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German Pages 256 Year 2008
Schriften zum Strafrecht Heft 197
Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips
Von
Christian Tenthoff
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
CHRISTIAN TENTHOFF
Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips
Schriften zum Strafrecht Heft 197
Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips
Von
Christian Tenthoff
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum hat diese Arbeit im Jahre 2007 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-12717-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Diese Arbeit lag im Jahr 2007 der Juristischen Fakultät der Ruhr-UniversitätBochum als Inauguraldissertation vor. Auf die Problematik des Spannungsverhältnisses zwischen Autonomieprinzip, der Freiheit der Selbsttötung und der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen wurde ich erstmals anlässlich eines rechtsphilosophischen Seminars unter Leitung von Dr. Gunnar Duttge im Jahr 2000 aufmerksam. Ab 2005 konnte ich mich dann eingehend mit der Problematik im Rahmen meiner Promotion beschäftigen. Mein besonderer Dank gilt hier Professorin Dr. Tatjana Hörnle, die mich durch den Prozess der Erstellung einer wissenschaftlichen Arbeit führte und mir mit wertvollen Anregungen zur Seite stand. Weiterhin möchte ich Dr. Thomas Hanke und Stephanie Bachnik für ihre „redaktionelle“ Arbeit bei der Erstellung der Dissertation danken. Schließlich danke ich auch meiner gesamten Familie, ohne deren Unterstützung die Erstellung dieser Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Dortmund, im Frühjahr 2008
Christian Tenthoff
Inhaltsverzeichnis Einleitung: Die Problematik der Tötung auf Verlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erstes Kapitel Verfassungsrechtliche Betrachtung der Tötung auf Verlangen
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A. Strafrecht im Lichte der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Rechtsgutstheorien als Kriterien des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kritik an der Rechtsgutslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die grundrechtliche Prüfung der Verfassungswidrigkeit von Strafrechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16 16 17
B. § 216 StGB als Grundrechtseingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Eingriff in die Grundrechte des Täters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eingriff durch Verhaltensvorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Autonomieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 2 Abs. 1 GG als Verankerung des Autonomieprinzips . . . . . . . 2. Eingriff durch Sanktionsvorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Mittelbarer Eingriff in die Grundrechte des Opfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Einwilligung im Strafrecht als Erweiterung des Handlungsspielraums des „Opfers“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zurechenbarkeit des mittelbaren Eingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eingriff durch Verhaltensvorschrift oder Sanktionsvorschrift? . . . . . . . 4. Gibt es ein Recht auf den eigenen Tod? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die herrschende Meinung: „Kein Recht auf den eigenen Tod“ aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Negatives Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . c) Negative Grundrechtsbetätigung als Ausdruck der Autonomie . . . d) Exkurs: Negative Grundrechtsausübung, Grundrechtsnichtausübung und -verzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG f) Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18 18 19 19 21 24 25
C. Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schranken der Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtfertigung des Eingriffs in Täterrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39 39 41
18
26 26 27 28 29 33 33 35 37 38 39
8
Inhaltsverzeichnis 1. Rechtfertigung der Verhaltensvorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtfertigung der Sanktionsvorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtfertigung des mittelbaren Eingriffs in Opferrechte . . . . . . . . . . . . . . 1. Der einfache Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG . . . . . . . . . 2. Die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Konsequenz: Keine Grenzen für den Gesetzgeber außerhalb des Verhältnismäßigkeitsgebots (Schranken-Schranke)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Unterschied zwischen verfassungsrechtlicher und kriminalpolitischer Bewertung einer Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41 42 42 42 43 43 45
Zweites Kapitel Mögliche Beschränkungen des Strafgesetzgebers
48
A. Gemeinwohlinteressen als Gesetzeszwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
B. Rechtsgüterschutz als Zweck des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Strafrechtliche Rechtsgutstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die klassische Rechtsgutslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die personale Rechtsgutslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Strafrecht als generalisierender Opferschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Strafrecht und die Risikogesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52 53 54 56 56
D. Strafrechtliche Rechtsgutstheorien als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
E. Absolute Schranken des Strafrechts aus der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Rechte anderer als Grenze der Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Schranke des Sittengesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kritik an der Etablierung der „Rechte anderer“ und des „Sittengesetzes“ als absolute Schranken des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58 60 61
F. Erkenntnisse des „Harm Principle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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G. Zusammenfassung: Differenzierungskriterien für strafrechtliche Gesetzeszwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Drittes Kapitel Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
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A. Überpositive Gründe für die Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Religiöse Begründung für die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens II. Moralphilosophische Begründung im Sinne des deutschen Idealismus . .
70 70 75
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis I.
Das Leben als Schutzgut des § 216 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Grundrecht auf Leben als Abwehrrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutzrechtliche Bindung des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Herleitung der Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Umfang der Schutzpflicht des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Schutz des Sterbewilligen vor sich selbst (Paternalismus) . . . . . . . . . . . . . 1. Schutzpflicht und Schutzrecht des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Menschenwürde als Verfügungsschranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Autonomieorientierter Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grundzüge des weichen Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fortbestehen der Schutzpflicht bei Selbstgefährdung . . . . . . . . . . . . . . . 6. Fortbestehen der Schutzpflicht bei fehlender Freiverantwortlichkeit . . III. Was bedeutet Autonomie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ideale Autonomie oder rechtliche Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kriterien rechtlicher Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Betrachtung der Autonomie in der Einwilligungsdogmatik . . . . . . a) Keine Anwendung der Regeln der Willenserklärungen . . . . . . . . . . b) Mangelfreie Willensbildung als Voraussetzung der wirksamen Einwilligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Irrtümer als Willensmängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beachtlichkeit von Motivirrtümern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vertrauensschutz in gegebene Einwilligungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwang als Autonomiedefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Mängel der Autonomiekompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fehlende Freiverantwortlichkeit im Rahmen des § 216 StGB . . . . . . . . . . 1. Folgen des Mangels an Freiverantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Generell fehlende Freiverantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fehlende Freiverantwortlichkeit trotz mangelfreier Einwilligung . . . . . 4. Fehlende Freiverantwortlichkeit trotz ernstlichem Tötungsverlangen? V. Zweifel an der Freiverantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zwischenergebnis: Schutz vor Gefährdungen von Drittinteressen und Interessen der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. § 216 StGB als Gefährdungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Theorie der generellen Gefährlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Theorie der abstrakten Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Legitimation abstrakter Gefährdungsdelikte jenseits einer Präsumtion 4. Rechtsgüterschutz als Grund für die Etablierung abstrakter Gefährdungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der verfassungsrechtliche Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Beschränkung der Anwendung abstrakter Gefährdungsdelikte . . . . . . .
9 80 80 81 82 82 84 86 87 91 96 98 99 101 101 102 103 104 105 106 107 108 110 112 115 116 116 118 121 123 124 125 126 129 130 131 133 134 135
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Inhaltsverzeichnis a) Das Schuldprinzip als Schranke abstrakter Gefährdungsdelikte . . . b) Maßstäbe zur Unterscheidung legitimer und illegitimer abstrakter Gefährdungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anwendung von Kriterien der objektiven Zurechnung . . . . . . . . . . . d) Differenzierungspflicht bei abstrakten Gefährdungsdelikten aus Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Kategorisierung abstrakter Gefährdungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Bedenken gegen die Einordnung des § 216 StGB als Gefährdungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Schutz von Interessen der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechtsfürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kollektivistische Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sozialbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Tabuschutz als Schutz der Wertbestimmung der Gesellschaft . . . . . . . 5. Tabuschutz als Sicherung des Rechtsfriedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Rechtsgüter Dritter als Grundrechtsschranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutz des Lebens Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Paternalistischer Schutz Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das eigentliche Beweisargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Missbrauchsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schutz des Lebens anderer durch Tabubewahrung . . . . . . . . . . . . . . e) Zum Umgang mit Argumenten der schiefen Ebene . . . . . . . . . . . . . 2. Schutz von Unterhaltsinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schutz von Gefühlen Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schutz der Ärzte vor der Pflicht zu Töten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Fazit: Grundsätzlich zulässige Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Viertes Kapitel Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
182
A. Abwägung unter empirischen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 B. Abwägungskriterien bei abstrakten Gefährdungsdelikten . . . . . . . . . . . . . . . 183 C. Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers und Abwägungsgrenzen . . . . . 184 D. Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 E. Die I. II. III.
Gefahren der Freigabe der Tötung auf Verlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das eigentliche Beweisargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weich-paternalistisch motivierter Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefahr von Fehlentwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186 187 188 192
Inhaltsverzeichnis
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F. Abwägungsergebnis in Hinblick auf eine Abwägungskontrolle des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
Fünftes Kapitel Kriminalpolitische Erwägungen
197
A. Zum Erfordernis der Systemkonformität im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 B. Das Selbstbestimmungsrecht in der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Behandlungshoheit des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zwangsbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Selbstbestimmung und Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Selbstbestimmung und die guten Sitten des § 228 StGB . . . . . . . . . . . . . . V. Verbot der Lebendspende von Organen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Betäubungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Die Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Formen der Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die rechtliche Bewertung der Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aktive direkte Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Passive Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Indirekte Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sterbebegleitung, „reine“ Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
198 198 199 205 207 208 209 210 211 211 211 213 217 221
C. Gründe für die moralische Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 D. Unterscheidung zwischen indirekter Sterbehilfe und direkter Sterbehilfe 224 E. Gründe für die unterschiedliche Behandlung von Suizid und Tötung auf Verlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 I. Der Suizid als unverbotene Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 II. Eigenhändigkeit des Suizids als entscheidendes Differenzierungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 F. Wertungswidersprüche bei der „Einwilligung“ in fahrlässige Tötung? . . . . 230 G. Gefahren der Fehlentwicklung nach geltendem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 H. Widersprüche mit der bestehenden Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
Einleitung: Die Problematik der Tötung auf Verlangen Die §§ 211 ff. StGB gehören als Tötungsdelikte zu den elementarsten Strafvorschriften. Jede Rechtsordnung hat ein Interesse daran, Tötungsdelikte unter Strafe zu stellen. Das menschliche Leben ist das höchste Gut des Individuums. An der Legitimation der Strafbarkeit der Tötungsdelikte dürfte daher kein Zweifel bestehen. Dies gilt für die klassischen Delikte von Mord (§ 211 StGB) und Totschlag (§ 212 StGB). Beim Schwangerschaftsabbruch (§ 218 StGB) und der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) ist dies nicht so eindeutig. Es liegt in der Natur der Sache, dass Diskussionen um derartige Straftatbestände auch von individuellen ethischen Vorstellungen geprägt sind. Gerade die Frage der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen wird bereits seit langem diskutiert. § 216 StGB bestimmt für die Tötung, die aufgrund eines ausdrücklichen und ernstlichen Verlangens erfolgt, eine Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 5 Jahren. Die Vorschrift stellt damit eine Privilegierung gegenüber den „gewöhnlichen“ Tötungsdelikten dar. Sie stellt aber auch klar, dass eine Einwilligung in die Tötung den Täter nicht straffrei stellen kann. Insbesondere in Hinblick auf die Straflosigkeit der Beihilfe zum Suizid ist diese Entscheidung des Gesetzgebers nur schwer nachvollziehbar. Es hat in der jüngeren Vergangenheit verschiedene Versuche gegeben, eine Reform des § 216 StGB herbeizuführen. Neben etlichen bloßen Forderungen nach einer Änderung der bestehenden Gesetzeslage wurde 1986 sogar ein konkreter Alternativentwurf zur Sterbehilfe, die ja den Hauptanwendungsfall des § 216 StGB darstellt, konzipiert. Bis heute hat es aber in Deutschland noch keine Reform des § 216 StGB gegeben. Zuletzt hat der Nationale Ethikrat in seiner Stellungnahme vom 13.7.20061 empfohlen, den § 216 StGB unverändert zu belassen. Wenn man die Materialien zum Strafgesetzbuch der Preußischen Staaten betrachtet, wird klar, dass bereits vor Einführung des § 216 StGB die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen umstritten war. Auch damals sah man die Schwierigkeit, dass die Einwilligung in eine Tötung der Tat eigentlich das Unrecht nehmen müsste. Man entschied sich schließlich in Anbetracht einer fehlenden Verfügungsmacht über sein eigenes Leben, der Einwilligung in die eigene Tötung keine unrechtsaufhebende Wirkung zuzuerkennen. Gleichzeitig wurde aber auch hier schon offenbar, dass die Straflosigkeit des Suizids, an der man aber weiter1 Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, Stellungnahme vom 13.07.2006, S. 101 ff.
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Einleitung
hin festhalten wollte, sich kaum mit der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen vereinbaren lässt. Auch das Bedürfnis, bei schwerer Krankheit eine Tötung auf Verlangen zu ermöglichen, wurde bereits bedacht. Den Hauptanwendungsfall der Tötung auf Verlangen sah man damals aber in der Tötung Verletzter auf dem Schlachtfeld, was durch Gnadenspruch des Königs kompensiert werden sollte.2 Heute sind dieselben Gesichtspunkte der Grund für die Diskussion um den § 216 StGB. Innerhalb der Diskussion sind die unterschiedlichen Meinungen kaum zu versöhnen. Dies liegt vor allem daran, dass es sich um ethisch sensible Bereiche handelt, die in hohem Maße persönlichen Moralvorstellungen unterworfen sind. Die kontroverse Diskussion führt zu einer unklaren Rechtslage und damit zu großen Unsicherheiten in wichtigen Bereichen des sozialen Lebens.3 Gerade durch die fortschreitende technische Weiterentwicklung der Medizin hat die Problematik der Sterbehilfe, deren rechtliche Bewertung maßgeblich durch § 216 StGB geprägt ist, an Bedeutung gewonnen. Immer wieder wird die Angst der Menschen vor einer durch die technische Entwicklung möglich gewordenen Lebensverlängerung über das „natürliche“ Maß hinaus beschrieben.4 Nachdem der Schatten des Nationalsozialismus nach und nach abgeschüttelt wird, und damit auch die Scheu vor einer Diskussion über Sterbehilfe oder Euthanasie, die ja durch das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten aufs Schrecklichste pervertiert wurde, abnimmt, wurden in jüngerer Zeit immer wieder Rufe nach einer gesetzlichen Regelung der Sterbehilfe laut.5 Der Nationale Ethikrat hat seine Ablehnung der Legalisierung der aktiven Sterbehilfe unter anderem allerdings noch ausdrücklich auf die deutsche Geschichte gestützt.6 Den modernen, freiheitsliebenden Menschen stört vor allem die Einschränkung der Dispositionsbefugnis des Einzelnen in Bezug auf sein eigenes Leben. Das den Individualismus betonende Grundgesetz scheint einer derartigen Einschränkung entgegen zu stehen. Unsere Rechtsordnung wird im Geiste des Deutschen Idealismus durch das Autonomieprinzip geprägt. Auch der römische Grundsatz „volenti non fit iniuria“,7 der immer noch Bedeutung in hiesigen Rechtskreisen entfaltet, steht im Widerspruch zur Begründung der Strafbarkeit für eine eingewilligte Tötung. 2 Goltdammer, Die Materialien zum Strafgesetzbuche für die Preußischen Staaten Teil II, S. 364 ff. 3 Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil Teilband 1, § 17 III Rn. 38. 4 Vgl. Kautzky, Euthanasie und Gottesfrage, S. 147 f. 5 Zur Geschichte der Reformbewegung siehe Große-Vehne, Tötung auf Verlangen, „Euthanasie“ und Sterbehilfe, S. 182 ff. 6 Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, Stellungnahme vom 13.07.2006, S. 36 f., 95. 7 „Dem Einwilligenden geschieht kein Unrecht.“
Einleitung
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Insgesamt scheint § 216 StGB ein Straftatbestand zu sein, der in unserer heutigen Zeit, in welcher die Autonomie des Individuums durch die Gesellschaft als das höchste Gut angesehen wird, keinen Platz mehr hat. Diese Arbeit geht der Frage nach, ob der § 216 StGB in der Rechtsordnung des Grundgesetzes legitimiert werden kann.
