. 1097 In § 1 Nr. 2 KRG a.F. hatte die Legislative lediglich auf Rechtsgeschäfte gemäß § 1 NichtigkeitsG verwiesen. Der Beirat

stellte jedoch bereits zu Anfang seiner Tätigkeit fest, »dass nicht nur Rechtsgeschäfte im technischen Sinne darunter zu verstehen sind, sondern alle auf Grund der damaligen Rechtslage erfolgten Entziehungshandlungen«, was sich bereits aus dem sowohl Rechtsgeschäfte als auch Rechtshandlungen erfassenden NichtigkeitsG ergebe (erstmals im Beschl. zu Ernst Pollack v. 27.03.2000, S. 4). Der Wortlaut wurde daher im Zuge der Novelle an die ständige Empfehlungspraxis und geäußerte Kritik angepasst, s. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 3. 1098 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 177. Darunter ließen sich bei weitem Verständnis ggf. auch Realakte fassen, s. zu Realakten eingehend § 7 F.II.3., S. 284.

202  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

Aus der ausdrücklichen Hervorhebung von Rechtsgeschäften neben den Rechtshandlungen im Wortlaut von KRG, NichtigkeitsG und 3. RStG folgt jedoch, dass unter Rechtshandlungen im Sinne dieser Gesetze nur rechtliches Handeln erfasst werden soll, das gerade über keinen rechtsgeschäftlichen Charakter verfügt. Auch hier ist ein vertiefter Blick in das Rückstellungsrecht zu werfen: Denn wie § 1 Abs. 1 3. RStG zeigt, waren als Rechtshandlungen vor allem aufgrund von Gesetzen oder anderen Anordnungen erfolgte Verluste zu verstehen. Der auch für den Beirat maßgebliche Begriff der »Rechtshandlung« betrifft damit vor allem rechtsförmige, staatliche Wegnahmen, aber auch sonstiges rechtsförmiges Handeln der Staatsgewalt, das zu einem Verlust der faktischen Verfügungsmacht führte. De iure greift die Vermutung des Kausalzusammenhangs aus dem 3. RStG zugunsten der verfolgten Personen bei allen Verlustformen gleichermaßen, doch die nachfolgend erläuterte Empfehlungspraxis macht deutlich, dass sich der Beirat de facto bei staatlichen Rechtshandlungen in der Regel weder auf diese Vermutung beruft noch anderweitig weitschweifige Ausführungen zum Kausalzusammenhang tätigt. Dem Anschein nach ist diese Wortkargheit darauf zurückzuführen, dass die meisten staatlichen Handlungen auf originär nationalsozialistischen Rechtsgrundlagen beruhten und der Beirat dann nur wenig Raum für eine Unabhängigkeit von der nationalsozialistischen Herrschaft sieht. Der Kausalzusammenhang ergibt sich mithin unmittelbar aus dem auf der konkreten Rechtsgrundlage beruhenden, staatlichen Zwang. Es bedarf gar nicht erst einer Privilegierung durch die Vermutungsregel. Ein Raum für Ausnahmen erscheint daher nur für staatliche Maßnahmen geöffnet, die nicht auf einer originär nationalsozialistischen Rechtsgrundlage fußten. Diese Wertungen begründet der Beirat indes nicht explizit, sondern sie lassen sich bloß aus seinem vergleichsweise geringen Begründungsaufwand bei staatlichen Maßnahmen ableiten. Die nachfolgende Untersuchung wird nicht die einzelnen Rechtsgrundlagen im Detail aufführen. Vielmehr wird sie eine funktionale Kategorisierung der vom Beirat diskutierten staatlichen Maßnahmen vornehmen, die von einer Unterteilung in die drei Staatsgewalten geleitet wird.1099 Die exekutiven Maßnahmen, verkörpert durch Sicherstellung, Beschlagnahme und Einziehung, bilden den Anfang dieser Untersuchung. Anschließend werden sowohl der gesetzliche Verfall als legislative Maßnahme als auch die Gerichtsentscheidung als Maßnahme der Judikative betrachtet. Zuletzt erfolgt eine Bewertung der Empfehlungspraxis im Lichte der Washingtoner Prinzipien. a) Der Verlust durch Maßnahmen der Exekutive

Die untersuchten exekutiven Maßnahmen der Sicherstellung, Beschlagnahme und Einziehung haben gemein, dass der Verlust durch einen staatlichen Hoheitsakt erfolgte. Dabei ist anzumerken, dass das nationalsozialistische Regime für staatliche Zugriffe über kein einheitliches formaljuristisches Vokabular verfügte. Beispielsweise war eine ›Sicherstellung‹ oftmals tatsächlich eine Beschlagnahme oder eine ›Einziehung‹ vielmehr ein Verfall.1100 Gewissermaßen wurden all diese Begriffe als Synonyme für den staatlichen Zugriff verwendet, obwohl formaljuristisch betrachtet oftmals Eingriffe in die Verfügungsmacht, insbesondere durch Sicherstellung und 1099 Selbst bei funktionaler Betrachtung lassen sich manche Maßnahmen nicht hinreichend aufschlüsseln, so etwa die Verbringung

von Kulturgütern nach Berlin im Auftrag von Hermann Göring, s. Beschl. zu Jacques Goudstikker v. 14.12.2005, S. 1 f.

1100 So bereits als philologische Beobachtung bei Klemperer, LTI, 22. Aufl. 2007, S. 191.

203  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

Beschlagnahme, zunächst als Vorstufe eines unterschiedlich gearteten Eigentumsverlusts, beispielsweise durch Einziehung, erfolgten.1101 Angesichts dieser Unklarheiten wird im Folgenden versucht, der Untersuchung allein die Kategorisierung des Beirats zugrunde zu legen. Doch übernimmt er teils die uneinheitliche Terminologie des nationalsozialistischen Regimes oder löst diese zumindest nicht auf. Zugleich beabsichtigt diese Arbeit die juristischen Feinheiten herauszuarbeiten, obwohl die faktischen Auswirkungen auf die Eigentümer:innen zumeist identisch waren. Bei der Ermittlung der konkreten Verlustform aus den Sachverhaltsangaben wird deutlich, dass die Beschlagnahme den Regelfall in der Empfehlungspraxis des Beirats darstellt; sie bildet daher den ersten Teil der Untersuchung. Von den dort gewonnenen Erkenntnissen lässt sich zur Sicherstellung überleiten, wobei der Beirat lediglich in einer Fallkonstellation tatsächlich mit einer Sicherstellung konfrontiert zu sein scheint. Zuletzt wird auf die den beiden anderen Maßnahmen nachgelagerte Einziehung eingegangen, die bereits einen Eigentumsverlust darstellte und zumeist die Beschlagnahme und Sicherstellung beendete.1102 aa) Beschlagnahme

Die Beschlagnahme ist, wie bereits erwähnt, in der Empfehlungspraxis des Beirats die bei Wei­ tem relevanteste Verlustform unter den Rechtshandlungen.1103 Sie selbst führt als vorläufige Sicherungsmaßnahme nicht zu einem Eigentumsverlust, sondern lediglich zu einem Verlust der faktischen Verfügungsmacht.1104 Dabei ging sie im Nationalsozialismus oftmals einem späteren Eigentumsverlust voraus und bedingte diesen sogar regelmäßig formal.1105 Im Beschluss zu Ernst Pollack ordnet der Beirat erstmals ausdrücklich staatliches Handeln als Rechtshandlung im Sinne des KRG ein, dabei offenbart sich aber bereits die uneinheitliche Terminologie des Beirats zur Bestimmung staatlicher Zugriffe. Die Sammlung des als ›Jude‹ definierten Ernst Pollack wurde 1942 durch die ›Vugesta‹ »sichergestellt«. Etwa gleichzeitig wurde das Ehepaar Pollack nach Theresienstadt deportiert. Der Beirat setzt das Wort »sichergestellt« im Beschluss in Anführungszeichen. Damit macht er deutlich, dass er die Bezeichnung der Maßnahme der ›Vugesta‹ als »Sicherstellung« an dieser Stelle als verfehlt erachtet.1106 Er erläutert aber weder, warum er sie als verfehlt erachtet, noch

1101 Klein, JBl 1948, 8, 8; Frodl-Kraft, Erbe, 1997, S. 164; Brückler, in: ders. (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 13, Fn. 19; Haupt, in:

1102

1103 1104

1105

1106

Brückler (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 53, 53; Brückler, Beschlagnahmungen, in: ders. (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 94, 94; Lütgenau et al., Dorotheum, 2006, S. 77; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 102, 115 ff. Klein, JBl 1948, 8, 11; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 115 ff. Vgl. nur Beschl. zu Emil Stiassny v. 27.03.2000, S. 3; Beschl. zu Jenny Steiner v. 10.10.2000, S. 2; Beschl. zu Leo Fürst v. 10.10.2000, S. 2; Beschl. zu Hanns Fischl v. 27.01.2004, S. 1. Interessanterweise scheint der Beirat im Beschl. zu Helene u. Elise Richter v. 29.03.2006, S. 2, sogar einen Eigentumsübergang durch Beschlagnahme anzunehmen: Der »Übergang des Eigentums […] erfolgte nicht nur durch Beschlagnahme«. Im Umkehrschluss wäre demnach das Eigentum also zumindest auch durch Beschlagnahme übergegangen. In diese Richtung offenbar jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 167. Klein, JBl 1948, 8, 9; Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 119; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 115. So offenbar auch im Beschl. zu Siegfried Fuchs v. 28.06.2006, S. 1, in dem der Beirat das Wort »Sicherstellung« ebenfalls in Anführungszeichen setzt und sodann als »offensichtliche Beschlagnahme« bezeichnet.

204  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

welche Alternativen zu diesem Begriff bestünden. Auch erwähnt er den Begriff der »Beschlagnahme« an keiner Stelle, sondern wirft sogar in der Subsumtion ohne weitere Begründung noch die Bezeichnung »Konfiskation« ein. In jedem Falle versteht er diese Maßnahme jedoch als einen Verlust im Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft.1107 In der darauf­folgenden Empfehlungspraxis stellt der Beirat immer wieder unter Verweis auf diesen Beschluss zu Ernst Pollack fest, dass auch eine »Beschlagnahme durch den national­ sozialistischen Machthaber« vom KRG erfasst sei.1108 Daraus lässt sich ableiten, dass der Beirat mit den Bezeichnungen »Konfiskationen« und »sichergestellt« im Beschluss zu Ernst Pollack tatsächlich Beschlagnahmen vor Augen hatte. Dies bestätigt sich auch in der weiteren Empfehlungspraxis1109 betreffend Zugriffe durch die ›Vugesta‹ und entspricht ihrer Funktion als Beschlagnahmen vorbereitende Einrichtung.1110 Jedenfalls kann nicht bezweifelt werden, dass die Begriffe »Sicherstellung«, »Beschlagnahme« und »Einziehung« auch vom Beirat synonym verwendet werden, womit es stets eines überprüfenden Blicks auf die konkreten Verlustumstände bedarf. In keinem der Beschlüsse, die eine Beschlagnahme als Verlusthandlung zum Gegenstand haben, wird der Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft abgelehnt. Wenngleich der Beirat keine nähere Begründung liefert, lässt sich dies vermutlich auf den Umstand zurückführen, dass – soweit ersichtlich – alle untersuchten Beschlagnahmen aufgrund eines nationalsozialistischen Gesetzes oder durch eine nationalsozialistische Organisation erfolgten.1111 Es bleibt daher offen, ob der Beirat den Kausalzusammenhang ausführlicher darlegen würde, wenn es sich um eine insolvenz-, einzelzwangsvollstreckungs- oder strafrechtliche Beschlagnahme handeln würde. Die nachfolgenden Ausführungen zur Sicherstellung lassen dies jedoch vermuten. bb) Sicherstellung

Sicherstellungen führen ebenso wie Beschlagnahmen nicht zu einem Eigentumsverlust, was auch die häufig synonyme Verwendung der beiden Begriffe erklärt. Während der nationalsozia­ listischen Herrschaft erfolgte aber im Regelfall formell eine Beschlagnahme: Die einzigen, in der Empfehlungspraxis des Beirats relevanten, tatsächlichen Sicherstellungen scheinen solche aufgrund des österreichischen Ausfuhrverbotsgesetzes zu sein,1112 die ein Mittel zur Verhinderung der Ausfuhr von österreichischem Kulturgut darstellten. Das österreichische Ausfuhrverbotsgesetz wurde bereits 1918 verabschiedet, um nach § 4a im Falle einer Gefahr der Verbrin1107 Beschl. zu Ernst Pollack v. 27.03.2000, S. 4; so bereits ohne ausdrückliche Erklärung Beschl. zu Oskar Pöller v. 22.11.1999,

S. 1.

1108 Beschl. zu Emil Stiassny v. 27.03.2000, S. 3; Beschl. zu Jenny Steiner v. 10.10.2000, S. 2; Beschl. zu Leo Fürst v. 10.10.2000,

S. 2. Anschließend ohne Verweis auf Pollack Beschl. zu Hanns Fischl v. 27.01.2004, S. 1.

1109 Statt vieler vgl. nur Beschl. zu Hartwig u. Paula Carlebach v. 22.06.2004, S. 1; Beschl. zu August Blumberg v. 20.11.2009,

S. 1 f.; Beschl. zu Friedrich Wolff-Knize v. 02.03.2012, S. 2.

1110 S. ausführlich zur historischen Funktion der ›Vugesta‹ unter § 4 A.I., S. 31. 1111

Beschl. zu Edwin u. Karoline Czeczowiczka v. 18.08.1999, S. 2; Beschl. zu Siegfried Kantor v. 22.11.1999, S. 2; Beschl. zu Ernst Pollack v. 27.03.2000, S. 4; Beschl. zu Emil Stiassny v. 27.03.2000, S. 3; Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 27.03.2000, S. 3; Beschl. zu Jenny Steiner v. 10.10.2000, S. 2; Beschl. zu Leo Fürst v. 10.10.2000, S. 2; Beschl. zu Hartwig u. Paula Carlebach v. 22.06.2004, S. 1; Beschl. zu August Blumberg v. 20.11.2009, S. 1 f.; Beschl. zu Friedrich Wolff-Knize v. 02.03.2012, S. 2; Beschl. zu David Goldmann v. 30.11.2012, S. 3. 1112 Beschl. zu Emma Schiff-Suvero v. 10.04.2002, S. 2 f.; Beschl. zu Wilhelm Freund v. 30.10.2002, S. 2; Beschl. zu Wally Kulka v. 11.03.2003, S. 2 f.

205  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

gung ins Ausland nationale Kulturgüter sicherzustellen. Durch die Sicherstellung wurden die Eigentümer:innen verpflichtet, die Kulturgüter nicht von ihrem Belegenheitsort zu entfernen. Das nationalsozialistische Regime instrumentalisierte schließlich das Ausfuhrverbotsgesetz für die Verhinderung der Ausfuhr von in Österreich1113 belegenen Kulturgütern flüchtender oder emigrierender Personen. Das Gesetz diskriminierte während der nationalsozialistischen Herrschaft daher mittelbar übermäßig oppositionelle oder verfolgte Personen. Denn mit der Flucht oder Emigration war regelmäßig auch die Absicht der Ausfuhr des Vermögens in das Zielland verbunden. Die Untersagung des Exports und die Sicherstellung der Kulturgüter zwang mithin zum Verkauf, Verschenken oder schlichtweg Zurücklassen im Inland. 1114 Dies unterstreicht nochmals die Funktion der Sicherstellung als Vorstufe des Eigentumsverlusts in Form einer umfassenden Verfügungsbeschränkung. Zwar rekurriert der Beirat in dieser Sache ausnahmsweise einmal nicht auf die Rückstellungsrechtsprechung. Doch kann dieser die Tendenz entnommen werden, eine Entziehung abzulehnen, wenn es der Rechtsgrundlage an einer »spezifisch nationalsozialistischen Zielsetzung« fehlte, es sei denn diese Rechtsgrundlage wurde diskriminierend angewendet.1115 Der Beschluss zu Heinrich Rothberger stellt einen der wenigen Anhaltspunkte für den Umgang des Beirats mit Sicherstellungen nach dem Ausfuhrverbotsgesetz dar und illustriert bereits die Abweichung vom Nachkriegsrecht. Im Juli 1938 beantragte der als ›Jude‹ definierte Heinrich Rothberger die Ausfuhr seiner Porzellansammlung nach Berlin zwecks dortiger Versteigerung. Im August 1938 stimmte die Zentralstelle für Denkmalschutz der Ausfuhr von 97 Objekten zu. Die übrigen 24 Objekte fielen jedoch unter das Ausfuhrverbotsgesetz. Noch am selben Tag wurde aber die Ausfuhrbewilligung korrigiert und weitere 21 Objekte wurden zur Ausfuhr freigegeben, da dem Museum für angewandte Kunst drei Objekte geschenkt worden waren. An dieser Stelle soll lediglich die Ausfuhruntersagung als staatliche Maßnahme untersucht wer­ den, nicht aber die auf das Ausfuhrverbot folgende Schenkung.1116 Zum Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft erklärt der Beirat, dass die Ausfuhruntersagung nicht als Entziehung qualifiziert werden könne, da es sich um »eine auch vor und nach der NS-Zeit geübt [sic] Vorgangsweise« handle.1117 Wenngleich er nur von der Ausfuhruntersagung und nicht der damit verbundenen Sicherstellung spricht, wird diese Wertung auch auf die ebenso übliche Sicherstellung zu übertragen sein.

1113 Im ›Altreich‹ war das Ausfuhrverbotsgesetz nicht anwendbar, dort wurde die mit deutlich weniger Eingriffsmöglichkeiten

1114

1115

1116

1117

ausgestattete ›Reichsliste‹ zur Sicherung »reichsdeutscher-national wertvoller Kulturgüter« angewendet, s. Brückler, Beschlagnahmungen, in: ders. (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 94, 96 f. Brückler, in: ders. (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 13, 21 f.; Brückler, Beschlagnahmungen, in: ders. (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 94, 94 ff.; Lütgenau et al., Dorotheum, 2006, S. 77 f.; Ploil, Parnass 04/2006, 12, 12 f.; Zechner, Eingreiftruppe, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 230, 269. Zur Instrumentalisierung des Ausfuhrverbotsgesetzes in der Nachkriegszeit und zum Anwendungsbereich von § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG s. ausführlich unter § 6 A.I., S. 92. Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 107. Interessanterweise betrachtet der Beirat gleichzeitig eine auf das Ausfuhrverbot folgende Schenkung nicht als Entziehung, s. Beschl. zu Heinrich Rothberger v. 26.06.2000, S. 5. In dieselbe Richtung, aber zu nicht-verfolgten Personen, gehen: Beschl. zu Arthur Rosthorn v. 03.07.2014, S. 2 f.; Beschl. zu Rudolf Mosse v. 16.03.2018, S. 3. Beschl. zu Heinrich Rothberger v. 26.06.2000, S. 6.

206  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

Auch in der nachfolgenden Praxis mit vorgelagerten Sicherstellungen bezieht sich der Beirat stets auf den späteren Verkauf oder Verfall,1118 womit er zwar einen Verlust feststellt, in der Sicherstellung aufgrund des Ausfuhrverbotsgesetzes liegt dieser jedoch nicht. Er ordnet die Sicherstellung – im Widerspruch zum dargelegten Rückstellungsrecht – mithin per se nicht als Entziehung ein. Für den Beirat ist damit mangels unmittelbar diskriminierender Intention des Gesetzes unerheblich, dass die Sicherstellung zur Verhinderung der Ausfuhr von Kulturgütern vom nationalsozialistischen Regime für einen Zugriff auf Kulturgüter verfolgter und oppositioneller Personen instrumentalisiert wurde – und damit mittelbar diskriminierte. cc) Einziehung

Die bis 1941 übliche Einziehung durch anschließend erklärten Verfall des Vermögens an das Deutsche Reich1119 erfolgte regelmäßig nach der Beschlagnahme oder Sicherstellung und bedeutete nicht bloß den Verlust der Verfügungsmacht, sondern den Verlust des Eigentums.1120 Daher ist ihre Abgrenzung von den beiden letztgenannten Maßnahmen formell betrachtet zumeist leichter. Doch der Beschluss zu Guido Adler zeigt, dass auch bei der Einziehung sprach­ liche Aufmerksamkeit geboten ist. Der als ›Jude‹ definierte Guido Adler war Eigentümer einer umfassenden Bibliothek, die nach seinem Tod 1941 auf seine Tochter überging. Im Mai 1942 erfolgte die »Einziehung des gesamten Vermögens der Tochter […] in das Eigentum des Deutschen Reichs«. Obwohl die nationalsozialistische Grundlage eindeutig ist, spricht der Beirat in seiner Subsumtion nicht von einer »Einziehung«, sondern von einer »Beschlagnahmung bzw. Einziehung«.1121 Diese zunächst irritierende Formulierung hat eine lange Tradition in der Empfehlungspraxis des Beirats:1122 Sie resultiert vermutlich aus der nationalsozialistischen Praxis, Vermögen zwecks Einziehung zu Gunsten des nationalsozialistischen Regimes auf Grundlage eines breit gefächer­ ten Repertoires an Einziehungsvorschriften1123 zu beschlagnahmen.1124 Es entspricht daher den historischen Begebenheiten, wenn der Beirat ebenfalls von »Beschlagnahmung bzw. Einziehung« spricht, da die Kulturgüter regelmäßig zuerst beschlagnahmt und dann eingezogen wurden. In keinem der Fälle, die Einziehungen zum Gegenstand haben, wird der Kausalzusammenhang diskutiert. Eine Entziehung liegt vermutlich aus demselben Grund wie bei der Beschlagnahme stets vor: der Verwurzelung des Verlusts in der originär nationalsozialistischen Gesetzgebung. Für eine Unabhängigkeit von der nationalsozialistischen Herrschaft besteht kein Raum.

1118 So z.B. im Beschl. zu Josefine Winter v. 29.11.2000, S. 2; Beschl. zu Emma Schiff-Suvero v. 10.04.2002, S. 2 f.; Beschl. zu

Wilhelm Freund v. 30.10.2002, S. 2; Beschl. zu Wally Kulka v. 11.03.2003, S. 2 f.

1119 S. zum Verfall allgemein Hellbling, JBl 1946, 69, 69; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 113. 1120 Klein, JBl 1948, 8, 9.

1121 Beschl. zu Guido Adler v. 16.03.2018, S. 2.

1122 Vgl. nur Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 27.03.2000, S. 3; Beschl. zu Friedrich Spiegler v. 14.03.2001, S. 2; Beschl. zu Ernst

Rosenthal v. 25.11.2004, S. 1; Beschl. zu Victor Treumann v. 25.11.2004, S. 1; Beschl. zum Internationalen Psychoanalytischen Verlag v. 16.03.2005, S. 1; Beschl. zu Arthur Barensfeld v. 16.03.2005, S. 1; Beschl. zu Josef Blauhorn v. 03.05.2013, S. 2. 1123 Klein, JBl 1948, 8, 10; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 103 f. 1124 Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 115; vgl. dazu nur Beschl. zu Gottlieb Kraus v. 19.06.2002, S. 2; Beschl. zu Ernst Rosen­ thal v. 25.11.2004, S. 1; Beschl. zu Victor Treumann v. 25.11.2004, S. 1; Beschl. zu Josef Blauhorn v. 03.05.2013, S. 2.

207  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

Weitaus größere Schwierigkeiten als die Abgrenzung von Beschlagnahmen bereitet dem Beirat die terminologische Unterscheidung der Einziehung vom ebenfalls einen Eigentumsverlust begründenden gesetzlichen Verfall als legislative Maßnahme.1125 Wie die nachfolgende Untersuchung des Verlusts durch gesetzlichen Verfall illustriert, sind diese terminologischen Schwierigkeiten gleichermaßen historisch bedingt wie die gemeinsame Nennung von Beschlagnahme und Einziehung. b) Der Verlust durch gesetzlichen Verfall als Maßnahme der Legislative

Der Verfall bedurfte im Gegensatz zum exekutiven Hoheitsakt der Einziehung mit anschließendem Verfall keiner einzelnen Bekanntmachung.1126 Der Verlust durch gesetzlichen Verfall an das Deutsche Reich beruhte überwiegend auf der im November 1941 erlassenen Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz1127. Im Zuge der umfassenden Ausweitung der Deportationen ab 1941 war das exekutive Vorgehen durch Einziehung mit der stets erforderlichen Verfallserklärung nicht mehr »praktikabel«. Der gesetzliche Verfall sollte somit einen »effizienteren« und »unbüro­ kratischeren« Zugriff auf das Vermögen ermöglichen.1128 Die §§ 1 bis 3 der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz wurden so zum wichtigsten Instrument für den Zugriff auf das Vermögen von als ›Juden‹ definierten Personen. Zunächst regelten sie deren Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit,1129 wenn sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hatten. Gleichzeitig mit dem Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts im Ausland verfiel gemäß § 3 Abs. 1 der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz ihr Vermögen dem Deutschen Reich. Diese Vorschrift wurde jedoch nicht nur auf den gewöhnlichen Au­fenthalt im Ausland infolge der Flucht angewandt, sondern auch im Falle der Deportation – dies war schließlich ihr legislativer Anlass. Deportationen erfolgten allerdings nicht in außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs liegende Staaten, sondern zumeist befanden sich die Konzentrations- und Vernichtungslager in den besetzten Gebieten. Die örtliche Definition des Begriffs »Ausland« bereitete also mit Blick auf den Zweck der Verordnung – Zugriff auf das Vermögen insbesondere deportierter Personen ohne hohen Verwaltungsaufwand – Schwierigkeiten. Im Beschluss zu Ernst Pollack von 2000 wirft der Beirat die Frage auf, ob auch das ›Protek­ torat Böhmen und Mähren‹ mit dem Konzentrationslager Theresienstadt als »Ausland« im Sinne der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz galt. Wäre das ›Protektorat Böhmen und Mähren‹ »Ausland« im Sinne der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz, hätte Pollack mit der Deportation die deutsche Staatsangehörigkeit verloren und sein gesamtes Vermögen wäre dem Deutschen Reich verfallen.1130 Jedoch nimmt der Beirat mangels hinreichender Sachkenntnis 1125 Beschl. zu Paul Cahn-Speyer v. 10.04.2002, S. 2; Beschl. zu Wilhelm Bermann v. 21.11.2008, S. 2; Beschl. zu Guido Adler v.

16.03.2018, S. 1.

1126 Hellbling, JBl 1946, 69, 69; Klein, JBl 1948, 8, 10 f.; Lütgenau et al., Dorotheum, 2006, S. 80 f.; Faber, Vermögensrestitution,

2007, S. 115 ff.

1127 Elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941, RGBl. I S. 722–724 (im Folgenden: Elfte Verordnung

zum Reichsbürgergesetz).

1128 Vgl. ORK, Entscheidung v. 19.02.1949 – Rkv 23/49, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 339,

S. 191 f.; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 101 ff.; Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 262; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 85 f. 1129 S. ausführlich zur Entstehung der Verordnung, Jasch, in: Kampe/Klein (Hrsg.), Wannsee-Konferenz, 2013, S. 276, 293 ff. 1130 Beschl. zu Ernst Pollack v. 27.03.2000, S. 2.

208  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

nicht weiter Stellung zu dieser Frage, sondern weist lediglich auf diesbezüglichen rechtshistori­ schen Forschungsbedarf hin. Mittlerweile finden sich zumindest in der historischen Forschung kurze Ausführungen zum Anwendungsbereich der Elften Verordnung: Es wurde damals vom nationalsozialistischen Regime bestätigt, dass auch einige der besetzten Gebiete, namentlich das ›Reichskommissariat Ostland‹, das ›Reichskommissariat Ukraine‹ und das ›Generalgouvernement‹, als »Ausland« im Sinne der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz zu verstehen waren. Der widersprechende Wortlaut wurde also weitestgehend ignoriert.1131 Aus dieser ausdrücklichen Erfassung einzelner Gebiete wird heute geschlossen, dass die übrigen Gebiete, wie das ›Protektorat Böhmen und Mähren‹ wiederum nicht als »Ausland« im Sinne der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz galten.1132 Dort musste also für einen Eigentumsübergang wieder auf die älteren Einziehungsvorschriften zurückgegriffen werden. Die Empfehlungspraxis des Beirats zum Verfall nach der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz veranschaulicht somit, dass diese Rechtsgrundlage den Zugriff auf das Eigentum von als ›Juden‹ definierten Personen finalisierte und die Vernichtung von Leben und Vermögen auch auf formalrechtlicher Ebene unmittelbar verknüpfte. In der nachfolgenden Empfehlungspraxis haben viele Beschlüsse eindeutig einen Verlust aufgrund von § 3 Abs. 1 der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz zum Gegenstand.1133 Dem Anschein nach sieht der Beirat – ebenso wie die Rückstellungsrechtsprechung1134 – bei Verlusten aufgrund der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz keinen Raum für eine Ablehnung des Kausalzusammenhangs zwischen dem Verfall und der nationalsozialistischen Herrschaft.1135 Vermutlich ist dies auch hier auf die durch eine originär nationalsozialistische Rechtsgrundlage geschaffene, zwingende Verknüpfung von nationalsozialistischer Herrschaft und Verlust zurückzuführen. c) Der Verlust durch Gerichtsentscheidung als Maßnahme der Judikative

Während außer den Sicherstellungen alle zuvor untersuchten staatlichen Handlungen auf originär nationalsozialistischen Rechtsgrundlagen beruhten, ist die Zuordnung zur nationalsozialistischen Herrschaft bei einem Verlust durch Gerichtsentscheidung deutlich schwieriger. Doch bereits die Rückstellungsrechtsprechung entschied, dass bei entsprechendem Kausalzusammenhang, etwa einer ersichtlichen Beeinflussung des Gerichts durch die nationalsozialistische Ideologie, auch Gerichtsentscheidungen eine Entziehung begründen können.1136 Die folglich bei Gerichtsentscheidungen besonders erforderliche Nuancierung für die Annahme eines Kausalzusammenhangs illustrieren die Beschlüsse zu Karl Banhans. 1131 Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 84.

1132 Kuller, in: Kundrus/Meyer (Hrsg.), Deportation, 2005, S. 160, 164 ff.; vgl. auch Benz, Geschichte, 2000, S. 216; Faber, Vermö-

gensrestitution, 2007, S. 97 Fn. 359; Benz, Der Holocaust, 2014, S. 70.

1133 Beschl. zu Wally Kulka v. 11.03.2003, S. 2; Beschl. zu Gottfried Beermann-Fischer v. 27.01.2004, S. 1; Beschl. zu Paul Cahn-

Speyer v. 10.04.2002, S. 2.

1134 ORK, Entscheidung v. 19.02.1949 – Rkv 23/49, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 339, S. 191 f.;

Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 101 ff.; Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 262; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 80. 1135 Beschl. zu Ernst Pollack v. 27.03.2000, S. 2; Beschl. zu Paul Cahn-Speyer v. 10.04.2002, S. 2; Beschl. zu Wally Kulka v. 11.03.2003, S. 2; Beschl. zu Hugo Blitz v. 11.03.2003, S. 1 f.; Beschl. zu Gottfried Beermann-Fischer v. 27.01.2004, S. 1; Beschl. zu Friedrich Wolff-Knize v. 02.03.2012, S. 2. 1136 ORK, Entscheidung v. 25.05.1949 – Rkv 205/49, JBl 1949, 405, 406; ORK, Entscheidung v. 06.06.1953 – Rkv 79/53; Wahle, ÖJZ 1950, 27, 28; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 101 ff.

209  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

Karl Banhans setzte seine Ehefrau Eugenie Banhans bereits 1931 als Alleinerbin ein. Er hatte außerdem 1931 verschiedene Vermächtnisse (»Bitten« an seine Ehefrau Eugenie Banhans) aufgesetzt, unter anderem vermachte er die verfahrensgegenständliche Büste dem Technischen Museum. Der als ›arisch‹ definierte Karl Banhans verstarb im Juli 1942, seine als ›Jude‹ definierte Ehefrau Eugenie Banhans wurde wenige Wochen später in Theresienstadt im August 1942 ermordet. Bereits im September 1943 wurde die Büste zur Erfüllung des Vermächtnisses an das Technische Museum übergeben. Das Amtsgericht Wien stellte sodann im Dezember 1943 fest, dass die von Karl Banhans als Alleinerbin eingesetzte Eugenie Banhans »Volljüdin und daher erbunwürdig« sei. Daher wurden schließlich die ebenfalls als ›arisch‹ definierten Nachkommen der Eltern von Karl Banhans als gesetzliche Erbberechtigte bestimmt. Ihnen wurde mit Beschluss des Amtsgerichts Wien vom 5. Januar 1944 der Nachlass, darunter die ebenfalls in Rede stehenden Schriften, zugesprochen. Für die Auseinandersetzung mit den beiden hier gemeinsam untersuchten Beschlüssen muss zwischen zwei verschiedenen erbrechtlichen Situationen unterschieden werden: Der testamen­ tarischen Verfügung bezüglich der Schriften und dem Vermächtnis hinsichtlich der Büste.1137 Hier ist nicht auf das Vermächtnis, sondern allein auf die vom Testament erfassten Schriften einzugehen, die Gegenstand des Beschlusses von November 2011 sind. Dabei scheinen auf den ersten Blick Ähnlichkeiten zur Entziehung durch testamentarischen Ausschluss vom gesetzlichen Erbrecht – also zu einem rechtsgeschäftlichen Verlust – zu bestehen.1138 Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass der Beirat richtigerweise als maßgebliche Rechtshandlung nicht das Testament untersucht. Schließlich hatte dieses weiterhin Eugenie Banhans als Alleinerbin bestimmt und der Erbfall trat durch den Tod ihres Ehemannes auch ein, sodass sie ein Erbrecht am Nachlass, darunter auch den verfahrensgegenständlichen Schriften, erworben hatte. Maßgebliche Rechtshandlung sei dem Beirat zufolge unter Verweis auf die Rückstellungs­ judikatur vielmehr die dem Testament widersprechende Feststellung der als ›arisch‹ definierten Erbberechtigten durch den Beschluss des Gerichts.1139 Dessen Beeinflussung durch die nationalsozialistische Ideologie sei aufgrund des Ausschlusses der als ›Jude‹ definierten Erbin für den Beirat offensichtlich. Der Verlust durch die erbrechtliche Einsetzung von als ›arisch‹ definierten Personen unter Ausschluss von als ›Juden‹ definierten Berechtigten ist damit als eine Rechtshandlung der Judikative einzuordnen, die in einem Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft steht. d) Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien

Bei der Bewertung des Kausalzusammenhangs von Rechtshandlungen mit der nationalsozialistischen Herrschaft im Lichte der Washingtoner Prinzipien greifen zwei verschiedene Aufgaben ineinander: Zunächst ist zu bestimmen, welche Rechtshandlungen überhaupt von den Washing­ toner Prinzipien erfasst sein sollen. Im Anschluss ist zu ermitteln, ob und wie die Anwendung 1137 Die im Beschluss ebenfalls angedeutete Möglichkeit der Beschlagnahme wird hier unbeachtet gelassen.

1138 S. zum Verlust durch Ausschluss vom gesetzlichen Erbrecht unter § 7 F.II.2.c)dd), S. 246. In diesem Zusammenhang finden

sich auch kurze Ausführungen zum im Fall Banhans relevanten Vermächtnis.

1139 Beschl. zu Karl Banhans v. 29.09.2011, S. 3.

210  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

der Vermutungsregel auf diese Rechtshandlungen für eine »gerechte und faire Lösung« abstrakt und in konkreter Anwendung auf den Einzelfall erfolgen kann. Dem Wortlaut der Washingtoner Prinzipien zufolge sind nur »beschlagnahmte« Kunstwerke erfasst, doch hat die Literatur zügig den Anwendungsbereich weit ausgelegt.1140 Dies wurde schließlich offiziell im Rahmen der Theresienstädter Erklärung und der daran anknüpfenden Literatur aufgegriffen.1141 Es sind damit zweifelsfrei auch andere staatliche Verlustakte vom Regelungsbereich umfasst, soweit diese unmittelbar oder mittelbar aus den Verfolgungsmaßnahmen resultierten.1142 Indes folgt aber weder aus den Washingtoner Prinzipien noch der Theresienstädter Erklärung, ob beziehungsweise wie die Vermutungsregel bei staatlichen Rechtshandlungen anzuwenden ist. Lediglich in der Literatur finden sich vereinzelt Hinweise auf den zwingenden Kausalzusammenhang zwischen nationalsozialistischer Herrschaft und Verlust, wenn dieser durch Zugriff einer staatlichen Stelle aufgrund originär nationalsozialistischer Vorschriften erfolgte.1143 Die Empfehlungspraxis des Beirats deckt sich weitestgehend mit den wenigen, den Washingtoner Prinzipien zu entnehmenden Anforderungen an den Umgang mit Entziehungen durch insbesondere staatliche Rechtshandlungen. Zunächst legt der Beirat seinen Entscheidungen im Einklang mit den Washingtoner Prinzipien einen sehr weiten Verlustbegriff zugrunde, indem er die Beschlagnahme, die Einziehung, den Verfall und Gerichtsentscheidungen als staatliche Verlustakte erfasst. Wenngleich de iure für sämtliche Verlustformen, also auch für die genannten staatlichen Maßnahmen, eine widerlegliche Vermutung der Entziehung greift, zieht der Beirat bei Beschlagnahme, Einziehung und Verfall diese de facto nicht heran. Er stellt bloß fest, dass der staatliche Zugriff auf einer konkreten, originär nationalsozialistischen Rechts­ grundlage beruhte; der Kausalzusammenhang wird ohne nähere Begründung gar nicht erst diskutiert. Wenngleich es an einer Begründung mangelt, ist das Ergebnis wohl nicht zu beanstanden: Im Gegensatz zu rechtsgeschäftlichen Verlusten können bei Rechtshandlungen in der Form des staatlichen Zwangs lediglich die äußeren Umstände für die Beurteilung der Abhängigkeit von der nationalsozialistischen Herrschaft herangezogen werden. Eine auf den Verlust Einfluss nehmende Willensbildung der Eigentümer:innen existierte gerade nicht. Wenn folglich ein Verlust unmittelbar auf einer nationalsozialistischen, diskriminierenden Vorschrift beruhte, dann ist der Kausalzusammenhang der konkreten Verlustform inhärent und damit keiner Widerlegung zugänglich. Schließlich muss die Vermutung nur da unterstützend herangezogen werden, wo die Tatsache, hier der Kausalzusammenhang, nicht bewiesen ist. 1140 Von Trott zu Solz/Gielen, ZOV 2006, 256, 258; Crezelius, KUR 2007, 125, 126; Schnabel/Tatzkow, Nazi Looted Art, 2007,

S. 195; Raue, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Geschichte, 2007, S. 287, 288; Rowland/Schink/Studzinski, KUR 2008, 148, 149; Raschèr, KUR 2009, 75, 76; Müller-Chen, Kunstrecht, 2010, S. 125; Woodhead, AAL 2013, 167, 169; Campfens, AAL 2017, 315, 322. 1141 Expert Conclusions, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 35–52, 46 f.; Krejčová, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 744, 745; Rubin, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., 865, 867 ff.; Heuberger, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 941, 946 f.; Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 68. 1142 Heuberger, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 941, 946 f. 1143 Woodhead, Int. J. Cult. Prop. 2016, 385, 389 f.; Campfens, AAL 2017, 315, 322 f.; so auch Felix Uhlmann, Vortrag beim Bonner Gesprächskreis für Kunst- und Kulturgutschutzrecht: »Der Fall Curt Glaser – historische und rechtliche Herausforderungen für gerechte und faire Lösungen« am 07.07.202020 (unveröffentlicht). Nicht ersichtlich ist daher, warum Raue diese Fälle als die kompliziertesten betrachtet, Raue, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Geschichte, 2007, S. 287, 288. Kritisch zum »Ranking« nach Verlustformen Webber/Fisher, in: DCPTCA (Hrsg.), Terezin, 2019, S. 39, 46 f.; Weller, in: FS Schack, 2022, S. 85, 93.

211  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

Ist eine solche originär nationalsozialistische Herkunft des staatlichen Handelns ausnahmsweise nicht gegeben, wird deutlich, dass es einer abstrakten Vermutungsregel auch bei staat­ lichen Rechtshandlungen bedarf. Erfolgte der Verlust nämlich durch Gerichtsentscheidung, ist dieser der Kausalzusammenhang nicht mehr inhärent. Gerichtsentscheidungen sind auch während der nationalsozialistischen Herrschaft aufgrund der zumindest formellen Unabhängigkeit der Justiz schließlich nicht per se nationalsozialistischer Natur; wenngleich natürlich auch dort eine starke ideologische Infiltration erfolgte.1144 In dem einschlägigen Fall stellt der Beirat folgerichtig kurz ausdrücklich fest, dass der Ausschluss vom Erbrecht im Zusammenhang mit der Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime erfolgte; mithin keine Widerlegung des Kausalzusammenhangs ersichtlich ist. Zumal die Rechtsgrundlage für den Ausschluss in der nationalsozialistischen Ideologie begründet war. Dies zeugt von einer dogmatisch präzisen Anwendung der abstrakten Vermutungsregel auf den konkreten Einzelfall. Problematisch im Lichte der Washingtoner Prinzipien erscheint dementsprechend der kategorisch wirkende Ausschluss von Sicherstellungen nach dem Ausfuhrverbotsgesetz als Entziehungsakte. Der Blick in die Empfehlungspraxis hat eindeutig gezeigt, wie umfassend diese Vorschriften mittelbar diskriminierten. Sie haben nachweislich typischerweise und strukturell zu einem Verlust der Verfügungsmacht vieler verfolgter und oppositioneller Personen geführt. Wenn formell betrachtet für sämtliche Verlustformen bei Verfolgten eine Vermutung des Kausalzusammenhangs besteht, ist nicht ersichtlich, warum diese Vermutung nicht im Grundsatz auch für Sicherstellungen gilt – schließlich kann diese immer widerlegt werden. Bloß weil es der Vermutungsregel bei staatlichen Rechtshandlungen aufgrund der originär nationalsozialistischen Rechtsgrundlage zumeist nicht bedarf, mangelt es somit nicht an einer generellen Notwendigkeit einer solchen abstrakten Vermutungsregel. Denn nur durch eine wi­ derlegbare Vermutung könnte der Beirat etwa die diskriminierende Anwendung der Sicherstel­ lungen nach dem Ausfuhrverbotsgesetz anerkennen. Ebenso wie bei – infolge der Privatautonomie grundsätzlich »unverdächtigen« – Rechtsgeschäften müsste der Beirat dann ermitteln, ob die Sicherstellung trotz Verfolgung ausnahmsweise unabhängig von der nationalsozialistischen Herrschaft erfolgte. So würde er eine sowohl den Regel- als auch den Einzelfall erfassende »gerechte und faire Lösung« im Sinne der Prinzipien Nr. 8 und Nr. 9 schaffen. 2. Der Verlust durch Rechtsgeschäft

Der Verlust des Kulturguts durch Rechtsgeschäft ist sowohl vom Wortlaut des § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG i.V.m. § 1 NichtigkeitsG als auch von § 1 Abs. 1 Drittes Rückstellungsgesetz erfasst. Im Nachkriegsrecht werden unter Rechtsgeschäfte »auf Hervorbringung eines Rechtserfolges gerichtete[…] erlaubte[…] Privatwillenserklärungen« verstanden.1145 Dieser dem allgemeinen Zivilrecht entsprechenden Definition scheint sich der Beirat anzuschließen, indem er für die Charakterisierung als Rechtsgeschäft zumindest eine »Willenserklärung des Veräußerers«1146 fordert, wodurch eine klare Abgrenzung von staatlichen Rechtshandlungen möglich ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im österreichischen Zivilrecht das Kausalprinzip a­ nstelle des Abstraktionsprinzips gilt. Das Verfügungsgeschäft, etwa die Übereignung, ist damit nur 1144 S. dazu nur als Überblick Rückert, in: Möller/Wengst (Hrsg.), 50 Jahre, 1999, S. 181, 181 ff. 1145 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 177; Haindl, ÖJZ 1961, 316, 317. 1146 Beschl. zu Ernst Pollack v. 27.03.2000, S. 2.

212  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

wirksam, wenn ihm ein wirksames Verpflichtungsgeschäft, beispielsweise ein Kaufvertrag, zugrunde liegt.1147 Der Beirat selbst nimmt jedoch keine bewusst formalistische Trennung von Ver­pflichtungs- und Verfügungsgeschäft vor, sondern spricht stets von »Rechtsgeschäften«. Diese Arbeit versucht sich daher von dieser formalrechtlichen Ebene zu lösen und die jeweiligen Verluste funktional zu bewerten. Bei Verlusten durch Rechtsgeschäft wird – ungeachtet der jeweiligen rechtsgeschäftlichen Verlustform – der normative Einfluss der Vermutung des Kausalzusammenhangs aus dem Rückstellungsrecht auf die Empfehlungspraxis des Beirats besonders deutlich. Denn anders als bei staatlichen Rechtshandlungen lässt sich ein Verlust durch Rechtsgeschäft in der Regel nicht bereits aufgrund seiner Natur der nationalsozialistischen Herrschaft zurechnen. Im Gegensatz zu staatlichem Rechtsakten ist den Rechtsgeschäften als grundsätzlich privatautonomen Akten der Zwang nicht inhärent, es kommt vielmehr entscheidend auf die Beweggründe der Eigentü­ mer:innen für ihre Willenserklärung an. Eine verallgemeinerbare Dogmatik zur Anwendung der Vermutung entwickelt der Beirat ausdrücklich zwar erst in der zweiten Dekade seiner Empfehlungspraxis, doch fügen sich auch die Fälle der ersten zehn Jahre gelungen in diese Dogmatik ein. Diese allgemeinen Anforderungen an die Entziehung durch Rechtsgeschäft sollen hier vorangestellt werden, um den Weg für die nachfolgende Untersuchung der einzelnen Rechtsgeschäftsformen zu ebnen. Der Beirat führt abstrakt aus, dass er bei verfolgten Personen ungeachtet des ­grundsätzlich privatautonomen Charakters von Rechtsgeschäften »nur in sehr engen Fällen eine Ausnahme« vom Kausalzusammenhang macht. Angesichts der Vermutungsregel aus dem Rückstellungsrecht sei »eine Entziehung auch dann verwirklicht, wenn das Rechtsgeschäft im Zusammenhang mit der Verfolgung eingegangen wurde, obwohl für den Verfolgten weitere Motivationen hinzugetreten sind.« Damit erfasst die Entziehung explizit nicht nur konkret erzwungene Rechts­ geschäfte unter Ausnutzung der Zwangslage der verfolgten Person, sondern auch rechts­ geschäftliche Verluste ohne spezifisch ausgeübten Druck, die infolge der allgemeinen Bedrohungslage eingetreten sind. Eine Ausnahme vom Kausalzusammenhang kommt für den Beirat daher nur in Betracht, wenn infolge einer »differenzierten Auslegung« ein »Rechtsgeschäft im Einzelfall bloß in einem äußeren Zusammenhang mit der Verfolgung steht und dieser Zusammenhang jedoch von anderen (an sich unbedenklichen) Beweggründen überlagert ist.«1148 Auch diese abstrakte Regel illustriert folglich, dass die Verfolgung vom Beirat als entscheidendes Kriterium erachtet wird – auf nicht-verfolgte Personen wäre sie nämlich gar nicht erst anwendbar. Grundsätzlich erfolgten somit auch Rechtsgeschäfte von Verfolgten in Abhängigkeit von der nationalsozialistischen Herrschaft, es sei denn, den Rechtsgeschäften lagen überwiegend andere, »unbedenkliche« Beweggründe zugrunde. Somit sind, anders als bei Rechtshandlungen, nicht die äußeren Umstände des Verlusts, sondern die Beweggründe für die Beurteilung des Rechtsgeschäfts entscheidend. Maßgeblich ist somit das »Warum« anstelle des »Wie« – letzteres kann allerdings als Indiz für ersteres dienen. Zur Beurteilung des Kausalzusammenhangs zwischen Rechtsgeschäft und nationalsozialistischer Herrschaft rekurriert der Beirat erneut auf die Judikatur zu Restitutionen in der Nach1147 S. dazu ausführlich Rummel/Lukas/Winner, ABGB, Juli 2016, Rn. 1; Kletečka/Schauer/Mader, ABGB, März 2019, § 380 Rn. 1. 1148 Beschl. zu Karl Mayländer v. 10.06.2011, S. 5 f.; so auch Beschl. zu Oskar Reichel v. 06.12.2011, S. 5 f.; Beschl. zu Fritz Grün-

baum v. 15.10.2015, S. 7 f.; Beschl. zu Carl Heumann v. 16.03.2018, S. 5 ff.; Beschl. zu Hermine, Paul u. Hilde Wittgenstein v. 12.05.2019, S. 5 ff. In diese Richtung auch Graf, NZ 2007, 65, 72, sowie in groben Zügen ebenso jüngst angedeutet bei Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 160.

213  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

kriegszeit, die Rückstellungsrechtsprechung. Diese hat bereits besondere Fallgruppen entwickelt, bei denen das Rechtsgeschäft lediglich – nach der Terminologie des Beirats – in einem äußeren Zusammenhang mit der Verfolgung stand, also ausnahmsweise keine Entziehung darstellte. Diese Fallgruppen wurden bereits damals nicht als abschließend betrachtet,1149 im Rückstellungsrecht selbst war somit eine stete Rechtsfortbildung angelegt. Dementsprechend widerspricht die Etablierung von darüberhinausgehenden Ausnahmen durch den Beirat nicht dem bereits erläuterten Telos des KRG, die im Entziehungsbegriff des Rückstellungsrechts angelegte Privilegierung der Begünstigten nicht zu unterschreiten.1150 Sämtliche in der Empfehlungspraxis des Beirats relevanten Rechtsgeschäfte werden im Folgenden gemeinsam mit den spezifisch für ihre jeweilige Verlustform entwickelten Ausnahmen erläutert. Zuerst wird der Verkauf als wichtigste rechtsgeschäftliche Verlustform dargestellt, dem dann die Ausführungen zur Schenkung folgen. Zuletzt werden gesammelt sonstige den Rechtsgeschäften zuzuordnende Verluste untersucht. Jeweils am Abschluss dieser drei Abschnitte erfolgt eine Bewertung der dargestellten Empfehlungspraxis im Lichte der Washing­ toner Prinzipien. Da weder den Washingtoner Prinzipien noch der Theresienstädter Erklärung und den jeweiligen Entstehungsmaterialien Anforderungen an den Kausalzusammenhang bei rechtsgeschäftlichen Verlusten zu entnehmen sind, muss die Bewertung weitestgehend aus der Empfehlungspraxis selbst heraus erfolgen. Entscheidend ist damit insbesondere die Wahrung des Gleichheitssatzes. Der Beirat darf mithin durch seine juristische Beurteilung nicht wesentlich gleiche Sachverhalte ungleich behandeln oder für wesentlich ungleiche Sachverhalte gleiche Maßstäbe setzen. Daneben liegt gerade bei Rechtsgeschäften eine starke Beeinflussung durch zivilrechtliche Wertungen nahe, die es mit den Vorgaben der Washingtoner Prinzipen abzugleichen gilt. a) Der Verlust durch Verkauf

Unter sämtlichen Rechtsgeschäften im Sinne der Tatbestände aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG bildet der Verkauf, gemäß dem Kausalprinzip beruhend auf dem Kaufvertrag nach § 1053 ABGB, die bei weitem wichtigste Verlustform.1151 Dabei lässt sich aus der Empfehlungspraxis – wenn auch nicht ausdrücklich – eine Differenzierung nach zwei Verkaufskategorien ableiten: Aufgrund ihrer Nähe zum staatlichen Handeln werden zunächst die Besonderheiten bei Veräußerungen dargestellt, die auf konkret den Verkauf betreffenden, diskriminierenden Vorschriften beruhten. Der Regelfall unter den Verkäufen war jedoch der im Anschluss erläuterte Verkauf aufgrund der allgemeinen Verfolgungs- und Bedrohungslage durch das nationalsozialis­ tische Regime ohne konkret normierte Vorgaben; vereinzelt spricht der Beirat von »Notverkäufen«. Auf diese beziehen sich alle vom Beirat für den Verkauf etablierten Ausnahmen vom Kausalzusammenhang. Sowohl die Kategorisierung unter Verkäufen als auch die verschiedenen Ausnahmen von Notverkäufen werden im Anschluss an die ausführliche Untersuchung an den Vorgaben der Washingtoner Prinzipien gemessen. 1149 S. nur Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 79.

1150 S. zur Notwendigkeit eines Rekurses auf das Rückstellungsrecht unter § 7 A.II.2., S. 120.

1151 S. nur Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 27.03.2000, S. 3; Beschl. zu Josefine Winter v. 28.11.2000, S. 2; Beschl. zu Hermine

Lasus v. 28.11.2000, S. 2; Beschl. zu Gaston Belf v. 20.06.2008, S. 1 f.; Beschl. zu Max Mandl-Maldenau v. 20.11.2009, S. 2 f.; Beschl. zu Frida Gerngross v. 15.10.2015, S. 1 f.; Beschl. zu Siegfried Fuchs v. 29.06.2021, S. 2 ff.

214  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

aa) Verkäufe aufgrund diskriminierender Vorschriften

Der Beirat stellt zur Bestimmung des maßgeblichen Verlustakts stets auf die Natur des Handelns ab, sodass ebenso wie im Rückstellungsrecht1152 auch Verkäufe aufgrund diskriminierender Vorschriften des Regimes zu den rechtsgeschäftlichen Verlusten zählen. Indem der Beirat diese Verkäufe trotz ihrer staatlichen Nähe als rechtsgeschäftliche Verluste einordnet, bilden sie in dogmatischer Hinsicht eine Besonderheit unter den Rechtsgeschäften. Im Gleichklang mit den Verlusten durch staatliche Rechtshandlungen scheint der Beirat bei Verkäufen aufgrund nationalsozialistischer Vorschriften eine Unabhängigkeit von der nationalsozialistischen Herrschaft stets auszuschließen, da sich in den einschlägigen Beschlüssen kaum Ausführungen zum Kausalzusammenhang finden. Eine entsprechende Begründung des Beirats liegt gleichwohl nicht vor. Stattdessen lässt sich diese Wertung aus der Empfehlungspraxis lediglich ableiten. Interessanterweise rekurriert der Beirat zur Begründung ausnahmsweise nicht einmal auf das Rückstellungsrecht: Diesem zufolge sei bei Verkäufen, die aufgrund der antisemitischen Gesetzgebung erfolgten, »völlig irrelevant, was der Geschädigte getan hätte, wenn Österreich von der deutschen Invasion befreit geblieben wäre.«1153 Verkäufe, die auf diskriminierende, ex­ plizit den Verkauf regelnde nationalsozialistische Vorschriften zurückzuführen sind, waren somit nicht der Vermutung beziehungsweise ihrer Widerlegung zugänglich. Vielmehr stellten sie aufgrund des zwingenden Zusammenhangs stets eine Entziehung dar.1154 Sie bilden normativ also eine Art »Hybrid« zwischen dem Verlust durch Rechtshandlung und dem durch Rechtsgeschäft. Angesichts der eindeutigen Rückstellungsjudikatur ist zumindest von einer Beeinflussung des Beirats bei der Bewertung der Verkäufe aufgrund diskriminierender Vorschriften – den ›§ 14–Ablieferungen‹ und den Verkäufen durch kommissarische Verwaltung – auszugehen. (1) Verkauf aufgrund einer Ablieferungspflicht (›§ 14–Ablieferung‹) Die Verkäufe aufgrund der Ablieferungspflicht für Juwelen, Kunst- und Schmuckgegenstände, die so genannten ›§ 14–Ablieferungen‹, waren nach Ansicht des Beirats erste »Maßnahmen, mit denen die Entrechtung und Enteignung der als Jüdinnen und Juden verfolgten Personen sukzessive vorangetrieben wurden«.1155 Erstmals wird der Beirat 2002 im Beschluss zu Jacques Ziegler mit einer solchen ›§ 14–Ablieferung‹ konfrontiert.1156 Doch erst sechs Jahre später, im nächsten die ›§ 14–Ablieferungen‹ betreffenden Beschluss zu Erny und Richard Gombrich, führt der Beirat den Umfang dieser Vorschrift weiter aus.1157 Die als ›Juden‹ definierten Eheleute Erny und Richard Gombrich gaben in ihrer Vermögensanmeldung von April 1938 verschiedene Silbergegenstände an. 1942 erwarb das Museum für angewandte Kunst die verfahrensgegenständlichen Leuchter. Diese waren 1152 S. dazu instruktiv Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 84. Demgegenüber ordnet Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 164,

diese jedoch als sonstige Rechtshandlungen ein.

1153 ORK, Entscheidung v. 26.02.1949 – Rkv 67/49, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 383, S. 274 f. 1154 ORK, Entscheidung v. 19.02.1949 – Rkv 48/49, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 364, S. 245 f.;

vgl. dazu auch ORK, Entscheidung v. 29.11.1952 – Rkv 205/52; ORK, Entscheidung v. 09.05.1953 – Rkv 91, 92/53; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 81 ff.; Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 97 f., 132. 1155 Beschl. zu Alfred Kirchenberger v. 29.06.2021, S. 2 f. 1156 Beschl. zu Jacques Ziegler v. 03.12.2002, S. 2. 1157 Beschl. zu Erny u. Richard Gombrich v. 07.03.2008, S. 2.

215  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

zuvor vom Auktionshaus Dorotheum einer Rechnung zufolge als ablieferungspflichtige Gegenstände gekauft worden. Gemäß § 14 der Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens von Dezember 1938 war es als ›Juden‹ definierten Personen zunächst verboten, insbesondere Juwelen, Kunst- und Schmuckgegenstände an andere als öffentliche Verkaufsstellen zu veräußern. Zu diesen zählte für Wien das Auktionshaus Dorotheum. Ab Februar 1939 wurde der Eingriff ausgeweitet, indem eine Verpflichtung zur Ablieferung der besagten Gegenstände bei den Verkaufsstellen eingeführt wurde. Mithin konnten als ›Juden‹ definierte Personen ab diesem Zeitpunkt nicht mehr selbst darüber entscheiden, ob sie einen Verkauf der Objekte beabsichtigten.1158 Selbst, wenn der Verlust durch einen Verkauf erfolgte, bestand stets ein innerer Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft, da die Ablieferungspflicht keinen Raum für von der Verfolgung losgelöste andere, »unbedenkliche« Beweggründe ließ. Dies sind die einzigen Verkäufe, die der Beirat ausdrücklich als »Zwangsverkäufe« bezeichnet.1159 (2) Verkauf durch die kommissarische Verwaltung Der Verkauf durch eine staatlich eingesetzte, kommissarische Verwaltung betraf insbesondere Vermögen aus ›arisierten‹ Unternehmen, sodass sich die Untersuchung von Verkäufen durch eine kommissarische Verwaltung auf mit Kulturgütern handelnde Unternehmen beschränkt. Die zur kommissarischen Verwaltung bestellte Person war zu sämtlichen Rechtshandlungen befugt, ohne dass es einer Bevollmächtigung durch die Eigentümer:innen bedurfte.1160 Erstmals setzt sich der Beirat im Beschluss zu Abraham und Elkan Silbermann mit der kommissarischen Verwaltung auseinander. Die Brüder Elkan und Abraham Silbermann waren Eigentümer der Kunsthandlung »E. & A. Silbermann« in Wien. Da sie als ›Juden‹ definiert wurden, befand sich ihre Kunsthandlung ab August 1938 unter kommissarischer Verwaltung. Im Oktober 1938 kontaktierte eine Kunsthändlerin den kommissarischen Verwalter der Kunsthandlung Silbermann. Dieser hatte sich bereiterklärt, das verfahrensgegenständliche Gemälde für eine Ausstellung zur Verfügung zu stellen. Im Dezember 1938 schrieb die Kunsthändlerin, dass sie einen Interessenten gefunden habe und erwarb daraufhin das Gemälde. Im Januar 1939 überwies die Österreichische Galerie Belvedere der Kunsthändlerin den Kaufpreis für das Gemälde. In diesem Beschluss führt der Beirat an, dass die »Stellung der Kunsthandlung von Elkan und Abraham Silbermann unter kommissarische Verwaltung gemäß dem Gesetz über die Bestel-

1158 Beschl. zu Erny u. Richard Gombrich v. 07.03.2008, S. 1 f.; s. dazu ausführlich Brückler, in: ders. (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 13,

15; Lütgenau et al., Dorotheum, 2006, S. 152 ff.

1159 Beschl. zu Erny u. Richard Gombrich v. 07.03.2008, S. 2; Beschl. zu Elise u. Erich Müller v. 07.03.2008, S. 1 f.; Beschl. zu

Hermine Schütz v. 07.03.2008, S. 2; Beschl. zu Samuel u. Gittel Bauer v. 20.11.2009, S. 2; Beschl. zu Emil Iwnicki v. 19.03.2010, S. 2; Beschl. zu Anna Kutscher v. 19.03.2010, S. 2; Beschl. zu Isak Wunderlich v. 22.09.2010, S. 2. 1160 Vgl. Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 119; Eintrag zur Vermögensverkehrsstelle im Lexikon der Provenienzforschung, abrufbar unter: https://www.lexikon-provenienzforschung.org/vermoegensverkehrsstelle. Ausführlich zur Person des ›Kommissarischen Verwalters‹ s. Witek, in: Forum Politische Bildung (Hrsg.), Wieder gut machen?, 1999, S. 8, 12.

216  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

lung von kommissarischen Verwaltern und kommissarischen Überwachungspersonen […] und die daraus folgenden, durch den kommissarischen Verwalter vorgenommenen Veräußerungen« Entziehungen darstellen. Er betrachtet also sowohl die Bestellung der Verwaltung als auch die Veräußerung durch den Verwalter als Entziehungen.1161 An dieser Formulierung zeigt sich die bereits im Rahmen der ›§ 14–Ablieferungen‹ anklingende Schwierigkeit der Einordnung von staatlich vorgeschriebenen rechtsgeschäftlichen Verlusten: Zum einen wurde die kommissa­ rische Verwaltung gesetzlich angeordnet, zum anderen führte sie durch die Liquidation den Verlust des konkreten Kulturguts erst durch Rechtsgeschäft herbei. Angesichts des faktischen Verlusts der Verfügungsmacht lässt sich durchaus vertreten, dass bereits die Anordnung einer kommissarischen Verwaltung eine Entziehung – dann aber durch Rechtshandlung – darstellt. Diese Alternativität der Anknüpfungspunkte lehnte die Rückstellungsrechtsprechung noch ab.1162 Der Beirat scheint dieser gegenüber indes offener eingestellt zu sein:1163 So bezieht er sich auch im Beschluss zu Theodor Sternberg betreffend Musikinstrumente aus seiner ›arisierten‹ Musikalienhandlung auf beide Handlungen.1164 In anderen Beschlüssen rekurriert er demgegenüber tendenziell, wie auch die Nachkriegsrechtsprechung, auf das von der kommissarischen Verwaltung getätigte Rechtsgeschäft.1165 Welche Handlung maßgeblich ist, muss daher zwar offenbleiben. In jedem Fall geht der Beirat aber bei den hier als Rechtsgeschäfte zu untersuchenden Verkäufen durch eine vom nationalsozialistischen Regime eingesetzte kommissarische Verwaltung nicht ausdrücklich auf den Kausalzusammenhang des Verlusts mit der national­sozialistischen Herrschaft ein.1166 Bei Verkäufen durch eine kommissarische Verwaltung bleibt für den Beirat also kein Raum für eine Widerlegung der Entziehungsvermutung. Denn auch dieser Verkauf, der zumeist im Zusammenhang mit der ›Arisierung‹ eines Unternehmens erfolgte, konnte zwangsläufig nicht in einem bloß äußeren Zusam­menhang mit der Verfolgung stehen. bb) Notverkäufe aufgrund des allgemeinen Verfolgungsdrucks

Die vom Beirat als »Notverkäufe«1167 bezeichneten Verkäufe aufgrund des sich auch finanziell auswirkenden, allgemeinen Verfolgungsdruckes bilden die typische Form des rechtsgeschäftlichen Verlusts. Dementsprechend hat der Beirat eine umfassende Empfehlungspraxis zu Notverkäufen entwickelt, die regelmäßig auf das Rückstellungsrecht rekurriert.1168 Im Gegensatz zu 1161 Beschl. zu Abraham u. Elkan Silbermann v. 11.09.2009, S. 2.

1162 ORK, Entscheidung v. 26.02.1949 – Rkv 67/49, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 383, S. 274;

1163

1164

1165 1166

1167 1168

ORK, Entscheidung v. 29.11.1952 – Rkv 205/52; ORK, Entscheidung v. 09.05.1953 – Rkv 91, 92/53; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 81; Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 132; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 84, 119. Beschl. zu Abraham u. Elkan Silbermann v. 11.09.2009, S. 2. Beschl. zu Theodor Sternberg v. 15.04.2011, S. 2. Beschl. zu Gustav u. Claire Kirstein v. 23.01.2001, S. 2; Beschl. zu Ignatz Pick v. 01.10.2001, S. 2; Beschlüsse zu Wilhelm Bermann v. 21.11.2008, S. 3 u. 25.09.2020, S. 5; Beschl. zu Rudolf Mosse v. 16.03.2018, S. 2. Beschl. zu Valerie Eisler v. 26.06.2000, S. 2; Beschl. zu Wilhelm Bermann v. 21.11.2008, S. 3; Beschl. zu Theodor Sternberg v. 15.04.2011, S. 2. Im Beschluss zu Ignatz Pick v. 01.10.2001, S. 2, findet sich ausnahmsweise der Verweis auf die Vermutungsregel, der aber wohl auf den Umstand zurückzuführen ist, dass es sich im konkreten Fall anstatt des Unternehmensvermögens auch um das Privatvermögen Picks handeln könnte. Beschl. zu Hermine Lasus v. 28.11.2000, S. 3; Beschl. zu Amalie Zuckerkandl/Ferdinand Bloch-Bauer v. 29.06.2005, S. 3. Die Bezeichnung scheint sich aber nicht durchgesetzt zu haben. Bereits in der Nachkriegszeit kritisch zur Erfassung von Verkäufen aufgrund des allgemeinen Verfolgungsdrucks, s. Loeb, ÖJZ 1947, 364, 368 f.

217  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

Verkäufen aufgrund diskriminierender Vorschriften nimmt der Beirat bei Notverkäufen nicht immer, sondern nur grundsätzlich einen Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft an. Entsprechend der für Rechtsgeschäfte entwickelten Empfehlungspraxis konnte also lediglich ein äußerer Zusammenhang mit der Verfolgung bestehen, wenn diese von »unbedenklichen«, anderen Beweggründen überlagert wurde. Dabei können äußere Umstände den Kausalzusammenhang nicht widerlegen, sondern höchstens als Indizien für die »unbedenklichen« Beweggründe dienen. Diese unerheblichen, äußeren Umstände sind vorab zu erläutern, bevor auf die verschiedenen Ausnahmen eingegangen wird. (1) Keine Ausnahme aufgrund der äußeren Umstände Gewisse äußere Umstände werden vom Beirat bei Notverkäufen explizit als irrelevant für den Kausalzusammenhang betrachtet. Dazu gehören die Verkaufsinitiierung durch die Eigentümer:in­ nen, der Erhalt eines angemessenen Kaufpreises sowie die Zuordnung der Erwerber:innen zum nationalsozialistischen Regime. Im Beschluss zu Livia und Otto Brill äußert sich der Beirat erstmals ausdrücklich zur Bedeutung sowohl der Verkaufsinitiierung durch die Eigentümer:innen als auch des Erhalts eines angemessenen Kaufpreises. Im Juli/August 1938 verkauften die als ›Juden‹ definierten Eheleute Livia und Otto Brill verschiedene Zeichnungen an die Albertina, bevor sie im September 1938 flüchteten. Der Kaufpreis wurde von der Albertina als »sehr gering« und »sehr vorteilhaft« und der Ankauf als »günstige Gelegenheit« bezeichnet. Für den Beirat ist zum einen explizit unerheblich, dass das Ehepaar den Verkauf selbst initiiert hat, zum anderen misst der Beirat insbesondere dem Erhalt eines Kaufpreises keinerlei Bedeutung zu, selbst wenn dieser – anders als vermutlich im vorliegenden Fall – angemessen gewesen wäre.1169 Daher scheint die Tatsache, dass er in manchen Beschlüssen dezidiert auf besonders niedrige Kaufpreise oder geringe Einflussmöglichkeiten auf den Kaufpreis hinweist,1170 nicht einer juristischen Notwendigkeit, sondern eher dem Wunsch nach Vollständigkeit der Sachverhaltsangaben geschuldet zu sein. Der Beirat begründet die in der Empfehlungspraxis1171 konsistent vertretene Unerheblichkeit dieser beiden Umstände nicht näher. Dies ist vermutlich auf die Eindeutigkeit des von ihm zitierten Rückstellungsrechts zurückzuführen: Weder die Verkaufsinitiierung noch die Angemessenheit des Kaufpreises – selbst bei Überdurchschnittlichkeit – konnten damals gegen die Entziehung angeführt werden.1172 Letzteres wurde in der Nachkriegszeit damit begründet, dass die Angemessenheit des Kaufpreises 1169 Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 27.03.2000, S. 4.

1170 Beschl. zu Max Roden v. 01.06.2007, S. 2; Beschl. zu Stefan Poglayen-Neuwall v. 02.03.2012, S. 4.

1171 Vgl. nur Beschl. zu Valerie Eisler v. 26.06.2000, S. 2; Beschl. zu Josefine Winter v. 28.11.2000, S. 2; Beschl. zu Wilhelm Freund

v. 30.10.2002, S. 3; Beschl. zu Richard Abeles v. 27.01.2004, S. 2; Beschl. zu Heinrich Rieger v. 25.11.2004, S. 3; Beschl. zu Stift Heiligenkreuz v. 23.01.2009, S. 1; Beschl. zu Stefan Poglayen-Neuwall v. 02.03.2012, S. 4; Beschl. zu Adella Feuer v. 08.03.2013, S. 2; Beschl. zu Carl Heumann v. 16.03.2018, S. 5; Beschl. zu Gertrude Felsövanyi v. 12.04.2019, S. 5; Beschl. zu Saul Juer v. 29.11.2022, S. 5. 1172 ORK, Entscheidung v. 21.01.1948 – Rkv 7/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 17, S. 61; Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 188; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 61 ff.; Graf, NZ 2007, 65, 70; Jungwirth, in: Gschiel et al. (Hrsg.), Schneidern, 2010, S. 249, 257 f. Der angemessene Kaufpreis konnte jedoch im Rahmen des § 5 Abs. 2 und § 6 Abs. 1 3. RStG, also der Gegenansprüche der Erwerber:innen, angeführt werden. Zudem konnte er zumindest bei nicht-verfolgten Personen den Kausalzusammenhang widerlegen, § 2 Abs. 2 3. RStG.

218  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

mangels »Freiheit des Veräußerungswillens« von der nationalsozialistischen Herrschaft nicht »geeignet [sei], der Veräußerung den Charakter der Entziehung zu nehmen«.1173 Entscheidend waren mithin allein die »unfreien« Beweggründe zum Verkauf, nicht aber dessen konkrete Bedingungen. Ebenso wenig bezieht der Beirat andere äußere Umstände verschärfend in die Bewertung des Kausalzusammenhangs bei Rechtsgeschäften ein: So wird etwa – wenn auch nicht ausdrücklich – der Zuordnung der Erwerber:innen zur Sphäre des nationalsozialistischen Regimes keinerlei Bedeutung zugemessen; weder, wenn der Erwerb für den ›Sonderauftrag Linz‹ erfolgte,1174 noch, wenn der Erwerber Wehrmachtssoldat war.1175 Dass all diese Faktoren keine Unabhängigkeit oder besondere Abhängigkeit des Verkaufs von der nationalsozialistischen Herrschaft begründen können, entspricht der vom Beirat entwickelten Dogmatik, dass grundsätzlich ein Kausalzusammenhang besteht, es sei denn die Verfolgung wird von anderen Beweggründen überlagert. Die dargestellten Umstände bilden aber als äußere Faktoren keine Beweggründe, sondern können höchstens als deren Indizien dienen. (2) Ausnahmen aufgrund der »unbedenklichen« Beweggründe Der Beirat hat vier Ausnahmen vom Kausalzusammenhang für »Notverkäufe« entwickelt, die allesamt auf überwiegende »unbedenkliche« Beweggründe zurückzuführen sind. Teils orientieren sie sich am Rückstellungsrecht: Darunter fallen die beiden Ausnahmen für Verkäufe aufgrund vor der nationalsozialistischen Herrschaft eingeleiteter Verkaufsverhandlungen oder zuvor begründeter, wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Da die in der Rückstellungsjudikatur regel­ mäßig herangezogenen Ausnahmen des Kausalzusammenhangs jedoch nicht abschließend waren, entwickelt der Beirat auch über die etablierten Regelungen hinausgehende Ausnahmen. Unter diese »neuen« Ausnahmen sind Fälle zu fassen, in denen der Verkauf überwiegend zur Gegenfinanzierung anderer Erwerbungen oder zur Fortsetzung der Sammeltätigkeit erfolgte. (a) Zuvor eingeleitete Verkaufsverhandlungen Die Ausnahme vom Kausalzusammenhang durch vor der nationalsozialistischen Herrschaft eingeleitete Verkaufsverhandlungen wurde bereits in den Gesetzesmaterialien des Nachkriegsrechts erwähnt.1176 Die Rückstellungsrechtsprechung nahm dann eine umfassende Konkretisierung vor: Demnach wurde für eine Ablehnung des Kausalzusammenhangs zwischen Verkauf und nationalsozialistischer Herrschaft als ausreichend erachtet, dass der Verkauf bereits zuvor ernsthaft beabsichtigt wurde und schließlich zu den gleichen oder ähnlichen Bedingungen erfolgte, die bereits Gegenstand der Verhandlungen waren.1177 1173 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 93; Bailer-Galanda, Entstehung, 2003, S. 100; Jungwirth, NS-Restitu-

tionen, 2008, S. 44 f.

1174 Beschl. zu Marianne Nechansky v. 09.05.2008, S. 2 f.; Beschl. zu Hermann Eissler v. 24.06.2009, S. 19 f.; Beschl. zu Serena

Lederer v. 02.03.2012, S. 2 f.

1175 Beschl. zu Adelheid Beer v. 03.07.2015, S. 2.

1176 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 244, V. GP, in: Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947,

S. 146.

1177 ORK, Entscheidung v. 11.09.1948 – Rkv 111/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 120,

S. 249 f.; ORK, Entscheidung v. 11.09.1948 – Rkv 113/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 122, S. 254; Neuburg, Kommentar, 1949, S. 32 f.; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 80; Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 53 ff.; Simma/Folz, Restitution, 2004, S. 358.