Erstes Kapitel
Verfassungsrechtliche Betrachtung der Tötung auf Verlangen A. Strafrecht im Lichte der Grundrechte I. Die Rechtsgutstheorien als Kriterien des Strafrechts Bei der Untersuchung von Strafrechtsnormen wird in der Strafrechtswissenschaft traditionell die Rechtsgutslehre herangezogen. Diese besagt, dass die untersuchte Strafrechtsnorm dem Schutz eines anerkannten Rechtsgutes dienen muss, um eine Legitimation zu erfahren.1 Während Binding hierin keine Schranken für den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers sah – der Gesetzgeber konnte Rechtsgüter beliebig schaffen2 – wird heute versucht, über die Rechtsgutstheorien eine Beschränkung des Gesetzgebers zu erreichen. Eine derartige Sichtweise setzt einen systemtranszendenten3 Rechtsgutsbegriff (methodischer, hermeneutischer bzw. kriminalpolitischer Rechtsgutbegriff4) voraus. Denn nur so kann eine Kritik an der gesetzgeberischen Entscheidung begründet werden. Dies bedeutet nicht, dass diese Kritik eine Nichtigkeit der betroffenen Norm nach sich ziehen muss, sie kann auch lediglich als kriminalpolitische Richtlinie verstanden werden.5 Ein anderes Ziel verfolgt ein systemimmanenter Rechtsgutbegriff. Dieser ordnet lediglich die bereits bestehenden Gesetze, ohne dass eine Kritik der Rechtsordnung anhand des Rechtsgutsbegriffes möglich wäre.6 Als Prüfungskriterium ist ein derartiger Rechtsgutsbegriff ungeeignet. Er stellt nur eine Formulierung des „in den einzelnen Strafrechtssätzen anerkannte[n] Zweck[s] in seiner kürzesten Formel“7 dar. Ein derartiger Rechtsgutsbegriff würde die Rechtsordnung allenfalls tautologisch begründen.8 1
Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 8. Binding, Die Normen und ihre Übertretung Band I, S. 340 f. 3 So Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 19 ff. 4 So Roxin, Strafrecht AT 1, § 2 B Rn. 4 f. 5 Roxin, Strafrecht AT 1, § 2 C Rn. 12. 6 Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 19 ff. 7 Honig, Die Einwilligung des Verletzten Teil 1, S. 94. 8 Weigend, Über die Begründung der Straflosigkeit bei Einwilligung des Betroffenen, ZStW 98 (1986), S. 50. 2
A. Strafrecht im Lichte der Grundrechte
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Der Grundsatz, den Rechtsgutsbegriff als systemtranszendent anzusehen, erscheint allerdings einigermaßen beliebig. Tatsächlich gibt es strafrechtliche Tatbestände, die scheinbar nicht dem Schutz eines Rechtsguts im strafrechtlichen Sinne dienen. Diese Tatbestände werden dann teilweise als eng begrenzte Ausnahmen eingestuft,9 teilweise wird der Rechtsgutsbegriff entsprechend angepasst. In jüngster Zeit werden diese Tatbestände aber auch zu einer Kritik am Rechtsgutsbegriff herangezogen.10 II. Kritik an der Rechtsgutslehre Die Rechtsgutslehre wird insbesondere in jüngerer Zeit von mehreren Autoren angegriffen, die sie teilweise als Relikt einer vorkonstitutionellen Zeit ansehen.11 In der heutigen Rechtsordnung sei den Rechten des Bürgers durch seine verfassungsrechtlich garantierten Abwehrrechte genüge getan.12 Vor diesem Hintergrund könne eine systemkritische Funktion des Rechtsgutsbegriffs nicht begründet werden. Eine Bindung des Gesetzgebers durch die Kriterien der Rechtsgutstheorien sei daher nicht möglich.13 Die Prüfung von Strafrechtsnormen wäre damit auf eine grundrechtsdogmatische Prüfung beschränkt. Im Wesentlichen bedeutet dies, dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen wird. Auch Hörnle hat festgestellt, dass „eine Fixierung auf den Rechtsgutsbegriff nicht weiterführt“.14 Die Mehrzahl der Rechtsgutsdefinitionen ist wenig aussagekräftig. Dies hat seinen Grund in dem von Hassemer erkannten Dilemma, dass der Versuch, die Gesamtheit der schützenswerten Objekte in eine Definition zu fassen, zwangsläufig zu einer plakativen Verallgemeinerung führen muss.15 Es liegt also nahe, bei der Prüfung der Strafrechtsnorm zunächst bei der Verfassung anzusetzen und erst anschließend zu versuchen, die Rechtsgutstheorien in den verfassungsrechtlichen Kontext einzuarbeiten. 9 Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB, Band I, vor § 1 Rn. 10 f.; vgl. auch Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, S. 258 f., die einen sehr weiten und damit konturlosen Rechtsgutsbegriff vertreten. 10 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Abschnitt Rn. 16 ff.; Stratenwerth, Zum Begriff des „Rechtsgutes“, in: Eser/Schittenhelm/Schumann (Hrsg.), Festschrift für Lenckner, S. 377 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I, § 2 Rn. 7 ff.; Frisch, Grenzen des Strafrechts, in: Küper/Welp (Hrsg.), Beiträge zur Rechtswissenschaft, S. 73; Appel, Rechtsgüterschutz durch Strafrecht?, KritV 1999, S. 283 ff. 11 Auch Amelung kritisierte die fehlende Anpassung des Rechtsgutsbegriffs an die veränderte Verfassungssituation nach 1949. Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, S. 259 ff. 12 Appel, Verfassung und Strafe, S. 390. 13 Vgl. auch Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, S. 68. 14 Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 17. 15 Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 63.
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Betrachtung der Tötung auf Verlangen
III. Die grundrechtliche Prüfung der Verfassungswidrigkeit von Strafrechtsnormen Das Grundgesetz enthält lediglich in Art. 103 Abs. 2 GG formelle Anforderungen an eine Strafrechtsnorm. Besondere Regelungen für die inhaltliche Reichweite von Strafrechtsnormen existieren nicht. Lagodny stellt daher bei der Untersuchung von Strafrechtsnormen auf die allgemeine Grundrechtsdogmatik ab. Zu diesem Zweck unterteilt er die Strafrechtsnorm in eine Verhaltens- und eine Sanktionsvorschrift. Beide Vorschriften prüft er anhand der Grundrechte.16 Im Rahmen der Grundrechtsprüfung ist diese Unterteilung ein probates Mittel, um die verschiedenen Grundrechtseingriffe darzustellen. Lagodnys Ansatz läuft dabei nicht Gefahr, zu große Schranken für Strafrechtsnormen aufzubauen. In Bezug auf den Teil der Strafrechtsnorm, welche eine Verhaltensvorschrift darstellt, sind dieselben Erwägungen wie bei jeder anderen Norm anzustellen. Eine Besonderheit ergibt sich in Bezug auf die Strafrechtsnormen nur, wenn man den Teil der Norm, welcher eine Sanktionsvorschrift enthält, betrachtet.
B. § 216 StGB als Grundrechtseingriff Dass sich eine Strafvorschrift an den Grundrechten messen lassen muss, kann angesichts der Formulierung des Art. 1 Abs. 3 GG nicht bezweifelt werden. Die Grundrechte stellen die Mindestschranken für den Gesetzgeber dar. In bewusster Abkehr zur Weimarer Reichsverfassung ist nunmehr auch er unmittelbar an die Grundrechte gebunden.17 I. Eingriff in die Grundrechte des Täters Legt man die Differenzierung Lagodnys zugrunde, ergibt sich für die Betrachtung des § 216 StGB aus Tätersicht, dass zum einen eine Verhaltensvorschrift getroffen wird, welche dem Täter die Tötung eines anderen untersagt. Zum anderen wird durch die, wenn auch gegenüber der „normalen“ Tötung gemilderte, Strafandrohung ein Unwerturteil der Gesellschaft ausgesprochen. Die von Lagodny getroffene Differenzierung macht den Unterschied zwischen einer rein öffentlich rechtlichen Verbotsvorschrift und einer strafrechtlichen Vorschrift 16 Lagodny, Das materielle Strafrecht als Prüfstein der Verfassungsdogmatik, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 83 f. 17 Vgl. nur Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, § 11 Rn. 9; Pieroth/ Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 164; Hufen, In dubio pro dignitate, NJW 2001, S. 850.
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deutlich. Die Verbotsvorschriften des Verwaltungsrechts enthalten im Unterschied zu Strafvorschriften ausschließlich eine Verhaltensvorschrift und keine Sanktionsvorschrift. 1. Eingriff durch Verhaltensvorschrift Bereits die Verhaltensvorschrift des § 216 StGB greift in die Autonomie des Täters ein, weil ihm ein bestimmtes Verhalten verboten wird. Die Autonomie des Einzelnen wird durch das Grundgesetz geschützt. a) Das Autonomieprinzip Der Begriff Autonomie leitet sich aus den griechischen Begriffen autos (selbst) und nomos (Gesetz) ab. In diesem Sinn bedeutet Autonomie „Selbstgesetzgebung“ oder „Selbstbestimmung“. Autonomie oder Selbstbestimmung steht im Gegensatz zur Fremdbestimmung (Heteronomie) und bedeutet, dass der Mensch nicht zum Objekt anderer werden darf. Er ist derjenige, der Zwecke setzt und Zweck an sich ist, niemals Zweck für etwas oder jemanden.18 Diese Formulierung geht auf Kant zurück und stellt ein Ideal dar. Da jeder Mensch äußeren Einflüssen ausgesetzt ist, die seine Entscheidungen beeinflussen, kann man modifizierend formulieren: „niemand soll sich entgegen seiner tiefsten Prinzipien, seiner Ich-Ideale und Lebensvorstellungen einseitig dominieren lassen.“19 Teilweise wird als Folge von Kants „sittlicher Autonomie“ nur diejenige Handlung als autonom verstanden, die sich als vernünftig darstellt.20 Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass jeder Mensch seine Wertrangordnung selbst bestimmen kann, und demnach eine an subjektiven Kriterien ausgerichtete Vernünftigkeitsprüfung zu erfolgen hat. Die Subjektbezogenheit ist ein wesentliches Merkmal der Autonomie. Es geht gerade um die „Selbstbestimmung“ des Einzelnen. Man kann die Frage der Autonomie also nicht an Kriterien objektiver Vernunft binden. Andernfalls wäre der Einzelne an die Wertrangordnung anderer gebunden, also heteronom dominiert. Die Autonomie ist Kern der Legitimation von Staatlichkeit und Recht. Die in modernen Staatstheorien verankerte Vorstellung eines Gesellschaftsvertrages wäre ohne die Annahme der Fähigkeit zur Selbstbestimmung des Einzelnen gar 18 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Weischedel (Hrsg.), Werke in zwölf Bänden, Band 7, S. 263; Schroeder-Kurth, Grenzen der Autonomie und Manipulation der Medizinischen Genetik, in: Knoepffler/Haniel (Hrsg.), Menschenwürde und medizinethische Konflikte, S. 85. 19 Birnbacher zitiert nach: Schroeder-Kurth, Grenzen der Autonomie und Manipulation der Medizinischen Genetik, in: Knoepffler/Haniel (Hrsg.), Menschenwürde und medizinethische Konflikte, S. 85. 20 Vgl. Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 18.
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Betrachtung der Tötung auf Verlangen
nicht denkbar.21 Ebenso setzt auch die Idee der Demokratie als Herrschaft des Volkes voraus, dass sich das Volk aus autonom handelnden Individuen zusammensetzt.22 Jegliche Diskussion hat ihren Ursprung in der Annahme, dass der Mensch ein vernunftbegabtes autonomes Wesen ist, welches seine Einstellungen als Folge einer Diskussion ändern kann. Die Freiheit des Einzelnen bildet damit den Ausgangspunkt unserer Rechtsordnung. Laut Kühl stellt sie das einzige angeborene Recht des Individuums dar.23 Die Privatautonomie beispielsweise ist Ausdruck der Freiheit des Einzelnen.24 Bereits in vorkonstitutioneller Zeit war als Folge des deutschen Idealismus die Freiheit des Menschen als Recht anerkannt. Das Allgemeine Landrecht formulierte die Freiheit des Menschen als „[. . .] sein eigenes Wohl, ohne Kränkung der Rechte des Anderen, suchen und befördern zu können“.25 Die Autonomie des Einzelnen hat aber auch auf eine andere Weise Einzug in unsere Rechtsordnung gehalten. Sie ist nicht nur Prämisse des staatlichen Denkens, sondern auch Primat der Rechtsordnung. Freiheit und damit auch die Autonomie als ihre Entäußerung sowie Gleichheit sind mit der Menschenwürde untrennbar verknüpft.26 Die Autonomie des Einzelnen stellt dabei das „Herzstück“ seiner Würde dar. Letztere ist in Art. 1 Abs. 1 GG den Grundrechten vorangestellt. Nach verbreiteter Meinung wird sie nicht durch den Art. 1 Abs. 1 GG begründet, sondern ihre Existenz wird a priori angenommen.27 Durch die Erhebung der Würde des Menschen zum obersten Verfassungsgut28 wird die Freiheit als ein allgemeines Prinzip unserer Rechtsordnung begründet.29 Hierin zeigt sich der Einfluss des deutschen Idealismus und der Kantischen Konzeption auf die Rechtsordnung.30
21 Vgl. zur Staatsvertragslehre von Hobbes und Locke: Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 5 ff. 22 Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 20. 23 Kühl, Strafrecht und Moral – Trennendes und Verbindendes, in: Amelung/Beulke/Lilie/Rosenau/Rüping/Wolfslast (Hrsg.), Festschrift für Schreiber, S. 962. 24 Kant, Metaphysik der Sitten, in: Weischedel (Hrsg.), Werke in zwölf Bänden, Band 8, S. 358 f., 368 f., 382 f. 25 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, Einleitung § 83. 26 Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 380. 27 Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1 Rn. 2; vgl. aber auch Herdegen, in: Maunz-Dürig, GG Kommentar Band 1, Art. 1 Abs. 1 Rn. 17. 28 Vgl. Benda, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 3; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 58 II 6a, S. 28: „Die Menschenwürde ist [. . .] ein fundamentales Prinzip der verfassungsrechtlichen Wertordnung“. 29 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 58 II 6b, S. 30 f.; Damm, Imperfekte Autonomie und Neopaternalismus, MedR 2002, S. 376. 30 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 105.