219  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

Die Verkaufsabsichten wurden als ernsthaft betrachtet, wenn sie sich vorherigen, konkreten Verhandlungen entnehmen ließen.1178 Gelegentliche, unverbindliche Absichtsbekundungen hinsichtlich eines Verkaufs ohne konkrete zeitliche und inhaltliche Vorgaben reichten für eine Ausnahme vom Kausalzusammenhang demgegenüber nicht aus.1179 Dies galt besonders, wenn sie geäußert wurden, »als die bevor­stehenden Ereignisse schon ihre Schatten voraus­ warfen«1180 – sich also der Beginn der national­sozialistischen Herrschaft bereits abzeichnete. Bei den Konditionen kam es insbesondere darauf an, dass die Zahlungsbedingungen beim Erwerb nicht mehr so modifiziert wurden, dass eine nicht-verfolgte Person zu diesen Konditionen den Gegenstand nie verkauft hätte.1181 Dieser gefestigten, engen Auslegung der Rückstellungsjudikatur schließt sich der Beirat ausdrücklich bereits zu Beginn seiner Empfehlungspraxis an. Unter Verweis auf die einschlägigen Urteile führt er aus, dass eine Unabhängigkeit des Verkaufs von der nationalsozialistischen Herrschaft bestehe, wenn bereits vorher »Vertragsverhandlungen zu vergleichbaren wirtschaft­ lichen Bedingungen« stattgefunden hatten.1182 Erstmals wurde 2004 eine Entziehung im Beschluss zu Rudolf Gutmann aufgrund von 1937 in Österreich eingesetzten Vertragsverhandlungen abgelehnt. Allerdings führt der Beirat die Ablehnung nicht weiter aus, etwa durch Rekurs auf das Rückstellungsrecht.1183 Im Beschluss zu Mathilde Strnad konkretisiert der Beirat dann die Ausnahme der vorherigen Vertragsverhandlungen: Zwar habe Strnad nach Ansicht des Beirats eindeutig schon vor Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft einen Verkauf der verfahrensgegenständlichen Archivalien beabsichtigt; sie habe sogar bereits einen Vorvertrag abgeschlossen. Nichtsdestotrotz liege eine Entziehung vor, da der anschließende Verkauf zu einem anderen als dem zuvor vereinbarten Preis erfolgt und nicht davon auszugehen sei, dass Strnad zu diesem Preis auch ohne die nationalsozialistische Herrschaft verkauft hätte.1184 Im Einklang mit dem Rückstellungsrecht – wenngleich der Beirat es auch hier nicht zitiert – reichen somit konkrete vorherige Verkaufsverhandlungen allein, selbst im Falle eines Vorvertrages, für eine Ausnahme vom Kausalzusammenhang nicht aus. Vielmehr muss der spätere Verkauf zu den gleichen oder ähnlichen, zumindest aber nicht schlechteren, Konditionen wie zuvor verhandelt erfolgt sein. Während mithin im Beschluss zu Mathilde Strnad bereits konkrete Vertragsverhandlungen geführt wurden, sogar ein Vorvertrag abgeschlossen wurde, mangelt es im Beschluss zu Betty Blum von 2016 schon an den ausreichend konkretisierten vorherigen Verkaufsverhandlungen. Dem Ehepaar Noe und Betty Blum gehörte seit 1913 eine Kunsthandlung in München. Da sie als ›Juden‹ definiert wurden, flüchteten sie aus dem Deutschen Reich nach 1178 ORK, Entscheidung v. 03.12.1949 – Rkv 307/49, JBl 1950, 42, 42; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 80; Meissel et al.,

Verfahren, 2003, S. 97 f.; Graf, NZ 2007, 65, 70.

1179 ORK, Entscheidung v. 11.09.1948 – Rkv 117/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 126, S. 265;

Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 80.

1180 ORK, Entscheidung v. 19.06.1948 – Rkv 83/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 92, S. 194 f.;

1181

1182

1183

1184

ORK, Entscheidung v. 08.01.1949 – Rkv 207/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 297, S. 117; Simma/Folz, Restitution, 2004, S. 358. ORK, Entscheidung v. 19.02.1949 – Rkv 48/49, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 364, S. 245. Vgl. nur Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 27.03.2000, S. 4; Beschl. zu Valerie Eisler v. 26.06.2000, S. 2; Beschl. zu Heinrich Rieger v. 25.11.2004, S. 3; so auch Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 11; Beschl. zu Josef Blauhorn v. 03.05.2013, S. 3. Beschl. zu Rudolf Gutmann v. 22.06.2004, S. 3. Beschl. zu Mathilde Strnad v. 21.11.2008, S. 3 f.

220  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

Wien; dort betrieb Betty Blum sodann eine Altwarenhandlung. Im Januar 1938 bot sie der Albertina die verfahrensgegenständlichen Blätter zum Verkauf an. Anfang Februar 1938 holte die Albertina noch Erkundigungen über den Urheber dieser Blätter ein. Im Oktober 1938, also nach dem ›Anschluss‹, beantragte die Albertina bei dem zuständigen Ministerium die Ermächtigung zum Erwerb der Blätter. Weiterer Schriftverkehr zum Ankauf ist nicht bekannt. Diesmal geht der Beirat unter ausdrücklichem Verweis auf die Rückstellungsrechtsprechung1185 trotz des vorherigen Angebots von einem Kausalzusammenhang aus. Zwar bot Blum die verfahrensgegenständlichen Blätter bereits im Januar 1938 an, sodass schon zu diesem Zeitpunkt eine konkrete Verkaufsabsicht bestand. Da das Museum jedoch noch im Februar 1938 – also vor dem ›Anschluss‹ – Erkundigungen zum Urheber der Blätter einholte, schließt der Beirat aus, dass bereits bei der Vorlage der Blätter die konkreten Bedingungen des Ankaufs, insbesondere der Kaufpreis, bestimmt worden waren. Unter Verweis auf die Rückstellungsrechtsprechung stellen dem Beirat zufolge von verfolgten Personen abgeschlossene Rechtsgeschäfte nur ausnahmsweise keine Entziehung dar. Dies sei beispielsweise der Fall, »wenn nachgewiesen werden kann, dass die bereits begonnen Verhandlungen nach dem ›Anschluss‹ zu keinem für den Verfolgten ungünstigeren Abschluss führten«. Zudem sei zu bedenken, dass bereits die Rückstellungsjudikatur anerkannt hatte, dass die Verkaufsabsicht einer verfolgten Person kurz vor Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft unter Einfluss dieser Entwicklung stehen konnte. Dies gelte verstärkt, da die Familie Blum bereits im Deutschen Reich verfolgt wurde.1186 Die aus dem Rückstellungsrecht abgeleiteten, engen Voraussetzungen einer Ausnahme vom Kausalzusammenhang liegen für den Beirat somit auch hier nicht vor. Die Verfolgung wird demnach von »unbedenklichen« Beweggründen so überlagert, dass nur dann noch ein äußerer Zusammenhang zwischen Verkauf und Verfolgung besteht, wenn einerseits eine konkrete Verkaufsabsicht vorlag und andererseits der Vertragsabschluss nach dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft zu den gleichen oder vergleichbaren, jedenfalls nicht ungünstigeren, Bedingungen als zuvor verhandelt erfolgte.1187 Die Identität der Verkaufsbedingungen setzt nach Auswertung der Empfehlungspraxis letztlich eine so weitreichende Konkretisierung der vertraglichen Verpflichtungen voraus, dass neben den Kaufparteien und dem Kaufgegenstand bereits der Kaufpreis, und damit alle essentialia negotii, festgelegt werden mussten. Somit ist ein beinahe abgeschlossenes Verpflichtungsgeschäft für eine Ausnahme vom Kausalzusammenhang bei Verkäufen erforderlich. Aufgrund dieses engen Verständ­nisses ist die Abgrenzung zum vollständigen Vertrag also schwierig. (b) Zuvor begründete wirtschaftliche Schwierigkeiten Eine weitere aus der Rückstellungsrechtsprechung stammende Ausnahme vom Kausalzusammenhang zwischen Verkauf und nationalsozialistischer Herrschaft liegt in bereits vor der natio­ nalsozialistischen Herrschaft begründeten wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Angesichts der schwierigen ökonomischen Lage zu Beginn der 1930-er Jahre beriefen sich viele Erwerber:innen 1185 ORK, Entscheidung v. 19.06.1948 – Rkv 83/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 92, S. 194 f. 1186 Beschl. zu Betty Blum v. 05.10.2016, S. 2 f.

1187 Eine Auseinandersetzung mit vorherigen Verkaufsabsichten und Vertragsverhandlungen im Falle nicht-verfolgter Personen,

wie in den Beschlüssen zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011 u. zu Carl Reininghaus v. 01.04.2016, erfolgt hier ausdrücklich nicht.

221  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

in der Nachkriegszeit auf diesen Grund für einen von der nationalsozialistischen Herrschaft unabhängigen Verkauf.1188 Die Rückstellungsjudikatur legte indes auch diese Ausnahme eng aus, sodass die bloße Verschuldung vor der nationalsozialistischen Herrschaft noch nicht zu einer Ablehnung des Kausalzusammenhangs führen konnte.1189 Eine Unabhängigkeit von der nationalsozialistischen Herrschaft erforderte vielmehr eine »jede Zweifel ausschließende Gewissheit«, dass aufgrund der Aussichtslosigkeit der finanziellen Notlage ihre Überwindung auch ohne die nationalsozialistische Herrschaft nur durch den Verkauf des konkreten Vermögens möglich gewesen wäre.1190 Eine solche Aussichtslosigkeit nahm die Rückstellungsrechtsprechung insbesondere bei vorherigen Versuchen der Gläubiger:innen zur Tilgung der Schulden durch Klagen oder Vollstreckungsmaßnahmen an.1191 Rein passives Verhalten stellte demgegenüber ein Indiz für deren Vertrauen in die baldige Tilgung – und damit für den Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft – dar.1192 Auch diese Ausnahme findet unter Verweis auf die Rückstellungsrechtsprechung Niederschlag in der Empfehlungspraxis des Beirats: Denn er nimmt eine Unabhängigkeit des Verkaufs von der nationalsozialistischen Herrschaft an, wenn sich die ursprünglichen Eigentümer:innen in einer »aussichtslosen finanziellen Lage« befanden.1193 Dabei müssen konkrete Anhaltspunkte für die Aussichtslosigkeit vorliegen.1194 Erstmals im Beschluss zu Ferdinand Bloch-Bauer von 2004 nennt der Beirat vorherige wirtschaftliche Schwierigkeiten ausdrücklich als Argument gegen eine Entziehung.1195 Welche Anhaltspunkte für diese finanzielle Notlage vorliegen müssen, konkretisiert er jedoch erst im Beschluss zu Alma Mahler-Werfel von 2006 unter Rekurs auf die Rückstellungsrechtsprechung. Demnach sei für eine Ablehnung des Kausalzusammenhangs mit der nationalsozialistischen Herrschaft der Nachweis einer »so ungünstigen Wirtschaftslage des Verkäufers gefordert, derzufolge [sic] eine Vermeidung seines finanziellen Zusammenbruchs als völlig aussichtslos erklärt werden musste.« Eine solche Aussichtslosigkeit lehnt der Beirat jedoch für Mahler-Werfel ab, da ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten noch »nicht so gravierend [waren], wie von der herrschenden Rechtsprechung […] als erforderlich angesehen« wurde. Zudem habe keine Notwendigkeit für den Verkauf des verfahrensgegenständlichen Gemäldes bestanden, vielmehr sei auch die Verwertung anderer Vermögenswerte möglich gewesen.1196 1188 Bailer-Galanda, Entstehung, 2003, S. 180.

1189 ORK, Entscheidung v. 12.06.1948 – Rkv 77/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 86, S. 183;

1190

1191

1192

1193 1194 1195

1196

ORK, Entscheidung v. 12.02.1949 – Rkv 27/49, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 343, S. 204; ORK, Entscheidung v. 24.01.1953 – Rkv 224/52; Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 184. ORK, Entscheidung v. 25.09.1948 – Rkv 158/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 167, S. 366; ORK, Entscheidung v. 05.02.1949 – Rkv 18/49, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 334, S. 182; vgl. auch ORK, Entscheidung v. 23.12.1948 – Rkv 206/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 296, S. 114; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 82; Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 99. Kritisch: Neuburg, Kommentar, 1949, S. 30 f. ORK, Entscheidung v. 12.06.1948 – Rkv 77/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 86, S. 183; ORK, Entscheidung v. 25.09.1948 – Rkv 158/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 167, S. 366; Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 97 ff.; Simma/Folz, Restitution, 2004, 358. ORK, Entscheidung v. 25.09.1948 – Rkv 158/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 167, S. 366. Vgl. nur Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 27.03.2000, S. 4; Beschl. zu Valerie Eisler v. 26.06.2000, S. 2; Beschl. zu Heinrich Rieger v. 25.11.2004, S. 3. Vgl. Beschl. zu Henri u. Pauline Grünzweig v. 18.08.2000, S. 2 f. Beschl. zu Ferdinand Bloch-Bauer v. 25.11.2004, S. 2. Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 11.

222  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

Außer dem Beschluss zu Alma Mahler-Werfel, hat auch der Beschluss zu Rudolf Mosse von 2018 bereits zuvor bestehende, wirtschaftliche Schwierigkeiten zum Gegenstand. Der Berliner Unternehmer und Gründer des Verlagshauses Mosse, Rudolf Mosse, war Eigentümer einer der größten Kunstsammlungen Berlins vor 1933. Bekannt war er insbe­ sondere als Herausgeber der Tageszeitung Berliner Tageblatt, eine der größten liberalen Tageszeitungen Deutschlands. Nach seinem Tod 1920 übernahm sein Schwiegersohn, Hans Lachmann-Mosse, das Unternehmen. Aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten wurde 1932 das Konkursverfahren für das Unternehmen eingeleitet. Diese Schwierigkeiten waren zum einen in der Weltwirtschaftskrise sowie zum anderen in der politischen Ausrichtung des Berliner Tageblatt als ausdrücklich gegen antidemokratische und antisemitische Kräfte gerichtete liberale Tageszeitung begründet. Das Verlagshaus des als ›Jude‹ definierten Lachmann-Mosse wurde zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft ›gleichgeschaltet‹ und im April 1933 wurde die Rudolf Mosse Stiftungs-GmbH gegründet. Diese sollte das Vermögen des Unternehmens verwalten und die verbliebenen Gläubiger:innen befriedigen, der Restgewinn sollte über das Reichsarbeitsministerium an Veteran:innen des Ersten Weltkrieges ausgezahlt werden. Über die Stiftungs-GmbH und die Unternehmens-OHG wurde ein Vergleichsverfahren eröffnet. Im Januar 1934 schlossen die Gesellschaften und das Ehepaar LachmannMosse mit der zuvor gegründeten Rudolf Mosse Treuhandverwaltungs-GmbH, deren Anteilseigner das Deutsche Reich war, einen Treuhandvertrag ab. Demzufolge stellte das Ehepaar Lachmann-Mosse der Treuhandverwaltungs-GmbH sein gesamtes Vermögen zwecks Veräußerung zur Verfügung, darunter auch die Kunstsammlung. Im Mai 1934 wurde im Auftrag der Treuhandverwaltungs-GmbH die Kunstsammlung Mosse in Berlin versteigert, darunter auch das verfahrensgegenständliche Gemälde. Dieses wurde im August 1941 von der Österreichischen Galerie Belvedere im Zuge eines Tauschgeschäfts übernommen. Der Beirat betrachtet in diesem Beschluss die Veräußerung des Gemäldes im Wege der Versteigerung in Berlin als maßgebliches Rechtsgeschäft.1197 Bei der rechtlichen Beurteilung des Verkaufs zieht er, anders als im Beschluss zu Alma Mahler-Werfel, nicht die Rückstellungsrechtsprechung explizit zur Konkretisierung der Unabhängigkeit von der nationalsozialistischen Herrschaft heran. Eine Diskussion, ob das Gemälde auch ohne die nationalsozialistische Herrschaft aufgrund einer Aussichtslosigkeit der finanziellen Lage seit 1932 verkauft worden wäre, findet daher nicht ausdrücklich statt. Jedenfalls erkennt der Beirat, dass sich das Unternehmen bereits vor der nationalsozialistischen Herrschaft in Schwierigkeiten befand, die Gründung der Rudolf Mosse StiftungsGmbH sowie der Treuhandverwaltung jedoch gezielt der Zerstörung des Unternehmens und der Entziehung des Vermögens dienten. Die nach der Flucht der Eheleute Lachmann/Lach1197 Angesichts der Übertragung des gesamten Vermögens durch Lachmann/Lachmann-Mosse auf die Treuhandverwaltungs-

GmbH könnte auch bereits der sogenannte Treuhandvertrag als das den Verlust begründende Rechtsgeschäft diskutiert werden. Zudem könnte es sich dabei auch um einen Vergleich im Sinne des § 1380 ABGB handeln, dafür finden sich im Beschluss aber keine ausreichenden Sachverhaltsinformationen, vgl. Beschl. zu Rudolf Mosse v. 16.03.2018, S. 2. Demgegenüber stellt der Beirat im Beschl. zu Otto Feist v. 03.05.2013, S. 3 f., ausdrücklich auf den Vergleichsvertrag ab, s. dazu unter § 7 F.II.2.c)cc), S. 244.

223  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

mann-Mosse eingeleiteten Maßnahmen, darunter die Versteigerung der Kunstsammlung, seien daher nicht auf die vorherigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zurückzuführen, sondern vielmehr »von der Absicht einer NS-Durchdringung und ›Ari­sierung‹ des Vermögens getragen« worden.1198 Zwar erweckt die Nennung der »Absicht einer NS-Durchdringung« den Eindruck, es komme auch auf eine subjektive Komponente auf Seiten des Regimes an. Entscheidend ist jedoch offenbar vielmehr, wie bereits im Beschluss zu Alma Mahler-Werfel angedeutet, dass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten ohne die nationalsozialistische Herrschaft nicht zwingend auch zu einem Verlust des konkreten Kulturguts geführt hätten, sondern auch ohne Zugriff auf das Kulturgut hätten beglichen werden können. Die im Rückstellungsrecht geforderte Aussichtslosigkeit der finanziellen Lage hätte also den Verlust des konkreten Kulturguts bedeuten müssen, um eine Unabhängigkeit von der nationalsozialistischen Herrschaft zu begründen.1199 Nur wenn solch eine zuvor begründete Aussichtslosigkeit bestand, liegt lediglich ein äußerer Zusammenhang des Verkaufs mit der Verfolgung vor, da diese von der zuvor entstandenen, finanziellen Problemlage überlagert wurde. In diesen Fällen bestand also zwar ein äußerer Zusammenhang aufgrund des zeitlichen Rahmens der Verfolgung im Nationalsozialismus, der Verkauf von Kulturgütern war (und ist) jedoch eine übliche Vorgehensweise zur Überwindung wirtschaftlich bedingter Notlagen und unter dieser Voraussetzung sodann keine Entziehung. (c) Gegenfinanzierung anderer Erwerbungen Im Beschluss zu Adolf Proksch findet sich eine weitere Ausnahme des Kausalzusammenhangs für Verkäufe durch verfolgte Personen, die sich jedoch nicht unter die etablierten Ausnahmen des Rückstellungsrechts subsumieren lässt. Der Beirat lehnt hier eine Abhängigkeit von der nationalsozialistischen Herrschaft ab, da der Verkauf zur Gegenfinanzierung anderer Erwerbun­ gen erfolgt sei. Wenngleich diese Ausnahme nicht zu den etablierten Ausnahmen des Rückstellungsrechts zu zählen ist, liegt dort jedenfalls auch ihr Ursprung: Denn die Rückstellungsjudikatur hatte bereits die Rückgabe dreier Kunstwerke aus der Sammlung Proksch mangels Entziehungscharakters abgelehnt. Der Beschluss illustriert mithin, dass bereits die Rückstellungsjudikatur auf den Einzelfall abgestimmte Ausnahmen herausgebildet hatte. Adolf Proksch wurde als ehemaliger Anhänger des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes nach dem ›Anschluss‹ im Zuge des ›Prominententransportes‹ im Konzentrationslager Dachau bis Januar 1939 inhaftiert. Bereits im Juli 1939 wurde er jedoch in der Wehrmachtsverwaltung angestellt, da gegen seine Anstellung »keine politischen Bedenken bestünden«. Er verfügte damit über ein regelmäßiges Einkommen. Spätestens im Herbst 1939 wurde er zum Wehrdienst eingezogen. Er war Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt sowie der Deutschen Arbeitsfront und hatte ab 1940 eine Referentenstelle bei der Wehrkreisverwaltung inne. Trotz vereinzelt auftretender Kritik aufgrund seiner Tätigkeit für die ›Vaterländische Front‹ wurde er im Wehrdienst befördert und ausgezeich­ net. Im August 1943 und März 1944 erwarb er zwei ›arisierte‹ Liegenschaften. Im gleichen Zeitraum verkaufte er drei Kunstwerke im Kunsthandel sowie die verfahrensge1198 Beschl. zu Rudolf Mosse v. 16.03.2018, S. 3.

1199 Eine Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Falle nicht-verfolgter Personen, wie im Beschl. zu Wilhelm

Kimbel v. 17.04.2015, S. 4, erfolgt hier ausdrücklich nicht.

224  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

genständliche Statuette an die Österreichische Galerie Belvedere, bei der er um beschleunigte Überweisung des Kaufpreises bat. Es ist kein Antrag auf Rückstellung der Statuette bekannt. Um eine Restitution der drei Kunstwerke bemühte er sich zwar, sie wurden jedoch nicht als entzogenes Vermögen eingeordnet. Trotz individueller Verfolgung Prokschs1200 nimmt der Beirat ausnahmsweise keinen Kausalzusammenhang zwischen Verkauf und nationalsozialistischer Herrschaft an. Angesichts der zeitlichen Nähe zwischen dem Ankauf der ›arisierten‹ Liegenschaften und dem Verkauf der Kunstwerke sei dieser infolge einer Gesamtschau als Maßnahme zur Gegenfinanzierung der Immobilienerwerbungen zu betrachten. Dies führt der Beirat maßgeblich auf die äußeren Umstände des Verkaufs zurück – in diesem Fall dienen sie mithin als Indizien. Dazu zählt vor allem der Umstand, dass Proksch im Zeitpunkt des Verkaufs bereits erheblich vom nationalsozialistischen Regime profitierte. Doch auch die Angemessenheit des Kaufpreises lässt der Beirat hier nicht unerwähnt. Der Verkauf der Kunstwerke stellte somit nach Ansicht des Beirats keine aus einer verfolgungsbedingt finanziellen Notlage resultierende Maßnahme dar.1201 Diesem Beschluss lässt sich kaum eine abstrakte Ausnahme entnehmen. Es ließe sich höchstens schlussfolgern, dass eine Entziehung dem Beirat zufolge abzulehnen ist, wenn die Verfolgung von ökonomischen Beweggründen regulärer Handelstransaktionen überlagert wurde. (d) Fortsetzung der Sammeltätigkeit Keinerlei Bezug zum Rückstellungsrecht weist die vom Beirat im Beschluss zu Carl Heumann entwickelte Ausnahme vom Kausalzusammenhang zwischen Verkauf und ­nationalsozialistischer Herrschaft auf. Dort lehnt er eine Entziehung ab, da der Verkauf trotz der Verfolgung Heumanns nur der Fortsetzung der Sammeltätigkeit gedient habe. Die Sammlung von Carl Heumann bestand einer Ausstellungsbesprechung zufolge 1930 aus ungefähr 300 Blättern. Es sind keine Verkäufe aus der Sammlung vor 1937 dokumentiert. Im August 1938 wurden Bankschließfächer des als ›Jude‹ definierten Heumann sichergestellt, in denen sich auch seine Kunstwerke befanden. Damit war die Verfügung über das familiäre Vermögen genehmigungspflichtig. Ab Oktober 1938 wurde Heumann zur Abgabe eines Vermögensverzeichnisses aufgefordert und schließlich zur Zahlung diskriminierender Abgaben, wie der ›Judenvermögensabgabe‹, verpflichtet. Ende April 1940 beantragte er erfolglos die Aufhebung der Sicherstellung. Im Oktober 1940 übertrug er sein Vermögen auf seine als ›arisch‹ definierte Ehefrau Irmgard Heumann. Damit konnte die Familie wieder über das Vermögen verfügen, wenngleich Carl Heumann rechtlich seine Mitwirkungsrechte bezüglich der Verwaltung und Nutzung des Vermögens verlor. Zwischen 1937 und 1944 sind jährlich mehrere Ver- und Ankäufe dokumentiert. Die Familie Heumann brachte in diesem Zeitraum mindestens 471 Positionen in Versteigerungen ein. Diese wurden für insgesamt mindestens etwa RM 42.000 versteigert, darunter die fünf verfahrensgegenständlichen Blätter aus der Albertina in den Jahren 1939, 1942, 1943, und 1944. Hinsichtlich einer Versteigerung vermerkte Carl Heumann gegenüber seinem Sohn: »Mit dem Erlös […] bin ich recht 1200 S. zur Individualverfolgung unter § 7 D.III., S. 177. 1201 Beschl. zu Adolf Proksch v. 30.03.2022, S. 8 ff.

225  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

zufrieden. […] Bitte sage bei der Gelegenheit, man solle uns rechtzeitig von dem Zeitpunkt der nächsten Versteigerung benachrichtigen, denn wir würden uns aus räumlichen Gründen wohl noch von manchem trennen, das nicht unbedingt in den Rahmen unserer Sammlung gehört.« Ebenso erwarben Carl oder Irmgard Heumann während der nationalsozialistischen Herrschaft mehrere Blätter für bis zu insgesamt etwa RM 10.000, darunter auch solche aus Sammlungen verfolgter Personen. Die Anlage zum Ehevertrag vermerkte einen »Zuwachs« der Sammlung ab Januar 1940. Einer Aufstellung der Sammlung von Januar 1944 zufolge bestand die Sammlung dann aus 1.000 Blättern. Im Rahmen einer Gesamtschau der Verkäufe kommt der Beirat zu dem Ergebnis, dass diese unabhängig von der nationalsozialistischen Herrschaft stattgefunden haben, da Heumann trotz der Verfolgung die Weiterentwicklung seiner Sammlung erfolgreich habe fokussieren können. Der Beirat betrachtet die Geschäfte Heumanns daher als »Fortführung einer – unabhängig von der Verfolgung – bestehenden Sammeltätigkeit«. Zudem verweist der Beirat darauf, dass keine Hinweise dafür vorliegen, dass die Familie den Erlös aus den Verkäufen nicht nutzen konnte oder unmittelbar für diskriminierende Abgaben verwenden musste.1202 Erstaunlicherweise bezieht der Beirat mithin in diesem Beschluss die ansonsten stets unberücksichtigte freie Verfügbarkeit des Kaufpreises in die Bewertung mit ein.1203 Ungeachtet dieser Inkonsistenz steht die­ sem Beschluss zufolge ein Verkauf jedenfalls nur in einem äußeren Zusammenhang mit der Ver­ folgung, wenn während der nationalsozialistischen Herrschaft verschiedene An- und Verkäufe getätigt wurden, die nach einer Gesamtschau überwiegend durch die Sammeltätigkeit der verfolgten Person denn durch die Verfolgung motiviert erscheinen. cc) Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien

Für eine Bewertung des Kausalzusammenhangs bei Verkäufen im Lichte der Washingtoner Prin­ zipien wird zunächst zwischen den beiden aus der Untersuchung destillierten Verkaufskategorien aus der Empfehlungspraxis des Beirats differenziert. Anschließend sind die vom Beirat entwickelten Ausnahmen des Kausalzusammenhangs an den Washingtoner Prinzipien zu messen. Vorab ist noch einmal kurz festzuhalten, dass die Washingtoner Prinzipien ihrem Wortlaut nach zwar nur »beschlagnahmte« Objekte erfassen, aber ein klarer Konsens hinsichtlich eines weiten Verlustbegriffs besteht, der auch Verkäufe umfasst.1204 (1) Zur Differenzierung zwischen zwei Verkaufskategorien Die Washingtoner Prinzipien differenzieren nicht ausdrücklich zwischen den zwei aus der Empfehlungspraxis ersichtlichen Verkaufskategorien – den Verkäufen aufgrund diskriminierender Vorschriften und den »Notverkäufen«. Aus den Entstehungsmaterialien der Theresienstädter Erklärung folgt lediglich, dass sich der Verkauf unmittelbar oder mittelbar aus der Verfolgung 1202 Beschl. zu Carl Heumann v. 16.03.2018, S. 6 f. Während der Beirat aber im Fall Heumann eine Entziehung aufgrund der

Fortsetzung seiner Sammlertätigkeit ablehnt, wird in Deutschland ein Kausalzusammenhang mit der Verfolgung Heumanns angeblich noch nicht ausgeschlossen, s. Kronsteiner, Restitution, in: Der Standard Online v. 20.03.2018. 1203 S. zur Unerheblichkeit des Erhalts eines angemessenen Kaufpreises s. unter § 7 F.II.2.a)bb)(1), S. 218. 1204 S. zur Vielfältigkeit der erfassten Verlustformen unter § 7 F.II.1.d), S. 210.

226  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

ergeben müsse.1205 In der Rezeption der Prinzipien findet sich sodann aber durchaus eine Differenzierung nach Verkäufen, die mit »freier Zustimmung« der Verkäufer:innen erfolgten sowie solchen, die lediglich eine »Entziehung maskierten«. Um diese Kategorien bilden zu können, seien die Verkaufsumstände zu berücksichtigen.1206 So wird eine solche »Maskierung der Entziehung« vor allem bei Verkäufen infolge direkter Drohung oder zur Finanzierung der Flucht oder des Lebens als »U-Boot« angenommen.1207 Verkäufe leiden in besonderem Maße unter den von Prinzip Nr. 4 adressierten Beweisschwierigkeiten infolge der Verfolgungs- und Verlustumstände, da nur in seltenen Ausnahmen Vertragsdokumente oder Rechnungen zur Verfügung stehen. Der Bedarf nach einer den Beweis des Kausalzusammenhangs erleichternden Vermutung ist damit grundsätzlich besonders groß. Ausnahmsweise ist dieser Bedarf jedoch auch bei Verkäufen geringer: Dies ist der Fall, wenn sie allein aufgrund nationalsozialistischer, diskriminierender Vorschriften erfolgt sind. Denn über diese Verkäufe wurde ausführlich Buch geführt, etwa bei ›§ 14–Ablieferungen‹ in der Ablieferungsstelle oder bei Einsetzung einer kommissarischen Verwaltung in den Gewerbeunterlagen. Vergleichbar den staatlichen Rechtshandlungen, die unmittelbar auf ­diskriminierenden Rechtsgrundlagen beruhten, ist diesen Verkäufen die nationalsozialistische Herrschaft inhärent, sodass die Verfolgung zwingend als Beweggrund wirkte. Es ist daher nur konsequent, dass der Beirat für diese Fälle gar nicht erst auf die Vermutung der Entziehung für Verfolgte verweist, sondern aufgrund der Rechtsgrundlagen direkt eine Entziehung annimmt. Anders sind Verkäufe zu beurteilen, die nicht unmittelbar auf diskriminierende Vorschriften zurückzuführen sind. Dort ist die Vermutungsregel als Instrument zur Überwindung der Beweisschwierigkeiten essenziell zur Erreichung von »gerechten und fairen Lösungen«. Das inhaltliche Ergebnis dieser Differenzierung nach Verkaufskategorien entspricht damit genau der Forderung nach einer auch im Einzelfall »gerechten und fairen Lösung« im Rahmen der etablierten Regeln aus den Prinzipien Nr. 8 und Nr. 9. Es wäre jedoch zu begrüßen, wenn der Beirat explizit zwischen den beiden Kategorien differenzieren und die Beweggründe für die gerechtfertigte Ungleichbehandlung im Umgang mit der Vermutungsregel darlegen würde. (2) Zu den Ausnahmen vom Kausalzusammenhang Im Rahmen der allgemeinen dogmatischen Darlegung der Vermutungsregel wurde bereits herausgearbeitet, wie bedeutsam die Widerlegungsmöglichkeit dieser Vermutung gerade in weniger eindeutigen Fällen für eine »gerechte und faire Lösung« unter flexibler Berücksichtigung aller Interessen ist.1208 Zu diesen weniger eindeutigen Fällen zählen infolge der potenziellen privatautonomen Beweggründe regelmäßig »Notverkäufe«. Die Washingtoner Prinzipien selbst geben keine Anhaltspunkte für die inhaltliche Ausgestaltung dieser Widerlegungsmöglichkeit der Vermutung bei Verkäufen. Die Bewertung der Ausnahmen vom Kausalzusammenhang hat daher aus der Empfehlungspraxis selbst zu erfolgen. Dabei kommt dem für eine »gerechte und faire Lösung« elementaren Gleichheitssatz besondere Bedeutung zu.1209 1205 Heuberger, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 941, 945 f.

1206 »Table ronde sur les ventes forcées«, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 138, 138.

1207 Campfens, AAL 2017, 315, 322 ff.; vgl. Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 73; vgl. auch »Table ronde

sur les ventes forcées«, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 138, 138.

1208 S. zur Vermutungsregel im Lichte der Washingtoner Prinzipien unter § 7 F.I.2., S. 200.

1209 S. zur Bedeutung des Gleichheitssatzes für eine »gerechte und faire Lösung« unter § 4 B.II.2., S. 44.

227  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

Die Untersuchung beginnt mit den äußeren Umständen, die vom Beirat als unerheblich für den Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft betrachtet werden. Anschließend werden die vom Beirat als Ausnahmen entwickelten und damit für relevant erachteten Beweggründe im Lichte der Washingtoner Prinzipien untersucht. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Empfehlungspraxis teils als noch nicht ausgereift betrachtet werden kann. Dies schlägt sich auch auf ihre Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien nieder. (a) Zur Unerheblichkeit der äußeren Umstände Der Beirat erachtet sämtliche äußeren Umstände des Verkaufs als unerheblich für die Beurteilung des Kausalzusammenhangs zwischen Verkauf und nationalsozialistischer Herrschaft. Sie können höchstens als Indizien für die relevanten Beweggründe in die Bewertung hineinwirken. Unter die unerheblichen äußeren Umstände fallen die Angemessenheit des Kaufpreises, die Verkaufsinitiierung durch die Eigentümer:innen und die Zuordnung der Erwerber:innen zum nationalsozialistischen Regime. Weder aus den Washingtoner Prinzipien oder der Theresien­ städter Erklärung noch aus ihren Entstehungsmaterialien lassen sich Anhaltspunkte für den Umgang mit diesen Umständen entnehmen. In der Rezeption der Prinzipien wird allein die An­ gemessenheit des Kaufpreises thematisiert, da sie außerhalb Österreichs teils zur Widerlegung beziehungsweise als Ausnahme des Kausalzusammenhangs angeführt wird.1210 Rein finanziell betrachtet entsteht den Eigentümer:innen durch den Verkauf des Kulturguts zu einem angemessenen Kaufpreis kein Nachteil; sie verfügen über gleich viel Vermögen wie vor dem Verkauf. Würde der finanzielle Ausgleich im Zeitpunkt des Verlusts im Fokus stehen, so wie im Bereicherungsrecht, wäre durchaus nachvollziehbar, dass die Beibehaltung des finanziellen status quo bei Zahlung eines angemessenen Kaufpreises als »gerecht und fair« für beide Seiten empfunden wird. Doch bereits auf der Washingtoner Konferenz wurde mit Nachdruck betont, dass für die Restitution von während der nationalsozialistischen Herrschaft entzogenen Kulturgütern gerade »nicht die für den regulären Handel konzipierten Regeln« Anwendung finden sollen, was anschließend auch breit rezipiert wurde.1211 Die Eigentümer:innen haben sich schließlich nicht freiwillig zum Verkauf entschlossen, bloß weil ein angemessener Kaufpreis geboten wurde. Dies gilt erst recht bei Kulturgütern, die gerade zur damaligen Zeit besonders häufig nicht (vornehmlich) Investitionsobjekte, sondern »Liebhaberstücke« von ideellem Wert waren. Die meisten Privatpersonen wollten ihre Kulturgüter als Verkörperung ihres bisherigen Lebensstils schlichtweg behalten, wurden aber durch die nationalsozialistische Herrschaft zu einem Verkauf – wenn sie »Glück« hatten, zumindest zu einem angemessenen Preis – gezwungen. Dieser Umstand sollte ihnen nicht heute zum Nachteil gereichen. Zugleich beabsichtigen die Washingtoner Prinzipien als Instrumente der vermögensrechtlichen Wiederherstellung keine allgemeine Kompensation für Verfolgungsschicksale während der national­sozialistischen Herrschaft. Vielmehr bezwecken sie, auf die durch die Verfolgung erlittenen Vermögensverluste zu reagieren. Zwischen dem Zweck, nicht auf die immateriellen, sondern auf die materiellen Verluste zu reagieren, und dem Wunsch, die zivilrechtlichen Grenzen nicht als Hindernis einer »gerechten und fairen Lösung« zu betrachten, ist daher ein Ausgleich zu finden. 1210 S. dazu eingehend Weller, in: FS Schack, 2022, S. 85, 91.

1211 S. zur Berücksichtigung der Regelungen des nationalen Rechts unter § 4 B.II.1., S. 42.

228  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

Dieser kann darin liegen, den Erhalt eines angemessenen Kaufpreises im Rahmen der Abhilfemaßnahmen als Anlass für eine »milde Rechtsfolge« zu berücksichtigen. Dies könnte etwa in Form einer um den damals erhaltenen, angemessenen Kaufpreis geminderten Geldzahlung erfolgen;1212 wobei dann die Probleme bei der Bestimmung der Angemessenheit bestehen blieben.1213 Da der Kaufpreis keinen Einfluss darauf hatte, dass die Person infolge der Verfolgung zu einem Verkauf gezwungen war, darf seine Angemessenheit aber keinesfalls auf tatbestandlicher Ebene dem Verlust seinen entziehenden Charakter nehmen oder im gegenteiligen Fall erst verleihen. Denn sie mildert das Übel lediglich auf finanzieller Ebene ohne Auswirkung auf den Kausalzusammenhang ab. Eine andere Bewertung wäre allein bei Verkäufen durch im Kunsthandel tätige Personen denkbar, da für diese die Angemessenheit des Kaufpreises ein üblicher Bestandteil ökonomischer Abwägungen bei Verkaufsentscheidungen war.1214 Ein angemessener Kaufpreis könnte in diesen Fällen ein außerhalb der Verfolgung zu verortender Beweggrund sein. Ihn jedoch als generelle Widerlegungsmöglichkeit der Entziehung zu betrachten, würde letztlich bedeuten, bereits die Voraussetzung der Entziehung rein ökonomischen Interessen zu unterwerfen.1215 Eine solche Unterwerfung sehen die Washingtoner Prinzipien auf der Ebene der Voraussetzungen einer »gerechten und fairen Lösung« gerade noch nicht vor. Erst im Rahmen der Lösung selbst, also der Abhilfemaßnahmen, sollten diese Interessen Berücksichtigung finden.1216 Gleiches gilt für die beiden anderen äußeren Umstände: Für eine Entziehung ist unerheblich, ob die Eigentümer:innen infolge des Verfolgungsdrucks selbst auf ein Auktionshaus oder ein Museum zugegangen sind oder diese auf die Eigentümer:innen, wenn in jedem Falle der Grund für den Verkauf in der Verfolgung während der nationalsozialistischen Herrschaft liegt. Würde der Beirat eine solche Unterscheidung nach der die Initiative ergreifenden Partei vornehmen, würden er identische Verlustvorgänge mit identischen Beweggründen in Form des Verkaufs durch Verfolgte ungleich behandeln. Ebenso ist es für den Verlust der Eigentümer:in­nen irrelevant, wer das Kulturgut erwarb, wenn sie aufgrund der nationalsozialistischen Herrschaft zu diesem Verkauf gezwungen waren. So bevorzugten die verfolgten Eigentümer:innen möglicherweise, das Kulturgut an eine befreundete Person anstatt an ein Mitglied der NSDAP zu verkaufen, doch ändert dieser Umstand nichts an der Verfolgung als Beweggrund für den Verkauf.1217 Mit Blick auf den einer »gerechten und fairen Lösung« innewohnenden Gleichheitssatz ist es daher geboten, all diesen äußeren Umständen nicht die Widerlegungsmacht zuzuschreiben, über die »unbedenkliche« Beweggründe bei der Entziehungsvermutung verfügen.

1212 Eberl, KUR 2009, 155, 157.

1213 S. zu den Bestimmungsschwierigkeiten Weller, in: FS Schack, 2022, S. 85, 91 f. 1214 Vgl. Campfens, AAL 2017, 315, 326.

1215 Dazu kritisch mit Blick auf das deutsche Nachkriegsrecht Lahusen, KUR 2022, 91, 92.

1216 S. zur Berücksichtigung ökonomischer Interessen unter § 4 B.II.2., S. 44. Eine Geldzahlung ist durch die Begrenzung des

KRG auf Restitution ausgeschlossen, ließe sich aber bei einer Ausweitung der »Rechtsfolgen« berücksichtigen.

1217 Oberhammer fordert demgegenüber eine unterschiedliche Qualifizierung von vorherigen Verkaufsverhandlungen mit Privaten

und dem Staat. Bei Verhandlungen mit Privatpersonen könne durchaus eine verfolgungsunabhängiges Verkaufsinteresse bestehen. Jedoch sei nicht anzunehmen, dass eine vom nationalsozialistischen Regime verfolgte Person diesem Regime verfolgungsunabhängig Kulturgüter verkauft, s. Oberhammer, Rechtsgutachten v. 28.09.2006, S. 15.

229  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

(b) Zur Erheblichkeit der »unbedenklichen« Beweggründe Die vom Beirat entwickelten Ausnahmen vom Kausalzusammenhang bei Verkäufen stellen dementsprechend eindeutig auf die Beweggründe und nicht auf die äußeren Umstände des Verkaufs ab. Dazu zählen der Verkauf aufgrund vorheriger Verkaufsverhandlungen, vorheriger wirtschaftlicher Schwierigkeiten sowie zur Gegenfinanzierung anderer Ankäufe und zur Fortsetzung der Sammeltätigkeit. Im Lichte der Washingtoner Prinzipien ist nun zu beurteilen, ob diese Ausnahmen einen Beitrag zur Entwicklung einer »gerechten und fairen Lösung« leisten. Die Ausnahmen aufgrund zuvor bestehender wirtschaftlicher Schwierigkeiten sowie bereits erfolgter Verkaufsverhandlungen sind in abstrakter Hinsicht zweifelsfrei geeignet, um den Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft zu widerlegen. Im Falle einer Ausnahme durch vor der nationalsozialistischen Herrschaft bestehende wirtschaftliche Schwie­ rigkeiten fand der Verkauf des Kulturguts zwar zwangsweise statt. Jedoch wurde dieser Zwang nicht durch die nationalsozialistische Herrschaft herbeigeführt, wenn bereits zuvor eine aussichtslose finanzielle Lage bestand, die auch den Verkauf des konkreten Kulturguts gefordert hätte. Der Beweggrund für den Verkauf war damit die schuldrechtliche Verpflichtung zur Tilgung der zuvor begründeten Schulden, nicht aber die Verfolgung. Gleiches gilt auch bei Verkäu­fen aufgrund vorher eingeleiteter Verkaufsverhandlungen: Sind die essentialia negotii bereits vor dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft besprochen und danach nicht verschlech­tert worden, bestand der Beweggrund für den Verkauf in der vorvertraglichen Verpflichtung und nicht in der Verfolgung. Die wenigen Beschlüsse des Beirats, die diese Ausnahmen zum Gegenstand haben, zeugen stets von einem äußerst differenzierten Umgang mit den Wertungen des Nachkriegsrechts und einer umfassenden Auswertung der Sachverhaltsinformationen. Die Anwendung der Ausnahmen im Einzelfall ist also ebenso wenig zu beanstanden. Die Ausnahmen, die der Beirat selbst in seiner eigenen Empfehlungspraxis entwickelt hat, bedürfen einer deutlich differenzierteren Bewertung: Sowohl der Ausnahme für Gegenfinanzie­ rungen anderer Erwerbungen als auch der für Verkäufe als Fortsetzung der Sammeltätigkeit ist lediglich die folgende abstrakte Wertung zu entnehmen: Alltägliche Handelstransaktionen mit Kulturgütern sollen auch bei Verfolgten keine Entziehung darstellen. Eine so weitreichende – und letztlich unbestimmte – Ausnahme scheint der Beirat jedoch nicht etablieren zu wollen. Dementsprechend entwickelt er Ausnahmen, die kaum einer Verallgemeinerung zugänglich sind. Eine solche Abstraktionsfähigkeit jedes Ausnahmefalls ist jedoch im Lichte der Washingtoner Prinzipien auch nicht erforderlich. Durch die abstrakte Vermutungsregel soll schließlich gerade die Möglichkeit geschaffen werden, ganz im Sinne der Prinzipien Nr. 8 und Nr. 9 auch Einzelfällen gerecht zu werden. Beim Fall Proksch handelt es sich um einen solchen Einzelfall, da Proksch trotz anfänglicher Verfolgung beruflich erheblich vom nationalsozialistischen Regime profitiert hatte und sogar ›arisierte‹ Immobilien erwerben konnte. Dieser Fall veranschaulicht mithin gelungen, dass eine standardisierte und weit gefasste Vermutungsregel einzelfallgerechten Lösungen nicht im Weg steht. Beim Fall Heumann handelt es sich demgegenüber um einen Grenzfall. Auf der einen Seite konnte Heumann eine erhebliche Menge an Ankäufen tätigen und wurde deutlich vor dem ersten Verkauf zur Zahlung der ›Judenvermögensabgabe‹ verpflichtet. Jener ist also nicht unmittelbar in die diskriminierende Abgabe geflossen. Auf der anderen Seite ist nicht ersichtlich, warum zumindest die Verkäufe vor der Vermögensübertragung an seine Ehefrau im Oktober 1940 nicht als Entziehungen gewertet werden, da die Familie bis dahin kaum über ­Vermögen

230  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

frei verfügen konnte. Es liegt nahe, dass zumindest die in diesem Zeitpunkt erfolgten Verkäufe auch der Finanzierung des Lebensunterhalts der Familie dienten. Bei einer Betrachtung der Empfehlungspraxis in einer Gesamtschau ist zudem nicht nachvollziehbar, warum der Beirat zwar im Falle eines Sammlers den Verkauf auf seine Sammlungstätigkeit zurückführt, nicht aber bei im Kunsthandel tätigen Personen untersucht, ob die Verkäufe der Fortsetzung der Handelstätigkeit dienten. Ungeachtet der Frage, ob eine solche Benachteiligung der im Kunsthandel tätigen Personen zu befürworten ist,1218 enthält die im Fall Heumann entwickelte Wertung eine Tendenz zur Ungleichbehandlung wesentlicher gleicher Sachverhalte. Die Anwendung der Vermutung im Fall Heumann ist daher mangels hinreichender Begründung der die Verfolgung überlagernden Beweggründe nicht als einzelfallgerechte Lösung zu betrachten. So illustriert dieser Fall, dass der Beirat zwar ein ausdifferenziertes System zur Beurteilung einer Entziehung entwickelt hat, dass aber auch dieses System vereinzelt an seine Grenzen gerät. In der weit überwiegenden Zahl der Fälle leisten die dargelegten Ausnahmen gleichwohl einen sehr differenzierten Beitrag zur Entwicklung »gerechter und fairer Lösungen«. b) Der Verlust durch Schenkung

Das nach dem Verkauf mit Abstand wichtigste Rechtsgeschäft in der Empfehlungspraxis des Beirats ist die Schenkung, die im Sinne des Kausalprinzips auf einem Schenkungsvertrag gemäß § 938 ABGB beruht.1219 Die hohe Relevanz der Schenkung in der Empfehlungspraxis entspringt dem Umstand, dass viele Eigentümer:innen ihre Kulturgüter im Zusammenhang mit der Flucht unentgeltlich Dritten überlassen hatten, regelmäßig auch staatlichen Museen zur Erlangung einer Ausreisegenehmigung.1220 Bereits in der Rückstellungsrechtsprechung und -literatur wurden daher Schenkungen bei entsprechendem Kausalzusammenhang als Entziehungen betrachtet. Somit bestand zugunsten verfolgter Personen – ebenso wie bei Verkäufen – ein Kausalzusammenhang zwischen Schenkung und nationalsozialistischer Herrschaft, soweit nicht eine Unabhängigkeit nachgewiesen wurde.1221 Der Beirat bezieht sich in seinen Beschlüssen explizit auf diese Rückstellungsrechtspre­ chung,1222 konkretisiert sie aber durch den für sämtliche Rechtsgeschäfte entwickelten Grundsatz: Ein Kausalzusammenhang liegt nicht vor, wenn die Schenkung mit der Verfolgung lediglich 1218 In diese Richtung auch Campfens, AAL 2017, 315, 326.

1219 Vgl. bloß Beschl. zu Richard Weinstock v. 18.08.2000, S. 2; Beschl. zu Julius Kien v. 14.03.2001, S. 3; Beschl. zu Amalie Zu-

ckerkandl/Ferdinand Bloch-Bauer v. 29.06.2005, S. 3; Beschl. zu Max Baczewski v. 29.03.2006, S. 1; Beschl. zu Hans Abels v. 01.06.2007, S. 1; Beschl. zu Otto u. Gisela Braun v. 24.06.2009, S. 2 f.; Beschl. zu Hermann Eissler v. 24.06.2009, S. 18; Beschl. zu Walter Hersch v. 11.09.2009, S. 2; Beschl. zu Hermann Eissler v. 29.11.2009, S. 7 f.; Beschl. zu Karl Mayländer v. 10.06. 2011, S. 5 f.; Beschl. zu Oskar Reichel v. 06.12.2011, S. 4 f.; Beschl. zu Hermann u. Käthe Kolisch v. 08.10.2013, S. 3; Beschl. zu Alice Stein v. 17.04.2015, S. 2; Beschl. zu Fritz Grünbaum v. 15.10.2015, S. 7 f.; Beschl. zu Anna Mautner v. 05.10.2016, S. 3; Beschl. zu Carl Heumann v. 16.03.2018, S. 6; Beschl. zu Ernst Kris v. 29.06.2021, S. 5. 1220 Vgl. nur Beschl. zu Michael Berolzheimer v. 10.05.2001, S. 5 (ggf. kein Schenkungsvertrag, da noch keine Vertragspartei bestimmt); Beschl. zu Max Berger v. 22.06.2004, S. 1. 1221 RoK Wien, Entscheidung v. 10.09.1948 – Rkb Wien 817/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 221, S. 445; ORK, Entscheidung v. 13.03.1948 – Rkv 24/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 34, S. 83 f.; Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 177 f., 231; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 103 ff.; Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 262; Graf, NZ 2020, 7, 9. 1222 Im Beschl. zu Irma u. Siegfried Gerstl v. 21.11.2008, S. 4, zitiert der Beirat die RoK Wien, Entscheidung v. 10.09.1948 – Rkb Wien 817/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 221, S. 445.

231  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

in einem äußeren Zusammenhang stand, diese also von anderen »unbedenklichen« Beweggründen überlagert wurde. Der Beirat differenziert seit einigen Jahren bei der Bestimmung des Kausalzusammenhangs zwischen Schenkungen an öffentliche Sammlungen und Schenkungen an den Eigentümer:innen nahestehende Privatpersonen, obwohl dies keinen Rückhalt im Rückstellungsrecht findet. Mittlerweile ist eine Distanzierung von dieser Differenzierung zu beobachten. Um jedoch die Fälle der gesamten Praxis systematisieren zu können, wird für den Aufbau der nachfolgenden Untersuchung an dieser Unterscheidung festgehalten. Zuletzt erfolgt eine Bewertung der Empfehlungspraxis zu Schenkungen im Lichte der Washingtoner Prinzipien. aa) Schenkungen an öffentliche Sammlungen

Schenkungen an öffentliche Sammlungen sind bereits sehr früh Gegenstand der Empfehlungspraxis des Beirats gewesen.1223 Im Beschluss zu Julius Kien hält der Beirat 2001 ausdrücklich fest, dass es für die Einordnung als Entziehung unerheblich sei, ob die verfahrensgegenständlichen Objekte durch Schenkung oder Kauf in das Museum gelangt sind und verweist anschließend auf die Vermutung des Kausalzusammenhangs in der Rückstellungsrechtsprechung.1224 Diese selbstverständliche, von den Beschenkten unabhängige Erfassung von Schenkungen setzt sich in den darauffolgenden Jahren fort.1225 Dabei stellt der Beirat an keiner Stelle darauf ab, dass es sich um Schenkungen an eine öffentliche Sammlung handelte. Im Laufe seiner Empfehlungspraxis hat der Beirat für Schenkungen an öffentliche Sammlungen Ausnahmen entwickelt, die das Rückstellungsrecht noch nicht als Widerlegungsmöglichkeit kannte: Dazu zählen die Schenkung zur Erfüllung des hypothetischen Willens der verstorbenen Ehepartner:innen sowie die Überlassung zur Fortsetzung einer Schenkungstradition. (1) Erfüllung des hypothetischen Willens Verstorbener Im Beschluss zu Gertrude Zarfl entwickelt der Beirat eine Ausnahme vom grundsätzlich vermuteten Kausalzusammenhang, wenn die verfolgte Person mit der Schenkung den hypothetischen Willen einer verstorbenen Person erfüllen wollte. Gertrude Zarfls Ehemann war Leiter eines Kinderheimes, geologisch interessiert und besaß daher einige geologische Objekte. Nach seinem Tod zog die als ›Jude‹ definierte Zarfl im September 1938 mit der gemeinsamen Tochter aus der Dienstwohnung des Kinderheimes aus. Im November 1938 schenkte Zarfl dem Naturhistorischen Museum die verfahrensgegenständlichen Gesteine »aus dem Nachlass ihres Mannes«. Es sind keine vorherigen Erwerbsbestrebungen des Museums bekannt. Zarfls Tochter musste vermutlich aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgung die Schule verlassen. 1943 war Zarfl einige Tage in Haft. 1944 beantragte sie die Bestellung eines Kollegen ihres 1223 Erstmals Beschl. zu Richard Weinstock v. 18.08.2000, S. 2. 1224 Beschl. zu Julius Kien v. 14.03.2001, S. 3.

1225 Beschl. zu Max Baczewski v. 29.03.2006, S. 1; Beschl. zu Hanns Fischl v. 28.06.2006, S. 1; Beschl. zu Siegfried Gerstl v. 28.06.

2006, S. 2; Beschl. zu Hans Abels v. 01.06.2007, S. 1; Beschl. zu Gertrude u. Hanns Fischl v. 01.06.2007, S. 1, u. 24.06.2009, S. 1; Beschl. zu Mathilde Strnad v. 21.11.2008, S. 4; Beschl. zu Otto u. Gisela Braun v. 24.06.2009, S. 2 f.; Beschl. zu Walter Hersch v. 11.09.2009, S. 2; Beschl. zu Anna Mautner v. 05.10.2016, S. 3 f.; Beschl. zu Ernst Kris v. 29.06.2021, S. 5.

232  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

Mannes als Vormund der Tochter und flüchtete nach Ungarn. Auch dort wurde sie inhaftiert, konnte aber anschließend in einem schwedischen Kinderheim arbeiten. Die Sachverhaltsdarstellung macht deutlich, dass kein ausdrücklicher Wille von Zarfls verstorbenem Ehemann vorlag, die Objekte dem Naturhistorischen Museum zu überlassen. Doch auch sein hypothetischer Wille wird im Beschluss nicht im Sachverhalt, sondern methodisch fragwürdig erst in der Subsumtion des Beirats explizit erwähnt. Dort führt dieser zunächst aus, dass auch bei Schenkungen durch Verfolgte grundsätzlich ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verlust und der nationalsozialistischen Herrschaft zu vermuten ist. Diesen lehne er jedoch im vorliegenden Fall ab, da »sich weder ein Zusammenhang mit der Vorbereitung einer Flucht noch mit einer direkten und indirekten Finanzierung oder sonstigen Verbesserung verfolgungsbedingter Lebensumstände von Frau Dr. Gertrude Zarfl [ergebe]. Es scheine vielmehr naheliegend, dass Frau Dr. Gertrude Zarfl mit der Schenkung der Objekte den Intentionen ihres auch geologisch-paläontologisch interessierten verstorbenen Mannes Rechnung tragen wollte.«1226 Der Beirat verneint somit den Kausalzusammenhang zwischen Schenkung und nationalsozialistischer Herrschaft zum einen, da seiner Ansicht nach Zarfls verstorbener Ehemann hypothetisch eine Überlassung an das Naturhistorische Museum nach seinem Tod begrüßt hätte. Eine über das schlichte Interesse am Sammlungsschwerpunkt des Museums hinausgehende, ausdrückliche Bitte zur Überlassung, beispielsweise in seinem Testament, lag wohlgemerkt aber gerade nicht vor. Zum anderen bezieht der Beirat diesmal nicht nur die Beweggründe für das Rechtsgeschäft mit ein, sondern begründet seine Ablehnung auch mit äußeren Umständen: So sei der Kausalzusammenhang zudem abzulehnen, da keine hinreichende zeitliche Nähe zwischen der Schenkung und Zarfls Flucht bestanden und die Schenkung zu keiner Verbesserung ihrer Lebensbedingungen geführt habe. Ein Kausalzusammenhang zwischen einer Schenkung und der nationalsozialistischen Herrschaft würde diesen Ausführungen des Beirats zufolge nicht »nur« eine Verfolgung, sondern auch eine zeitliche Nähe zwischen Flucht und Schenkung sowie eine Verbesserung der Lebensumstände durch die Weggabe des Kulturguts erfordern. Dies findet jedoch keinen Rückhalt in der weiteren Empfehlungspraxis des Beirats und bleibt dementsprechend der einzige Anwendungsfall dieser Ausnahme. Im Rahmen des Ver­ kaufs,1227 doch auch bei anderen vom Beirat untersuchten Schenkungen, 1228 werden solche kon­ kreten Verfolgungsmaßnahmen und -konsequenzen dezidiert allein zur faktischen Unterstützung der Entziehungsvermutung vom Beirat angeführt. Sie können indes keinesfalls als äußere Umstände den Kausalzusammenhang begründen, dazu ist allein die strukturelle Verfolgung als Beweggrund das maßgebliche Kriterium. Indem der Beirat also über die Verfolgung hinausgehende Anforderungen an den Kausalzusammenhang stellt, widerspricht er der eigens etablierten Vermutungsdogmatik für Rechtsgeschäfte verfolgter Personen. Dies verwundert umso

1226 Beschl. zu Gertrude Zarfl v. 11.09.2009, S. 3. 1227 S. dazu die Beispiele unter § 7 F.I.1., S. 199.

1228 Beschl. zu Max Baczewski v. 29.03.2006, S. 1; Beschl. zu Hanns Fischl v. 28.06.2006, S. 1; Beschl. zu Siegfried Gerstl v.

28.06.2006, S. 2; Beschl. zu Hans Abels v. 01.06.2007, S. 1; Beschl. zu Mathilde Strnad v. 21.11.2008, S. 4; Beschl. zu ­Gertrude u. Hanns Fischl v. 01.06.2007, S. 1, u. 24.06.2009, S. 1; Beschl. zu Otto u. Gisela Braun v. 24.06.2009, S. 2 f.; Beschl. zu Walter Hersch v. 11.09.2009, S. 2; Beschl. zu Anna Mautner v. 05.10.2016, S. 3 f.; Beschl. zu Ernst Kris v. 29.06.2021, S. 5.

233  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

mehr, als der Beirat diesen Ausführungen sogar noch einen Hinweis auf den grundsätzlich vermuteten Kausalzusammenhang voranstellt. (2) Fortsetzung einer Schenkungstradition Im Beschluss zu Hermine, Paul und Hilde Wittgenstein nimmt der Beirat eine Ausnahme vom grundsätzlich vermuteten Kausalzusammenhang an, wenn die Schenkung aus einer Tradition der unentgeltlichen Überlassung von Objekten an das Museum heraus erfolgte. Zwischen 1914 und 1940 schenkten oder widmeten Mitglieder der Familie Wittgenstein dem heutigen Österreichischen Museum für Volkskunde 13 Objekte, darunter auch die fünf verfahrensgegenständlichen Objekte. Acht der Objekte erhielt das Museum 1914 und 1918, nach dem ›Anschluss‹ zwei weitere im September/Oktober 1938 und drei weitere Anfang 1940. Das Museum dankte der Familie Wittgenstein 1938 für die Überlassung der zwei genannten Objekte. Einem Vermerk des Museums hinsichtlich der letzten drei Gegenstände von Anfang 1940 zufolge teilte die gegen eine Geldzahlung »nur« als ›Mischling 1. Grades‹ definierte Hermine Wittgenstein dem Museum mit, dass »sie ebenso wie früher dem Museum einige Gegenstände überlassen möchte […]«. Es finden sich keine Hinweise auf einen Zugriff des Regimes auf das Vermögen Hermine Wittgensteins oder ihrer Familienmitglieder. Gegenstand der rechtlichen Beurteilung sind nicht die acht 1914 und 1918 erworbenen, sondern allein die fünf nach dem ›Anschluss‹ geschenkten Objekte.1229 Auch in diesem Beschluss führt der Beirat zunächst aus, dass Schenkungen Verfolgter grundsätzlich im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft stünden und von diesem Grundsatz nur in sehr seltenen Fällen eine Ausnahme zu machen sei. Der Beirat nimmt jedoch an, dass die vorliegende Schenkung an das Museum aus »unbedenklichen« Beweggründen und damit lediglich in einem äußeren Zusammenhang mit der Verfolgung erfolgt sei. Denn trotz der Verfolgung der Familie Wittgenstein habe es nachweislich vor und auch nach der nationalsozialistischen Herrschaft eine »Tradition bzw. Gewohnheit« der Familie gegeben, österreichischen Museen Objekte als Leihgaben oder Schenkungen zu überlassen. Dies werde insbesondere bei den Schenkungen von 1940 deutlich. Demnach habe Hermine Wittgenstein dem Museum dem Vermerk zufolge »eben­ so wie früher« einige Objekte überlassen wollen. Gegen einen Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft spreche zudem der fehlende sonstige Zugriff des nationalsozialistischen Regimes auf das Vermögen der Familie Wittgenstein. Die Schenkungen von 1938 und 1940 »fügen sich somit in eine Reihe anderer, ähnlich gelagerter Vorgänge unabhängig von der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten« ein. Sie seien »nicht von der Situation der Verfolgung, sondern von der Fortsetzung einer Übung, österreichischen Museen Gegenstände zukommen zu lassen, motiviert« gewesen.1230 Für die Ausnahme vom Kausalzusammenhang infolge einer solchen »Übung« der Schenkung ist somit offenbar unerheblich, dass die anderen Überlassungen vor der national1229 Im Gegensatz zum Beschl. zu Käthe u. Hermann Kolisch v. 08.10.2013, S. 3, problematisiert der Beirat hier nicht die Eigen-

tumsverhältnisse unter Geschwistern, s. dazu unter § 7 C.II.5.b), S. 156.

1230 Beschl. zu Hermine, Paul u. Hilde Wittgenstein v. 12.05.2019, S. 5 f.

234  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

sozialistischen Herrschaft nicht in regelmäßigen Abständen erfolgt sind, sondern viele Jahre vor der ersten Überlassung. Während der zeitliche Abstand der Überlassungen somit irrelevant ist, scheinen demgegenüber der weiteren Empfehlungspraxis zufolge quantitative Abweichungen für die Beurteilung des Kausalzusammenhangs von Bedeutung zu sein: Der Beirat nimmt nämlich trotz vorheriger Schenkungen einen Kausalzusammenhang an, wenn die Schenkungen vor der nationalsozialistischen Herrschaft nur Einzelexemplare enthielten, nach dem ›Anschluss‹ aber gesamte Konvolute umfassten.1231 Ausnahmsweise steht eine Schenkung demnach nur in einem äußeren Zusammenhang mit der Verfolgung, wenn sich die Schenkung in eine schon vor der nationalsozialistischen Herrschaft bestehende Tradition der unentgeltlichen Überlassung von Kulturgütern an die österreichischen Museen in vergleichbarem Umfang einreiht. bb) Schenkungen an den Eigentümer:innen nahestehende Privatpersonen

Schenkungen an den Eigentümer:innen nahestehende Privatpersonen finden sich nicht in den frühen Jahren der ersten Dekade der Empfehlungspraxis. Der Fokus lag zu Beginn somit eindeutig auf den Schenkungen an die öffentlichen Sammlungen, obwohl sich die vom Beirat dazu zitierte Rückstellungsrechtsprechung gerade auf Schenkungen unter Privatpersonen bezog. Eine Schenkung an eine Geliebte wurde dort als Entziehung eingeordnet, da der Verfolgte die konkreten Objekte trotz der Üblichkeit von Abschiedsgeschenken nicht ohne die Flucht infolge der nationalsozialistischen Herrschaft seiner Geliebten geschenkt hätte.1232 Die nachfolgenden Ausführungen sollen zum einen erläutern, ab wann und warum der Beirat schließlich zwischen Schenkungen an öffentliche Sammlungen und an den Eigentümer:in­ nen nahestehende Personen differenziert hat. Zum anderen sollen sie den damit verbundenen Wandel des Beirats von der anfänglichen Ablehnung hin zu einer grundsätzlichen Befürwortung der Entziehung bei Schenkungen an nahestehende Privatpersonen veranschaulichen. Die Frage, ob diese auch eine Entziehung darstellen kann, steht erstmals 2005 – wenn auch nicht ausdrücklich – im Beschluss zu Amalie Zuckerkandl/Ferdinand Bloch-Bauer zur Diskussion. Dabei wird von einem Eigentum Ferdinand Bloch-Bauers ausgegangen.1233 Das Portrait stand zumindest bis in die 1920-er Jahre im Eigentum der portraitierten Amalie Zuckerkandl. Ferdinand Bloch-Bauer unterstützte Zuckerkandl finanziell nach der Scheidung und dem Tod ihres Ehemannes. Nach der Flucht des als ›Jude‹ definierten Bloch-Bauer wurde seine Wohnung im Januar 1939 von Referenten der Zentralstelle für Denkmalschutz besichtigt, um Objekte herauszusuchen, die von einer Ausfuhr gesperrt werden sollen. Auf dieser Sperrliste befand sich auch »Gustav Klimt, Frau Zuckerkandl«. Auf dem der Ausfuhrsperre dienenden Sicherstellungsbescheid von Februar 1939 war es jedoch nicht mehr enthalten. Lediglich ein Portrait von Kokoschka wurde zur Ausfuhr freigegeben, der Rest der Sammlung Bloch-Bauer wurde verwertet. Zum Verbleib des Portraits von Zuckerkandl ist nur wenig bekannt. Es steht jedoch

1231 Beschl. zu Hanns Fischl v. 05.11.2021, S. 7; Beschl. zu Hans Leitmeier v. 05.11.2021, S. 7.

1232 RoK Wien, Entscheidung v. 10.09.1948 – Rkb Wien 817/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr.

221, S. 445.

1233 Das Eigentum Bloch-Bauers wurde mittlerweile höchstrichterlich bestätigt, s. dazu unter § 7 C.II.2., S. 146.

235  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

fest, dass es in den Besitz einer Kunsthändlerin gelangte, die es dem Bund nach 1945 übertrug. Diese schrieb in ihren Erinnerungen, dass sie das Portrait von Wilhelm Müller-Hofmann, dem Schwiegersohn der als ›Jüdin‹ definierten Portraitierten Amalie Zuckerkandl, während der nationalsozialistischen Herrschaft erhalten habe. Wie das Portrait in den Besitz des ebenfalls verfolgten Müller-Hofmann gelangte, ist nicht bekannt. Dieser vom Beirat zugrunde gelegte Sachverhalt enthält nur wenige gesicherte Informationen. Der Beirat geht davon aus, dass das Portrait in der Zeit zwischen der Erfassung der Kunstsamm­ lung Bloch-Bauer Ende Januar 1939 und dem Erlass des Sicherstellungsbescheides Anfang Februar 1939 den Belegenheitsort gewechselt haben müsse. Aufgrund der Freundschaft BlochBauers und Zuckerkandls sei es nach Ansicht des Beirats »mit einiger Wahrscheinlichkeit« denkbar, dass Bloch-Bauer die Schenkung des Portraits an Zuckerkandl und/oder ihre Familie veranlasste, um sie – wie bereits zuvor – angesichts ihrer schwierigen wirtschaftlichen Lage finanziell zu unterstützen. Diese Lage habe dann auch zu einem nachfolgenden Verkauf an die Kunsthändlerin geführt.1234 Die rechtliche Beurteilung dieses Sachverhalts fällt äußerst knapp aus: Der Beirat erkennt zwar, dass nicht nur der potenzielle Verkauf an die Kunsthändlerin durch die Familie Zuckerkandl, sondern auch die mutmaßliche vorherige Übergabe durch Bloch-Bauer an Zuckerkandl ein zu untersuchendes Rechtsgeschäft darstellt. Er macht jedoch in keinerlei Hinsicht deutlich, welcher Prüfungspunkt gerade Gegenstand seiner Untersuchung ist. So scheint er in einem Zug Entziehung, Eigentümer:innenstellung und Ausschlussgründe zu prüfen. Ergebnis dieser erratischen Prüfung ist die Ablehnung einer Entziehung zulasten Bloch-Bauers durch die Überlassung des Portraits an die Familie Zuckerkandl. Dabei ist nicht ersichtlich, warum konkret der Kausalzusammenhang zwischen Überlassung und nationalsozialistischer Herrschaft abgelehnt wird. Denn ohne seine verfolgungsbedingte Flucht hätte Bloch-Bauer Amalie Zuckerkandl wohl auch weiterhin durch Zahlungen und nicht durch die konkrete Sachleistung in Form des Kulturguts unterstützt.1235 Es liegt daher nahe, dass die Ablehnung der Entziehung aufgrund des Umstandes erfolgte, dass die Schenkung von Bloch-Bauer an Zuckerkandl eine Überlassung unter sich nahestehenden Personen war. Dieser Interpretation schließt sich ein knappes Jahr später das vom Bund und den potenziellen Begünstigten im Nachgang angerufene Schiedsgericht ausdrücklich an.1236 Der Schiedsspruch wurde im Anschluss Gegenstand erheblicher Kritik.1237 Diese entzündete sich insbesondere am Widerspruch zum Rückstellungsrecht, das keine Differenzierung zwischen Schenkungen an öffentliche Sammlungen und nahestehende Privatpersonen vornahm. Die Kritik scheint auch am Beirat nicht spurlos vorbeigezogen zu sein, da er seit dem Zuckerkandl-Verfahren einen hohen Begründungsaufwand hinsichtlich des Kausalzusammenhangs bei Schenkungen an nahestehende Privatpersonen betreibt – wohlgemerkt ohne jemals auf den Schiedsspruch zu verweisen.

1234 Beschl. zu Amalie Zuckerkandl/Ferdinand Bloch-Bauer v. 29.06.2005, S. 2. 1235 So auch Graf, NZ 2007, 65, 72.

1236 Schiedsspruch Zuckerkandl-Portrait v. 07.05.2006, S. 16, abrufbar unter http://www.bslaw.com/altmann/Zuckerkandl/Deci-

sions/decision.pdf.

1237 Graf, NZ 2007, 65, 72; Dolinar, Rechtsgutachten v. 16.07.2007, S. 28; Graf, NZ 2020, 7, 10.

236  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

(1) Zugehörigkeit zum engen Familienkreis Nach dem Schiedsspruch zum Fall Amalie Zuckerkandl/Ferdinand Bloch-Bauer von 2006 setzt sich der Beirat erstmals im Beschluss zu Hermann Eissler von November 2009 ausdrücklich mit Schenkungen an eine nahestehende Privatperson auseinander, in diesem Falle an die als ›arisch‹ definierte Ehefrau des als ›Jude‹ definierten Eigentümers. Gerade in ›Mischehen‹1238 übertrug regelmäßig der als ›jüdisch‹ definierte Teil sein Vermögen auf den als ›arisch‹ definierten Teil, um das Vermögen dem Zugriff durch das nationalsozialistische Regime zu entziehen. Bereits 2007 ist im Beschluss zu Lothar Egger-Möllwald eine unentgeltliche Überlassung von Kulturgütern unter Eheleuten Gegenstand der Untersuchung des Beirats gewesen. Jedoch betrachtet er diese Überlassung ohne Problematisierung als Entziehung, vermutlich da sie – anders als im Fall Eissler – bereits in der Nachkriegszeit gerichtlich als Entziehung eingeordnet worden war.1239 Hermann Eissler war Eigentümer einer bedeutenden Kunstsammlung. Das verfahrensgegenständliche Gemälde war Teil der im Oktober 1938 sichergestellten und für die Ausfuhr gesperrten Objekte aus der Sammlung des als ›Jude‹ definierten Eissler. Diese Objekte wurden in die ›Reichsliste‹ eingetragen, die Kunstwerke enthielt, die einem Ausfuhrverbot unterstellt werden sollten. Dort wurde das Gemälde als das Eigentum von Eisslers als ›arisch‹ definierter Ehefrau Hortense Eissler vermerkt. Ihren Angaben im Rückstellungsverfahren 1970 zufolge habe Hermann Eissler ihr im Frühjahr 1939 im Zusammenhang mit der Flucht unter anderem seine Kunstsammlung, darunter das Gemälde, geschenkt. Auch in einem notariellen Verzeichnis von Juni 1940 zur Klärung der Eigentumsverhältnisse wurde sie als dessen Eigentümerin aufgeführt. Die Ehe zwischen Hortense und Hermann Eissler wurde im August 1939 geschieden, sie heirateten 1951 erneut. In der Nachkriegszeit ist keine Rückabwicklung dieser Eigentumsverhältnisse zwischen den Eheleuten vorgenommen worden. Angesichts der Ausführungen Hortense Eisslers im Rückstellungsverfahren 1970 geht der Beirat davon aus, dass Hermann Eissler ihr das Gemälde im Frühjahr 1939 geschenkt hatte. In Abgrenzung zu seiner bisherigen Empfehlungspraxis führt er aus, dass er in der Vergangenheit Schenkungen grundsätzlich als Entziehungen betrachtet habe. Bei der vorliegenden Schenkung habe es sich aber ausdrücklich nicht um eine Schenkung an eine öffentliche Sammlung, sondern um eine Schenkung an eine nahestehende Privatperson, konkret an die Ehefrau, gehandelt. Dem Beirat sei zwar die Flucht Hermann Eisslers als Ursache der Schenkung bewusst. Gleichwohl sei diese »weiterhin als Teil der umfassenden Maßnahmen Hermann Eisslers, seine Sammlung für sich, seine Frau und seine Tochter zu erhalten«, zu betrachten. Somit sei die Schenkung weniger Teil der Entziehung, sondern vielmehr »Teil der gemeinsamen Bemühungen […], eine Entziehung zu verhindern. Da die Ehepartner im Einvernehmen vorgingen, steht die Schenkung zwar in einem äußeren Zusammenhang mit der Verfolgung Hermann Eisslers«. Sie sei jedoch nicht als Entziehung durch Hortense Eissler zulasten Hermann Eisslers zu werten,

1238 S. zu ›Mischehen‹ im Allgemeinen unter § 7 D.II.1.b), S. 169. 1239 Beschl. zu Lothar Egger-Möllwald v. 07.12.2007, S. 1 f.