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Bei Kant kommt der Autonomie des Einzelnen zentrale Bedeutung für die Staats- und Rechtslehre zu.31 Insbesondere als Abkehr von dem individualitätsverachtenden Kollektivismus der NS-Zeit wurde die Autonomie des Menschen als Bestandteil seiner Würde in Art. 1 Abs. 1 GG an die Spitze unserer heutigen Rechtsordnung gesetzt.32 Im Herrenchiemseer Verfassungsentwurf lautete Art. 1 Abs. 1 GG: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“. Diese Formulierung wurde nur aufgegeben, weil sie etwas Selbstverständliches ausdrückte.33 Sie macht deutlich, dass der Staat kein Selbstzweck ist, sondern gegenüber dem Individuum eine dienende Funktion hat.34 Dem Ausschuss für Grundsatzfragen, der mit der Konzipierung des Grundgesetzes beschäftigt war, war von Anfang an klar, dass „das allgemeine Freiheitsrecht“ eine Essentiale der Grundrechte sein müsse, da die Grundrechte ihren Ursprung in der Freiheit der Person haben.35 Die Freiheit und die Autonomie des Einzelnen bilden also ein allgemeines Prinzip unserer Rechtsordnung. Als Rechtsgrundsatz weist es einen normativen Gehalt auf, indem es allgemein die Verwirklichung eines Ziels gebietet. Rechtsgrundsätze legen aber nicht genau fest, wie dies zu geschehen hat. Alexy nennt Rechtsgrundsätze daher auch „Optimierungsgebote“.36 Das Autonomieprinzip durchdringt als Bestandteil der Menschenwürde die gesamte Verfassung. Diese freiheitsrechtliche Konzeption der Grundrechte ist bei der Ausgestaltung der Rechtsordnung zu beachten. b) Art. 2 Abs. 1 GG als Verankerung des Autonomieprinzips Die Ideale von Autonomie, Freiheit und Würde fordern den Rechtsstaat auf, sie zu subjektiven Rechten zu transformieren. Nach John Lockes Theorie des Gesellschaftsvertrages ist gerade die Sicherung dieser Ideale die Basis der Staatslegitimation.37 Insofern ist die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG auch „normativ“ zu verstehen. Sie stellt nicht nur eine „Seinstatsache“ dar, sondern enthält auch einen Auftrag an den Staat und die Gesellschaft, ist mithin
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Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 105. Benda, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 15; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 16. 33 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 58 II 1c, S. 17 f. 34 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 91. 35 Hillgruber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz Band 1, Art. 2 I Rn. 4. 36 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 f. 37 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 45. 32
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Betrachtung der Tötung auf Verlangen
eine „Sollensnorm“.38 In diesem Sinne findet sich auch ein konkreter Anknüpfungspunkt der Autonomie in Art. 2 Abs. 1 GG in Form der freien Entfaltung der Persönlichkeit.39 Dem Verfassungsprinzip der Freiheit kann somit über das Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG als subjektives Recht ein Schutzbereich zugeordnet werden.40 Das Grundgesetz garantiert dadurch dem Einzelnen ein Recht auf Selbstbestimmung,41 welches in dieser „Verhaltensfreiheit“ zum Ausdruck kommt. Dieses Recht des Menschen, über sich selbst zu verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich zu gestalten, ist Ausdruck der in Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Würde des Menschen und der damit einhergehenden individuellen Bestimmung des Inhalts dieser Würde.42 Benda leitet dieses Recht auf Autonomie aus der verfassungsmäßigen Absage an eine staatliche Verplanung des Menschen als ein Objekt ab und kehrt damit zur Wortwahl Kants zurück.43 Das Menschenbild des Grundgesetzes ist das einer sich vernunftbegabt entfaltenden, in Würde und Freiheit sein Leben eigenverantwortlich gestaltenden Person.44 Nach herrschender Meinung wird daher durch Art. 2 Abs. 1 GG umfassend die allgemeine Handlungsfreiheit geschützt, nicht lediglich die Entfaltung des Kernbereichs der Person.45 Allerdings gibt es, auch wenn die Persönlichkeitstheorie, nach der Art. 2 Abs. 1 GG lediglich den Schutz eines für die Entfaltung seiner geistig-sittlichen Person notwendigen Mindestmaßes an menschlicher Handlungsfreiheit umfasst,46 nach dem Elfes-Urteil47 heute weitgehend abgelehnt wird, noch immer Versuche, den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG einzugrenzen.48 Hesse will in Anlehnung an den systematischen Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 1 GG den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 auf die engere persönliche Lebenssphäre begrenzen. In Abgrenzung zur Persönlichkeitskerntheorie von Peters findet hier 38
Vgl. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 80. Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, S. 1636; Stürmer, Sterbehilfe, S. 42. 40 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 24. 41 BVerwGE 27, S. 303 (305). 42 Hillgruber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz Band 1, Art. 2 I Rn. 36; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 66 II 2 e, S. 641. 43 Benda, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 6 Rn. 17. 44 BVerfGE 32, S. 98 (107 f.); 45, S. 187 (227). 45 BVerfGE 6, S. 32 (36); 49, S. 24 (57); Hofmann in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 2 Rn. 22; Di Fabio, in: Maunz-Dürig, GG Kommentar Band 1, Art. 2 Abs. 1 Rn. 12. 46 Vgl. Peters, Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, S. 16 ff. 47 BVerfGE 6, 32 (36). 48 Di Fabio, in: Maunz-Dürig, GG Kommentar Band 1, Art. 2 Abs. 1 Rn. 12. 39
B. § 216 StGB als Grundrechtseingriff
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aber keine Begrenzung auf die geistig-sittliche Persönlichkeitsentfaltung statt.49 Diese enge Interpretation des Art 2 Abs. 1 entspreche der Eigenart der Grundrechte als „punktueller Gewährleistungen der Freiheit besonders wichtiger oder gefährdeter Lebensbereiche“.50 Ähnlich argumentiert auch Grimm. Da Grundrechte bestimmte Rechte aus der Vielzahl der menschlichen Rechte hervorhöben, passe es nicht zur Funktion der Grundrechte, jedes erdenkliche menschliche Handeln unter den Schutz der Grundrechte zu stellen.51 Aus Art. 2 Abs. 1 GG ist nach Grimm daher nur das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Grundrecht herzuleiten, weil die allgemeine Handlungsfreiheit einem spezifischen grundrechtlichen Schutz gar nicht zugänglich sei.52 Die weite Auslegung des Schutzbereichs des Art. 2 Abs. 1 GG ist jedoch vorzugswürdig. Abgesehen von der Argumentation über die Materialien des Art. 2 Abs. 1 GG, die in der Tat fragwürdig ist,53 sprechen auch teleologische Überlegungen für extensive Auslegung des Schutzbereiches. Die weite Auslegung entspricht dem Menschenbild des Grundgesetzes. Sie stellt klar, dass es im Geiste Kants von einer grundsätzlichen Freiheit des Menschen ausgeht.54 Ähnlich wie Art. 1 GG ist die Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit den spezielleren Grundrechten vorangestellt und nimmt damit auf das Primat der menschlichen Autonomie Bezug. Dem Menschen muss seine Autonomie nicht erst durch den Staat geschenkt werden, dieser muss sie lediglich schützen und garantieren. Eine „Banalisierung“ der Grundrechte, wie sie Grimm befürchtet,55 steht nicht zu erwarten, da die weiten Schrankenbestimmungen des Art. 2 Abs. 1 GG ein Hervortreten der speziell gewährten Grundrechte erlauben. Auch losgelöst vom konkreten Art. 2 Abs. 1 GG wird versucht, den Schutzbereich von Grundrechten zu beschränken. Gegen eine weite Tatbestandstheorie, welche jegliche menschliche Betätigung ohne Rücksicht auf eventuelle Kollisionen mit anderen verfassungsrechtlichen oder ethischen Normen unter den
49 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 428. 50 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 428; ebenso Duttge, Freiheit für alle oder allgemeine Handlungsfreiheit?, NJW 1997, S. 3354. 51 Grimm, Sondervotum, BVerfGE 80, S. 164 ff. 52 Grimm, Sondervotum, BVerfGE 80, S. 166 ff. 53 Das BVerfG beruft sich auf den ursprünglichen Wortlaut des Art. 2 im Herrenchiemseer Entwurf, zitiert aber mit „Jeder kann tun und lassen was er will“ einen falschen Wortlaut in BVerfGE 6, 36 f. Tatsächlich heißt es: „Alle Menschen sind frei. Jedermann hat die Freiheit, innerhalb der Schranken der Rechtsordnung und der guten Sitten alles zu tun, was anderen nicht schadet.“ http://www.verfassungen.de/de/de49/ chiemseerentwurf48.htm [15.4.2007]. 54 Diese Sichtweise kommt auch im tatsächlichen Wortlaut des Entwurfs zum Ausdruck („Alle Menschen sind frei.“). 55 Grimm, Sondervotum BVerfGE 80, S. 168.
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Betrachtung der Tötung auf Verlangen
Schutz der Grundrechte stellt, wird eingewandt, dass diese zu einer großen Zahl von Güterabwägungen führen würde, weil sie naturgemäß die Zahl der Grundrechtskollisionen erhöht. Eine Güterabwägung sei aber zu vermeiden, da sie stets willkürgefährdet und zufallsbeeinflusst sei.56 Nach der engen Tatbestandstheorie sollen zur Beschränkung der Anwendung der einzelnen Grundrechte diejenigen Tätigkeiten, die evidente Verletzungen von Grundrechtsgütern darstellen, von vorneherein aus dem Tatbestand eines Grundrechts ausgeklammert werden. Auf diese Weise vermeidet man eine Abwägung zwischen Grundrechtsgütern.57 In einem solchen Fall tritt auch die allgemeine Handlungsfreiheit nicht in Funktion. Auch sie wird durch die enge Tatbestandstheorie begrenzt, wenn ein ethisch missbilligtes, nicht schutzwürdiges Verhalten in Frage steht.58 Die enge Tatbestandstheorie nimmt jedoch Wertungen bei der Bestimmung des grundrechtlichen Tatbestandes vor, die eigentlich in den Bereich der Abwägung gehören. Das Verdikt über ein Verhalten als unethisch sollte unter Beachtung des konkreten Falls und Einbeziehung aller Umstände geschehen. Wenn dies vorgenommen wird, ist gegenüber der weiten Tatbestandstheorie nichts gewonnen, da die Abwägung lediglich vorverlagert wird. Die Gefahr, voreilig ein Verhalten als nicht schutzwürdig zu deklarieren, ist allerdings gegeben. Aus diesem Grund ist der umfassende Grundrechtsschutz im Sinne der weiten Tatbestandstheorie vorzugswürdig. Schon der Bestand einer Verhaltensvorschrift, die dem Einzelnen sein intendiertes Verhalten untersagt, greift in seine allgemeine Handlungsfreiheit ein. Daraus folgt, dass § 216 StGB einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG darstellt. 2. Eingriff durch Sanktionsvorschrift Auch durch die Sanktionsvorschrift des § 216 StGB wird in Grundrechte des Täters eingegriffen. Durch die Strafe wird ein tadelndes Unwerturteil über ihn verhängt, was einen Eingriff in sein allgemeines Persönlichkeitsrecht, im Falle der Freiheitsstrafe sogar einen Eingriff in sein körperliches Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG darstellt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner „Cannabis Entscheidung“ klargestellt, dass Strafvorschriften wegen der angedrohten Freiheitsentziehung an Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG zu messen sind.59
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Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts V, § 111 Rn. 175. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts V, § 111 Rn. 174 ff. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts V, § 111 Rn. 178. BVerfGE 90, S. 145 (172).