237  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

da es zwischen den Eheleuten Eissler auch während der nationalsozialistischen Herrschaft nicht an einem »(zumindest grundsätzlichen) Konsens« gemangelt habe.1240 Dies scheint im Widerspruch zu den Ausführungen betreffend ein anderes Werk im Beschluss zu Hermann Eissler von Juni 2009 zu stehen. Dort bezeichnet der Beirat Hermann Eissler als »Erstgeschädigte[n]«1241 gegenüber Hortense Eissler. So entsteht der Eindruck, dass er in diesem Beschluss durchaus von einer Entziehung Hortense Eisslers gegenüber Hermann Eissler ausgeht.1242 Im Beschluss von November 2009 macht der Beirat jedenfalls erstmals selbst die Dichotomie von Schenkungen an öffentliche Sammlungen und nahestehende Privatpersonen explizit, ohne jedoch deren Auswirkungen auf die Vermutungsdogmatik klarzustellen. Diese Wertung bestätigt der Beirat im Beschluss zu Carl Heumann: Unter Verweis auf den Beschluss zu Hermann Eissler untersucht er dort gar nicht erst eine Entziehung zulasten Carl Heumanns durch die Schenkung seiner Kunstsammlung an seine ebenfalls als ›arisch‹ definierte Ehefrau Irmgard Heumann.1243 Auch im Beschluss zu den Geschwistern Hermann und Käthe Kolisch verneint der Beirat – wenn auch ohne ausdrücklichen Verweis auf Eissler – eine Entziehung, da die »Schenkung innerhalb der Familie, konkret vom Onkel als Unterstützung an seine (gewesenen) Mündel« Hermann und Käthe Kolisch erfolgt sei.1244 Ebenso lehnt der Beirat im Beschluss zu Fritz Grünbaum eine Entziehung ab, da die Schenkung seiner Ansicht nach innerhalb des engsten Familienkreises im einvernehmlichen Vorgehen der Schenkungsparteien erfolgt sei.1245 Nach Ansicht des Beirats steht eine Schenkung mithin nur in einem äußeren Zusammenhang mit der Verfolgung, wenn die Überlassung aufgrund der engen familiären Verbindung der Schenkungsparteien mit dem Zweck erfolgte, durch ein einvernehmliches Vorgehen die Sammlung gemeinsam zu erhalten. (2) Zugehörigkeit zum engen Bekanntenkreis Die Ausführungen des Beirats zu Schenkungen an nahestehende Personen aus dem Beschluss zu Hermann Eissler werden im Beschluss zu Karl Mayländer umfassend konkretisiert.1246 Karl Mayländer war Textilunternehmer, unverheiratet und kinderlos, aber zeitgenössischen Quellen zufolge mit Etelka Hofmann liiert. Es ist bekannt, dass er zum Beispiel eine Ausstellung mit Werken Egon Schieles in seiner Wohnung veranstalte. In seiner Vermögensanmeldung von April 1938 gab der als ›Jude‹ definierte Mayländer »Bibliothek und Bilder, letztere nur von jungen österr. Künstlern (heute überhaupt nicht verkäuflich!)« an. Im Dezember 1938 korrigierte er diese Angaben dahingehend, dass der angegebene Verkaufswert zu optimistisch gewesen sei: »Trotz verschiedener Versuche sind diese Sachen momentan überhaupt nicht verkäuflich. Die Bilder sind von jüngeren

1240 Beschl. zu Hermann Eissler v. 29.11.2009, S. 7 f.

1241 Ausführlich zu »Primär- und Sekundärgeschädigten« s. unter § 7 C.I.2., S. 141. 1242 Beschl. zu Hermann Eissler v. 24.06.2009, S. 18. 1243 Beschl. zu Carl Heumann v. 16.03.2018, S. 5 ff.

1244 Beschl. zu Hermann u. Käthe Kolisch v. 08.10.2013, S. 3. 1245 Beschl. zu Fritz Grünbaum v. 15.10.2015, S. 7 f.

1246 Im Zuge dieser Konkretisierung entwickelt der Beirat zudem erstmals die allgemeine Regel für die Anforderungen an den

Kausalzusammenhang bei Rechtsgeschäften, s. dazu § 7 F.II.2., S. 233.

238  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

meist unbekannten österreichischen Malern; […] Das Dorotheum nimmt Bilder und Bücher nicht mehr an.« In der ›Sondervollmacht‹ von Oktober 1941 vor seiner Deportation wurden keine Kunstwerke mehr als vorhandenes Vermögen vermerkt. 1948 wurde in der Albertina eine Egon Schiele-Gedächtnisausstellung veranstaltet mit zahlreichen Leihgaben aus Privatbesitz. Darunter befanden sich auch Werke aus dem Besitz der im Nationalsozialismus als ›arisch‹ definierten Etelka Hofmann, die mit »Slg. Karl Mayländer« bezeichnet waren, unter anderem die fünf verfahrensgegenständlichen Aquarelle. Auch bei einer Ausstellung in Linz 1949 wurden Schiele Arbeiten gezeigt. In dem Katalog wird unter anderem den »Erben nach Karl Mayländer« gedankt. Im Februar 1949 beantragte die Albertina Mittel zum Erwerb von vier der in Rede stehenden Aquarelle, mit dem Vermerk, »die Stücke befinden sich im Besitz der Erben von Schieles Freund Bibliothekar Dr. Mayländer«. Anschließend wurden die Aquarelle erworben und mit dem Vermerk auf »E. Hofmann« inventarisiert. Das fünfte Aquarell wurde von der ­Albertina 1952 im Tauschweg von Rudolf Leopold erworben. Der Beirat entnimmt den wenigen Sachverhaltsangaben eine Nähebeziehung zwischen Mayländer und Hofmann sowie eine Schenkung Mayländers an Hofmann, nachdem sich die Sammlung als unverkäuflich erwiesen hatte.1247 Zunächst führt der Beirat aus, dass ein Rechtsgeschäft einer verfolgten Person, und damit auch eine Schenkung, grundsätzlich als Entziehung zu betrachten sei, es sei denn es steht ausnahmsweise nur in einem äußeren Zusammenhang mit der Verfolgung, da diese durch andere, »unbedenkliche« Beweggründe überlagert wird. Der Beirat bejaht im Fall Mayländer mangels entgegenstehender Anhaltspunkte für »unbedenkliche« Motive die Entziehung, also den inneren Zusammenhang mit der Verfolgung. Als maßgebliches Kriterium scheint er dabei neben der erfolglosen Flucht die fehlende formelle Verbindung zwischen Mayländer und Hofmann durch eine Ehe zu betrachten. Noch im Fall Eissler lehnt er nämlich eine Entziehung aufgrund eines gemeinsamen Vorgehens der Eheleute zum Erhalt der Sammlung ab. Demgegenüber geht er im Beschluss zu Karl Mayländer davon aus, dass sich in der Schenkung an Hofmann kein solch einvernehmliches Vorgehen, sondern gerade die Einschränkung der freien Willensbildung Mayländers durch die Verfolgung manifestiere. Dieser habe die Aquarelle ursprünglich zur Finanzierung seiner Flucht verkaufen wollen und erst nach Feststellung der Unverkäuflichkeit den Entschluss zur Schenkung an Hofmann gefasst. Zwar sei die Auswahl der Beschenkten durchaus von der Nähebeziehung motiviert gewesen, »dem Grunde nach bestimmt war die Übergabe doch durch die ­Verfolgungssituation« Mayländers.1248 Dies erweckt den Eindruck, dass ein einvernehmliches und gemeinsames Vorgehen der sich nahestehenden Personen zum Erhalt der Sammlung für den Beirat erfordert, dass sie verheiratet oder zumindest eng verwandt waren. Dies bestätigt sich etwa im Beschluss zu Oskar Reichel, in dem der Beirat eine Entziehung annahm, da Reichel das Kulturgut lediglich an eine Bekannte schenkte, nachdem seine Kern­ 1247 Beschl. zu Karl Mayländer v. 10.06.2011, S. 4. Interessanterweise scheint der Beirat zu verkennen, dass der Sachverhalt damit

weitestgehend dem Sachverhalt der einschlägigen Rückstellungsentscheidung entspricht. Der einzige Unterschied ist, dass in letzterer der Eigentümer flüchten konnte, Mayländer jedoch deportiert und ermordet wurde. Ungeachtet dessen stimmen die Schlussfolgerungen der Gremien heute und damals überein, vgl. RoK Wien, Entscheidung v. 10.09.1948 – Rkb Wien 817/48, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 3, 1949, Nr. 221, S. 445. 1248 Beschl. zu Karl Mayländer v. 10.06.2011, S. 5 f.

239  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

familie bereits ermordet, deportiert oder geflüchtet war.1249 Daraus folgt, dass ein Kausalzusammenhang zwischen der Schenkung an eine nahestehende Privatperson und der nationalsozialistischen Herrschaft ausnahmsweise nicht anzunehmen ist, wenn die Schenkung weniger durch die Verfolgung, sondern überwiegend durch die Beziehung zu der anderen Person und dem einvernehmlichen Wunsch zur Erhaltung der Sammlung motiviert war. Allein das gemeinsame und konsensuale Vorgehen vermag also die Verfolgung so weit abzumildern, dass diese nicht mehr als entscheidend für die Weggabe gilt. Maßgeblich für ein solches konsensuales Vorgehen ist nach Ansicht des Beirats jedoch das Beziehungsverhältnis zwischen den Schenkungsparteien. Während der Beirat bei Schenkungen unter Familienmitgliedern einen solchen Konsens annimmt, reichen eine bloße Bekanntschaft, aber selbst eine uneheliche Lebensgemeinschaft, zur Ablehnung des Kausalzusammenhangs nicht aus. cc) Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien

Um den Kausalzusammenhang bei Schenkungen im Lichte der Washingtoner Prinzipien einzuordnen, kann in vielerlei Hinsicht auf die Ausführungen zum Kausalzusammenhang bei Verkäufen verwiesen werden. Die Schenkung ist ebenso wenig wie der Verkauf als Verlustform in den Washingtoner Prinzipien enthalten. Während aber die Theresienstädter Erklärung Verkäufe ausdrücklich erfasst, nennt sie keine Schenkungen. Gleichwohl erwähnt sie Verluste »auf vielfältige Weise« und führt einen nicht abschließenden Katalog beispielhafter Verlustformen an.1250 In der Literatur wird die Entziehung durch Schenkung im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft nicht diskutiert. Daher hat die Bewertung aus der Empfehlungspraxis selbst heraus zu erfolgen. Für eine Beurteilung ist erneut der den Washingtoner Prinzipien inhärente Gleichheitssatz heranzuziehen.1251 Bevor die einzelnen Ausnahmen vom Kausalzusammenhang zu bewerten sind, ist kurz auf die Anwendung der Entziehungsvermutung auf Verluste durch Schenkung einzugehen. Bei Verkäufen wurden bereits die besonderen Beweisschwierigkeiten hervorgehoben,1252 diese bestehen bei Schenkungen regelmäßig in einem noch größeren Maße. Denn während für Verkäufe, auch unter Privaten, in der Regel zumindest Belege erstellt wurden, wenngleich diese heute nicht mehr auffindbar sind, wurden Schenkungen insbesondere unter Privatpersonen nur im seltensten Fall dokumentiert. Wenn somit bei Verkäufen die Vermutungsregel als notwendiges Instrument einer »gerechten und fairen Lösung« betrachtet wird, gilt dies für Verluste durch Schenkung erst recht. Gleichzeitig besteht bei einer Schenkung infolge der Unentgeltlichkeit, anders als beim Verkauf, eine höhere Tendenz zur Überlassung aus altruistischen, nicht mit der nationalsozialistischen Herrschaft zusammenhängenden Motiven. Es ist daher zu hinterfragen, ob dieser potenziell verstärkte altruistische Hintergrund einer Schenkung gleichzeitig auch stärker für die Unabhängigkeit der Schenkung von der nationalsozialistischen Herrschaft spricht.1253 1249 Beschl. zu Oskar Reichel v. 06.12.2011, S. 5.

1250 Ähnlich auch Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 14.

1251 S. zur Bedeutung des Gleichheitssatzes für eine »gerechte und faire Lösung« unter § 4 B.II.2., S. 44.

1252 S. zur Bewertung von Verkäufen im Lichte der Washingtoner Prinzipien unter § 7 F.II.2.a)cc), S. 226.

1253 In diese Richtung wohl Hellwig, Entwicklung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021,

S. 35, 52, der auf das immer wieder auftauchende Narrativ zurückgreift, dass viele als ›arisch‹ definierte Personen, ihren als ›Juden‹ definierten Bekannten schließlich nur geholfen hätten.

240  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

Mit der mittlerweile ständigen Empfehlungspraxis des Beirats ist dabei der Beweggrund für die Schenkung als maßgeblich zu erachten. Erfolgte die Schenkung etwa aus der überwiegenden Motivation heraus, dem Museum oder einer nahestehenden Person ein besonderes Kulturgut zukommen zu lassen, wäre eine Entziehung abzulehnen. Da es sich dabei aber angesichts der Verfolgung lediglich um Einzelfälle handelt, ist auch hier die widerlegbare Vermutung das geeignete Mittel. Denn diese enthält gerade eine Widerlegungsmöglichkeit, um solche Einzelfälle aufzufangen. Einer Anwendung der Vermutungsregel auf Schenkungen steht damit nichts entgegen. Vielmehr ist mit Blick auf den Gleichheitssatz geboten, für alle Rechtsgeschäfte dieselben allgemeinen Anforderungen an den Kausalzusammenhang aufzustellen. Ob die vom Beirat entwickelten Ausnahmen zur Widerlegung des Kausalzusammenhangs geeignet und damit als Bestandteil einer »gerechten und fairen Lösung« zu betrachten sind, ist nun zu untersuchen. Zunächst sind die Ausnahmen für Schenkungen an öffentliche Sammlungen im Lichte der Washingtoner Prinzipien zu betrachten. Aus dem Beschluss zu Gertrude Zarfl folgt die Ausnahme, dass kein Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft besteht, wenn die Schenkung der Umsetzung des hypothetischen Willens von Verstorbenen diente. Die Widerlegung beruht damit auf bloß hypothetischen Erwägungen. Diese sind jedoch zu unsicher, um der Vermutung ihre privilegierende Wirkung zu nehmen – die Widerlegung darf schließlich nicht selbst bloß auf Vermutungen beruhen. Lediglich die Ablehnung einer Entziehung aufgrund eines ausdrücklich geäußerten Willens einer verstorbenen Person wäre bei einer nachweislich privatautonomen, von der nationalsozialistischen Herrschaft unabhängigen Willensbildung zu respektieren. Die Ausnahme vom grundsätzlich vermuteten Kausalzusammenhang aufgrund eines entsprechenden Schenkungswillens der verstorbenen Ehe­partner:innen steht daher nur dann nicht im Widerspruch mit den Washingtoner Prinzipien, wenn dieser Wille nachweislich bestand. Ungeachtet dessen werden auch die konkreten Ausführungen des Beirats im Beschluss zu Gertrude Zarfl den Anforderungen der Washingtoner Prinzipien nicht gerecht. Denn entgegen der bisherigen Empfehlungspraxis bezieht der Beirat äußere Umstände in den Kausalzusammenhang mit ein. Diese Begründung ist daher auch mit Blick auf den für eine »gerechte und faire Lösung« elementaren Gleichheitssatz problematisch. Die dem Beschluss zur Familie Wittgenstein zu entnehmende Ausnahme ist auf den ersten Blick nicht im Lichte der Washingtoner Prinzipien zu beanstanden: Wenn bereits vor der natio­ nalsozialistischen Herrschaft eine Tradition bestand, dem Museum unentgeltlich Objekte zu überlassen, erscheint die Schenkung während der nationalsozialistischen Herrschaft als Fortsetzung dieser Tradition. Nichtsdestotrotz lässt die konkrete Anwendung der Ausnahme durch den Beirat im Fall Wittgenstein durchaus Raum für Kritik. Denn der Beirat legt seiner Ablehnung des Kausalzusammenhanges ein sehr weites Verständnis von Tradition zugrunde, wenn die letzte Schenkung zwanzig Jahre vor dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft erfolgte; unabhängig von der Bezugnahme Wittgensteins auf vorherige Schenkungen. Der Beirat hätte aufgrund dieses erheblichen Zeitraumes die Ausnahme näher ausführen müssen, um den Begründungsanforderungen der Washingtoner Prinzipien gerecht zu werden. Im Rahmen der Bewertung von Schenkungen unter sich nahestehenden Privatpersonen im Lichte der Washingtoner Prinzipien fällt zunächst auf, dass dort der altruistischen Natur der Schenkung vom Beirat zumindest unterschwellig besonders viel Bedeutung zugeschrieben wird. In diesem Lichte ist vor allem die Empfehlungspraxis zu Überlassungen unter Eheleuten in ›Mischehen‹ kritisch zu betrachten: Bei diesen Schenkungen zur Verhinderung eines Zugriffs

241  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

durch das nationalsozialistische Regime führt die Frage nach dem Beweggrund zu einem Dilemma: Natürlich erfolgte die Überlassung an den als ›arisch‹ definierten Teil, weil die Eigentü­ mer:innen verfolgt wurden. Zugleich beabsichtigte die Schenkung gerade keine Weggabe im engeren Sinne infolge der nationalsozialistischen Herrschaft, sondern sollte vielmehr den Erhalt des Kulturguts trotz der nationalsozialistischen Herrschaft in der Familie bezwecken. Der überwiegende Beweggrund für die Überlassung bleibt jedoch die Verfolgung, selbst wenn der Zweck der Überlassung der Erhalt des Kulturguts war. Dieser ändert nichts an dem entziehenden, also von der nationalsozialistischen Herrschaft abhängigen, Charakter der Schenkung. Damit der Beirat den einer »gerechten und fairen Lösung« inhärenten Gleichheitssatz wahrt und gleiche Anforderungen an die Entziehung durch Rechtsgeschäft stellt, kann dieses konsensuale Vorgehen nicht im Rahmen der Entziehung berücksichtigt werden. Es bietet sich vielmehr an, diese Fälle der unentgeltlichen Vermögensübertragungen unter engen Familienmitgliedern zum Erhalt der Sammlung auf der Ebene der Ausschlussgründe zu lösen. Die Restitution wäre dann unter Verweis darauf abzulehnen, dass das Kulturgut nachweislich nach Kriegsende aufgrund dieser internen Vermögensverschiebung zurück in die Verfügungsmacht der ursprünglichen Eigentümer:innen gelangt war oder diese ausdrücklich oder konkludent den in der Nachkriegszeit bestehenden Eigentumsverhältnissen zugestimmt hatten. Dies erscheint auch systematisch schlüssig, da die vom Beirat etablierten Ausschlussgründe allesamt auf Geschehnisse aus der Nachkriegszeit zurückzuführen sind.1254 In jedem Fall würde eine Restitution dieser intern verschobenen Kulturgüter keine »gerechte und faire Lösung« darstellen, da ein Großteil des heute den Nachkommen dieser Paare in ›Mischehen‹ gehörenden Vermögens unter den verschiedenen Familienzweigen aufgeteilt werden müsste. c) Der Verlust durch sonstige Rechtsgeschäfte

Nachdem die beiden wichtigsten rechtsgeschäftlichen Verlustformen dargestellt wurden, soll nun ein Blick in die Beschlüsse geworfen werden, die sich mit anderen rechtsgeschäftlichen Verlusten auseinandersetzen. Zu beginnen ist mit der Leihe, die bereits mehrfach Gegenstand eines Beschlusses war. Auch der anschließend untersuchte Tausch wurde bereits in zwei Beschlüssen untersucht. Die Verluste durch Vergleich sowie durch testamentarischen Ausschluss vom gesetzlichen Erbrecht finden sich demgegenüber nur in jeweils einem einzigen Beschluss und werden daher zuletzt untersucht. Abschließend ist die Empfehlungspraxis zu diesen Verlusten gemeinsam im Lichte der Washingtoner Prinzipien zu bewerten. aa) Leihe

Die Leihe, die auf einem Leihvertrag nach § 971 ABGB beruht, bereitet dem Beirat deutlich mehr Schwierigkeiten als die ebenfalls unentgeltliche Schenkung. Anhaltspunkte für den Umgang mit der Leihe lassen sich insbesondere dem Beschluss zu Stefanie Demeter entnehmen. Das Ehepaar Stephen und Stefanie Demeter überließ dem Museum für Völkerkunde bereits 1935 verschiedene Objekte als Leihgaben. 1938 wurde zwischen der als ›Jude‹ definierten Stefanie Demeter und dem Museum ein Leihvertrag bezüglich 351 weiteren 1254 S. zu den Ausschlussgründen ausführlich unter § 9, S. 273.

242  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

Objekten vereinbart, zudem wurden 1940 verschiedene Objekte dem Museum geschenkt. Die Leihverträge sind anschließend nicht aufgekündigt worden. Obwohl eine Rückgabe aufgrund des Leihvertrages ohnehin am fehlenden Bundeseigentum beziehungsweise dem fortbestehenden Eigentum von Demeter oder ihren Rechtsnachfolger:in­ nen scheitert, sind die Ausführungen des Beirats in diesem Beschluss sehr umfassend. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass die Einordnung einer Leihe eine Auseinandersetzung mit der Trennung von Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft virulent macht. Gleiches gilt für die unentgeltliche Verwahrung,1255 die aber keine explizite Rolle in der Empfehlungspraxis des Beirats spielt.1256 So diskutiert der Beirat im Fall Demeter, ob neben der – vom Rückstellungsrecht der Nachkriegszeit eindeutig abgedeckten1257 – dinglichen Beschränkung auch eine schuldrechtliche Begrenzung der Verfügungsmacht durch einen Leihvertrag für den Verlust genügt. Er lässt das Ergebnis aber letztlich offen.1258 Es folgen trotz des fehlenden Bundeseigen­tums und des offen gehaltenen Verlusts noch kurze Ausführungen zum Kausalzusammenhang der Leihe mit der nationalsozialistischen Herrschaft. Diesen scheint der Beirat abzulehnen, da den Unterlagen »kein Hinweis darauf zu entnehmen [sei], dass der Leihvertrag im Juli 1938 unter Zwang zustande gekommen wäre.«1259 Entgegen dem vom Beirat etablierten Regel-Ausnahme-Verhältnis wird augenscheinlich der Kausalzusammenhang nicht vermutet, sondern es müssen Anhaltspunkte für diesen Kausalzusammenhang vorliegen. Dies widerspricht aber der ständigen Empfehlungspraxis des Beirats, grundsätzlich eine Entziehung anzunehmen. Es lässt sich lediglich vermuten, dass der Kausalzusammenhang zwischen der Leihgabe 1938 und der nationalsozialistischen Herrschaft vom Beirat abgelehnt wurde, da bereits 1935 Objekte von Demeter als Leihgaben überlassen wurden.1260 bb) Tausch

Der Tausch beruht im Sinne des Kausalprinzips auf einem Tauschvertrag nach § 1045 ABGB. Aufgrund der konzeptionellen Nähe von Kauf und Tausch nach § 1066 ABGB kann für die Untersuchung des Verlusts durch Tausch in vielerlei Hinsicht auf die Ausführungen zum ebenfalls entgeltlichen Verkauf verwiesen werden. Die zwei Beschlüsse zum Tausch umfassende Empfehlungspraxis ist hier anhand des Beschlusses zu Moritz Kuffner darzustellen.

1255 Die Verwahrung beruht im Sinne des Kausalprinzips auf einem Vertrag nach §§ 957, 969 ABGB.

1256 Andeutungen im Beschl. zu Fritz Grünbaum v. 15.10.2015, S. 8; Beschl. zu Josef Morgenstern v. 06.03.2020, S. 5; a.A jedoch

jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 166 Fn. 1007.

1257 ORK, Entscheidung v. 19.02.1949 – Rkv 23/49, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 339, S. 192;

ORK, Entscheidung v. 24.09.1949 – Rkv 353/49, JBl 1950, 18, 18.

1258 Beschl. zu Stefanie Demeter v. 14.12.2005, S. 2; ähnlich auch Beschl. zu Rudolf Gutmann v. 22.06.2004, S. 3; Beschl. zu Flora

Wilhelm v. 14.12.2005, S. 1 f. und Beschl. zu Gottlieb Kaldeck v. 29.03.2006, S. 2.

1259 Beschl. zu Stefanie Demeter v. 14.12.2005, S. 2 f.

1260 Diese Konstellation erinnert an die – wenngleich knapp zwanzig Jahre später entwickelte – Ausnahme des Kausalzusammen-

hangs bei Schenkungen durch »Fortsetzung einer bestehenden Tradition« aus dem Fall Wittgenstein, s. dazu unter § 7 F.II.2.b)aa)(2), S. 234.

243  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

Ein Großteil der Sammlung des als ›Jude‹ definierten Moritz Kuffner wurde beschlagnahmt. Neun Zeichnungen wurden jedoch 1938 gegen zur Ausfuhr freigegebene Doubletten aus der Albertina eingetauscht. Der Beirat hält im Beschluss zu Moritz Kuffner fest, dass bei der Tauschaktion von 1938 von einer Entziehung »auszugehen« sei, obwohl den im Tausch vom Museum erhaltenen Doubletten »ein jedenfalls nicht in auffallendem Missverhältnis stehender Gegenwert zugekommen« sei und Kuffner diese habe ausführen können.1261 Dem Beschluss lässt sich daher entnehmen, dass beim Tausch – ebenso wie beim Verkauf – der Kausalzusammenhang grundsätzlich vorliegt und die Angemessenheit der Gegenleistung unerheblich ist. Etwa einen Monat später, im Beschluss zu Lothar Körner, führt der Beirat demgegenüber aus, dass »offen bleiben« müsse, ob der Tausch eine Entziehung darstelle, da Körner »ein offenbar entsprechender Gegenwert in Doubletten zugekommen [sei], die auch ins Ausland ausgeführt werden durften.«1262 Während somit im Beschluss zu Moritz Kuffner die Angemessenheit der Gegenleistung und deren Verfügbarkeit durch Ausfuhr als unerheblich erachtet werden, scheint der Beirat im Beschluss zu Lothar Körner beide Faktoren zur Widerlegung des Kausalzusammenhangs ausreichen zu lassen. cc) Vergleich

Neben Verkauf und Tausch zählt auch der Vergleich, im Sinne des Kausalprinzips beruhend auf einem Vergleichsvertrag nach § 1380 ABGB, zu den entgeltlichen Verlusten. Ein Vergleich dient der Regelung ungeklärter Rechte durch gegenseitiges Nachgeben der Parteien.1263 Der Beirat setzt sich lediglich in einem Beschluss ausdrücklich mit einem Verlust durch Vergleich auseinander, dem Beschluss zu Otto Feist. Nach dem Tod Caesar Wollheims 1882 wurde die Firma Caesar Wollheim von dessen Mitgesellschafter Eduard Arnold als Alleingesellschafter übernommen. Der Berliner Kunstsammler Otto Feist war mit der Tochter Wollheims, Hermine, verheiratet. Otto Feist verstarb bereits 1912, seine Ehefrau Hermine Feist im November 1933. Der Nachlass war hoch verschuldet und auch die beiden Söhne hatten Schulden. Diese bestanden unter anderem in Höhe von RM 390.000 bei der Firma Caesar Wollheim, die durch ein Pfandrecht an der Kunstsammlung gedeckt waren. Die Schulden der Brüder Feist-Wollheim bei der Firma waren als Vorschuss des Ehepaares Arnold für den Lebensunterhalt der Familie Feist/Feist-Wollheim erfolgt, ohne dass diese dafür Sicherheiten verlangt hatten. Arnolds Enkel, die Brüder Kunheim, führten die Firma ab 1929. Im November 1933, drei Monate nach dem Tod von Hermine Feist, waren die Schulden der als ›Juden‹ definierten Brüder Feist-Wollheim bei der Firma Wollheim fällig. Erst zu diesem Zeitpunkt strebte die Firma zur Deckung der Schulden die Verpfändung und Verwertung der aus dem Nachlass der Eheleute Feist stammenden Sammlung an. Im

1261 Beschl. zu Moritz Kuffner v. 10.10.2000, S. 3. 1262 Beschl. zu Lothar Körner v. 28.11.2000, S. 2.

1263 Rummel/Lukas/Ertl, ABGB, Januar 2002, § 1380 Rn. 1 f.; Klang/Fucik, ABGB, 3. Aufl. 2011, § 1380 Rn. 2; Kletečka/Schau-

er/Kajaba, ABGB, Januar 2018, § 1380 Rn. 1 ff.; Koziol/Bydlinski/Bollenberger/Neumayr, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 1380 Rn. 1.

244  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

Oktober 1936 schlossen die Brüder Feist-Wollheim mit der Firma Caesar Wollheim schließlich einen Vergleich, der die Schulden der Brüder bei der Firma auf RM 200.000 ermäßigte, die Verpfändung der Sammlung Zug um Zug gegen Bezahlung der Schulden freigab und eine Übereignung von sechs Skulpturen an die Firma regelte. Unter diesen Skulpturen befand sich auch die verfahrensgegenständliche Büste. Im Juni 1939 wurde ein Teil der Sammlung, darunter auch die Büste, in Berlin versteigert. Das Kunsthistorische Museum erwarb diese im Juni 1943 von einer Wiener Kunsthändlerin. Es ist nicht bekannt, ob diese die Skulptur zuvor bei der Versteigerung in Berlin oder bei Zwischen­ händler:innen erworben hatte. Nach Kriegsende stellte einer der Brüder Feist-Wollheim mehrere Restitutionsanträge betreffend die Kunstsammlung aus dem Nachlass seiner Mutter Hermine und warf Hugo Kunheim vor, dass dieser durch die Einforderung des Vorschusses seine Emigration behindert habe, da Eduard Arnold den Vorschuss als »Unterstützung« betrachtet und anders als seine Enkel daher nie zurückverlangt hätte. Der Beirat betrachtet den Vergleich der Brüder Feist-Wollheim mit der Firma Caesar Wollheim als das für den Verlust maßgebliche Rechtsgeschäft.1264 Der für die Prüfung des KRG entscheidende Inhalt des Vergleichs ist die Übereignung der sechs Skulpturen, darunter die verfahrensgegenständliche Büste. Somit wird nochmal deutlich, dass der Beirat den Verlust funktional betrachtet und keine klare Trennung von Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft verfolgt. Nach Ansicht des Beirats stellt dieser Vergleich keine Entziehung der Büste dar, da der Verlust auch unabhängig von der nationalsozialistischen Herrschaft erfolgt wäre. Als Entziehung könne nach der Rückstellungsrechtsprechung »nur ein widerrechtlicher Vorgang verstanden werden, nicht aber das Verlangen auf Erfüllung einer schon vor der NS-Machtübernahme begründeten Verpflichtung. Das Begehren auf Zuhaltung einer noch unter normalen Verhältnissen übernommenen Verpflichtung könnte nur dann eine Entziehung darstellen, wenn es ausschließlich aus Gehässigkeit oder nur zu dem Zweck, um den Schuldner [sic] Schaden zuzufügen, erhoben worden wäre.«1265 Die Schulden als ein »Vorschuss auf den Lebensunterhalt« der Eheleute Arnold sowie das Pfandrecht an der Kunstsammlung der Familie Feist/Feist-Wollheim seien dem Beirat zufolge bereits vor der nationalsozialistischen Herrschaft begründet worden. Der Vergleich von 1936 sei daher mit Blick auf die Fälligkeit der zuvor begründeten Verbindlichkeit im November 1933 nach Ansicht des Beirats nicht aus Gehässigkeit oder Schadensabsicht abgeschlossen worden. Dies lasse sich nicht bloß annehmen, weil der vorherige Gläubiger, der verstorbene Arnold, aus offenbar persönlicher Verbundenheit auf die Rückzahlung bei Fälligkeit verzichtet hätte. Die entscheidenden Umstände scheinen für den Beirat also die bereits vor dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft begründeten Schulden sowie die zeitgleich vereinbarte Deckung durch die Verpfändung der Kunstsammlung zu sein. Daher wäre die Übereignung der Skulpturen zur Bezahlung der Schulden auch ohne Verfolgung erforderlich gewesen. Zumal die­ se auch erst im November 1933, also nach dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft,

1264 Beschl. zu Otto Feist v. 03.05.2013, S. 3 f. Im Gegensatz zum Beschluss zu Rudolf Mosse ist hier eindeutig naheliegender, den

Vergleich als Verlustvorgang zu untersuchen, da dieser als eine Bestimmung die Übereignung der Skulpturen vorsah, s. dazu unter § 7 F.II.2.a)bb)(2)(b), S. 221. 1265 ORK, Entscheidung v. 24.01.1953 – Rkv 232/52 (insoweit vom Beirat unter falscher Jahreszahl (1949) zitiert).

245  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

fällig wurden. Ein Zahlungsanspruch war mithin zuvor vermutlich nicht durchsetzbar. Dies stimmt mit der Empfehlungspraxis zur Ausnahme durch vorherige wirtschaftliche Schwierigkeiten bei Verkäufen überein. Denn auch diese können einen Kausalzusammenhang nur ausschließen, wenn die Überwindung der Schwierigkeiten auch ohne die nationalsozialistische Herrschaft nur durch den Verkauf der konkreten Kulturgüter erfolgt wäre.1266 Aus dem Beschluss folgt daher, dass bei einem Vergleich die Verfolgung von anderen, »unbedenklichen« Beweggründen überlagert wird, wenn die zum Vergleich führenden Schulden sowie deren Sicherung schon vor der nationalsozialistischen Herrschaft begründet wurden. Es sei denn, die Erfüllung der Schulden wurde ausschließlich aus Gehässigkeit oder Schädigungsabsicht der Gläubiger:innen gegenüber den Schuldner:innen verlangt. Eine solche Gehässigkeit kann aber nach Ansicht des Beirats nicht allein in dem Umstand begründet sein, dass die Nachfolge der Gläubiger:innen in der Gesellschaft bei Fälligkeit auf einer Erfüllung besteht, während die vorherigen Gläubiger:innen aus persönlicher Verbundenheit auf die Rückzahlung bei Fälligkeit verzichtet hätten. dd) Testamentarischer Ausschluss vom gesetzlichen Erbrecht

Ein Verlust konnte nach Ansicht des Beirats nicht nur infolge zweiseitiger, sondern auch aufgrund einseitiger Rechtsgeschäfte eintreten, etwa einem testamentarischen Ausschluss vom gesetzlichen Erbrecht im Sinne des § 552 ABGB. Solche testamentarischen Erbrechtsausschlüs­ se wurden vor allem für als ›Juden‹ definierte Personen relevant, die zur Verhinderung des Zugriffs durch das nationalsozialistische Regime ihr Vermögen häufig an als ›arisch‹ definierte Personen vererbten.1267 Dabei ist nicht zu verkennen, dass letztlich auch diese »Verhinderung« oftmals nur eine Verschiebung der Nutznießenden vom Deutschen Reich auf Privatpersonen darstellte, wie auch der Beschluss zu Lothar Egger-Möllwald veranschaulicht. Zur Verhinderung der Enteignung übertrug die als ›Jude‹ definierte Eveline Egger-Möll­ wald ihr Vermögen auf ihren als ›arisch‹ definierten Ehemann Lothar Egger-Möllwald. Um auch einen Zugriff auf das Vermögen im Falle seines Vorversterbens zu verhindern, setzte er in seinem Testament eine ebenfalls als ›arisch‹ definierte Italienerin als Erbin ein. Das verfahrensgegenständliche Gemälde wurde nach seinem Tod 1941 aufgrund des Testaments sodann nicht an seine Ehefrau Eveline Egger-Möllwald, sondern die italienische Erbin freigegeben. Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung ist allein die testamentarische Verfügung Lothar Egger-Möllwalds zugunsten der als ›arisch‹ definierten Erbin anstelle seiner als ›Jude‹ definierten Ehefrau Eveline Egger-Möllwald. Bereits die Rückstellungsrechtsprechung, also die Judi­ katur zu Restitutionen in der Nachkriegszeit, sah in einem solchen Ausschluss des gesetzlichen Erbrechts zugunsten als ›arisch‹ definierten Personen einen Verlust zulasten der gesetzlichen Erbberechtigten. Eine Entziehung setzte mithin nicht voraus, dass die letztwillig verfügenden Eigentümer:innen das Objekt durch das Rechtsgeschäft verloren hatten. Vielmehr wurde sie 1266 S. dazu ausführlich bei Verkauf unter § 7 F.II.2.a)bb)(2)(b), S. 221.

1267 ORK, Entscheidung v. 26.02.1949 – Rkv 64/49, in: Heller/Rauscher, Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 380, S. 269;

Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 104 ff.; Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 88 f.

246  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

bereits angenommen, wenn »im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Machtübernahme einem Dritten etwas zugewendet wird, was sonst den gesetzlichen Erben (die hier Eigentümer – Berechtigte – im Sinne des § 1 Abs. 1 des 3. Rückstellungsgesetzes sind) zugefallen wä­ re«.1268 Maßgeblich war also, dass ein »Verlust der Anwartschaft auf das Eigentum« eintrat, um das Vermögen vor dem nationalsozialistischen Zugriff zu retten.1269 Der Beirat erachtet folglich bereits den Verlust der Rechtsgrundlage für den Eigentumserwerb, hier »das Gesetz«,1270 als ausreichend für eine Entziehung. Dies unterstreicht erneut das funktionale Verlustverständnis des Beirats. Unter Verweis auf die Rückstellungsverfahren der Nachkriegszeit zu Liegenschaften der Familie Egger-Möllwald nimmt der Beirat folglich einen Kausalzusammenhang zwischen der nationalsozialistischen Herrschaft und dem Verlust des Gemäldes durch die testamentarische Verfügung zulasten der Söhne als gesetzliche Erben an.1271 In der spezifischen Benachteiligung der gesetzlichen Erbberechtigten liegt auch der Unter­ schied zu einem vor der nationalsozialistischen Herrschaft aufgesetzten Vermächtnis, das im Beschluss zu Eugenie Banhans diskutiert wird. Denn zur Erfüllung eines Vermächtnisses sind alle Erbberechtigten verpflichtet. Es ist somit unerheblich, welche Personen als ­Erbberechtigte eingesetzt wurden, der Anspruch auf das Vermächtnis besteht sowohl gegen die gesetzlichen als auch gegen die aus diskriminierenden Gründen eingesetzten Erbberechtigten.1272 Zudem wurde das Vermächtnis im Fall Banhans deutlich vor der nationalsozialistischen Herrschaft, und damit in zeitlicher Hinsicht von dieser unabhängig, aufgesetzt. Der testamentarische Ausschluss vom gesetzlichen Erbrecht als ›Juden‹ definierter Personen stellt daher grundsätzlich eine Entziehung dar. Ein vor der nationalsozialistischen Herrschaft verfasstes Vermächtnis bleibt davon aber unberührt. Eine spezifische Ausnahme kann der Empfehlungspraxis nicht entnommen werden, doch ist auch hier davonauszugehen, dass der Kausalzusammenhang im Falle anderer »unbedenklicher«, die Verfolgung überlagernder Beweggründe abgelehnt würde. ee) Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien

Ein Blick in die Washingtoner Prinzipien zeigt sogleich, dass ihr Wortlaut nicht die hier als sons­ tige, rechtsgeschäftliche Verluste erfassten Spezialformen abdeckt. Aus der Theresienstädter Erklärung folgt jedoch, dass diverse Verlustformen eine Entziehung darstellen können.1273 Die Literatur ist bisher nicht auf solche speziellen Fälle eingegangen, sodass erneut hier die Empfehlungspraxis aus sich selbst heraus zu bewerten ist. Eine umfassende Auseinandersetzung mit der Anwendung der Vermutungsregel auf jedes einzelne der untersuchten ­Rechtsgeschäfte soll an dieser Stelle nicht erfolgen.

1268 ORK, Entscheidung v. 21.06.1952 – Rkv 112/52.

1269 ORK, Entscheidung v. 21.06.1952 – Rkv 112/52; vgl. ORK, Entscheidung v. 26.02.1949 – Rkv 64/49, in: Heller/Rauscher,

Wiedergutmachungsgesetze Nr. 4, 1949, Nr. 380, S. 269; ORK, Entscheidung v. 28.01.1950 – Rkv 451/49; Wahle, ÖJZ 1950, 27, 29; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 104 ff.; Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 88 f. 1270 S. zum Gesetz als Grundlage des Eigentumserwerbs Kletečka/Schauer/Mader, ABGB, März 2019, § 424 Rn. 5. 1271 Beschl. zu Lothar Egger-Möllwald v. 07.12.2007, S. 1 f. 1272 Beschl. zu Karl Banhans v. 10.06.2011, S. 2 f. 1273 S. zur Vielfältigkeit der erfassten Verlustformen unter § 7 F.II.1.d), S. 210.

247  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

Gerade für den Verlust durch Tausch und Vergleich hat be­reits die Untersuchung gezeigt, dass weitestgehend auf die im Rahmen des Verkaufs etablierten Ausnahmen verwiesen werden kann. Die Leihe als unentgeltlicher Vertrag sowie der testamentarische Ausschluss vom gesetzlichen Erbrecht als einseitiges Rechtsgeschäft weisen daneben einige Wertungsparallelen zur Schenkung auf. Denn beide Rechtsgeschäfte konnten nicht unmittelbar zur Finanzierung von Flucht und Überleben genutzt werden, waren aber gleichwohl oftmals auf die Verfolgung zurückzuführen. Während die Ausführungen des Beirats zum Vergleich sowie zum testamentarischen Ausschluss vom gesetzlichen Erbrecht eine sehr tiefgehende und dichte Begründung aufweisen, werfen die Beschlüsse zur Leihe und zum Tausch erhebliche Probleme auf. Im Falle der Leihe versäumt es der Beirat zum einen, eine Abgrenzung von dinglicher und schuldrechtlicher Verfügungsmacht und damit eine Konkretisierung seines Verlustbegriffs vorzunehmen. Zum anderen greift er in seinen – mangels Bundeseigentum – hilfsweisen Ausführungen auf Formulierungen zurück, die eine Abkehr von der Vermutungsdogmatik suggerieren. Die beiden Beschlüsse zum Tausch sind in zweierlei Hinsicht anhand des einer »gerechten und fairen Lösung« innewohnenden Gleichheitssatzes zu kritisieren. Diese Kritik entzündet sich zum einen an einem Vergleich mit der sonstigen Empfehlungspraxis, zum anderen an einem Ver­ gleich der beiden Beschlüsse untereinander. Durch eine Gegenüberstellung mit der sonstigen Praxis fällt zunächst auf, dass der Beirat im Beschluss zu Lothar Körner die Angemessenheit der Gegenleistung in die Beurteilung der Entziehung einfließen lässt, obwohl diese in der Empfehlungspraxis des Beirats zu Verkäufen gerade kein beachtliches Kriterium darstellt. Zugleich verdeutlicht diese Relevanzzuschreibung letztlich auch eine Abkehr von der Vermutungsdogmatik des Beirats, da die Angemessenheiten des Kaufpreises keinen der erforderlichen Beweg­gründe für die Widerlegung des vermuteten Kausalzusammenhangs darstellt.1274 Doch auch für Tauschgeschäfte muss infolge des Gleichheitssatzes maßgeblich sein, ob diese bloß in einem äußeren Zusammenhang mit der Verfolgung standen, da die Verfolgung von anderen, »unbedenklichen« Motiven überlagert wurde. Diese Beurteilung des Beirats ist umso erstaunlicher, als die konzeptionelle Nähe von Verkauf und Tausch nahelegt, bei beiden Rechtsgeschäften dieselben Anforderungen an eine Entziehung zu stellen. Darüber hinaus hat der Beirat noch im ebenfalls einen Tausch betreffenden Beschluss zu Moritz Kuffner wenige Monate zuvor einen Kausalzusammenhang trotz der angemessenen Gegenleistung angenommen. Der Beschluss zu Lothar Körner widerspricht somit nicht nur der Rechtsgeschäfte im Allgemeinen betreffenden Empfehlungspraxis, sondern setzt sich auch innerhalb der Beurteilung ein- und derselben rechtsgeschäftlichen Verlustform in Widerspruch. Die Untersuchung der sonstigen rechtsgeschäftlichen Verluste veranschaulicht, dass die vom Beirat entwickelte Dogmatik der Vermutungsregel durchaus auch zur Erfassung atypischer Sachverhalte geeignet ist. Voraussetzung ist jedoch, dass der Beirat sich an diese Dogmatik hält und dementsprechend begründet, warum im Einzelfall eine Ausnahme vom Kausalzusammenhang vorliegt. Bei der Prüfung der Entziehung in atypischen Fällen mangelt es teils noch an diesem Begründungsaufwand, besonders mit Blick auf den Gleichheitssatz.

1274 S. zur Unerheblichkeit des Erhalts eines angemessenen Kaufpreises unter § 7 F.II.2.a)bb)(1), S. 218.

248  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

3. Der Verlust durch Realakt

Dem Wortlaut der Tatbestände von § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG zufolge sind Verluste durch Realakt, also durch tatsächliches Handeln, nicht vom KRG erfasst. Bei Realakten handelt es sich oftmals um Vorgänge, die bereits durch das allgemeine Strafrecht sanktioniert werden, wie etwa Diebstahl und Raub, und eine sehr typische Konstellation eines Vermögensverlustes darstellen. Ebenso wenig findet sich diese Verlustform im Wortlaut des NichtigkeitsG. Dabei wurde in dessen Rezeption bereits betont, dass Vermögen teils »einfach mit brutaler Gewalt entrissen« und auch diese Vorfälle unter das NichtigkeitsG zu fassen seien.1275 Das Rückstellungsrecht nannte sodann in § 1 Abs. 1 Drittes Rückstellungsgesetz den »eigenmächtigen« Zugriff als Entziehungshandlung, in den nur schwer ein rechtliches Handeln hineingelesen werden kann. Gleichwohl ist bis heute umstritten, ob trotz der infolge des fortbestehenden Eigentumsrechts oftmals noch möglichen Vindikation auch Realakte vom Rückstellungsrecht erfasst waren.1276 In der heutigen Rezeption des Nachkriegsrechts wird dies aber durch historische und teleologische Auslegung überwiegend befürwortet.1277 Nichtsdestotrotz wurden auch im Zuge der Novelle des KRG 2009 Realakte nicht in die Verlustformen aufgenommen. Dementsprechend unausgereift ist die Empfehlungspraxis, wenn doch einmal ein Realakt vorlag. Denn diesen subsumiert der Beirat entgegen dem Wortlaut des KRG unter seine Tatbestände, jedoch ohne dies ausdrücklich kenntlich zu machen. Im Beschluss zu Siegfried Julius lässt der Beirat etwa dahinstehen, »ob dem Verlust der Sammlung eine hoheitliche Anordnung oder ein (einseitiger) zivilrechtlicher Akt, wie eine schlichte Aneignung, zu Grunde lag.«1278 Selbst wenn diese explizite Stellungnahme auf den Umstand zurückzuführen wäre, dass es sich in diesem Fall nicht um Bundeseigentum, sondern um kommunales Eigentum handelt, führt der Beirat dies in seiner Begründung nicht an. Aus dem Beschluss folgt lediglich, dass auch die Aneignung als Realakt eine Entziehung darstellen kann.1279 a) Der Verlust durch Leistung eines Erfüllungssurrogats

Der vom Beirat 2012 im Beschluss zu Josef Blauhorn untersuchte Realakt ist die Leistung eines Erfüllungssurrogats nach § 1414 ABGB,1280 die dort als »entgeltliches Geschäft« bezeichnet wird.1281 Wenngleich der Beirat hier das Vorliegen eines Realakts nicht ausdrücklich prüft, lässt sich an diesem doch erstmals erkennen, wie sich die Dogmatik der Vermutungsregel auch unproblematisch auf Realakte anwenden lässt. 1275 Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 1, 1946, S. 90.

1276 Burkhart-Schenk, ÖJZ 1947, 347, 348; Schwind, JBl 1949, 231, 232; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 58 ff.; Jungwirth,

NS-Restitutionen, 2008, S. 20 ff.

1277 Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 58; Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 261 f.; Graf, in: Forum Politische Bildung

(Hrsg.), Wieder gut machen?, 1999, S. 124, 128; Wiederin, Kunstrückgabegesetz, 2006, S. 12; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 114; vgl. Wladika, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 263, 265 f.; jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 165 f. 1278 Beschl. zu Siegfried Julius v. 03.07.2014, S. 2. Die Bezeichnung der Aneignung als »zivilrechtlicher Akt« ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass sie nach § 381 ABGB einen Eigentumserwerb begründen kann. 1279 Ähnlich Beschl. zu Ernst Sonnenschein v. 29.03.2009, S. 2; Beschl. zu Valerie Karplus v. 12.10.2012, S. 5. 1280 Die Leistung selbst stellt kein Rechtsgeschäft dar, lediglich die Erklärung der Gläubiger:innen, die Leistung als Erfüllung der vorherigen Verbindlichkeit gelten zu lassen, ist als einseitiges Rechtsgeschäft zu betrachten, vgl. MüKo/Kroll-Ludwigs, BGB, 8. Aufl. 2020, §1831 Rn. 3. 1281 Kletečka/Schauer/Stabentheiner, ABGB, Juli 2018, § 1414 Rn. 4; Klang/Rudolf, ABGB, 3. Aufl. 2019, § 1414 Rn. 7; Rummel/ Lukas/Reischauer, ABGB, Oktober 2020, § 1414 Rn. 19.

249  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

Nach dem ›Anschluss‹ wurde der als ›Jude‹ definierte Josef Blauhorn von Hans Dechant anwaltlich vertreten. Blauhorn beantragte die Ausfuhr seiner Kunstsammlung, dem Antrag wurde im Januar 1939 jedoch nur teilweise stattgegeben. Zehn Werke, darunter die beiden verfahrensgegenständlichen Gemälde, wurden von der Ausfuhr gesperrt. Anfang Februar 1939 wurden diese beiden Werke »unter Wahrung der ­Eigentumsrechte des Herrn Dr. Josef Blauhorn« in das Depot der Österreichischen Galerie Belvedere verbracht. Blauhorn flüchtete Mitte Februar 1939 nach London. Nachdem die Österreichische Galerie Belvedere Interesse an einem Ankauf der beiden Gemälde geäußert hatte, erklärte Dechant in einem Schreiben von Februar 1940 an die Zentralstelle für Denkmalschutz, dass ihm die beiden Gemälde »von Dr. Blauhorn auf Abschlag meiner Expensen überlassen« worden seien und bat um Übergabe der Gemälde. Im März 1940 schrieb er der Zentralstelle, dass er die Gemälde nur ungern abgebe, erklärte sich jedoch zu Verkaufsverhandlungen bereit. Im Rahmen einer Besprechung der ­Zentralstelle für Denkmalschutz wenige Tage nach diesem Schreiben Dechants wurde festgehalten, dass die beiden Gemälde »durch eine private Abmachung zwischen Dr. Blauhorn und Dr. Dechant Eigentum des Herrn Dr. Dechant« geworden seien. Dechant verkaufte die beiden Gemälde nach erfolgreichen Verhandlungen an die Österreichische Galerie Belvedere. Im Zuge der Rückstellungsbemühungen der Witwe Blauhorns, Auguste Bienenfeld, versicherte Dechant, dass er »die beiden Gemälde anstelle eines Honorars von Dr. Blauhorn und Gattin erhalten und nur sehr ungern und unter Druck« der Österreichischen Galerie Belvedere verkauft habe. In dazu widersprüchlichen Schreiben von 1948 erklärte er jedoch, dass die beiden Gemälde ihm von Blauhorn »schenkungsweise für den Fall zugesagt wurden, als eines der beiden Bilder oder die beiden genannten Bilder zur Ausfuhr nicht zugelassen werden sollten.« Im R ­ ückstellungsverfahren erklärte die Witwe Blauhorns, die Gemälde seien bloß zum Schein an Dechant verkauft worden. Zu untersuchen ist hier nicht die Sachverhaltsvariante einer Schenkung an Dechant, sondern allein, ob die Überlassung der Gemälde anstelle des Honorars für die anwaltliche Tätigkeit in einem Kausalzusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft stand. Die Argumentation des Beirats ähnelt stark den Ausführungen zur Unabhängigkeit eines Verkaufs von der nationalsozialistischen Herrschaft bei vorherigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Der Beirat knüpft in seiner Beurteilung an die Rückstellungsrechtsprechung zu Rechtsgeschäften an und führt aus, dass die »Überlassung von Kunstwerken an Zahlungs statt für Honorarforderungen, mögen sie auch der Höhe und dem Grunde nach berechtigt gewesen sein, […] nicht grundsätzlich anders [als rechtsgeschäftliche Verluste] beurteilt werden« könne. Zudem habe Blauhorn vor der nationalsozialistischen Herrschaft in guten finanziellen Verhältnissen gelebt, »sodass mit hoher Sicherheit auszuschließen ist, dass er ohne Verfolgung seinen Rechts­ vertreter durch die Überlassung von Kunstwerken an Zahlungs statt entlohnt hätte.« Die Formulierung »nicht grundsätzlich anders« legt nahe, dass sich der Beirat bewusst war, dass die Leistung eines Erfüllungssurrogats gerade kein Rechtsgeschäft, sondern vielmehr einen ­Realakt darstellt.1282 Da die Verfolgung der überwiegende Beweggrund für die Überlassung der Gemäl-

1282 MüKo/Kroll-Ludwigs, BGB, 8. Aufl. 2020, §1831 Rn. 3.

250  § 7  Die Entziehung als spezielle ­Rückgabevoraussetzung

de anstelle eines Honorars an seinen Anwalt Dechant war, nimmt der Beirat schließlich eine Entziehung an.1283 Ebenso wie bei rechtsgeschäftlichen Verlusten stellt daher die Überlassung von Kulturgütern durch verfolgte Personen an Zahlungs statt, selbst wenn die Forderung dem Grunde und der Höhe nach berechtigt war, grundsätzlich eine Entziehung dar. Ein lediglich äußerer Zusammenhang der Leistung von Kulturgütern als Erfüllungssurrogat mit der Verfolgung kann im Umkehrschluss – anknüpfend an die Ausnahme bei Verkäufen – nur angenommen werden, wenn sich die Eigentümer:innen schon vorher in solchen wirtschaftlichen Schwierigkeiten befanden, dass sie mit hoher Sicherheit auch ohne die nationalsozialistische Herrschaft durch die Leistung von Kunst an Zahlungs statt erfüllt hätten. b) Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien

Bereits die Entstehungsmaterialien der Washingtoner Prinzipien machen deutlich, dass auch Realakte als Verlustform erfasst sind, da mehrfach von »Diebstahl« und »Plünderung« die Rede ist.1284 In der Theresienstädter Erklärung findet dies dann auch schriftlichen Niederschlag, indem ausdrücklich auf den Verlust durch Diebstahl und Raub, also durch bloße Wegnahme ohne rechtsförmigen Charakter, hingewiesen wird. Auch die Literatur integriert wie selbstverständlich Verluste durch Realakte.1285 Über Diebstahl und Raub hinausgehende Handlungen, wie die vom Beirat untersuchte Leistung eines Erfüllungssurrogats, kamen während der nationalsozialistischen Herrschaft ebenso vor und boten sich gerade bei Kulturgütern an. Somit darf die Einordnung als Realakt einer Rückgabe nicht entgegenstehen; diese Verlustform ist für eine »gerechte und faire« Praxis vielmehr zwingend zu integrieren. Angesichts des wenigen Fallmaterials kann hier die konkrete Anwendung der Vermutung auf die Verluste durch Realakt im Lichte der Washingtoner Prinzipien nicht beurteilt werden. Zumal der einzige, wirklich umfassende Beschluss zu Josef Blauhorn jedenfalls von einer sehr ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Kausalzusammenhang unter Rekurs auf die Erkenntnisse zu anderen Verlustformen zeugt. Die nachfolgende Kritik setzt daher schon früher an, nämlich bei der fehlenden Aufzählung der Realakte in den Tatbeständen des KRG. Dies ist zunächst als ein Versäumnis der Legislative zu betrachten, da die Realakte nicht einmal im Zuge der Novelle in den Wortlaut der Tatbestände aufgenommen worden sind. Auf diese Lücke hätte der Beirat jedoch reagieren können, und zwar durch eine analoge Anwendung der Tatbe­ stände aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG.1286 Da der Wortlaut der beiden Tatbestände eindeutig keine Realakte erfasst, scheidet eine direkte Anwendung durch Auslegung aus. Eine für die Analogie erforderliche Regelungslücke ist hier anzunehmen, da – anders als im Nachkriegsrecht – das allgemeine Zivilrecht für eine Rückgabe regelmäßig nicht herangezogen werden kann. Denn das KRG ist grundsätzlich nur auf Kulturgüter in Bundeseigentum anwend1283 Beschl. zu Josef Blauhorn v. 29.06.2012, S. 12.

1284 Vgl. nur Petropoulos, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 441, 441 ff.; Kowalski, in:

Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 473, 473 ff.; Lowenthal, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 529, 529; Soltes, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 547, 548. 1285 Heuberger, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 941, 946 f.; von Trott zu Solz/Gielen, ZOV 2006, 256, 258; Crezelius, KUR 2007, 125, 126; Rowland/Schink/Studzinski, KUR 2008, 148, 149; Raschèr, KUR 2009, 75, 76; Woodhead, AAL 2013, 167, 169; Woodhead, Int. J. Cult. Prop. 2016, 385, 390 f.; Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 11. 1286 S. zu den Analogievoraussetzungen unter § 3 A., S. 25.

251  F. Der Kausalzusammenhang als normatives Zentrum der Entziehung

bar, die Geschädigten müssen zwangsläufig zu irgendeinem Zeitpunkt das Eigentum verloren haben. Eine Vindikation nach dem allgemeinen Zivilrecht ist dementsprechend nicht mehr mög­ lich. Es ist auch nicht ersichtlich, dass diese Regelungslücke legislativ beabsichtigt wurde, da keinerlei Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Legislative Verluste durch Realakte explizit vom Anwendungsbereich des KRG ausschließen wollte. Daneben ist auch die dritte Analogievoraussetzung, die vergleichbare Interessenslage, zu bejahen. Das KRG bezweckt die ­Rückgabe aller »bedenklichen« Kulturgüter in Bundeseigentum.1287 Für eine solche »Bedenklichkeit« ist jedoch unerheblich, ob der Verlust durch Rechtshandlung, Rechtsgeschäft oder Realakt eingetreten ist. Entscheid ist allein, dass der Verlust in einem Kausalzusammenhang mit der national­sozialistischen Herrschaft stand. Dies ist bei Realakten ebenso möglich wie bei den anderen ge­nannten Verlustformen. Da bereits herausgearbeitet wurde, dass ein Verlust im Sinne des KRG schon im Verlust der faktischen Verfügungsmacht liegt,1288 ist zudem irrelevant, dass der Realakt selbst noch keinen unmittelbaren Eigentumsverlust darstellen, sondern dieser beispielsweise erst durch anschließenden derivativen oder originären Erwerb erfolgen konnte. Solange die Legislative untätig bleibt und die Realakte nicht im KRG rechtssicher – beispielsweise durch einen Rekurs auf die einschlägigen Vorschriften des Rückstellungsrechts – verankert sind, muss der Beirat die beiden Tatbestände analog anwenden. Die direkte Anwendung der Tatbestände auf Realakte ohne Problematisierung durch den Beirat genügt in argumentativer und methodischer Hinsicht nicht den Begründungsanforderungen der Washingtoner Prinzipien, wenngleich das Ergebnis – die Erfassung von Realakten als Verlustform – zu begrüßen ist.

1287 Dies wird ausgeführt im Rahmen der Genese des KRG unter § 4 C.I., S. 46. 1288 S. dazu eingehend bei der Definition des Verlusts unter § 7 E.I., S. 188.

§ 8  Der rechtmäßige Eigentumsübergang als spezielle Rückgabevoraussetzung

Die Rechtmäßigkeit des Übergangs in Bundeseigentum ist nach der Entziehung die zweite spe­ zielle Voraussetzung der Tatbestände aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und 2a KRG. Während nämlich § 1 Abs. 1 KRG für alle Tatbestände erfordert, dass die Kulturgüter im Eigentum des Bundes stehen,1289 enthalten nur die beiden genannten Tatbestände die Ergänzung, dass diese Objekte auch »rechtmäßig in das Eigentum des Bundes übergegangen« sein müssen.1290 Daher ist zu ermitteln, was genau unter dieser Rechtmäßigkeit des Übergangs in Bundeseigentum im Sinne der Tatbestände zu verstehen ist. Weder der Wortlaut des KRG noch die Gesetzesmaterialien enthalten dazu jedoch verallgemeinerungsfähige Anhaltspunkte. Die Materialien nennen lediglich den gutgläubigen Eigentumserwerb im Kunsthandel der Nachkriegszeit als konkretes Beispiel eines rechtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum.1291 Dieses Beispiel lässt jedoch kaum eine Generalisierung zu. Erst im Beschluss zu Edwin und Karoline Czeczowiczka befasst sich der Beirat erstmals mit dem allgemeinen Verständnis der Rechtmäßigkeit des Übergangs in Bundeseigentum. Dem Beirat zufolge erfasse die Tatbestandsvoraussetzung der Rechtmäßigkeit des Übergangs in Bundeseigentum im Sinne des KRG zunächst nur Fälle, in denen der Bund durch ein zum Eigentumserwerb tauglichen Rechtsgrund im Sinne der §§ 316, 1461 ABGB rechtmäßig erworben hat.1292 Der unrechtmäßige Erwerb von Eigentum könnte somit nach streng grammatikalischer Auslegung das Tatbestandsmerkmal des rechtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum nicht erfüllen. Dazu würde dann etwa die – im Kontext entzogener Kulturgüter besonders relevante – lange Ersitzung nach § 1477 ABGB zählen, weil sie keinen rechtmäßigen, sondern nur einen redlichen und echten Besitz voraussetzt; also keinen gültigen oder rechtmäßigen Rechtsgrund benötigt.1293

1289 S. zur Voraussetzung des Bundeseigentums unter § 6 C.I., S. 103.

1290 Zu Recht weist daher Woodhead darauf hin, dass heute in der Regel nicht – anders als oft behauptet – die »rechtmäßigen« oder

»rechtlichen« Eigentümer:innen die Restitution begehren, s. Woodhead, Int. J. Cult. Prop. 2014, 113, 121 f.; Woodhead, Int. J. Cult. Prop. 2015, 229, 229 ff.; ähnlich Stephany, KUR 2022, 60, 62 f. 1291 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 4. 1292 Beschl. zu Edwin u. Karoline Czeczowiczka v. 18.08.1999, S. 5. Zum rechtmäßigen Eigentumserwerb s. Rummel/Lukas/ Bydlinski, ABGB, Januar 2002, § 1461 Rn. 1; Klang/Gusenleitner-Helm, ABGB, 3. Aufl. 2012, § 1461 Rn. 2 ff.; Koziol/Bydlinski/Bollenberger/Eccher/Riss, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 316 Rn. 1; Koziol/Bydlinski/Bollenberger/Meissel, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 1461 Rn. 1; Kletečka/Schauer/Ehgartner/Winkler, ABGB, September 2021, § 1461 Rn. 2. 1293 Rummel/Lukas/Bydlinski, ABGB, Januar 2002, § 1477 Rn. 1; Klang/Gusenleitner-Helm, ABGB, 3. Aufl. 2012, § 1477 Rn. 3; Kletečka/Schauer/Ehgartner/Winkler, ABGB, September 2021, § 1477 Rn. 5; Koziol/Bydlinski/Bollenberger/Meissel, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 1477 Rn. 1.

253 

Es ist daher bereits mehrfach explizit vertreten worden, dass ebenso der unrechtmäßige Eigentumserwerb von § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG erfasst sein müsse. Entscheidend sei allein das Faktum des Übergangs in Bundeseigentum. Dann wäre jedoch die explizite Forderung nach einem rechtmäßigen Übergang in den ohnehin ein Bundeseigentum voraussetzenden Tatbeständen des KRG obsolet.1294 Diese zustimmungswürdige Ansicht wird letztlich durch die nachfolgende Untersuchung der Prüfung des Eigentumsübergangs in der Empfehlungspraxis des Beirats bestätigt: Denn wenngleich der Beirat nicht dazu Stellung bezieht, scheint er jegliche Form des Übergangs in Bundeseigentum als ausreichend für die Erfüllung der Tatbestands­ voraussetzung zu betrachten.1295 Auffällig ist, dass der Beirat – möglicherweise in Konsequenz der genannten Unsicherheiten – selbst keine vollumfängliche Eigentumsprüfung vornimmt, sondern höchstens den maßgeblichen Rechtsgrund für den Eigentumserwerb kursorisch nennt. Es liegt daher nahe, dass die Eigentumsprüfung bereits im Rahmen der Provenienzforschung erfolgt. Gleichzeitig ist der rechtmäßige Übergang in Bundeseigentum aber ein Tatbestandsmerkmal, das es vom Beirat zu prüfen gilt. Im Folgenden wird untersucht, wie der Beirat die verschiedenen Sachverhalte unter die Tatbestandsvoraussetzung der Rechtmäßigkeit des Eigentumsübergangs subsumiert. In diesem Kontext wird sich auch der vieldiskutierten Frage gewidmet, welche Bedeutung die Gutgläubigkeit für die Tatbestände aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG hat.

A. Die Formen des rechtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum In § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG findet sich kein Hinweis auf die vom KRG erfassten Formen des Übergangs in Bundeseigentum. Die Legislative hatte den Gesetzesmaterialien zufolge aber zunächst vor allem Kulturgüter vor Augen, die in der Nachkriegszeit gutgläubig vom Staat für seine Museen erworben wurden.1296 Bereits während der nationalsozialistischen Herrschaft in die Museen gelangte Objekte spielten in den legislativen Überlegungen – wenn überhaupt – eine nachrangige Rolle. Gleichwohl wurde schon auf der Washingtoner Konferenz von Österreich betont, dass das KRG sowohl Erwerbungen während als auch nach der nationalsozialistischen Herrschaft erfasse.1297 Auch der Beirat scheint die Beschränktheit des von den Gesetzes­materialien anvisierten Anwendungsfalles auf die Nachkriegszeit schon früh in seiner Empfehlungspraxis erkannt zu haben: Da in einem Großteil der Sachverhalte die Kulturgüter bereits während der nationalsozialistischen Herrschaft in die Museen gelangten,1298 muss das KRG zur Restitution von sowohl während als auch nach der nationalsozialistischen Herrschaft erworbenen Kulturgütern ermächtigen.1299 Dies zeigt erneut, dass die Provenienzforschung im Zeitpunkt des Gesetzesbe1294 So bereits Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 484; Wiederin, Kunstrückgabegesetz, 2006, S. 7; Stellungnahme Finanz-

prokuratur zum Ministerialentwurf v. 01.09.2008, 9/SN-214/ME XXIII. GP, S. 5.

1295 Maßgeblich für den Eigentumsübergang ist entsprechend dem österreichischen Kausalprinzip folglich, dass das Verfügungs-

geschäft, etwa die Übereignung, auf einem tauglichen Rechtsgrund beruht.

1296 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 4.

1297 Bacher, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 453, 455; Delegation Statement Austria, in:

Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 151, 153.

1298 Vgl. z.B. nur Beschl. zu Valerie Eisler v. 26.06.2000, S. 2; Beschl. zu Rudolf Bittmann v. 18.08.2000, S. 2; Beschl. zu Alice und

Hans Rubinstein v. 28.06.2006, S. 1; Beschl. zu Oskar Reichel v. 06.12.2011, S. 3.

1299 So auch Graf, NZ 2005, 321, 329; Wiederin, Kunstrückgabegesetz, 2006, S. 15.

254  § 8  Der rechtmäßige Eigentumsübergang als spezielle Rückgabevoraussetzung

schlusses von 1998 noch am Anfang stand und dementsprechend den wohl größten Anwendungsbereich des § 1 Nr. 2 KRG a.F. verkannt hatte. Für die Untersuchung ist zunächst ein Blick in die Eigentumsverhältnisse bei Kulturgütern zu werfen, die bereits während der nationalsozialistischen Herrschaft in die staatlichen Museen gelangt waren. Dann folgt ein darauf aufbauender Abschnitt zum speziellen Übergang in Bundeseigentum von Kulturgütern aus dem Bestand des ›Führermuseums‹.1300 Im Anschluss wird der Eigentumsübergang der Kulturgüter untersucht, die nicht aus dem Bestand des ›Führermuseums‹ stammen, aber ebenfalls erst nach der nationalsozialistischen Herrschaft in die staatlichen Museen gelangt sind. Im Lichte der Washingtoner Prinzipien wird sodann bewertet, ob der heutige Umgang mit dem erworbenen Eigentum durch den Beirat »gerecht und fair« ist. Nicht Gegenstand der Untersuchung ist damit ausdrücklich, ob ein vergangener Eigentumsübergang »gerecht und fair« erfolgte – schließlich dienen die Washingtoner Prinzipien als Leitlinien der heutigen Praxis, nicht aber als Bewertungsmaßstab der Nachkriegspraxis. Entscheidend ist daher für eine Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien, wie der Beirat heute den rechtmäßigen Übergang in Bundeseigentum als Tatbestandsvoraussetzung prüft und welche Rolle des Staates dabei durchscheint.

I. Erwerbungen während der nationalsozialistischen Herrschaft Um die Erwerbungen der staatlichen Museen während der nationalsozialistischen Herrschaft eigentumsrechtlich richtig einordnen zu können, bedarf es einer kurzen Erläuterung der völker­ rechtlichen Situation in der Nachkriegszeit: Mit Kriegsende war das Deutsche Reich als Rechtssubjekt nicht untergegangen. Die wiedererrichtete Republik Österreich war zudem nicht Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs. Das auf dem Gebiet der wiedererrichteten Republik Österreich befindliche Vermögen stand nicht in deren Eigentum, sondern war weiterhin dem als Rechtssubjekt fortbestehenden Deutschen Reich zuzuordnen. Die Republik Österreich wurde lediglich als Treuhänderin betrachtet.1301 Zu den nach Kriegsende noch im Eigentum des Deutschen Reichs stehenden Vermögenswerten gehörten auch die Bestände der staatlichen Museen. Diese verfügten während der nationalsozialistischen Herrschaft nämlich über keine eigene Rechtspersönlichkeit, sondern waren dem Deutschen Reich unterstellt.1302 Die für sie erworbenen Kulturgüter standen damit im Eigentum des Deutschen Reichs, ebenso wie viele Objekte in Dienstgebäuden des nationalsozialistischen Regimes.1303 Der für einen Eigentums­erwerb des österreichischem Bundes erforderliche Rechtsgrund konnte zwangsläufig damit erst nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft begründet werden. Mehrheitlich erfolgte dieser Übergang vom Eigentum des Deutschen Reichs in Bundeseigentum 1955 als originärer Eigentumserwerb nach Art. 22 des Staatsvertrags1304 in Verbindung 1300 S. zum historischen Hintergrund zum ›Führermuseum‹ unter § 4 A.I., S. 31.

1301 Grohs, JBl 1955, 585, 585 ff.; Bock, Durchführungsgesetz, 1956, S. 19; Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 122 ff.; Böhmer/Faber,

Finanzverwaltung, 2003, S. 302 ff.; Simma/Folz, Restitution, 2004, S. 223 ff.; Graf, NZ 2005, 321, 326 ff.; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 125 ff.; Caruso/Schallmeier, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 99, 108 ff. 1302 Graf, NZ 2005, 321, 325; jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 123 f. 1303 Offenbar nicht zu diesen Einrichtungen des Deutschen Reichs zählte die Akademie der Wissenschaften, da dem Beirat zufolge der Art. 22 StV nicht auf deren Bestände anwendbar ist, Beschl. zu Paul Herzfeld v. 07.03.2008, S. 2. 1304 Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich, BGBl. Nr. 152/1955 (im Folgenden: StV ).

255  A. Die Formen des rechtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum

mit § 1 Abs. 1 des Ersten Staatsvertragsdurchführungsgesetz1305. Durch den StV und das Erste StVDG wurde näm­lich das in Österreich befindliche, am Stichtag des 8. Mai 1945 im Eigentum einer deutschen physischen oder juristischen Person oder des Deutschen Reichs oder einer seiner Einrichtungen stehende Vermögen ex lege auf die Republik Österreich übertragen. Es bedurfte also keines eigenen Übertragungsakts. Das nach dem ›Anschluss‹ erworbene Eigentum des Deutschen Reichs in Österreich ging – teils völlig unbemerkt – auf die Bundesrepublik Österreich über;1306 darunter auch die im Eigentum des Deutschen Reichs stehenden Kulturgüter in staatlichen Museen. Der Umgang des Beirats mit dieser Form des Eigentumsübergangs wird hier anhand des Beschlusses zu Siegfried Fuchs illustriert. Der als ›Jude‹ definierte Siegfried Fuchs verkaufte vor seiner Flucht 1940 zur Finanzierung der ›Judenvermögensabgabe‹ und der ›Reichsfluchtsteuer‹ seine Bibliothek, unter anderem an die Österreichische Nationalbibliothek. Der Beirat hält in diesem Beschluss ausdrücklich fest, dass der Eigentumsübergang der verfahrensgegenständlichen Schriften aus der Österreichischen Nationalbibliothek auf das Deutsche Reich auf dem Kaufvertrag beruhte. Durch die Übernahme der Schriften während der nationalsozialistischen Herrschaft wurde also auch in diesem Fall lediglich Eigentum des Deutschen Reichs begründet. Auf den Bund war das Eigentum erst nach der nationalsozialistischen Herrschaft durch den Staatsvertrag übergegangen.1307 Die Ausgestaltung des Eigentumserwerbs durch den Staatsvertrag wird aber vom Beirat an keiner Stelle erläutert. In den ersten beiden Jahren der Empfehlungspraxis stellt der Beirat den rechtmäßigen Übergang in Bundeseigentum sogar noch ohne Erwähnung jeglicher Rechtsgrundlage fest;1308 es bleibt also unklar, warum diese Tatbestandsvoraussetzung überhaupt erfüllt ist. Erstmals 1999 im Beschluss zu Oscar Bondy erklärt der Beirat, wenn auch ohne nähere Begründung, dass der Bund durch den StV Eigentum erworben habe.1309 Nach einer knapp zehnjährigen Erwähnung des StV im letzten Ab­satz der Beschlüsse,1310 scheint der Beirat sodann nach der Novelle des KRG 2009 erneut keinen Bedarf mehr für die Erwähnung des StV als dem Eigentumsübergang zugrundeliegender Rechtsgrund zu sehen.1311 Damit fehlt letztlich (wieder) eine Subsumtion des Beirats unter eine der Tatbestandsvoraussetzungen von § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG.