B. § 216 StGB als Grundrechtseingriff
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Es ist allerdings zwischen dem staatlichen Vorwurf, der ausschließlich in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Täters aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG eingreift und der Strafe, die eventuell in Art. 2 Abs. 2 GG eingreift, zu trennen.60 Doch bereits der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Täters ist von beachtlicher Intensität. Der durch die Strafe verhängte sozialethische Tadel ist der gravierendste Vorwurf, den der Staat gegenüber dem Individuum erheben kann. Das Gewicht dieses gezielten Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht wird durch die Speicherung im Bundeszentralregistergesetz dokumentiert, wodurch er Grundlage für eine Strafschärfung sein, aber auch über das polizeiliche Führungszeugnis auch Wirkungen im Verhältnis Privater untereinander erlangen kann.61 In Verbindung mit der Verhaltensvorschrift zeigt sich, dass der Staat mit der Strafrechtsnorm die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen so weit wie möglich zu reduzieren sucht. Im Unterschied zum Zivilrecht oder zum sonstigen Öffentlichen Recht ist die Konsequenz einer Nichtbeachtung der strafrechtlichen Verhaltensvorschrift schlechthin unerträglich.62 Hierin liegt der qualitative Unterschied zwischen Strafrechtsnormen und sonstigen Gesetzen oder Maßnahmen des Staates. II. Mittelbarer Eingriff in die Grundrechte des Opfers Das Strafrecht greift also durch die Pönalisierung eines Verhaltens in die durch die grundrechtliche Ordnung vermittelte Autonomie des Täters ein. Strafrechtliche Vorschriften stellen aber nicht nur Schranken für die Autonomie des Täters dar. Autonomie umschreibt „den rechtlich garantierten Macht-/ Herrschaftsbereich, in dem sich der Einzelne (als autonome Persönlichkeit) im Umgang mit ihm zugeordneten Gütern frei und ungestört von Einflüssen anderer Personen verwirklichen können soll“.63 Im Fall der Pönalisierung der Verletzung von Individualrechtsgütern wird auch das „Opfer“ durch die strafrechtliche Norm betroffen. In der Regel wird es im positiven Sinne betroffen, da seine Rechtsgüter geschützt werden. § 216 StGB beschreibt aber eine Konstellation, in der das Opfer die in Frage stehende Täterhandlung (die Tötung) ausdrücklich und ernstlich will. Die Pönalisierung des Täterhandelns greift demnach mittelbar auch in die Interessen des Opfers und seine Grundrechte ein. Nicht nur die durch die Strafe direkt betroffenen Rechte des Täters, sondern auch die durch 60
Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 287. Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 437. 62 Böse, Grundrechte und Strafrecht als „Zwangsrecht“, in: Hefendehl/von Hirsch/ Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 92 f. 63 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 52. 61
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Betrachtung der Tötung auf Verlangen
das Verbot berührten grundrechtlich geschützten Interessen Dritter, die auf das in Frage stehende Täterverhalten zurückgreifen wollen oder gar auf dieses angewiesen sind, müssen im Rahmen des hoheitlichen Eingriffs Beachtung finden.64 1. Die Einwilligung im Strafrecht als Erweiterung des Handlungsspielraums des „Opfers“ Im Rahmen des Strafrechts wird ein Eingriff in die Rechte des Opfers typischerweise durch das Institut der Einwilligung verhindert. Eine vom Grundrechtsträger erteilte Einwilligung lässt nach herrschender Meinung die Rechtswidrigkeit (im Fall des Einverständnisses bereits die Tatbestandsmäßigkeit) entfallen. Auf diese Weise wird dem Opfer die Realisierung des beabsichtigten Grundrechtseingriffs ermöglicht. Die Einwilligung führt also zu einer Erweiterung des Handlungsspielraums des „Opfers“.65 Die Minderheitsmeinung, die einen Tatbestandsausschluss durch die erteilte Einwilligung annimmt, weil eine Rechtsgutsverletzung im Fall einer Einwilligung bereits ausgeschlossen sei,66 stützt diese Einordnung der Einwilligung als Möglichkeit, den Handlungsspielraum des „Opfers“ zu erweitern. Umgekehrt bedeutet dies, dass die Errichtung von Einwilligungsschranken – eine solche stellt die Regelung des § 216 StGB dar – eine Freiheitsbeschränkung für Täter und Opfer darstellt.67 Die objektive Einwilligungsschranke des § 216 StGB muss also an den Grundrechten des Täters und des Opfers in abwehrrechtlicher Hinsicht gemessen werden. 2. Zurechenbarkeit des mittelbaren Eingriffs Diese mittelbare Einschränkung der Rechte des Opfers im Sinne des § 216 StGB ist dem Staat auch als Eingriff zuzurechnen. Insoweit kann auf die Erkenntnisse der Verfassungslehre zum mittelbaren Grundrechtseingriff zurückgegriffen werden. Eine mittelbare Beeinträchtigung ist dem Staat immer schon dann als Eingriff zuzurechnen, wenn die Beeinträchtigung beabsichtigt oder zumindest eine zwangsläufige Folge der staatlichen Maßnahme ist.68 Im Fall des § 216 StGB war der Eingriff in die Selbstbestimmung des „Opfers“ gerade in64 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 24, 28. 65 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 20 f. 66 Göbel, Die Einwilligung im Strafrecht als Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts, S. 20. 67 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 24. 68 BVerwG, DVBl. 1992, S. 1038 (1041).
B. § 216 StGB als Grundrechtseingriff
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tendiert. Der Staat greift daher durch § 216 StGB mittelbar in die Grundrechte des Opfers ein. Wie Hufen in Bezug auf passive Sterbehilfe formuliert, ist die „richtige“ verfassungsrechtliche Frage damit nicht, ob Sterbehilfe erlaubt ist, sondern, ob die Fortsetzung der Behandlung erlaubt ist.69 In Bezug auf § 216 StGB stellt sich daher die Frage, ob die objektive Einwilligungsschranke und die daraus für den Täter folgende Pönalisierung gerechtfertigt ist. 3. Eingriff durch Verhaltensvorschrift oder Sanktionsvorschrift? In Bezug auf das „Opfer“ im Sinne des § 216 StGB verliert die Unterscheidung zwischen Sanktionsvorschrift und Verhaltensvorschrift des § 216 StGB an Kontur. Dem „Opfer“ wird keine Sanktion angedroht. Die Sanktionsvorschrift dient nur der effektiven Einhaltung des durch die Verhaltensvorschrift aufgestellten Verbotes. Folgt daraus, dass die strafrechtliche Norm des § 216 StGB in Bezug auf Opferrechte wie eine bloße Verhaltensvorschrift des Verwaltungsrechtes zu behandeln ist? In grundrechtlicher Hinsicht bleibt keine Wahl. In die Grundrechte des „Opfers“ wird lediglich durch die Verhaltensvorschrift eingegriffen. Fraglich ist, ob dies auch bedeutet, dass die Grundsätze der strafrechtlichen Rechtsgutstheorien, insbesondere der „Ultima-ratio-Gedanke“, dem ja auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht Bedeutung zukommt, in Bezug auf die Freiheitsbeschränkung des willigen „Opfers“ einer Tat keine Bedeutung haben. Die Besonderheit der Strafrechtsnormen liegt gerade darin, dass sie auch Sanktionen enthalten. Nach Lagodnys Ansatz ist es schwer, eine Verbindung zwischen der Sanktionsvorschrift, die den Täter betrifft und dem „Opfer“ herzustellen. In Bezug auf das „Opfer“ würde sich die Strafrechtsnorm nur als reine Verhaltensvorschrift darstellen und keinen strafrechtsspezifischen Abwägungsgrenzen unterworfen sein. Tatsächlich beantwortet Lagodny im Rahmen der Sanktionsvorschrift die Frage nach Abwägungsgrenzen aufgrund von Opferabwehrrechten nicht.70 Die Unterscheidung zwischen Verhaltens- und Sanktionsnorm ist ohnehin nur für die grundrechtsdogmatische Betrachtung zielführend. Im Rahmen der Strafbarkeitsgründe und der Abwägung ist die von Lagodny getroffene Differenzierung auch unter einem anderen Gesichtspunkt nicht mehr sinnvoll. Die einheitliche Beurteilung der Strafrechtsvorschrift als Verhaltens- und Sanktionsnorm ist unabdingbar. Kommt es doch gerade auf die Proportionalität
69 70
Hufen, In dubio pro dignitate, NJW 2001, S. 850, 853. Vgl. Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 358.
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Betrachtung der Tötung auf Verlangen
von geschütztem Interesse und Folge an.71 Diese Folge ist bei einer Strafrechtsvorschrift aber Strafe und Verhaltensverbot. 4. Gibt es ein Recht auf den eigenen Tod? Nachdem nun festgestellt wurde, dass durch die Regelung des § 216 StGB mittelbar auch in die (Freiheits-)Grundrechte des Opfers eingegriffen wird, stellt sich die Frage, welche Grundrechte konkret betroffen sind. Es herrscht Uneinigkeit darüber, ob ein Recht auf den eigenen Tod aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hergeleitet werden kann oder ob der Sterbewillige sich „nur“ auf sein Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG berufen kann. Teilweise wird das Recht auf den eigenen Tod auch als Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gesehen. Wenn man mit der herrschenden Meinung ein Recht auf den eigenen Tod nur in der allgemeinen Handlungsfreiheit verortet sieht, stellt § 216 StGB einen Eingriff in die Rechte des Opfers aus Art. 2 Abs. 1 GG dar. Nimmt man allerdings mit Sternberg-Lieben ein dem Einzelnen Grundrecht immanentes Recht auf Nichtausübung der grundrechtlich garantierten Freiheit an, so liegt ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vor. Gleiches gilt für die Annahme eines im Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG enthaltenen Grundrechtes auf negative Freiheitsausübung, wie Pieroth und Schlink es annehmen. Die Frage, ob die Freiheit auf negative Freiheitsausübung in Art. 2 Abs. 1 GG oder im Spezialfreiheitsrecht zu verorten ist, ist eine Frage der Interpretation der Einzelgrundrechte.72 Für diese Untersuchung ist diese Frage formal betrachtet ohne Belang. Selbst wenn man ein Recht auf den Tod aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG herleitet, wäre es durch ein formelles Gesetz wie § 216 StGB gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG einschränkbar.73 Allerdings darf nicht übersehen werden, dass bereits bei der Bestimmung des Schutzbereiches eine erste Weichenstellung in Bezug auf eine spätere Rechtfertigung eines Eingriffs erfolgt. Wenn man dem Einzelnen ein Grundrecht auf den eigenen Tod zubilligt, wird man in der Regel an die Einschränkung dieses 71 Böse, Grundrechte und Strafrecht als „Zwangsrecht“, in: Hefendehl/von Hirsch/ Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 91; Bunzel, Die Potenz des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips als Grenze des Rechtsgüterschutzes in der Informationsgesellschaft, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 110 f.; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, S. 50 ff., 164; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S. 91; Hefendehl, Die Geldwäsche im Spannungsfeld von Auslegung und Verfassung, in: Schünemann/Achenbach/Bottke/Haffke/ Rudolphie (Hrsg.), Festschrift für Roxin, S. 159 f. 72 So auch Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, S. 28. 73 Vgl. auch Hufen, der die exakte Zuordnung des Selbstbestimmungsrechts zu einem Grundrecht ohnehin für unnötig hält. Hufen, In dubio pro dignitate, NJW 2001, S. 851.
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Grundrechts auch in materieller Hinsicht höhere Anforderungen stellen, als wenn man den Einzelnen durch § 216 StGB nur in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit betroffen sieht. Entscheidend ist also weniger die Frage, welchem Grundrecht rein formal ein Recht auf den eigenen Tod zugeordnet wird, sondern welcher Stellenwert diesem beigemessen wird. Bei der Frage, ob es ein Recht auf den eigenen Tod gibt, gerät man schnell in den Bereich von religiösen Bekenntnisfragen. Groß ist hierbei die Gefahr, derartige Sichtweisen als allgemein verfassungsgeboten zu unterstellen („Fundamentalisierung der Verfassungsinterpretation“).74 Dementsprechend sind auch die Meinungen in diesem Bereich kaum zu versöhnen. a) Die herrschende Meinung: „Kein Recht auf den eigenen Tod“ aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Nach herrschender Meinung schützt Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht eine inhaltliche Freiheit zu individueller Entfaltung, sondern garantiert lediglich die Ungestörtheit der körperlichen Existenz. Ein „Recht auf den eigenen Tod“ enthält Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG daher nicht.75 Er zielt auf den Schutz des menschlichen Lebens, nicht auf die Verfügbarkeit des Lebens ab.76 Für die herrschende Meinung folgt hieraus eine Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen.77 Lorenz nimmt sogar an, dass für die Auffangfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG kein Raum mehr sei.78 Ein Eingriff durch § 216 StGB in Grundrechte des „Opfers“ läge dann gar nicht vor. Diese Behauptung ist aber in Hinblick auf die Rolle des Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht, welches die allgemeine Handlungsfreiheit schützen soll, kaum zu halten. Es wäre eine vollkommen neue Variante von Grundrechtskon-
74 Schulze-Fielitz in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar Band 1, Art. 2 II Rn. 24. 75 Di Fabio, in: Maunz-Dürig Grundgesetz Band I, Art. 2 Abs. 2 Rn. 47; Kunig, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar Band 1, Art. 2 Rn. 50; Wassermann, Das Recht auf den eigenen Tod, DriZ 1986, S. 292; Roellecke, Gibt es ein „Recht auf den Tod“?, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 337 f.; a. A. Fink, Selbsttötung und Selbstbestimmung, S. 82 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 392. 76 Wiedemann, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz Band 1, Art. 2 II, Rn. 209. 77 Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT 1, § 1 II Rn. 5 f.; a. A. Wassermann, Das Recht auf den eigenen Tod, DRiZ 1986, S. 293: „Ein Verbot, selbst über sein Leben zu verfügen, kann daher Art. 2 Abs. 2 GG nicht entnommen werden.“ 78 Lorenz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts VI, § 128 Rn. 62.
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Betrachtung der Tötung auf Verlangen
kurrenz, wenn ein nicht einschlägiges Grundrecht den Schutz eines ganz anders strukturierten Grundrechts ausschließe.79 Das Grundgesetz gewährt nicht nur enumerativ eng umgrenzte Spezialfreiheitsrechte. 80 Laut Rechtsprechung des BVerfG kann sich der Einzelne auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen, sofern besondere Lebensbereiche nicht grundrechtlich geschützt werden.81 Wer dennoch in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eine abschließende Regelung erblickt, spricht dem Einzelnen ganz gezielt grundrechtlichen Schutz ab. Das traditionelle Grundrechtsverständnis geht aber dahin, diese nicht als vom Staat „gnadenreich gewährt“ anzusehen, sondern in ihnen zum Ausdruck gebrachte Menschenrechte zu sehen. Eine Beschneidung dieser Rechte wäre begründungsbedürftig.82 Durch die bloße Behauptung Lorenz wird diese Begründung nicht geliefert. Tatsächlich geht die herrschende Meinung davon aus, dass sich der Sterbewillige auf die in Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit berufen kann. Eine Negativfunktion, wie sie andere Grundrechte aufweisen, welche dem Grundrechtsträger ein Recht auf negative Grundrechtsbetätigung einräumt,83 erkennt die herrschende Meinung dem Art. 2 Abs. 2 G allerdings nicht zu.84 Lorenz nimmt jedoch einen im Sinne des „status negativus“ geschützten Freiheitsraum an, auch wenn er eine Verfügungsmacht über das eigene Leben ablehnt. Aus diesem Freiraum folge aber nur, dass der Staat nicht berechtigt sei, sich dem natürlichen Geschehensablauf entgegenzustellen.85 Staatliche Eingriffe dürfen daher nicht zur Lebenserhaltung ergehen. Eine ärztliche Heilbehandlung gegen den Willen des Patienten ist nicht gerechtfertigt.86 Diese Sichtweise ist allgemein anerkannt und wurzelt in der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen.87 Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, welches ebenfalls durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützt wird, steht nach herrschender Meinung einem Eingreifen in den „natürlichen Geschehensablauf“ entgegen. Doch nicht nur in Bezug auf einen „natürlichen Geschehensablauf“ wird ein Eingrei79 Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 87. 80 Bottke, Suizid und Strafrecht, S. 43. 81 BVerfGE 6, S. 32 (37). 82 Vgl. Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 87 f.; a. A. Roellecke, Gibt es ein „Recht auf den Tod“?, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 337. 83 Bottke, Suizid und Strafrecht, S. 44. 84 Kunig, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar Band 1, Art. 2 Rn. 50. 85 Lorenz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts VI, § 128 Rn. 66. 86 Roxin, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinrecht, S. 100. 87 Vgl. BVerfGE 32, S. 98 ff.