1305 Bundesgesetz betreffend die Durchführung einzelner Bestimmungen des IV. Teiles des Staatsvertrages (1. Staatsvertrags-

durchführungsgesetz), BGBl. 165/1956 (im Folgenden: Erstes StVDG).

1306 Vgl. dazu ausführlich Harrer, ÖJZ 1956, 477, 478 f.; Neudörfer, ÖJZ 1956, 489, 490; Bukovics, Deutsche Eigentum, 1956,

S. 14 ff.; Böhmer/Faber, Finanzverwaltung, 2003, S. 308 ff.; Simma/Folz, Restitution, 2004, S. 223 ff.; Graf, NZ 2005, 321, 326 ff.; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 179; jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 121 f. 1307 Beschl. zu Siegfried Fuchs v. 29.06.2005, S. 1 f. 1308 So etwa im Beschl. zu Edwin u. Karoline Czeczowiczka v. 18.08.1999, S. 5 f. 1309 Beschl. zu Oscar Bondy v. 27.10.1999, S. 2. 1310 Vgl. nur Beschl. zu Valerie Eisler v. 26.06.2000, S. 3; Beschl. zu Gustav u. Claire Kirstein v. 23.01.2001, S. 3; Beschl. zu Ignatz Pick v. 01.10.2001, S. 3; Beschl. zu Gottfried Bermann-Fischer v. 27.01.2004, S. 1; Beschl. zu Valerie Honig-Roeren v. 28.06.2006, S. 2; Beschl. zu Marianne Nechansky v. 09.05.2008, S. 3; Beschl. zu Margarethe u. Eva Henriette Sonnenthal v. 03.10.2008, S. 3; Beschl. zu August Blumberg v. 20.11.2009, S. 2. 1311 Vgl. nur die Unterschiede in den Beschl. zu Siegfried Fuchs v. 29.06.2005, S. 3, u. 20.04.2012, S. 2.

256  § 8  Der rechtmäßige Eigentumsübergang als spezielle Rückgabevoraussetzung

II. Erwerbungen aus dem Bestand des ›Führermuseums‹ Anknüpfend an die Ausführungen zum Regelfall – dem Eigentumsübergang nach Art. 22 StV in Verbindung mit § 1 Abs. 1 1.StVDG bei in staatlichen Museen befindlichen Kulturgütern – werden nun die besonderen Konstellationen der Erwerbungen für das von Hitler geplante ›Füh­ rermuseum‹ untersucht. Das Nachkriegsschicksal vieler Objekte aus diesem Bestand ist bis zur Übernahme durch die staatlichen Museen häufig nur lückenhaft bekannt, auch die Beschlüsse des Beirats und die zugrundeliegende Provenienzforschung können nur begrenzt zur Aufklärung beitragen. Allen in der Empfehlungspraxis des Beirats enthaltenen Fällen zu Kulturgütern aus dem ›Führermuseum‹ ist aber gemein, dass sich die Objekte – im Gegensatz zu den zuvor erläuterten Erwerbungen während der nationalsozialistischen Herrschaft – unmittelbar nach Kriegsende 1945 nicht bereits in staatlichen Museen oder anderen Institutionen, sondern in verschiedenen Depots in Österreich oder zunächst in den Collecting Points im von den Alliierten besetzten Deutschland befanden.1312 Von dort aus wurden sie schließlich sukzessive in die österreichischen Depots verbracht, wenn Anhaltspunkte für eine österreichische Herkunft vorlagen.1313 Dabei versicherte das österreichische Bundesdenkmalamt den Alliierten, dass es versuche, diese Kulturgüter zu restituieren und jedenfalls kein Übergang in Bundeseigentum erfolge.1314 Die Tatsache, dass der Beirat auch Kulturgüter aus den Beständen des ›Führermuseums‹ unter das KRG subsumiert, legt jedoch nahe, dass gerade dieser Übergang in Staatseigentum entgegen den Versprechungen eingetreten ist – schließlich ist das KRG grundsätzlich nur auf Bundeseigentum anwendbar. Der Beirat macht aber nicht in jedem Beschluss betreffend Kulturgüter aus dem Bestand des ›Führermuseums‹ deutlich, wie genau dieser Übergang in Bundeseigentum erfolgte – diese Beschlüsse müssen bei der nachfolgenden Untersuchung unberücksichtigt bleiben.1315 Die Untersuchung der wenigen in dieser Hinsicht aufschlussreichen Beschlüsse stellt einen Versuch dar, die Wege der Kulturgüter aus dem Bestand des ›Führermuseums‹ in Bundeseigentum zumindest rudimentär abzubilden. Dabei lassen sich zwei verschiedene Wege herauskristallisieren. Die formale Alternativität dieser Wege ist jedoch fraglich; sie scheinen sich bei genauer Betrachtung nämlich vielmehr gegenseitig auszuschließen. Einige der für das ›Führermuseum‹ bestimmten Objekte gelangten – ebenso wie die bereits seit der nationalsozialistischen Herrschaft in den staatlichen Museen befindlichen Kulturgüter – offenbar gemäß Art. 22 StV in Verbindung mit § 1 Abs. 1 1. StVDG 1955 in Bundeseigentum.1316 Der Rechtsgrund des Eigentumserwerbs wurde also auch hier nach der nationalsozialistischen Herrschaft begründet. Unklar bleibt, ob diese Kulturgüter aus dem Bestand des 1312 S. zum historischen Hintergrund der Collecting Points unter § 4 A.I., S. 31.

1313 Haupt, in: Brückler (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 53, 75; Lauterbach, Central Collecting Point, 2015, S. 9 ff., 151 ff.; Weidinger,

in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 71, 72 ff.

1314 Brückler, Zentralkunstdepot, in: ders. (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 260, 295.

1315 Dazu zählen: Beschl. zu Wally Kulka v. 11.03.2003, S. 2 f., da nicht deutlich wird, ob Eigentumsübergang nach StV oder nach

Verfall (letzteres vertreten Caruso/Schallmeier, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 99, 101); Beschl. zu Leopoldine Mannaberg v. 03.07.2014, S. 3, da lediglich Hinweis auf Eigentumsübergang »infolge der Unterlassung von Rückstellungsansprüchen«; Beschl. zu Elisabeth Petznek v. 15.01.2016, S. 3 f., da nur Verweis auf die Übergabe durch einen Beschluss des Bundesamtes für äußere Restitution; Beschl. zu Julius Freund v. 23.06.2016, S. 2 f., da keine Ausführungen zum Eigentumsübergang, nur zu historischen Umständen; Beschl. zu Hermann Eissler v. 20.11.2009, S. 4 f., Beschl. zu Oskar Reichel v. 06.12.2011, S. 5; Beschl. zu Serena Lederer v. 02.03.2012, S. 2. 1316 Beschl. zu Gottlieb Kraus v. 19.06.2002, S. 3 f.; Beschl. zu Josefine Winter v. 16.03.2005, S. 2 f.; Beschl. zu Marianne Nechansky v. 09.05.2008, S. 1 ff.; Beschl. zu Louis Rothschild v. 11.09.2009, S. 1 f.; Beschl. zu Ludwig Mayer v. 20.11.2009, S. 1 ff.

257  A. Die Formen des rechtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum

›Führermuseums‹ als Privateigentum einer deutschen natürlichen Person, etwa Adolf Hitlers, oder als staatliches Eigentum des Deutschen Reichs betrachtet wurden. Zudem erforderte der Eigentumsübergang durch den StV, dass sich ein Kulturgut im Jahr des Inkrafttretens des StV, also 1955, bereits in Österreich befand. Es konnten demnach nur Kulturgüter aus dem Bestand des ›Führermuseums‹ übergehen, die sich entweder seit dem Krieg in österreichischen Depots befunden haben oder zwischen 1945 und 1955 nach Österreich verbracht wurden. Auf diese gerade bei Kulturgütern aus dem Bestand aufgrund der unterschiedlichen Lagerungsorte erschwerten Bedingungen eines Übergangs in Bundeseigentum geht der Beirat jedoch an keiner Stelle ein. Ebenso wenig problematisiert er die Frage nach dem Privateigentum Hitlers oder Staatseigentum des Deutschen Reichs. Aus rein eigentumsrechtlicher Perspektive behandelt der Beirat somit Teile der für das ›Führermuseum‹ bestimmten Bestände genauso wie die sich bereits bei Kriegsende in den staatlichen Museen befindlichen Kulturgüter. Beide Bestände gingen demnach gemäß Art. 22 StV in Verbindung mit dem 1. StVDG in Bundeseigentum über. Den Ausführungen des Beirats zufolge war der Eigentumsübergang durch den StV jedoch nicht der einzige Weg des Bundes, um Eigentum an den für das ›Führermuseum‹ bestimmten Beständen zu erwerben. An dieser Stelle wird die Unterscheidung von Staatseigentum des Deutschen Reichs und Privateigentum nationalsozialistischer Funktionär:innen relevant: Der Beirat nennt nämlich als eine weitere Möglichkeit des Eigentumserwerbs den Verfall der Kulturgüter aus dem Bestand des ›Führermuseums‹ 1952 als im Eigentum Hitlers stehendes Vermögen. Nach § 20 Volksgerichtsverfahrens- und Vermögensverfallsgesetz1317 verfiel Vermögen von Kriegsverbrecher:innen der Republik Österreich, wenn es nach dem Verbotsgesetz1318 oder nach dem Kriegsverbrechergesetz1319 eingezogen werden sollte. Ebenso wie das Deutsche Reich hatten bis dato auch seine Funktionär:innen somit zunächst ihr Eigentum behalten – auch hiernach liegt also der für den Eigentumsübergang maßgeblich Rechtsgrund in der Nachkriegszeit. Die genannten gesetzlichen Vorschriften regelten sodann den Verfall des Vermögens von als Kriegsverbrecher:innen einzuordnenden Personen zugunsten des österreichischen Staates.1320 Im September 1952 wurde daher auch Hitler vom österreichischen Volksgericht in seiner Funktion als ›Führer‹ als Kriegsverbrecher im Sinne des KVG eingeordnet. Sein gesamtes Vermögen wurde ohne weitere Spezifizierung der einzelnen Bestandteile – darunter auch explizit der Bestand des ›Führermuseums‹ – für dem österreichischen Staat verfallen erklärt, soweit es sich auf österreichischem Staatsgebiet befand. Das Gericht erachtete also die Bestände des ›Führermuseums‹ als Privateigentum Hitlers. Folglich war der Bund ab September 1952 Eigentümer sämtlicher in Österreich belegenen Kulturgüter aus dem Bestand des ›Führermuseums‹.1321 Insgesamt finden sich in der gesamten Empfehlungspraxis des Beirats nur vier Fälle, die ausdrücklich von einem Verfall des Kulturguts als Vermögen Hitlers an den Bund sprechen.

1317 Verfassungsgesetz vom 19. September 1945 über das Verfahren vor dem Volksgericht und den Verfall des Vermögens (Volks-

gerichtsverfahrens- und Vermögensverfallsgesetz), StGBl. Nr. 177/1945 (im Folgenden: VvVvG).

1318 Verfassungsgesetz vom 8. Mai 1945 über das Verbot der NSDAP (Verbotsgesetz), StGBl. Nr. 18/1945.

1319 Verfassungsgesetz vom 26. Juni 1945 über Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten (Kriegsverbrecherge-

setz), StGBl. Nr. 32/1945 (im Folgenden: KVG).

1320 S. dazu ausführlich Heller et al., Kommentar zum NS-Gesetz II, 1948, S. 147 ff.

1321 OLG Wien, Entscheidung v. 01.07.1952 – 3 Bs 1809/52; LG Wien, Entscheidung v. 31.03.1952 – Vg 8e 68/52; vgl. Böhmer/

Faber, Finanzverwaltung, 2003, S. 48 ff.; Caruso/Schallmeier, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 99, 108 ff.

258  § 8  Der rechtmäßige Eigentumsübergang als spezielle Rückgabevoraussetzung

Erstmals setzt sich der Beirat 2007 im Beschluss zu Franz und Helene Erlach mit diesem Eigentumsübergang durch Verfall 1952 auseinander. Die verfahrensgegenständliche Skulptur aus dem Eigentum der als ›Juden‹ definierten Eheleute Franz und Helene Erlach wurde 1941 von Franz Erlach an den ›Sonderauftrag Linz‹ für das ›Führermuseum‹ im Tauschweg veräußert. 1953 wurde die Skulptur in den Bestand der Österreichischen Galerie Belvedere mit dem Hinweis aufgenommen, dass Erlach auf eigenen Wunsch hin die Skulptur an den ›Sonderauftrag Linz‹ getauscht habe und daher ein Rückstellungsverfahren erfolglos sei. Verschiedene Rückstellungsversuche scheiterten. In diesem Beschluss stellt der Beirat lediglich fest, die Skulptur sei im September 1952 »als Be­ standteil des verfallenen Vermögens von Adolf Hitler in das Vermögen des Bundes über[gegan­ gen]«.1322 Es bleibt also in diesem ersten einschlägigen Beschluss noch unklar, auf welcher konkreten Rechtsgrundlage der Verfall erfolgt ist. Aufschlussreicher ist in diesem Zusammenhang der Beschluss zu Jaromir Czernin, in dem der Beirat als Rechtsgrundlage des Eigentumserwerbs das »Vermögensverfallsgesetz« nennt.1323 Im Beschluss zu Adele Pächter sowie im Beschluss zu Louis Rothschild wird das jeweilige, ebenfalls aus dem Bestand des ­›Führermuseums‹ stammende Kulturgut sodann nur noch als »Verfallsgut« bezeichnet.1324 Mit dem »Verfallsgesetz« und dem Staatsvertrag nennt der Beirat somit zwei verschiedene Rechtsgrundlagen zum Übergang der Bestände des ›Führermuseums‹ in Bundeseigentum. Aus der Empfehlungspraxis wird jedoch nicht ersichtlich, warum sich diese beiden Wege des Eigentumsübergangs nicht gegenseitig ausschließen. Durch eine vertiefte Gesamtschau der Empfehlungspraxis fällt auf, dass dem Beirat zufolge bis zur Novelle 2009 Kulturgüter aus dem Bestand des ›Führermuseums‹ stets durch den Staatsvertrag in Bundeseigentum übergegangen seien. Die einzige Ausnahme bildet – ohne ersichtliche Begründung – die Skulptur aus der Sammlung Erlach. Nach der Novelle führt der Beirat regelmäßig aus, dass ebendieser Bestand des ›Führermuseums‹ als Privatvermögen Hitlers bereits 1952 an den Bund verfallen sei – wie auch in den Gerichtsverfahren zu Kriegsverbrecher:innen explizit festgehalten. So kann auch die umfassende Untersuchung der Empfehlungspraxis nicht hinreichend aufklären, ob der Bestand nun teils infolge des Staatsvertrages 1955, teils durch Verfall 1952 in Bundeseigentum übergegangen ist, oder, ob für ein und denselben Bestand tatsächlich zwei Rechtsgrundlagen für den Übergang in Bundeseigentum bestanden (gewissermaßen ein Eigentumsübergang »auf doppeltem Wege«).1325 Fest scheint nur zu stehen, dass der Bund rechtmäßig Eigentum an den Kulturgütern aus dem Bestand des ›Führermuseums‹ erworben hat.

1322 Beschl. zu Franz u. Helene Erlach v. 07.12.2007, S. 1 ff. 1323 Beschl. zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011, S. 23 f.

1324 Beschl. zu Adele Pächter v. 07.03.2014, S. 3; Beschl. zu Louis Rothschild v. 15.06.2018, S. 1 f.

1325 Für einen Eigentumsübergang durch Verfall spricht wohl aber der Umstand, dass sich eine Vertreterin der Kommission für

Provenienzforschung in einem Gespräch im Februar 2021 auf den Eigentumsübergang durch Verfall berufen hat, vgl. Löscher, im Gespräch mit Uchtmann, »Alles Wesentliche […] sichergestellt und in das Kunsthistorische Museum verbracht«, in der Reihe »Donnerstagabend im Museum«, Februar 2021, abrufbar unter: https://youtu.be/ZgW6Zvf6YA8.

259  A. Die Formen des rechtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum

III. Erwerbungen nach der nationalsozialistischen Herrschaft Viele entzogene Kulturgüter sind erst nach Kriegsende in die staatlichen Museen gelangt, ohne zuvor dem Bestand des ›Führermuseums‹ zugeordnet gewesen zu sein. Ihr Übergang in Bundes­ eigentum beruhte sodann nicht auf einem gesetzlichen Rechtsgrund, sondern dieser war zumeist rechtsgeschäftlicher Natur. So findet sich in den Gesetzesmaterialien der gutgläubige Erwerb im Kunsthandel der Nachkriegszeit als einziges Beispiel für einen rechtmäßigen Übergang in Bundeseigentum.1326 Ein Blick in die Empfehlungspraxis des Beirats zeichnet jedoch ein deutlich diverseres Bild: Der Beirat verweist bereits im Beschluss zu Edwin und Caroline Czeczowiczka als Beispiele für zum Eigentumserwerb taugliche Rechtsgründe auf die Auflistung des § 1461 ABGB.1327 Neben dem Ankauf spielt aus der dortigen Auflistung in der Empfehlungspraxis auch der auf Tausch und Schenkung in der Nachkriegszeit beruhende Eigentumserwerb eine Rolle. Zunächst werden die Erwerbungen des Bundes zwischen Kriegsende und Inkrafttre­ten des KRG dargestellt. Im Anschluss wird sich den Erwerbungen vom Inkrafttreten des KRG bis in die Gegenwart gewidmet. Bei Letzteren ist umstritten, ob auch sie von den Tatbeständen erfasst sind. 1. Eigentumsübergang vor Inkrafttreten des Kunstrückgabegesetzes

Der Übergang von Kulturgütern in Bundeseigentum nach Ende der nationalsozialistischen Herr­ schaft erfolgte zumeist entgeltlich, etwa durch den bereits von den Gesetzesmaterialien des KRG ins Auge gefassten »gutgläubigen Erwerb im Kunsthandel in der Nachkriegszeit« 1328. Wie der Beschluss zu Heinrich Rieger von 2004 zeigt, erwarb der Bund bereits 1949, also vier Jahre nach Kriegsende, die ersten zuvor entzogenen Kulturgüter im Kunsthandel der Nachkriegszeit. Dem Beirat zufolge sei das Gemälde »durch Ankauf von einem befugten Gewerbsmann, somit rechtmäßig, ins Eigentum des Bundes übergegangen«.1329 Er rekurriert damit zwar nicht eindeutig auf das allgemeine Zivilrecht, doch liegt aufgrund der Formulierung ein Bezug zum gutgläubigen Erwerb vom befugten Gewerbsmann nach § 367 Abs. 1 ABGB a.F. zumindest nahe.1330 Eine eigenständige Prüfung des gutgläubigen Erwerbs nimmt der Beirat nicht vor, obwohl der Sachverhalt im Fall Rieger – dem Museum waren Restitutionsverfahren gegenüber dem Verkäu­ fer bekannt – durchaus Anlass zu einer Überprüfung gegeben hätte. Aus der Empfehlungspraxis sind Erwerbungen vormals entzogener Kulturgüter durch Ankauf aus dem Kunsthandel1331 sowie von Privatpersonen1332 bekannt. In keinem der Beschlüsse prüft der Beirat die Rechtmäßigkeit eines Übergangs in Bundeseigentum durch gutgläubigen 1326 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 4. 1327 Beschl. zu Edwin u. Karoline Czeczowiczka v. 18.08.1999, S. 5.

1328 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 4. 1329 Beschl. zu Heinrich Rieger v. 25.11.2004, S. 2.

1330 S. dazu nur Klang/Leupold, ABGB, 3. Aufl. 2011, § 367 Rn. 62 ff.; Kletečka/Schauer/Kodek, ABGB, Februar 2020, § 367 Rn. 8. 1331 Beschlüsse zu George Grosz/Alfred Flechtheim v. 29.03.2006, S. 1, u. 08.03.2013, S. 2 (Galerie Oswald & Kalb); Beschl. zu Salo-

mon Meisels v. 03.10.2008, S. 2 (Dorotheum); Beschlüsse zu Ernst Moriz Kronfeld v. 10.06.2011, S. 3, u. 29.09.2011, S. 2 f. (Antiquariat Walter Krieg); Beschl. zu Käthe Kellner v. 03.07.2014, S. 2 (Kunsthandlung Melanie Penizek); Beschl. zu Käthe Kellner v. 05.10.2017, S. 2 (Galerie Würthle); Beschl. zu Moriz Grünebaum v. 11.01.2019, S. 2 (Antiquariat Gilhofer & Ranschburg); Beschl. zu Adalbert Parlagi v. 30.03.2022, S. 3 (Galerie Urbach); Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 15.05.2023, S. 9 (Dorotheum). 1332 Beschl. zu Jacques Goudstikker v. 14.12.2005, S. 1 (Sigmund Berchtold); Beschl. zu Alice u. Alfred Kolb v. 03.10.2008, S. 2 (Rudolf Sajovec); Beschl. zu Oskar Reichel v. 06.12.2011, S. 3 f. (Anton Schmid); Beschl. zu Valerie Karplus v. 12.10.2012, S. 2 f. ( Johann Kaupa); Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 15.05.2023, S. 9 (Rudolf Hintermayer).

260  § 8  Der rechtmäßige Eigentumsübergang als spezielle Rückgabevoraussetzung

Erwerb ausdrücklich. Eine solche Prüfung erfolgt selbst dann nicht, wenn eine Bösgläubigkeit durchaus indiziert wäre, da zum Beispiel das verfahrensgegenständliche Gemälde dem Ver­ äußerer zufolge »1940 bei einer Wohnungsauktion in Wien erworben« und bereits 1946 dem Museum angeboten wurde.1333 Derselbe Begründungsmangel besteht bei anderen entgeltlichen Erwerbsformen, etwa zwei Tauschgeschäften aus den 1950-er Jahren.1334 So hält der Beirat nur für einen Tausch fest, dass der Übergang in Bundeseigentum durch Tausch und »somit rechtmäßig« erfolgt sei,1335 im anderen Fall wird die Rechtmäßigkeit dagegen nicht erwähnt. Insbesondere für unentgeltliche Erwerbungen, aber regelmäßig auch für Erwerbungen von Privatpersonen, die also keine »befugten Gewerbsmänner« sind oder zwischenschalten, kommt eine Ersitzung des Kulturguts nach § 1452 ABGB durch den Bund in Betracht. Doch auch diese erfordert die Gutgläubigkeit für einen Eigentumserwerb und ebenso wie beim gutgläubigen Erwerb nach §§ 367, 368 ABGB nimmt der Beirat keine umfassende ­Eigentumsprüfung vor. Im Regelfall beruht die unentgeltliche Erwerbung auf der in § 1461 ABGB genannten Schenkung des Kulturguts. Die regulären Schenkungen entzogener Kulturgüter erfolgten mehrheitlich in den 1980-er Jahren,1336 also vierzig Jahre nach Kriegsende. Ein weiterer Beschluss hat ein Aqua­ rell aus einem Legat einer Privatperson von 1973 zum Gegenstand.1337 In vielen Fällen ist der Bund also einer von vielen Erwerber:innen nach der Entziehung. Je mehr Zeit zwischen Kriegsende und Schenkung liegt, desto wahrscheinlicher ist es, dass tatsächlich die für eine Ersitzung erforderliche Gutgläubigkeit des Bundes vorlag. Daneben finden sich auch Beschlüsse, die eine Schenkung auf den Todesfall nach § 603 ABGB zum Gegenstand haben, davon betreffen drei dieselbe Schenkung.1338 Die drei aus verschiedenen Sammlungen entzogenen, verfahrensgegenständlichen Werke wurden der Österreichischen Galerie 1949 als Schenkung auf den Todesfall übertragen. Da der Notariatsakt nicht mehr auffindbar ist, ist unklar, ob die Formvorschriften der Schenkung auf den Todesfall erfüllt waren. Die Übergabe der Werke erfolgte in den 1960-er Jahren. Die Schenkung auf den Todesfall wird zwar »unter Lebenden« durch Notariatsakt nach § 943 ABGB abgeschlossen, aber erst nach dem Tod der schenkenden Person erfüllt.1339 In den einschlägigen Beschlüssen finden sich seltene, umfangreiche Ausführungen zur Art und Weise des Eigentumsübergangs in der Nachkriegszeit, da der Beirat die Formwirksamkeit der Schenkung auf den Todesfall problematisiert. Er wirft zunächst die Frage auf, ob die Schenkung auf den Todesfall rechtswirksam ist, da der notwendige Notariatsakt nicht mehr auffindbar ist. 1333 Beschl. zu Alice u. Alfred Kolb v. 03.10.2008, S. 2.

1334 Beschl. zu Hermine Lasus v. 28.11.2000, S. 3 (Herbert Barth von Wehrenalp); Beschl. zu Karl Mayländer v. 10.06.2011, S. 3

(Rudolf Leopold).

1335 Beschl. zu Hermine Lasus v. 28.11.2000, S. 3.

1336 Beschl. zu Moriz Grünebaum v. 11.01.2019, S. 2 f.; Beschl. zu Alfred u. Rosa Kraus v. 03.07.2015, S. 1; Beschl. zu Maria Perl-

berger v. 05.11.2021, S. 5. Eine Schenkung erfolgte aber bspw. bereits 1951 (Beschl. zu Rosa Glückselig v. 01.06.2007, S. 1), eine weitere 1971 (Beschl. zu Livia u. Otto Brill v. 15.05.2023, S. 10). 1337 Beschl. zu Adelheid u. Alexander Beer v. 03.07.2015, S. 2. 1338 Beschl. zu Nora Stiasny v. 10.10.2000, S. 3; Beschl. zu Hermine Lasus v. 28.11.2000, S. 3; Beschl. zu Bernhard Altmann v. 18.06.2003, S. 2. 1339 Klang/Tschugguel, ABGB, 3. Aufl. 2017, § 603 Rn. 2 f.; Schwimann/Kodek/Nemeth, ABGB, 5. Aufl. 2019, § 603 Rn. 2 ff.; Kletečka/Schauer/Löcker, ABGB, Februar 2020, § 603 Rn. 1; Koziol/Bydlinski/Bollenberger/Apathy/Neumayrl, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 603 Rn. 2 f.

261  A. Die Formen des rechtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum

Wenngleich diese Problematisierung mehr ist, als der Beirat sonst hinsichtlich des r­ echtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum prüft, verbleiben Unklarheiten. So zieht der Beirat eine Heilung des etwaigen Formmangels in Betracht, hält diese dann jedoch für unerheblich, da jedenfalls eine »Anfechtung des Eigentumsrechts des Bundes mittlerweile verfristet« sei.1340 Zu vermuten ist, dass damit der Ablauf der Ersitzungszeit gemeint ist. Während die Prüfung des Beirats im Beschluss zu Jenny Steiner von 2000 zu einer Schenkung auf den Todesfall von 1978 noch ähnlich umfassend ist,1341 stellt er im knapp zwanzig Jahre später verfassten Beschluss zu Ernst Bunzl lediglich den rechtmäßigen Übergang in Bundeseigentum durch die Schenkung auf den Todesfall von 1952 fest.1342 Bei rechtsgeschäftlichen Erwerbungen in der Nachkriegszeit erachtet es der Beirat also noch mehr als bei Erwerbungen während der nationalsozialistischen Herrschaft als ausreichend, lediglich auf den zum Eigentumserwerb tauglichen Rechtsgrund zu verweisen. Damit unterlässt er aber eine konkrete Überprüfung des rechtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum und so auch eine Subsumtion unter ein Tatbestandsmerkmal von § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG. 2. Eigentumsübergang nach Inkrafttreten des Kunstrückgabegesetzes

Während viele entzogene Kulturgüter nach Kriegsende, aber vor Inkrafttreten des KRG, auch noch in den 1980–er Jahren, erworben worden sind, mangelt es offenbar weitestgehend an »be­ denklichen« Erwerbungen durch den Bund nach Dezember 1998. Dies ist sicher auf die seitdem akribische Provenienzforschung zurückzuführen. Zugleich wirft dieser Umstand die Frage auf, ob auch Kulturgüter, die der Bund nach Inkrafttreten des KRG erworben hat, auf dessen Grundlage restituiert werden können. Die Tatbestände § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG ­enthalten keine zeitliche Einschränkung, sondern erfordern nur, dass die Kulturgüter »rechtmäßig in das Eigentum des Bundes übergegangen sind«. Der Wortlaut schließt also Erwerbungen nach dem Inkrafttreten zumindest nicht aus.1343 Der Beirat geht auf diese Frage im Beschluss zu Edwin und Karoline Czeczowiczka von 1999 nur am Rande ein: Demnach sei der Tatbestand zu weit formuliert. Er müsse dahingehend reduziert werden, dass nach dem Inkrafttreten des KRG vom Bund erworbene Kulturgüter nicht von der gesetzlichen Ermächtigung erfasst seien.1344 Dieses obiter dictum des Beirats – die Frage war im vorliegenden Beschluss unerheblich – wird jedoch in keinem weiteren Beschluss aufgegriffen.1345 Erst im Zuge der Novellierung 2009 wurde an der fehlenden Beschränkung des KRG auf Erwerbungen vor dessen Inkrafttreten vom Bundesfinanzministerium explizit Kritik geübt. Demnach könne eine Anwendung des KRG auf rezente Erwerbungen private – und damit dem KRG bisher nicht unterworfene – Eigentümer:innen von einer Schenkung ihrer Sammlung an den Bund abhalten, wenn sie an einem Gesamterhalt der Sammlung interessiert sind. Eine 1340 Beschl. zu Nora Stiasny v. 10.10.2000, S. 3.

1341 Beschl. zu Jenny Steiner v. 10.10.2000, S. 2.

1342 Beschl. zu Ernst Bunzl v. 11.01.2019, S. 3 f., in dem interessanterweise die Schenkung bereits 1940, also noch während der

nationalsozialistischen Herrschaft, vereinbart wurde und sich die verfahrensgegenständliche Figur auch dann bereits als Leihgabe im Museum befand. 1343 So auch Graf, NZ 2005, 321, 330 Fn. 35. 1344 Beschl. zu Edwin u. Karolina Czeczowiczka v. 18.08.1999, S. 5. 1345 Lediglich im Beschl. zu Hermann Eissler v. 24.06.2009, S. 19, deutet der Beirat an, dass nach Beginn der Provenienzforschung eine Ersitzung (mangels Gutgläubigkeit) nicht mehr möglich sei. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das KRG nicht mehr auf andere Formen des Eigentumserwerbs nach 1998 anwendbar ist.

262  § 8  Der rechtmäßige Eigentumsübergang als spezielle Rückgabevoraussetzung

solch weite Anwendung des KRG werde daher weder den unterschiedlichen Interessen im Kulturbetrieb noch dem Restitutionsgedanken gerecht.1346 Mit anderen Worten würden dieser Ansicht nach Kunstsammler:innen dem Bund nicht mehr ihre Sammlung überlassen, da in den Bundesmuseen die Provenienzforschung mit der Extraktion einzelner Werke aus der ausgewogenen Sammlungskonzeption drohe. Eine Stellungnahme der Legislative zum Entwurf ist nicht bekannt. In die Endfassung der Novelle von 2009 ist er aber augenscheinlich nicht eingeflossen, da diese keine Einschränkung zum Erwerbszeitpunkt enthält. Wohl aber lässt sich noch kurz vor Inkrafttreten der Novelle dem Beschluss zu Ernst Sonnenschein eine Tendenz des Beirats entnehmen. Dabei ist indes davon auszugehen, dass diese Tendenz eher eine vom Beirat unbeabsichtigte Schlussfolgerung ist, da er sich in diesem Beschluss nicht explizit mit dem Übergang in Bundeseigentum auseinandersetzt. Der verfahrensgegenständliche Heißwassererhitzer ist mit dem Namen des als ›Jude‹ definierten Ernst Sonnenschein im Technischen Museum inventarisiert. Bereits im August 1938 übergaben die Städtischen Gaswerke Wien den Heißwassererhitzer dem Museum als Leihgabe. Die Wien Energie Gasnetz GmbH schenkte ihn im März 2007 dem Technischen Museum. Wie der Heißwassererhitzer in das Eigentum des Bundes gelangte, wird nicht ausführlich erläu­ tert. Der Beirat stellt lediglich kurz fest, dass der Bund 2007 durch Erfüllung des Schenkungsvertrages gemäß § 4 Abs. 1 Bundesmuseen-Gesetz Eigentum an dem Heißwassererhitzer erwarb.1347 Jedoch können unentgeltliche Erwerbungen erst seit der Novellierung1348 des Bundesmuseen-Gesetzes 2015 nach § 4 Abs. 1 je nach Wunsch der Vertragsparteien in das Eigentum des Bundes oder der Einrichtung übergehen. Im Zeitpunkt des Beschlusses 2009 fehlte es aber noch an einer entsprechenden Regelung für unentgeltliche Erwerbungen. Bei diesen wurde vielmehr ein Eigentumserwerb des Museums angenommen, soweit nicht ein gegenteiliger Wille der Schenkungsgeber:innen vorlag.1349 Maßgeblich hätte mithin der ausdrückliche Wille der Wien Energie Gasnetz GmbH sein müssen; der Verweis auf das Bundesmuseen-Gesetz ist nicht ausreichend. Ungeachtet dieser Unklarheiten beruhte der Eigentumserwerb in jedem Falle auf einem Schenkungsvertrag von 2007, der Eigentumsübergang erfolgte also eindeutig nach Inkrafttreten des KRG. Dem Beschluss ist somit die Wertung zu entnehmen, dass auch Erwerbungen nach 1998 das Tatbestandsmerkmal des rechtmäßigen Übergangs in Bundes­eigentum erfüllen können.

IV. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien Eizenstat hat bereits ausdrücklich kritisiert,1350 dass durch gesetzliche und zwischenstaatliche Regelungen letztlich ein Großteil der entzogenen Kulturgüter aus Beständen des Deutschen 1346 Stellungnahme Bundesfinanzministerium zu ME v. 28.08.2008, 8/SN-214/ME XXIII. GP, S. 3 f. 1347 Beschl. zu Ernst Sonnenschein v. 20.03.2009, S. 2 f.

1348 Bundesgesetz, mit dem das Bundesmuseen-Gesetz 2002 geändert wird, BGBl. I Nr. 66/2015.

1349 Dazu eingehend Öhlinger, in: Berka et al. (Hrsg.), FS Funk, 2003, S. 113, 123 ff.; Öhlinger, Bulletin Kunst & Recht 2016/2017,

66, 77 f.; jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 114 ff.

1350 Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 67.

263  A. Die Formen des rechtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum

Reichs und seiner Verantwortlichen ohne öffentliche Debatte und Nachprüfung in Bundeseigentum überging. Die Tatsache dieses Übergangs soll jedoch nicht Gegenstand der nachfolgenden Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien sein. Vielmehr wird der Umgang des Bei­rats mit dieser Tatsache in seiner Empfehlungspraxis beurteilt. Zwar wird im Kontext der Prinzipien stets betont, dass der Staat nicht mehr als ein treuhänderisches Interesse an den Werken haben könne.1351 Die hier untersuchten Kulturgüter stehen nun aber weitestgehend im Staatseigentum und auch dafür ist eine »gerechte und faire Lösung« zu finden. Entscheidend muss daher sein, ob sich der Bund heutzutage, nach Vereinbarung der Washingtoner Prinzipien, trotz des formellen Eigentumsrechts funktional mehr als Treuhänder denn als Eigentümer der entzogenen Kulturgüter sieht. Dabei ist auch zu berücksichtigen, wie umfassend der Beirat in seinen Beschlüssen die eigentumsrechtlichen Kontinuitäten der nationalsozialistischen Herrschaft in österreichischen Museen transparent macht. Denn die Washingtoner Prinzipien beabsichtigen gerade eine Auseinandersetzung mit diesen Kontinuitäten auf der Ebene der staatlichen Institutionen.1352 Es finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Aufruf zu »gerechten und fairen Lösungen« nicht Kulturgüter betrifft, die erst nach der Washingtoner Konferenz 1998 erworben wurden. Vielmehr wird in der Literatur pauschal darauf hingewiesen, dass Erwerbungen in der Nachkriegszeit – ohne Beschränkung bis 1998 – vergleichbar problematisch wie Erwerbungen während der nationalsozialistischen Herrschaft sein können.1353 Eine Ungleichbehandlung würde demnach den für eine »gerechte und faire Lösung« elementaren Gleichheitssatz verletzen. Daran unmittelbar anknüpfend ist die Bewertung im Lichte der Prinzipien mit dem Ausschluss von Kulturgütern, die erst nach dem Inkrafttreten des KRG in Bundeseigentum übergingen, zu beginnen. Ein solcher Ausschluss würde zweifelsohne zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung führen, da es für den Entziehungscharakter keine Rolle spielt, wann die Kulturgüter in das Eigentum des Bundes übergegangen sind. Die Rückgabe würde dann vom bloßen Zufall des Erwerbszeitpunkts des Bundes abhängig gemacht. Geradezu paradox erscheint die Berufung des Bundesfinanzministeriums auf den Restitutionsgedanken zur Rechtfertigung dieses Ausschlusses: Zwar ist durchaus möglich, dass Personen aufgrund der akribischen Provenienzforschung von einer Schenkung an den Bund absehen. Für den Restitutionsgedanken ist jedoch auch durch den Ausschluss nichts gewonnen: Denn sowohl im Falle einer Nichtunterwerfung der Objekte unter das KRG als auch im Falle einer Überlassung an andere Institutionen oder eines »Verschlusses« der Sammlung würde keine Auseinandersetzung mit den Objekten erfolgen. Diese ist allein durch eine Überlassung an den Bund mit seiner umfassenden Provenienzforschung gesichert; sie wird also dem Restitutionsgedanken gerade in besonderem Maße gerecht.1354 Die – offenbar vorrangig an einer sorglosen Vergrößerung der Bundessammlungen interessierte – Sichtweise des Bundesfinanzministeriums entbehrt daher jeglicher Grundlage im Lichte des Gesetzeszweckes und behandelt entgegen dem Auftrag der Washingtoner Prinzipien wesentlich gleiche Sachverhalte ungleich.

1351 Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 19, 21.

1352 S. zur Transparenz mit den nationalsozialistischen Kontinuitäten unter § 4 B.I., S. 39.

1353 Parzinger, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 49, 65. 1354 So nun jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 135 f.

264  § 8  Der rechtmäßige Eigentumsübergang als spezielle Rückgabevoraussetzung

Darüber hinaus ist auch die argumentative Auseinandersetzung des Beirats mit dem Übergang in Bundeseigentum unabhängig vom Zeitraum im Lichte der Washingtoner Prinzipien zu kritisieren: Zunächst unterstreicht die amtswegige Untersuchung der Kulturgüter in Bundes­ eigentum zwar zweifelsohne, dass sich der Bund – ungeachtet der formaljuristischen Perspektive – funktional lediglich als »Treuhänder« der entzogenen Kulturgüter sieht. Doch macht der Beirat die nationalsozialistischen, eigentumsrechtlichen Kontinuitäten in den staatlichen Museen nicht hinreichend transparent. Wenn nämlich die staatlichen Museen, wie in Österreich, beinahe unbemerkt von den Entziehungen des nationalsozialistischen Regimes profitieren konnten und der gewonnene Vorteil in Form des Eigentumsrechts auch noch gesetzliche Tatbestandsvoraussetzung einer Rückgabe ist, erscheint diese geradezu prädestiniert für eine transparente Darstellung jener bevorteilenden Kontinuitäten. Besonders kritikwürdig ist daher, dass gerade das Schicksal der Bestände des ›Führermuseums‹ widersprüchlich und damit unklar bleibt. Im Vergleich mit der sorgfältigen Prüfung der meisten anderen T ­ atbestandsvoraussetzungen fällt die Vernachlässigung des rechtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum durch den Beirat besonders auf. Zumal er zu Beginn der Empfehlungspraxis zumindest teilweise noch den Rechtsgrund des Eigentumsübergangs erwähnt hat, dies in der späteren Praxis aber vollständig fehlt. Daneben stellt der Beirat nicht klar, dass auch unrechtmäßig in Bundeseigentum übergegangene Kulturgüter unter die Tatbestände fallen müssen. Eine seitenfüllende Prüfung des rechtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum wäre angesichts der von den Washingtoner Prinzipien primär bezweckten Auseinandersetzung mit den konkreten Verlust- und Erwerbsumständen gleichwohl fehl am Platz. Doch ist mit dem nötigen Problembewusstsein für die eigentumsrechtlichen Kontinuitäten der nationalsozialistischen Herrschaft zumindest eine kurze Subsumtion des Eigentumsübergangs unter Verwendung der einschlägigen Rechtsgrundlagen geboten. Andernfalls bliebe formell eine Voraussetzung der Tatbestände in der Beurteilung des Beirats vollkommen unberücksichtigt. Soweit bereits eine vorgelagerte Eigentumsprüfung außerhalb des öffentlichen Beschlusses, etwa auf Ebene der Provenienzforschung, vorgenommen wird, müsste dies vom Beirat zumindest festgehalten werden. Aufgrund des juristischen Gehalts der Eigentumsprüfung wäre eine Prüfung durch den Beirat indes die wünschenswerte Lösung – andere Tatbestandsvoraussetzungen lässt er schließlich auch nicht vollständig von der Provenienzforschung prüfen.

B. Die Bedeutung der Gutgläubigkeit Wie bereits bei der Untersuchung der Rechtmäßigkeit des Übergangs in Bundeseigentum deutlich wurde, ist die Gutgläubigkeit für den Beirat jedenfalls dahingehend von Bedeutung, dass der Bund oftmals auf diesem Wege in der Nachkriegszeit Eigentum erwarb. So setzt etwa der Erwerb nach §§ 367, 368 ABGB ebenso wie die Ersitzung nach §§ 1452, 1463, 1477 ABGB für den Eigentumserwerb die Gutgläubigkeit der Erwerber:innen voraus.1355 Allein aufgrund der 1355 Rummel/Lukas/Bydlinski, ABGB, Januar 2002, § 1463 Rn. 1; Klang/Leupold, ABGB, 3. Aufl. 2011, § 367 Rn. 22 ff., § 368

Rn. 4 ff.; Klang/Gusenleitner-Helm, ABGB, 3. Aufl. 2012, § 1452 Rn. 2, § 1463 Rn. 1, § 1477 Rn. 4; Rummel/Lukas/Winner, ABGB, Juli 2016, § 368 Rn. 3 ff.; Kletečka/Schauer/Holzner, ABGB, Februar 2020, § 368 Rn. 2; Koziol/Bydlinski/Bollenberger/Eccher/Riss, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 367 Rn. 1 ff., § 368 Rn. 2; Schwimann/Kodek/Zoppel, ABGB, 5. Aufl. 2020, § 367 Rn. 3 ff.; Koziol/Bydlinski/Bollenberger/Meissel, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 1452 Rn. 2, § 1463 Rn. 1, § 1477 Rn. 1; Kletečka/ Schauer/Ehgartner/Winkler, ABGB, September 2021, § 1463 Rn. 2 ff.

265  B. Die Bedeutung der Gutgläubigkeit

Rechtmäßigkeit ist ein Eigentumserwerb regelmäßig nicht möglich. Fraglich ist aber, ob der gutgläubige Erwerb auch über eine darüberhinausgehende Bedeutung verfügt, etwa als Ausschlussgrund.1356 Im Beschluss zu Edwin und Karoline Czeczowiczka erklärt der Beirat, dass der Tatbestand des § 1 Nr. 2 KRG a.F. nur Fälle erfasse, in denen der Bund nicht gutgläubig gewesen sei.1357 Demnach setzt die Rückgabe eine Bösgläubigkeit des Bundes voraus – die ­Gutgläubigkeit stünde also einer Rückgabe entgegen. Dann würde jedoch die Gutgläubigkeit im Sinne des all­ gemeinen Zivilrechts, die oftmals Voraussetzung des rechtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum und damit der Restitution ist, zugleich als Ausschlussgrund für letztere wirken. Es drängt sich daher die Frage auf, ob die Gutgläubigkeit nach dem Verständnis des Beirats überhaupt dem gutgläubigen Erwerb im Sinne des allgemeinen Zivilrechts entspricht. Die nachfolgende Untersuchung wird zeigen, dass der Beirat in der Tat ein eigenes Begriffsverständnis des gutgläubigen Erwerbs vertritt. Dieses stellt zum einen auf die Gutgläubigkeit bezüglich der Entziehung anstelle der Verfügungsbefugnis ab. Zum anderen ist der maßgebliche Zeitpunkt für die Gutgläubigkeit anders als im Zivilrecht nicht der Erwerb, sondern auch die nachträgliche Bösgläubigkeit schadet. Welche Konsequenzen dieses Verständnis für die Bedeu­ tung der Gutgläubigkeit hat, ist Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen. Deren Ergebnis, die Unerheblichkeit der Gutgläubigkeit außerhalb der Eigentumsbegründung, ist sodann im Lichte der Washingtoner Prinzipien zu bewerten.

I. Die Gutgläubigkeit im Begriffsverständnis des Beirats Die nachfolgende Untersuchung illustriert daher zunächst anhand des Beschlusses zu Rudolf Bittmann aus dem Jahr 2000, warum den Ausführungen des Beirats ein anderes Verständnis des gutgläubigen Erwerbs zugrunde liegt als dem allgemeinen Zivilrecht. Der als ›Jude‹ definierte Sammler Rudolf Bittmann brachte die verfahrensgegenständlichen Miniaturen 1938 selbst zur Auktion ein, wo sie für die Albertina erworben wurden. In der Nachkriegszeit verlangte Bittmann die Restitution der Miniaturen, da die Versteigerung unter Zwang erfolgt sei. Die Albertina wies den Anspruch nach umfangreichen Sachverhaltserhebungen jedoch unter Hinweis darauf zurück, dass sie bei einem Kunsthändler und in Unkenntnis der Umstände eines Zwangsverkaufs erworben habe. Der vom Beirat gewählte Prüfungsaufbau ist in dieser frühen Phase der Empfehlungspraxis äußerst schwer nachzuvollziehen. Dem Beschluss ist aber zumindest eindeutig zu entnehmen, dass der Beirat einen (gutgläubigen) Eigentumserwerb des Deutschen Reichs annimmt.1358 Daran anknüpfend wird nun das vom Beirat entwickelte Begriffsverständnis der Gutgläubigkeit erläutert. Der Maßstab der Gutgläubigkeit, die fahrlässige Unkenntnis, entspricht zwar dem des österreichischen Zivilrechts,1359 Bezugspunkt und Zeitpunkt weichen jedoch ab. 1356 Eingehend zur Bedeutung des gutgläubigen Erwerbs im internationalen Kulturgüterschutz s. Reichelt, in: dies. (Hrsg.),

Rechtsfragen, 2008, S. 43, 47 f.; Reichelt, in: Weller/Kemle (Hrsg.), Kultur, 2016, S. 39, 44 ff.

1357 Beschl. zu Edwin u. Karoline Czeczowiczka v. 18.08.1999, S. 5.

1358 Beschl. zu Rudolf Bittmann v. 18.08.2000, S. 2 ff. Ungeachtet der Frage nach der Gutgläubigkeit ist nicht ersichtlich, warum

der Beirat eine Entziehung erst in der fehlenden freien Verfügbarkeit Bittmanns über den Erlös für den Verkauf der Objekte betrachtet. 1359 Nicht aber dem deutschen Zivilrecht, s. dazu Dewey, KUR 2020, 154, 157.

266  § 8  Der rechtmäßige Eigentumsübergang als spezielle Rückgabevoraussetzung

1. Der Bezugspunkt der Gutgläubigkeit

Im allgemeinen Zivilrecht dient die Verfügungsbefugnis der veräußernden Person als Bezugspunkt der Gutgläubigkeit.1360 Bittmann war als Eigentümer der verfahrensgegenständlichen Mi­ niaturen verfügungsbefugt. Der Beirat wirft jedoch die Frage auf, ob als Bezugspunkt für die Gutgläubigkeit anstelle des Eigentums Bittmanns nicht vielmehr die Entziehung dienen müsse. Dafür greift der Beirat wie so oft auf das Rückstellungsrecht zurück: § 4 Abs. 1 Drittes Rück­stellungsgesetz statuierte eine – von den Museen in der Nachkriegszeit übermäßig herangezogene1361 – Einschränkung der Restitutionspflicht unter bestimmten Umständen bei Gutgläubigkeit.1362 Die Erwerber:innen galten nicht als gutgläubig, wenn sie »wusste[n] oder wissen muss­te[n], dass es sich um entzogenes Vermögen gehandelt hat« – maßgeblich war also die Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis der Entziehung.1363 Für ein solches Verständnis zieht der Beirat zudem die Gesetzesmaterialien des KRG heran, die ausdrücklich zur Rückgabe bei »Zweifeln an der Unbedenklichkeit der Herkunft«1364 ermächtigen. Bezugspunkt der Gutgläubigkeit ist daher nach Ansicht des Beirats nicht die Verfügungsbefugnis, sondern der Umstand, dass das Vermögen nicht entzogen worden war.1365 Der Bund kann damit zivilrechtlich gutgläubig Eigentum erworben haben, obwohl er bösgläubig bezüglich der Entziehung gewesen ist. Im Fall Bittmann müsste der Beirat demnach prüfen, ob der Bund wusste oder wissen musste, dass es sich um ein entzogenes Kulturgut handelte. Anstelle etwa einer umfassenden Indizienauswertung bringt der Beirat vor, dass er nicht in der Lage sei, die Behauptung der Gut­ gläubigkeit aus der Nachkriegszeit zu überprüfen. Dies sei, wie er später im Beschluss zu Henri und Pauline Grünzweig verdeutlicht, »eine Frage der im Wege der Beweiswürdigung zu erfolgenden Tatsachenfeststellung […], die der Beirat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht nachvollziehen kann.«1366 Mit anderen Worten sieht sich der Beirat außerstande, die für und gegen eine Gutgläubigkeit sprechenden Indizien einer Beweiswürdigung zuzuführen. In anderen Beschlüssen kann er sich gleichwohl eine kurze Einschätzung oftmals nicht verbitten.1367 Diese volatile Praxis ist vermutlich auf das nachfolgend zu erläuternde Verständnis des Beirats vom maßgeblichen Zeitpunkt der Gutgläubigkeit bezüglich der Entziehung zurückzuführen.

1360 Kletečka/Schauer/Kodek, ABGB, Februar 2020, § 367 Rn. 6; Koziol/Bydlinski/Bollenberger/Eccher/Riss, ABGB, 6. Aufl. 2020,

§ 367 Rn. 3; Schwimann/Kodek/Zoppel, ABGB, 5. Aufl. 2020, § 367 Rn. 4.

1361 Es kann angesichts der Bespiele aus der Empfehlungspraxis Jungwirth nicht zugestimmt werden, dass sich die Museen in der

Nachkriegszeit kaum auf die Gutgläubigkeit gegenüber den Anspruchstellenden beriefen (vgl. Jungwirth, in: Gschiel et al. (Hrsg.), Schneidern, 2010, S. 249, 269). 1362 Dazu ausführlich Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 206; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 215 ff.; Meissel/Jungwirth, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 104, 116; Meissel, in: Luminati et al. (Hrsg.), Rechtsgeschichte, 2008, S. 427, 440 f.; Jungwirth, in: Gschiel et al. (Hrsg.), Schneidern, 2010, S. 249, 265. 1363 Beschl. zu Rudolf Bittmann v. 18.08.2000, S. 3 f. 1364 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 4. 1365 Wiederin, Kunstrückgabegesetz, 2006, S. 21 ff.; Dewey, KUR 2020, 154, 157. Dies verkennen offenbar Schnabel/Tatzkow, Nazi Looted Art, 2007, S. 12; Cwitkovits/Huda, in: Redmond-Cooper (Hrsg.), Museums, 2021, S. 134, 140; Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S.132 f. 1366 Beschl. zu Henri u. Pauline Grünzweig v. 18.08.2000, S. 2. 1367 So stellt der Beirat etwa in dem Beschl. zu Siegfried Lämmle v. 10.10.2000, S. 2 f., und dem Beschl. zu Michael Berolzheimer v. 10.05.2001, S. 7, fest, dass die Behauptung der Gutgläubigkeit heute nicht widerlegbar sei, aber die Aufklärung der Provenienz damals leicht und zumutbar gewesen wäre.

267  B. Die Bedeutung der Gutgläubigkeit

2. Der Zeitpunkt der Gutgläubigkeit

Im österreichischen allgemeinen Zivilrecht ist – und im Rückstellungsrecht war – erforderlich, dass die Erwerber:innen vom Abschluss des Verpflichtungsgeschäfts bis zur Übereignung gutgläubig sind, nachträgliche Bösgläubigkeit schadet also nicht (mala fides superveniens non nocet).1368 Bereits im Beschluss zum Ehepaar Czeczowiczka nimmt der Beirat im Gegensatz dazu an, dass die für das KRG maßgebliche Bösgläubigkeit auch zu einem späteren Zeitpunkt als beim Erwerb vorliegen kann.1369 Dies führt der Beirat erst im Beschluss zu Rudolf Bittmann weiter aus: Aus den Gesetzesmaterialien des KRG lasse sich entnehmen, dass der Tatbestand des § 1 Nr. 2 KRG a.F. gerade auch dann zur Rückgabe ermächtige, wenn der Bund zwar im Zeitpunkt des Erwerbes gutgläubig (also nach diesem Verständnis ohne Kenntnis der Entziehung) war, aber »zu einem späteren Zeitpunkt«1370 bösgläubig wurde. Die Legislative habe also eine Ausnahme vom Grundsatz mala fides superveniens non nocet beabsichtigt. Da das KRG »weit über den Anwendungsbereich der Rückstellungsgesetzgebung« hinausgehe, weicht der Beirat hier ausnahmsweise ausdrücklich vom Rückstellungsrecht ab.1371 Hier zeigt sich mithin nochmals sein äußerst reflektierter Umgang mit den Wertungen des Nachkriegsrechts.1372 Der Bund ist somit bösgläubig im Sinne des Beirats, wenn er zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen Erwerb und Gegenwart wusste oder wissen musste, dass das Kulturgut Gegenstand einer Entziehung war. Eine solche Bösgläubigkeit liegt etwa vor, wenn »Zweifel […] durch die von der Kommission für Provenienzforschung vorgelegten Urkunden ausgewiesen« sind.1373 Sobald also die Provenienzforschung auch nur den kleinsten Anhaltspunkt für eine Entziehung erbringt, gilt der Bund als bösgläubig,1374 so auch im Fall Bittmann. Dies ist somit auch die Bösgläubigkeit, die der Beirat im Beschluss zum Ehepaar Czeczowiczka für eine Rückgabe fordert.

II. Die Unerheblichkeit der Gutgläubigkeit infolge dieses Begriffsverständnisses Das Begriffsverständnis des Beirats vom gutgläubigen Erwerb weicht also von dem des allgemeinen Zivilrechts merklich ab, dies sowohl durch den Bezugspunkt (»Entziehung« statt »Verfügungsbefugnis«) als auch den Zeitpunkt (»beim und ab dem Erwerb« statt »bis zum und beim Erwerb«). Dieser Bruch mit den Grundsätzen des allgemeinen Zivilrechts wurde bereits im Gesetzgebungsverfahren zum KRG erkannt und kritisiert. Die Kritik entzündete sich vor allem an der legislativen Wertung, dass auch nachträgliche »Zweifel an der Unbedenklichkeit« (entgegen mala fides superveniens non nocet) zu einem »Eingriff« in das Eigentumsrecht in Form der Rückgabe und damit einem finanziellen Verlust des Bundes führen können.1375 Daher ist nun 1368 Klang/Leupold, ABGB, 3. Aufl. 2011, § 367 Rn. 24; Rummel/Lukas/Winner, ABGB, Juli 2016, § 368 Rn. 9; Kletečka/Schauer/

Kodek, ABGB, Februar 2020, § 367 Rn. 5; Schwimann/Kodek/Zoppel, ABGB, 5. Aufl. 2020, § 367 Rn. 5.

1369 Beschl. zu Edwin u. Karoline Czeczowiczka v. 18.08.1999, S. 5.

1370 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 5. 1371 Beschl. zu Rudolf Bittmann v. 18.08.2000, S. 4 ff.

1372 So schon Dewey, KUR 2020, 154, 158 f.; Dewey, Tsafon 12/2022, 39, 46 f. Zur Notwendigkeit eines Rekurses auf das Rück-

stellungsrecht s. unter § 7 A.II.2., S. 120.

1373 Beschl. zu Rudolf Bittmann v. 18.08.2000, S. 4 ff. 1374 So bereits Dewey, KUR 2020, 154, 158.

1375 Wortmeldung Böhm bei der 646. Sitzung des Bundesrats am 19.11.1998, Stenografische Protokolle des Bundesrats, S. 61 f.;

Stellungnahme Kärnten zum Ministerialentwurf v. 27.08.2008, 11/SN-214/ME XXIII. GP, S. 2.

268  § 8  Der rechtmäßige Eigentumsübergang als spezielle Rückgabevoraussetzung

zu untersuchen, welche tatsächlichen Folgen dieses Begriffsverständnis auf die Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen von § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG hat. Auf den ersten Blick kann nach dem Verständnis des Beirats die Gutgläubigkeit eine Rückgabe ausschließen, wenn sie sich auf die Entziehung bezieht und nach dem Erwerb keine Bösgläubigkeit eingetreten ist. Der zweite Blick in die sich dem Fall Bittmann anschließende Empfehlungspraxis zeigt jedoch, dass ein gutgläubiger Erwerb nach diesem Verständnis zwangsläufig ausgeschlossen ist: Indem für die Bösgläubigkeit nach Ansicht des Beirats bereits ein im Zuge der Provenienzforschung aufkommender Anhaltspunkt ausreicht, liegt diese Bösgläubigkeit zwingend in jedem vom Beirat untersuchten Fall vor. Denn der Beirat befasst sich allein mit Fällen, wo nach Ansicht der Kommission für Provenienzforschung »Zweifel an der Unbedenklichkeit« bestehen. Der Untersuchung durch den Beirat ist die Bösgläubigkeit im Sinne des Begriffsverständnisses somit inhärent.1376 Die Gutgläubigkeit des Bundes bezüglich einer Entziehung im Zeitpunkt des Erwerbes kann diesen also nicht vor der Restitution bewahren.1377 Sie ist in jeder Hinsicht uner­ heblich,1378 wie der Beirat in drei Beschlüssen auch explizit festhält.1379 Dementsprechend verschwindet der gutgläubige Erwerb nach dem Verständnis des Beirats im Laufe der Empfehlungspraxis in der Unbedeutsamkeit.1380 Vereinzelt finden sich in den Jahren nach dem Fall Bittmann noch Ausführungen zur Gutgläubigkeit in diesem Sinne, sie sind aber zumeist auf die bloße Feststellung der Bösgläubigkeit, also die Kenntnis der Entziehung zu irgendeinem Zeitpunkt, beschränkt.1381 Die Gutgläubigkeit im Sinne des allgemeinen Zivilrechts wird wohl noch zur Feststellung des rechtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum, etwa durch Erwerb von Nichtberechtigten oder Ersitzung, relevant bleiben; diese Prüfung taucht jedoch in der Regel nicht in den Beschlüssen auf.1382 Als Ausschlussgrund kann der gutgläubige Erwerb jedenfalls nach keinem der beiden Verständnisse dienen.

III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien Der gutgläubige Erwerb ist eines der häufigsten Argumente zur Verteidigung gegen Restitu­ tionsansprüche. Dabei verfügen nicht einmal alle Unterzeichnerstaaten der Washingtoner Prinzipien, so etwa die Vereinigten Staaten, über einen Gutglaubenstatbestand.1383 Im Lichte der Washingtoner Prinzipien ist daher nun zu bewerten, dass der Beirat dem gutgläubigen Erwerb weder nach dem allgemeinen Zivilrecht noch nach seinem eigenen Verständnis eine besondere Bedeutung zuschreibt. Die Prinzipien selbst nehmen ebenso wenig wie die Theresienstädter Erklärung ausdrücklich Stellung zur Bedeutung des gutgläubigen Erwerbs. Ob die Gutgläubig1376 So bereits Dewey, KUR 2020, 154, 158. Dies verkennt Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 131, indem er jüngst annimmt, der

Beirat würde versuchen, »eine etwaige Rückgabeverpflichtung mit dem Einwand des gutgläubigen Erwerbs abzuwenden.«

1377 Würde der Beirat mehr als Zweifel der Provenienzforschung fordern, würde die Voraussetzung der Bösgläubigkeit die Tatbe-

stände zudem entgegen ihrem Wortlaut erheblich einschränken, daher befürwortend Graf, NZ 2005, 321, 331 ff.

1378 Diese bereits in der Empfehlungspraxis etablierte Unerheblichkeit ist offenbar unbekannt bei Graf, NZ 2020, 7, 12. Auch auf

kommunaler Ebene in Wien spielt die Gutgläubigkeit keine Rolle, s. Wladika, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 263, 266.

1379 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 6; Beschl. zu Salomon Meisels v. 03.10.2008, S. 2; Beschl. zu Gertrude Felsö­

vanyi v. 12.04.2019, S. 4.

1380 S. dazu ausführlich Dewey, KUR 2020, 154, 158; Dewey, Tsafon 12/2022, 39, 46.

1381 Vgl. Beschl. zu Jenny Steiner v. 10.10.2000, S. 3; Beschl. zu Nora Stiasny v. 10.10.2000, S. 3; Beschl. zu Gustav u. Claire Kir-

stein v. 23.01.2001, S. 3; Beschl. zu Michael Berolzheimer v. 10.05.2001, S. 7; Beschl. zu Moriz u. Otto Eisler v. 29.06.2001, S. 2; Beschl. zu Heinrich Rieger v. 25.11.2004, S. 4. 1382 S. dazu unter § 8 A.III., S. 260. 1383 John, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 59, 60.

269  B. Die Bedeutung der Gutgläubigkeit

keit über den Eigentumserwerb von Nichtberechtigten hinaus, etwa als Ausschlussgrund oder auf Ebene der Abhilfemaßnahmen, eine Rolle spielt, lässt sich auch den ­Entstehungsmaterialien der Washingtoner Prinzipien nicht konkret entnehmen – sie deuten lediglich eine gewisse Bedeutung der Gutgläubigkeit an.1384 Es bedarf also eines Blicks in die einschlägige Literatur. Dabei fällt zunächst auf, dass kaum zwischen Gutgläubigkeit bezüglich der Verfügungsbefugnis und der Entziehung differenziert wird. Durch einen klaren Fokus der Argumente auf das geschützte Eigentumsrecht ist aber davon auszugehen, dass die meisten Stellungnahmen auf die Gutgläubigkeit bezüglich der Verfügungsbefugnis abstellen, die einen Eigentumserwerb ermöglicht.1385 Anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums der Washingtoner Prinzipien stellte Eizenstat 2018 klar, dass die »Erwerbsmethode« bei der Ermittlung einer »gerechten und fairen Lösung« keine Rolle spielen dürfe.1386 Einige Jahre später relativierte er jedoch diese kategorische Unerheblichkeit der »Erwerbs­ methode« – offenbar aufgrund der eigenen beratenden Tätigkeit in einem Verfahren – und argumentiert zugunsten der haltenden Person mit deren Gutgläubigkeit; hier wohl hinsichtlich der Entziehung.1387 Trotz der damit verbundenen Relativierung seiner anfänglichen Position findet diese seit jeher viel Zuspruch in der Literatur. So wird auf der einen Seite die Frage aufgeworfen, ob im Kontext der während der nationalsozialistischen Herrschaft entzogenen Kulturgüter die normale – zivilrechtliche – Bedeutung der Gutgläubigkeit als Verkehrs- und Bestandsschutz überhaupt eine Berechtigung haben könne.1388 Die Berufung auf den Schutz des gutgläubigen Erwerbs verhindere in diesem Kontext letztlich eine Reaktion auf die Verbrechen während der nationalsozialistischen Herrschaft.1389 Teils wird daher sogar auf vorgelagerter Ebene vertreten, dass per se ein gutgläubiger Erwerb unmöglich sein müsse.1390 Auf der anderen Seite wird behauptet, der Appell der Washingtoner Prinzipien könne gutgläubige Eigentümer:innen nicht treffen.1391 Dabei wird häufig mit dem Eingriff in das verfassungsrechtlich geschützte Eigentumsrecht argumentiert.1392 Diese Perspektive verkennt jedoch, dass die Washingtoner Prinzipien gerade der »Klärung strittiger Eigentumsfragen« dienen – der Schutz des Eigentums soll einer »gerechten und fairen Lösung« mithin gerade nicht entgegenstehen. Teils wird daher als Kompromiss dafür plädiert, dass im Falle einer Rückgabe der damals gezahlte Kaufpreis oder der heutige Marktwert erstattet wird.1393

1384 Nicholas, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 449, 451 f.; Soltes, in: Government Print-

ing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 547, 550.

1385 Nur vereinzelt wird darauf hingewiesen, dass bei der Ermittlung einer »gerechten und fairen Lösung« nicht der gutgläubige

Erwerb des Eigentums, sondern die Kenntnis der Erwerber:innen von der Entziehung im Fokus stehen sollte, s. Kreder, Brook. L. Rev. 2007, 155, 201 f.; vgl. auch Oost, Int. J. Cult. Prop. 2021, 1, 23. 1386 Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 11. 1387 Bowley, Tricky First Case, in: NYT Online v. 23.01.2022. 1388 Kreder, Brook. L. Rev. 2007, 155, 204; Campfens/Kunert, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 111, 119. 1389 Webber/Fisher, in: DCPTCA (Hrsg.), Terezin, 2019, S. 39, 46. 1390 Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 19, 20. 1391 Eberl, KUR 2009, 155, 157. In diese Richtung auch Raue, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Geschichte, 2007, S. 287, 297 f.; Renold beim »Table ronde sur les ventes forcées«, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 138, 138. 1392 Berking, KUR 2019, 179, 180; Hellwig, Entwicklung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 35, 46; Raue, Wortmeldung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 61, 72. In diese Richtung auch Toman, in: Kräutler/Frodl (Hrsg.), Museum, 2004, S. 243, 249. 1393 Von Trott zu Solz/Gielen, ZOV 2006, 256, 260; Kreder, Brook. L. Rev. 2007, 155, 201 f.; Eberl, KUR 2009, 155, 157; Papier, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 79, 87. Aufgrund der Begrenzung der Abhilfe-

270  § 8  Der rechtmäßige Eigentumsübergang als spezielle Rückgabevoraussetzung

Die Darstellung der verschiedenen Ansichten zeigt, dass sich die Debatte letztlich um die Gewichtung temporal verschiedener Eigentumspositionen dreht, dem heutigen und dem damaligen Eigentum. Nur eine der beiden Positionen, das heutige Eigentum, wird aber – zumindest in weiten Teilen Kontinentaleuropas – vom jeweiligen nationalen Recht geschützt. Erst die Washingtoner Prinzipien verleihen also dem damaligen Eigentum eigenes Gewicht. Zur Auflösung dieses Dilemmas zwischen den beiden temporal verschiedenen Eigentumsposition bedarf es einer Abwägung der verbundenen Interessen,1394 die bereits in der obigen Darstellung angeklungen sind. Diese Abwägung scheint sich entlang der Unterscheidung von Staats- und Privateigentum zu bewegen. Konsens ist dabei in der Rezeption der Prinzipien offenbar, dass sich der Staat nicht auf die Gutgläubigkeit berufen können solle. Dieser müsse vielmehr ein (öffentliches) Interesse an einer einwandfreien Provenienz der in seinem Eigentum stehenden Kulturgüter haben.1395 Ganz im Sinne der Washingtoner Prinzipien ist nun zu bewerten, wie der österreichische Beirat mit diesen strittigen Eigentumsfragen umgeht. Die über Jahre gewachsene Unerheblichkeit des gutgläubigen Erwerbs entspricht dem zuvor erläuterten Konsens: Denn das KRG ist grundsätzlich nur auf Bundeseigentum anwendbar, bei dem der gutgläubige Erwerb nach überwiegender Ansicht für eine »gerechte und faire Lösung« nicht zu berücksichtigen ist. Zumal ein zentraler Schutzzweck des gutgläubigen Erwerbs, die Sicherung der Verkehrsfähigkeit von beweglichen Sachen, bei Kulturgütern im Bundeseigentum nicht greift. Aufgrund der hohen Anforderungen an Ausgliederungen aus den Bundesmuseen und Verfügungen über Bundeseigentum können sie ohnehin nicht am Handelsverkehr teilnehmen. Problematisch ist schließlich auch nicht die ausnahmsweise Unterwerfung von privaten oder anderen öffentlichen Institutionen unter die Praxis des Beirats. Durch die freiwillige Unterwerfung stimmen sie zugleich dem drohenden Verlust ihres Eigentums zu, sollten sie eine Restitutionsempfehlung des Beirats umsetzen. Zu kritisieren ist daher nicht das inhaltliche Ergebnis des Beirats, sondern sein Weg zu die­ sem Ergebnis. Wie ausführlich dargelegt, wird aus der anfänglichen Empfehlungspraxis nicht deutlich, ob sich die Gutgläubigkeit auf die Verfügungsbefugnis oder die Entziehung beziehen soll. Zudem scheint der Beirat erst verspätet selbst erkannt zu haben, dass sein dann entwickel­ tes, eigenes Begriffsverständnis der Bösgläubigkeit – Kenntnis der Entziehung auch zu einem späteren Zeitpunkt als beim Erwerb – zu einer faktischen Unerheblichkeit des gutgläubigen Erwerbs außerhalb des Eigentumsübergangs führt. Indem der Beirat aber zu Beginn seiner Empfehlungspraxis eine Bedeutung des gutgläubigen Erwerbs suggeriert und in der späteren Empfehlungspraxis diesen nicht wieder erwähnt, erweckt er den Eindruck einer Ungleichbehandlung – obwohl er im Ergebnis alle Fälle weitestgehend gleichbehandelt. Für eine Begründung, die den Anforderungen der Washingtoner Prinzipien gerecht wird, wäre daher eine eindeutige Stellungnahme des Beirats zu dieser Praxis wünschenswert. Diese könnte er mit dem Hinweis versehen, dass auf den gutgläubigen Erwerb des Bundes in zukünftigen Beschlüssen – außerhalb des rechtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum – nicht mehr eingegangen wird.

maßnahmen auf »Restitution – keine Restitution« lässt sich dieser Kompromiss jedoch in der österreichischen Praxis auf Grundlage des KRG nicht berücksichtigen. 1394 Zu deren Zulässigkeit bzw. Erforderlichkeit für eine »gerechte und faire Lösung« s. unter § 4 B.II.1., S. 42. 1395 Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 19, 20; Hellwig, Wortmeldung, in: Interessen­ gemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 103, 108.

271  B. Die Bedeutung der Gutgläubigkeit

§ 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

Ausschlussgründe sind im Wortlaut von § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG nicht vorgesehen. Vielmehr steht einer Rückgabe nach dem Wortlaut nichts mehr entgegen, wenn die zuvor untersuchten Voraussetzungen erfüllt sind. Der Beirat hat jedoch in seiner Empfehlungspraxis vier ungeschriebene Ausschlussgründe entwickelt, die allesamt aufgrund eines bestimmten Geschehens in der Nachkriegszeit einer Rückgabe entgegenstehen. Als dritte spezielle Rückgabevoraussetzung lässt sich also der Umstand bezeichnen, dass kein die Rückgabe ausschließendes Nachkriegsgeschehen eingetreten ist. Zur Entwicklung dieses Ausschlussgrundes greift der Beirat auf eine mittlerweile »einhellige[…] und unbestrittene«1396 telelogische Reduktion der Tatbestände zurück: Er reduziert ihren Wortlaut, um dem Telos des KRG, allein bei »bedenklichen« Ankäufen eine Rückgabe zu ermöglichen, gerecht zu werden. Infolge des Nachkriegsgeschehens »einwandfreie Erwerbsvorgänge« sollen demnach nicht erfasst sein.1397 Warum diese bereits zu Beginn der Empfehlungspraxis etablierte, teleologische Reduktion im Zuge der Novelle nicht zwecks Rechtssicherheit in den Wortlaut des KRG aufgenommen wurde, ist nicht ersichtlich. Zumal sich die Finanzprokuratur, also die »Anwaltschaft der Republik«, in einem Entwurf zum novellierten KRG noch ausdrücklich dafür ausgesprochen hatte.1398 Jedenfalls ist diese teleologische Reduktion auch mit Blick auf die Funktion der Washingtoner Prinzipien als Instrument der vermögensrechtlichen Wiederherstellung zu begrüßen. Die teleologische Reduktion greift nämlich, wenn in der Nachkriegszeit die damaligen Berechtigten die Verfügungsmacht vor dem Erwerb des Bundes wiedererlangt haben. Zudem schließen rechtskräftige, ablehnende Rückstellungsentscheidungen sowie Rückstellungsvergleiche aus der Nachkriegszeit und die nachträgliche Zustimmung der Geschädigten zu den geschaffenen Eigentumsverhältnissen in der Nachkriegszeit eine Rückgabe grundsätzlich aus.

A. Ausschluss durch wiedererlangte Verfügungsmacht in der Nachkriegszeit Schon im Rückstellungsrecht der Nachkriegszeit wurde festgehalten, dass die wiedererlangte Verfügungsmacht der Geschädigten einer Geltendmachung von Restitutionsansprüchen ent1396 Gutachten der Finanzprokuratur, Anhang Beschl. zu Salomon Rosenzweig v. 20.06.2008, S. 6 ff. 1397 Beschl. zu Edwin u. Karoline Czeczowiczka v. 18.08.1999, S. 5.