B. § 216 StGB als Grundrechtseingriff
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fen des Staates für unzulässig erachtet. Jegliche Behandlungen gegen den Willen des Patienten stellen einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit dar. Art. 2 Abs. 2 GG schützt nicht nur das Leben im biologischen Sinne, sondern auch die körperliche und seelische Integrität vor einem nicht konsentierten oder auch mutmaßlich nicht gewollten Eingriff.88 Geilen gibt dabei zu bedenken, dass gerade dieses Recht des Patienten, jede Heilbehandlung abzulehnen, auch wenn dies seinen Tod bedeutet, das vielfach bezweifelte Recht auf den eigenen Tod sei.89 Antoine folgert aus dieser Sichtweise der herrschenden Meinung, dass nicht das Leben das höchste Gut der Verfassung sei, sondern die Autonomie im Rang über dem Leben stehe, da dem Einzelnen ein Recht aus Art. 2 Abs. 2 GG als Abwehrrecht gegen eine lebensrettende Behandlung zu stünde.90 Nach herrschender Meinung verbietet das Grundgesetz daher auch die Selbsttötung nicht. Die Ablehnung einer lebenswichtigen ärztlichen Behandlung wäre ja nichts anderes als eine „passive“ Selbsttötung. Dem Recht auf Leben entspringt keine Grundpflicht zu Leben. Die Grundrechte und die damit korrespondierende Schutzpflicht des Staates dienen primär dem Schutz des Einzelnen und können nicht in eine Pflichtbindung umgestaltet werden.91 Diese rechtliche Aporie, fehlende Verfügungsmacht auf der einen, fehlende Pflichtgebundenheit auf der anderen Seite, versucht Robbers durch die im französischen Verfassungsrecht geläufige Figur der liberté publique zu erklären. Es existiere eine Freiheit des Einzelnen, die aber keinen Anspruch gegen andere nach sich ziehe.92 Dieser Vergleich hinkt jedoch, da das Recht auf Leben ohnehin lediglich als Abwehrrecht ausgestaltet ist und keinen Leistungsanspruch gegenüber dem Staat begründet.93 Insoweit sind die Bedenken Esers, der Staat müsse bei Anerkennung eines Rechtes auf den Tod Tötungen organisieren, nicht begründet.94 Das Recht auf den eigenen Tod ist lediglich ein Abwehrrecht gegen den Staat. Interessant ist dabei Esers Ansatz, dass es nur Rechte im Hinblick auf Werte geben könne, die der Gewalt des Staates oder der Menschen unterworfen seien und damit verliehen oder entzogen werden können. Das Sterben aber könne nur in zeitlicher Hinsicht manipuliert werden, es sei nicht wirklich zu beherrschen.
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BVerfGE 91, S. 1 (29 ff.). Geilen, Euthanasie und Selbstbestimmung, S. 7 ff., 13. 90 Antoine, Aktive Sterbehilfe in der Grundrechtsordnung, S. 217 f. 91 Lorenz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts VI, § 128 Rn. 62. 92 Robbers, Euthanasie und die Folgen für unsere Rechtsgemeinschaft, in: Gose/ Hoffmann/Wirtz (Hrsg.), Aktive Sterbehilfe?, S. 75. 93 Vgl. Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 235. 94 Eser, Neues Recht des Sterbens?, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 397. 89
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Betrachtung der Tötung auf Verlangen
Demnach sei ein Recht auf den Tod normtheoretisch unmöglich. Dieser Gedanke hindert ihn aber nicht daran, von einem „Recht“ auf den Tod im „metarechtlichen“ Sinne zu sprechen. Als Akt höchstpersönlicher Privatheit könnte der Staat dem Menschen einen Freiraum zur Selbstbestimmung im Bereich des Sterbens garantieren.95 Diese Differenzierung nach Rechten im strengen Sinn und Meta-Rechten erscheint zunächst als gekünstelte Spitzfindigkeit. Allerdings zeigt sie, dass der Tod als Ende der menschlichen Existenz eine gewisse Sonderbehandlung beansprucht und nicht wie jedes andere Recht behandelt werden kann. Die herrschende Meinung entzieht sich einer Entscheidung, indem sie für das Leben und die körperliche Unversehrtheit weder ein Verfügungsrecht noch eine Erhaltungspflicht des Rechtsgutsträgers anerkennt. Daher wird ihr auch fehlende Konsequenz vorgeworfen, wenn sie auf der einen Seite den Suizid für zulässig erachtet und auf der anderen Seite ein Recht auf den Tod ablehnt.96 Von Münch bringt die Situation auf den Punkt, wenn er anmerkt, dass Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG weder einer Einführung der Straflosigkeit einer Tötung auf Verlangen im Bereich der Sterbehilfe, noch einer Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen entgegen steht.97 Starck ist anderer Ansicht. Er geht aber zu weit, wenn er die Gesichtspunkte, welche für eine Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen sprechen, bereits im Rahmen des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG für seine Interpretation des Schutzbereiches heran zieht. Er leitet daraus eine Pflicht des Staates ab, die Tötung auf Verlangen für strafbar zu erklären.98 Eine derartige Interpretation des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verkennt die Autonomie des Individuums, die ja gerade durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG als „vitale Basis der Menschenwürde“99 geschützt werden soll. Das gesamte Gewicht der ambivalenten Problematik der Sterbehilfe dem Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG aufzubürden ist eingedenk der Komplexität der Erwägungen unglücklich.100 In seiner Abwehrfunktion steht Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nach herrschender Meinung damit dem § 216 StGB nicht entgegen. Der Einzelne kann hiernach gegenüber dem Staat kein Recht auf den Tod geltend machen.101 Stürmer stellt zu Recht fest, dass angesichts dieser Erkenntnis die verfassungsrechtliche Prü-
95
Eser, Neues Recht des Sterbens?, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 396. Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 392. 97 von Münch, Staatsrecht II, Rn. 331. 98 Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz Band 1, Art. 2 Abs. 2 Rn. 207, 214 f. 99 BVerfGE 39, S. 1 (42); BVerwGE 115, S. 189 (202). 100 Vgl. Hufen, In dubio pro dignitate, NJW 2001, S. 852; Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 104 f. 101 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar Band 1, Art. 2 II Rn. 32. 96
B. § 216 StGB als Grundrechtseingriff
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fung auf den Umfang eines Selbstbestimmungsrechtes des Einzelnen gerichtet sein muss.102 b) Negatives Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Eine Minderheitsmeinung um Pieroth und Schlink geht davon aus, dass Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ebenso wie andere Grundrechte auch das negative Freiheitsrecht, nicht zu leben und nicht gesund zu sein, enthält.103 Nach dieser Meinung läge in dem § 216 StGB ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Diese Meinung kann für sich beanspruchen, dass sie dem wichtigen Individualrechtsgut Leben einen umfassenden Schutzbereich einräumt, der wie bei anderen Individualrechtsgütern auch die Freiheit in ihrer negativen Betätigung schützt. Auf diese Weise wird das Leben und die Verfügung über selbiges dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG unterstellt. Nach der herrschenden Meinung wird die Verfügung über das Leben demgegenüber nur durch das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG geschützt und auf diese Weise auf eine Stufe mit Taubenfüttern oder Reiten im Walde gestellt.104 Gegen eine derartige Interpretation spricht aber die Ausgestaltung des Art. 2 Abs. 2 S.1 GG als Recht auf Leben. Hierin ein Recht auf den Tod zu erkennen bedarf einer besonderen Begründung.105 Diese versucht Fink zu liefern, wenn er zunächst feststellt, dass aus der Formulierung „hat das Recht auf Leben“ noch nicht abgeleitet werden könne, dass nur das Interesse des Menschen an der Lebenserhaltung gemeint sein kann. Er kommt zu dem Ergebnis, dass allein durch logische Analyse der Vorschrift eine Antwort nicht zu erreichen ist. Aus der Funktion der Grundrechte als Mittel zur Gewährung individueller Freiheit folge aber, dass Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auch die negative Freiheitsbetätigung schützen müsse.106 Freiheit setzt schon begrifflich das Vorliegen von Handlungsalternativen voraus.107 Insofern ist die Warnung vor einer Pflicht zu Leben zwar überspitzt, aber im Kern zutreffend. c) Negative Grundrechtsbetätigung als Ausdruck der Autonomie Sternberg-Lieben argumentiert ähnlich. Für ihn ist die negative Grundrechtsausübung ein Ausdruck der Autonomie des Einzelnen, welche den Grundrechten immanent sei. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass die einzelnen Grund102 103 104 105
Stürmer, Sterbehilfe, S. 40. Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 392. Möller, Paternalismus und allgemeines Persönlichkeitsrecht, S. 94. Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes,
S. 34. 106 107
Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 96. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 197 ff.
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Betrachtung der Tötung auf Verlangen
rechte das Recht enthalten, über sie zu verfügen. Das Autonomieprinzip wirkt als Bestandteil der Menschenwürde und allgemeiner Rechtsgrundsatz auch auf andere Grundrechte. Aus der Konzeption der Grundrechte als Freiheitsrechte folgt, dass den Grundrechten ein Selbstbestimmungsrecht über das geschützte Gut immanent ist.108 Wenn Grundrechte nicht zu Grundpflichten werden sollen, muss jedes Grundrecht sowohl die positive als auch die negative Freiheitsausübung schützen.109 Diesem Gedanken liegt eine liberale Betrachtungsweise der Grundrechte zugrunde, die davon ausgeht, dass Grundrechte dem Einzelnen einen Freiraum zum beliebigen Freiheitsgebrauch eröffnen. Aus dem den Grundrechten immanenten Selbstbestimmungsrecht folge grundsätzlich auch das Recht, eine Beeinträchtigung des grundrechtlich geschützten Rechtsgutes hinzunehmen.110 Auch nach dieser Betrachtungsweise greift der § 216 StGB damit in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ein. Die Notwendigkeit, eine Umgestaltung der Grundrechte zu Grundpflichten zu verhindern, ist für sich genommen aber noch kein Grund, ein den einzelnen Grundrechten immanentes Selbstbestimmungsrecht im Sinne eines Abwehrrechtes anzunehmen. Die Möglichkeit, ein Grundrecht nicht auszuüben, muss nicht notwendigerweise das Recht beinhalten, die Nichtausübung des Grundrechts gegenüber dem Staat als Abwehrrecht geltend zu machen. Freiheitsverstärkend wirkt eine derartige Sichtweise aber in jedem Fall. Eingedenk der Funktion der Grundrechte als Schutzrechte des Einzelnen vor dem Staat muss ein Recht auf Nichtausübung eines Grundrechtes auch gegenüber dem Staat geltend gemacht werden können. Amelung spricht sich gegen eine derartige Einordnung der negativen Grundrechtsausübung aus. Die Befugnis, ein Rechtsgut preiszugeben sei sachlich und begrifflich nicht mit der Befugnis, das Rechtsgut gegen den Staat zu verteidigen identisch. Die historische Interpretation der Grundrechte lege es nahe, diese allein als Abwehrrechte gegen den Staat und die Möglichkeit der Preisgabe dieser Grundrechte in der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützt zu sehen.111 Diese letzte Konsequenz ist aber nicht überzeugend. Die Verortung der Nichtausübungsfreiheit in den speziellen Grundrechten ist auch vor dem Hintergrund der Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte nicht fern liegender als eine Verortung der Selbstbestimmung über alle Grundrechte in der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG. 108 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 66 II 2e, S. 642; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 20. 109 Stürmer, Sterbehilfe, S. 41. 110 Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, § 15 Rn. 28. 111 Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, S. 29.
B. § 216 StGB als Grundrechtseingriff
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d) Exkurs: Negative Grundrechtsausübung, Grundrechtsnichtausübung und -verzicht Das Recht, eine Beeinträchtigung hinzunehmen, ist von einem Grundrechtsverzicht im eigentlichen Sinne zu unterscheiden. Der Grundrechtsträger verzichtet nicht auf sein Eingriffsabwehrrecht gegenüber dem Staat, sondern trifft eine (wenn auch) schädigende Disposition über seine grundrechtlich geschützten Güter.112 Diese negative Grundrechtsausübung wird häufig mit der Nichtausübung eines Grundrechts und dem so genannten Grundrechtsverzicht vermengt.113 So wird teilweise angenommen, dass man auf Grundrechte nicht verzichten könne, weil diese auch staatskonstituierende Normen seien.114 Allerdings dürfte kein Zweifel bestehen, dass, wie Dreier ausführt, das Grundgesetz den Einzelnen nicht zwingen will, eine Familie zu gründen, Eigentum zu erwerben oder an einer Demonstration teilzunehmen. Für Dreier erfüllt gerade diese Möglichkeit der Nichtausübung eines Grundrechts eine zentrale freiheitssichernde Funktion.115 Die Abgrenzung der verschiedenen Formen des Verzichts auf Grundrechtspositionen ist dementsprechend schwierig. Zum Teil wird nur der zeitlich und sachlich unbegrenzte Verzicht auf ein Grundrecht als Grundrechtsverzicht im eigentlichen Sinne angesehen,116 teilweise wird jeder Verzicht auf eine grundrechtliche Position als Grundrechtsverzicht angesehen. In letzterem Fall wird aber eine widerrufliche Einwilligung für zulässig erachtet.117 Die negative Ausübungsfreiheit von Grundrechten beschreibt die Freiheit, gerade das zu unterlassen, was das Grundrecht dem Einzelnen einräumt. Als Beispiel ist die Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG zu nennen, welche auch die Freiheit enthält, nicht zu glauben. Die Nichtausübung eines Grundrechts bedeutet im Unterschied hierzu, dass der einzelne zwar Träger eines Grundrechts ist, er aber dieses Grundrecht nicht ausübt (nicht an einer Versammlung teilnimmt, keinem Verein beitritt, kein Rechtsmittel ergreift).118 Die Nichtausübung eines Grundrechts ist wiederum 112
Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht,
S. 33. 113 Vgl. Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, S. 194 f. „Ein solcher Grundrechtsverzicht ist ein besonderer Akt der Ausübung grundrechtlicher Freiheit. Gleiches gilt für die Einwilligung in Grundrechtseingriffe.“ 114 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar Band 1, Vorb. Rn. 129 ff. 115 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar Band 1, Vorb. Rn. 130 f. 116 von Münch, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, in: Stödter/Thieme (Hrsg.), Hamburg – Deutschland – Europa, S. 127. 117 Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, S. 20. 118 Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 133.
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Betrachtung der Tötung auf Verlangen
von dem Verzicht auf die Ausübung eines Grundrechts zu unterscheiden, was nichts anderes als einen Grundrechtsverzicht bedeutet, da ein Grundrecht, welches nicht ausgeübt werden kann, faktisch nicht existiert.119 In Bezug auf die Beendigung des eigenen Lebens besteht eine Besonderheit. Sie stellt eine irreversible Entscheidung dar. Wilms und Jäger leiten aus dieser Irreversibilität der Entscheidung, sein Leben nicht mehr „auszuüben“ ab, dass es sich hierbei nicht um eine bloße Nichtausübung des Rechts auf Leben handelt. Die Nichtausübung eines Rechts beinhalte einen status passivus, der jederzeit in eine Ausübung umschlagen könne, mithin revidierbar sei.120 Diese Argumentation ist zumindest insoweit nachvollziehbar, als eine nicht revidierbare Nichtausübung in zeitlicher Hinsicht einem unbegrenzten Verzicht oder einer unwiderruflichen Einwilligung gleich steht. Allerdings verzichtet der Grundrechtsträger im Rahmen des § 216 StGB nicht auf ein Grundrecht gegenüber dem Staat, sondern gegenüber sich selbst.121 Betont man die Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat (klassisches Grundrechtsverständnis), dann ist die Tatsache, dass nicht gegenüber dem Staat auf ein Grundrecht verzichtet wird, entscheidend. Auf ein Grundrecht „verzichten“ kann man nämlich nur im Geltungsbereich der Grundrechte. Wenn man Grundrechte in ihrer klassischen Abwehrfunktion sieht, kann daher nur gegenüber dem Staat auf ein Grundrecht verzichtet werden.122 Nach dem klassischen Grundrechtsverständnis ist dann der Grundrechtsverzicht gerade auch Grundrechtsausübung. Heute wird Grundrechten aber auch ein objektiver Gehalt zugesprochen. Dieser führt zu einer Schutzpflicht des Staates gegenüber dem Bürger (Kein Schutz vor dem Staat, sondern Schutz durch den Staat). Die Frage, ob der Einzelne in die Verletzung seines Grundrechts durch Private einwilligen kann, ist somit eine Frage der Grenzen der Schutzpflichten des Staates und keine Frage des „echten“ Grundrechtsverzichts.123
119
Robbers, Der Grundrechtsverzicht, JuS 1985, S. 925. Wilms/Jäger, Menschenwürde und Tötung auf Verlangen, ZRP 1988, S. 42. 121 von Münch, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, in: Stödter/Thieme (Hrsg.), Hamburg – Deutschland – Europa, S. 127. 122 Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 131; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 135; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 33. 123 Vgl. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 33. 120
B. § 216 StGB als Grundrechtseingriff
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e) Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG Nach herrschender Meinung stellt § 216 StGB einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit dar. Art. 2 Abs. 1 GG schützt die allgemeine Handlungsfreiheit und damit jeglichen Freiheitsgebrauch des Individuums. Das Autonomieprinzip wirkt sich insofern auch auf das Verhältnis zwischen Staat und „Opfer“ des § 216 StGB aus. Auch das „Opfer“ kann sich gegen eine ungerechtfertigte Dominierung von Seiten des Staates schützen. Das Bundesverfassungsgericht hat der Autonomie des Einzelnen wiederholt grundrechtliche Relevanz zugesprochen. Als Gegenstand eines grundrechtlichen Abwehrrechts ist sie damit anerkannt.124 Das Selbstbestimmungsrecht schützt das Recht zur Selbstgefährdung bis hin zur Selbstaufgabe.125 Die Freiheitsvermutung geht in einem Rechtsstaat so weit, dass ein Recht auf Selbstaufgabe und Selbstzerstörung dem Einzelnen grundsätzlich zugesprochen werden muss.126 Die Möglichkeit, in die Verletzung eines eigenen Individualrechtsgutes einzuwilligen, ist Ausdruck der Autonomie des Individuums.127 Diese Einwilligungsfreiheit nimmt in der bundesdeutschen Rechtsordnung einen hohen Stellenwert ein.128 Wenn man die Verfügungsgewalt des Einzelnen über sein Leben beschränken will, so hat dies im Rahmen der Schranken der Grundrechtsbetätigung zu erfolgen.129 Eine Einschränkung bereits des Schutzbereichs des Selbstbestimmungsrechts ist angesichts der weiten Definition des Schutzbereichs des Art. 2 Abs. 1 GG nicht zulässig. Die Verkürzung des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen in Bezug auf das eigene Leben, wie Lorenz es vornimmt, wenn er auf der einen Seite eine Spezialität des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG annimmt und daher eine Anwendbarkeit des Art. 2 Abs. 1 GG ausschließt, auf der anderen Seite aber im Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG kein Recht auf Selbstbestimmung über sein Leben, sondern nur den Schutz der physischen Existenz erblickt,130 ist unzulässig. Sie stellt den Einzelnen gerade in Bezug auf ein bedeutendes Rechtsgut unter die Diktion des Staates. 124 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 66 II 2e, S. 642 f. 125 BVerwGE 82, S. 45 (48 f.); Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar Band I, Art. 2 Rn. 45. 126 Hufen, In dubio pro dignitate, NJW 2001, S. 851. 127 Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, S. 29; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 17 ff.; Roxin, Strafrecht AT 1, § 13 B Rn. 12 ff. 128 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 11. 129 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 93. 130 Lorenz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts VI, § 128 Rn. 62.
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Betrachtung der Tötung auf Verlangen
f) Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht Möller sieht in der Einschränkung der Möglichkeit der Selbsttötung, sei sie nun unmittelbar oder mittelbar durchgeführt, einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht.131 Diese Annahme liegt zunächst einmal nahe, wenn man dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht eine Schutzfunktion zugunsten ethischer, privater Entscheidungen zuordnet. Die Vernichtung des eigenen Lebens setzt eine höchstpersönliche Entscheidung voraus. An dieser Stelle verwischen die Konturen zwischen dem allgemeinen Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Dies ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Art. 1 Abs. 1 GG ohnehin zur Interpretation der Grundrechte herangezogen werden soll. Bei dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht wird sein gegenüber dem allgemeinen Freiheitsrecht speziellerer Anwendungsbereich, der Begrenzung auf die engere persönliche Lebenssphäre, durch die Zitierweise „in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG“ illustriert. Art. 1 Abs. 1 GG ist auch hier ein interpretationsleitendes Prinzip bei der Bestimmung des besonders geschützten Ausschnitts des allgemeinen Freiheitsrechts.132 Die Aufgabe des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist der Schutz des engen persönlichen Freiheitsbereiches vor den staatlichen Eingriffen, die Art. 2 Abs. 1 GG aufgrund seiner weiten Schrankenregelungen nicht verhindern kann. In der herrschenden Literatur wird dem Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes nur die Selbstbestimmung, Selbstbewahrung und Selbstdarstellung zugeordnet. Selbstbestimmung bedeutet in diesem Zusammenhang aber nicht Autonomie im allgemeinen Sinn, sondern die Möglichkeit, seine Identität selbst zu bestimmen. Sie bezieht sich nicht auf die Freiheit der Handlung, sondern auf Kenntnis und Bestimmung seiner Identität.133 Identitätsentfaltend wirkt sich die Selbsttötung, unmittelbar oder mittelbar, aber im Regelfall nicht aus. Die Entscheidung zur Selbsttötung ist mehr eine selbstbestimmte Handlung als eine Bestimmung der eigenen Identität. Sie ist insofern nicht mit dem Recht auf Bestimmung seiner Geschlechtsrolle,134 des eigenen Personenstandes135 oder der Fortpflanzung136 zu vergleichen. Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet
131 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 93 f.; siehe auch Günzel, Das Recht auf Selbsttötung, S. 95 ff. 132 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 52 f.; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 148; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar Band I, Art. 2 Abs. 1 Rn. 50. 133 Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 373 f. 134 BVerfGE 47, S. 46 (73). 135 BVerfGE 49, S. 286 (298). 136 BVerfGE 88, S. 203 (254); BGH, NJW 1995, S. 2407 (2409).
C. Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe
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diese Bereiche der Persönlichkeitsentfaltung von dem Recht auf „aktive“ Entfaltung im Sinne der allgemeinen Handlungsfreiheit.137 Diese Differenzierung ist notwendig und sinnvoll, um eine Vermengung der Schutzbereiche von allgemeinem Persönlichkeitsrecht und allgemeiner Handlungsfreiheit zu verhindern. Art. 2 Abs. 1 GG stellt kein Zwillingsgrundrecht dar. Beide Grundrechte unterscheiden sich in Rang, Struktur und Richtung.138 Der besonderen Persönlichkeitsbezogenheit der Selbsttötung kann durch Beachtung des Art. 1 Abs. 1 GG als interpretationsleitendes Prinzip Rechnung getragen werden.139 g) Zwischenergebnis Auch wenn umstritten ist, welchem Grundrecht das Recht auf Selbstbestimmung über seinen eigenen Tod zugeordnet werden kann, so wird klar, dass ein derartiges Recht des Einzelnen existiert und auch gegenüber dem Staat geltend gemacht werden kann. Die gegenteiligen Auffassungen, die sowohl ein Recht auf den eigenen Tod aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ablehnen, als auch eine Anwendung des Art. 2 Abs. 1 GG verneinen, verkennen die individualistische und freiheitliche Ausrichtung der Grundrechte.
C. Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe Es wurde also festgestellt, dass durch § 216 StGB sowohl in die Grundrechte des Täters als auch in die des Opfers eingegriffen wird. Diese Eingriffe müssten gerechtfertigt sein. Andernfalls wäre § 216 StGB verfassungswidrig. Die Verfassungsdogmatik sieht zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen die Schrankensystematik vor. I. Schranken der Autonomie Die Autonomie des Einzelnen wird nicht schrankenlos gewährt. Der Grund hierfür ist der Konflikt zwischen individueller Freiheit und Gemeinschaftsgebundenheit. Diese Polarität von Freiheit und Zwang hat die Rechtsordnung zu bewältigen und muss sich daran messen lassen, ob sie Konfliktsituationen adäquat lösen kann.140 Das Selbstbestimmungsrecht ist zwar das „maßgebende 137
Vgl. BVerfGE 54, S. 148 (153). Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz Band 1, Art. 2 Abs. 1, Rn. 15. 139 Vgl. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 148. 140 Benda, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 17 f., 55 f. 138
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Betrachtung der Tötung auf Verlangen
Konstitutionsprinzip der Moderne“, letztlich aber nur im Rahmen einer „Koexistenzordnung“.141 Es stellt sich also die Frage, wie weit der Staat in die Freiheit des Einzelnen eingreifen darf und wie weit er sogar in diese Freiheit eingreifen muss. Gerade in Bezug auf die Disposition eines grundrechtlich geschützten Rechtsgutes gegenüber einem privaten Dritten stellt sich die Frage, ob der Staat nicht diese Disposition beschränken sollte, um einen effektiven Schutz der Grundrechte zu erreichen. Auf der anderen Seite darf der Staat des Grundgesetzes nicht zu jenem noch von Thomas Hobbes (1588–1679) befürworteten Leviathan werden, der nicht an den zwischen den Bürger geschlossenen Staatsvertrag gebunden ist und somit volle Verfügungsgewalt über alle Rechte des Einzelnen hat.142 Das Bundesverfassungsgericht knüpft an das „Menschenbild des Grundgesetzes“ an und stellt klar, dass dieses nicht das eines isolierten souveränen Individuums ist, sondern „das Grundgesetz [. . .] vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden [hat], ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG. Das heißt aber: der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren sieht, vorausgesetzt, dass dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt“.143. Die Abwägung hat eingedenk des „Vorrang(s) des Menschen und seiner Würde gegenüber der Macht des Staates“144 anhand des grundrechtlichen Schrankensystems zu erfolgen.145 Zum Menschenbild des Grundgesetzes gehört als Folge des Einflusses der Aufklärung die Selbstbestimmung und Mündigkeit als Bestandteil der Persönlichkeit.146 Zwischen klassischem Liberalismus und kollektivistischen Bestrebungen sucht das Grundgesetz die mittlere Linie.147 Diese zu finden ist essentiell, wenn man die Rechtsordnung an dem Maßstab des Grundgesetzes messen will.