1398 Stellungnahme Finanzprokuratur zum Ministerialentwurf v. 01.09.2008, 9/SN-214/ME XXIII. GP, S. 4 f.

273 

gegenstand.1399 Solche Kulturgüter sind, wie Graf treffend ausführt, »vom Makel, Gegenstand nationalsozialistischen Unrechts gewesen zu sein, befreit«.1400 Diese naheliegende Wertung setzt sich in der Empfehlungspraxis des Beirats als Ausschlussgrund der Tatbestände aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG fort: Eine Rückgabe auf Grundlage dieser Normen ist demnach ausgeschlossen, wenn der Bund die Kulturgüter in der Nachkriegszeit nach der Restitution von den damaligen Berechtigten erworben hat.1401 Schließlich konnten die Eigentümer:innen nach der Restitution in der Regel selbstbestimmt über das weitere Schicksal der Kulturgüter entscheiden. Als ausreichend für einen Rückgabeausschluss erachtet der Beirat dabei auch die bloß faktische Wiedererlangung der Verfügungsmacht; es muss somit nicht eine Rückgabe innerhalb eines formellen Rückstellungsverfahrens erfolgt sein.1402 Dabei genügt die Verfügungsmacht nur einzelner statt aller Berechtigten dem Beirat zufolge nicht, um eine Rückgabe auszuschließen.1403 Damit dient diese ungeschriebene Tatbestandvoraussetzung auch der Abgrenzung zum ersten Tatbestand aus § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG,1404 der gerade eine solche Wiederherstellung der Verfügungsmacht nach 1945 voraussetzt.1405 Der Beirat beschränkt den Ausschluss durch »wiedererlangte Verfügungsmacht« aber nicht nur auf diese eindeutigen Fälle der Rückgabe: Er diskutiert vielmehr die Bedeutung einer Restitution an Organisationen der kollektiven Rechtewahrnehmung, wie den österreichischen Sammelstellen, oder an die »falschen« Berechtigten. Daneben ist zu untersuchen, ob der Beirat auch eine Entschädigungszahlung aus der Nachkriegszeit für die Entziehung als ein Äquivalent der Wiedererlangung der Verfügungsmacht betrachtet. Im Anschluss an die Darstellung dieser komplexen Empfehlungspraxis wird versucht, aus den Washingtoner Prinzipien einzelne Vorgaben als Bewertungsmaßstab abzuleiten.

I. Wiedererlangung durch Restitution an die Sammelstellen Während die individuelle Restitution an die Berechtigten der Nachkriegszeit in der Empfehlungspraxis des Beirats zweifellos eine Ausschlusswirkung hat, bedarf es bei einer Restitution an Organisationen der kollektiven Rechtewahrnehmung einer umfassenderen Untersuchung. Als solche Auffangorganisationen für unbeanspruchte Vermögen fungierten in Österreich die Sammelstellen, die – einer Treuhand für die Geschädigten vergleichbar – Ansprüche im eige-

1399 Haindl, ÖJZ 1961, 316, 318; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 113. 1400 Graf, in: FS Bailer, 2012, S. 269, 274.

1401 Beschl. zu Edwin u. Karoline Czeczowiczka v. 18.08.1999, S. 5; Beschl. zu Hugo Blitz v. 11.03.2003, S. 2 f.; Beschl. zu Richard

Neumann v. 16.03.2005, S. 4; Beschl. zu Hermann Eissler v. 24.06.2009, S. 20; Beschl. zu Oscar Bondy v. 30.03.2022, S. 7.

1402 Sehr selten, so aber z.B. im Beschl. zu Hugo Marmorek v. 01.04.2016, S. 2 f., da das verfahrensgegenständliche Gemälde

vermutlich von dessen Bekannten bis Kriegende verwahrt und dann von Marmorek in einer Spedition gelagert wurde. Ähnlich auch Beschl. zu Alfred Hofmann v. 02.03.2012, S. 3, da zwar kein Rückstellungsverfahren dokumentiert ist, aber die verfahrensgegenständlichen Kulturgüter unter »Restitutionen« des Museums vermerkt sind und der Vertreter Hofmanns Verhandlungen mit dem Museum führte. Außerdem als Wertung angedeutet in: Beschl. zu Wilhelm Victor Krausz v. 07.03.2008, S. 4; Beschl. zu Friedrich Wolff-Knize v. 02.03.2012, S. 3. 1403 Beschl. zu Fritz Grünbaum v. 15.10.2015, S. 8 f. 1404 So in unterschiedlichen Ausprägungen auch i.E. Stellungnahme Bundesfinanzministerium zu ME v. 28.08.2008, 8/SN-214/ ME XXIII. GP, S. 5; Stellungnahme Finanzprokuratur zum Ministerialentwurf v. 01.09.2008, 9/SN-214/ME XXIII. GP, S. 4 ff.; Graf, NZ 2005, 321, 332 f.; Welser/Rabl, Der Fall Klimt, 2005, S. 132 ff.; Krejci, Der Klimt-Streit, 2005, S. 181 f.; Welser, ÖJZ 2005, 689, 695; Meissel/Jungwirth, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 104, 112; Wiederin, Kunstrückgabegesetz, 2006, S. 14 f.; Jungwirth, in: Gschiel et al. (Hrsg.), Schneidern, 2010, S. 249, Fn. 28. 1405 S. zum Anwendungsbereich von § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG unter § 6 A.I., S. 92.

274  § 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

nen Namen an deren Stelle geltend machten und zugunsten anderer Geschädigter verwerteten.1406 Im Beschluss zu Salomon Rosenzweig beschäftigt sich der Beirat erstmals mit den Auswirkungen einer Restitution an die Sammelstellen. Das verfahrensgegenständliche Gemälde, vermutlich aus dem Eigentum des als ›Jude‹ definierten Salomon Rosenzweig, wurde nicht nach den Rückstellungsgesetzen beansprucht. Daher brachte die zuständige Sammelstelle im Juni 1961 einen Rückstellungsantrag ein. Dieses Rückstellungsverfahren endete mit einem Vergleich im Mai 1963. Dieser sah vor, dass das Gemälde mit weiteren Gemälden der Sammelstelle zurückzustellen war. Im Januar 1964 erfolgte die Übergabe an die Sammelstelle. Im Juni 1964 wurde das Gemälde im Auktionshaus Dorotheum im Auftrag der Sammelstelle versteigert. Dort erwarb es die Österreichische Galerie Belvedere nach bereits zuvor gegenüber der Sammelstelle bekundetem Interesse. Zunächst führt der Beirat abstrakt aus, dass der Tatbestand des § 1 Nr. 2 KRG a.F. dahingehend teleologisch zu reduzieren sei, dass er keine bereits nach Kriegsende restituierten Kulturgüter erfasse. Dann subsumiert der Beirat den Sachverhalt äußerst präzise unter diese Reduktion: So erkennt er, dass zwar heute das KRG mit § 2 Abs. 1 Nr. 1 KRG die individuelle Rückgabe an die ursprünglichen Eigentümer:innen oder deren Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen gegenüber der kollektiven Leistung an den Nationalfonds nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 KRG bevorzuge.1407 Demgegenüber habe aber die österreichische Rechtsordnung in der Nachkriegszeit nach Verfristung der individuellen Rückstellungsgesetze vor allem kollektive Maßnahmen zum Umgang mit entzogenem Vermögen vorgesehen. Daraus ergebe sich, dass die Restitution an die Sammelstellen »in ihren Rechtswirkungen der Rückstellung an den geschädigten Eigentümer gleichzuhalten ist, da der Sammelstelle […] der Rückgabeanspruch des ursprünglichen Eigentümers übertragen worden war.« Demnach sei die Restitution an die Sammelstellen einer Wiedererlangung der Verfügungsmacht durch Restitution an die Geschädigten gleichzusetzen und eine Rückgabe nach § 1 Nr. 2 KRG a.F. ausgeschlossen.1408 Die Restitution an die Sammelstellen steht somit als »rückstellungsrechtliches Substitut«1409 der individuellen Restitution einer Rückgabe nach dem KRG entgegen. Sie nimmt dem Kulturgut den Makel der »bedenklichen« Provenienz.

II. Wiedererlangung durch Restitution an die »falschen« Berechtigten Der zweite Beschluss, der im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der Verfügungsmacht durch Restitution untersucht wird, ist der Beschluss zu Valerie Heissfeld von 2011. Dort nimmt der Beirat in seiner Argumentation ausdrücklich Bezug auf den Beschluss zu Salomon Rosenzweig. Im Fall Heissfeld hat er zu beurteilen, ob auch die Restitution in der Nachkriegszeit an die »falschen« Berechtigten, also an Personen, die tatsächlich nicht die Eigentümer:innen des verfahrensgegenständlichen Kulturguts oder deren Rechtsnachfolger:innen waren, ebenfalls als Wiederherstellung der Verfügungsmacht und damit als Rückgabeausschluss zu verstehen ist. 1406 S. zum historischen Hintergrund der Sammelstellen unter § 4 A.II., S. 34.

1407 S. zum Verhältnis von individueller und kollektiver Begünstigung unter § 10 B., S. 314. 1408 Beschl. zu Salomon Rosenzweig v. 20.06.2008, S. 3 ff. 1409 Graf, in: FS Bailer, 2012, S. 269, 279.

275  A. Ausschluss durch wiedererlangte Verfügungsmacht in der Nachkriegszeit

1945 wurde das Aquarell, vermutlich aus dem Eigentum der als ›Jude‹ definierten Valerie Heissfeld, in ein Depot des Bundesdenkmalamt verbracht. Im Zuge einer »Zuteilung« durch das Bundesministerium für Finanzen wurde es 1980 in der Albertina inventarisiert. 1986 wurde das Aquarell im Amtsblatt der Wiener Zeitung in der Liste für unbeanspruchtes Kulturgut nach dem Zweiten Kunst- und Kulturgutbereinigungsgesetzes veröffentlicht. Die Erbberechtigten eines »Ehepaares L.« beanspruchten die He­ rausgabe des Aquarells, da es Teil der Sammlung des Ehepaares gewesen sei. Im Februar 1996 entschied das Landgericht Wien für die Herausgabe an die Erbberechtigten, dass die Zugehörigkeit zur Sammlung erwiesen sei. Das Gericht stellte trotz Beweisschwierigkeiten fest, dass »mit einem hohen Maß an Wahrscheinlichkeit eine Identität zwischen dem von den Antragstellern beanspruchten Gegenstand und dem Gegenstand« aus der Liste vorliege. Nach der Übereignung an die Erbberechtigten des »Ehepaares L.« kaufte die Albertina das Aquarell im Januar 1997 im Kunsthandel zurück und es wurde wieder Teil der Sammlung. Der Beirat verweist zunächst auch hier auf die teleologische Reduktion der beiden ­Tatbestände, wonach eine Restitution in der Nachkriegszeit einer Rückgabe entgegenstehe. Er zieht daraufhin den Beschluss zu Salomon Rosenzweig heran, demzufolge die kollektive Rückstellung an die Sammelstellen einer individuellen Restitution gleichzusetzen und damit eine Rückgabe ausgeschlossen sei. Die individuelle Restitution nach dem Zweiten Kunst- und Kulturgutbereinigungsgesetz müsse erst recht einer ebenfalls individuellen Rückgabe nach dem KRG entgegenstehen. Der Beirat erkennt dann zwar, dass im vorliegenden Fall nicht an die »richtigen« Berechtigten restituiert wurde. Doch problematisiert er dies nicht weiter als Ausschluss aufgrund wiedererlangter Verfügungsmacht. Vielmehr diskutiert er die Problematik der »falschen« Berechtigten anschließend unter dem – in dieser Arbeit später untersuchten – Prüfungspunkt der »extremen Ungerechtigkeit« durch rechtskräftige Rückstellungsentscheidungen.1410 Die damalige Rückstellung an die gerichtlich festgestellten, »falschen« Berechtigten wird so den »richtigen« Berechtigten zugerechnet, obwohl diese Restitution wohl kaum als materielle Wiederherstellung des vor der nationalsozialistischen Herrschaft bestehenden Zustandes verstanden werden kann. Nach Ansicht des Beirats schließt also die Rückstellung an die »falschen« Berechtigten in der Nachkriegszeit eine heutige Rückgabe an die »richtigen« Begünstigten nach dem KRG aus. Das Makel der »bedenklichen« Provenienz wird so letztlich durch die Restitution an »irgendwen« beseitigt.

III. Keine Wiedererlangung durch Entschädigung Während die Restitution des Kulturguts zweifelsfrei eine Wiederherstellung der Verfügungsmacht und damit einen Rückgabeausschluss bedeutet, ist fraglich, ob auch eine Entschädigungszahlung aus der Nachkriegszeit als Ausschlussgrund einer Rückgabe wirken kann. Die Besonderheit im österreichischen Kontext ist, dass im Nachkriegsrecht zunächst keine eigene Entschädigungsleistung durch die Republik Österreich an die Geschädigten des nationalsozia­ listischen Regimes vorgesehen war. Denn Österreich sah sich als »erstes Opfer Hitlers« nicht

1410 Beschl. zu Valerie Heissfeld v. 15.04.2011, S. 3 ff.; s. zur »extremen Ungerechtigkeit« ausführlich unter § 9 B.II.4., S. 287.

276  § 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

für die nationalsozialistischen Verbrechen verantwortlich.1411 Die dann erst spät mit dem Kriegsund Verfolgungssachschädengesetz1412 von 1958 ermöglichte, pauschale Entschädigung erfasste schließlich nicht den Verlust von Kulturgütern.1413 Soweit also eine Entschädigung für die Entziehung eines Kulturguts geleistet wurde, war diese in der unmittelbaren Nachkriegszeit zwingend durch einen anderen Staat als die Republik Österreich, in der Regel die Bundesrepublik Deutschland, erfolgt. Auch Personen mit österreichischer Staatsangehörigkeit konnten nämlich eine Entschädigung nach deutschem Rückerstattungsrecht verlangen.1414 In den ersten beiden Beschlüssen, die eine bereits erfolgte Zahlung der Bundesrepublik Deutschland erwähnen, hat diese keinerlei Auswirkungen auf die Erfüllung des § 1 Nr. 2 KRG a.F. So ist im Beschluss zu Hugo Blitz vom Beirat bloß »auch noch anzumerken«, dass Blitz vor der so genannten »Wiedergutmachungskammer« des Landgerichts Berlin 1958 eine Entschädigung für alle aus seiner Berliner Wohnung nach Wien entzogenen Kulturgüter, darunter sogar das verfahrensgegenständliche Gemälde, erhalten habe.1415 Gleiches gilt für den Beschluss zu Alice und Carl Bach, in dem ebenfalls eine so genannte »Wiedergutmachungskammer«, diesmal des Landgerichts München, 1956 die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung einer Entschädigung für die Entziehung des in Rede stehenden Gemäldes verpflichtete.1416 Obwohl mithin sogar in beiden Fällen die Entschädigungszahlung ausdrücklich auch für die in Rede stehenden Gemälde erfolgte, besteht für den Beirat kein Anlass, die Rückgabe trotz Entschädigung als »Doppelkompensation« zumindest zu problematisieren. Diese Auseinandersetzung findet erst 2011 im Beschluss zu Ella Lewenz statt. Das verfahrensgegenständliche Gemälde wurde der als ›Jude‹ definierten Ella Lewenz nach ihrer Flucht aus Berlin in die USA 1941 mit ihrem restlichen Umzugsgut entzogen und 1944 von der Österreichischen Galerie Belvedere erworben. Nach dem Krieg beantragte Lewenz die Rückerstattung des Gemäldes. Das Verfahren endete mit einer Ausgleichszahlung nach dem deutschen Rückerstattungsrecht für die Entziehung des Umzugsguts. Der Beirat verweist hier erstmals im Kontext von Entschädigungszahlungen auf die teleologische Reduktion der Tatbestände bei wiedererlangter Verfügungsmacht.1417 Damit macht er kenntlich, dass er nach Kriegsende für die Entziehung von Kulturgütern erhaltene Entschädigungen als ein im Kontext der Wiederherstellung der Verfügungsmacht zu diskutierendes Problem betrachtet. Fraglich ist, ob eine solche Entschädigungszahlung einer Restitution an die ursprünglichen Eigentümer:innen gleichzustellen ist. Dies lehnt der Beirat entschieden ab, eine »erhaltene Entschädigung kann – grundsätzlich unbeachtlich ihrer Höhe – nicht mit einer Rück1411 S. zum Hintergrund der »Opfer-These« unter § 4 A.II., S. 34.

1412 Bundesgesetz vom 25. Juni 1958, über die Gewährung von Entschädigungen für durch Kriegseinwirkung oder durch politische

1413

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Verfolgung erlittene Schäden an Hausrat und an zur Berufsausübung erforderlichen Gegenständen, BGBl. Nr. 127/1958 (im Folgenden: Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz). Vgl. die Liste der im Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz genannten Hausratsgegenstände sowie Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 490, VIII. GP, S. 4. Zudem stellt der Beirat dies ausdrücklich im Beschl. zu Josef Morgenstern v. 06.03.2020, S. 2 f., fest – daher erfolgt in diesem Beschluss vermutlich keine Diskussion der »­ Doppelkompensation«. Bailer, Wiedergutmachung, 1993, S. 97; Bailer-Galanda, Entstehung, 2003, S. 476, 524; Jabloner et al., Schlussbericht, 2003, S. 369. Beschl. zu Hugo Blitz v. 11.03.2003, S. 3. Beschl. zu Alice u. Carl Bach v. 08.11.2006, S. 2. Beschl. zu Ella Lewenz v. 15.04.2011, S. 3.

277  A. Ausschluss durch wiedererlangte Verfügungsmacht in der Nachkriegszeit

stellung des Gegenstandes […] gleichgehalten werden. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob für eine Entziehung lediglich ein schuldrechtlicher, in einer Entschädigung bzw. im Schadensersatzrecht begründeter Anspruch gewährt wird, oder ob die Rückstellung des entzogenen Gegenstandes selbst, d. h. eine auch das Eigentumsrecht an diesem Gegenstand treffende Regelung, erfolgte.«1418 Diese Wertung bestätigt der Beirat ausdrücklich einige Jahre später im Beschluss zu Max und Martha Liebermann.1419 In der anschließenden Empfehlungspraxis bedarf diese Wertung aus Sicht des Beirats aber offenbar keiner expliziten Erwähnung mehr: Bereits im Beschluss zu Ernst Bunzl thematisiert er die in den 1970–er Jahren an dessen Witwe, Gertrude Bunzl-Holme, gezahlten Entschädigungen nicht in seiner Beurteilung.1420 Eine gezahlte Entschädigung ist also ungeachtet ihrer Höhe nicht von der teleologischen Reduktion der Tatbestände aufgrund der Wiedererlangung der Verfügungsmacht erfasst. Da dem Kulturgut trotz der Entschädigung noch das Makel der »bedenklichen« Provenienz anhaftet, kann jene keinen Ausschluss der Rückgabe begründen.1421 Interessanterweise stellt der Beirat im Beschluss zu Ella Lewenz außerdem heraus, dass er in seiner Beurteilung mögliche bereicherungsrechtliche und sonstige Ansprüche der Bundesrepublik Deutschland gegen die damaligen Berechtigten der Entschädigung nicht beachte.1422 Dieser Hinweis ist vermutlich vor allem der juristischen und historischen Vollständigkeit geschuldet: So verlangte die Bundesrepublik Deutschland häufig nach erfolgreichen Restitutionsverfahren in Österreich gemäß dem Ersten Kunst- und Kulturgutbereinigungsgesetz in den 1960-er und 1970-er Jahren die Rückzahlung einer nach deutschem Rückerstattungsrecht geleisteten Entschädigung aus Bereicherungsrecht.1423 Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass die Bundesrepublik Deutschland diese Ansprüche heutzutage geltend macht, zumindest ist kein solches Vorgehen bekannt.

IV. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien Den Washingtoner Prinzipien ist mehrfach zu entnehmen, dass sie nur Kulturgüter erfassen, die »nicht zurückgegeben wurden«. Dies wurde bereits in der unmittelbaren Rezeption im Anschluss an die Konferenz als eine wichtige Einschränkung verstanden.1424 Auch in den Entstehungsmaterialien der Theresienstädter Erklärung taucht der Appell auf, Kulturgüter nicht zurückzugeben, wenn sie bereits zuvor an die »Vorkriegseigentümer« restituiert wurden.1425 Dies lässt sich durch die Ausführungen der österreichischen Delegation auf der Washingtoner Konferenz ergänzen: Sie verwies ausdrücklich darauf, dass in eindeutigen Fällen häufig gar nicht erst eine formelle Geltendmachung von Rückstellungsansprüchen erfolgt ist; also die Verfügungsmacht nur faktisch wiederhergestellt wurde.1426 1418 Ebenda.

1419 Beschl. zu Max u. Martha Liebermann v. 15.05.2014, S. 4. 1420 Beschl. zu Ernst Bunzl v. 11.01.2019, S. 3 f.

1421 Diese klare Einstellung wird »aufgelockert« bei in der Nachkriegszeit etwa durch Vergleich erhaltenen Gegenleistungen,

s. dazu unter § 9 C., S. 294.

1422 Beschl. zu Ella Lewenz v. 15.04.2011, S. 4. 1423 Fritscher, Kontroversen, 2012, S. 192. 1424 Raschèr, AJP/PJA 1999, 155, 157.

1425 Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 723.

1426 Delegation Statement Austria, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 151, 160 ff.

278  § 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

Der vom Beirat entwickelte Ausschluss von Kulturgütern, die nach Kriegsende wieder – wenn auch ohne formelle Rückstellung – in die Verfügungsmacht der Berechtigten gelangt sind, findet daher Rückhalt in den Prinzipien. Bei den konkreten Ausprägungen des Ausschlussgrundes ist eine so eindeutige Einschätzung indes nicht mehr möglich. Zunächst ist hier die Unerheblichkeit von Entschädigungszahlungen aus der Nachkriegszeit im Lichte der Washingtoner Prinzipien zu beurteilen. Anschließend wird der Rückgabeausschluss durch Rückstellung an andere als die Berechtigten bewertet. 1. Zur Unerheblichkeit von Entschädigungszahlungen

Zu der Bedeutung von Entschädigungszahlungen in der Nachkriegszeit finden sich keine Anhaltspunkte in den Washingtoner Prinzipien oder der Theresienstädter Erklärung. Gleichwohl wurde sich in der Literatur bereits umfassend mit dieser Frage auseinandergesetzt: Dort besteht Konsens, dass eine Entschädigungszahlung durch einen anderen Staat als den, in dessen Eigentum sich das in Rede stehende Kulturgut befindet, einer Rückgabe nicht entgegenstehen darf. Berufen wird sich dabei auf den Grundsatz res inter alios acta, wonach die Entschädigungsvereinbarung lediglich zwischen ihren Parteien Wirkung entfaltet. Im Verhältnis zum entschädigenden Staat wird dann jedoch im Falle einer Rückgabe zumeist eine Rückzahlung der erhaltenen Entschädigung für geboten erachtet.1427 In der Empfehlungspraxis des Beirats waren bisher nur Entschädigungen aus einem anderen Staat, der Bundesrepublik Deutschland, relevant. Es entspricht daher dem dargestellten Konsens in der Literatur, dass die Entschädigung nach dem deutschen Rückerstattungsrecht die Rückgabe nach dem KRG nicht ausschließen kann. Andernfalls würde der österreichische Staat heute davon profitieren, sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht zu Entschädigungen für die nationalsozialistischen Verbrechen verpflichtet gesehen zu haben. Die Unerheblichkeit dieser Entschädigung ist darüber hinaus geboten, da der Betrag zumeist deutlich unter dem Wert der erfassten Gegenstände lag und damit keine gleichwertige Wiederherstellung darstellte.1428 Zudem korrespondiert diese Wertung des Beirats stark mit der Unerheblichkeit der Angemessenheit des Kaufpreises für ein entzogenes Kulturgut.1429 Denn in beiden Wertungen verbirgt sich der Gedanke, dass eine Gegenleistung ungeachtet ihrer Höhe nicht dem Eigentum an einem Kulturgut in immaterieller Hinsicht gleichkommt. Mit Blick auf den bereits genannten Grundsatz res inter alios acta ist außerdem positiv hervorzuheben, dass der Beirat die Bundesrepublik auf einen möglichen Bereicherungsausgleich hinweist, diesbezüglich jedoch keine Empfehlung ausspricht, da dies seine Kompetenzen überschreitet. Des Beirats Umgang mit bereits in der Nachkriegszeit gezahlten Entschädigungen entspricht daher den in der Literatur entwickelten Vorgaben der Washingtoner Prinzipien.

1427 Von Trott zu Solz/Gielen, ZOV 2006, 256, 260; Rowland/Schink/Studzinski, KUR 2008, 148,150; Parzinger, in: Koordinierungs-

stelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 49, 62; Woodhead, AAL 2013, 167, 186; Woodhead, Int. J. Cult. Prop. 2014, 113, 127 ff.; Palmer, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 153, 173; Franz/Kesting, in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S.103, 106; Berking, KUR 2019, 179, 183. 1428 Vgl. Lütgenau et al., Dorotheum, 2006, S. 194. 1429 S. zur Unerheblichkeit des Erhalts eines angemessenen Kaufpreises s. unter § 7 F.II.2.a)bb)(1), S. 218.

279  A. Ausschluss durch wiedererlangte Verfügungsmacht in der Nachkriegszeit

2. Zum Ausschluss durch Rückstellung an andere Personen

Die Spezialfälle einer Restitution an Organisationen der kollektiven Rechtewahrnehmung oder an »falsche« Berechtigte werden weder in den Materialien noch der Literatur zu den Washingtoner Prinzipien aufgegriffen. Der Wortlaut der Prinzipien Nr. 7 und Nr. 8 lässt als Anhaltspunkt zwei Interpretationen der Formulierung »nicht zurückgeben wurden« zu: Auf der einen Seite ließe sich der dortige Bezug auf die »Vorkriegseigentümer und ihre Erben« eng verstehen, sodass die Kulturgüter an diese natürlichen Personen restituiert werden mussten. Auf der anderen Seite könnte der Appell auch weiter interpretiert werden, da der Formulierung »nicht zurückgegeben wurden« kein »ihnen« vorangestellt ist – damit wird also kein Bezug zu den »Vorkriegseigentümern und ihren Erben« hergestellt. Die Formulierung könnte daher auch Substitute der »richtigen« Berechtigten oder gar die »falschen« Berechtigten umfassen. Der Wortlaut stellt also keinen zwingenden personalen Bezug zu den »richtigen« Berechtigten her. Ungeachtet des konkreten Verständnisses ist daher auch hier wieder entscheidend, dass der Beirat den einer »gerechten und fairen Lösung« inhärenten Gleichheitssatz wahrt, also wesentlich gleiche Sachverhalte gleich und wesentlich ungleiche Sachverhalte ungleich behandelt. Der Beirat sieht in der Rückgabe an die Sammelstellen und an die »falschen« Berechtigten zwei wesentlich gleiche Sachverhalte. Fraglich ist jedoch, ob es sich tatsächlich um wesentlich gleiche Sachverhalte handelt. Dagegen spricht die formalrechtliche Position der Sammelstellen: Während diese nämlich den »richtigen« Berechtigten als gesetzliche Substitute gleichgestellt waren, konnten andere Personen zwar gerichtlich als Berechtigte festgestellt werden; ein rechtliches Substitut stellten sie gleichwohl nicht dar. Vielmehr sind diese gerichtlich festgestellten, »falschen« Berechtigten den »richtigen« Berechtigten nicht zurechenbare Dritte, die aufgrund einer gerichtlichen Fehleinschätzung individuell Begünstigte einer Restitution wurden. Trotz der teils willkürlichen Geltendmachung von Ansprüchen durch die Sammelstellen1430 war ihre Errichtung zudem von der legislativen Intention geprägt, das entzogene Vermögen bestmöglich zugunsten der Geschädigten zu verwerten – dies gilt es anzuerkennen. Unter Berücksichtigung des österreichischen Nachkriegsrechts kann die Rückgabe an die »falschen« Berechtigten der Übereignung an die Sammelstellen nicht gleichgestellt werden.1431 Der Beirat behandelt damit wesentlich ungleiche Sachverhalte entgegen dem Auftrag der Washingtoner Prinzipien gleich.

B. Ausschluss durch materiell rechtskräftige Entscheidung aus der Nachkriegszeit Während der Ausschluss durch erfolgte Rückstellung nach Kriegsende gemäß den damaligen Rückgaberegelungen regelmäßig eine positive Rückstellungsentscheidung zum Gegenstand hat, kann ebenso eine materiell rechtskräftige,1432 negative Entscheidung aus der Nachkriegs1430 Sailer, in: Brückler (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 31, 34; Wladika, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018,

S. 85, 88.

1431 So auch Graf, in: FS Bailer, 2012, S. 269, 274 ff.; jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 171; Kritisch auch Weidinger, in:

Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 71, 83.

1432 Instruktive Kritik zum Institut der »Rechtskraft« findet sich bei Jabloner, »Rechtskraft«, in: Olechowski/Zeleny (Hrsg.), Metho­

denreinheit, 2013, S. 307, 307 ff.

280  § 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

zeit einer Rückgabe nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG entgegenstehen.1433 Dies ergibt sich aus prozessrechtlichen Wertungen: Die materielle Rechtskraft im Sinne des § 411 Abs. 1 ZPO hat zum einen zur Konsequenz, dass über einen bereits entschiedenen Fall zwischen den gleichen Parteien, wozu auch deren Rechtsnachfolger:innen zählen, und auf derselben Sachverhaltsgrundlage nicht erneut verhandelt und entschieden werden darf (Einmaligkeitswirkung oder ne bis in idem). Damit stellt die materielle Rechtskraft nach § 411 Abs. 2 ZPO bereits ein verfahrensrechtliches Prozesshindernis dar.1434 Zum anderen schließt die Rechtskraft eine erneute, inhaltliche und abweichende Prüfung des Anspruchs in einem Folgeprozess zwischen denselben Parteien aus (Bindungswirkung).1435 Sie ist daher ein wichtiges Instrument zur Gewährleistung von Rechtssicherheit und Rechtseinheit.1436 Dementsprechend kommt ihr auch in der Emp­fehlungspraxis des Beirats eine besondere Bedeutung zu, jedoch nicht als Prozesshindernis,1437 sondern im Form eines Ausschlussgrundes und damit eines materiellen Prüfungspunkts.1438 Vorweg ist anzumerken, dass diese Arbeit angesichts ihres Schwerpunkts auf der Rückgabe nach dem KRG im Lichte der Washingtoner Prinzipien keine vertiefte Auseinandersetzung mit dem konkreten Umfang der Rechtskraft leisten kann.1439 Indes beabsichtigt sie, die für die Empfehlungspraxis des Beirats in funktionaler Hinsicht relevanten Aspekte rechtskräftiger, ablehnender Nachkriegsentscheidungen herauszuarbeiten. Für eine Beachtlichkeit der Rechtskraft sprechen dem Beirat zufolge »etwa der Grundsatz der Einheitlichkeit der Rechtsordnung und der Grundsatz des ne bis in idem. Auch lässt sich weder aus dem Kunstrückgabegesetz noch aus den zugehörigen parlamentarischen Materialien ableiten, dass die Legislative durch das Kunstrückgabegesetz eine Neubehandlung bereits durch die Gerichte entschiedener Fälle zum Ziel hatte. Auch spricht das Prinzip der Gewaltentrennung nicht dafür, dass in Rechtsverhältnisse, die auf Entscheidungen von Gerichten beruhen, durch [interne] Verwaltungsakte eingegriffen werden soll.«1440 Wenngleich das KRG auch bezweckt, über das oftmals unzureichende Rückstellungsrecht hinauszugehen, bedeutet dies mithin noch nicht die Unbeachtlichkeit von rechtskräftigen Entscheidungen aus der Nachkriegszeit.1441 1433 Sowohl die Beschlüsse des Beirats als auch die ministerialen Entscheidungen als Teil der Privatwirtschaftsverwaltung verfügen

im Gegensatz zu hoheitlichen Verwaltungsbescheiden nicht über Rechtskraft, s. VfGH, Entscheidung v. 30.06.2000 – B 422/00, VfSlg 15893/2000; Oberhammer, Rechtsgutachten v. 28.09.2006, S. 3 f.; Graf, NZ 2020, 7, 13; Rechberger, NZ 2020, 207, 212. 1434 OGH, Beschl. v. 27.03.08 – 2 Ob 71/07s, Mietslg 60.680/2008; Fasching/Konecny/Klicka, Zivilprozessgesetze, 3. Aufl. 2017, § 411 Rn. 15; Höllwerth/Ziehensack/Brenn, ZPO, 1. Aufl. 2019, § 411 Rn. 11; Rechberger/Klicka, ZPO, 5. Aufl. 2019, Vor § 390 Rn. 27, § 411 Rn. 2. 1435 OGH, Beschl. v. 17.10.1995 – 1 Ob 574/95, RdW 1996, 265; Fasching/Konecny/Klicka, Zivilprozessgesetze, 3. Aufl. 2017, § 411 Rn. 16; Höllwerth/Ziehensack/Brenn, ZPO, 1. Aufl. 2019, Vor § 390 Rn. 27, § 411 Rn. 19; Rechberger/Klicka, ZPO, 5. Aufl. 2019, § 411 Rn. 3. 1436 OGH, Beschl. v. 27.03.08 – 2 Ob 71/07s, Mietslg 60.680/2008; Fasching/Konecny/Klicka, Zivilprozessgesetze, 3. Aufl. 2017, § 411 Rn. 12; Rechberger/Klicka, ZPO, 5. Aufl. 2019, Vor § 390 Rn. 25; Höllwerth/Ziehensack/Brenn, ZPO, 1. Aufl. 2019, § 411 Rn. 9. 1437 Wenngleich der Beirat zu Beginn seiner Empfehlungspraxis noch in prozessualer Hinsicht ausführte, dass die Rechtskraftwirkung nur bei Wiederaufnahmegründen nach §§ 530 ff. ZPO beseitigt werden könne, s. Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 3. 1438 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 7. 1439 Dazu eingehend jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 183 ff. 1440 Beschl. zu Josef Blauhorn v. 29.06.2012, S. 11. 1441 In diese Richtung auch Graf, in: FS Bailer, 2012, S. 269, 280; Rechberger, NZ 2020, 207, 213 f.

281  B. Ausschluss durch materiell rechtskräftige Entscheidung aus der Nachkriegszeit

Damit veranschaulicht der Beirat, dass es ist für die Ausschlusswirkung der rechtskräftigen Entscheidungen unerheblich ist, dass er nicht hoheitlich, sondern bloß im Rahmen des Verwaltungsprivatrechts tätig wird.1442 Er versteht demnach die Rechtskraftwirkung als universalen Rechtsgrundsatz, wenngleich er die Einmaligkeitswirkung rechtskräftiger Entscheidung bereits dadurch einschränkt, dass er sich mit ihnen überhaupt erneut auseinandersetzt. Die Empfehlungspraxis zeigt, dass er aber die Bindungswirkung der Entscheidung grundsätzlich anerkennt und sich lediglich in umfassend hergeleiteten Ausnahmen über diese hinwegsetzt. Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis ist im Anschluss an die Erläuterung der Empfehlungspraxis an den Washingtoner Prinzipien zu messen.

I. Grundsätzlicher Ausschluss durch materiell rechtskräftige Entscheidung Zunächst ist ein Blick in die grundsätzliche Anerkennung rechtskräftiger Entscheidungen durch den Beirat zu werfen. Bereits zu Beginn seiner Empfehlungspraxis wurde er im Zuge des Falles Alma Mahler-Werfel mit rechtkräftigen, ablehnenden Entscheidungen aus der Nachkriegszeit konfrontiert. 1937 überließ Alma Mahler-Werfel das verfahrensgegenständliche Gemälde der Österreichischen Galerie Belvedere als Leihgabe für die Dauer von zwei Jahren. Nachdem Mahler-Werfel als Ehefrau des als ›Jude‹ definierten Franz Werfel im März 1938 flüchten musste, bewegte ihr Stiefvater die Galerie unter Verweis auf einen Auftrag MahlerWerfels, aber ohne Vollmacht, zur Rückgabe der Leihgabe. Die Österreichische Galerie Belvedere bestätigte 1940 die (erneute) Übernahme des Gemäldes. Als dessen Verkäuferin wurde die Halbschwester Mahler-Werfels aufgeführt, wobei auch hier keine Vollmacht für das Gemälde vorgelegt wurde. Nach dem Krieg bemühte sich MahlerWerfel um die Rückstellung des Gemäldes. Das Gericht gab in der ersten Instanz 1953 dem Rückstellungsantrag statt. Es nahm eine Entziehung zulasten Mahler-Werfels an und lehnte mangels Vollmacht einen im Sinne des Rückstellungsrechts gutgläubigen Erwerb des Deutschen Reichs ab. Die zweite Instanz wies den Rückstellungsantrag jedoch im Juni 19531443 ab. Zum einen verneinte sie bereits eine Entziehung. Zum anderen ging sie von einer Bevollmächtigung des Stiefvaters und der Halbschwester zur Verwaltung des Vermögens von Mahler-Werfel und daher von einem gutgläubigen Erwerb im Sinne des Rückstellungsrechts aus. Eine Beschwerde Mahler-Werfels gegen diese Entscheidung wurde im September 1953 zurückgewiesen, da der angegebene Streitwert die für die Zulässigkeit erforderliche Grenze nicht erreichte. Der Beschluss von Juni 1953 wurde damit rechtskräftig. Insgesamt hat sich der Beirat in drei Beschlüssen mit dem verfahrensgegenständlichen Gemälde aus der Sammlung Mahler-Werfel auseinandergesetzt.1444 In den beiden ersten Beschlüssen 1442 S. instruktiv zum Verhältnis von Privatwirtschaftsverwaltung und Judikative Fasching/Konecny/Klicka, Zivilprozessgesetze,

3. Aufl. 2017, § 411 Rn. 84; Höllwerth/Ziehensack/Brenn, ZPO, 1. Aufl. 2019, § 411 Rn. 54; zum Kontext des KRG s. Graf, NZ 2020, 7, 15; Rechberger, NZ 2020, 207, 213 f.; jüngst auch Fitz, Kunstrückgabe­gesetz, 2022, S. 195 f. 1443 Der erste Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 18.08.1999, S. 2, spricht von einer Entscheidung vom 16. Juni 1963. Hier wird aber auf das im neusten Beschl. v. 08.11.2006, S. 2, genannte Datum, den 16. Juni 1953, abgestellt. 1444 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 18.08.1999, 27.10.1999 und 08.11.2006.

282  § 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

von August und Oktober 1999, die zunächst an dieser Stelle untersucht werden, lehnt der Beirat noch die Rückgabe nach § 1 Nr. 2 KRG a.F. unter Verweis auf die materielle Rechtskraft der Entscheidung von Juni 1953 ab, in der unter anderem eine Entziehung zulasten MahlerWerfels abgelehnt wurde: Wenn die Rückstellungsrechtsprechung rechtkräftig festgestellt hat, »dass ein Tatbestandsmerkmal durch den festgestellten Sachverhalt nicht erfüllt ist, so muss diese Feststellung auch einer Rückstellung [nach dem KRG] entgegen stehen [sic]. Es kann nicht Aufgabe des Beirates sein, eine im Widerspruch zu einer rechtkräftigen Gerichtsentscheidung stehende Empfehlung abzugeben.«1445 Daraus folgt, dass eine Rückgabe durch eine rechtskräftige, ablehnende Entscheidung aus der Nachkriegszeit ausgeschlossen ist, sobald die Entscheidungsgründe auch für die Tatbestände des KRG wesentlich sind, wie die Entziehung. Während die Entscheidungsgründe im Prozessrecht nur eine subsidiäre Rolle zur Konkretisierung der Rechtskraftwirkung darstellen, scheinen sie mithin für die Ausschlusswirkung der Rechtskraft bei der Rückgabe nach dem KRG entscheidend zu sein.1446 Der Beirat orientiert sich mithin lediglich an den prozessrechtlichen Grundsätzen. Dies bestätigt auch die folgende Aussage des Beirats: Es sei insbesondere auch dann nicht seine Aufgabe, einer rechtskräftigen Ent­ scheidung zu widersprechen, »wenn – wie im vorliegenden Fall – der dem Beirat zur ­Beurteilung vorliegende Sachverhalt keine Rückschlüsse darauf zulässt, dass die rechtskräftige Gerichtsentscheidung unrichtig war.«1447 Der Beirat fühlt sich also besonders dann nicht zu einem Wider­ spruch ermächtigt, wenn die Entscheidung seiner Ansicht nach richtig war. Demgegenüber besteht im Prozessrecht die Rechtskraftwirkung jedoch ungeachtet der rückblickenden »Richtigkeit« der Entscheidung.1448 Diese Modifizierung der prozessrechtlichen Grundsätze zur Rechts­kraftwirkung setzt sich in der weiteren Empfehlungspraxis fort, wie die Ausnahmen von der Ausschlusswirkung zeigen.

II. Ausnahmen vom Ausschluss durch materiell rechtskräftige Entscheidung Grundsätzlich respektiert der Beirat also materiell rechtkräftige Entscheidungen. Die von ihm entwickelten Ausnahmen der Rechtskraftwirkung sind dementsprechend selten. Insgesamt können aus der Empfehlungspraxis vier Ausnahmen abgeleitet werden, die sich mehr oder minder an prozessualen Wertungen orientieren. In den drei erstgenannten Ausnahmen entsteht letztlich noch keine Bindungswirkung: Rechtskräftige Entscheidungen verfügen nämlich nicht über eine Ausschlusswirkung, wenn die Ablehnung lediglich aus formellen oder für das KRG unwesentlichen Gründen erfolgte. Daneben schreibt der Beirat auch Aussagen, die nur als obiter dictum festgehalten wurden, keine Rechtskraftwirkung zu. Anders jedoch bei der letzten und wohl einzigen »richtigen« Ausnahme von der Rechtskraftwirkung: Dafür hat der Beirat eine nur aus dem Kontext nationalsozialistischer Entziehungen bekannte Ausnahme von der Ausschlusswirkung adaptiert. So ist die Rückgabe nicht durch eine rechtskräftige, ablehnende Entscheidung ausgeschlossen, wenn diese als eine »extreme Ungerechtigkeit« zu betrachten ist. 1445 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 18.08.1999, S. 4; vgl. auch Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, Anfrage-

beantwortung Nationalrat, Nr. 2652/AB, XXIV. GP, S. 3.

1446 Fasching/Konecny/Klicka, Zivilprozessgesetze, 3. Aufl. 2017, § 411 Rn. 64 ff.; Klauser/Kodek, ZPO, 18. Aufl. 2018, § 411 Rn. 65 ff.;

Rechberger/Klicka, ZPO, 5. Aufl. 2019, § 411 Rn. 10; Höllwerth/Ziehensack/Brenn, ZPO, 1. Aufl. 2019, § 411 Rn. 16.

1447 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 18.08.1999, S. 4.

1448 OGH, Beschl. v. 27.03.08 – 2 Ob 71/07s, Mietslg 60.680/2008; Rechberger/Klicka, ZPO, 5. Aufl. 2019, § 411 Rn. 3.

283  B. Ausschluss durch materiell rechtskräftige Entscheidung aus der Nachkriegszeit

1. Formelle Gründe

Bis zu dem Beschluss zu Alma Mahler-Werfel von 2006 hat der Beirat einer gerichtlichen Ablehnung von Rückstellungen in der Nachkriegszeit aus formellen Gründen, etwa wegen Verfristung oder sachlicher Unzuständigkeit, gar nicht erst Beachtung geschenkt, sondern ­schlichtweg die Rückgabevoraussetzungen des KRG geprüft.1449 Im Beschluss zu Franz und Helene Erlach von 2007 begründet der Beirat erstmals ausführlich, warum eine Ablehnung der Rückstellung aus formellen Gründen einer Rückgabe nach dem KRG nicht entgegensteht. Die verfahrensgegenständliche Skulptur aus dem Eigentum der als ›Juden‹ definierten Eheleute Franz und Helene Erlach wurde 1941 vom ›Sonderauftrag Linz‹ erworben. Bereits 1952 wurde ein Rückstellungsanspruch des Ehepaares mangels Zuständigkeit der Behörde abgelehnt, 1953 wurde ein weiterer Antrag wegen Fristablaufs abgewiesen. Der dritte Antrag wurde schließlich 1954 zurückgewiesen, da die Ansprüche auf Grundlage des falschen Gesetzes geltend gemacht worden seien. Dessen Fristen waren ebenfalls abgelaufen, konnten aber infolge der Unsicherheiten über die gesetzlichen Grundlagen verlängert werden, es sei denn der Antrag wurde »mutwillig« nach dem falschen Gesetz eingebracht. Von einer solchen Mutwilligkeit ging die Behörde im Fall des Ehepaares jedoch aus, sodass der Antrag als verspätet eingebracht galt. Die rechtskräftige Ablehnung der Rückstellung sei nach Ansicht des Beirats in diesem Fall unerheblich. Denn nicht die Berechtigung des Rückstellungsanspruchs sei damals in sachlicher Hinsicht bezweifelt worden. Vielmehr sei die erfolgreiche Geltendmachung des Anspruchs an Formalfehlern, einem ungünstigen Zeitpunkt sowie der mangelnden Kooperationsbereitschaft der Behörden gescheitert. Die Rückgabe könne jedoch nur dann aufgrund einer rechtskräftigen Entscheidung ausgeschlossen werden, »wenn diese das Vorliegen eines Tatbestandsmerkmals – also etwa eine erfolgte nichtige Entziehungshandlung – mit Rechtskraftwirkung verneint. Dies ist hier nicht der Fall, da die in Rechtskraft erwachsenen Entscheidungen nicht inhaltlich auf die Berechtigung des seinerzeit gestellten Rückstellungsbegehrens eingehen, sondern dessen Berechtigung lediglich aus formalen Gründen, insbesondere wegen Fristversäumung, ver­ neinen.«1450 Wenngleich der Beirat dies nicht explizit macht, ist davon auszugehen, dass er diese Ausnahme in Anlehnung an prozessuale Wertungen entwickelt hat, und zwar an das ­Erfordernis einer meritorischen Entscheidung, also eine Entscheidung in der Sache, für die Rechtskraftwirkung.1451 Eine ablehnende, rechtskräftige Rückstellungsentscheidung schließt somit die Rückgabe nach dem KRG nicht aus, wenn die Ablehnung allein aus formellen Gründen erfolgte.1452

1449 Zur Befristung s. Beschl. zu Otto Klein v. 03.12.2002, S. 2 f. Zur sachlichen Unzuständigkeit s. Beschl. zu Alice u. Carl Bach

v. 08.11.2006, S. 2 f.; vermutlich auch Beschl. zu Josefine Winter v. 16.03.2005, S. 3, wenngleich der Grund der Ablehnung im Rahmen des Zweiten Kunst- und Kulturgutbereinigungsgesetzes im Beschluss nicht ganz deutlich wird; kritisch dazu jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 187 f. 1450 Beschl. zu Franz u. Helene Erlach v. 07.12.2007, S. 4; in diese Richtung Beschl. zu Hermann Eissler v. 20.11.2009, S. 9; Beschl. zu Carl Reininghaus v. 01.04.2016, S. 3; Beschl. zu Giulietta Mendelssohn v. 15.05.2023, S. 13 f. 1451 Rechberger/Klicka, ZPO, 5. Aufl. 2019, Vor § 390 Rn. 32; Höllwerth/Ziehensack/Brenn, ZPO, 1. Aufl. 2019, § 411 Rn. 15 ff. 1452 Dies bestätigend Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, Anfragebeantwortung Nationalrat, Nr. 2652/AB, XXIV. GP, S. 3.

284  § 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

2. Unwesentliche Entscheidungsgründe

Wie bereits mehrfach in der Empfehlungspraxis angedeutet, ist für den Beirat für die Ausschlusswirkung einer rechtskräftigen Entscheidung aus der Nachkriegszeit maßgeblich, ob diese auf ebenfalls für die Anwendung des KRG wesentlichen Entscheidungsgründen beruhte.1453 Besonders eindrücklich ist in dieser Hinsicht der Beschluss zu Gertrude Felsövanyi von 2019. Die Österreichische Galerie Belvedere erwarb die verfahrensgegenständlichen Gemälde 1939 vermutlich von der Bevollmächtigten Felsövanyis, jedoch offenbar unter falschem Namen. Im Oktober 1947 machte Felsövanyi Rückstellungsansprüche geltend, nachdem sie die Österreichische Galerie Belvedere bereits im Oktober 1945 diesbezüglich kontaktiert hatte. Sie erklärte, ihre Bevollmächtigte habe ihr Hilfe vorgetäuscht, so die Vollmacht »entlockt« und dann das Gemälde entgegen ihrer Ankündigung an die Österreichische Galerie Belvedere unter falschem Namen verkauft. Diese berief sich jedoch auf einen gutgläubigen Erwerb, dem die Gerichte folgten und 1952 den Antrag Felsövanyis rechtkräftig ablehnten. 2001 hat der Beirat die Rückgabe nach § 1 Nr. 2 KRG a.F. noch aufgrund der rechtskräftigen Rückstellungsentscheidung abgelehnt. Dabei hat er jedoch den entscheidenden Unterschied zwischen dem Fall Alma Mahler-Werfel und dem Fall Gertrude Felsövanyi verkannt: Während der Rückstellungsanspruch Mahler-Werfels in der Nachkriegszeit an der, nach Ansicht des Gerichts, fehlenden Entziehung scheiterte, wurde der Antrag Felsövanyis aufgrund der Gutgläubigkeit des Museums hinsichtlich der Entziehung abgelehnt. Anders als die Entziehung ist die Gutgläubigkeit im Sinne des Rückstellungsrechts jedoch bereits seit 2000 für die Erfüllung der heutigen Tatbestandsvoraussetzungen des KRG völlig unerheblich.1454 Ohne auf die grundsätzliche Ausschlusswirkung rechtskräftiger, ablehnender Entscheidungen einzugehen, stellt der Beirat sodann »fest, dass er sich an das Erkenntnis der Rückstellungskommission hinsichtlich der Abweisung des Rückstellungsantrages nicht gebunden sieht, weil das für diese Entscheidung wesentliche Tatbestandsmerkmal [die Gutgläubigkeit] hier nicht zu beachten ist.«1455 Die rechtskräftige Ablehnung eines Rückstellungsanspruchs in der Nachkriegszeit aufgrund der Gutgläubigkeit der Erwerber:innen kann demnach eine Rückgabe nach dem KRG nicht ausschließen. Denn die Gutgläubigkeit im Sinne des Rückstellungsrechts ist im Gegensatz zur Entziehung keine Voraussetzung einer Rückgabe des KRG. Erfolgte die rechtskräftige Ablehnung in der Nachkriegszeit mithin aufgrund für das KRG nach der Auslegung des Beirats unwesentlicher Entscheidungsgründe, liegt für ihn keine bei der Anwendung des KRG zu berücksichtigende Entscheidung vor.1456 Der Beirat hätte den Fall Felsövanyi übrigens bereits 2001 so entscheiden können: Zum einen hat er die Gutgläubigkeit schon im Beschluss zu Rudolf Bittmann von August 2000 für unerheblich erklärt. Zum anderen hat er bereits im Beschluss zu Alma Mahler-Werfel von 1999 1453 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 18.08.1999, S. 4; Beschl. zu Franz u. Helene Erlach v. 07.12.2007, S. 4; Beschl. zu Hermann

Eissler v. 20.11.2009, S. 9; Beschl. zu Josef Blauhorn v. 29.06.2012, S. 10.

1454 Abgesehen vom Eigentumserwerb des Bundes, s. dazu unter § 8 A.III., S. 260. 1455 Beschl. zu Gertrude Felsövanyi v. 12.04.2019, S. 4.

1456 Ähnlich Rechberger, NZ 2020, 207, 212 f.; a.A. Graf, der einen Rückgriff auf die Figur der »extremen Ungerechtigkeit« für

erforderlich hält, Graf, NZ 2020, 7, 12; s. zur »extremen Ungerechtigkeit« unter § 9 B.II.4., S. 287.

285  B. Ausschluss durch materiell rechtskräftige Entscheidung aus der Nachkriegszeit

nur für das KRG entscheidungswesentliche Ablehnungsgründe der Rückstellungsrechtsprechung als Rückgabeausschluss zugelassen. Die Tatsache, dass der Beirat 2001 trotz der eindeutigen zuvor ergangenen Beschlüsse noch eine Rückgabe aufgrund der Rechtskraft ablehnt, veranschaulicht seine zu Beginn der Empfehlungspraxis bestehenden Unsicherheiten im Umgang mit rechtskräftigen Entscheidungen. 3. Entziehung als obiter dictum

Die nächste Ausnahme von der Ausschlusswirkung rechtskräftiger Entscheidungen aus dem Beschluss zu Josef Blauhorn von 2012 knüpft ebenfalls an die inhaltlichen Ausführungen der Entscheidung an: Selbst wenn sich in der rechtskräftigen Rückstellungsentscheidung Ausführungen zur Entziehung als auch für das KRG entscheidungswesentliches Merkmal finden, steht die Entscheidung einer Rückgabe nicht entgegen, wenn die Ausführungen lediglich als obiter dictum, also als »nebenbei Gesagtes«, festgehalten wurden.1457 Der als ›Jude‹ definierte Industrielle Josef Blauhorn flüchtete 1939 nach London. Nachdem er die verfahrensgegenständlichen Gemälde seinem Anwalt Hans Dechant überlassen hatte, wurden sie 1940 von der Österreichischen Galerie Belvedere erworben. Der nach dem Krieg weiterhin für die Familie Blauhorn tätige Dechant beantragte 1949 im Namen der Witwe Blauhorns, Auguste Bienenfeld, die Rückstellung der Gemälde. Dabei berief sich die Witwe allein auf den Verkauf von Dechant an die Österreichische Galerie Belvedere als Entziehungshandlung, nicht aber auf die Überlassung von Blauhorn an Dechant. Die erste Instanz nahm eine Entziehung an, die zweite Instanz wies den Rückstellungsantrag jedoch 1952 zurück: Dechant sei unbeschränkter Eigentümer und keiner Verfolgung ausgesetzt gewesen, sodass keine Entziehung vorliege. Obwohl von der Witwe nicht vorgebracht, wurde zudem eine Entziehung zulasten Blauhorns durch Übergabe an Dechant abgelehnt. Eine Beschwerde bei der nächsten Instanz zog die Witwe Blauhorns 1953 zurück, sodass die Entscheidung von 1952 rechtskräftig wurde. Entscheidender Umstand ist für den Beirat, dass die Witwe Blauhorns sich in ihrem Rückstellungsantrag nicht auf die Überlassung der Bilder an Dechant als Entziehungshandlung, sondern nur auf dessen Verkauf an die Österreichische Galerie berufen hat.1458 In der Entscheidung wurde daher eine Entziehung durch die Überlassung von Blauhorn an Dechant nur kursorisch abgelehnt. Da die Überlassung vom Antrag der Witwe Blauhorns nicht erfasst war, sei die Ablehnung »lediglich als obiter dictum zu verstehen, dem keine gesonderte Beweiswürdigung oder nähere inhaltliche Erwägung zu Grunde liegt.«1459 Daraus folgt, dass rechtkräftige, ablehnende Entscheidungen ausnahmsweise einer Rückgabe nicht entgegenstehen, wenn die auch für das KRG entscheidungswesentliche Frage mangels diesbezüglichen Antrages lediglich als obiter dictum auftauchte und damit nicht selbst Rechtskraftwirkung entfalten konnte.1460 Ganz im Einklang mit prozessrechtlichen Wertungen erstreckt sich also die Rechtskraftwirkung nur auf die Tatsachen, die schon Gegenstand der 1457 Zum obiter dictum s. Schlüter, Das Obiter dictum, 1976, S. 80 ff. 1458 Beschl. zu Josef Blauhorn v. 29.06.2012, S. 5 ff. 1459 Beschl. zu Josef Blauhorn v. 29.06.2012, S. 12. 1460 Saenger, ZPO, 9. Aufl. 2021, § 322 Rn. 23.

286  § 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

rechtskräftigen Entscheidung waren, selbst wenn die nun diskutierten Tatsachen bereits damals vorlagen.1461 Nicht zu leugnen ist indes, dass auch die in einem obiter dictum durchscheinende Tendenz stets eine gewisse Breitenwirkung zu entfalten vermag, über die sich der Beirat sodann – wenn auch zulässigerweise – hinwegsetzt.1462 4. »Extreme Ungerechtigkeit«

Die grundsätzliche Ausschlusswirkung materiell rechtskräftiger, ablehnender Entscheidungen wurde vom Beirat 1999 im ersten Beschluss zu Alma Mahler-Werfel herausgearbeitet. Im dritten Beschluss betreffend Mahler-Werfel von 2006 entwickelt er schließlich – auch aufgrund vermehrt geäußerter Kritik1463 – die wohl außergewöhnlichste Ausnahme der Ausschlusswirkung materiell rechtskräftiger, ablehnender Entscheidungen: Diese stehen einer Rückgabe nach dem KRG ausnahmsweise nicht entgegen, wenn die Ablehnung des Rückstellungsantrages in der Nachkriegszeit nach einstimmiger1464 Ansicht des Beirats eine »extreme Ungerechtigkeit« darstellt. Dieser Wertung liegt eine umfassende dogmatische Herleitung des Beirats zugrunde: Grundsätzliche bestehe eine Ausschlusswirkung durch Rechtskraft, jedoch habe sich aufgrund des 2001 in Kraft getretenen Entschädigungsfondsgesetzes die Rechtslage hinsichtlich der Bindungswirkung von materiell rechtskräftigen Entscheidungen in Rückstellungssachen »für beson­ dere Ausnahmefälle« geändert. Die Auswirkungen dieser Änderung der Gesetzeslage auf den Fall Mahler-Werfel werden nun nachgezeichnet: Gem. § 32 Abs. 2 Nr. 1 EFG kann über Ansprüche aus rechtskräftigen Entscheidungen1465 unter anderem erneut entschieden werden,1466 wenn die frühere Entscheidung von der entscheidenden Stelle als »extreme Ungerechtigkeit« erachtet wird. Der Beirat erörtert sodann, ob diese Wertung aus dem EFG auf das KRG übertragen werden kann: Zunächst prüft er daher, ob eine Übertragung des § 32 Abs. 2 Nr. 1 EFG im Wege der Analogie möglich ist, ob also im KRG eine planwidrige Regelungslücke bei vergleichbarer Interessenslage vorliegt. Dem stehe jedoch der äußerst eindeutige Wortlaut des EFG entgegen: Gemäß § 1 Abs. 2 a.E. EFG ist die Rückgabe von Kulturgütern explizit »den bestehenden besonderen gesetzlichen Regelungen [dem KRG] vorbehalten«. Es könne daher nicht angenommen werden, dass die Legislative des KRG eine solche Ausnahme für »extrem ungerechte« Rückstellungsentscheidungen zu Kulturgütern planwidrig nicht vorgesehen hat.1467 1461 Klauser/Kodek, ZPO, 18. Aufl. 2018, § 411 Rn. 210.

1462 Dazu instruktiv Schlüter, Das Obiter dictum, 1976, S. 105 ff.

1463 Oberhammer, Rechtsgutachten v. 28.09.2006; Meissel/Jungwirth, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006,

S. 104, 104 ff.; Wiederin, Kunstrückgabegesetz, 2006, S. 16 ff.

1464 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 9; Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, Anfragebeantwor-

tung Nationalrat, Nr. 2652/AB, XXIV. GP, S. 3. Grundsätzlich ist eine einfache Mehrheit erforderlich, s. dazu unter § 5 B. II.1., S. 74. 1465 § 32 Abs. 2 EFG spricht im Wortlaut lediglich von »extremer Ungerechtigkeit« einer »einvernehmlichen Regelung« (Vergleich), obwohl § 32 Abs. 1 EFG noch »einvernehmliche Regelungen« und »behördliche Entscheidungen« nennt. Der Beirat nimmt daher an, dass das Fehlen der »behördlichen Entscheidungen« in § 32 Abs. 2 EFG ein Redaktionsfehler sei. Die Ausnahme der »extremen Ungerechtigkeit« müsse daher auch auf »behördliche Entscheidungen« bezogen werden, s. Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 7 f.; a.A. jedoch jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 178; eher kritisch auch Rechberger, NZ 2020, 207, 210. 1466 S. zur Zulässigkeit einer solchen generellen Beseitigung der Rechtskraft kraft Gesetzes Fasching/Konecny/Klicka, Zivilprozessgesetze, 3. Aufl. 2017, § 411 Rn. 139. 1467 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 7 f. Dies nicht problematisierend Fürnsinn, in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 343, 345.

287  B. Ausschluss durch materiell rechtskräftige Entscheidung aus der Nachkriegszeit

Dies könnte das Ende der methodischen Ausführungen sein, doch der Beirat macht sich den folgenden Kunstgriff zu Nutze: Bloß, weil keine analoge Anwendung des § 32 Abs. 2 EFG auf das KRG möglich ist, sei nicht zugleich auch »die Anwendung des […] zum Ausdruck gebrachten Verständnisses des Gesetzesgebers« aus dem EFG auf das KRG ausgeschlossen. Zur Begründung bedient sich der Beirat der nachfolgend erläuterten Rechtsprechung des OGH1468 zum EFG: Das EFG diene – auch dem OGH zufolge – gemäß § 1 Abs. 1 »der umfassenden Lösung offe­ ner Fragen der Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus für Verluste und Schäden, die als Folge von oder im Zusammenhang mit den Ereignissen auf dem Gebiet der heutigen Republik Österreich während der Zeit des Nationalsozialismus entstanden sind.« Der Bund habe durch das EFG die »guten Sitten bei der Lösung von Entschädigungsfragen« normiert, so­ dass »dessen rechtliche Signalwirkung über den unmittelbaren Regelungsgegenstand« hinausreiche.1469 Offenbar vermag diese »Signalwirkung der guten Sitten« dann auch die Grenzen der Analogie zu überwinden. Denn der Beirat steigt anschließend in die Prüfung der »extremen Ungerechtigkeit« aus § 32 Abs. 2 Nr. 1 EFG ein. Diese könne unter Rückgriff auf die S ­ chiedspraxis des EFG in besonderen Einzelfällen vorliegen, »wenn eine frühere Entscheidung […] auf einer Entscheidungsfindung beruht, die darauf hindeutet, dass gesetzliche Entscheidungsgrundlagen objektiv unvertretbar zu Lasten des Geschädigten angewendet worden sind und der Geschädigte dadurch im Ergebnis hinsichtlich seiner Rückstellungs- und Entschädigungsansprüche grob benachteiligt worden ist.«1470 Entscheidend ist mithin die gleichheitswidrige Abweichung der Entscheidungsgründe von der ständigen Rückstellungspraxis.1471 Auf Grundlage dieser Ausführungen stellt der Beirat sodann für den Fall Mahler-Werfel fest, dass die Rückstellungsentscheidung von Juni 1953 eine »extreme Ungerechtigkeit« ­darstelle und dementsprechend einer Rückgabe nicht entgegenstehen könne.1472 Die »extreme Ungerech­ tigkeit« lasse sich nicht bereits aus einer möglichen unrichtigen Beweiswürdigung ableiten, da diese als Vorgang der richterlichen Überzeugungsbildung besonders geschützt sei. Sie könne nur bei willkürlicher Nichtberücksichtigung von Beweisen eine »extreme Ungerechtigkeit« begründen.1473 Vielmehr liege die »extreme Ungerechtigkeit« im vorliegenden Fall in der Ablehnung einer Entziehung. Denn trotz Verfolgung Mahler-Werfels und ohne entsprechende Anhaltspunkte wurde eine Unabhängigkeit von der nationalsozialistischen Herrschaft angenommen und damit die für Verfolgte geltende Vermutung der Abhängigkeit nicht beachtet. Daher stelle die Entscheidung über die ständige Rückstellungsrechtsprechung im besonderen Maße hinausgehende Anforderungen an die Entziehung. Mahler-Werfel sei im Verhältnis zu anderen verfolgten Geschädigten im Rückstellungsverfahren unbegründet ungleichbehandelt worden.1474 1468 OGH, Entscheidung v. 30.09.2002 – 1 Ob 149/02x, JBl 2003, 454, 459.

1469 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 7 ff. So bereits aus »Gedanken der Wertungskohärenz« auch Meissel/Jung-

wirth, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 104, 119 f.; a.A. mangels Erforderlichkeit einer solchen Figur Oberhammer, Rechtsgutachten v. 28.09.2006, S. 10 f. 1470 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 9 f. Als Überblick zum Begriff der extremen Ungerechtigkeit s. Azizi/Gößler, JBl 2006, 415, 415 ff. Einzelne Einschätzungen finden sich bei Graf, JBl 2001, 746, 746 ff.; Meissel, juridikum 2003, 42, 42 ff.; Rechberger, juridikum 2005, 59, 59 ff.; Oberhammer, Rechtsgutachten v. 28.09.2006, S. 13 ff. 1471 Bereits Azizi/Gößler, JBl 2006, 415, 428, weisen auf die Bedeutung des Gleichheitssatzes bei der Bestimmung der »extremen Ungerechtigkeit« hin. In diese Richtung geht auch Graf, JBl 2001, 746, 751 Fn. 28. 1472 So bereits i.E. die Kritik von Meissel/Jungwirth, in: Pawlowsky/Wendelin (Hrsg.), Enteignete Kunst, 2006, S. 104, 119 ff. 1473 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 10; ähnlich Beschl. zu Valerie Heissfeld v. 15.04.2011, S. 4 f. 1474 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 08.11.2006, S. 10 ff.

288  § 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

Dies bedeutet letzten Endes, dass der Beirat die Entscheidung von 1953 als »falsch« betrachtet. Damit distanziert er sich, wenn auch nicht explizit, im Ergebnis eindeutig von seiner noch 1999 angenommenen »Richtigkeit« der Entscheidung.1475 Zugleich widerspricht er dem prozessrechtlichen Grundsatz, dass die rückblickende »Richtigkeit« von Entscheidungen unerheblich ist. Der an diesen Beschluss anschließenden Empfehlungspraxis ist keine einheitliche Handhabung materiell rechtskräftiger, ablehnender Rückstellungsentscheidungen zu entnehmen: Im Beschluss zu Jaromir Czernin stellt der Beirat zunächst nur generell fest, dass rechtskräftige, ablehnende Entscheidungen »differenziert zu betrachten« seien; das mühsam entwickelte Regel-Ausnahme-Verhältnis legt er nicht dar. Obwohl eine rechtskräftige, ablehnende Rückstellungsentscheidung betreffend das verfahrensgegenständliche Gemälde von Czernin vorliegt, subsumiert der Beirat ohne Hinweis auf die Ausschlusswirkung den Sachverhalt unter den Tatbestand.1476 Eine solche Subsumtion ist jedoch der im Beschluss zu Mahler-Werfel entwickelten Dogmatik des Beirats zufolge erst zulässig, wenn die Frage nach der »extremen Ungerechtigkeit« aufgeworfen wurde. Im Beschluss zu Jaromir Czernin wird die »extreme Ungerechtigkeit« indes mit keinem Wort erwähnt. Wo die ausdrückliche Prüfung der »extremen Ungerechtigkeit« im Beschluss zu Jaromir Czernin fehlt, ist sie im Beschluss zu Valerie Heissfeld fehl am Platz. Denn dort nimmt der Beirat einen Ausschluss der Rückgabe infolge einer rechtskräftigen Entscheidung an, obwohl Heissfeld nie Partei des Verfahrens war. Vielmehr war das in Rede stehende Gemälde in der Entscheidung aus der Nachkriegszeit fälschlicherweise anderen Personen zugeordnet und schließlich auch an diese restituiert worden.1477 Die Rechtskraft erstreckt sich aber nur auf Per­ sonen, die bereits Partei des vorherigen Verfahrens waren (Parteienidentität).1478 Es bestand mangels Rechtskraftwirkung für den Beirat mithin bereits kein Bedarf für eine Erörterung der »extremen Ungerechtigkeit«. Denn diese kann nur herangezogen werden, um einen infolge der Rechtskraft bestehenden Rückgabeausschluss für die Eigentümer:innen zu überwinden.1479 Daraus folgt: Der Beirat möchte grundsätzlich an der Bedeutung der Rechtskraft festhalten. Eine materiell rechtskräftige, ablehnende Entscheidung aus der Nachkriegszeit schließt demnach grundsätzlich eine Rückgabe nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG aus, soweit die meritorische Ablehnung aufgrund auch für das KRG erheblicher Entscheidungsgründe erfolgte – etwa durch Ablehnung einer Entziehung – und sie keine »extreme Ungerechtigkeit« darstellt.1480 Damit scheint der Beirat dem zu Beginn der Empfehlungspraxis geäußerten Wunsch gerecht werden zu wollen, dass das KRG »dort fortsetzen bzw. wiederaufgreifen [solle], wo eine moralische Beurteilung aus heutiger Sicht dies nahelegt und rechtfertigt«.1481

1475 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 18.08.1999, S. 4. 1476 Beschl. zu Jaromir Czernin v. 18.03.2011, S. 25 f. 1477 Beschl. zu Valerie Heissfeld v. 15.04.11, S. 4 f.

1478 Klauser/Kodek, ZPO, 18. Aufl. 2018, § 411 Rn. 260 ff.; Höllwerth/Ziehensack/Brenn, ZPO, 1. Aufl. 2019, § 411 Rn. 12; Rech-

berger/Klicka, ZPO, 5. Aufl. 2019, Vor § 390 Rn. 25 ff., § 411 Rn. 2 ff.

1479 So auch Graf, in: FS Bailer, 2012, S. 269, 279 f.; jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 171, 180 f., 188 f.

1480 Die Frage nach der Ausschlusswirkung einer schiedsgerichtlichen Entscheidung soll mangels – bisheriger – Relevanz in der

Empfehlungspraxis nicht umfassend diskutiert werden, jedoch war sie bereits Gegenstand einer Debatte in der Literatur (Graf, NZ 2020, 7, 15 ff.; Rechberger, NZ 2020, 207, 212). 1481 Bacher, in: Brückler (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 7, 7.

289  B. Ausschluss durch materiell rechtskräftige Entscheidung aus der Nachkriegszeit

III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien Die Washingtoner Prinzipien enthalten selbst keine Aussage zum Umgang mit rechtskräftigen, ablehnenden Entscheidungen. Dennoch finden sich vereinzelte Erwähnungen der Problematik bereits in ihren Entstehungsmaterialien. Der abschließende Charakter einer Entscheidung aus der Nachkriegszeit wird dort teils kritisch betrachtet, da die Beurteilung durch die Gerichte häufig »legalistisch und unfair« gewesen sei.1482 In der Literatur wird die Frage nach der Bedeutung rechtskräftiger Entscheidungen ebenfalls aufgeworfen,1483 teils sogar umfassend erörtert: Rechtskräftige Entscheidungen seien grundsätzlich anzuerkennen, da die Beachtung der Rechts­kraft nicht nur einen verfahrensrechtlicher Grundsatz darstelle, sondern auch aus Gerechtigkeitsgründen gerechtfertigt sei.1484 Es könne aber durchaus geboten sein, sich aufgrund neuer Erkenntnisse mit den Sachverhalten abermals zu befassen und sodann auch die Entscheidungen zu korrigieren.1485 Dafür sei maßgeblich, ob die Entscheidungen »unzureichend fair angesichts des extremen Unrechts der Vergangenheit«1486 waren. Dies birgt zwar die Gefahr einer Ungleichbehandlung, da diejenigen, die schon in der Nachkriegszeit eine Rückgabe angestrengt hatten, nur im Falle eines solchen »extremen Unrechts« eine Rückgabe verlangen könnten, während für erst heutzutage initiierte Verfahren keine Beschränkung besteht.1487 Anzumerken ist, dass die Ausnahme im österreichischen EFG 2001 für »extrem ungerechte« ­Entscheidungen aus der Nachkriegszeit augenscheinlich auf Eizenstat zurückzuführen ist,1488 der auch für maßgebliche Wertungen der Washingtoner Prinzipien verantwortlich ist. Dies spricht dafür, dass letztere grundsätzliche die Rechtskraftwirkung anerkennen, aber für Ausnahmen von dieser offen sind. Wenngleich die Voraussetzungen einer solchen Ausnahme nicht weiter konkretisiert werden, ist davon auszugehen, dass jedenfalls Verletzungen des Gleichheitssatzes durch die Spruchpraxis der Gerichte aus der Nachkriegszeit von diesem Gedanken erfasst sind. Diese Ausführungen illustrieren, dass die Wertungen des nationalen Prozessrechts – hier der Rechtskraft – grundsätzlich zu berücksichtigen sind, ausnahmsweise jedoch von ihnen abgewichen werden kann. Damit wird erneut die den Washingtoner Prinzipien zugrunde liegende Wertung bestätigt, dass die Grundlagen des nationalen Rechts als Mindeststandard der Privilegierung der Geschädigten dienen müssen;1489 also zugleich die »gerechten und fairen Lösungen« auch über diese hinausgehen können. Für die folgende Bewertung der Empfehlungspraxis im Lichte der Washingtoner Prinzipien wird zunächst auf die allgemeine Wertung des Beirats eingegangen, der Rechtskraft grundsätzlich eine Ausschlusswirkung zuzuschreiben. Im Anschluss werden die einzelnen Ausnahmen von diesem Grundsatz beleuchtet. Dabei liegt ein besonderer Fokus auf der Ausnahme für »extrem ungerechte« Nachkriegsentscheidungen. 1482 Nicholas, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 449, 450.

1483 Parzinger, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 49, 62. 1484 Wiederin, Kunstrückgabegesetz, 2006, S. 17; Graf, in: FS Bailer, 2012, S. 269, 280.

1485 Wiederin, Kunstrückgabegesetz, 2006, S. 17; Veraart/Winkel, in: dies. (Hrsg.), Post-War Restitution, 2011, S. 1, 2; Papier, Wort-

meldung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 103, 115 f.; Ossmann, KUR 2021, 60, 60. 1486 Veraart/Winkel, in: dies. (Hrsg.), Post-War Restitution, 2011, S. 1, 2. 1487 Vgl. Rechberger, juridikum 2005, 59, 62. 1488 Eizenstat, Justice, 2004, S. 295. 1489 Zum nationalen Recht als Mindeststandard s. unter § 4 B.II.1., S. 42.

290  § 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

1. Zum Regel-Ausnahme-Verhältnis bei rechtkräftigen Entscheidungen

Dass der Beirat materiell rechtskräftige, ablehnende Nachkriegsentscheidungen grundsätzlich anerkennt, entspricht der dargestellten Rezeption der Washingtoner Prinzipien. Mit der grundsätzlichen Anerkennung zeigt der Beirat zudem, dass er sich – formaljuristisch zwar nicht als staatliche, aber als staatsnahe Stelle – an die Entscheidungen von Staatsorganen gebunden und der Einheitlichkeit normativer Maßstäbe verpflichtet sieht. Diesem rechtsstaatlichen Bewusstsein steht dabei nicht entgegen, dass der Beirat für besondere Einzelfälle ausführlich begründete Ausnahmen vorsieht, wie auch die Ausführungen in der Rezeption der Washingtoner Prinzipien zeigen. Die ersten drei Ausnahmen müssen jedoch gar nicht erst auf den dort erwähnten Maßstab der »unzureichenden Fairness« rekurrieren. Vielmehr knüpfen sie an sehr formalistische und prozessual orientierte Aspekte an, um eine erneute Befassung des Beirats zu ermöglichen: Angesichts der Unsicherheiten bezüglich des Fristablauf und der Anspruchsgrundlagen in der Nachkriegszeit,1490 ist es gerade in Österreich geboten, eine rechtskräftige Entscheidung mit Ablehnung aus formellen Gründen nicht einer Rückgabe nach dem KRG entgegenzuhalten. Ansonsten würde der schlechte Zugang zu Restitutionsverfahren in der Nachkriegszeit bis heute besonders stark fortwirken. Gleichermaßen ist gerechtfertigt, die Ausschlusswirkung der Rechts­kraft für Nachkriegsentscheidungen zu verneinen, deren Ablehnung auf Gründen beruht, die für das KRG ausdrücklich unerheblich sind. Da nicht nur die Washingtoner Prinzipien auf die Versäumnisse der Nachkriegszeit reagieren, sondern auch das KRG als Gegenentwurf zu den unzureichenden Nachkriegsregelungen entworfen wurde,1491 dürfen seiner Anwendung nur Erwägungen entgegenstehen, die es selbst berücksichtigen würde. Andernfalls bestünde das Risiko, dass Personen, die sich in der Nachkriegszeit um eine Rückstellung bemüht haben, schlechter als Personen gestellt würden, die nun eine Rückgabe nach dem KRG anstreben. Dies wäre aber mit Blick auf den Gleichheitssatz problematisch. Ebenso wenig dürfen obiter dicta aus rechtskräftigen Entscheidungen von Bedeutung sein: Könnte dieses »nebenbei Gesagte« nämlich eine Rückgabe ausschließen, stünde letztlich eine von den Anspruchstellenden nicht begehrte Einlassung des Gerichts aus der Nachkriegszeit einer heutigen Restitution entgegen. Folglich sind diese drei Ausnahmen von der Ausschlusswirkung rechtskräftiger Entscheidungen mit den Anforderungen der Washingtoner Prinzipien zu vereinbaren. 2. Zur Ausnahme der »extremen Ungerechtigkeit«

Deutlich differenzierter ist die Ausnahme von der Ausschlusswirkung der Rechtskraft zu beurteilen, wenn die rechtskräftige Entscheidung eine »extreme Ungerechtigkeit« darstellt. Im Gegensatz zu den zuvor bewerteten Ausnahmen greift der Beirat mit der »extremen Ungerechtigkeit« nicht auf formalistische Erwägungen zurück, sondern bringt einen sehr unbestimmten und wertungsoffenen Begriff in die Debatte ein. Dies ist zwar für den Beirat mit seiner äußerst

1490 S. zu den Schwierigkeiten der Anspruchsgeltendmachung in Österreich unter § 4 A.II., S. 34. 1491 Zur Genese des KRG s. ausführlich unter § 4 C.I., S. 46.

291  B. Ausschluss durch materiell rechtskräftige Entscheidung aus der Nachkriegszeit

formalistischen Vorgehensweise untypisch, doch im Lichte der Washingtoner Prinzi­pien durchaus zu begrüßen. Denn durch dieses Kriterium nähert sich der Beirat der in der Rezeption der Washingtoner Prinzipien verlautbarten Ansicht an, dass Ausnahmen von der Ausschlusswirkung rechtskräftiger Entscheidungen geboten sein können, wenn die Entscheidungen »unzureichend fair angesichts des extremen Unrechts der Vergangenheit« erscheinen. Zudem ist die Beurteilung des Beirats, ob eine Entscheidung als »extreme Ungerechtigkeit« zu betrachten ist, besonders durch Gleichheitserwägungen geprägt. Er nimmt nämlich eine »extreme Ungerechtigkeit« durch die rechtkräftige Entscheidung nur an, wenn sie höhere Anforderungen an eine Entziehung stellte als die sonstige Nachkriegsrechtsprechung. Erforderlich ist also, dass wesentlich gleiche Sachverhalte ungleich behandelt wurden. Dem Ergebnis nach hat der Beirat unter Berücksichtigung des Gleichheitssatzes somit eine »gerechte und faire Lösung« im Umgang mit rechtskräftigen Entscheidungen gefunden. Der Weg des Beirats zu dieser »gerechten und fairen Lösung« wird aber den Begründungsanforderungen der Washingtoner Prinzipien nicht gerecht. Denn in der Herleitung dieser Ausnahme bricht er mit den methodischen Grundlagen zur Analogiebildung, indem er die Norm des EFG aufgrund seiner »Signalwirkung« auf das KRG überträgt. Er stellt zwar zunächst fest, dass eine Analogie unzulässig ist, attestiert dann aber dem EFG in Anlehnung an den OGH1492 eine »Signalwirkung« in »Entschädigungsfragen«, denen er auch das KRG zuordnet. Ungeachtet der Kuriosität der Figur einer gesetzlichen »Signalwirkung« soll die Fähigkeit des EFG zur normativen Beeinflussung anderer Gesetze nicht in Abrede gestellt werden. Problematisch ist jedoch, dass der Beirat die »Signalwirkung« als Kunstgriff anwendet, um seine Umgehung des Analogieverbots rechtlich zu untermauern.1493 Dieser methodische Bruch ist nachzuzeichnen: Eine Analogie setzt eine planwidrige Regelungslücke bei vergleichbarer Interessenslage voraus. Ein Gesetz kann dabei zunächst auch als vollständig gelten, dann aber aufgrund von Modifikationen im regulativen Umfeld als lückenhaft eingeordnet werden.1494 Genau eine solche nachträgliche Lückenhaftigkeit ist beim KRG hinsichtlich der Ausnahme für »extrem ­ungerechte« Entscheidungen anzunehmen: § 32 Abs. 2 Nr. 1. EFG regelt, dass eine Entschädigung von der rechtskräftigen Entscheidung unberührt bleibt, wenn diese eine »extreme Ungerechtigkeit« darstellt – das KRG enthält für die Rückgabe von Kulturgütern keine entsprechende Regelung. Dies lässt sich aber darauf zurückführen, dass die Erforschung der Nachkriegsjudikatur im Zeitpunkt des Erlasses des KRG 1998 noch weniger fortgeschritten war als 2001, als das EFG erlassen wurde. Das KRG muss daher nachträglich als lückenhaft gelten. Fraglich ist jedoch, ob diese Lücke als planwidrig, also nicht als legislativ beabsichtigt, gelten kann. Auch dafür ist ein Blick in das veränderte regulative Umfeld eines Gesetzes zulässig: 1495 Zunächst spricht für eine Planwidrigkeit der bereits erwähnte unzureichende Forschungsstand beim Erlass des KRG im Jahre 1998. Einer Planwidrigkeit der Lücke im KRG stehen jedoch sowohl der Wortlaut als auch die Historie seines regulativen Umfelds, konkret des EFG, entgegen: § 1 Abs. 2 a.E. EFG schließt nämlich die Anwendung der Wertungen des EFG auf Kulturgüter ausdrücklich aus. Die Norm gehört zwar zum ersten Teil des EFG, der die 1492 OGH, Entscheidung v. 30.09.2002 – 1 Ob 149/02x, JBl 2003, 454, 459.

1493 Daher ebenso kritisch: Unfried, Unrecht, 2014, S. 459; Graf, in: FS Bailer, 2012, S. 269, 277; Graf, NZ 2020, 7, 11; Rechberger,

NZ 2020, 207, 213; jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 178 f.

1494 S. zu den Analogievoraussetzungen unter § 3 A., S. 25. 1495 Ebenda.

292  § 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

Einrichtung des Entschädigungsfonds regelt, während sich § 32 Abs. 2 Nr. 1 EFG im zweiten Teil befindet, der Vorgaben für die Naturalrestitution enthält. Es wird aus diesen systematischen Gründen die Ansicht vertreten, dass § 1 Abs. 2 a.E. EFG kein Analogieverbot für § 32 Abs. 2 EFG statuiere und eine planwidrige Lücke vorliege.1496 Den Gesetzesmaterialien zum EFG lässt sich jedoch entnehmen, dass die Zielsetzungen des EFG explizit nicht für »Ansprüche [sic!] auf die Rückgabe von Kunstgegenständen nach dem Kunstrückgabegesetz« gelten sollen.1497 Dies wird damit begründet, dass so die Kunstrückgabe mit »dem bereits existenten Gesetz [KRG] in beschleunigter Weise fortgeführt werden« könne.1498 Diese Formulierung ist eindeutig als Wunsch zu einer weiterhin effizienten Erledigung der vom Beirat zu untersuchenden Fälle zu lesen.1499 Effi­zienz ist jedoch eher durch eine kurze Erklärung der Bindung an die rechtskräftigen Entscheidungen denn durch erneute Beurteilung dieser Fälle zu erreichen. Weder dem sehr ausdrücklichen Wortlaut noch den Gesetzesmaterialien des EFG kann damit der legislative Wunsch nach einer Übertragung der Wertungen des EFG auf das KRG entnommen werden. Diese Einschätzung wird gestärkt durch die fehlende Einführung eines Pendants zu § 32 Abs. 2 Nr. 1 EFG im Zuge der Novelle des KRG 2009. Obwohl drei Jahre zuvor die Figur der »extremen Ungerechtigkeit« in die Empfehlungspraxis eingeführt wurde und das EFG in den Gesetzesmaterialien der Novelle des KRG in einem anderen Kontext Erwähnung fand,1500 wurde die Ausnahme von der Ausschlusswirkung der Rechtskraft nicht in den Gesetzeswortlaut integriert. Entweder wollte die Legislative die Lücke also nicht füllen oder – auch das ist durchaus denkbar – sie be­trachtete die Lücke durch das eigenmächtige Vorgehen des Beirats bereits als gefüllt. Die Lücke ist damit aber in jedem Falle – wie auch vom Beirat erkannt – als planmäßig zu betrachten. Neben der planwidrigen Regelungslücke liegt ebenso wenig eine vergleichbare Interessenslage zwischen den von EFG und KRG erfassten Fällen vor. Zwar ließe sie sich auf den ersten Blick insbesondere unter Verweis auf den verwaltungsprivatrechtlichen Charakter von sowohl KRG als auch EFG annehmen.1501 Dies kann jedoch einem vertieften Blick nicht standhalten: So verfolgt das EFG als »Rechtsfolge« primär eine Entschädigung für die nationalsozialistischen Verbrechen, während das KRG als Abhilfemaßnahmen nur »Restitution – keine Restitution« vorsieht. Die unterschiedlichen Intentionen von EFG und KRG hält der Beirat sogar selbst fest, indem er dem EFG »eine andere Zielsetzung« als dem KRG zuordnet: »Während das Kunstrückgabegesetz auf die Übereignung konkreter, […] entzogener Gegenstände zielt, sieht das EFG eine pauschalierte Zahlung vor, die sich auf ›Verluste und Schäden‹ von Opfern des NS-Regimes bezieht.«1502 Das KRG dient somit bei enger Betrachtung gerade nicht der pau­ schalen Lösung von »Entschädigungsfragen«. Nur für diese kann aber laut dem OGH das EFG eine »Signalwirkung« entfalten. Es mangelt mithin sowohl an einer Planwidrigkeit der Regelungs­ lücke als auch einer Vergleichbarkeit der Interessenslage.

1496 So jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 169, 178 f.

1497 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 476, XXI. GP, S. 5.

1498 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 476, XXI. GP, S. 4. 1499 A.A. jedoch Oberhammer, Rechtsgutachten v. 28.09.2006, S. 10 f.

1500 S. Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 2.

1501 So offenbar unter Verweis auf den »Stellenwert ihrer Beschlüsse« Rechberger, NZ 2020, 207, 213; in diese Richtung auch jüngst

Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 179.

1502 Beschl. zu Fritz Grünbaum v. 15.10.2015, S. 9.

293  B. Ausschluss durch materiell rechtskräftige Entscheidung aus der Nachkriegszeit

Wenngleich das Ergebnis des methodischen Bruchs – die Ausnahme für »extrem ungerechte« rechtskräftige Entscheidungen – im Lichte der Washingtoner Prinzipien äußerst begrüßenswert ist, muss die Herleitung des Beirats als unhaltbar betrachtet werden. Um die Ausnahme auf ein juristisch solides Fundament zu stellen, müsste in diesem Falle die Legislative tätig werden und in das KRG eine dem § 32 Abs. 2 Nr. 1 EFG vergleichbare Vorschrift einfügen;1503 ganz so, wie dies bereits mehrfach auf Landesebene in Österreich geschehen ist.1504 Mit dieser Verankerung würde der Umgang des Beirats mit materiell rechtskräftigen, ablehnenden Entscheidungen eine rechtssichere und damit »gerechte und faire Lösung« im Sinne der Washingtoner Prinzipien darstellen.

C. Ausschluss durch Vergleiche aus der Nachkriegszeit Bereits im Rückstellungsrecht konnten die ursprünglichen Geschädigten nach § 13 Drittes Rück­ stellungsgesetz einen Vergleich über die Rückstellungsansprüche vereinbaren.1505 Eine solche Vereinbarung konnte im Wege des Prozessvergleichs nach § 204 ZPO, aber ebenso außergerichtlich als allein privatrechtlicher Vertrag nach § 1380 ABGB erfolgen. Während ein Vergleich im Sinne des § 1380 ABGB zwingend das gegenseitige Nachgeben beider Parteien voraus­ setzt,1506 genügt es für einen Prozessvergleich gemäß § 204 ZPO bereits, dass eine Partei von ihrem ursprünglichen Standpunkt abrückt.1507 Jedenfalls betrachtet der Beirat beide Formen des Vergleichs als potenziellen Ausschlussgrund der Rückgabe nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG. Die Empfehlungspraxis des Beirats zeigt aber, dass eine pauschale Einschätzung der Bedeutung eines Vergleichs aus der Nachkriegszeit kaum möglich ist, sondern diese zumeist von den konkreten Umständen des Vergleichs abhängt. Für eine im Ansatz abstrahierende Auseinandersetzung mit Vergleichen ist zwischen gerichtlichen1508 und außergerichtlichen Vergleichen aus der Nachkriegszeit zu differenzieren. Im Anschluss ist der vom Beirat etablierte Umgang mit Vergleichen aus der Nachkriegszeit im Lichte der Washingtoner Prinzipien zu beurteilen.

I. Gerichtliche Rückstellungsvergleiche Im Anschluss an die vorherige Untersuchung rechtskräftiger Entscheidungen ist der wichtigste Unterschied zwischen Gerichtsentscheidung und Gerichtsvergleich festzuhalten: Letztere erwachsen nicht in Rechtskraft, sondern entfalten ihre Bindungswirkung lediglich über die im 1503 A.A. Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 193 ff., der im Gegenteil davon ausgeht, die Legislative hätte explizit normieren

müssen, dass eine materiell rechtskräftige, ablehnende Entscheidung der Rückgabe nach dem KRG grundsätzlich entgegensteht. Mangels ausdrücklicher Regelung dieses Ausschlussgrundes bedürfe es demnach gar nicht erst der Figur der »extremen Ungerechtigkeit« für eine Neubehandlung durch den Beirat. 1504 Die Restitutionsregelungen auf Landesebene sind gebündelt abrufbar unter: https://www.kunstdatenbank.at/gesetze. 1505 S. dazu ausführlich Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 246 ff. 1506 Rummel/Lukas/Ertl, ABGB, Januar 2002, § 1380 Rn. 1 ff.; Klang/Fucik, ABGB, 3. Aufl. 2011, § 1380 Rn. 2; Kletečka/Schauer/Kajaba, ABGB, Januar 2018, § 1380 Rn. 1; Koziol/Bydlinski/Bollenberger/Neumayr, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 1380 Rn. 1. 1507 Rechberger/Klicka/Gitschthaler, ZPO, 5. Aufl. 2019, §§ 204–206 Rn. 3; Höllwerth/Ziehensack/Brenn, ZPO, 1. Aufl. 2019, § 204 Rn. 2. 1508 Damit ist nicht zwingend ein Prozessvergleich im Sinne des § 204 ZPO gemeint, vielmehr geht es um die Nähe des Vergleichs zu einem Gerichtsverfahren.

294  § 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

Zuge der Privatautonomie geschaffene Vertragsbindung (res transacta).1509 War der Bund Partei eines gerichtlichen Vergleichs, war er formal betrachtet also ebenso privat tätig wie die Anspruchstellenden. Überlegungen des Beirats zur Bedeutung eines gerichtlichen Vergleichs finden sich bereits im Beschluss zum Ehepaar Edwin und Karoline Czeczowiczka von 1999. Die beiden Miniaturen der als ›Juden‹ definierten Eheleute Edwin und Karoline Czeczowiczka wurden von der ›Vugesta‹ beschlagnahmt. Sie wurden sodann 1942 im Auk­ tionshaus Dorotheum öffentlich an eine unbekannte Person versteigert und 1948 von der Albertina erworben. Zuvor, bereits 1945, hatte Karoline Czeczowiczka den Leiter der staatlichen Sammlung auf den Verlust der Miniaturen hingewiesen. Nach dem Erwerb durch die Albertina 1948 stellte Czeczowiczka einen Rückstellungsantrag für die Miniaturen und weitere Objekte. Dieser endete 1959 mit einem Vergleich. Demzufolge verblieben die Miniaturen im Gegenzug für andere Objekte in der Albertina und der Bund zahlte einen Prozesskostenbeitrag an Czeczowiczka. Da ein gutgläubiger Erwerb durch den Bund nach dem Hinweis auf die Entziehung im Jahre 1945 »kaum anzunehmen« war, wurde der Vergleich als »günstig« für den Bund bezeichnet. Der Beirat führt unter Rekurs auf die bereits erläuterte, teleologische Reduktion des Tatbestan­ des des § 1 Nr. 2 KRG a.F. aus, dass dieser »einwandfreie Erwerbsvorgänge« nicht erfasse.1510 Als einen solchen »einwandfreien Erwerbsvorgang« betrachtet der Beirat, wenn auch nicht ausdrücklich, offenbar grundsätzlich auch gerichtliche Vergleiche aus Rückstellungsverfahren. Die Rückgabe wäre demnach auch im Fall Czeczowiczka durch den Vergleich ausgeschlossen. Dennoch empfiehlt der Beirat unter Verweis auf die »besonderen Umstände des Einzelfalles« die Rückgabe der Miniaturen, da »sowohl aus damaliger, [sic] als auch aus heutiger Sicht eine Fortsetzung des Rückstellungsverfahrens ohne Abschluss des Vergleiches aller Voraussicht nach zur Verpflichtung des Bundes [sic] auch die beiden Miniaturen zurückzustellen [sic] geführt hätte«. Diese Wertung habe jedoch nicht zur Konsequenz, »dass jeder in einem Rückstellungsverfahren oder sonst abgeschlossene Vergleich bei Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des Rückgabegesetzes unbeachtlich wäre.«1511 Der Beirat respektiert folglich einen Vergleich aus der Nachkriegszeit grundsätzlich in seiner das Rechtsverhältnis zwischen zwei Priva­ ten konstituierenden Wirkung. Eine Ausnahme kann jedoch angenommen werden, wenn der Vergleich die voraussichtlich erfolgreiche Beanspruchung des Kulturguts verhindert hatte.

II. Außergerichtliche Rückstellungsvergleiche Nachdem ein Blick in die Ausschlusswirkung von gerichtlichen Vergleichen geworfen wurde, sind nun auch die außergerichtlichen Vergleiche aus der Empfehlungspraxis zu untersuchen. Für diese gilt ebenso wie für gerichtliche Vergleiche der Grundsatz res transacta. Bereits im zuvor erläuterten Beschluss zu Edwin und Karoline Czeczowiczka betont der Beirat, dass auch »sonst [außergerichtlich] abgeschlossene Vergleiche« grundsätzlich über eine Ausschlusswirkung verfügten.1512 1509 Rechberger/Klicka, ZPO, 5. Aufl. 2019, Vor § 390 Rn. 33, § 411 Rn. 5. 1510 Zur teleologischen Reduktion s. unter § 9, S. 273.

1511 Beschl. zu Edwin u. Karoline Czeczowiczka v. 18.08.1999, S. 5 f. 1512 Beschl. zu Edwin u. Karoline Czeczowiczka v. 18.08.1999, S. 6.

295  C. Ausschluss durch Vergleiche aus der Nachkriegszeit

Erstmals setzt sich der Beirat 1999 im Beschluss zu Irma und Siegfried Kantor mit der Bedeutung eines außergerichtlichen Vergleichs auseinander, der in den 1970-er Jahren abgeschlossen wurde und eine nach damaligem Stand unauffindbare Zeichnung betraf. Der Beirat empfiehlt hier trotz des Vergleichs die Rückgabe der Zeichnung, da die Vereinbarung nicht anstelle einer Rückstellung in den 1970-er Jahren abgeschlossen worden wäre, wenn das Museum im Zeitpunkt der erstmaligen Beanspruchung in den 1950-er Jahren Kenntnis vom Verbleib der mittlerweile identifizierbaren Zeichnung gehabt hätte.1513 Allein aufgrund dieses »Motivirrtums« des Museums könne der Vergleich eine Rückgabe nicht ausschließen. Der Zugang zu neuen Beweisen rechtfertigt damit ausnahmsweise eine sich über die privatautonome Vereinbarung hinwegsetzende Rückgabe.1514 Das Regel-Ausnahme-Verhältnis bestätigt der Beirat im Beschluss zu Ernst Pollak: 1948 wur­ de ein Rückstellungsvergleich über die entzogenen Objekte abgeschlossen.1515 Weitere Details zu den Konditionen des Vergleichs, etwa eine erhaltene Gegenleistung, sind nicht ersichtlich. Jedenfalls greift der Beirat auf eine andere Ausnahme als im Fall Kantor zurück, deren ratio an die Ausnahme für gerichtliche Vergleiche erinnert. Eine Rückgabe sei demnach ­ausnahmsweise trotz Vergleichsvereinbarung möglich, wenn diese »zugleich eine Regelung geltend gemachter Rückstellungsansprüche war« und »aus heutiger Sicht eine ansonsten im Rechtsweg (insbesondere in einem Rückstellungsverfahren) durchsetzbare Rückstellung der Kunstgegenstände hintangehalten« hatte.1516 Der Beirat bildet hier also deutlich heraus, dass ein Vergleich ausnahmsweise der Rückgabe nicht entgegensteht, wenn er die erfolgreiche Geltendmachung von gerichtlich durchsetzbaren Rückstellungsansprüchen verhindert hatte. Im Beschluss zu Heinrich Rothberger von Juni 2000 wird nicht eindeutig klar, ob es sich um einen außergerichtlichen Rückstellungsvergleich handelt. Doch wurde der Vergleich vereinbart, nachdem die Geltendmachung von Rückstellungsansprüchen angekündigt wurde, sodass von einer infolge der Ankündigung angestrebten, außergerichtlichen Einigung auszugehen ist. Gerade im Kontrast zu den beiden zuvor dargestellten Beschlüssen ist dieser Fall von besonderem Interesse, da der Beirat hier eine Rückgabe aufgrund des Vergleichs ausschließt. Dafür stellt er auf die einem Vergleich grundsätzlich inhärente Willensfreiheit ab. Der Ankauf der Aquarelle durch die Albertina erfolgte 1940, damit der als ›Jude‹ definierten Heinrich Rothberger die ›Judenvermögensabgabe‹ zahlen konnte. Im Januar 1948 kündigte der Anwalt Rothbergers die Geltendmachung von Rückstellungsansprüchen bezüglich der Aquarelle an. Dabei zeigte der Anwalt bereits Vergleichsbereitschaft. Im Juli 1948 vereinbarten die Parteien einen Vergleich, der eine Widmung der Aquarelle gegen Stiche vorsah.

1513 Beschl. zu Irma u. Siegfried Kantor v. 22.11.1999, S. 4. Dazu kritisch jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 174.

1514 Damit ähnelt die vom Beirat entwickelte Ausnahme für die Bindungswirkung von Vergleichen stark dem im Zeitpunkt des

Beschlusses noch nicht in Kraft getretenen § 32 Abs. 2 Nr. 2 EFG, wonach eine erneute Beurteilung durch die Schiedsinstanz des EFG zulässig ist, wenn der Anspruch aus Mangel an Beweisen abgelehnt worden ist und diese den Begünstigten nicht zugänglich waren, nun aber ein Zugang möglich ist. 1515 Zu den Problemen einer rechtsgeschäftlichen Verfügung des österreichischen Bundes zwischen 1945 und 1955 s. eindrücklich jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 129. 1516 Beschl. zu Ernst Pollak v. 27.03.2000, S. 4 f.

296  § 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

Unter Rückgriff auf die bereits mehrfach erläuterte teleologische Reduktion des § 1 Nr. 2 KRG a.F. (keine »einwandfreien Erwerbsvorgänge«)1517 lehnt der Beirat hier eine Rückgabe aufgrund des Vergleichs von Juli 1948 ab: »Durch einen Vergleich wird im Wege der Privatautonomie Recht geschaffen. Es kommt ihm zwar – im Gegensatz zu einer Gerichtsentscheidung – Rechtskraftwirkung nicht zu, er hat den Charakter eines Rechtsgeschäfts und kann wegen Willensmän­ geln angefochten werden. Liegen solche nicht vor oder wurden sie nicht fristgerecht geltend gemacht, so ist der Vergleich für die Parteien verbindlich. Dies muss im verstärkten Maße für Vergleiche nach § 13 Abs. 1 des 3. Rückstellungsgesetzes gelten, die vom Gesetzgeber ausdrück­ lich als verbindlicher Weg der Gestaltung von Rückstellungsansprüchen vorgesehen wurden.« Rothbergers Anwalt habe dem Beirat zufolge – was jedoch erst aus der Beurteilung ersichtlich ist – trotz Kenntnis der Erfolgsaussichten bereits mit Ankündigung der Geltendmachung von Rückstellungsansprüchen eine Vergleichsbereitschaft gezeigt. Zudem sei eine Gegenleistung in Form der Stiche vereinbart worden und Rothberger in den Vergleichsverhandlungen anwaltlich vertreten gewesen. Diese Umstände indizieren, dass durch den Vergleich der »Kunstgegenstand mit Wissen und Willen des […] Rückstellungswerbers in Bundeseigentum übertragen« wurde. Solche Vorgänge seien dem Beirat zufolge aber, in einer Weiterentwicklung der teleologischen Reduktion, nicht vom Tatbestand des § 1 Nr. 2 KRG a.F. erfasst.1518 Diese Beurteilung setzt sich in der nachfolgenden Empfehlungspraxis offenbar fort: So er­ klärt der Beirat im Beschluss zu Alfred Menziles als von ihm »stets konsequent vertretene Auf­ fassung«, dass ein ohne Willensmängel zustande gekommener Vergleich nicht vom (teleologisch reduzierten) Tatbestand des § 1 Nr. 2 KRG a.F. erfasst sei .1519 Die teleologische Reduktion schließt also nicht nur die Restitution von Kulturgütern aus, die nach Kriegsende wieder in die Verfügungsmacht der Berechtigten gelangt sind. Vielmehr ist der Tatbestand auch zu reduzieren, wenn sich aus Umständen in der Nachkriegszeit ergibt, dass die Kulturgüter mit dem Wissen und Willen der Berechtigten in Bundeseigentum verblieben oder übergingen. Damit zeichnet sich ein Widerspruch in der Empfehlungspraxis zu außergerichtlichen Vergleichen ab: Während im Fall Pollak ein Vergleich einer Rückgabe ausnahmsweise nicht entgegensteht, wenn er die Geltendmachung von ansonsten erfolgreich durchsetzbaren Rückstellungsansprüchen verhindert hat, scheint im Fall Rothberger die Vergleichsvereinbarung a­ nstelle der gerichtlichen Geltendmachung gerade ein Argument für den Rückgabeausschluss zu sein. Indem nachfolgend die wenigen Unterschiede zwischen den Fällen herausgearbeitet werden, wird versucht diesen Widerspruch aufzulösen: In beiden Beschlüssen wurden die in Rede stehenden Kulturgüter entzogen und ein Rückstellungsverfahren wäre vermutlich erfolgreich gewesen. Im Gegensatz zu Pollak war Rothberger jedoch anscheinend anwaltlich vertreten und erhielt eine Gegenleistung. Zudem hatte Rothberger angeblich bereits im Zuge der Geltendmachung seiner Ansprüche Vergleichsbereitschaft gezeigt. Offensichtlich sieht der Beirat also in den letztgenannten Umständen eine Verkörperung der Privatautonomie, die einen Rückgabeausschluss rechtfertigt. Zugleich ist möglich, dass der äußerst beschränkte Sachverhalt im frühen Beschluss zu Ernst Pollak lediglich keinerlei Ausführungen zu den genannten Umständen enthält – dies muss jedoch für die Bewertung außen vor blieben.1520 1517 Zur teleologischen Reduktion s. unter § 9, S. 273.

1518 Beschl. zu Heinrich Rothberger v. 26.06.2000, S. 8. 1519 Beschl. zu Alfred Menziles v. 19.06.2002, S. 3.

1520 Es sind allein die Sachverhaltsangaben der Beschlüsse maßgeblich, s. dazu unter § 3 A., S. 25.

297  C. Ausschluss durch Vergleiche aus der Nachkriegszeit

Der Versuch, diese heterogene Empfehlungspraxis zu ordnen, lässt gleichwohl die folgende Schlussfolgerung zu: Grundsätzlich schließen außergerichtliche Vergleiche eine Rückgabe aufgrund der ihnen inhärenten Privatautonomie aus. Ausnahmsweise stehen sie jedoch einer Rückgabe nicht entgegen, wenn sie entweder unter Zugrundelegung der heute bekannten Beweise damals so nicht abgeschlossen worden wären oder wenn sie eine ansonsten erfolgreiche gerichtliche Geltendmachung der Rückstellungsansprüche verhinderten. Letzteres ist jedoch nicht anzunehmen, wenn die Umstände des Vergleichs indizieren, dass dieser vollkommen dem Willen der Berechtigten in der Nachkriegszeit entsprach. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass die im Rahmen der rechtskräftigen Entscheidungen erläuterte Figur der »extremen Ungerech­tigkeit«1521 zumindest nach § 32 Abs. 2 Nr. 1 EFG auch auf in der Nachkriegszeit abgeschlossene Vergleiche anwendbar ist. Doch hat der Beirat diese Figur in seiner bisherigen Empfehlungspraxis für eine Unbeachtlichkeit des Vergleichs noch nicht herangezogen.1522

III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien Weder die Prinzipien selbst noch ihre Entstehungsmaterialien enthalten Anhaltspunkte zur Bedeutung eines entweder gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleichs aus der Nachkriegszeit. Es ist also ein Blick in die Literatur zu werfen. Doch auch dort sind die Ausführungen zu Vergleichen aus der Nachkriegszeit rar: Grundsätzlich seien Vergleiche aus der Nachkriegszeit als privatautonome Lösungen anzuerkennen.1523 Soweit jedoch der Staat als Vergleichspartei auftrat, solle der Vergleich einer Rückgabe nicht entgegenstehen, wenn er als Kompromiss nur die Rückgabe eines auffällig geringen Teils der beanspruchten Kulturgüter vorsah oder lediglich eine Entschädigung gewährte oder die Anspruchstellenden nur begrenzt Zugang zu Informationen hatten.1524 Damit wird deutlich, dass auch in diesem Kontext zivilrechtliche Grundsätze, wie res transacta, als für den üblichen Handelsverkehr geschaffene Regelungen von den Washingtoner Prinzipien verdrängt werden können.1525 Dementsprechend ist zunächst positiv hervorzuheben, dass auch der Beirat mit Blick auf die Privatautonomie der Parteien grundsätzlich eine Rückgabe ausschließt, wenn in der Nachkriegszeit ein Vergleich über Restitutionsansprüche abgeschlossen wurde. Die auf diesem Grundsatz sodann aufbauende Empfehlungspraxis zu Ausnahmen ist jedoch deutlich kritischer im Lichte der Washingtoner Prinzipien zu betrachten. In allen hier untersuchten Beschlüssen ist nämlich der Staat Vergleichspartei und der Beirat scheint diesem Umstand regelmäßig keine besondere Beachtung zu schenken. Lediglich im Fall Czeczowiczka lässt sich vermuten, dass die vom Beirat angeführten »besonderen Umstände« gegen eine Beachtung des gerichtlichen Vergleichs auch die Tatsache erfassen, dass nur ein geringer Teil der Kulturgüter zurückgegeben und der Vergleich daher vom Bund als »günstig« bezeichnet wurde.

1521 S. zur »extremen Ungerechtigkeit« unter § 9 B.II.4., S. 287.

1522 Lediglich im Gutachten der Finanzprokuratur, im Anhang vom Beschl. zu Salomon Rosenzweig v. 20.06.2008, S. 9 ff., wird

die »extreme Ungerechtigkeit« eines Vergleichs diskutiert, diese Überlegungen hat der Beirat jedoch nicht in seinen vorangestellten Beschluss integriert. 1523 In diese Richtung Kreder, Brook. L. Rev. 2007, 155, 207. 1524 Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 737 f. 1525 S. zur Berücksichtigung der Regelungen des nationalen Rechts unter § 4 B.II.1., S. 42.

298  § 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

In den darauffolgenden Beschlüssen bestimmen kaum zu abstrahierende Spezifika, ob eine Rückgabe möglich oder unmöglich ist: neue Beweise, Verhinderung gerichtlicher Durchsetzung, Erhalt einer angemessenen Gegenleistung, anwaltliche Vertretung und frühe Vergleichsbereitschaft. Für eine um Konsistenz bemühte »gerechte und faire Lösung« bietet sich in Anknüpfung an die Literatur zu den Washingtoner Prinzipien eine Vorgehensweise mit den folgenden abstrakt greifbaren Ausgangspunkten an: Zum einen ist die Parteienstellung des Staates als Dreh- und Angelpunkt zu etablieren und zum anderen ist danach zu differenzieren, ob der Vergleich gerichtlich oder außergerichtlich abgeschlossen wurde. Zunächst zur Parteienstellung des Staates als Dreh- und Angelpunkt: Vergleiche sind Ausdruck der Privatautonomie, sie verkörpern in der Theorie den freien Willen der Parteien. Dieser freie Wille endet in der Praxis jedoch dort, wo die Privatautonomie strukturell eingeschränkt war. Dies trifft in Österreich regelmäßig auf die Vergleiche aus der Nachkriegszeit mit dem Bund zu, wo ein strukturelles Ungleichgewicht zulasten der Anspruchstellenden bestand.1526 Der Bund verfügte zum einen über einen besseren Zugang zu Informationen in seinen Archiven und Behörden. Zum anderen hatte er angesichts de facto unbeschränkter Ressourcen einen »längeren Atem« als die im Ausland oft unter eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten lebenden Anspruchstellenden.1527 Der Vergleich galt dann im Angesicht der Macht des Staates und der hohen Kosten in Relation zum (fortlaufenden) Gerichtsverfahren als »kleineres Übel«.1528 Bei einer solch strukturellen Benachteiligung kann ein Vergleich nicht mehr als Ausschlussgrund wirken, insbesondere wenn sich der Staat seiner Privilegierung, wie etwa im Fall Czeczowiczka, bewusst war. Nun zur Differenzierung zwischen gerichtlichen und außergerichtlichen Vergleichen: Bei gerichtlichen Vergleichen haben die Anspruchstellenden regelmäßig bereits durch ihren Rückstellungsantrag gezeigt, dass sie ein gewisses Verlustrisikos in Kauf nehmen und bereit sind, den Fortlauf des Verfahrens in die Hände der Gerichte zu legen. Demgegenüber implizieren außergerichtliche Vergleiche den fehlenden Willen mindestens einer Partei, die Sache vor Gericht auszutragen. In Ansehung der strukturellen Schwierigkeiten liegt es nahe, dass entweder die Anspruchstellenden aus Kostengründen oder der Bund im Wissen um seine unsichere Posi­ tion von einem Gerichtsverfahren abgesehen haben. Ein strukturelles Machtgefälle und Informationsungleichgewicht zwischen Staat und Anspruchstellenden ließ sich mithin bei außergerichtlichen Vergleichen stärker ausnutzen. Wenn demgegenüber aus einem Rückstellungsverfahren heraus ein Vergleich geschlossen wurde, spricht einiges dafür, dass die ­Erfolgsaussichten für die Anspruchstellenden nicht gesichert waren. Grundsätzlich ist demnach ein Rückgabeausschluss aufgrund eines Vergleichs aus der Nachkriegszeit in Einklang mit den »Washingtoner Prinzipien« zu bringen; war der Staat Vergleichspartei ist jedoch besonders auf ein Ausnutzen des Informationsungleichgewichts zu ach­ ten. Eine allumfassende Lösung könnte – auch im Interesse einer harmonisierenden Interpretation normativer Maßstäbe – die Figur der »extremen Ungerechtigkeit« für Vergleiche aus § 32 Abs. 2 Nr. 1 EFG bieten.1529 Diese Figur müsste dann aber, ebenso wie beim Umgang mit rechtskräftigen Entscheidungen, als Ausnahme durch die Legislative im KRG normiert werden.1530 1526 Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 365 Fn. 1019; kritisch: Gößler, JBl 2008, 691, 695.

1527 Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 412, Fn. 26; Azizi/Gößler, JBl 2006, 415, 434 f. 1528 Graf, NZ 2005, 321, 332 ff.

1529 S. zur »extremen Ungerechtigkeit« im Lichte der Washingtoner Prinzipien unter § 9 B.III.2., S. 291.

1530 In eine andere Richtung tendiert jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 182 f., der infolge der bloßen res transacta-Wir-

kung eine grundsätzliche Befugnis des Beirats zur Neubewertung von Vergleichen annimmt.

299  C. Ausschluss durch Vergleiche aus der Nachkriegszeit

D. Ausschluss durch Zustimmung in der Nachkriegszeit Während beim Ausschluss durch Vergleich eine zweiseitige Regelung für die Restitutionsansprüche der Nachkriegszeit getroffen wurde, erfasst der Ausschluss durch nachträgliche Zustimmung zu den durch die Entziehung geschaffenen Eigentumsverhältnissen einseitige Erklärungen der in der Nachkriegszeit Berechtigten. Zunächst liegt nahe, diese nachträgliche »Sanie­ rung« der Entziehung als Genehmigung zu bezeichnen. Doch eine Genehmigung im Sinne des allgemeinen Zivilrechts kann sich nicht auf die bestehenden Eigentumsverhältnisse, sondern allein auf ein (schwebend) unwirksames Rechtsgeschäft beziehen. Die Empfehlungspraxis zeigt jedoch, dass viele den Eigentumsverhältnissen zugrundeliegende Rechtsgründe weder rechtsgeschäftlich noch unwirksam sind.1531 Daher wird hier nicht der Begriff der »Genehmigung« ver­ wendet, sondern die allgemeinere Bezeichnung als »Zustimmung« gewählt. Eine solche Zustimmung zu den nach Kriegsende bestehenden Eigentumsverhältnissen kann dem Beirat zufolge eine Rückgabe nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG ausschließen; dabei sind jedoch unterschied­liche Anforderungen an die ausdrückliche und die konkludente Zustimmung zu stellen. Dazu wird auf die Anforderungen des allgemeinen Zivilrechts aus § 863 ABGB rekurriert.1532 Unter Berücksichtigung dieser zivilrechtlichen Wertungen wird sodann eine Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien vorgenommen.

I. Ausdrückliche Zustimmung zu den Eigentumsverhältnissen Um zu bestimmen, wann eine ausdrückliche Zustimmung für einen Ausschluss der Rückgabe vorliegt, bedarf es eines Blickes in die Ausführungen des allgemeinen Zivilrechts zu Willenserklärungen. Eine ausdrückliche Erklärung im Sinne des § 863 ABGB ist anzunehmen, wenn das Äußerungsmittel, etwa ein Wort oder ein Zeichen, über einen eigenen Erklärungsgehalt verfügt und sich von den äußeren Umständen deutlich absetzt.1533 Eine ausdrückliche Zustimmung zu den nach Kriegsende bestehenden Eigentumsverhältnissen konnte durch Verzicht auf die Geltendmachung von Restitutionsansprüchen oder durch konkrete Zustimmung zu den Eigentums­verhältnissen erklärt werden. Diese beiden Konstellationen werden hier als ausdrückliche Zustimmung zusammengefasst, da sie regelmäßig miteinander einhergingen und letztlich d ­ erselbe Wille bezüglich des verfahrensgegenständlichen Kulturguts ausgedrückt wird. Bereits in der Nachkriegszeit war die ausdrückliche Zustimmung als Ausschlussgrund relevant, da die Sammelstellen keine Ansprüche geltend machen konnten, auf die die damaligen individuell Berechtigten nach Kriegsende schon ausdrücklich verzichtet hatten.1534 In der Empfehlungspraxis des Beirats findet sich eine umfassende Auseinandersetzung mit einer solchen ausdrücklichen Zustimmung erstmals im Beschluss zu Hugo Blitz. Dieser verzichtete 1951 ausdrücklich auf sämtliche Ansprüche an dem in Rede stehenden Gemälde und erklärte zudem den Erwerb des neuen Eigentümers für ordnungsgemäß – hier wird die Gleichzeitigkeit von Verzicht und Zustimmung also besonders deutlich. Der Beirat verweist auch in 1531 S. zu den verschiedenen Formen des Eigentumsübergangs unter § 8 A., S. 254.

1532 Stellungnahme Finanzprokuratur zum Ministerialentwurf v. 01.09.2008, 9/SN-214/ME XXIII. GP, S. 8.

1533 Rummel/Lukas, ABGB, November 2014, § 863 Rn.17; Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 863 Rn. 2;

Schwimann/Kodek/Riedler, ABGB, 5. Aufl. 2021, § 863 Rn. 10; Kletečka/Schauer/Wiebe, ABGB, Januar 2022, § 863 Rn. 16.

1534 Haindl, ÖJZ 1961, 316, 317; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 412 ff.; Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 339.

300  § 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

diesem Beschluss zunächst auf die teleologische Reduktion des § 1 Nr. 2 KRG a.F.,1535 wonach »Kunstgegenstände, die mit Wissen und Wollen des früher Berechtigten ins Eigentum des Bundes oder auch eines Vorbesitzers, gelangt sind, nicht Gegenstand einer Rückgabe nach dem« KRG sein können.1536 Ein solches Wissen und Wollen nimmt der Beirat im Fall Blitz an, da dieser durch seine Erklärung sowohl ausdrücklich auf sämtliche Ansprüche verzichtete als auch dem neu begründeten Eigentum explizit zustimmte.1537 Diese Beurteilung setzt sich in der weiteren Empfehlungspraxis fort. Der Beirat stellt dabei stets entscheidend darauf ab, ob ausdrücklich in freier Willensbildung verzichtet oder zugestimmt wurde .1538 Dogmatisch ist der Beschluss zu Georg Rosenberg von 2021 besonders aufschlussreich. Nachdem der Beirat auf Grundlage weniger Tatsachen noch 2006 eine Zustimmung und damit einen Ausschluss der Rückgabe annimmt,1539 führt er nach neuen Erkenntnissen 2021 aus, wann es an einer freien Willensbildung für eine Zustimmung mangelt. Georg Rosenberg war Eigentümer einer umfassenden, geologischen Sammlung, die er im April 1938, und damit im Monat seiner Kündigung aus dem Naturhistorischen Museum, diesem schenkte. Der als ›Jude‹ definierte Rosenberg flüchtete mit seiner Ehefrau Anna Rosenberg nach Palästina, wo das Paar in Armut lebte. Nach 1945 bemühte sich das Ehepaar früh um eine Rückkehr nach Österreich. Diese konnte jedoch noch nicht von offizieller Seite im Zuge so genannter »Repatriierungsaktionen« zur Rückkehr der Geflüchteten erfolgen, sondern musste noch eigenständig organisiert werden. Rosenberg reaktivierte dazu seine geologischen Kontakte, um ein Empfehlungsschreiben, vermutlich für Grenzbeamte, für seine Einreise nach Österreich zu erhalten. Er erhielt 1946 sowohl vom Naturhistorischen Museum als auch von der Geologischen Bundesanstalt ein solches Empfehlungsschreiben. In dem Schreiben vom Naturhistorischen Museum wurde ausdrücklich die Schenkung von 1938 erwähnt. Im Anschluss bestätigte Rosenberg im April 1946 gegenüber dem Naturhistorischen Museum nochmals diese Schenkung und hoffte, »bald manches Schöne nachtragen zu können.« Nichtsdestotrotz meldete das Naturhistorische Museum im Dezember 1946 die Sammlung Rosenberg als entzogenes Vermögen, da es aufgrund einer Zwangslage des Eigentümers geschenkt wurde. Ein Rückstellungsverfahren wurde nicht eingeleitet. Die eigenständige Rückkehr nach Österreich gelang dem Ehepaar, da es 1947 in Österreich einreiste. Dort setzte Rosenberg seine wissenschaftlichen und beruflichen Kontakte fort. Unter anderem war er als Gastforscher im Naturhistorischen Museum tätig, wo die Schenkung von 1938 im Jahre 1948 inventarisiert wurde. Zudem schenkte er dem Museum 1956 und 1960 Objekte aus seiner neuen Sammlung. Im ersten Beschluss zu Georg Rosenberg nimmt der Beirat noch eine konkludente Zustimmung zu den geschaffenen Eigentumsverhältnissen an, da Rosenberg nach 1945 mit dem Museum 1535 Zur teleologischen Reduktion s. unter § 9, S. 273. 1536 Beschl. zu Hugo Blitz v. 11.03.2003, S. 2 f.

1537 Beschl. zu Hugo Blitz v. 11.03.2003, S. 3; ähnlich auch Stellungnahme Finanzprokuratur zum Ministerialentwurf v. 01.09.

2008, 9/SN-214/ME XXIII. GP, S. 6.

1538 Beschl. zu Hermann Eissler v. 24.06.2009, S. 20; Beschl. zu Wilhelm Victor Krausz v. 07.03.2008, S. 4; ähnlich Beschl. zu

Rudolf Gutmann v. 12.10.2012, S. 6.

1539 Beschl. zu Georg Rosenberg v. 08.11.2006, S. 2.

301  D. Ausschluss durch Zustimmung in der Nachkriegszeit

zusammenarbeitete und ihm weitere Objekte zukommen ließ.1540 Neue F ­ orschungserkenntnisse ergaben jedoch, dass Rosenberg die Schenkung von 1938 ausdrücklich 1946 bestätigte, sodass eine Neubewertung notwendig wurde. Der Beirat kam im Zuge dieser Neujustierung zu dem Ergebnis, dass die Bestätigung der Schenkung von 1938, und damit der Entziehung, 1946 in einem engen Zusammenhang mit der Rückkehr Rosenbergs nach Österreich 1947 stand. Denn eine »Rücknahme der Schenkung hätte sich aus seiner Perspektive negativ auf die Möglichkeit der 1946 noch nicht erfolgten Rückkehr bzw. der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit und Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Arbeit ausgewirkt, wodurch sich die NS-verfolgungsbedingte Zwangssituation und die daraus resultierende Mittellosigkeit für ihn fortgesetzt hät­ te.«1541 Daher sah der Beirat in der Unterlassung des Rückstellungsantrages und der Bestätigung der Schenkung keine »Sanierung« der Entziehung. Eine ausdrückliche Zustimmung kann demnach selbst im Falle einer expliziten Bestätigung der Entziehung nach 1945 und einer nachfolgend engen Kooperation mit dem Museum nicht per se angenommen werden. Eine solche nachträgliche »Sanierung« liegt nämlich nicht vor, wenn die Bestätigung im Zusammenhang mit den Bemühungen der geflüchteten, ursprünglichen Eigentümer:innen um eine Wiedereinreise nach Österreich und um die dortige Wiederaufnahme der Arbeit stand. Daraus folgt, dass eine ausdrückliche Zustimmung und ein Verzicht eine Rückgabe nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG nur ausschließen können, wenn sie auf einer freien Willensentscheidung der damaligen Berechtigten beruhen. Sobald sie auf eine aus der Verfolgung resultierende Zwangslage zurückzuführen sind, verlieren Verzicht und ausdrückliche Zustimmung ihre ausschließende Wirkung. Mit dieser Wertung veranschaulicht der Beirat außerdem zwischen den Zeilen, dass § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG nicht abschließend für in der Nachkriegszeit bestehende Zwangslagen im Zusammenhang mit dem Eigentumserwerb des Bundes ist.1542 Sobald also der Eigentumserwerb des Bundes – unabhängig vom Ausfuhrverbotsgesetz – aufgrund einer Zwangslage der ursprünglichen Eigentümer:innen erfolgte, bieten § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG eine Handhabung für diese Fälle. Das Telos des KRG gewährt dann keinen Anlass für eine Reduktion der Tatbestände.1543

II. Konkludente Zustimmung zu den Eigentumsverhältnissen Nach § 863 ABGB kann der Wille auch konkludent, also schlüssig, durch Handlungen erklärt werden, die unter Berücksichtigung aller Umstände und Gewohnheiten keinen vernünftigen Grund zum Zweifeln an diesem Willen übriglassen. Schweigen verfügt jedoch nur ausnahmsweise über einen solchen Erklärungswert, etwa wenn eine »Redepflicht« besteht.1544 Der wichtigste Schritt zur Beurteilung einer konkludenten Zustimmung zu den durch die Entziehung geschaffenen Eigentumsverhältnissen ist daher deren Abgrenzung von der bloßen Unterlas-

1540 Beschl. zu Georg Rosenberg v. 08.11.2006, S. 2.; s. zur konkludenten Zustimmung unter § 9 D.II., S. 302. 1541 Beschl. zu Georg Rosenberg v. 29.06.2021, S. 5 f.

1542 S. zum Anwendungsbereich von § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG unter § 6 A.I., S. 92.

1543 Ähnlich Graf, NZ 2005, 321, 332; Wiederin, Kunstrückgabegesetz, 2006, S. 15; Stellungnahme Finanzprokuratur zum Minis-

terialentwurf v. 01.09.2008, 9/SN-214/ME XXIII. GP, S. 8 f.

1544 Rummel/Lukas, ABGB, November 2014, § 863 Rn. 24 ff.; Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 863 Rn. 3 ff.;

Schwimann/Kodek/Riedler, ABGB, 5. Aufl. 2021, § 863 Rn. 11 ff.; Kletečka/Schauer/Wiebe, ABGB, Januar 2022, § 863 Rn. 17 ff.

302  § 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

sung der Geltendmachung von Rückstellungsansprüchen. Würde die Nichtgeltendmachung allein bereits eine konkludente »Zustimmung« und damit einen Ausschlussgrund darstellen, könnte kaum eines der entzogenen Kulturgüter noch restituiert werden, da die meisten Objekte noch nie beansprucht wurden. Nichtsdestotrotz wurde in der Nachkriegszeit im Kontext der Sammelstellen1545 teils vertreten, die ursprünglichen Eigentümer:innen seien nicht zur Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber der Sammelstelle berechtigt, wenn eine konkludente »Zustimmung« in Form der Nichtgeltendmachung von Ansprüchen vorlag.1546 Diese Ansicht hätte den Zweck der Einrichtung von Sammelstellen jedoch ad absurdum geführt, waren diese schließlich gerade zur Geltendmachung von Ansprüchen berechtigt, die von den damaligen individuellen Berechtigten aus unterschiedlichen Gründen unterlassen wurde.1547 Viele kannten aufgrund ihrer Flucht den Verbleib ihrer Kulturgüter nicht. Doch selbst im Falle einer Kenntnis verfügten sie häufig nicht über die nötigen finanziellen Mittel für einen – teils auch proaktiv durch die Museen angebotenen – Rückkauf.1548 So entschied bereits die Rückstellungsrechtsprechung in diesem Kontext, dass der »Untergang durch Stillschweigen allein […] dem Gesetz fremd« sei. Eine »Redepflicht« zur Geltendmachung von Rückstellungsansprüchen bestehe mithin gerade nicht.1549 Grundsätzlich konnte demnach die Nichtgeltendmachung von Rückstellungsansprüchen keinen Verzicht auf die Rückstellung begründen, für diesen bedurfte es ausdrücklich besonderer Umstände. Selbst wenn die damaligen Berechtigten von der Möglichkeit der Anspruchsgeltendmachung wussten, verstand die Rückstellungsrechtsprechung die Unterlassung nicht als konkludente Genehmigung.1550 Eine erste ausdrückliche Auseinandersetzung durch den Beirat mit einer konkludenten Zustimmung erfolgte bereits 2000 im Beschluss zu Moritz Kuffner. Die Zeichnungen des als ›Jude‹ definierten Moritz Kuffner wurden 1938 beschlagnahmt und durch Tauschgeschäft von der Albertina erworben. Nach dem Krieg informierten sich die anwaltlich nicht vertretenen Erbberechtigten Kuffners über den Verbleib der Sammlung. Sie wurden im Juli 1954 von der Albertina in einem Schreiben auf den Tausch hingewiesen. Dabei erwähnte die Albertina weder eine Rückstellung noch einen Rücktausch. Dementsprechend äußerten sich die Erbberechtigten Kuffners in dem darauffolgenden Schriftverkehr nicht mehr hinsichtlich der Zeichnungen. Der Beschluss illustriert die Abgrenzung der konkludenten Zustimmung von der bloßen Unterlassung der Geltendmachung von Ansprüchen. Der Beirat nimmt eine »konkludente Genehmigung des seinerzeitigen Tauschvertrages« an, da die Erbberechtigten nach dem Hinweis auf den Tauschvertrag – wohlgemerkt ohne Hinweis auf die Möglichkeit einer Rückstellung oder

1545 S. zum historischen Hintergrund der Sammelstellen unter § 4 A.II., S. 34. 1546 Haindl, ÖJZ 1961, 316, 317 f.

1547 ORK, Entscheidung v. 09.11.1962 – Rkv 1/62; Graf, NZ 2007, 65, 74.

1548 ORK, Entscheidung v. 01.03.1963, ÖJZ 1963, 292, 293; Graf, NZ 2007, 65, 74, 77; vgl. Lütgenau et al., Dorotheum, 2006,

S. 95.

1549 ORK, Entscheidung v. 01.03.1963 – Rkv 4/63, ÖJZ 1963, 292, 292; vgl. ORK, Entscheidung v. 09.11.1962 – Rkv 1/62; Sim-

ma/Folz, Restitution, 2004, S. 433; Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 241.

1550 ORK, Entscheidung v. 01.03.1963 – Rkv 4/63, ÖJZ 1963, 292, 292; vgl. Meissel et al., Verfahren, 2003, S. 250; Graf, Rückstel-

lungsgesetzgebung, 2003, S. 413; a.A. Haindl, ÖJZ 1961, 316, 318.

303  D. Ausschluss durch Zustimmung in der Nachkriegszeit

eines Rücktausches – im weiteren Schriftverkehr die Zeichnungen nicht beanspruchten. Zudem seien die Rückstellungsfristen noch nicht abgelaufen und die Erbberechtigten 1938 an den Verhandlungen zum Tauschgeschäft beteiligt gewesen. Das Schweigen gehe daher »über ein bloßes Unterlassen einer Antragstellung nach dem 3. Rückstellungsgesetz« hinaus. Der Schriftverkehr könne »somit nur als konkludente Einwilligung gedeutet werden, dass es bei den durch den seinerzeitigen Tauschvertrag bewirkten Eigentumsübergängen sein Bewenden haben solle, diese somit durch nachträgliche Zustimmung saniert sind.«1551 Einen Monat später bestätigt der Beirat diese Beurteilung im Beschluss zu Hans Lothar Körner.1552 Aus diesen beiden sehr frühen Beschlüssen folgt damit, dass die bloße Unterlassung der Geltendmachung von Rückstellungsansprüchen grundsätzlich einer Rückgabe nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG nicht entgegensteht. Ausnahmsweise ist die Unterlassung jedoch ein Ausschlussgrund, wenn sie als konkludente Zustimmung verstanden werden kann. Dies ist nach Ansicht des Beirats bereits anzunehmen, wenn die Unterlassung in Kenntnis der Entziehung und der noch nicht verfristeten Rückstellungsmöglichkeit nach Kriegsende erfolgte. Damit widerspricht der Beirat zweifelsfrei den strengen Anforderungen an eine konkludente Zustimmung aus dem Zivilrecht sowie der von diesem bestimmten Rückstellungsrechtsprechung.1553 Eine solch weite Auslegung der Ausnahme findet keinen Niederschlag in der weiteren Empfehlungspraxis. Vielmehr entsteht der Eindruck als habe sich ein Wandel vollzogen: So diskutiert der Beirat 2022 im Beschluss zu Adalbert Parlagi an keiner S ­ telle eine konkludente Zustimmung, obwohl Parlagi in der Nachkriegszeit sogar Kenntnis vom Verbleib des Objekts und vermutlich auch ein Rückkaufangebot erhalten hatte, dieses aber aufgrund der Höhe des Kaufpreises ablehnte.1554 Der Beirat nimmt lediglich im Beschluss zu Martin Glaessner eine konkludente Zustimmung zur geschaffenen Eigentumslage an. Dabei kann er aber auch auf starke Anhaltspunkte zurückgreifen: Glaessner kooperierte nach Kriegsende weiterhin wissenschaftlich mit dem Museum und schenkte diesem sogar 1963 Objekte aus sei­ner neuen Sammlung. Nach Ansicht des Beirates müsse er daher Kenntnis vom Verbleib seiner zuvor entzogenen Sammlung im Museum gehabt und bewusst von einem Rückstellungsantrag abgesehen haben. Diese Unterlassung eines Rückstellungsantrages stelle daher eine »Sanierung« der Entziehung dar.1555 Dies erscheint aber als ein gut begründeter Ausnahmefall, grundsätzlich spricht der Beirat der Unterlassung der Anspruchsgeltendmachung keinerlei Erklärungswert mehr zu.

1551 Beschl. zu Moritz Kuffner v. 10.10.2000, S. 4.

1552 Beschl. zu Hans Lothar Körner v. 28.11.2000, S. 2.

1553 Der Beschl. zu Moritz Kuffner wurde bereits mehrfach kritisiert (vgl. Schnabel/Tatzkow, Nazi Looted Art, 2007, S. 305 f.;

Anton, Kulturgüterverkehr, 2010, S. 562 f.). Der Beirat hatte tatsächlich eine nichtige Rechtshandlung unstreitig bejaht, diese jedoch als nachträglich geheilt betrachtet. 2008 wurde eine Wiederaufnahme des Falles Kuffner nicht ausgeschlossen, bisher ist sie jedoch unterblieben, s. Fall Kuffner: Neubehandlung möglich, in: Der Standard Online v. 31.03.2008, abrufbar unter: https://www.derstandard.at/story/2770680/fall-kuffner-neubehandlung-moeglich. 1554 Beschl. zu Adalbert Parlagi v. 30.03.2022, S. 3. In diese Richtung geht auch der Beschl. zu Martha Brown-Neumann v. 29.11.2022, S. 1, wobei das Scheitern der Rückstellung dort noch stärker auf die äußeren Bedingungen zurückzuführen ist. 1555 Beschl. zu Martin Glaessner v. 28.06.2006, S. 2. Genauso argumentiert der Beirat auch im Beschl. zu Georg Rosenberg v. 08.11.2006, S. 2, doch revidiert er diese Entscheidung im Juni 2021 aufgrund neuer Erkenntnisse, s. Beschl. zu Georg Rosenberg v. 29.06.2021, S. 1, daher dazu unter § 9 D.I., S. 300. In die Richtung des Falls Glaessner geht jedenfalls auch Stellungnahme Finanzprokuratur zum Ministerialentwurf v. 01.09.2008, 9/SN-214/ME XXIII. GP, S. 6.

304  § 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien Es stellt sich als besonders schwierig heraus, Anhaltspunkte zum Ausschluss durch eine Zustimmung zu den Eigentumsverhältnissen in der Nachkriegszeit – ob nun ausdrücklich oder kon­kludent – zu finden. Lediglich zur konkludenten Zustimmung lassen sich einige Aussagen herausarbeiten: So wurde bereits auf der Washingtoner Konferenz betont, dass in vielen Fällen nicht mehr nachzuvollziehen ist, warum eine Restitution in der Nachkriegszeit nicht begehrt wurde.1556 Daraus lässt sich durchaus ableiten, dass allein aus der Unterlassung der Geltendmachung von Ansprüchen kein Erklärungswert abgeleitet werden kann. Demgegenüber wird aber in der Literatur zu den Washingtoner Prinzipien teils vertreten, dass für die Entwicklung einer »gerechten und fairen Lösung« positiv zu berücksichtigen sei, wenn sich die damaligen Berechtigten bereits in der Nachkriegszeit um eine Restitution bemüht haben.1557 Ob daraus auch zu folgern ist, dass die Unterlassung der Geltendmachung negativ in die Bewertung einfließen zu lassen ist, wird teils in Betracht gezogen,1558 teils kategorisch abgelehnt.1559 Würde der Unterlassung der Anspruchsgeltendmachung ein Erklärungswert zugesprochen, wäre für eine »gerechte und faire Lösung« jedenfalls entscheidend, dass die Grundlagen des nationalen Rechts als Mindeststandard der Privilegierung der Begünstigten anerkannt werden.1560 Das hat in diesem Kontext zur Folge, dass die Anforderungen an die Zustimmung nicht geringer sein dürfen als die des österreichischen Zivil- und Rückstellungsrechts. Besonders positiv sticht in diesem Lichte die Dogmatik aus dem Beschluss zu Georg Rosenberg heraus. Dort stellt der Beirat zunächst eine ausdrückliche Zustimmung fest, untersucht dann aber, ob bei der Erklärung die Willensfreiheit beeinträchtigt war. Die Bezugnahme auf die Privatautonomie in der Nachkriegszeit wird also durch die Überprüfung der Willensfreiheit im Einzelfall flankiert. Demgegenüber ist die Empfehlungspraxis zur konkludenten Zustimmung kritischer zu betrachten: Der Beirat schreibt dem Stillschweigen einen Erklärungswert zu, obwohl weder im allgemeinen Zivilrecht noch im Rückstellungsrecht eine »Redepflicht« der Anspruchstellenden angenommen wurde. Es müssen sowohl dem Zivil- als auch dem Nachkriegsrecht zufolge vielmehr konkrete Anhaltspunkte für eine konkludente Zustimmung vorliegen, wie im Fall Graessner. Doch selbst diesen im Ergebnis zustimmungswürdigen Beschluss hätte der Beirat mit einigen Ausführungen zu den zivil- und rückstellungsrechtlichen Anforderungen an eine solche konkludente Erklärung anreichern müssen. Ein Ausschluss durch konkludente Zustimmung sollte demnach nur ausnahmsweise in Betracht kommen, wenn anhand der Umstände zweifelsfrei klar ist, dass die damaligen Berechtigten es in Ausübung ihres freien Willens bei den durch die Entziehung geschaffenen Eigentumsverhältnissen belassen wollten.

1556 Nicholas, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 449, 450 f.; Gramlich/Thielecke, in: DZK

(Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 15, 20; Herman, Restitution, 2021, S. 58. Schultz führt die fehlende Geltendmachung von Ansprüchen jedenfalls auf den gelungenen »Wiederaufbau der Kultur nach 1945« zurück und negiert dabei – unter Verweis auf die Bedeutung von Kulturgütern für die nationale Identität – die Existenz unbekannt entzogener Objekte, s. Schultz, Holocaust, in: FAZ v. 10.01.2007. 1557 Raue, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Geschichte, 2007, S. 287, 296 ff.; Renold/Chechi, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 187, 187; Campfens, AAL 2017, 315, 324 f. 1558 Tendenz erkennbar bei Raue, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Geschichte, 2007, S. 287, 296 ff. 1559 Ossmann, KUR 2021, 60, 60. 1560 Zum nationalen Recht als Mindeststandard s. unter § 4 B.II.1., S. 42.

305  D. Ausschluss durch Zustimmung in der Nachkriegszeit

An diesen hohen Anforderungen muss außerdem festgehalten werden, damit Sachverhalte mit ausdrücklicher oder konkludenter Zustimmung von den vielen Fällen abgegrenzt werden können, in denen trotz Kenntnis des Verbleibs keine Restitutionsansprüche geltend gemacht wurden. Da der Beirat in diesen Fällen mit keinem Wort diskutiert, ob in der Unterlassung eine konkludente Genehmigung liegt, behandelt er diese Fälle im Verhältnis zu den Beschlüssen zu Kuffner und Körner ungleich. Auch die Wahrung des für eine »gerechte und faire Lösung« elementaren Gleichheitssatzes setzt mithin voraus, dass an den Anforderungen des Zivil- und des Rückstellungsrechts festgehalten wird.

306  § 9  Ausschlussgründe der Rückgabe

§ 10  Die Übereignung an die Begünstigten als Abhilfemaßnahme

Nach § 2 Abs. 1 KRG wird der:die zuständige Bundesminister:in dazu ermächtigt, die rückgabefähigen Kulturgüter aus § 1 KRG an die jeweiligen Begünstigten zu übereignen. Die Abhilfemaßnahmen beziehungsweise »Rechtsfolgen« des KRG sind also auf »Restitution – keine Restitution« begrenzt. Zunächst ist in der nachfolgenden Untersuchung zu erörtern, welche besonderen Fragestellungen im Zusammenhang mit der Übereignung auftreten können. Im Anschluss wird erläutert, wer nach § 2 Abs. 1 KRG zu den Begünstigten der Übereignung zählen kann. Zuletzt erfolgt eine kurze Darstellung der im Kontext des KRG relevanten Formen der Verfügungsbeschränkungen.

A. Die Begrenzung auf die Übereignung und assoziierte Problemstellungen Dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 KRG ist kein Auswahlermessen zu entnehmen, sondern der:die zuständige Bundesminister:in kann sich bei Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsvoraus­ setzungen nach Ansicht des Beirats allein für oder gegen eine Übereignung entscheiden. Auch die Gesetzesmaterialien machen deutlich, dass die unter die Tatbestände fallenden Kultur­ güter »zurückgegeben werden sollen«.1561 Entweder liegen nach Ansicht des Beirats also die Tat­bestandsvoraussetzungen nicht vor – dann ist keine Rückgabe zu empfehlen – oder sie sind erfüllt – dann befürwortet der Beirat eine Restitution. Eine Nuancierung außerhalb dieses ­binären »Rechtsfolgensystems« ist nicht möglich; alternative Abhilfemaßnahmen sind folglich konsequent ausgeschlossen. Insbesondere ermöglicht das KRG damit keine Kompensationszahlung durch den österreichischen Staat anstelle einer Rückgabe.1562 Vereinzelt werden zwar im Nachgang zu Restitutionsempfehlungen des Beirats Vereinbarungen getroffen, die den bekannten, alternativen Abhilfemaßnahmen ähneln. All diese Maßnahmen sind jedoch vom KRG formell nicht vorgesehen, sodass sie auch vom Beirat nicht in seine Empfehlungen miteinbezogen werden.

1561 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 5.

1562 Beschl. zu Louis Rothschild v. 10.04.2002. Dabei waren Entschädigungszahlungen durchaus im Gesetzgebungsverfahren 1998

Gegenstand der parlamentarischen Debatte, s. Wortmeldung Krüger bei der 146. Sitzung des Nationalrats am 05.11.1998, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XX. GP, S. 44 ff.; Wortmeldung Gehrer bei der 650. Sitzung des Bundesrats am 19.02.1999, Stenografische Protokolle des Bundesrats, S. 75; Wortmeldung Schüsssel bei der 137. Sitzung des Nationalrats am 02.02.2006, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XXII. GP, S. 56 f.

307 

In der Empfehlungspraxis finden sich vereinzelt spezielle Problemstellungen, die eng mit der Begrenzung der Abhilfemaßnahmen auf »Restitution – keine Restitution« verbunden sind. Fraglich ist zum einen, ob im Falle einer Rückgabe über den Wortlaut des KRG hinaus auch eine Rückabwicklung von erhaltenen Gegenleistungen durch die Begünstigten erforderlich ist. Zum anderen ist zu beurteilen, ob auch die Übereignung gleichwertiger Objekte als eine Rückgabe im Sinne des KRG betrachtet werden kann. Zuletzt werden die Begrenzung der Abhilfemaßnahmen und die daraus folgende Empfehlungspraxis an den sehr umfassenden diesbezüglichen Vorgaben der Washingtoner Prinzipien gemessen.

I. Die Rückzahlung erhaltener Gegenleistungen Auch während der nationalsozialistischen Herrschaft war es verfolgten Personen vereinzelt noch möglich eine – gelegentlich sogar angemessene – Gegenleistung für ihr Kulturgut zu erhal­ ten. Diese Gegenleistung kann zwar nicht die Rückgabe ausschließen,1563 jedoch ist auf »Rechts­ folgenebene« fraglich, ob sie im Falle einer Übereignung nach dem KRG von den Begünstigten zurückzugeben ist. Zur Illustration bietet sich der Beschluss zu Rudolf Bittmann an. Der als ›Jude‹ definierte Sammler Rudolf Bittmann brachte die verfahrensgegenständlichen Miniaturen 1938 selbst zur Auktion ein. Der Verkauf im Wege der Versteigerung erfolgte sodann offenbar zu einem dem Marktpreis entsprechenden Kaufpreis an die Albertina. Teilweise konnte Bittmann noch über den Versteigerungserlös verfügen. Erhaltene Gegenleistungen der ursprünglichen Eigentümer:innen sind dem Beirat zufolge bei einer Rückgabe nach dem § 1 Nr. 2 KRG a.F. nicht zurückzuzahlen, da der Tatbestand lediglich zu einer unentgeltlichen Übereignung ermächtigt. Der Erhalt einer Gegenleistung in Form einer Rückzahlung sei demnach nicht möglich. Eine Rückforderung von erbrachten Gegenleistungen sei außerdem »nicht im Sinne des Ansehens der staatlichen Verwaltung«.1564 Der Beirat konkretisiert zwar nicht, was darunter zu verstehen ist. Vermutlich möchte er damit jedoch ausdrücken, dass es der Reputation der Bundesverwaltung schaden würde, von den Begünstigten die Rückzahlung einer im Zuge der Entziehung erhaltenen Gegenleistung zu fordern. Die Reputation des Staates scheint letztlich der ausschlaggebende Grund zu sein. Denn der Beirat empfiehlt in Ausnahmefällen sehr wohl eine Rückgabe gegen Rückzahlung der erhaltenen Gegenleistung – und damit eine entgeltliche Übereignung. Dies ist der Fall, wenn die Gegenleistung in der Nachkriegszeit im Zuge von Vergleichs- oder Verzichtsvereinbarungen – und daher tendenziell ohne vergleichbaren Reputationsverlust bei Rückforderung – erfolgte: Erstmals hält der Beirat 1999 ohne nähere Begründung fest, dass in der Nachkriegszeit erhaltene Gegenleistungen rückabzuwickeln sind.1565 Letztmalig enthält ein Beschluss von 2005

1563 S. zur Unerheblichkeit des Erhalts eines angemessenen Kaufpreises unter § 7 F.II.2.a)bb)(1), S. 218. 1564 Beschl. zu Rudolf Bittmann v. 18.08.2000, S. 6.

1565 Beschl. zu Heinrich Rothberger v. 26.06.2000, S. 8; Beschl. zu Moritz Kuffner v. 10.10.2000, S. 4; Beschl. zu Hans Lothar

Körner v. 28.11.2000, S. 2. Es sei denn, die in der Nachkriegszeit erhaltene Geldsumme wurde von den Berechtigten vollständig an den Verband der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs gespendet, s. Beschl. zu Siegfried u. Irma Kantor v. 22.11.1999, S. 4.

308  § 10  Die Übereignung an die Begünstigten als Abhilfemaßnahme

Ausführungen zur Rückzahlung erhaltener Gegenleistungen.1566 Es bleibt daher unklar, ob sich der Beirat danach von seiner vorherigen Auslegung distanziert hat oder er diese für selbstverständlich erachtet. Jedenfalls hat die Legislative im Zuge der Novelle 2009 allein für die Rückgabe nach dem ersten Tatbestand aus § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG, nicht aber für die Tatbestände aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG eine Rückzahlung erhaltener Gegenleistungen in § 1 Abs. 2 KRG festgehalten.1567

II. Die Restitution gleichwertiger Objekte Aus unterschiedlichen Gründen ist die Übereignung der konkreten, entzogenen Kulturgüter oftmals unmöglich. Es stellt sich also die Frage, ob auch die Übereignung von gleichwertigen Objekten als Rückgabe im Sinne des KRG verstanden werden kann. Jedenfalls gilt im österreichischen Zivilrecht die Schaffung einer gleichwertigen Lage als Naturalrestitution im Sinne des § 1323 ABGB.1568 Zudem erinnert die Übereignung gleichwertiger Objekte an die restitution in kind, die sich in der Nachkriegszeit insbesondere in der sowjetischen Besatzungszone als eine (umstrittene) Form der Reparation etabliert hatte. Sie sah vor, dass anstelle eines nicht mehr vorhandenen, entzogenen Objektes ein diesem ähnliches Objekt restituiert wird. Begrenzt war sie jedoch auf bedeutsame Objekte.1569 Von einer Verwendung des Begriffs zur Beschreibung der nachfolgenden Problematik wird trotz einzelner Ähnlichkeiten abgesehen. Denn zum einen handelt es sich bei der Rückgabe nach dem KRG nicht um völkerrechtliche Reparationen unter Staaten, sondern um individuelle Maßnahmen der österreichischen Bundesrepublik. Zum anderen haben die zwei Beschlüsse des Beirats, in denen er eine Übereignung gleichwertiger Objekte empfiehlt, eindeutig keine bedeutsamen Kulturgüter zum Gegenstand,1570 wie der Beschluss zu Walter Hersch illustriert. Die geologisch-paläontologische Abteilung des Naturhistorischen Museums vermerkte am 12. September 1938 die Überlassung von Objekten durch Walter Hersch. Aktive Erwerbsbestrebungen durch das Museum sind nicht bekannt. Die übergebenen Objekte wurden anschließend nicht inventarisiert, sondern zu solchen bereits vorhandenen Objekten gelegt und sind daher heute nicht konkret identifizierbar. Da die Objekte heute durch die Vermischung mit den bereits vorhandenen Objekten nicht mehr identifizierbar sind, ist eine Übereignung der konkreten, entzogenen Objekte tatsächlich unmöglich. Weder dem Wortlaut des KRG selbst noch den Gesetzesmaterialien ist aber eine Ermächtigung zur Übereignung gleichwertiger Objekte zu entnehmen. Vielmehr sprechen die 1566 S. nur Beschl. zu Henri u. Pauline Grünzweig v. 18.08.2000, S. 5; Beschl. zu Siegfried Lämmle v. 10.10.2000, S. 3; Beschl. zu

Gustav u. Claire Kirstein v. 23.01.2001, S. 3; Beschl. zu Julius Kien v. 14.03.2001, S. 4; Beschl. zu Michael Berolzheimer v. 10.05.2001, S. 7; Beschl. zu Ignatz Pick v. 01.10.2001, S. 4; Beschl. zu Emma Schiff-Suvero v. 10.04.2002, S. 4; Beschl. zu Wilhelm Freund v. 30.10.2002, S. 3; Beschl. zu Leo u. Elise Smoschewer v. 30.10.2002, S. 4 f.; Beschl. zu Moritz Rothberger v. 20.11.2003, S. 3 f.; Beschl. zu Heinrich Rothberger v. 14.12.2005, S. 2 f. 1567 S. dazu Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 154, der § 1 Abs. 2 KRG als auch auf § 1 Abs. 1 Nr. 2 und 2a KRG anwendbar erachtet, obwohl sich § 1 Abs. 2 KRG ausdrücklich allein auf § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG bezieht. 1568 OGH, Urt. v. 26.02.2002 – 1 Ob 15/02s, bbl 2002, 161, 162; Rummel/Lukas/Reischauer, ABGB, Januar 2004, § 1323 Rn. 2a; Koziol/Bydlinski/Bollenberger/Danzl, ABGB, 6. Aufl. 2020, § 1323 Rn. 1. 1569 Vgl. bloß Armbruster, Rückerstattung, 2008, S. 395 ff. 1570 Beschl. zu Walter Hersch v. 11.09.2009; Beschl. Gertrude Zarfl v. 11.09.2009.

309  A. Die Begrenzung auf die Übereignung und assoziierte Problemstellungen

Materialien sogar von »im Sinne der Problemstellung identifizierten Kunstgegenständen«1571. Der Beirat müsste also bei einem engen Verständnis der Übereignung im Sinne des KRG eine Restitution ablehnen. Demgegenüber hält er es in den vorliegenden Beschlüssen »jedoch bei Würdigung der Gesamtumstände und der Zielsetzung des Kunstrückgabegesetzes für angezeigt, dass […] auch die Übereignung von einzelnen Stücken aus […] nach ihrer Art gleichwertigen Tranchen« angeboten wird.1572 Er empfiehlt also ohne darüberhinausgehende Begründung ausdrücklich die Übereignung bloß gleichwertiger Objekte. Dies ließe sich mit einem Spezifikum naturhistorischer Sammlungen begründen: In diesen werden Objekte nämlich nicht als Unikate, sondern als Exemplare verstanden.1573 Naturhistorische Objekte verfügen mithin nicht über einen unikalen, sondern einen exemplarischen Wert. Dementsprechend könnten auch Exemplare als »im Sinne der Problemstellung identifiziert« und damit nicht als gleichwertige, sondern als mit den rückgabefähigen Gegenständen gleiche Objekte gelten.1574 Obwohl sich der Beirat gerade auf die »Zielsetzung des Kunstrückgabegesetzes« beruft, ist diese Empfehlung jedoch vermutlich eher auf die Geringwertigkeit der Objekte zurückzuführen, da solche bereits auf Grundlage des Bundeshaushaltsgesetzes übereignet werden können.1575 Vom Beirat wird jedenfalls weder der interdisziplinär-zivilrechtliche noch der haushaltsrechtliche Bezug hergestellt. Er macht damit nicht deutlich, dass diese Wertung nicht auf sämtliche Kulturgüter übertragbar ist.

III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien Die Begrenzung der Abhilfemaßnahmen des KRG auf »Restitution – keine Restitution« muss als der wohl eklatanteste Widerspruch zu den Washingtoner Prinzipien verstanden werden, wie die nachfolgende Bewertung in ihrem Lichte zeigt. Zwar konkretisieren die Washingtoner Prinzipien nicht, was unter einer »gerechten und fairen Lösung« für Abhilfemaßnahmen zu ­verstehen ist. Prinzip Nr. 8 macht jedoch deutlich, dass diese »je nach den Gegebenheiten und Umständen des spezifischen Falls unterschiedlich ausfallen kann« (Proportionalitätsprinzip). Die Washingtoner Prinzipien sehen somit zweifelsfrei nicht nur eine »gerechte und faire Lösung«, sondern eine große Bandbreite von an die einzelnen Fallkonstellationen anknüpfenden Lösungen vor. Dies bestätigt auch ein Blick in die Entstehungsmaterialien der Washingtoner Prinzipien sowie der Theresienstädter Erklärung.1576 Ebenso ist bereits in der Rezeption der Prinzipien festgehalten worden, dass die »gerechten und fairen Lösungen« unterschiedlichste Ausprägungen annehmen können.1577 Insbesondere begrenzen sie sich nicht auf winner1571 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 3.

1572 Beschl. zu Walter Hersch v. 11.09.2009, S. 2; Beschl. zu Gertrude Zarfl v. 11.09.2009, S. 3. 1573 Geiger et al., in: Blimlinger/Schödl (Hrsg.), (k)ein Ende, 2018, S. 123, 127 f.

1574 A.A. jedoch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 138 f., der zudem auf Schwierigkeiten mit Blick auf die Aussonderung des

betreffenden Kulturguts nach dem Bundesmuseen-Gesetz hinweist.

1575 S. dazu ausführlich unter § 4 C.II., S. 48; so i.E. jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 138 f.

1576 Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999; Edelson, in: Government Printing

Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 539, 541; Soltes, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 547, 548 ff.; Amigues, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 565, 567; Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 724. 1577 Raschèr, AJP/PJA 1999, 155, 158 f.; Kreder, Brook. L. Rev. 2007, 155, 215 f.; Raschèr, KUR 2009, 75, 77; Parzinger, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 49, 69 ff.; Demarsin, Brooklyn J. Int. Law 2011, 117, 138; Nietzel, in: Brunner et al. (Hrsg.), Globalisierung, 2013, S. 149, 164 ff.; Palmer, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 153, 167 ff.; Renold/Chechi, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 187, 195 ff.; Lupfer/Obenaus, in: DZK (Hrsg.),

310  § 10  Die Übereignung an die Begünstigten als Abhilfemaßnahme

takes-it-all-Lösungen, sondern es hat stets eine Abwägung der beteiligten Interessen stattzufinden – eine zugunsten der potenziellen Begünstigten ausfallende Lösung ist daher keineswegs zwingend.1578 Die neben der Restitution wohl am häufigsten genannte Form einer »gerechten und fairen Lösung« ist die Zahlung einer Geldsumme, ob nun in Form einer symbolischen ex gratia Zahlung oder einer unterschiedlich begründeten Kompensationspflicht.1579 Ebenso werden Vergleichslösungen, etwa mit anteiliger Beteiligung der Parteien am Verkaufserlös,1580 oder ­geteilte Eigentumsrechte1581 diskutiert. Es wird dennoch schnell deutlich, dass trotz der vielen kreativen Vorschläge für eine »gerechte und faire Lösung«, bei nachgewiesener Entziehung die Restitution regelmäßig als vorzugswürdige Umsetzung des Auftrages der Washingtoner Prinzipien betrachtet wird. Nichtsdestotrotz ist entscheidend, dass entsprechend dem Proportionalitätsprinzip stets auch dem Einzelfall potenziell gerechter werdende Alternativen zur Verfügung ste­hen.1582 An dieser Stelle könnten nun einzelne Kombinationen und Modifikationen der diversen vorgeschlagenen Abhilfemaßnahmen dargestellt werden, doch ist der maßgebliche Gehalt der Washingtoner Prinzipien wohl hinreichend deutlich geworden: Eine »gerechte und faire Lösung« ist nicht bloß auf Restitution begrenzt, es kann sogar ausdrücklich geboten sein, nicht zu restituieren. Es soll daher nun auf die Kritik an der Restitution von Kulturgütern eingegangen werden, bevor Ansätze aus der Literatur für die Ausgestaltung einer restitutionszentrierten »gerechten und fairen« Praxis erläutert werden. Die Kritik an der Restitution entzündet sich sowohl an der Publizitätsfunktion als auch an der kapitalistischen Verwertungsfunktion von Kulturgütern. Sie wirft damit erneut die Frage auf, wessen Interessen in welchem Umfang zu berücksichtigen sind. Kulturgüter werden dabei oftmals als Vermittler von Kultur und Geschichte verstanden. Ihr öffentlicher Zugang ist daher besonders zu gewährleisten – im vorliegenden Kontext als Vermittler der nationalsozialistischen Geschichte Österreichs. Eine Restitution aus einem Museum berge den Kritiker:innen zufolge ein Gefährdungspotenzial dieser öffentlichen Auseinandersetzung, da die restituierten Kulturgüter häufig aufgrund unklarer Erbverhältnisse oder hoher Rechtsberatungskosten der Begünstigten auf den Leitfaden, 2019, S. 10, 12; Gramlich/Thielecke, in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 15, 20; Franz/Kesting, in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 103, 103 ff.; Campfens, AAL 2020, 1, 22; Herman, Restitution, 2021, S. 67 f.; Eggert, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 13, 29. 1578 Raschèr, AJP/PJA 1999, 155, 158 f.; Eissenhauer, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 427, 443; Parzinger, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 49, 71; Campfens, AAL 2017, 315, 319; Weller, in: FS Kowalski, 2020, S. 680, 684 ff.; Weller/Scheller, in: Network of Restitution Committees (Hrsg.), Newsletter 12/2021, S. 44, 46 f. 1579 Renold, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 949, 951 ff.; Raschèr, AJP/PJA 1999, 155, 158; Schnabel/Tatzkow, Nazi Looted Art, 2007, S. 195; Parzinger, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 49, 71; Woodhead, Int. J. Cult. Prop. 2014, 113, 130; Campfens/Kunert, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 111, 117 ff.; Renold/Chechi, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 187, 197; Campfens, AAL 2017, 315, 332; Franz/Kesting, in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 103, 104; Hartung, NJW 2020, 718, 721. 1580 Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999; Mikva, Opening Statement, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 23, 25; Schnabel/Tatzkow, Nazi Looted Art, 2007, S. 195; Berking, KUR 2019, 179, 183; Hartung, NJW 2020, 718, 721. 1581 Renold, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 949, 951 ff.; Schnabel/Tatzkow, Nazi Looted Art, 2007, S. 195; Renold/Chechi, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 187, 198. 1582 Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 722; Nietzel, in: Brunner et al. (Hrsg.), Globalisierung, 2013, S. 149, 164 ff.; Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 19, 21 ff.; Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 70 f.; Masurovsky, NCJIL 2020, 497, 523; Oost, Int. J. Cult. Prop. 2021, 1, 4.

311  A. Die Begrenzung auf die Übereignung und assoziierte Problemstellungen

Kunstmarkt und letztlich in Privatsammlungen gelangten. Der Fokus auf die Restitution der Kulturgüter anstelle anderer Abhilfemaßnahmen sei also vornehmlich auf ein »kapitalistisches, eigentumsbasiertes Rechtsverständnis«1583 zurückzuführen. Während die Kulturgüter im Falle eines Verbleibs in einer öffentlichen Sammlung über die Entziehung und deren Kontinuitäten hätten aufklären können, werde zugunsten ­kapitalistischer Erwägungen und Reputationserhalt eine reflektierte Auseinandersetzung durch die Rückgabe verunmöglicht1584 – »Gerechtigkeit [werde nur] als Schlagobers«1585 serviert. Dieser Ansicht ist zu erwidern, dass sich viele der auf Grundlage des KRG restituierten Kulturgüter nicht in den Schausammlungen der Museen, sondern in den Depots befinden – also gerade keinen öffentlichen Kulturvermittlungsauftrag erfüllen. Zudem ist dieser Perspektive auf Restitution zu entgegen, dass im Kontext von Restitutio­nen häufig Restriktionen im Umgang mit dem restituierten Eigentum gefordert werden, die für andere an und von einem in weiten Teilen unregulierten Kunstmarkt Partizipierenden und Profitierenden nicht gelten; und auch nicht verlangt werden. Mit anderen Worten ist fraglich, ob gerade die Restitution von entzogenen Kulturgütern als Anlass für eine – ihrem Inhalt nach absolut berechtigte – Debatte über die kapitalistische Enthemmtheit des Kunstmarkts dienen sollte.1586 Es entsteht eher der Eindruck, hier werde mit zweierlei Maß gemessen: Gerade im Kontext der Kulturgüterrestitution entdecken einige offenbar ihre »sozialistische Ader«1587 und werfen den Begünstigten eine möglichst gewinnbringende wirtschaftliche Verwertung ihres Eigentums vor. Erscheint die Restitution als die im Verhältnis zu anderen denkbaren Abhilfemaßnahmen vorzugswürdige Lösung, wird insbesondere bei Kulturgütern aus Museumsbeständen häufig dafür plädiert, die Rückgabe von weiteren Maßnahmen flankieren zu lassen, um eine »gerechte und faire Lösung« zu erreichen: So sei beispielsweise eine Dauerleihgabe an das Museum anzu­ streben, bestenfalls versehen mit einem über die Provenienz aufklärenden Hinweis.1588 Darüber hinaus gehen die Vorschläge für einen Rückkauf, die teils dem Museum nach der R ­ estitution ein Vorkaufsrecht gewähren wollen oder fordern, dass von diesem lediglich ein verminderter Preis verlangt wird .1589 Gelegentlich wird auch die Ausstellung einer Kopie oder zumindest eine Übernahme der dem Museum entstandenen Instandhaltungskosten für das restituierte Kultur-

1583 O’Donnell, EJIL 2011, 49, 53.

1584 Vgl. Jones, Art, in: The Guardian Online v. 09.01.2009; Martinek, in: FS Fiedler, 2011, S. 415, 429; Unfried, Unrecht, 2014,

S. 45, 431; De Girolamo, Int. J. Cult. Prop. 2019, 357, 357 ff.

1585 Unfried, Unrecht, 2014, S. 459 f.

1586 Vgl. Kreder, Brook. L. Rev. 2007, 155, 195; Jungwirth, in: Gschiel et al. (Hrsg.), Schneidern, 2010, S. 249, 252; Woodhead, Int.

J. Cult. Prop. 2014, 113, 130. In diese Richtung auch Lahusen, KUR 2022, 91, 96.

1587 Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, 220.

1588 Eizenstat, Support, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999; Soltes, in: Government Printing

Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 547, 550 f.; Renold, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 949, 951 ff.; Raschèr, AJP/PJA 1999, 155, 158; Parzinger, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 49, 71; Woodhead, Int. J. Cult. Prop. 2014, 113, 124; Renold/Chechi, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 187, 198; Tisa Francini, in: Blimlinger/Schödl (Hrsg.), (k)ein Ende, 2018, S. 63, 63 f.; Franz/Kesting, in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 103, 104; Berking, KUR 2019, 179, 181; Eggert, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 13, 29; Herman, Restitution, 2021, S. 67 f. 1589 Vgl. dazu Parzinger, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 49, 71; Zeidler, R ­ estitution, 2016, S. 144. In diese Richtung auch Woodhead, Int. J. Cult. Prop. 2014, 113, 130 f.; Renold/Chechi, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 187, 196 f.; Franz/Kesting, in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 103, 103 f.; Berking, KUR 2019, 179, 181; Hartung, NJW 2020, 718, 721.

312  § 10  Die Übereignung an die Begünstigten als Abhilfemaßnahme

gut diskutiert.1590 Die Rückzahlung einer erhaltenen Gegenleistung durch die Begünstigten Zug-um-Zug für die Restitution wird jedoch eher kritisch gesehen, da diese zum einen nicht der Wertsteigerung der letzten Jahre entsprechen könne,1591 zum anderen erst den Zwang zum Verkauf des Kulturguts – und damit seine Absorption durch den Kunstmarkt – begründen könne.1592 Zur Restitution durch gleichwertige Objekte finden sich keine Anhaltspunkte in den Washingtoner Prinzipien oder der entsprechenden Literatur. Ein Vergleich dieser Ausführungen mit der Empfehlungspraxis des Beirats macht schnell deutlich: Die paternalistische Begrenzung der Wahlfreiheit hinsichtlich der Abhilfemaßnahmen widerspricht eklatant dem Verständnis einer »gerechten und fairen Lösung« der Washingtoner Prinzipien, die einen Kompromiss zwischen den Interessen der Beteiligten darstellen sollen. Dies wird auch im österreichischen Kontext kritisch betrachtet, da die Dichotomie aus Ablehnung oder Befürwortung einen nuancierten Umgang mit den verschiedenen Sachverhaltskonstellationen und ihren Graubereichen erschwere,1593 der von den Washingtoner Prinzipien so ausdrücklich gefordert wird. Dies gelte insbesondere angesichts der in Österreich fortgeschrittenen Provenienzforschung, da die mittlerweile auftauchenden Fälle erhebliche Sachverhaltslücken aufweisen, die weniger trennscharfe Abhilfemaßnahmen erfordern würden.1594 Dieser Widerspruch lässt sich auch nicht dadurch auflösen, dass nach der Empfehlung des Beirats oftmals eine Vereinbarung mit den ermittelten Begünstigten getroffen wird, die den in der Lite­ratur vorgeschlagenen alternativen Abhilfemaßnahmen der »flankierten« Rückgabe durchaus entspricht, etwa durch Schenkung, Rückkauf oder Provenienzhinweis. Indem diese Vereinbarung ohne gesetzliche oder anderweitig öffentliche Vorgaben im Nachgang der Empfehlung des Beirats erfolgt, besteht in dieser Hinsicht eine starke Rechtsunsicherheit und Willkürgefahr, die angesichts der Transparenz und Konsistenz der Beschlüsse besonders bedauerlich ist. Besonders kritisch ist die fehlende Möglichkeit einer Kompensation anstelle einer Rückgabe zu beurteilen. Für diese könnten als monetäre Leistung, wie das österreichische Entschädigungsfondsgesetz veranschaulicht, gleichermaßen haushaltsrechtliche Grundlagen geschaffen werden. Indem keine Rechtsgrundlage für Kompensationen besteht, verfügt der Beirat beispielsweise über keine Handhabe für Fälle, in denen ein Kulturgut zwar formell restituierbar ist, die Umsetzung aber Schwierigkeiten bereitet, etwa aufgrund fehlender Transportfähigkeit des Objekts.1595 Die strikte Begrenzung der Abhilfemaßnahmen auf »Restitution – keine Restitution« genügt damit nicht den Anforderungen der Washingtoner Prinzipien an eine »gerechte und faire Lösung«. Der Umgang des Beirats mit den Fragen nach der Rückzahlung von erhaltenen Gegenleistungen und nach der Rückgabe gleichwertiger Objekte zeugt von einem geringen Problembewusstsein auf »Rechtsfolgenebene«. Die Ergebnisse, dass keine Rückzahlung von erhaltenen Gegenleistungen erforderlich ist und auch gleichwertige Objekte restituiert werden können, 1590 Renold, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 949, 951 ff.; Herman, Restitution, 2021, S. 67 f.; a.A. Masurovs-

ky, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 784, 791.

1591 Berking, KUR 2019, 179, 183.

1592 Palmer, in: Campfens (Hrsg.), Fair and Just, 2015, S. 153, 173. 1593 Noll, Anwesenheit, 2011, S. 63.

1594 Öhlinger, Museen, 2008, S. 28; Kallir, Fries, in: Der Standard Online v. 04.03.2015.

1595 Dies wäre beispielsweise problematisch geworden, wenn der Beirat die Rückgabe des schwer transportierbaren Beethovenfries

empfohlen hätte (Beschl. zu Erich Lederer v. 06.03.2015, S. 1 ff.); vgl. zur Problemstellung der Beschädigung/Zerstörung auch jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 228 f.

313  A. Die Begrenzung auf die Übereignung und assoziierte Problemstellungen

sind im Lichte der Washingtoner Prinzipien zwar nicht zu beanstanden. Doch ist erneut der Weg des Beirats zu diesen Ergebnissen kritikwürdig: Zum einen lässt sich nicht nachvollziehen, warum der Beirat ab 2005 die Rückzahlung erhaltener Gegenleistungen nicht mehr diskutiert, zumal bereits seine vorherige Begründung Fragen offenlässt. Einer solchen Begründung bedarf es jedoch gerade, da die fehlende Rückzahlungspflicht zumindest mit Blick auf das Ziel der Washingtoner Prinzipien – die vermögensrechtliche Wiederherstellung – Irritationen hervorrufen kann. Der Beirat könnte in diesem Kontext sein Argument des »Ansehens der staatlichen Verwaltung« durch Rekurs auf die Mitverantwortung des österreichischen Staates an den natio­nalsozialistischen Verbrechen ausbauen. Zudem lässt sich in einer Rückzahlung der Gegenleistung auch ein gewisser Widerspruch zu Systematik und Historie des § 1 KRG erkennen. Die Le­gislative hat sich schließlich im Zuge der Novelle dazu entschlossen, nur für die Rückgabe nach dem ersten Tatbestand aus § 1 Abs. 1 Nr. 1 KRG eine Rückzahlung der erhaltenen Gegenleistung in der »Rechtsfolge« vorzusehen, § 1 Abs. 2 KRG. Wenn der Beirat mithin eine Rückgabe nur gegen Rückzahlung einer erhaltenen Gegenleistung – ob während oder nach der nationalsozialistischen Herrschaft – zu empfehlen beabsichtigt, müsste dafür zunächst die Legislative tätig werden und eine dem § 1 Abs. 2 KRG vergleichbare Vorschrift auch für § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a KRG schaffen. Zum anderen mangelt es auch hinsichtlich der Restitution von gleichwertigen Objekten an einer umfassenden Begründung. Angeboten hätte sich ein Hinweis auf die zivilrechtlichen Wertungen zur Naturalrestitution, nach denen eine Restitution durch gleichwertige Objekte zulässig ist. Damit hätte der Beirat auch dem Gedanken des nationalen Rechts als Mindeststandard der Privilegierung für eine »gerechte und faire Lösung« entsprochen. Daneben hätte ein Hinweis auf das interdisziplinäre Verständnis von Unikat und Exemplar als nähere Begründung dienen können. Gleiches gilt für den Bezug auf das Bundeshaushaltsgesetz für die Übereignung geringwertiger Objekte. Nach dieser Gesamtschau lässt sich daher nicht leugnen, dass die Be­grenzung der Abhilfemaßnahmen auf »Restitution – keine Restitution« nicht mit den Washingtoner Prinzipien zu vereinbaren ist. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass die B ­ egründungspraxis des Beirats auf Ebene der Abhilfemaßnahmen außergewöhnlich viele argumentative Schwachstellen enthält.

B. Die Begünstigten der Übereignung Nach § 2 Abs. 1 KRG kommen zwei verschiedene Begünstigte1596 der Übereignung in Betracht, die in einem Subsidiaritätsverhältnis zueinanderstehen. Zunächst wird der:die zuständige Bundesminister:in gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 KRG zu einer Übereignung an die ursprünglichen Eigentümer:innen oder deren Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen ermächtigt. Wenn diese jedoch »nicht festgestellt werden können, [hat der:die zuständige Bundesminister:in die Kulturgüter] an den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus zur Verwertung zu übereignen«. 1596 Die Beibehaltung der Bezeichnung der Begünstigten als »ursprüngliche Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger« aus § 1

KRG a.F. ist auf die Stellungnahme der Finanzprokuratur zum Ministerialentwurf zurückzuführen, der die Bezeichnung »Rückübereignungsberechtigten« vorsah. Die Finanzprokuratur sprach sich gegen diese Bezeichnung und für eine Beibehaltung aus, da dies die Terminologie vereinheitliche und dem Umstand Rechnung trage, dass das KRG keine Restitutionsansprüche begründe, s. Stellungnahme Finanzprokuratur zum Ministerialentwurf v. 01.09.2008, 9/SN-214/ME XXIII. GP, S. 3.

314  § 10  Die Übereignung an die Begünstigten als Abhilfemaßnahme

Das KRG priorisiert also eine individuelle Restitution, als »Auffangrechtsfolge« kommt jedoch eine kollektive Restitution in Betracht. Die nachfolgende ­Untersuchung erläutert zunächst, wie die individuellen Begünstigten, also die ursprünglichen Eigentümer:innen oder deren Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen, bestimmt werden. Im nächsten Schritt wird sich der kollektiven Übereignung an den Nationalfonds gewidmet. Zuletzt wird das Subsidiaritätsverhältnis zwischen den Begünstigten und dessen konkrete Ausgestaltung im Lichte der Washingtoner Prinzipien beurteilt.

I. Die individuell Begünstigten Als individuelle Begünstigte sind gemäß § 2 Abs. 1 KRG die ursprünglichen Eigentümer:innen oder deren Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen zu betrachten.1597 Soweit also die ursprünglichen Eigentümer:innen noch leben, bedeutet ihre erfolgreiche Bestimmung damit zugleich auch die erfolgreiche Ermittlung der Begünstigten. Dazu ist auf die Ausführungen zum Eigentum am Kulturgut zu verweisen.1598 Sofern aber die ursprünglichen Eigentümer:innen bereits verstorben sind, treten deren Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen an diese Stelle. Aufgrund der seit der nationalsozialistischen Herrschaft vergangenen Zeitspanne kann die Restitution zumeist nicht mehr an die ursprünglichen Eigentümer:innen erfolgen; selbst die Rückgabe an ebenfalls verfolgte Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen ist sehr selten. Der Regelfall ist vielmehr die Restitution an nach der nationalsozialistischen Herrschaft geborene Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen oder an als Rechtsnachfolgerinnen bestimmte Einrichtungen. Demnach kommt der Bestimmung der Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen eine besondere Bedeutung in der Restitutionspraxis zu, obwohl sie nicht mehr in den Kompetenzbereich des Beirats, sondern des zuständigen Bundesministeriums fällt. 1. Die Bestimmung der Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen

Wenngleich das KRG die Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen nicht definiert, verfügt es durch das strikte Abstellen auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen jedenfalls über einen sehr offenen Begünstigtenbegriff.1599 Denn im Gegensatz zum Dritten Rückstellungsgesetz, das in § 14 Abs. 2 einen engen Verwandtschaftsgrad oder einen gemeinsamen Haushalt der Anspruchsberechtigten mit den ursprünglichen Eigentümer:innen forderte, ist eine Nähe­beziehung der Begünstigten zu den ursprünglichen Eigentümer:innen, ob nun verwandtschaftlich oder räumlich, beim KRG nicht erforderlich.

1597 Die Begünstigten sind entgegen Krejci, ÖJZ 2005, 733, 745, somit nicht als »jene Personen zu verstehen, die einen Antrag auf

Übereignung« nach dem KRG gestellt haben. Ein solches Verständnis widerspricht diametral dem amtswegigen Tätigwerden der Kommission für Provenienzforschung. 1598 S. dazu unter § 7 C., S. 138. 1599 Beschenkte einer Schenkung zu Lebzeiten zählt der Beirat nicht zu den Begünstigten des KRG, s. Beschl. zu Wilhelm Ellenbogen v. 27.01.2004, S. 2. Gelungene Kritik mit Blick auf die fehlende Höchstpersönlichkeit der Begünstigtenstellung und den tatsächlichen Willen der ursprünglichen Eigentümer:innen findet sich bei Rabl, JBl 2010, 681, 685 ff.; jüngst auch Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 139 f. Im Fall Ellenbogen wäre ungeachtet der Begünstigtenstellung auch die Entziehung durch Schenkung an die Stadtbibliothek Stockholm zu diskutieren gewesen.

315  B. Die Begünstigten der Übereignung

Das erheblich vom Erbrecht des ABGB abweichende Rückstellungsrecht war zum einen auf die Erwägung zurückzuführen, dass keine Personen durch Vererbung von Verfolgung und Ermordung »profitieren« sollten, die in keinem Kontakt mit den Eigentümer:innen gestanden hatten. Zum anderen beabsichtigte die Legislative des Rückstellungsrechts die Einrichtung eines Fonds zugunsten von Personen, deren entzogenes Vermögen nicht mehr vorhanden war. Dieser sollte nicht vom als »Opfer« betrachteten österreichischen Staat,1600 sondern durch die nicht beanspruchten Vermögen – gewissermaßen infolge einer die individuelle Restitution überwiegenden »Schicksalsverbundenheit« – gespeist werden. Eine ausreichende Ausstattung dieses Fonds mit dem unbeanspruchten, entzogenen Vermögen war aber nur durch eine Einschränkung der Anspruchsberechtigung bei der individuellen Rückstellung möglich.1601 Der Beirat setzt sich trotz der erheblichen Relevanz dieser Norm in der Nachkriegszeit an keiner Stelle mit ihren Wertungen auseinander. Dies ist vermutlich auf die mittlerweile starke Kritik an der Vorschrift1602 und die bereits im späteren Nachkriegsrecht enthaltene Abkehr von dieser Einschränkung1603 zurückzuführen. Jedenfalls illus­triert die Abweichung des Beirats von dieser Wertung des Rückstellungsrechts erneut, dass das KRG lediglich auf dem Nachkriegsrecht als Mindeststandard aufbaut, aber zur Erreichung einer Rückgabe aller »bedenklichen« Kulturgüter in Bundeseigentum ausdrücklich über dessen Vorgaben hinausgehen kann. Im Zuge der Novellierung des KRG wurde sich um eine Legaldefinition der Rechtsnachfol­ ger:innen von Todes wegen im Sinne des KRG bemüht.1604 Der Vorschlag wurde jedoch mit Verweis auf die Unbestimmtheit der vorgeschlagenen Definition, die fehlende Erforderlichkeit einer Definition neben dem zivilrechtlich etablierten Begriff und die praktischen Umsetzungsschwierigkeiten abgelehnt.1605 Es bleibt daher nur ein Blick in die Empfehlungspraxis: Denn ob­ wohl die Bestimmung der Begünstigten nicht dem Beirat, sondern erst dem zuständigen Bundesministerium obliegt,1606 findet sich im ersten Beschluss des Beirats von 1999 eine erratische Abhandlung zur Auslegung der Rechtsnachfolge von Todes wegen im Sinne des KRG.1607 Da das zuständige Bundesministerium die dortige Auslegung der Rechtsnachfolge von Todes wegen jedoch nicht zu befolgen scheint und die Stellungnahme des Beirats ohnehin wohl der anfänglichen Unwissenheit über die Grenzen der eigenen Kompetenz geschuldet ist, wird von einer Darstellung in der vorliegenden Arbeit abgesehen. Anschließend werden in keinem weiteren Beschluss die Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen umfassend diskutiert.1608 Man1600 S. zum Hintergrund der »Opfer-These« unter § 4 A.II., S. 34.

1601 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 244, V. GP, in: Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947,

S. 148; Ausführungen von Hunna in Novak, JBl 1946, 276, 277; Klein, JBl 1947, 486, 487; Sternberg/Weidenfeld, JBl 1948, 6, 6; Herz, JBl 1949, 875, 875 ff.; Hiller, JBl 1950, 122, 122 ff.; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 239 ff.; Bailer-Galanda, Entstehung, 2003, S. 82 f. 1602 Wilhelm, ecolex 1998, 821, 821; Oberhammer, NZ 2001, 39, 40; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 239 ff.; Faber, Vermögensrestitution, 2007, S. 166 ff. Bereits in der Nachkriegszeit kritisch Hiller, JBl 1949, 489, 490; Herz, JBl 1949, 875, 875 ff. 1603 Klein, ÖJZ 1969, 57; 60; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 241 f. 1604 § 4a S. 1 KRG des Ministerialentwurfs der Novelle, 214/ME XXIII. GP. 1605 Stellungnahme Bundesjustizministerium v. 28.07.2008, 5/SN-214/ME XXIII. GP, S. 2 ff.; Stellungnahme Bundeskanzleramt zum Ministerialentwurf v. 28.08.2008, 7/SN-214/ME XXIII. GP, S. 5. 1606 S. zur Ermittlung der Begünstigten durch das Bundesministerium unter § 5 B.III.2., S. 82. 1607 Beschl. zu Louis u. Clarice Rothschild v. 11.02.1999, S. 3 ff. 1608 Nur in einem Beschluss wird die Begünstigtenstellung noch einmal oberflächlich problematisiert (Beschl. zu Wilhelm Ellenbogen v. 27.01.2004, S. 2). In einem weiteren Beschluss erläutert der Beirat die Erbfolge bis in das Jahr 1972, also auch über den erforderlichen Zeitraum der nationalsozialistischen Herrschaft hinaus (Beschl. zu Robert u. Margarete Piowaty-Lang v. 08.11.2006, S. 1). Im Fall einer juristischen Person bezeichnet der Beirat die begünstigte Institution bereits im Beschluss (Beschl. zum Jüdischen Museum Wien v. 16.03.2005, S. 1, mit der IKG Wien als heutiger Trägerin des Museums). So stellt

316  § 10  Die Übereignung an die Begünstigten als Abhilfemaßnahme

gels anderer Anhaltspunkte richtet sich die Ermittlung der Begünstigten somit allein nach österreichischem Erbrecht.1609 2. Die Probleme bei einer Mehrzahl von potenziellen Rechtsnachfolger:innen

Bei mehreren in Betracht kommenden Begünstigten werden dem Beirat zufolge nur ideelle Mit­ eigentumsanteile an den Kulturgütern berücksichtigt.1610 Diese werden der Anzahl von Rechts­ nachfolger:innen von Todes wegen entsprechend mit einer Quote berechnet.1611 Um diese Berechnung vornehmen zu können, fordert der Beirat eine Überprüfung der Rechtsnachfolge »aller in Betracht kommenden Personen«. Wird die Stellung »auch nur einer in Betracht kommenden Person nicht ausreichend geklärt, steht dies einer Übereignung entgegen«.1612 Den kon­ kreten Umfang der Überprüfung »aller in Betracht kommenden Personen« bestimmt der Beirat nicht, vielmehr schafft diese unbestimmte Vorgabe Raum für verschiedene Interpretationen: Zum einen kann sie im Sinne einer restriktiven Interpretation bedeuten, dass lediglich die Rechtsnachfolge von Todes wegen aller im Laufe der Ermittlung zumindest bekannt gewordenen, potenziellen Begünstigten zu prüfen sei. Nach dieser begrenzten Überprüfung könnte dann an die in diesem Umfang ermittelten Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen restituiert werden. Zum anderen ist eine extensive Interpretation möglich. Diese würde die Überprüfung sämtlicher, auch unbekannten, potenziellen Begünstigten erfordern. Eine Restitution wäre sodann nur bei absoluter Sicherheit dahingehend möglich, dass keine weiteren Personen als Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen in Betracht kommen. Aus der Empfehlungspraxis er­ schließt sich nicht vollends, welchen der beiden Maßstäbe das zuständige Bundesministerium der Bestimmung der Begünstigten zugrunde legt. Der Beirat erklärt jedoch bereits in seinem ersten Beschluss zur Sammlung Rothschild von 1999, dass »eine weitere Überprüfung […] nicht möglich« sei, obwohl sich der berechnete Anteil im Falle weiterer, noch unbekannter Kinder eines Rechtsnachfolgers reduzieren würde.1613 Diese Formulierung legt nahe, dass nach einer langen Suche im Sinne der restriktiven Interpretation im Einzelfall an die bekannten Personen restituiert wird, um eine Restitution nicht zu verunmöglichen. Aufgrund der Unsicherheiten bezüglich etwaiger, noch unbekannter und später auftretender Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen haben die ermittelten Begünstigten ohnehin umfassende Schad- und Klagloshaltungserklärungen abzugeben und gegenseitige Vollmachten zu erklären.1614

der Beirat, wenn vermutlich auch unbeabsichtigt, klar, dass auch juristische Personen Begünstigte der Übereignung sein können. 1609 So konnte etwa im Fall Robert Piowaty-Lang den Ausführungen der Kommission für Provenienzforschung zufolge eine Tierschutzorganisation begünstigt werden, s. Unterweger/Lichtenwagner, in: Network of Restitution Commitees (Hrsg.), Newsletter 12/2021, S. 25, 31. 1610 Beschl. zu Louis u. Clarice Rothschild v. 11.02.1999, S. 4; Beschl. zu Erich Lederer v. 10.05.1999, S. 4; Beschl. zu Elizabeth Bondy v. 27.10.1999, S. 3; Beschl. zu Anton Lanckoronski v. 27.10.1999, S. 3; Beschl. zu Marie Wooster v. 27.10.1999, S. 2 f. 1611 Beschl. zu Erich Lederer v. 10.05.1999, S. 2. Dies erinnert an die Regelung im Rückstellungsrecht, wonach die Erbberechtigten nur zur Geltendmachung ihres der Erbteilquote entsprechenden Miteigentumsanteils berechtigt waren, vgl. Heller et al., Wiedergutmachungsgesetze Nr. 2, 1947, S. 251. 1612 Beschl. zu Louis u. Clarice Rothschild v. 11.02.1999, S. 4. 1613 Beschl. zu Louis u. Clarice Rothschild v. 11.02.1999, S. 4 f. 1614 S. zur Ermittlung der Begünstigten unter § 5 B.III.2., S. 82.

317  B. Die Begünstigten der Übereignung

II. Der Nationalfonds als kollektiv Begünstigter Konnten die ursprünglichen Eigentümer:innen oder deren Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen nicht festgestellt werden, ermächtigt § 2 Abs. 1 Nr. 2 KRG den:die Bundesmi­nister:in zur Übereignung des Gegenstandes an den Nationalfonds zur Verwertung zugunsten Geschädigter des Nationalsozialismus. Diese »Auffangrechtsfolge« zugunsten aller Geschädigten wurde eingeführt, um den Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Begünstigten nach über 60 Jahren Rechnung zu tragen.1615 Da jedoch bei der »Mauerbach-Versteigerung«1616 vorschnell die Erblosigkeit von Kulturgütern angenommen wurde, bemüht sich das zuständige Bundesministerium gemeinsam mit der IKG Wien besonders um eine vollständige Ermittlung der heutigen Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen. Die Übergabe an den Nationalfonds zur Versteigerung ist daher in der Praxis stets ultima ratio.1617 So empfiehlt der Beirat eher eine erneute Überprüfung potenzieller ursprünglicher Eigentümer:innen als eine (voreilige) Übereignung an den Nationalfonds.1618 Zudem werden sämtliche restitutionsfähigen Objekte im Internet veröffentlicht, um eine voreilige Übereignung an den Nationalfonds zu verhindern.1619 Eine Frist für die Beendigung der Suche nach den Begünstigten und damit für eine Restitution an den Natio­ nalfonds ist aus denselben Gründen nicht vorgesehen.1620 Das KRG selbst schreibt nicht vor, unter welchen konkreten Voraussetzungen die Eigen­ tümer:innen oder deren Rechtsnachfolger:innen von Todes wegen im Sinne des KRG »nicht festgestellt werden können« und somit eine Verwertung durch den Nationalfonds erfolgen soll. Dem Beirat zufolge ist eine Übereignung an den Nationalfonds möglich, wenn »eine Feststellung der konkreten Geschädigten selbst bei einer weiteren Erschließung und Vernetzung des relevanten Archivmaterials ausgeschlossen«1621 erscheint. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Objekte keinen Eigentumsvermerk enthalten, sich auch aus anderen Quellen keine ­Hinweise auf die ursprünglichen Eigentümer:innen ergeben1622 und es sich um Massenware, etwa Bücher, handelt.1623 Entgegen dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 Nr. 2 KRG zeigt die Empfehlungspraxis also, dass de facto eine Übereignung an den Nationalfonds nur erfolgt, wenn sich bereits die ursprünglichen Eigentümer:innen nicht feststellen lassen. Die bloß erfolglose Ermittlung der heutigen Begünstigten scheint gerade nicht auszureichen. Daher bleibt auch unklar, wie mit einem Kulturgut verfahren wird, wenn sich etwa die ermittelten Begünstigten auf die Anfrage des zuständigen Ministeriums nicht zurückmelden. Gegenstand eines Beschlusses des Beirats mit empfohlener Übereignung an den Nationalfonds waren infolge dieser Reduktion der Vorschrift bisher lediglich Druckschriften aus der Österreichischen Nationalbibliothek, die einen Entziehungsvermerk enthielten, aber keinen

1615 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 5.

1616 S. zum historischen Hintergrund der »Mauerbach-Versteigerung« unter § 4 A.II., S. 34.

1617 Webseite der IKG Wien, abrufbar unter: http://www.restitution.or.at/schwerpunkte/s-kunst-mauerbachbestand.html. 1618 Beschlüsse zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 05.10.2016, S. 4.

1619 Lessing/Seidinger/Fritsch, KUR 2006, 8, 13; Seidinger et al., in: Anderl et al. (Hrsg.), Fälle, 2009, S. 246, 247.

1620 Kritisch offenbar Toman, in: Kräutler/Frodl (Hrsg.), Museum, 2004, S. 243, 253; Schnabel/Tatzkow, Nazi Looted Art, 2007,

S. 136.

1621 Beschlüsse zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 11.09.2009, S. 1, u. 15.05.2014, S. 3. 1622 Beschlüsse zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 15.05.2014, S. 3. 1623 Beschlüsse zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 11.09.2009, S. 1.

318  § 10  Die Übereignung an die Begünstigten als Abhilfemaßnahme

ursprünglichen Eigentümer:innen zugeordnet werden konnten.1624 Die ersten 8.363 Büchern aus der Österreichischen Nationalbibliothek wurden 2010 an den Nationalfonds übereignet und anschließend auf dessen Wunsch von der Nationalbibliothek zurückerworben.1625 Seitdem erfolgen regelmäßig Übereignungen von Druckschriften an den Nationalfonds, wenn sich die ursprünglichen Eigentümer:innen bei nachweislicher Entziehung nicht feststellen lassen.1626

III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien Die Washingtoner Prinzipien rufen dazu auf, für die Ansprüche von »Vorkriegseigentümer[n] und ihren Erben« eine »gerechte und faire Lösung« zu entwickeln. Maßgeblich scheint also auch hier eine erbrechtliche Zuordnung zu sein. Dies bestätigt sich durch einen Blick in die Literatur, die eine strikte Bestimmung der Begünstigten anhand des Erbrechts vorsieht, auch wenn dadurch Institutionen ebenso wie natürliche Personen bedacht werden könnten.1627 Dies entspricht auch der grundsätzlichen Wertung der Washingtoner Prinzipien, das nationale Recht als Mindestmaßstab der Privilegierung der Begünstigten zu betrachten.1628 Denn daraus folgt, dass die erbrechtlichen Anforderungen an die Ermittlung der Begünstigten nicht strenger sein dürfen als das nationale Erbrecht, aber über dieses hinausgehen können. Zunächst erscheint Prinzip Nr. 4 mit seinen Beweiserleichterungen als Unterstützung bei der Begünstigtenermittlung dienen zu können, indem es auch die erbrechtlichen Beweisanforderungen verringert. Doch begrenzt sich der Wortlaut von Prinzip Nr. 4 allein auf »Lücken und Unklarheiten in Fragen der Herkunft« und nimmt gerade nicht Bezug auf die mehrfach erwähnten »Erben«. Es ist daher durchaus anzunehmen, dass die Washingtoner Prinzipien die Beweisanforderungen des Erbrechts als ausreichend für eine »gerechte und faire Lösung« erachten. Es wird somit eher eine lange Suche nach den Begünstigten als eine voreilige Restitution in Kauf genommen – andernfalls würde auch der Umgang mit konkurrierenden potenziellen Begünstigten erheblich erschwert. Zugleich sollten die Anforderungen zur Feststellung komplexer Rechtsnachfolgen nicht einer »gerechten und fairen Lösung« entgegenstehen. Entsprechende Haftungsvereinbarungen, die zum einen eine Stagnation des Verfahrens zulasten der bereits ermittelten Begünstigten, zum anderen eine spätere, erneute Forderung an das Museum nach einer »gerechten und fairen Lösung« verhindern, werden daher als geeigneter Lösungsansatz betrachtet.1629 Fehl am Platz erscheinen in diesem Lichte Stimmen, die über die Beweisanforderungen an die formale Erbberechtigung hinaus eine Nähebeziehung zu den ursprünglichen Eigentümer:innen für beachtlich halten.1630 Diese erhöhten Anforderungen an eine Begünstigung sind indes gerade aufgrund der ausdrücklichen Begrenzung des Wortlauts der Prinzipien auf »Erben« nicht anzu-

1624 Beschlüsse zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 11.09.2009, S. 1, 15.05.2014, S. 3, 05.10.2016, S. 4, u. 06.03.2020, S. 1. 1625 Kulturbericht 2010, S. 269.

1626 Beschlüsse zu verschiedenen Eigentümer:innen v. 11.09.2009, 15.04.2014, 05.10.2016, 06.03.2020 u. 29.06.2021.

1627 Masurovsky, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 784, 790; Franz/Kesting, in: DZK (Hrsg.), Leitfaden,

2019, S. 103, 105 ff.

1628 Zum nationalen Recht als Mindeststandard s. unter § 4 B.II.1., S. 42. 1629 Franz/Kesting, in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 103, 108 f.

1630 In diese Richtung: Raue, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Geschichte, 2007, S. 278, 298; Unfried, Un-

recht, 2014, S. 451; Hammerstein, in: Network of Restitution Commitees (Hrsg.), Newsletter 01/2021, S. 4 f.; Berking, KUR 2019, 179, 183. Dazu kritisch: O’Donnell, EJIL 2011, 49, 76; Veraart, Beyond Property, SSRN-ID 3524852, 2019, S. 5.

319  B. Die Begünstigten der Übereignung

nehmen und widersprechen ferner dem Anliegen der Washingtoner Prinzipien, eine vermögensrechtliche Wiederherstellung zu schaffen. Wenn die »Vorkriegseigentümer und ihre Erben« schließlich nicht ermittelt werden können, müssen nach Prinzip Nr. 9 gleichwohl die nötigen Schritte für eine »gerechte und faire Lösung« unternommen werden. Bereits auf der Washingtoner Konferenz und auch in den Entstehungsmaterialien der Theresienstädter Erklärung wurde deutlich, dass als »gerechte und faire Lösung« eine Verwertung der Kulturgüter zugunsten der Geschädigten des Holocaust wirken kann, wenn die »Vorkriegseigentümer und ihre Erben« nicht identifizierbar sind. Ebenso wird aber eine gelegentliche Verwendung für historische Bildungsarbeit in Museen vorgeschlagen, zu diesem Zwecke wird also ein Verbleib im Museum als zulässig erachtet.1631 In der Literatur wird die Verwertung zugunsten eines Geschädigtenfonds aufgegriffen. Dabei liegt der Fokus oftmals allein auf dem Holocaust, nicht aber auf den gesamten nationalsozialistischen Verfol­gungsmaßnahmen,1632 obwohl deren Beachtung in der Theresienstädter Erklärung ausdrücklich gefordert wird. Vereinzelt wird auch die Verwertung durch einen Fonds mit Blick auf die Publizitätsfunktion von Kulturgütern kritisiert: Indem ein Verkauf nicht zuzuordnender Kulturgüter erfolgt, würden diese oftmals der Öffentlichkeit entzogen.1633 Dazu ist auf die Ausführungen zum Verhältnis von Publizitätsfunktion und Rückgabe entzogener Kulturgüter zu verweisen.1634 Im Kontext der Washingtoner Prinzipien wurde die österreichische Praxis bereits ausdrücklich für das Subsidiaritätsverhältnis zwischen individueller und kollektiver Restitution gelobt.1635 Es entspricht auch dem Grundgedanken der Washingtoner Prinzipien vom nationalen Recht als Mindeststandard, wenn das österreichische Erbrecht als maßgeblich für die individuelle Restitution betrachtet wird. Es ist daher positiv hervorzuheben, dass die Nähebeziehung der potenziellen Begünstigten zu den ursprünglichen Eigentümer:innen – im Gegensatz zum österreichischen Nachkriegsrecht – heute keine Rolle mehr spielt. Außerdem würde ein solches zusätzliches Erfordernis heutzutage eine noch erheblichere Einschränkung als in der Nachkriegszeit darstellen, da sich mit dem Zeitablauf seit Kriegsende die Wahrscheinlichkeit einer Nähebeziehung stetig verringert. Gleichwohl kann nicht geleugnet werden, dass bereits das nationale Erbrecht sehr hohe Anforderungen an den Nachweis der Erb:innenstellung stellt. Diese werden insbesondere virulent, wenn unbekannt ist, ob noch weitere Begünstigte in Betracht kommen. Trotz marginaler, verbleibender Unsicherheiten erscheint aber eine Restitution geboten, wenn nach mehrjähriger Nachforschung gesichert Begünstigte ermittelt werden konnten. Andernfalls würde aufgrund der verfolgungsbedingt weltweiten Verteilung der Familien eine Restitution in den meisten Fällen verunmöglicht und zudem eine Überlastung der Kapazitäten des ermittelnden Staates drohen. Das Schicksal der Geschädigten darf nicht mittelbar zu einer heutigen und damit nochmaligen Aufschiebung der Restitution an deren Rechts­nachfolger:innen von Todes wegen führen, soweit eine langjährige und umfassende Nachforschung erfolgt ist – zumal in Öster1631 Eizenstat, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 68, 76; Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings

Terezin, o. J., S. 721, 724; Masurovsky, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 784, 791; Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 74. 1632 Schnabel/Tatzkow, Nazi Looted Art, 2007, S. 195; Raschèr, KUR 2009, 75, 77; O’Donnell, EJIL 2011, 49, 75 f.; Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 19, 35. 1633 Unfried, Unrecht, 2014, S. 453 f. 1634 S. zu diesem Verhältnis unter § 10 A.III., S. 310. 1635 Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 18; Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 74.

320  § 10  Die Übereignung an die Begünstigten als Abhilfemaßnahme

reich zur haftungsrechtlichen Absicherung ohnehin entsprechende Erklärungen vor der Übereignung ausgefüllt werden müssen. Das Lob der österreichischen Begünstigtenermittlung im Zusammenhang mit den Washing­ toner Prinzipien bezog sich insbesondere auf die Verwertung zugunsten des Nationalfonds bei Unmöglichkeit der Zuordnung, da so das entzogene Kulturgut jedenfalls nicht im Museum verbleibe.1636 Dabei ist zusätzlich positiv hervorzuheben, dass die Erlöse der Verwertung durch den Nationalfonds nicht nur zugunsten von Geschädigten des Holocaust, sondern auch von Geschädigten anderer Verfolgungsmaßnahmen verwendet werden, wie von der Theresienstädter Erklärung ausdrücklich verlangt. Die praktische Ausgestaltung dieser »Auffangrechtsfolge« ist jedoch kritischer zu betrachten, als das besagte Lob vermuten lässt. Denn ein Blick in die Empfehlungspraxis hat gezeigt, dass die »Auffangrechtsfolge« nur greift, wenn die damaligen Eigen­ tümer:innen nicht bestimmt werden konnten. Die Washingtoner Prinzipien rufen jedoch durch den Verweis auf »Vorkriegseigentümer und Erben« auch zu einer Verwertung zugunsten anderer Geschädigter auf, wenn erst die Ermittlung der heutigen Begünstigten unmöglich ist. Für diese Problematik scheint die österreichische Rückgabepraxis keinen formalisierten Umgang entwickelt zu haben, obwohl der Wortlaut des § 2 Abs. 1 Nr. 2 KRG auch in diesem Fall eine Übereignung an den Nationalfonds vorsieht. Es wäre daher im Lichte der Washingtoner Prinzipien geboten, die Norm auch für die erfolglose Ermittlung der heutigen Begünstigten zu »aktivieren«, da andernfalls entzogene Kulturgüter weiterhin in Bundeseigentum verbleiben würden. Die subsidiäre Ausprägung der Begünstigung durch das KRG entspricht daher den Vorgaben der Washingtoner Prinzipien, die Umsetzung ist jedoch vereinzelt noch verbesserungswürdig.

C. Hindernisse einer Übereignung des Kulturguts Wenn die Rückgabevoraussetzungen erfüllt und die Begünstigten ermittelt sind, scheint zunächst der Rückgabe nach dem KRG nichts mehr entgegenzustehen. Gerade bei Kulturgütern aus Museen werden jedoch oftmals Verfügungsmöglichkeiten eingeschränkt. So ist eine Verfügung des Bundes über die in seinem Eigentum stehenden Kulturgüter gemäß dem Bundesmuseen-Gesetz grundsätzlich nicht möglich. Nach § 5 Abs. 6 Bundesmuseen-Gesetz kann der Bund aber ausnahmsweise über ihm gehörende Kulturgüter aus den Bundesmuseen »zur Abwendung materieller Schäden oder aus zwingenden staatspolitischen Interessen« in vorheriger Absprache mit dem Museum verfügen. Die Verfügung über zur Restitution empfohlene Objekte wird möglich, da die Restitution als ein solches »zwingendes staatspolitisches Interesse« an­ gesehen wird.1637 Selbst bei Überwindung dieses Hindernisses könnten aber vertragliche, etwa Schenkungsauflagen, oder kulturgutschutzrechtliche Verfügungsbeschränkungen oftmals eine Restitution verhindern. Während das KRG mit § 4 für letztere eine eigene Vorschrift vorsieht, wird der Umgang mit vertraglichen Verfügungsbeschränkungen allein vom Beirat in seiner Emp­ fehlungspraxis konturiert. Die nachfolgende Untersuchung der Übereignungshindernisse ist zuletzt im Lichte der Washingtoner Prinzipien zu bewerten. 1636 Ebenda.

1637 Öhlinger, Museen, 2008, S. 42 f.

321  C. Hindernisse einer Übereignung des Kulturguts

I. Vertragliche Verfügungsbeschränkungen Viele unentgeltliche Überlassungen vollständiger Sammlungen an Museen enthalten vertragliche Verfügungsbeschränkungen beziehungsweise Erhaltungspflichten der Museen hinsichtlich des Sammlungsbestandes. Diese vertraglichen Vorgaben können im Falle einer Restitutionsempfehlung in Konflikt mit der Zielsetzung des KRG treten.1638 Der Beirat hat sich bisher nur in einem Beschluss, dem Beschluss zu Jenny Steiner, mit einer vertraglichen Verfügungsbeschränkung aus der Nachkriegszeit auseinandersetzen müssen. Der als ›Jude‹ definierten Jenny Steiner wurde das verfahrensgegenständliche Kulturgut entzogen. Durch eine Schenkung auf den Todesfall wurde es 1978 der Österreichischen Galerie Belvedere mit der Auflage übertragen, »dass das Bild seitens der Österreichischen Galerie nicht verkauft und nur in Wien ausgestellt werden darf«. Durch den Schenkungsvertrag hat sich der Bund zur Einhaltung der Auflage gegenüber der Vertragspartnerin verpflichtet. Bei Verletzung dieser vertraglichen Pflicht drohen ihm also Schadensersatzansprüche. Leider ist der entscheidende Satz der Argumentation in diesem Beschluss offensichtlich nicht vollständig.1639 Die Begründung kann daher nur aus den vorhandenen Bausteinen abgeleitet werden. Diesen zufolge erkennt der Beirat im vorliegenden Fall, dass die Auflage nur das Verbot eines Verkaufs des Bildes erfasse und damit einer unentgeltlichen Übereignung nach dem KRG nicht entgegenstehe. Wie der Beirat die örtliche Begrenzung der Ausstellungsverpflichtung auf Wien bewertet, lässt sich den Bausteinen leider nicht entnehmen. An einer allgemeinen Stellungnahme zum Verhältnis von vertraglicher Verfügungsbeschränkung und Rückgabe nach dem KRG hindert ihn dies jedoch nicht: Dem Beirat zufolge sei nämlich »die Intention des Rückgabegesetzes […] höher zu gewichten als diese seinerzeit vom Bund […] übernommene Verpflichtung«.1640 Diese Wertung des Beirats zeigt, dass vertragliche Verfügungsbeschränkungen mit den Erwerber:innen entzogener Objekte hinter dem Zweck des KRG zurücktreten, obgleich sich der Bund damit schadensersatzpflichtig macht. Es ist nicht bekannt, ob von der Schenkerin oder ihren Rechtsnachfolger:innen Schadensersatzansprüche gegen den Bund erhoben wurden.

II. Kulturgutschutzrechtliche Verfügungsbeschränkungen Der Kulturgutschutz wird in Österreich im unter die Gesetzgebungskompetenz des Bundes fallenden Denkmalschutzrecht geregelt.1641 Gemäß § 6 in Verbindung mit §§ 16 ff. Denkmalschutzgesetz sind die freiwillige Veräußerung sowie die Ausfuhr von Denkmalen untersagt. Selbstverständlich sind nicht sämtliche restituierten Objekte als Denkmale im Sinne des Denk-

1638 Vgl. Stellungnahme Bundesfinanzministerium zu ME v. 28.08.2008, 8/SN-214/ME XXIII. GP, S. 4.

1639 »Der Wortlaut des Punktes 4 des Notariatsaktes verbietet zwar nur einen Verkauf des Bildes, steht somit einer (unentgeltli-

chen) Rückgabe nicht im Wege, die Verpflichtung, das Bild nur in Wien auszustellen.«, Beschl. zu Jenny Steiner 10.10.2000, S. 2 f. 1640 Beschl. zu Jenny Steiner 10.10.2000, S. 2 f. (der Beirat hat sich hier offenbar verschrieben, es müsste »vom Beirat nicht empfohlen« heißen). 1641 Ausführliche Erläuterungen zum KRG im Lichte des Denkmalschutzes finden sich neuerdings bei Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 209 ff.

322  § 10  Die Übereignung an die Begünstigten als Abhilfemaßnahme

malschutzgesetz einzuordnen,1642 doch wird bei Objekten im Bundeseigentum – also allen vom Wortlaut des KRG erfassten Kulturgütern – nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 Denkmalschutzgesetz das für einen Denkmalschutz erforderliche öffentliche Interesse an der Erhaltung vermutet.1643 Im Falle einer bestehenden denkmalschutzrechtlichen Anknüpfung der restituierten Objekte dürften diese demnach weder von den Begünstigten verkauft noch ausgeführt werden; dabei wendet das Bundesdenkmalamt offenbar einen strengen Maßstab an.1644 Viele der Begünstigten leben aber im Ausland oder müssen die Objekte zur Kostendeckung des Verfahrens verkaufen, sodass ihre Eigentumsrechte durch das Denkmalschutzrecht erheblich beschränkt würden. Insbesondere in Ansehung der inflationären Anwendung von Ausfuhrverboten in der Nach­ kriegszeit zum Erhalt der Kulturgüter für österreichische Museen1645 will der österreichische Staat einer Restitution jedoch nicht erneut Schranken setzen, wie er in den Gesetzesmaterialien des KRG ausdrücklich betont.1646 Dieses reagiert darauf mit einer bereits aus dem Zweiten Kunst- und Kulturgutbereinigungsgesetz bekannten Ausnahme:1647 Gemäß § 4 Abs. 1 KRG als »leges fugitivae«1648 finden die Bestimmungen des Denkmalschutzgesetzes über die freiwillige Veräußerung und Verbringung ins Ausland keine Anwendung auf nach dem KRG übereignete Kulturgüter.1649 Die Legislative hat die Ausnahme von kulturgutschutzrechtlichen Beschränkungen mithin nicht im Denkmalschutzgesetz selbst, sondern im KRG geregelt.1650 Die Ausnahme gilt seit der Novelle gemäß § 4 KRG für 25 Jahre ab Übereignung, während § 4 KRG a.F. nur eine Aussetzung für 25 Jahre ab Inkrafttreten des Gesetzes im Dezember 1998 vorsah. Diese zeitliche Einschränkung im KRG a.F. war der Prämisse der Anfangszeit geschuldet, dass die Kulturgüterrückgabe nach 25 Jahren längstens abgeschlossen sei.1651 Durch das Abstellen auf das Inkrafttreten des Gesetzes wären die Vorschriften des Denkmalschutzgesetz aber nur bis Dezember 2023 unanwendbar gewesen. Im Zuge der Novelle wurde somit der Anwendungsbereich der Ausnahme vom Kulturgutschutzrecht so angepasst, dass alle Begünstigten über dieselbe Frist für eine Ausfuhr und Veräußerung verfügen.1652 Mit der Novelle wurde zudem der sachliche Anwendungsbereich der Ausnahme vom Kulturgutschutzrecht erheblich erweitert.1653 Nach § 4 KRG a.F. bestand die Ausnahme nur für

1642 S. zum Begriff des Denkmals im Verhältnis zum Begriff des Kulturguts unter § 6 B.I., S. 97.

1643 Bazil, Rechtsfragen, 2001, S. 87 ff.; Bazil et al., Denkmalschutzrecht, 2. Aufl. 2015, § 2 Rn. 1 ff. 1644 So Ploil, Parnass 04/2006, 12, 12 f.

1645 S. zum historischen Hintergrund zur Anwendung des Ausfuhrverbotsgesetzes unter § 6 A.I., S. 92.

1646 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 5; Restitutionsbericht 2002/2003, S. 9; Blimlinger/

Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, 210.

1647 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 1390, XX. GP, S. 5; Beilagen Stenografische Protokolle des National-

rats Nr. 238, XXIV. GP, S. 3; Haslinger, in: Brückler (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 39, 51; Graf, Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 480 ff. 1648 Blimlinger/Jabloner, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 203, 210; vgl. Stellungnahme Bundeskanzleramt zum Ministerialentwurf v. 28.08.2008, 7/SN-214/ME XXIII. GP, S. 4. 1649 Kritisch wegen Benachteiligung anderer ausfuhrwilliger Eigentümer:innen: Wortmeldung Krüger bei der 146. Sitzung des Nationalrats am 05.11.1998, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XX. GP, S. 44 ff.; Wortmeldung Böhm bei der 646. Sitzung des Bundesrats am 19.11.1998, Stenografische Protokolle des Bundesrats, S. 63; Stellungnahme Kärnten zum Ministerialentwurf v. 27.08.2008, 11/SN-214/ME XXIII. GP, S. 2. 1650 Wieshaider, Denkmalschutzrecht, 2002, S. 39; Cwitkovits/Huda, in: Redmond-Cooper (Hrsg.), Museums, 2021, S. 134, 138. Kritisch: Stellungnahme Bundeskanzleramt zum Ministerialentwurf v. 28.08.2008, 7/SN-214/ME XXIII. GP, S. 4 f. 1651 Kulturbericht 2009, S. 224. 1652 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 2 ff. Kritisch: Wortmeldung Unterreiner bei der 40. Sitzung des Nationalrats am 21.10.2009, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XXIV. GP, S. 89. 1653 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 1 ff.

323  C. Hindernisse einer Übereignung des Kulturguts

Restitutionen auf Grundlage des KRG. Restitutionen aufgrund anderer Vorschriften, etwa auf Landes- oder Kommunalebene, waren jedoch nicht erfasst. Durch die Novelle sollte dann eine Gleichbehandlung der aufgrund unterschiedlicher Rechtsgrundlagen restituierten Gegenstände erreicht werden, da Länder und Kommunen im Laufe der Zeit mit dem KRG vergleichbare Vorschriften geschaffen hatten.1654 Nach § 4 Abs. 2 KRG gilt nun die Ausnahme nicht mehr nur für »nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes«, also gemäß dem KRG, restituierte Objekte, sondern ebenso für »bewegliches Kulturgut, das auf Grund eines Landesgesetzes oder auf Grund eines sonstigen Beschlusses eines Organs einer Gebietskörperschaft unter diesem Bundesgesetz gleichzuhaltenden Voraussetzungen übereignet wird«. Erfolgt die Restitution also auf Grundlage von mit dem KRG vergleichbaren Vorschriften einer Kommune oder eines Landes,1655 greift auch hier die Ausnahme des KRG vom Denkmalschutzgesetz, obwohl die Restitution nicht auf Grundlage des KRG erfolgte.1656 Die Ausnahme gilt dementsprechend aber nicht, wenn der Beirat feststellt, dass die Kultur­ gütern noch im Eigentum der damaligen Eigentümer:innen stehen. Einer sich dann nach dem Sachenrecht richtenden Herausgabe kann daher weiterhin die fehlende Ausfuhrgenehmigung des Bundesdenkmalsamts entgegenstehen.1657 Da diese Ausnahme freilich ebenso wenig auf Private anwendbar ist, sind bisher insbesondere die aus der Leopold Museum Privatstiftung restituierten Kulturgüter nicht unter die Ausnahme von kulturgutschutzrechtlichen Hindernissen gefallen. Fraglich ist nun, ob dies infolge der Inkorporierung der Leopold Museum Privatstiftung in die Empfehlungspraxis des Beirats seit November 2020 anders zu beurteilen ist; entsprechende Fälle sind noch nicht bekannt. Da es sich bei der Leopold Museum P ­ rivatstiftung nicht um eine Gebietskörperschaft handelt, kann eine Ausnahme von kulturgutschutzrechtlichen Beschränkungen kaum auf § 4 Abs. 2 KRG gestützt werden. Unter Bezug auf die Geschäftsordnung des Beirats ließe sich auf der einen Seite aber für eine Anwendung der Ausnahme aus § 4 Abs. 1 KRG auch auf Kulturgüter der Privatstiftung argumentieren: Dem Wortlaut der Geschäftsordnung zufolge wird zwar nicht auf Grundlage des KRG restituiert, jedoch berät der Beirat laut der Geschäftsordnung die Stiftung nach § 1 KRG bei der Restitutionsentscheidung. Dementsprechend ließe sich § 4 Abs. 1 KRG bei einer weiten Auslegung auf die Leopold Museum Privatstiftung übertragen, wenn die Formulierung »nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes übereignet« so verstanden wird, dass die Bestimmungen des KRG maßgeblich für die Übereignung sein müssen. Auf der anderen Seite verweist die Geschäftsordnung nur auf § 1 KRG, möglicherweise wurden die anderen Vorschriften also bewusst ausgespart. Es bleibt daher der Umgang der Leopold Museum Privatstiftung mit dem ersten sie betreffenden Beschluss des Beirats abzuwarten.

1654 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 1. Kritisch: Wortmeldung Unterreiner bei der

40. Sitzung des Nationalrats am 21.10.2009, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XXIV. GP, S. 89; Stellungnahme Kärnten zum Ministerialentwurf v. 27.08.2008, 11/SN-214/ME XXIII. GP, S. 3. 1655 Die Restitutionsregelungen der Länder und Kommunen sind gebündelt abrufbar unter: https://www.kunstdatenbank.at/gesetze. Dazu ausführlich jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 232. 1656 Beilagen Stenografische Protokolle des Nationalrats Nr. 238, XXIV. GP, S. 1 ff.; Kulturbericht 2009, S. 224; dazu in Teilen kritisch jüngst Fitz, Kunstrückgabegesetz, 2022, S. 218. 1657 Beschl. zu Rudolf Gutmann v. 22.06.2004, S. 3.

324  § 10  Die Übereignung an die Begünstigten als Abhilfemaßnahme

III. Bewertung im Lichte der Washingtoner Prinzipien Die Washingtoner Prinzipien selbst enthalten keine Anhaltspunkte zu Verfügungsbeschränkungen, wenngleich die Ausführungen der österreichischen Delegation bereits auf die Ausnahmen von kulturgutschützenden Bestimmungen im KRG verwiesen.1658 Erst den Entstehungsmaterialien der Theresienstädter Erklärung sind ausführliche Stellungnahmen zu entnehmen. Dort besteht ein Konsens dahingehend, dass weder kulturgutschutz- noch museumsrechtliche Hindernisse einer Rückgabe entgegenstehen dürfen.1659 In ihrer Rezeption herrscht hinsichtlich dieser beiden genannten Hindernisse ebenfalls Einigkeit,1660 doch wird teils für eine Beachtung von vertragsrechtlichen Verfügungsbeschränkungen plädiert. So wird ein als Schenkung auf den Todesfall unter Auflage vereinbartes Verkaufsverbot – also exakt der vom Beirat entschiedene Fall – teils als Restitutionsverbot ausgelegt. Denn die Zuwendenden hätten mit der Auflage verhindern wollen, dass das von der Auflage erfasste Kulturgut aus der in ihrer Geschlossenheit dem Museum überlassenen Sammlung ausgeschieden wird. Auch widerspreche eine Rückgabe den Interessen des Museums, das zumeist eine dauerhafte Erweiterung, zumindest aber einen Erhalt, der eigenen Sammlung anstrebe.1661 Dem ist zu entgegnen, dass insbesonde­re nach Abschluss der Restitutions- und Entschädigungsmaßnahmen der Nachkriegszeit nicht davon auszugehen ist, dass sich der in dem Verfügungsverbot liegende Wille auch auf den Fall der Restitution von entzogenen Kulturgütern beziehen soll, da diese Debatte als »abgeschlossen« galt, also nicht in die Vereinbarung miteinbezogen wurde. Daneben lässt sich Museen auch mit Blick auf die eigene Reputation innerhalb der politischen Debatte durchaus ein Interesse attestieren, keine entzogenen Kulturgüter zu halten.1662 Bei der Untersuchung der Empfehlungspraxis des Beirats auf Grundlage des KRG zeichnet sich bezüglich der Verfügungsbeschränkungen ein durchaus positives Bild im Lichte der Washingtoner Prinzipien ab. Auf der Washingtoner Konferenz wurde von der österreichischen Delegation zwar die Funktion von Kulturgütern als »wichtiger Bestandteil der nationalen Erinnerung« betont.1663 Daraus scheint auf legislativer Ebene jedoch kein verstärkter Bedarf nach Kulturgutschutz abgeleitet worden zu sein.1664 Vielmehr entspricht die gesetzliche Ausnahme von kulturgutschutzrechtlichen Verfügungsbeschränkungen den zum Ausdruck gekommenen Bestrebungen der Washingtoner Prinzipien, kulturgutschutzrechtliche Verfügungsbeschränkungen nicht zur Anwendung bringen zu wollen. Die Ausnahme erscheint zudem in Österreich angesichts der missbräuchlichen Anwendungen von Ausfuhrregelungen in der Nachkriegszeit 1658 Bacher, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 553, 556.

1659 Expert Conclusions, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 35–52, 46 f.; Eizenstat, in: Schneider et al. (Hrsg.),

Proceedings Terezin, o. J., S. 68, 76; Bindenagel, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 721, 737; Heuberger, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 941, 947. Nur bei Schultz findet sich eine Tendenz, die Bedeutung der Kulturgüter für die nationale Identität besonders herauszustellen, s. Schultz, Holocaust, in: FAZ v. 10.01.2007. 1660 Rowland/Schink/Studzinski, KUR 2008, 148, 150; Heuberger, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Verantwortung, 2009, S. 413, 420; Woodhead, AAL 2013, 167, 172; Bindenagel, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Treuhänderische Übernahme, 2018, S. 19, 35; Eizenstat, Washington Principles. Vortrag DZK, 2018, S. 15; Eizenstat, Art, in: Washington Post Online v. 02.01.2019; Eizenstat, in: CIVS (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 2019, S. 65, 73; Franz/Kesting, in: DZK (Hrsg.), Leitfaden, 2019, S. 103, 110; wohl auch Lahusen, KUR 2022, 91, 95. 1661 Finkenauer, KUR 2021, 134, 135. 1662 Vgl. Woodhead, Int. J. Cult. Prop. 2014, 113, 116 ff. 1663 Rathkolb, in: Government Printing Office (Hrsg.), Proceedings Washington, 1999, S. 485, 497. 1664 Kritisch auf die identitätsstiftende Funktion österreichischer Kulturgüter verweisend Wilhelm, ecolex 2010, 213, 213.

325  C. Hindernisse einer Übereignung des Kulturguts

besonders geboten, um auch mit Blick auf die spezifischen nationalen Begebenheiten – zur deren Berücksichtigung die Washingtoner Prinzipien ausdrücklich aufrufen – eine »gerechte und faire Lösung« zu erreichen. Zu den nationalen Besonderheiten gehört in Österreich auch die maßgeblich vom Bund finanzierte Leopold Museum Privatstiftung, deren Fälle seit Kurzem auch vom Beirat beurteilt werden. Ein konsequentes Bekenntnis zum Auftrag der Washingtoner Prinzipien müsste eine Ausweitung der Ausnahmen von kulturgutschutzrechtlichen Verfügungsbeschränkungen auch für die Leopold Museum Privatstiftung vorsehen. Mit Blick auf die museumsrechtlichen Hindernisse ist es ebenfalls zu begrüßen, dass die Rückgabe entzogener Kulturgüter aus staatlichen Museen als »zwingendes staatspolitisches Interesse« Österreichs verstanden wird. Damit bekennt sich der österreichische Staat besonders zum Ziel der Washingtoner Prinzipien und ebnet den Weg für eine unkomplizierte Aussonderung aus den Museumssammlungen. Obwohl in der Literatur die bewusste Verletzung vertragsrechtlicher Verfügungshindernisse kritisch betrachtet wird, erscheint die Praxis des Beirats auch in dieser Hinsicht noch als »gerechte und faire Lösung«. Dies wird auch dadurch unterstützt, dass es sich um Bundesmuseen handelt und der Bund die Rückgabe entzogener Kulturgüter als »zwingendes staatspolitisches Interesse« betrachtet. Die österreichischen Bundesmuseen sind somit nicht nur an der Erweiterung und am Erhalt der eigenen Sammlungen, sondern auch explizit an der Restitution entzogener Kulturgüter interessiert. Es ist jedoch anzuerkennen, dass der Bund im Falle einer Rückgabe trotz Verfügungsverbot einen Vertragsbruch begeht, dessen Konsequenzen im Falle einer Klage zu tragen sind. Gegenüber der Vertragspartei darf sich der Bund dann also nicht auf die Rückgabe als »zwingendes staatspolitisches Interesse« berufen, sondern muss die damit einhergehenden Schadensersatzansprüche zugunsten einer »gerechten und fairen Lösung« in Kauf nehmen. Wenn die Schenkung jedoch nach Inkrafttreten des KRG 1998 erfolgte, ließe sich durchaus vertreten, eine Schadensersatzpflicht auszuschließen, da die Zuwendenden hätten wissen müssen, dass ein »zwingendes staatspolitisches Interesse« mit ihrer Auflage konfligiert.

326  § 10  Die Übereignung an die Begünstigten als Abhilfemaßnahme

§ 11  Schluss: Die gesetzliche Ausgestaltung als »gerechte und faire Lösung«?

Beruhend auf der vorstehenden, umfassenden Untersuchung der Empfehlungspraxis des Beirats ist nun in einer Gesamtschau zu fragen, ob die gesetzliche Ausgestaltung der Kulturgüterrestitution in Österreich als »gerechte und faire Lösung« betrachtet werden kann. In der Diskus­ sion um die Washingtoner Prinzipien spielt der immer wieder gebildete Dualismus von »Moral und Recht« eine entscheidende Rolle.1665 Die nachfolgenden Ausführungen sollen zunächst aufzeigen, dass dieser Dualismus jedenfalls außerhalb rechtsphilosophischer Abhandlungen nicht aufrechterhalten werden muss, sondern die moralische Forderung der Washingtoner Prinzipien nach einer »gerechten und fairen Lösung« vielmehr durch rechtsförmige Verfahren und Vorgaben eingelöst werden sollte.1666 Diese These wird anschließend mit einem Überblick über die entscheidenden normativen Wertungen des Beirates unterstrichen. Zuletzt sind diese Erkenntnisse auf die Debatte über ein Äquivalent zum Kunstrückgabegesetz in Deutschland zu übertragen. Die österreichische Lösung verkörpert die erwähnte Verschmelzung von Recht und Moral geradezu paradigmatisch und soll daher an dieser Stelle als Illustration der These dienen, dass eine Beibehaltung des Dualismus besonders im Kontext der Kulturgüterrestitution nicht weiter­ führt. Zwar wird dieser Dualismus in der öffentlichen Debatte in Österreich durchaus betont, wenn dem Beirat bisweilen »zu wenig«1667 und bisweilen »zu viel«1668 Moral bei der Anwendung des KRG vorgeworfen wird. Bereits im Gesetzgebungsverfahren wurde aber von der zustän­ digen Ministerin darauf verwiesen, dass es mit dem KRG nun eine »gesetzliche Grundlage zur Rückgabe von Kunstgütern gibt, auf welche die Besitzer einen moralischen Anspruch ha­

1665 Vgl. Wolthers, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 212, 213 f.; Masurovsky, in: Schneider et al. (Hrsg.),

Proceedings Terezin, o. J., S. 784, 791; Nicholas, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 819, 820; Heuberger, in: Schneider et al. (Hrsg.), Proceedings Terezin, o. J., S. 941, 947; Raschèr, KUR 2009, 75, 77; Eberl, KUR 2009, 155, 157; De Girolamo, Int. J. Cult. Prop. 2019, 357, 357 ff.; Schönberger, Was heilt Kunst?, 2019, S. 211; Franz, KUR 2021, 44, 44 f.; Lahusen/­ Vietzen, in: Network of Restitution Commitees (Hrsg.), Newsletter 05/2022, S. 5, 6 f.; Lahusen, KUR 2022, 91, 95. 1666 Vgl. in diese Richtung auch Heuer, NJW 1999, 2558, 2559; Toman, in: Kräutler/Frodl (Hrsg.), Museum, 2004, S. 243, 246; von Selle/von Selle, osteuropa 2009, 131, 133; Palmer, AAL 2007, 1, 8 ff.; Jayme, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Zwielicht, 2007, S. 257, 257 ff.; Müller-Chen, Kunstrecht, 2010, S. 131 f.; Woodhead, Int. J. Cult. Prop. 2015, 229, 231; Zeidler, Restitution, 2016, S. 107 ff.; Papier, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 79, 79; Weller, in: FS Dreier, 2022, S. 525, 531. 1667 Vgl. etwa Nowotny: »Ich halte es für verwerflich, dass man die Absicht des Kunstrückgabegesetzes in sein Gegenteil verkehren, und […] formalem Recht Vorrang vor der Moral und ethischer Verantwortung einräumen will.«, s. Nowotny, Klimt-Fries, in: Der Standard Online v. 26.02.2015; ähnlich Schellen, Raubkunst, in: taz v. 23.02.2002, S. 26. 1668 In diese Richtung zumindest Unfried, Unrecht, 2014, S. 440 ff.; Kallir, Fries, in: Der Standard Online v. 04.03.2015.

327 

ben.«1669 Der Bezug auf den moralischen Anspruch diente vermutlich vor allem der Abgrenzung von einem Rechtanspruch auf Rückgabe – gleichwohl illustriert diese Aussage nachdrücklich die gesetzliche Ausgestaltung moralischer Anliegen im KRG. In dieselbe Richtung weist die Ankündigung des Leiters der Kommission für Provenienzforschung von 1999, wonach das KRG »dort fortsetzen bzw. wiederaufgreifen [solle], wo eine moralische Beurteilung aus heutiger Sicht dies nahelegt und rechtfertigt«1670. Es wurde also in den Anfängen des KRG explizit auf seinen in Gesetzesform gegossenen, moralischen Auftrag hingewiesen. Einmal in Gesetzesform gegossen, können jedoch darüber hinausgehende moralische Erwägungen, die nicht durch Auslegung oder Rechtsfortbildung integrierbar sind, dem Beirat zu­ folge keine Berücksichtigung mehr finden: So führt er im Beschluss zu Alma Mahler-Werfel aus, dass er den von der potenziellen Begünstigten »vorgebrachten Argumenten aus historischen und moralischen Erwägungen volles Verständnis entgegen [bringe], [….] sich aber aufgrund der eindeutigen und klaren Rechtslage außerstande« sehe, die Rückgabe des verfahrensgegenständlichen Gemäldes zu empfehlen.1671 Der »Guss der Moral« in Gesetzesform steht einer »gerechten und fairen Lösung« demnach zwar nicht entgegen. Entscheidend ist jedoch, ob die in das KRG – auch in seiner Auslegung und Rechtsfortbildung durch den Beirat – gegossenen, moralischen Erwägungen in einer Gesamtschau der diesem Schluss vorangegangenen Untersuchung eine »gerechte und faire Lösung« im Sinne der Washingtoner Prinzipien darstellen.

A. Ergebnisse für das Kunstrückgabegesetz in Österreich Den Grundstein für die Bewertung der Empfehlungspraxis des Beirats im Lichte der Washingtoner Prinzipien legte ein Überblick über die Historie und die Rechtsgrundlagen der Kulturgüterrestitution, namentlich die Washingtoner Prinzipien und das österreichische KRG (§ 4). Die in diesem Rahmen skizzierte Konzeption des KRG als Selbstbindungsgesetz und damit als Teil der Privatwirtschaftsverwaltung des österreichischen Bundes war in den nachfolgenden Kapiteln regelmäßiger Bezugspunkt. Besondere Bedeutung erlangte diese Konzeption bereits im Zuge der Untersuchung des Verfahrens: Wenngleich das amtswegige Verfahren und die systematische Provenienzforschung in besonderem Maße dem Auftrag der Washingtoner Prinzipien gerecht werden, weist das Verfahren erhebliche Defizite auf. Insbesondere ist hier auf die fehlende Beteiligung der potenziellen Begünstigten sowie die mangelnde Überprüfbarkeit der Empfehlungen des Beirats und der ministerialen Entscheidungen zu verweisen (§ 5 A.III., B.I.3., B.II.2., B.III.4. und B.IV.2.). Im Rahmen der materiellen Wertungen der Empfehlungspraxis wurde zunächst herausgearbeitet, dass der Beirat eine stark institutionell geprägte Perspektive auf Kulturgüter einnimmt. Diese verfügt aber im österreichischen Kontext über einen äußerst weiten Anwendungsbereich und entspricht damit dem extensiven Verständnis der Washingtoner Prinzipien von Kulturgütern (§ 6 B.II.). Ebenso wenig ist im Lichte der Washingtoner Prinzipien zu beanstanden, dass das KRG grundsätzlich nur auf in Bundeseigentum stehende Kulturgüter be1669 Wortmeldung Gehrer bei der 146. Sitzung des Nationalrats am 05.11.1998, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XX.

GP, S. 55; ähnlich auch Wortmeldung Kier bei der 146. Sitzung des Nationalrats am 05.11.1998, Stenografische Protokolle des Nationalrats, XX. GP, S. 62. 1670 Bacher, in: Brückler (Hrsg.), Kunstraub, 1999, S. 7, 7. 1671 Beschl. zu Alma Mahler-Werfel v. 27.10.1999, S. 1.

328  § 11  Schluss: Die gesetzliche Ausgestaltung als »gerechte und faire Lösung«?

grenzt ist und sich nur in Ausnahmefällen andere Institutionen der Empfehlungspraxis des Beirats unterwerfen können. Denn die Washingtoner Prinzipien dienen als unbedingte Leitlinien für Kulturgüter in öffentlichem Eigentum, sollen aber zugleich private Eigentümer:innen zur Entwicklung einer »gerechten und fairen Lösung« ermutigen (§ 6 C.III.). Die Untersuchung der Tatbestandsvoraussetzung der Entziehung illustrierte, dass ein reflektierter Rekurs auf das Nachkriegsrecht ein entscheidender Bestandteil einer »gerechten und fairen Lösung« ist. Dies zeigte sich bereits bei der Bestimmung des örtlichen und zeitlichen Rahmens der Entziehung. Durch eine Erweiterung des Entziehungsbegriffs aus dem Nachkriegs­recht erfasst der Beirat ganz im Sinne der Washingtoner Prinzipien sämtliche ­Kulturgutverluste während der nationalsozialistischen Herrschaft im entsprechenden Herrschaftsbereich. Damit positioniert sich der Beirat aber explizit gegen eine Erfassung von Verlusten außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs (oftmals als »Fluchtgut« bezeichnet), die in der Diskussion über den Anwendungsbereich der Washingtoner Prinzipien jedoch sehr umstritten ist (§ 7 B.III.). Der Forderung der Prinzipien nach erleichterten Beweisstandards kommt der Beirat bei unterschiedlichen Tatbestandsmerkmalen nach. So lässt er zum Nachweis der Voraussetzung des damaligen Eigentumsrechts der Geschädigten und des Verlustes während der nationalsozialistischen Herrschaft eine große Bandbreite an Indizien zu. Eine weitergehende Systematisierung dieser Indizien wäre aber zu begrüßen (§ 7 C.II.6. und § 7 E.III.). Die Erörterung des Merkmals der Verfolgung veranschaulichte, dass die Washingtoner Prinzipien eine Begrenzung des Anwendungsbereichs auf Verluste von verfolgten Personen nahelegen, der Beirat dennoch auch nicht-verfolgte Personen miteinbezieht. Die entwickelte Hierarchisierung zwischen kollektiv und individuell Verfolgten durch die widerlegliche Vermutung der Verfolgung zugunsten ersterer wurde angesichts der Forderung der Washingtoner Prinzipien nach Beweiserleichterungen befürwortet (§ 7 D.VI.). Die anschließenden Ausführungen zum Kausalzusammenhang zwischen Verlust und nationalsozialistischer Herrschaft konnten demonstrieren, dass eine Vermutung des Kausalzusammenhangs keineswegs eine Berücksichtigung des Einzelfalls verhindert (§ 7 F.I.2.). Deutlich wurde bei der Untersuchung der ­vielfältigen Verlustformen vielmehr, dass die Konzeption als widerlegliche Vermutung und auch ihre zumeist differenzierte Anwendung durch den Beirat sowohl dem Auftrag der Washingtoner Prinzipien nach einzelfallgerechten Lösungen als auch ihrer Forderung nach Beweiserleichterungen unter Berücksichtigung des Gleichheitssatzes gerecht werden (§ 7 F.II.1.d), § 7 F.II.2.a)cc), § 7 F.II.2.b)cc), § 7 F.II.2.c)ee) und § 7 F.II.3.b)). Im Rahmen der Untersuchung des rechtmäßigen Übergangs in Bundeseigentum wurde zunächst festgestellt, dass die Schilderungen des Beirats die eigentumsrechtlichen Kontinuitäten der nationalsozialistischen Herrschaft in den österreichischen Museen nicht hinreichend transparent machen, um den Anforderungen der Washingtoner Prinzipien zu genügen (§ 8 A.IV.). Demgegenüber ist im Lichte der Prinzipien nicht zu beanstanden, dass der Beirat der Gutgläubigkeit keinerlei Bedeutung zumisst. Unter den verschiedenen Ansichten zur umstritte­ nen Rolle der Gutgläubigkeit scheint nämlich ein Konsens dahingehend zu bestehen, dass sich Staaten nicht auf diese berufen sollen (§ 8 B.III.). Für eine Bewertung der vom Beirat entwickelten Ausschlussgründe konnten kaum Anhaltspunkte aus den Washingtoner Prinzipien herangezogen werden. Lediglich hinsichtlich der Ausschlusswirkung rechtskräftiger Entscheidungen ließ sich anhand der Washingtoner Prinzipien herausarbeiten, dass eine »gerechte und faire Lösung« auch Ausnahmen von einer solchen Wirkung vorsehen muss (§ 9 B.III.). Auch die weiteren Ausschlussgründe, die maßgeblich

329  A. Ergebnisse für das Kunstrückgabegesetz in Österreich

darauf abstellen, dass die Geschädigten nach Kriegsende wieder ohne Zwang über das entzogene Kulturgut verfügen konnten, wurden als mit den Washingtoner Prinzipien vereinbar betrachtet (§ 9 A.IV., § 9 C.III. und § 9 D.III.). Demgegenüber konnte die dem Proportionalitätsprinzip widersprechende Begrenzung der Abhilfemaßnahmen auf »Restitution – keine Restitution« nicht mit dem Aufruf der Washingtoner Prinzipien zu einer großen Bandbreite an »gerechten und fairen Lösungen« in Einklang gebracht werden (§ 10 A.III.). Im Gegensatz dazu stimmt mit der Begrenzung der Prinzipien auf die »Vorkriegseigentümer und ihre Erben« überein, dass bei der Ermittlung der Begünstigten der Rückgabe nach dem KRG allein das Erbrecht maßgeblich ist. Ebenso ließ sich aus den Washingtoner Prinzipien ein Wunsch nach subsidiären Kollektivbegünstigten, wie dem österrei­chischen Nationalfonds, entnehmen (§ 10 B.III.). Auch die Aufhebung vertraglicher und kulturgutschutzrechtlicher Hindernisse aus der Empfehlungspraxis konnte an Forderungen anknüpfen, die bereits im Zusammenhang mit den Washingtoner Prinzipien verlautbart wurden (§ 10 C.III.). Angesichts dieser Zusammenfassung der normativen Wertungen des Beirats muss zumindest in materieller Hinsicht zweifellos herausgestellt werden, dass seine auf dem KRG beruhende Empfehlungspraxis regelmäßig eine »gerechte und faire Lösung« darstellt. Unzulänglichkeiten zeigt die Empfehlungspraxis eher in der Anwendung der abstrakten Vorgaben des Gesetzes in konkreten Einzelfällen. Strukturelle Defizite finden sich vornehmlich im Rahmen des Verfahrens und der Abhilfemaßnahmen – den beiden Aspekten des KRG, die in besonderem Maße auf die Konzeption des KRG als Selbstbindungsgesetz zurückzuführen sind. Als problematisch erweist sich demnach weniger der materielle Gehalt der Empfehlungspraxis des Beirats, sondern die Tatsache, dass er zu diesen überzeugenden Wertungen oftmals nur durch Ausreizung und teils auch Überschreitung der methodischen Grenzen von Auslegung und Rechtsfortbildung gelangt. Diese Gesamtschau auf die Empfehlungspraxis des Beirats versteht sich daher als Appell an die österreichische Legislative in zweierlei Hinsicht: Zum einen sollte die gelungene Auslegung und Rechtsfortbildung aus der Empfehlungspraxis im Wortlaut des KRG verankert werden. Auf diese Weise würden die Voraussetzungen einer Restitution bereits aus dem Gesetzeswortlaut ersichtlich, was wiederum mehr Rechtssicherheit garantieren würde. In diesem Zuge könnten auch die haushaltsrechtlichen Grundlagen zur Etablierung von Abhilfemaßnahmen neben »Restitution – keine Restitution« geschaffen werden. Zum anderen soll diese Gesamtschau die Legislative dazu anregen, für eine auch in formeller Hinsicht »gerechte und faire Lö­sung« die bestehenden, verfahrenstechnischen Spielräume von Selbstbindungsgesetzen auszuschöpfen. Einen Anlass, auf diesen Appell – vielleicht sogar mit einer Umsetzung – zu reagieren, bietet das 25–jährige Jubiläum des Kunstrückgabegesetzes im Dezember 2023 allemal.

B. Erkenntnisse für ein Kunstrückgabegesetz in Deutschland In Deutschland ist seit Jahren die Forderung nach einer gesetzlichen Ausgestaltung der Kulturgüterrestitution in vieler Munde,1672 oftmals unter Verweis auf das österreichische KRG. Dabei 1672 Crezelius, KUR 2007, 125, 128 f.; Raue, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Geschichte, 2007, S. 287, 289 ff.;

von Selle/von Selle, osteuropa 2009, 131, 134; Müller-Chen, Kunstrecht, 2010, S. 131 f.; Schönberger, Was heilt Kunst?, 2019, S. 193 ff.; Berking, KUR 2019, 179, 181; Papier, Gespräch, in: SZ Online v. 19.02.2019; Schönberger, Gespräch, in: Deutsch-

330  § 11  Schluss: Die gesetzliche Ausgestaltung als »gerechte und faire Lösung«?

wird jedoch zumeist verkannt,1673 dass es sich bei dem KRG als Selbstbindungsgesetz um ein Spezifikum der österreichischen Privatwirtschaftsverwaltung handelt, das über kein Äquivalent im deutschen Recht verfügt. Zwar stellt das KRG ein formelles Gesetz dar, das aufgrund des parlamentarischen Gesetzgebungsprozesses über eine hohe demokratische Legitimation verfügt. Doch wirkt es sich als zugleich nicht-materielles Gesetz bei rein formalrechtlicher Betrach­ tung nicht wesentlich anders aus als die verschiedenen exekutiven Regelungen, die in Deutschland maßgeblich für den Umgang mit im Nationalsozialismus entzogenen Kulturgütern sind:1674 Genannt werden soll hier nur, dass es in Österreich ebenso wenig einen Anspruch auf Restitution, ein geregeltes Antragsverfahren oder eine Verbindlichkeit der Empfehlungen des zuständigen Gremiums gibt. Abgesehen von seinem parlamentarischen Entstehungsprozess gleicht das KRG also eher deutschen Verwaltungsvorschriften zur internen Regelung von Verwaltungs­handeln. Der Anknüpfungspunkt der deutschen Debatte am KRG ist damit verfehlt und muss wohl auf die fehlende Kenntnis von dessen konkreter Ausgestaltung zurückgeführt werden.1675 Vor dem Hintergrund, dass die Konzeption des KRG durchaus mit den exekutiven Regelun­ gen in Deutschland vergleichbar ist, erstaunt es, dass allein der Kunstrückgabebeirat 382 Empfehlungen aufweisen kann, während das in Deutschland maßgebliche Gremium, die Beratende Kommission1676, bisher lediglich 22 Empfehlungen ausgesprochen hat.1677 Dies mag zwar auch darauf zurückzuführen sein, dass die deutsche Praxis stärker durch bilaterale Vereinbarungen denn durch die Anrufung von zentralen Gremien geprägt ist.1678 Doch existieren diese Vereinbarungen ebenso in Österreich, ganz zu schweigen von den umfassenden Maßnahmen auf Landes- und Kommunalebene des ebenfalls föderalistischen österreichischen Staates. Zudem zeichnet sich der materielle Gehalt der Empfehlungen des Beirats im Gegensatz zur Beratenden Kommission1679 durch eine hohe Konsistenz aus, die nur vereinzelt durch Antinomien durchbrochen wird. Entscheidende Bedeutung für die – in Relation zu den deutschen Bemühungen – hohe Präzision und Effizienz in Österreich kommt der dortigen Provenienzforschung zu: Während diese in Deutschland dezentral geregelt ist und auch dadurch zumeist

1673 1674

1675 1676 1677 1678

1679

landfunk Kultur v. 27.07.2019; Hartung, NJW 2020, 718, 718 ff.; Papier, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 79, 86 f.; Hellwig, Wortmeldung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 103, 112; Papier, Wortmeldung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 103, 116; Pferdmenges, KUR 2021, 50, 50 ff.; Papier, Gespräch, in: Deutschlandfunk Kultur v. 02.02.2021; Hellwig, Gesetzgeber, in: FAZ Online v. 13.07.2021; Lahusen, KUR 2022, 91, 96 f. Von Selle/von Selle, osteuropa 2009, 131, 134; Schönberger, Was heilt Kunst?, 2019, S. 193 ff.; Hartung, NJW 2020, 718, 718 ff.; Pferdmenges, KUR 2021, 50, 55; Kiechle, Rechtsbruch, in: FAZ Online v. 22.04.2021. Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NSverfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz, abrufbar unter: https://www.kulturgutverluste.de/Content/08_Downloads/DE/Grundlagen/Gemeinsame-Erklaerung/Gemeinsame-Erklaerung.pdf ?__blob=pu­ blicationFile&v=15. Die »Handreichung« für die Umsetzung dieser Erklärung ist abrufbar unter: https://www.kulturgutverluste.de/Content/08_Downloads/DE/Grundlagen/Handreichung/Handreichung.pdf;jsessionid=49CA0539E83B6F367E69C67D15428ADC.m1?__blob=publicationFile&v=6. Eine instruktive Auseinandersetzung mit den Vor- und Nachteilen von Gesetzen findet sich bei Jabloner, Gesetz, in: Olechowski/Zeleny (Hrsg.), Methodenreinheit, 2013, S. 281, 281 ff. Der vollständige Name lautet: Beratende Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz. Sämtliche Empfehlungen sind abrufbar unter: https://www.beratende-kommission.de/de/empfehlungen. Hahne, KUR 2020, 159, 160; Weller, in: FS Schack, 2022, S. 85, 87; Weller, in: FS Dreier, 2022, S. 525, 527. S. dazu kritisch eingehend Weller, in: FS Dreier, 2022, S. 525, 525 ff.

331  B. Erkenntnisse für ein Kunstrückgabegesetz in Deutschland

über eine schlechte finanzielle Ausstattung verfügt,1680 werden in Österreich für eine systematische Provenienzforschung umfassend Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt. Diese Feststellungen legen den Schluss nahe, dass es letztlich nicht auf die konkrete, formelle Ausgestaltung des Umgangs mit im Nationalsozialismus entzogenen Kulturgütern ankommt, sondern auf den politischen Handlungswillen zur Entwicklung einer »gerechten und fairen Lösung«. Wenn somit der Debatte in Deutschland das richtige Verständnis des KRG zugrunde gelegt werden würde, müsste daraus die folgende Erkenntnis resultieren: Entscheidender als die Diskussion um die verfahrensrechtliche Ausgestaltung, die sich entlang der Frage nach einer rein rechtlichen oder rein moralischen Lösung verstrickt, ist die Tatsache, dass die Bandbreite der Entziehung von Kulturgütern im Nationalsozialismus einer Systematisierung zugänglich ist. Denn es wäre äußerst widersprüchlich, gerade historischen Ereignissen eine Systematisierungsfähigkeit abzusprechen,1681 die durch eine solch starke Systematik gekennzeichnet waren, wie die Entziehung von Kulturgütern im Nationalsozialismus. Es ist gerade ein proprium des nationalsozialistischen Regimes, sich selbst »systematisiert« zu haben. Selbstverständlich ist jedes Entziehungsschicksal individuell und bedarf auch einer individuellen Anerkennung. Diese ist etwa im Rahmen des Verfahrens durch Anhörung der potenziellen Begünstigten zu leisten. In der materiellen Bewertung der Systematik des Zugriffs auf das Vermögen – und dieser ist der Ausgangspunkt einer »gerechten und fairen Lösung« im Sinne der Washingtoner Prinzipien – sind die Schicksale jedoch zumeist strukturell vergleichbar und erfordern einen diese Vergleichbarkeit anerkennenden Umgang.1682 Andernfalls droht unter dem Vorwand der Einzelfallgerechtigkeit eine Verletzung des Gleichheitssatzes. Dieser ist aber, wie bereits so oft in dieser Arbeit betont, einer »gerechten und fairen Lösung« inhärent. Es gilt also, die teils als »Normativitätsneurose«1683 abgewertete Forderung nach einem den Gleichheitssatz sowie das Proportionalitätsprinzip berücksichtigenden, normativen Umgang mit im Nationalsozialismus entzogenen Kulturgütern auch in Deutschland ernst zu nehmen, um auch hierzulande zumindest in die Nähe einer »gerechten und fairen Lösung« zu gelangen. Insbesondere hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen, in erster Linie der Entziehung, erscheint die Empfehlungspraxis des Kunstrückgabebeirats dabei als ausgesprochen geeignetes Vorbild. Wenn sodann eine normative Grundlage für die »gerechten und fairen Lösungen« geschaffen worden ist, lässt sich auch ein verfahrensrechtlicher Rahmen finden. Dieser könnte – ungeachtet seiner konkreten Natur – auf die Vorzüge des österreichischen Verfahrens, etwa das amtswegige Vorgehen, rekurrieren und zugleich aus dessen Defiziten, wie der fehlenden Einbindung der potenziellen Begünstigten und der mangelnden Überprüfungsmöglichkeit, lernen.

1680 S. nur Fuhrmeister, Gespräch, in: Deutschlandfunk Kultur v. 03.11.2014.

1681 So aber Raue, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.), Geschichte, 2007, S. 287, 289 ff.; Berking, KUR 2019, 179,

181; Hellwig, Wortmeldung, in: Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel (Hrsg.), Kunstmarkt, 2021, S. 103, 112; Pferdmenges, KUR 2021, 50, 50 ff. Die Ausführungen von Lahusen erscheinen in diesem Kontext widersprüchlich, vgl. Lahusen/ Vietzen, in: Network of Restitution Commitees (Hrsg.), Newsletter 05/2022, S. 5, 6 f. und Lahusen, KUR 2022, 91, 96 f. 1682 So auch Webber/Fisher, in: DCPTCA (Hrsg.), Terezin, 2019, S. 39, 42; De Girolamo, Int. J. Cult. Prop. 2019, 357, 357 ff.; Weller/ Dewey, KUR 2020, 170, 170 ff.; ähnlich auch Zeidler, Restitution, 2016, S. 143; Schönberger, Was heilt Kunst?, 2019, S. 212 ff. 1683 Lahusen, KUR 2022, 91, 97.

332  § 11  Schluss: Die gesetzliche Ausgestaltung als »gerechte und faire Lösung«?

Entscheidend ist, dass die Bundesrepublik Deutschland begreift, dass der »gerechte und faire« Umgang mit im Nationalsozialismus entzogenen Kulturgütern Gegenstand der Verantwortung des deutschen Staates ist, die Fortwirkungen des nationalsozialistischen Regimes aufzuzeigen. Diese Erkenntnis muss aber unmittelbar mit dem politischen Handlungswillen verknüpft sein, entsprechende Maßnahmen zur Unterbrechung dieser Fortwirkung zu ergreifen. Um auch wieder mit Bernhard Schlink zu enden: Erinnerung allein reicht eben nicht, denn wer nur »tüchtige Erinnerungsarbeit leistet, will nicht mehr an der Vergangenheit festgehalten werden.«1684 Der deutsche Staat muss jedoch an seiner nationalsozialistischen Vergangenheit festgehalten werden und sich zugleich bemühen, bestehende Kontinuitäten zu unterbrechen; auch um den Anfängen von vergleichbaren historischen Entwicklungen zu wehren.

1684 Schlink, Vergangenheitsschuld, 2002, S. 151.

333  B. Erkenntnisse für ein Kunstrückgabegesetz in Deutschland

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Die beiden Zitate von Dziewior und Ngo aus dem Vorwort stammen aus der Publikation »Maria Eichhorn. Relocating a Structure«, 2022, S. 11, 280.

Sämtliche Links wurden zuletzt abgerufen am 31. Mai 2023.

350  Literaturverzeichnis

Anhang

Grundsätze der Washingtoner Konferenz in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden (Washingtoner Prinzipien) Im Bestreben, eine Einigung über nicht bindende Grundsätze herbeizuführen, die zur Lösung offener Fragen und Probleme im Zusammenhang mit den durch die Nationalsozialisten beschlagnahmten Kunstwerken beitragen sollen, anerkennt die Konferenz die Tatsache, dass die Teilnehmerstaaten unterschiedliche Rechtssysteme haben und dass die Länder im Rahmen ihrer eigenen Rechtsvorschriften handeln. 1. 2. 3.

4.

5.

6. 7.

8.

Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückerstattet wurden, sollten identifiziert werden. Einschlägige Unterlagen und Archive sollten der Forschung gemäß den Richtlinien des International Council on Archives zugänglich gemacht werden. Es sollten Mittel und Personal zur Verfügung gestellt werden, um die Identifizierung aller Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückerstattet wurden, zu erleichtern. Bei dem Nachweis, dass ein Kunstwerk durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückerstattet wurde, sollte berücksichtigt werden, dass aufgrund der verstrichenen Zeit und der besonderen Umstände des Holocaust Lücken und Unklarheiten in der Frage der Herkunft unvermeidlich sind. Es sollten alle Anstrengungen unternommen werden, Kunstwerke, die als durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückerstattet identifiziert wurden, zu veröffentlichen, um so die Vorkriegseigentümer oder ihre Erben ausfindig zu machen. Es sollten Anstrengungen zur Einrichtung eines zentralen Registers aller diesbezüglichen Informationen unternommen werden. Die Vorkriegseigentümer und ihre Erben sollten ermutigt werden, ihre Ansprüche auf Kunstwerke, die durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückgegeben wurden, anzumelden. Wenn die Vorkriegseigentümer von Kunstwerken, die durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückgegeben wurden, oder ihre Erben ausfindig gemacht werden können, sollten rasch die nötigen Schritte unternommen werden, um eine gerechte und faire Lösung zu finden, wobei diese je nach den Gegebenheiten und Umständen des spezifischen Falls unterschiedlich ausfallen kann.

351 

9. Wenn bei Kunstwerken, die nachweislich von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückgegeben wurden, die Vorkriegseigentümer oder deren Erben nicht ausfindig gemacht werden können, sollten rasch die nötigen Schritte unternommen werden, um eine gerechte und faire Lösung zu finden. 10. Kommissionen oder andere Gremien, welche die Identifizierung der durch die National­ sozialisten beschlagnahmten Kunstwerke vornehmen und zur Klärung strittiger Eigentumsfragen beitragen, sollten eine ausgeglichene Zusammensetzung haben. 11. Die Staaten werden dazu aufgerufen, innerstaatliche Verfahren zur Umsetzung dieser Richtlinien zu entwickeln. Dies betrifft insbesondere die Einrichtung alternativer Mechanismen zur Klärung strittiger Eigentumsfragen.

352  Anhang

Bundesgesetz über die Rückgabe von Kunstgegenständen und sonstigem beweglichen Kulturgut aus den österreichischen Bundesmuseen und ­Sammlungen und aus dem sonstigen Bundeseigentum (BGBl. I Nr. 117/2009) Rückgabefähige Gegenstände § 1. (1) Die Bundesministerin/Der Bundesminister für Finanzen wird ermächtigt, jene Kunstgegen­ stände und sonstiges bewegliches Kulturgut aus den österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen, wozu auch die Sammlungen der Bundesmobilienverwaltung zählen, und aus dem sonstigen unmittelbaren Bundeseigentum unentgeltlich an die ursprünglichen Eigentümer oder an deren Rechtsnachfolger von Todes wegen zu übereignen, welche 1. Gegenstand von Rückstellungen an die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger von Todes wegen waren oder nach den damaligen Bestimmungen zu restituieren gewesen wären und nach dem 8. Mai 1945 im engen Zusammenhang mit einem daraus folgenden Verfahren nach den Bestimmungen des Bundesgesetzes über das Verbot der Ausfuhr von Gegenständen von geschichtlicher, künstlerischer oder kultureller Bedeutung, StGBl. Nr. 90/1918, in das Eigentum des Bundes übergegangen sind und sich noch im Eigentum des Bundes befinden; 2. zwar rechtmäßig in das Eigentum des Bundes übergegangen sind, jedoch zuvor Gegenstand eines Rechtsgeschäftes oder einer Rechtshandlung gemäß § 1 des Bundesgesetzes über die Nichtigerklärung von Rechtsgeschäften und sonstigen Rechtshandlungen, die während der deutschen Besetzung Österreichs erfolgt sind, BGBl. Nr. 106/1946, waren, und sich noch im Eigentum des Bundes befinden; 2a. zwar rechtmäßig in das Eigentum des Bundes übergegangen sind, jedoch zwischen dem 30. Jänner 1933 und dem 8. Mai 1945 in einem Herrschaftsgebiet des Deutschen Reiches außerhalb des Gebietes der heutigen Republik Österreich Gegenstand eines Rechtsgeschäftes oder einer Rechtshandlung waren, die Rechtsgeschäften oder Rechtshandlungen gemäß § 1 des Bundesgesetzes über die Nichtigerklärung von Rechtsgeschäften und sonstigen Rechtshandlungen, die während der deutschen Besetzung Österreichs erfolgt sind, BGBl. Nr. 106/1946, vergleichbar sind und sich noch im Eigentum des Bundes befinden; 3. nach Abschluss von Rückstellungsverfahren nicht an die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger von Todes wegen zurückgegeben werden konnten, als ­herrenloses Gut unentgeltlich in das Eigentum des Bundes übergegangen sind und sich noch im Eigentum des Bundes befinden. (2) Hat der Bund für den Eigentumsübergang gemäß Abs. 1 Z 1 eine Gegenleistung erbracht, so ist diese oder ihr Wert im Zeitpunkt der Rückgabe dem Bund von den ursprünglichen Eigen­ tümern oder deren Rechtsnachfolgern von Todes wegen vor der Rückgabe zurückzuerstatten. Ein erhaltener Geldbetrag ist nach den von der Bundesanstalt Statistik Österreich verlaut­ barten Indizes der Verbraucherpreise zu valorisieren. Zahlungen gemäß § 2b des Bundesgesetzes über den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, BGBl. Nr. 432/1995 in der jeweils geltenden Fassung, sind nicht zurückzuerstatten.

353  Bundesgesetz über die Rückgabe von Kunstgegenständen und sonstigem beweglichen Kulturgut…

Übereignung der Gegenstände § 2. (1) Die Bundesministerin / Der Bundesminister für Unterricht, Kunst und Kultur, die Bundesministerin / der Bundesminister für Wirtschaft, Familie und Jugend und die Bundesministerin / der Bundesminister für Landesverteidigung und Sport bzw. das sonst zuständige Mitglied der Bundesregierung werden ermächtigt, 1.

die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger von Todes wegen festzustellen und die Gegenstände gemäß § 1 an diese zu übereignen; 2. jene Gegenstände gemäß § 1, welche nicht an die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger von Todes wegen rückübereignet werden können, weil diese nicht festgestellt werden können, an den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus zur Verwertung zu übereignen, der den Verwertungserlös für die in § 2a des Bundesgesetzes über den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Na­ tionalsozialismus, BGBl. Nr. 432/1995, genannten Zwecke zu verwenden hat. (2) Die genannten Bundesministerinnen / Bundesminister haben vor der Übereignung den nach § 3 eingerichteten Beirat anzuhören. Durch die Bestimmungen dieses Bundesgesetzes wird keinerlei Anspruch auf Übereignung begründet. (3) Die Bundesministerin / Der Bundesminister für Unterricht, Kunst und Kultur hat den Nationalrat über die erfolgte Übereignung von Gegenständen gemäß § 1 in einem Bericht jährlich zu informieren.

Beirat § 3. (1) Beim Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur wird ein Beirat eingerichtet, der die in § 2 genannten Bundesministerinnen / Bundesminister bei der Feststellung jener Personen, denen Gegenstände gemäß § 1 zu übereignen sind, zu beraten hat. (2) Mitglieder des Beirates sind: je eine Vertreterin / ein Vertreter des Bundesministeriums für Finanzen, des Bundesministeriums für Wirtschaft, Familie und Jugend, des Bundesministeriums für Justiz, des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur sowie des Bundesministeriums für Landesverteidigung und Sport; 2. eine Vertreterin / ein Vertreter der Finanzprokuratur mit beratender Stimme; 3. je eine / ein von der Universitätenkonferenz zu nominierende Expertin / zu nominierender Experte auf dem Gebiet der Geschichte sowie der Kunstgeschichte; 4. sofern der Beirat über die Rückgabe eines Gegenstandes berät, welcher nicht in die Zuständigkeit eines der in Z 1 genannten Bundesministerien fällt, eine Vertreterin / ein Vertreter des zuständigen Bundesministeriums. 1.

(3) Für jedes Mitglied ist ein Ersatzmitglied zu bestellen. (4) Der Beirat fasst seine Empfehlungen auf Grund von Berichten der Kommission für Prove­ nienzforschung des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur. Der Beirat kann weiters andere Sachverständige und geeignete Auskunftspersonen beiziehen.

354  Anhang

(5) Die Bestellung und Abberufung des Vorsitzenden / der Vorsitzenden und dessen / deren Stellvertreter / Stellvertreterin aus dem Kreise der in Abs. 2 genannten Mitglieder (Ersatzmitglieder) sowie die Bestellung und Abberufung der weiteren in Abs. 2 genannten Mitglieder (Ersatzmitglieder) des Beirates obliegt der Bundesministerin / dem Bundesminister für Unterricht, Kunst und Kultur. Die Bestellung erfolgt jeweils auf drei Jahre. Neuerliche Bestellungen sind zulässig. Ein Mitglied (Ersatzmitglied) kann von der Bundesministerin / dem ­Bundesminister für Unterricht, Kunst und Kultur nur auf eigenen Wunsch oder wenn es aus körperlichen, geistigen oder sonstigen schwerwiegenden Gründen nicht mehr in der Lage ist, seine Aufgaben gewissenhaft und unparteiisch zu erfüllen, nach Anhörung der entsendenden Stelle abberufen werden. (6) Die Bundesministerin / Der Bundesminister für Unterricht, Kunst und Kultur oder der / die Vorsitzende berufen den Beirat zu Sitzungen ein. (7) Zu einem Beschluß des Beirates ist die Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich. (8) Der Beirat beschließt seine Geschäftsordnung, die von der Bundesministerin / vom Bundesminister für Unterricht, Kunst und Kultur zu genehmigen ist, mit einfacher Mehrheit. Die Geschäftsordnung hat unter Bedachtnahme auf Abs. 1 die Tätigkeit des Beirates möglichst zweckmäßig zu regeln. Die Geschäftsordnung ist zu genehmigen, wenn sie dieser Voraussetzung entspricht.

Ausnahmen vom Denkmalschutzgesetz § 4. (1) Die Bestimmungen des Denkmalschutzgesetzes, BGBl. Nr. 533/1923 in der jeweils geltenden Fassung, über die freiwillige Veräußerung und die Verbringung ins Ausland finden auf Gegenstände, die nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes übereignet werden, auf die Dauer von 25 Jahren nach Übereignung keine Anwendung. (2) Bewegliches Kulturgut, das auf Grund eines Landesgesetzes oder auf Grund eines sonstigen Beschlusses eines Organs einer Gebietskörperschaft unter diesem Bundesgesetz gleichzuhaltenden Voraussetzungen übereignet wird, fällt unter die Ausnahmen vom Denkmalschutzgesetz gemäß Abs. 1, wenn das zur Übereignung zuständige Organ der Gebietskörperschaft die Übereignung dem Bundesdenkmalamt anzeigt und dieses nicht binnen sechs Wochen nach Einlangen der Anzeige durch Bescheid die Bewilligungen der freiwilligen Veräußerung gemäß § 6 Denkmalschutzgesetz, BGBl. Nr. 533/1923 in der jeweils geltenden Fassung, und der Ausfuhr gemäß § 17 Denkmalschutzgesetz, BGBl. Nr. 533/1923 in der jeweils geltenden Fassung, verweigert.

Kommission für Provenienzforschung § 4a. Die Kommission für Provenienzforschung ist beim Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur eingerichtet. Sie wird ausschließlich im Auftrag der Bundesministerin / des Bundesministers für Unterricht, Kunst und Kultur tätig. Ihre Aufgaben umfassen insbesondere: 1.

Die Darstellung der Provenienzen von Gegenständen gemäß § 1, soweit diese Grundlagen von Empfehlungen des Beirates gemäß § 3 bilden können. 355  Bundesgesetz über die Rückgabe von Kunstgegenständen und sonstigem beweglichen Kulturgut…

2. Die Forschung im Bereich geschichtlicher Sachverhalte, soweit diese von Bedeutung für die Feststellung der Provenienzen und Empfehlungen des Beirates gemäß § 3 sein können. 3. Die Sammlung, Bearbeitung und Evidenthaltung der Ergebnisse dieser Forschungstätigkeit.

Abgabenbefreiung § 5. Die durch dieses Bundesgesetz unmittelbar veranlaßten Zuwendungen sind von allen Abgaben befreit.

Vollziehungsklausel § 6. Mit der Vollziehung dieses Bundesgesetzes sind betraut: 1. hinsichtlich der §§ 1 und 5 die Bundesministerin / der Bundesminister für Finanzen; 2. hinsichtlich des § 2 die Bundesministerin / der Bundesminister für Unterricht, Kunst und Kultur, die Bundesministerin / der Bundesminister für Wirtschaft, Familie und Jugend und die Bundesministerin / der Bundesminister für Landesverteidigung und Sport bzw. das sonst zuständige Mitglied der Bundesregierung soweit sein Wirkungsbereich betroffen ist; 3. hinsichtlich des § 3 die Bundesministerin / der Bundesminister für Unterricht, Kunst und Kultur, die Bundesministerin / der Bundesminister für Finanzen, die Bundesministerin / der Bundesminister für Wirtschaft, Familie und Jugend, die Bundesministerin / der Bundesminister für Justiz und die Bundesministerin / der Bundesminister für Landesverteidigung und Sport bzw. das sonst zuständige Mitglied der Bundesregierung soweit sein Wirkungsbereich betroffen ist; 4. hinsichtlich der §§ 4 und 4a die Bundesministerin / der Bundesminister für Unterricht, Kunst und Kultur.

356  Anhang

Bundesgesetz über die Rückgabe von Kunstgegenständen aus den Österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen (BGBl. I Nr. 181/1998) § 1. Der Bundesminister für Finanzen wird ermächtigt, jene Kunstgegenstände aus den österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen, wozu auch die Sammlungen der Bundesmobilien­ verwaltung zählen, unentgeltlich an die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger von Todes wegen zu übereignen, welche 1.

Gegenstand von Rückstellungen an die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnach­ folger von Todes wegen waren und nach dem 8. Mai 1945 im Zuge eines daraus folgenden Verfahrens nach den Bestimmungen des Bundesgesetzes über das Verbot der Ausfuhr von Gegenständen von geschichtlicher, künstlerischer oder kultureller Bedeutung, StGBl. Nr. 90/1918, unentgeltlich in das Eigentum des Bundes übergegangen sind und sich noch im Eigentum des Bundes befinden; 2. zwar rechtmäßig in das Eigentum des Bundes übergegangen sind, jedoch zuvor Gegenstand eines Rechtsgeschäftes gemäß § 1 des Bundesgesetzes vom 15. Mai 1946 über die Nichtigerklärung von Rechtsgeschäften und sonstigen Rechtshandlungen, die während der deutschen Besetzung Österreichs erfolgt sind, in das Eigentum der Republik Österreich gelangt sind, BGBl. Nr. 106/ 1946, waren und sich noch im Eigentum des Bundes be­ finden; 3. nach Abschluß von Rückstellungsverfahren nicht an die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger von Todes wegen zurückgegeben werden konnten, als herrenloses Gut unentgeltlich in das Eigentum des Bundes übergegangen sind und sich noch im Eigentum des Bundes befinden. § 2. (1) Der Bundesminister für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten, der Bundesminister für wirtschaftliche Angelegenheiten und der Bundesminister für Landesverteidigung werden ermächtigt, 1.

die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger von Todes wegen festzustellen und die Kunstwerke an diese zu übereignen; 2. jene Kunstgegenstände gemäß § 1, welche nicht an die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger von Todes wegen rückübereignet werden können, weil diese nicht festgestellt werden können, an den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus zur Verwertung zu übereignen, der den Verwertungserlös für die in § 2a des Bundesgesetzes über den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, BGBl. Nr. 432/ 1995, genannten Zwecke zu verwenden hat. (2) Die genannten Bundesminister haben vor der Übereignung den nach § 3 eingerichteten Beirat anzuhören. Durch die Bestimmungen dieses Bundesgesetzes wird keinerlei Anspruch auf Übereignung begründet. (3) Der Bundesminister für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten hat den Nationalrat über die erfolgte Übereignung von Kunstgegenständen in einem Bericht jährlich zu informieren. § 3. (1) Beim Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten wird ein Beirat eingerichtet, der die in § 2 genannten Bundesminister bei der Feststellung jener Personen, denen Kunstgegenstände zu übereignen sind, zu beraten hat.

357  Bundesgesetz über die Rückgabe von Kunstgegenständen aus den Österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen

(2) Mitglieder des Beirates sind: 1.

je ein Vertreter des Bundesministeriums für wirtschaftliche Angelegenheiten, des Bundesministeriums für Justiz, des Bundesministeriums für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten sowie des Bundesministeriums für Landesverteidigung; 2. ein Vertreter der Finanzprokuratur; 3. je ein von der Rektorenkonferenz zu nominierender Experte auf dem Gebiet der Geschich­ te sowie der Kunstgeschichte. (3) Für jedes Mitglied ist ein Ersatzmitglied zu bestellen. (4) Der Beirat kann weiters Sachverständige und geeignete Auskunftspersonen beiziehen. (5) Die Bestellung und Abberufung des Vorsitzenden und dessen Stellvertreter aus dem Kreise der in Abs. 2 genannten Mitglieder sowie die Bestellung und Abberufung der weiteren in Abs. 2 genannten Mitglieder des Beirates obliegt dem Bundesminister für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten. Die Bestellung erfolgt jeweils auf ein Jahr. Neuerliche Bestellungen sind zulässig. (6) Der Bundesminister für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten oder der Vorsitzende berufen den Beirat zu Sitzungen ein. (7) Zu einem Beschluß des Beirates ist die Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich. (8) Der Beirat beschließt seine Geschäftsordnung, die vom Bundesminister für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten zu genehmigen ist, mit einfacher Mehrheit. Die Geschäftsordnung hat unter Bedachtnahme auf Abs. 1 die Tätigkeit des Beirates möglichst zweckmäßig zu regeln. Die Geschäftsordnung ist zu genehmigen, wenn sie dieser Voraussetzung entspricht. § 4. Die Bestimmungen des Denkmalschutzgesetzes, BGBl. Nr. 533/1923, in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 473/1990 über die freiwillige Veräußerung von Denkmalen, die sich im alleinigen Eigentum des Bundes befinden, sowie die Bestimmungen des Bundesgesetzes über das Verbot der Ausfuhr von Gegenständen von geschichtlicher, künstlerischer oder kultureller Bedeutung, StGBl. Nr. 90/ 1918, in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 605/1987 finden auf die Übereignung sowie die Ausfuhr von Gegenständen, die nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes ausgefolgt werden, auf die Dauer von 25 Jahren nach Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes keine Anwendung. § 5. Die durch dieses Bundesgesetz unmittelbar veranlaßten Zuwendungen sind von allen Abgaben befreit. § 6. Mit der Vollziehung dieses Bundesgesetzes sind betraut: 1. hinsichtlich der §§ 1 und 5 der Bundesminister für Finanzen; 2. hinsichtlich der §§ 2 und 3 der Bundesminister für Unterricht und kulturelle Angelegen­ heiten, der Bundesminister für wirtschaftliche Angelegenheiten und der Bundesminister für Landesverteidigung, soweit ihr Wirkungsbereich betroffen ist; 3. hinsichtlich des § 4 der Bundesminister für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten.

358  Anhang

Bundesgesetz vom 6. Februar 1947 über die Nichtigkeit von Vermögens­entziehungen Drittes Rückstellungsgesetz (BGBl. Nr. 54/1947) § 1. (1) Gegenstand dieses Bundesgesetzes ist Vermögen, das während der deutschen Besetzung Österreichs, sei es eigenmächtig, sei es auf Grund von Gesetzen oder anderen Anordnungen, insbesondere auch durch Rechtsgeschäfte und sonstige Rechtshandlungen, dem Eigentümer (Berechtigten) – im folgenden Eigentümer genannt – im Zusammenhange mit der nationalsozialistischen Machtübernahme entzogen worden ist. (2) Die Bestimmungen dieses Bundesgesetzes gelten für Ansprüche aus der Entziehung von Vermögen, deren Rückstellung durch das Erste oder das Zweite Rückstellungsgesetz geregelt ist, nur insoweit, als in diesen keine abweichenden Bestimmungen getroffen sind. § 2. (1) Eine Vermögensentziehung im Sinne des § 1, Abs. (1), liegt insbesondere vor, wenn der Eigentümer politischer Verfolgung durch den Nationalsozialismus unterworfen war und der Erwerber des Vermögens nicht dartut, daß die Vermögensübertragung auch unabhängig von der Machtergreifung des Nationalsozialismus erfolgt wäre. (2) In anderen Fällen liegt eine Vermögensentziehung insbesondere nicht vor, wenn der Erwerber dartut, daß der Eigentümer die Person des Käufers frei ausgewählt und eine angemessene Gegenleistung erhalten hat oder daß die Vermögensübertragung auch unabhängig von der Machtergreifung des Nationalsozialismus erfolgt wäre. (3) Als Erwerber gilt jeder Besitzer nach der Entziehung. (4) Durch ein besonderes Bundesgesetz wird geregelt, wer zur Erhebung von Ansprüchen in den Fällen berechtigt ist, in denen der Eigentümer eine juristische Person war, die ihre Rechtspersönlichkeit auf Grund einer Verfügung der in § 1, Abs. (1), genannten Art verloren und nicht wieder erlangt hat. § 3. (1) Vermögensentziehungen [§ 1, Abs. (1)] sind nichtig. Soweit dieses Bundesgesetz nicht etwas anderes bestimmt, sind die Bestimmungen des bürgerlichen Rechtes, insbesondere über die Nichtigkeit von Verträgen wegen ungerechter und gegründeter Furcht, anzuwenden. (2) Auf eine nach gesetzlichen Vorschriften etwa eingetretene Verjährung und Ersitzung sowie beim Rückgriff zwischen mehreren Erwerbern auf den Ablauf der Gewährleistungsfristen ist kein Bedacht zu nehmen. § 4. (1) Wurden bewegliche Sachen in einer öffentlichen Versteigerung oder außer einer solchen im Zuge eines Exekutions- oder Konkursverfahrens oder von einem zu diesem Verkehre befugten Gewerbsmann oder gegen Entgelt von jemandem erworben, dem sie der Eigentümer selbst zum Gebrauche, zur Verwahrung oder in was immer für einer Absicht anvertraut hat, so gelten sie nur dann als im Sinne des § 1, Abs. (1), entzogen, wenn der Erwerber wußte oder wissen mußte, daß es sich um entzogenes Vermögen gehandelt hat. (2) Wurden bewegliche Sachen im gewerbsmäßigen Betriebe des Eigentümers erworben, so gelten sie nur dann als im Sinne des § 1, Abs. (1), entzogen, wenn die Gegenleistung nicht als angemessen anzusehen ist.

359  Bundesgesetz vom 6. Februar 1947 über die Nichtigkeit von Vermögensentziehungen Drittes Rückstellungsgesetz

§ 5. (1) Der rückstellungspflichtige Erwerber kann gegen den Eigentümer [§ 1, Abs. (1)] und dessen Erben (Legatare) – im folgenden geschädigter Eigentümer genannt – die gegen diesen bestehenden Rechte aller Erwerber [§ 2, Abs. (3)] geltend machen, bei entgeltlichem Erwerb jedoch nur bis zum Betrage, den er selbst bezahlt hat. (2) Wurden bei einer Vermögensentziehung im übrigen die Regeln des redlichen Verkehrs eingehalten, so hat der Erwerber zwar das entzogene Vermögen zurückzustellen, zur Leistung von Ersatz ist er jedoch nur bei Verschulden verpflichtet. Im übrigen finden auf ihn die Bestimmungen des bürgerlichen Rechtes über den redlichen Besitzer Anwendung. § 338 ABGB. ist sinngemäß anzuwenden. (3) Gegen die Erträgnisse kann der Erwerber aufrechnen: 1. Eine angemessene Vergütung seiner Tätigkeit, 2. die von ihm bezahlten, auf das entzogene Vermögen und dessen Erträgnisse entfallenden Abgaben aller Art, 3. alle sonstigen mit der ordentlichen Bewirtschaftung und Erhaltung verbundenen Auslagen. (4) Wenn die Rückstellung von Erträgnissen eine unbillige Härte für den rückstellungspflichtigen Erwerber bedeutet, kann die Rückstellungskommission (§ 15) in Berücksichtigung aller Umstände des Falles die Höhe der rückzustellenden Erträgnisse nach billigem Ermessen festsetzen. § 6. (1) Der geschädigte Eigentümer hat als Gegenleistung nur das rückzustellen, was er zu seiner freien Verfügung erhalten hat. Falls aber die in § 5, Abs. (2), erster Satz, bezeichneten Voraussetzungen zutreffen, kann die Rückstellungskommission nach billigem Ermessen, insbesondere in Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse und gegenseitigen Beziehungen der Parteien, bestimmen, ob und welcher Teil des vom Erwerber bezahlten, vom Eigentümer aber nicht zur freien Verfügung erhaltenen Kaufpreises dem Erwerber vom geschädigten Eigentümer zu ersetzen ist. (2) Ob und inwieweit der geschädigte Eigentümer die Gegenleistung zu verzinsen hat, entscheidet die Rückstellungskommission nach billigem Ermessen. (3) Das entzogene Vermögen ist unbeschadet der Bestimmungen des § 5, Abs. (2), mindestens in jenem Ausmaß und Zustand rückzustellen, in dem es sich am 31. Juli 1946 befunden hat. § 7. Die auf Grund dieses Bundesgesetzes an den geschädigten Eigentümer rückgestellten Erträgnissen unterliegen bei ihm weder der Einkommen- noch der Gewerbesteuer. Für Abgabenrückstände des Erwerbers, die für die Zeit vor dem 27. April 1945 auf das entzogene Vermögen und dessen Erträgnisse entfallen, haftet der geschädigte Eigentümer bis zum Werte der rückgestellten Erträgnisse; für die Abgabenrückstände, die auf die Zeit seit dem 27. April 1945 entfallen, haftet er bis zum Werte des rückgestellten Vermögens und der Erträgnisse. § 8. Zur Sicherstellung von Ersatzansprüchen für Aufwendungen auf das entzogene Vermögen besteht ein Rückbehaltungsrecht nur an den Erträgnissen bis zur Höhe dieser Ansprüche. § 9. (1) Die auf den in § 1, Abs. (1), genannten Vermögen für Rückstände an Reichsfluchtsteuer und Judenvermögensabgabe im Grundbuch eingetragenen Pfandrechte sind von Amts wegen oder auf Antrag zu löschen.

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(2) Hinsichtlich anderer bücherlich sichergestellter öffentlicher Abgaben oder Steuerstrafen, die während der deutschen Besetzung Österreichs vorgeschrieben worden sind, ist auf Antrag die Wiederaufnahme des Verfahrens zu bewilligen. Dem Antrag kommt aufschiebende Wirkung zu. Anhängige Exekutionen sind aufzuschieben. § 10. (1) Von den in § 9 nicht genannten, im Grundbuch mit einem Range nach der Entziehung eingetragenen dinglichen Rechten bleiben bestehen: a) Pfandrechte für Beträge, die für notwendige oder nützliche Aufwendungen oder zugunsten des Eigentümers oder seiner nahen Angehörigen (§ 32 Insolvenzordnung) verwendet worden sind, sowie darauf eingetragene Rechte, b) Pfandrechte für Forderungen in der Höhe der vom geschädigten Eigentümer dem Erwerber geschuldeten Leistungen, c) Grunddienstbarkeiten und Reallasten. (2) Alle anderen mit einem Range zwischen Entziehung und Rückstellung eingetragenen dinglichen Rechte Dritter erlöschen. (3) Soweit nach Abs. (1) Pfandrechte bestehen bleiben, tritt der geschädigte Eigentümer an Stelle des bisherigen persönlichen Schuldners in das Schuldverhältnis ein. Der auf diese Weise übernommene Betrag ist auf die Forderungen des Erwerbers gegenüber dem geschädigten Eigentümer anzurechnen. Der geschädigte Eigentümer ist berechtigt, auf diese Art übernommene Schulden ohne Rücksicht auf ihre Fälligkeit zurückzuzahlen. (4) Liegt eine Vermögensentziehung vor, ohne daß der Eigentümer politischer Verfolgung durch den Nationalsozialismus unterworfen war, hat die Rückstellungskommission unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere des Zweckes der Belastung und der Verwendung der Leistung, zu entscheiden, ob und welche außer den in Abs. (1) angeführten Belastungen aufrecht bleiben. § 11. Die Bestimmungen des § 10 sind sinngemäß auf dingliche Rechte an beweglichen Sachen und Rechten anzuwenden. § 12. (1) Bestandverträge von unbestimmter Dauer bleiben aufrecht. Bestandverträge von bestimmter Dauer gehen in solche von unbestimmter Dauer über, sofern sie nicht vom geschädigten Eigentümer abgeschlossen worden sind. Der geschädigte Eigentümer kann jedoch Pachtverträge, die land- oder forstwirtschaftliche Betriebe zum Gegenstand haben, dann auflösen, wenn er die fachliche Eignung zur Führung einer Land- oder Forstwirtschaft besitzt und sie nach der Rückstellung selbst betreiben wird. (2) Der geschädigte Eigentümer kann bei Eigenbedarf Bestandverhältnisse an Wohn- und Geschäftsräumen, die der Eigentümer in seinem Hause bis zur Entziehung dieser Räume benützt hat, vorzeitig auflösen. § 13. (1) Vergleiche über Verpflichtungen nach diesem Bundesgesetz sind gültig, wenn sie nach dem 27. April 1945 abgeschlossen worden sind. (2) Solche Vergleiche sind unverzüglich der zur Entgegennahme der Anmeldungen von Vermögensentziehungen zuständigen Bezirksverwaltungsbehörde (§ 5 VEAV, B. G. Bl. Nr. 166/46) mit-

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zuteilen. Im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes abgeschlossene Vergleiche sind binnen vier Wochen nach dessen Inkrafttreten der vorbezeichneten Stelle mitzuteilen. (3) Die Bestimmungen der Abs. (1) und (2) finden auch auf Verzichte und Anerkenntnisse Anwendung. § 14. (1) Der geschädigte Eigentümer geht der Ansprüche, die sich aus der Nichtigkeit der Vermögensentziehung ergeben, verlustig, wenn er nicht innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes ein Verfahren gemäß § 15 dieses Gesetzes anhängig macht. Diese Frist kann durch Verordnung des Bundesministeriums für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung verlängert werden. (2) Von den gesetzlichen Erben sind nur Ehegatten, Vorfahren und Nachkommen des Verstorbenen sowie dessen Geschwister und deren Kinder, sonstige gesetzliche Erben nur dann zur Erhebung eines Anspruches nach Maßgabe der Einantwortung berechtigt, wenn sie in Hausgemeinschaft mit dem Erblasser gelebt haben. (3) Bevollmächtigte Vertreter können solche Ansprüche nur auf Grund einer Vollmacht anmelden, die nach dem 27. April 1945 ausgestellt worden ist. Die Echtheit der Unterschrift muß beglaubigt sein. (4) Abwesenheitskuratoren sind zur Geltendmachung von Ansprüchen aus diesem Gesetze [Abs. (1)] nur dann berechtigt, wenn sie auf Antrag eines Testamentserben (Legatars) oder eines in Abs. (2) bezeichneten nahen Angehörigen oder eines Bevollmächtigten [Abs. (3)] einer solchen Person bestellt worden sind. Zur Bestellung solcher Abwesenheitskuratoren ist auch der Vorsitzende der Rückstellungskommission [§ 15, Abs. (2)] berechtigt, vor der das Verfahren anhängig gemacht werden kann [§ 20, Abs. (1)]. Ist der Antrag auf Bestellung eines Abwesenheitskurators innerhalb der in Abs. (1) bezeichneten Frist gestellt worden, kann jedoch der Abwesenheitskurator nicht mehr so rechtzeitig bestellt werden, daß er das Verfahren nach § 15 innerhalb der in Abs. (1) bezeichneten Frist anhängig machen kann, so hat der Vorsitzende eine angemessene Frist zu bestimmen, innerhalb der das Verfahren als rechtzeitig anhängig gemacht zu gelten hat. (5) Sonstige Personen, insbesondere Zessionare, sind zur Erhebung des Rückstellungsanspruches nicht berechtigt. Inwieweit Ansprüche, die nach den vorstehenden Bestimmungen nicht geltend gemacht wurden oder werden konnten, von einem Fonds geltend gemacht werden können, wird ein besonderes Bundesgesetz regeln. § 15. (1) Über Ansprüche, die sich aus der Nichtigkeit von Vermögensentziehungen nach diesem Bundesgesetze ergeben, einschließlich der Rückgriffsansprüche zwischen mehreren Erwerbern, entscheiden ausschließlich Rückstellungskommissionen. (2) Eine Rückstellungskommission wird bei jedem mit der Ausübung der Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtssachen betrauten Landesgericht errichtet. Ihr Sprengel erstreckt sich auf das Bundesland, in dem sich das Landesgericht befindet. Für Wien, Niederösterreich und Burgenland wird die Kommission beim Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien errichtet. Die Zuständigkeit der beim Landesgerichte Linz-Nord errichteten Kommission erstreckt sich auf den Sprengel dieses Landesgerichtes.

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(3) In zweiter Instanz entscheiden Rückstellungsoberkommissionen, die bei jedem Oberlandesgericht errichtet werden. Ihre Zuständigkeit erstreckt sich auf den Sprengel des Oberlandesgerichtes, bei dem sie errichtet sind. (4) In dritter Instanz entscheidet die Oberste Rückstellungskommission beim Obersten Gerichtshof. § 16. (1) Die Rückstellungskommissionen und die Rückstellungsoberkommissionen bestehen aus einem Vorsitzenden und der erforderlichen Zahl von Stellvertretern des Vorsitzenden und den Beisitzern. (2) Die Mitglieder der Kommissionen und Oberkommissionen werden von dem Oberlandesgerichtspräsidenten bestellt. (3) Die Vorsitzenden und ihre Stellvertreter müssen Richter sein. (4) Die Beisitzer werden aus dem Kreise der zu fachkundigen Laienrichtern des Landesgerichtes (Handelsgerichtes Wien) und der zu Beisitzern bei den Arbeitsgerichten ernannten Personen bestellt. Weiters sind auf Grund gutächtlicher Vorschläge der Landwirtschaftskammern zu Beisitzern Personen zu bestellen, die infolge ihres Berufes über genaue Kenntnisse auf dem Gebiete der Land- und Forstwirtschaft verfügen. Für ihre Bestellung gelten sinngemäß die Vorschriften über die Ernennung der fachkundigen Laienrichter. (5) Soweit im folgenden nichts anderes bestimmt ist, gelten für die Mitglieder der Kommissionen und Oberkommissionen, die nicht Richter sind, sinngemäß die Bestimmungen über die fachkundigen Laienrichter aus dem Handelsstande. § 17. (1) Die Rückstellungskommissionen und Oberkommissionen entscheiden in Senaten, die aus dem Vorsitzenden oder einem seiner Stellvertreter und zwei Beisitzern bestehen, von denen einer die Amtsbescheinigung gemäß § 4, Abs. (3), des Opferfürsorgegesetzes (St. G. Bl. Nr. 90) besitzen soll. Soweit es sich um vorwiegend land- und forstwirtschaftliche Güter handelt, sind die Beisitzer dem Kreise der von den Landwirtschaftskammern vorgeschlagenen, bei Vermögen von Arbeitnehmerorganisationen dem Kreise der von den Arbeiterkammern vorgeschlagenen Personen zu entnehmen. (2) Dem Vorsitzenden steht die Leitung und Einteilung der Geschäfte der Kommissionen und die Auswahl der Beisitzer zu. (3) Über Ansprüche mit einem Streitwerte, der 500 S nicht übersteigt, entscheidet der Vorsitzende der Rückstellungskommission oder sein Stellvertreter ohne Beisitzer. Der Oberlandesgerichtspräsident kann insbesondere auch Richter bei Bezirksgerichten zu Stellvertretern des Vorsitzenden bestellen; diesen soll die Entscheidung zugewiesen werden, wenn eine der Parteien im Sprengel des Bezirksgerichtes wohnt. § 18. (1) Die Oberste Rückstellungskommission besteht aus dem Vorsitzenden, der erforderlichen Zahl von Stellvertretern des Vorsitzenden und den Beisitzern. Sämtliche müssen Richter sein. (2) Die Mitglieder der Obersten Rückstellungskommission werden vom Präsidenten des Obers­ ten Gerichtshofes bestellt.

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(3) Die Oberste Rückstellungskommission entscheidet in Senaten, bestehend aus dem Vor­ sitzenden oder einem seiner Stellvertreter und zwei Beisitzern. Die Bestimmungen des § 17, Abs. (2), gelten sinngemäß. § 19. (1) Das Amt eines Mitgliedes einer Kommission ist ein Ehrenamt. Durch Verordnung können Vorschriften über eine Entschädigung der Mitglieder getroffen werden. (2) Die Mitglieder aller Kommissionen sind in der Ausübung ihres Amtes unabhängig und an keine Weisung gebunden. (3) Die Kommissionen fassen ihre Beschlüsse mit einfacher Mehrheit der Stimmen. Der Vorsitzende gibt seine Stimme zuletzt ab. § 20. (1) Für die Kommissionen gelten sinngemäß die Bestimmungen der Jurisdiktionsnorm über Beratung, Abstimmung, Ablehnung, Delegierung und über Streitigkeiten zwischen den Gerichten und zwischen den Gerichten mit ausländischen Behörden über die Zuständigkeit sowie für die örtliche Zuständigkeit der Rückstellungskommissionen die §§ 65 bis 75, 81 und 99 der Jurisdiktionsnorm. (2) Über Beschwerden gegen Entscheidungen der Rückstellungskommissionen entscheidet die übergeordnete Rückstellungsoberkommission. Über Beschwerden gegen Entscheidungen der Oberkommissionen entscheidet die Oberste Rückstellungskommission. § 21. (1) Gegen die Entscheidung der Rückstellungskommission steht binnen 14 Tagen die Beschwerde an die Rückstellungsoberkommission zu. (2) Gegen die Entscheidung der Rückstellungsoberkommission steht binnen 14 Tagen wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung die Beschwerde an die Oberste Rückstellungskommission zu, wenn der Streitwert mehr als 15 000 S beträgt. Eine Beschwerde gegen ein bestätigendes Erkenntnis der Rückstellungsoberkommission kann nur dann erhoben werden, wenn die Oberkommission sie für zulässig erklärt. § 22. (1) Wurde die Unzulässigkeit des Rechtsweges und damit die sachliche Zuständigkeit der Rückstellungskommission von einem Gerichte rechtskräftig ausgesprochen, so ist die Entscheidung für die Rückstellungskommission bindend, bei der der Anspruch in der Folge anhängig wird. (2) Hat eine Kommission ihre sachliche Unzuständigkeit rechtskräftig ausgesprochen, so ist das Gericht an die Entscheidung der Kommission gebunden. § 23. (1) Für das Verfahren vor den Kommissionen gelten sinngemäß die Bestimmungen des Verfahrens außer Streitsachen mit der Maßgabe, daß die Verhandlungen öffentlich sind. Jedoch sind die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über den Beweis sinngemäß anzuwenden. (2) Die Kommissionen können den Parteien für ihre Leistungen nach billigem Ermessen Fristen gewähren und Sicherstellungen anordnen. Zur Sicherstellung von Forderungen des Erwerbers kann die Kommission auch die privat-rechtlichen Befugnisse des geschädigten Eigentümers auf jene eines öffentlichen Verwalters einschränken. In besonders dringenden Fällen kann der Vorsitzende der Rückstellungskommission über Anträge auf Anordnung einer Sicherstellung entscheiden.

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(3) Ist die Rückstellung des entzogenen Vermögens infolge seiner wirtschaftlichen Umgestaltung nicht tunlich, so kann die Kommission, falls dies den Grundsätzen der Billigkeit entspricht, dem Erwerber die Leistung eines anderen ihm gehörigen Vermögens auftragen, das dem entzogenen Vermögen nach seiner wirtschaftlichen Zweckbestimmung gleichartig, ähnlich oder gleichwertig ist, oder aber auch dem geschädigten Eigentümer eine seinem Schaden entsprechende Beteiligung zusprechen. Gegen den Willen des geschädigten Eigentümers kann aber nur auf Vergütung des Schätzungswertes erkannt werden. (4) Stehen der Rückstellung von land- oder forstwirtschaftlich genutztem Grund und Boden, der vor der Entziehung Bestandteil eines land- oder forstwirtschaftlichen Großbetriebes gewesen ist, infolge seiner bereits erfolgten Heranziehung für landwirtschaftliche Siedlungszwecke überwiegende öffentliche Interessen entgegen, so hat sich der Ausspruch der Rückstellungskommission auf die grundsätzliche Anerkennung eines Anspruches auf Entschädigung zu beschränken. Umfang und Art der Entschädigung werden durch ein besonderes Bundesgesetz geregelt. (5) Inwiefern die Kosten des Verfahrens von einer der Parteien zu ersetzen oder unter die Parteien zu teilen sind, entscheidet die Kommission nach den Bestimmungen der Zivilprozeßordnung über den Kostenersatz. § 24. (1) Der Vorsitzende der Rückstellungskommission hat die Anmerkung der Einleitung des Rückstellungsverfahrens im Grundbuche zu veranlassen. (2) Diese Anmerkung hat zur Folge, daß die rechtskräftige Entscheidung der Kommission auch gegen diejenigen Personen, die erst nach dem Zeitpunkt, in dem das Ersuchen um Anmerkung an das Grundbuchsgericht gelangt ist, bücherliche Rechte erlangt haben, wirksam ist. (3) Die Anmerkung ist nach rechtskräftiger Beendigung des Verfahrens auf Antrag des im Verfahren festgestellten Eigentümers zu löschen. § 25. (1) Ist für eine bei einem Gericht anhängige Rechtssache nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes nunmehr die Rückstellungskommission ausschließlich zuständig, so hat das Gericht in jeder Lage des Verfahrens die Unzulässigkeit des Rechtsweges auszusprechen. Nach Rechtskraft dieses Beschlusses hat es, sofern ihm die Bestimmung der zuständigen Rückstellungskommission nach den Verhältnissen des einzelnen Falles möglich ist, die Rechtssache an die örtlich zuständige Kommission zu überweisen. Die Rückstellungskommission hat das Verfahren unter Benützung der Akten des Gerichtes durchzuführen. (2) Die Rückstellungskommission hat bei ihrer Entscheidung im Kostenpunkte die im Verfahren vor dem Gerichte aufgelaufenen Kosten zu berücksichtigen. § 26. (1) Rechtskräftige Erkenntnisse der Rückstellungskommissionen gelten als öffentliche Urkunden, auf Grund deren bücherliche Eintragungen vollzogen werden können, und als Exekutionstitel im Sinne der Exekutionsordnung. Die für die Exekution zur Sicherstellung auf Grund von Endurteilen inländischer Zivilgerichte geltenden Bestimmungen der Exekutionsordnung sind auf die noch nicht vollziehbaren Erkenntnisse der Rückstellungskommissionen anzuwenden. (2) Vor einer Rückstellungskommission zu Protokoll gegebenen Vergleichen, Verzichten und Anerkenntnissen kommt die gleiche Wirkung zu.

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§ 27. Vor dem Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes gefällte Urteile und erlassene Bescheide stehen der Geltendmachung von Ansprüchen nach diesem Bundesgesetze nicht entgegen. § 28. Wer ein entzogenes Vermögen in seiner Macht oder Gewahrsame hatte, ist verpflichtet, dem geschädigten Eigentümer Auskunft über dessen Verbleib zu geben. Im Falle der Weigerung hat ihm die nach seinem Wohnsitze zuständige Rückstellungskommission [§ 15, Abs. (2)] die Ablegung eines Eides darüber, was ihm über den Verbleib des Vermögens bekannt ist, aufzutragen, sofern der geschädigte Eigentümer das Vorliegen der Voraussetzungen der Auskunftspflicht glaubhaft macht. Auf das Verfahren finden die Bestimmungen der §§ 47 ff. Exekutionsordnung sinngemäß Anwendung. § 29. (1) Alle durch dieses Bundesgesetz veranlaßten Schriften und Amtshandlungen sind von öffentlichen Abgaben befreit. (2) Das Gleiche gilt für Vermögensübertragungen und sonstige Rechtsakte nach diesem Bundesgesetz, wenn über die Verpflichtung zur Rückstellung im Verfahren vor der Rückstellungskommission entschieden oder ein Vergleich, Verzicht oder ein Anerkenntnis zu Protokoll gegeben worden ist. (3) Die Abgabenfreiheit erstreckt sich auch auf gerichtliche oder außergerichtliche Vergleiche, Verzichte und Anerkenntnisse gemäß § 13, falls diese rechtzeitig angezeigt wurden und die zur Entgegennahme der Anzeige berufene Bezirksverwaltungsbehörde bestätigt, daß über das den Gegenstand des Vergleiches bildende Vermögen eine Vermögensanmeldung nach § 4 Vermögensentziehungs-Anmeldungsverordnung, B. G. Bl. Nr. 166/46, vorliegt. (4) Die Verpflichtung zur Gebührenanzeige der in den Abs. (2) und (3) angeführten Rechtsgeschäfte gemäß § 31 Gebührengesetz 1946, B. G. Bl. Nr. 184/46, bleibt unberührt. § 30. Besonderer Regelung bleiben vorbehalten: 1. Ansprüche der Dienstnehmer, 2. Ansprüche der Mieter (Pächter) von Wohn- und Geschäftsräumen und der Pächter von Kleingärten, 3. Ansprüche wegen Entziehung oder Behinderung der Ausübung von Urheber- oder Patentrechten sowie sonstiger gewerblicher Schutz- oder anderer immaterieller Güterrechte, 4. Ansprüche öffentlich-rechtlicher Natur, die in die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden fallen. § 31. Mit der Vollziehung dieses Bundesgesetzes sind die Bundesministerien für Vermögens­ sicherung und Wirtschaftsplanung und für Justiz im Einvernehmen mit den beteiligten Bundesministerien betraut.

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Bundesgesetz vom 15. Mai 1946 über die Nichtigerklärung von Rechts­ geschäften und sonstigen Rechtshandlungen, die während der deutschen ­Besetzung Osterreichs erfolgt sind (BGBl. Nr. 106/1946) § 1. Entgeltliche und unentgeltliche Rechtsgeschäfte und sonstige Rechtshandlungen während der deutschen Besetzung Österreichs sind null und nichtig, wenn sie im Zuge seiner durch das Deutsche Reich erfolgten politischen oder wirtschaftlichen Durchdringung vorgenommen worden sind, um natürlichen oder juristischen Personen Vermögenschaften oder ­Vermögensrechte zu entziehen, die ihnen am 13. März 1938 zugestanden sind. § 2. Die Art der Geltendmachung und der Umfang der Ansprüche, die sich aus § 1 ergeben, wird durch Bundesgesetz geregelt. § 3. Mit der Vollziehung dieses Bundesgesetzes ist das Bundesministerium für Vermögenssiche­ rung und Wirtschaftsplanung im Einvernehmen mit den beteiligten Bundesministerien betraut.

367  Bundesgesetz vom 15. Mai 1946 über die Nichtigerklärung von Rechts­geschäften und sonstigen Rechtshandlungen…