141
Hollerbach, Selbstbestimmung im Recht, S. 25 f. Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 59 III 2, S. 76. 143 BVerfGE 4, S. 7 (15 f.). 144 BVerfGE 7, S. 198 (205). 145 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 61 II 3, S. 192. 146 Schünemann, Das „Menschenbild des Grundgesetzes“, in: Schünemann/Müller/ Philipps (Hrsg.), Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, S. 5. 147 Benda, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 5. 142
C. Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe
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II. Rechtfertigung des Eingriffs in Täterrechte 1. Rechtfertigung der Verhaltensvorschrift Art. 2 Abs. 1 GG enthält als benannte Schranken die verfassungsmäßige Ordnung, die Rechte anderer und das Sittengesetz. Grundsätzlich ist § 216 StGB als Teil der verfassungsmäßigen Ordnung eine zulässige Schranke der Autonomie des Einzelnen. Die Handlungsfreiheit kann nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch jede Norm, die formell und materiell verfassungsmäßig ist, beschränkt werden.148 Damit kann der Gesetzgeber den intendierten Grundrechtseingriff selbst legitimieren. Als Folge des umfassenden Schutzbereiches des Art. 2 Abs. 1 GG wird die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung seit dem Elfes-Urteil149 als einfacher Gesetzesvorbehalt verstanden.150 Ein einfacher Gesetzesvorbehalt stellt jedoch im Gegensatz zum qualifizierten Gesetzesvorbehalt keine inhaltlichen Anforderungen an ein Gesetz. Es genügt, dass das Gesetz in formeller Hinsicht rechtmäßig erlassen wurde. In materieller Hinsicht werden dem Gesetzgeber keine Vorgaben gemacht. Für die gesetzgeberische Frage, ob ein Verhalten überhaupt unter Strafe gestellt werden darf, gibt die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung damit nichts her.151 In Anbetracht des Spannungsverhältnisses zwischen Gemeinwohlinteresse und individueller Freiheit kann aber die Entscheidung des Gesetzgebers nicht ohne materielles Korrektiv bleiben. Um den notwendigen Ausgleich zwischen Gemeinwohlinteresse und persönlicher, grundrechtlich garantierter Freiheit dennoch zu gewährleisten, müssen sich die daher Eingriffe in Grundrechte als verhältnismäßig erweisen. Dieses Verhältnismäßigkeitsgebot und insbesondere das darin enthaltene Übermaßverbot ist ein wesentlicher Bestandteil der Grundrechtsdogmatik und heute allgemein anerkannt. Hergeleitet wird es aus den Grundrechten selbst152 und dem Rechtsstaatsprinzip.153 Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Norm erfordert eine Bestimmung des Normzwecks, der Feststellung, ob die Norm geeignet und erforderlich ist, um diesen Zweck zu erfüllen, und schließlich die Klärung der Frage, ob die Norm angemessen in Ansehung ihrer Folgen ist.154 148 149 150 151 152
Vgl. nur BVerfGE 6, S. 32 (37 f.). BVerfGE 6, S. 32 (38 ff.); 80, S. 137 (153). Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 383. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 48. BVerfGE 19, S. 342 (348 f.); 61, S. 126 (134); 76, S. 1 (50 ff.); 77, S. 308
(334). 153
BVerfGE 61, S. 126 (134); 76, S. 256 (359); 80, S. 109 (120). Bunzel, Die Potenz des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips als Grenze des Rechtsgüterschutzes in der Informationsgesellschaft, in: Hefendehl/von 154
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Betrachtung der Tötung auf Verlangen
2. Rechtfertigung der Sanktionsvorschrift Durch die Sanktionierung des Verhaltens wird ein Unwerturteil des Staates über den Täter ausgesprochen. Das Unwerturteil bezieht sich auf in der Vergangenheit liegende Verhalten des Täters. Das Bundesverfassungsgericht sieht darin einen Eingriff in den „[. . .] in der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) wurzelnden Wert- und Achtungsanspruch [. . .]“.155 Die Literatur sieht in der Kriminalstrafe zu Recht einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Hieraus ergeben sich allerdings keine strengeren Grundrechtsschranken als bei dem Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG durch die Verhaltensvorschrift. Auch die in § 216 StGB angedrohte Freiheitsstrafe, welche somit einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 GG darstellt, ist in materieller Hinsicht keinen strengeren Schranken unterworfen. Die einzige Möglichkeit der Prüfung des § 216 StGB in verfassungsrechtlicher Sicht ist damit die Verhältnismäßigkeitsprüfung. In dieser Hinsicht hat das Bundesverfassungsgericht bereits einige Weichen gestellt. Demnach kann die Freiheitsentziehung nur gerechtfertigt werden, wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten.156 Echte Grenzen werden durch diese Vorgabe allerdings nicht gezogen. „Überwiegende Belange des Gemeinwohls“ können aufgrund ihrer Begriffsunschärfe nicht als effektiver Prüfungsmaßstab herangezogen werden. III. Rechtfertigung des mittelbaren Eingriffs in Opferrechte In Bezug auf den mittelbaren Eingriff in die Rechte des „Opfers“ des § 216 StGB ergibt sich in vielerlei Hinsicht dasselbe wie für die Eingriffe in die Rechte des Täters. Auch das Opfer ist in seiner Selbstbestimmung eingeschränkt. 1. Der einfache Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG Wenn man das dem Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG immanente Recht des Sterbewilligen auf Selbstbestimmung bezüglich seines Lebens als betroffen ansieht, besteht lediglich die Schranke des einfachen Gesetzesvorbehalts. In das Recht auf Leben darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden. An dieses Gesetz Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 104; Schnapp, Die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs, JuS 1983, S. 852; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band I, § 20 IV 7a, S. 671. 155 BVerfGE 96, S. 245 (249); BVerfG, NJW 2000, S. 418. 156 BVerfGE 53, S. 152 (158); 66, S. 191 (195); Böse, Grundrechte und Strafrecht als „Zwangsrecht“, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 90.
C. Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe
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sind allerdings in materieller Hinsicht keine besonderen Anforderungen gestellt. Es muss lediglich verhältnismäßig sein. Dem Gesetzgeber sind somit scheinbar keine Direktiven an die Hand gegeben. 2. Die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG Art. 2 Abs. 1 GG ist als Auffanggrundrecht nur einschlägig, wenn kein spezielleres Grundrecht betroffen ist.157 Sieht man in der Regelung des § 216 StGB keinen Eingriff in die Rechte des Sterbewilligen aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, hat allerdings ein Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 GG zu erfolgen. Die gegenteilige Ansicht von Lorenz ist mit der Funktion des Art. 2 Abs. 1 GG als umfassendes Auffanggrundrecht nicht vereinbar. IV. Konsequenz: Keine Grenzen für den Gesetzgeber außerhalb des Verhältnismäßigkeitsgebots (Schranken-Schranke)? Im Wesentlichen zeigt sich also, dass in verfassungsrechtlicher Hinsicht der parlamentarische Gesetzgeber durch Erlass eines Gesetzes selbst die Eingriffe in die Autonomie des Einzelnen rechtfertigen kann. Schranken sind ihm nur durch das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit, insbesondere das Übermaßverbot gesetzt. Bei der Bestimmung des Zwecks eines Gesetzes ist der Gesetzgeber, sofern kein qualifizierter Gesetzesvorbehalt im Grundrecht bestimmt ist, augenscheinlich frei.158 Aus Sicht des Verfassungsrechts gilt dies auch für Strafrechtsnormen. Das Grundgesetz trifft keine besonderen materiellen Vorgaben in Bezug auf Strafrechtsnormen. Da es kein speziell gegen staatliche Strafe ausgestaltetes Grundrecht gibt, existiert auch keine besondere materielle Grundrechtsschranke in Bezug auf das Strafrecht.159 Konkret enthalten auch die durch § 216 StGB betroffenen Grundrechte keinen qualifizierten Gesetzesvorbehalt, so dass der Zwecksetzungskompetenz des Gesetzgebers in dieser Hinsicht keine Grenzen gesetzt sind. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass Gesetze nicht schon dann „verfassungsmäßig“ sind, wenn sie formell ordnungsgemäß zustande gekommen sind, sondern sie müssen auch materiell in Einklang mit den obersten Verfassungsgrundsätzen stehen. Auch darf die geistige, politische und wirtschaftliche Freiheit des Menschen nicht so eingeschränkt werden, dass ihr Wesensgehalt angetastet würde.160 Ein Gesetz, welches diesen Kernbe157
Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 368. Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 272. 159 Böse, Grundrechte und Strafrecht als „Zwangsrecht“, in: Hefendehl/von Hirsch/ Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 91. 160 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, S. 213. 158
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Betrachtung der Tötung auf Verlangen
reich der menschlichen Freiheit antastet, kann nicht als Bestandteil der „verfassungsmäßigen Ordnung“ angesehen werden und kann damit keine Rechtfertigung für einen Grundrechtseingriff darstellen.161 Ein solches Gesetz muss von dem Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt werden. Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass ein Gesetz, welches den freiheitlichen Kernbereich unangetastet lässt, als Bestandteil der „verfassungsmäßigen Ordnung“ eine Rechtfertigung für einen Grundrechtseingriff bietet. Dieser Kernbereich privater Lebensgestaltung wird aber durch Gesetze nur in Ausnahmefällen betroffen sein. In einem solchen Fall können aber selbst überwiegende Interessen der Allgemeinheit den Eingriff in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht rechtfertigen. Eine Abwägung im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes findet dann gerade nicht statt.162 Auch in Bezug auf die Rechte des „Opfers“ des § 216 StGB ist nicht anzunehmen, dass die Vereitelung des Todeswunsches derart in den Kernbereich der Freiheit der Person eingreift, dass § 216 StGB bereits aus diesem Grund als nichtig angesehen werden müsste. Die Selbstbestimmung über das Ende des Lebens ist trotz ihrer existentiellen Bedeutung der Menschenwürde und der Anerkennung der Person als Subjekt nicht derart eindeutig zugeordnet, dass sie zum Kernbereich der menschlichen Autonomie gezählt werden könnte. In diesem Zusammenhang trägt das Argument, dass der Einzelne durch die Tötung seiner Person die Grundlage seines Personenseins vernichtet und daher die eigene Tötung nicht dem Kernbereich seines Personenseins zugeordnet werden kann. Aus grundrechtlicher Sicht müssen sich also die Eingriffe in die Grundrechte von Täter und Opfer durch § 216 StGB als verhältnismäßig erweisen. In Bezug auf Strafrechtsnormen wurden aber in der Strafrechtswissenschaft mehrfach Versuche unternommen, dem Gesetzgeber spezifische Grenzen zu setzen. An dieser Stelle gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze, welche Dreier als „Konstitutionalismus“ und „Legalismus“ bezeichnet hat.163 Der legalistische Ansatz geht davon aus, dass ein demokratisch legitimierter Gesetzgeber keine weiteren Grenzen bei seiner Gesetzgebung beachten muss. Das Gesetzgebungsverfahren beruhe auf politischen Entscheidungen. Es gehe nicht um „die Herrschaft des sachlich Richtigen“, sondern „des Kompromissfähigen“.164 Der konstitutionalistische Ansatz betont die materielle Wertordnung des Grundgesetzes. Diese wird als Legitimation der Entscheidungen des Gesetzge161
BVerfGE 6, S. 32 (41). BVerfGE 34, S. 238 (245); 80, S. 367 (373). 163 Siehe Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, in: Kaufmann/Mestmäcker/ Zacher (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenwürde, S. 88. 164 Gusy, Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre?, ZRP 1985, S. 298. 162
C. Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe
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bers neben das Demokratieprinzip gestellt.165 Daraus folgt, dass sich jede Entscheidung des Gesetzgebers auch in materieller Hinsicht an der bestehenden Rechtsordnung messen lassen muss. Für eine derartige Sichtweise kann angeführt werden, dass dem Gesetzgeber Direktiven für seine Entscheidungen an die Hand gegeben werden sollten, um eine willkürliche gesetzgeberische Entscheidung zu verhindern. V. Unterschied zwischen verfassungsrechtlicher und kriminalpolitischer Bewertung einer Norm Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm ist im herkömmlichen Sinn vor allem durch die Methode des Bundesverfassungsgerichts geprägt. Es prüft vom Gesetzgeber erlassene Gesetze auf ihre Verträglichkeit mit dem Grundgesetz. Dabei zeigt das Bundesverfassungsgericht große Zurückhaltung, wenn es darum geht, gesetzgeberische Entscheidungen zu kritisieren. Obwohl es mehrfach die besondere Bedeutung der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Bereich des Strafrechts betont hat,166 stellt sich diese praktisch als wenig bedeutsam dar.167 Bei einer derartigen, nachträglichen Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer strafrechtlichen Norm bleibt allerdings per se die Frage unbeantwortet, ob das entsprechende Verhalten überhaupt unter Strafe gestellt werden sollte. Die Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle sind nicht mit den Grenzen der verfassungsrechtlichen Bindung des Gesetzgebers gleichzusetzen.168 „Der Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich zu mehr verpflichtet als zu dem, was das Bundesverfassungsgericht kontrollieren kann“.169 Die Kontrollmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts sind aus gutem Grund begrenzt. Das Gesetzgebungsverfahren ist nicht als Erkenntnis-, sondern als Entscheidungsverfahren ausgestaltet. Eine zu starke Bindung des Gesetzgebers würde nicht dem Umstand Rechnung tragen, dass politisch getroffene
165 Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, in: Kaufmann/Mestmäcker/Zacher (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenwürde, S. 98 ff.; Amelung, Rechtsgutsverletzung und Sozialschädlichkeit, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral, S. 278 f. 166 Siehe nur BVerfGE 90, S. 145 (172). 167 Bunzel, Die Potenz des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips als Grenze des Rechtsgüterschutzes in der Informationsgesellschaft, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 102 f., 105. 168 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 320, 439, 569. 169 Hesse, Die verfassungsrechtliche Kontrolle, in: Däubler-Gmelin/Kinkel/Meyer/ Simon (Hrsg.), Gegenrede Aufklärung – Kritik – Öffentlichkeit, S. 558.
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Betrachtung der Tötung auf Verlangen
Mehrheitsentscheidungen eine Abbildung des Kompromissfähigen, nicht aber des sachlich Richtigen sind.170 Dem Gesetzgeber wird demzufolge (notwendigerweise) eine Einschätzungsprärogative zugesprochen.171 Eine umfassende Überprüfung parlamentarischer Gesetze durch das Verfassungsgericht würde eine Verschiebung der Machtverhältnisse der drei Staatsgewalten zur Folge haben. Aus der parlamentarischrepräsentativen Demokratie könnte ein Verfassungsrichterstaat werden.172 Bindende inhaltliche Vorgaben für den Strafgesetzgeber zu finden stellt sich daher als äußerst schwierig dar. Der Gesetzgeber schuldet nur verfassungskonforme Gesetze.173 Die Lösung der Frage, ob ein Verhalten überhaupt unter Strafe gestellt werden sollte, ist jedoch eine wichtige Aufgabe der Strafrechtswissenschaft. Sie sollte dem Gesetzgeber Maßstäbe an die Hand geben, um seiner Gestaltungsfreiheit verantwortungsvoll nachzukommen. Die Beantwortung dieser Frage ist nicht denselben Beschränkungen wie eine nachträgliche Überprüfung der gesetzgeberischen Entscheidung unterworfen. Die bereits oben angeführten grundrechtsdogmatischen Grenzen der Verhältnismäßigkeit, das Übermaß- und Willkürverbot, wirken sich allerdings im Regelfall nicht als bindende Vorgaben für den Gesetzgeber aus, da sie eine relativierende Abwägung erfordern, die nur im Einzelfall getroffen werden kann. Es wird daher bezweifelt, dass die kriminalpolitische Frage, ob ein Verhalten überhaupt unter Strafe gestellt werden darf, sich nur unter Berufung auf das Grundgesetz beantworten lässt.174 Das Grundgesetz schützt vor allem Freiheitsrechte des Bürgers vor Beschränkungen durch den Staat. Bei der Ausgestaltung des Strafrechts durch den Gesetzgeber geht es aber gerade nicht primär um diesen abwehrrechtlichen Charakter, sondern vielmehr um die schutzrechtliche Funktion der Grundrechte. Diese stecken aber nur einen allgemeinen Handlungsrahmen für den Gesetzgeber ab.175 Sternberg-Lieben weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Versuch, aus den bloßen Leitlinien der Verfassung 170 Gusy, Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre?, ZRP 1985, S. 298; vgl. auch Sternberg-Lieben, Rechtsgut, Verhältnismäßigkeit und die Freiheit des Strafgesetzgebers, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 76 f. 171 BVerfGE 50, S. 290 (334); 73, S. 40 (91 f.); 77, S. 170 (214 f.); 88, S. 203 (262); 90, S. 145 (173). 172 Sternberg-Lieben, Rechtsgut, Verhältnismäßigkeit und die Freiheit des Strafgesetzgebers, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 78 f.; ders., Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 356. 173 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 351 ff. 174 Appel, Verfassung und Strafe, S. 597. 175 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 371.
C. Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe
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konkrete Handlungsanweisungen für den Gesetzgeber herauszulesen, notwendigerweise zu einer politisierenden Verfassungsinterpretation führen würde.176 Die Verfassung kann demnach nur den Rahmen der gesetzgeberischen Tätigkeit bestimmen. Ausgefüllt werden muss dieser durch, zum Teil auch empirische, kriminalpolitische Überlegungen. Die Aufgabe der Strafrechtswissenschaft ist verstärkt in diesem kriminalpolitischen Bereich anzusiedeln. Sie sollte Direktiven entwickeln, die dem Gesetzgeber helfen, Normen zu entwickeln, die nicht nur einer verfassungsgerichtlichen Prüfung standhalten, sondern auch den Geist der Verfassung transportieren, mithin wirklich „verfassungskonform“ sind. In diesem Bereich ist der Gesetzeszweck voll überprüf- und kritisierbar.
176 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 372.
Zweites Kapitel
Mögliche Beschränkungen des Strafgesetzgebers Verfassungsrechtlich gesehen bedarf es eines legitimen Gesetzeszwecks, um die durch die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen ergangenen Grundrechtseingriffe zu rechtfertigen. Die Realisierung dieses Zwecks muss sich in Ansehung der Grundrechtseingriffe als verhältnismäßig erweisen.
A. Gemeinwohlinteressen als Gesetzeszwecke Lagodny nimmt eine vorsichtige Einschränkung der legitimen Gesetzeszwecke vor. Er versucht, möglichst viele Fragen grundrechtsdogmatisch bereits vor der Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne zu klären. Wichtig ist jedoch, hier nicht einfach die gleiche Abwägung an einer anderen Stelle vorzunehmen, da hierdurch lediglich das Problem verlagert würde. Er sieht in der subjektiven Natur einer Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ein Problem. Die Gefahr sei groß, seine eigene Abwägung an die Stelle der gesetzgeberischen Abwägung zu setzen und keine objektive Kontrolle der gesetzgeberischen Entscheidung durchzuführen.1 In dieser Formulierung Lagodnys zeigt sich, wie eng er sich an dem Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts orientiert. Sein Ansatz zielt nicht darauf ab, rein kriminalpolitische Kritik an Entscheidungen des Gesetzgebers zu üben. Auf dieser Ebene wäre eine Beschränkung der Kontrolldichte der gesetzgeberischen Abwägung gar nicht notwendig. Er beschränkt die zulässigen Gesetzeszwecke, indem er diejenigen Gesetzeszwecke als unzulässig einstuft, die nicht Gemeinwohlinteressen dienen. Diese Fixierung auf Gemeinwohlinteressen ergibt sich aus dem vom Bundesverfassungsgericht immer wieder betonten Grundsatz, dass Grundrechtseinschränkungen nur insoweit zulässig sind, wie sie zum Schutz öffentlicher Interessen oder des Gemeinwohls unerlässlich sind.2 Gemeinwohlinteressen können grundsätzlich jegliche Interessen der Gemeinschaft sein. Auch Individualinteressen oder 1
Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 14. BVerfGE 35, S. 382 (401); 38, S. 52 (58); 76, S. 1 (51); 87, S. 363 (390); 85, S. 248 (259); 81, S. 70 (84); vgl. auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band 1, § 20 IV 7 a, S. 672; Gentz, Zur Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen, NJW 1968, S. 1602. 2
A. Gemeinwohlinteressen als Gesetzeszwecke
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-rechtsgüter im strafrechtsdogmatischen Sinn können nach dem Verständnis der Grundrechtsdogmatik Gemeinwohlinteressen sein. Der Gegenbegriff zu Gemeinwohlinteresse ist nach Lagodny nämlich nicht Individualinteresse, sondern Partikularinteresse.3 Grenzen werden darüber hinaus nur durch den jeweiligen Gesetzesvorbehalt gesetzt. Im Falle des § 216 StGB ist der Wahl des Gesetzgebers hinsichtlich der Gemeinwohlinteressen aber keine Grenze gesetzt. Weder Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG noch Art. 2 Abs. 1 GG stellen an das eingreifende Gesetz inhaltliche Anforderungen. Erlaubt sind alle Zwecke, die vom Grundgesetz nicht ausdrücklich oder stillschweigend verboten sind, solange nicht von unzutreffenden tatsächlichen Gegebenheiten ausgegangen wird.4 In Bezug auf den Teil von § 216 StGB, der eine Verhaltensvorschrift darstellt, kann der Gesetzgeber also nach Lagodny auch Gemeinschaftsinteressen als Zweck der Vorschrift wählen, die er selbst in den Rang wichtiger Gemeinschaftsinteressen erhebt, um besonderen wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Zielen und Vorstellungen gerecht zu werden. Er muss nicht auf allgemein anerkannte und von der jeweiligen Politik des Gemeinwesens unabhängige Gemeinschaftswerte zurückgreifen.5 Aufgrund der Unbestimmtheit von Begriffen wie Gemeinwohl oder öffentliche Interessen oder gar Gemeinwohlinteressen besteht allerdings die Gefahr, dass sie zu „trojanischen Pferden“ werden, über die Vorstellungen Einzug in die Rechtsordnung halten, die dem Geist der Verfassung nicht entsprechen. Zu Recht weist Fischer daher darauf hin, dass man diese Begriffe anhand der Direktiven der Verfassung (Menschenwürde, die Grundrechte und der soziale Rechtsstaat) ausfüllen muss.6 Diese Direktiven stellen allerdings keine effektiven Begrenzungen der gesetzgeberischen Zwecksetzungskompetenz dar.7 Immerhin kann man festhalten, dass sich bereits die Gesetzeszwecke an der Verfassung messen lassen und Zwecke, die per se illegitim sind, weil sie gegen Grundsätze der Verfassung verstoßen, ausscheiden müssen. Die Sanktionsvorschrift der entsprechenden Norm muss ihre Rechtfertigung in anerkannten Strafgründen finden. Eine effektive Beschränkung der Anwendung des Strafrechts ist an dieser Stelle aber nicht zu erwarten, da die Straf3
Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 139. Gentz, Zur Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen, NJW 1968, S. 1600 ff.; Schnapp, Die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs, JuS 1983, S. 854. 5 Vgl. BVerfGE 13, S. 97 (107). 6 Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 117. 7 Vgl. Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, § 11 Rn. 189; siehe auch Amelung, Rechtsgutsverletzung und Sozialschädlichkeit, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral, S. 278. 4
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2. Kap.: Mögliche Beschränkungen des Strafgesetzgebers
gründe nicht in Verbindung mit dem Zweck der Verhaltensvorschrift gesehen werden und daher grundsätzlich jede Verhaltensnorm durch Sanktionen durchgesetzt werden kann. Allein das Gebot der Verhältnismäßigkeit stellt den Zusammenhang zwischen Verhaltens- und Sanktionsvorschrift her und stellt damit eine Beschränkung der Strafrechtsanwendung dar. Die Trennung zwischen Sanktions- und Verhaltensvorschrift ist also in diesem Bereich nicht zielführend. Lagodnys Beschränkung der legitimen Gesetzeszwecke auf Gemeinwohlinteressen taugt nicht zur Beantwortung der kriminalpolitischen Fragen, die sich im Strafrecht stellen. Grundsätzlich sind für ihn alle Gesetzeszwecke, die nicht ausschließlich Partikularinteressen dienen, legitim. Eine spezifische Einschränkung in Bezug auf das Strafrecht nimmt er nicht vor. Stern allerdings zieht bei der Interpretation des Gemeinwohls die Wertung der Verfassung mit heran. Auf diese Weise erkennt er gewisse Einschränkungen des Verständnisses von Gemeinwohl.8 In erster Linie müsse das Gemeinwohl durch Interessen der Bevölkerung des Gemeinwesens gekennzeichnet sein. Eine staatsutilitaristische Interpretation passe nicht zur Konzeption des Grundgesetzes. Als menschliche Interessen liegen vor allem die Interessen anderer im Gemeinwohl. Eine derartige Sichtweise steht zunächst im Gegensatz zur herkömmlichen Trennung von „Rechten anderer“ und „Gemeinwohlinteressen“. Eine solche Trennung ist nach Stern aber nicht vonnöten. Schließlich sieht er auch die Möglichkeit, den Schutz des Einzelnen vor sich selbst als Gemeinwohlinteresse zu deklarieren, da der Schutz von Individualinteressen als Gemeinwohlzweck von der Gefahrenquelle unabhängig sei. Entscheidend sei hier der Konflikt zwischen Selbstbestimmung und dem an sich zulässigen staatlichen Rechtsgüterschutz.9 Die Interpretation Sterns trägt der individualistisch ausgerichteten Verfassung Rechnung, stellt aber keine abschließende Aufzählung dar und kann daher nur als Leitlinie verstanden werden. Sie deutet aber bereits die hohe Gewichtung der Individualinteressen an, die auch in vielen Rechtsgutstheorien zum Ausdruck kommt.
B. Rechtsgüterschutz als Zweck des Strafrechts Eine mögliche kriminalpolitische Einschränkung ergibt sich, wenn man bedenkt, dass strafrechtliche Vorschriften dem Zweck des Strafrechts dienen müssen. Andernfalls wäre der gesetzgeberische Rückgriff auf das Strafrecht wider8 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, § 79 IV 4 d, S. 350 ff. 9 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, § 79 IV 4 e g, S. 361 f.
B. Rechtsgüterschutz als Zweck des Strafrechts
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sinnig. Die Frage nach dem Zweck des Strafrechts führt zur Frage nach der Legitimation des Staates an sich. Am Anfang aller Legitimationsgründe neuzeitlicher Staatlichkeit steht die Gewährleistung von Frieden nach außen und Sicherheit nach innen. Auch das Bundesverfassungsgericht leitet aus diesen Staatsfunktionen die Rechtfertigung der Institution Staat her.10 Das Strafrecht stellt ein Mittel zur Garantie der Sicherheit und des inneren Friedens dar. Die Gewährleistung des Rechtsfriedens ist ihr oberstes Ziel.11 Verfassungsgericht und Lehre sind sich daher einig, dass das Strafrecht dem Schutz von Rechtsgütern dienen soll.12 Unklar ist allerdings, wie eine Bestimmung der Rechtsgüter und damit der Ziele, die durch das Strafrecht legitimerweise geschützt werden dürfen, zu erfolgen hat. Grundsätzlich ist dem Staat im Verhältnis zum Bürger eine dienende Aufgabe zugewiesen. Der Schutz des Rechtsfriedens darf daher weder um jeden Preis, noch zur Realisierung jedweden, vom Gesetzgeber beliebig bestimmten, Ziels zulässig sein. Die Freiheit des Bürgers darf nur zur Sicherung eben dieser Freiheit eingeschränkt werden.13 Während das Verfassungsgericht die Rechtsgüter, die einen strafrechtlichen Schutz verdient haben, negativ bestimmt und nur teilweise herausstellt, welches Rechtsgut nicht strafrechtlich geschützt werden soll, versucht die Strafrechtslehre die schützenswerten Rechtsgüter positiv zu bestimmen. Diese Diskrepanz erklärt sich durch die unterschiedliche Zielsetzung von verfassungsrechtlichen Prüfungen, die meist nachträglich durch das Bundesverfassungsgericht erfolgen, und strafrechtswissenschaftlichen Prüfungen, die bereits kriminalpolitisch wirken wollen. Die Rechtsgutstheorien der Strafrechtswissenschaft könnten Richtlinien bieten, an denen der Strafgesetzgeber sich orientieren kann. Die Einordnung bestimmter Rechtsgutstheorien als „systemkritisch“ bedeutet nicht, dass Strafvorschriften, welche den Direktiven der Theorien widersprechen, nichtig sind. Vielmehr können auch systemkritische Rechtsgutsbegriffe als lediglich kriminalpolitische Richtlinien verstanden werden.14
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BVerfGE 49, S. 24 (56 f.). Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 360; vgl. auch Bunzel, Die Potenz des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips als Grenze des Rechtsgüterschutzes in der Informationsgesellschaft, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 98 f. 12 Vgl. BVerfGE 21, S. 391 (403); 25, S. 269 (286); 50, S. 142 (153); Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 146; vgl. aber auch Hefendehl, Die Materialisierung von Rechtsgut und Deliktsstruktur, GA 2002 (149), S. 23. 13 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 360 f. 14 Roxin, Strafrecht AT 1, § 2 C Rn. 12. 11
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2. Kap.: Mögliche Beschränkungen des Strafgesetzgebers
C. Strafrechtliche Rechtsgutstheorien Im Rahmen der Diskussion um die Zulässigkeit der Schaffung von Strafrechtsnormen haben sich mehrere Rechtsgutstheorien herausgebildet. Auch diese haben teilweise rein kriminalpolitische Zielsetzungen,15 teilweise den Anspruch verfassungsrechtlicher Verbindlichkeit.16 Dabei ist es wichtig klarzustellen, dass der Begriff Rechtsgut in der Verfassungsdogmatik, da nur negativ bestimmt, umfassender ist als in der Strafrechtslehre. Aus der Verfassung ergeben sich, abgesehen von dem Verhältnismäßigkeitsgebot, keine weiteren Grenzen der Kompetenz des Strafgesetzgebers. Entsprechend werden durch den Gesetzgeber auch immer wieder neue „Rechtsgüter“ geschaffen. Diese stellen die Rechtsgutstheorien vor das Problem, entweder die neuen „Rechtsgüter“ durch Anpassung der Theorien zu integrieren oder zu kritisieren.17 An diesem Punkt setzt das von Seher als „semantisches Dilemma“ bezeichnete Problem der Rechtsgutstheorien ein. Es wird versucht, grundsätzlich verschiedene Vorstellungen über die Reichweite des Strafrechts in einem Begriff des Rechtsguts unterzubringen.18 Daraus folgt, dass innerhalb der Rechtsgutslehre keine konsensfähigen Kriterien für eine Konturierung des Rechtsgutsbegriffs herausgearbeitet werden konnten. Die Fixierung auf einen konkreten Rechtsgutsbegriff kann schon aus diesem Grund nicht zielführend sein.19 Im Rahmen dieser Arbeit kann ohnehin nicht die gesamte Bandbreite der Rechtsgutsdiskussion dargestellt werden. Vielmehr geht es hier darum, Strömungen aufzuzeigen, aus denen ein Konsens bezüglich der Aufgabe des Strafrechts und der Reichweite der Befugnisse des Gesetzgebers heraus gelesen werden kann. Diese strafrechtsethischen Prinzipien können für die kriminalpolitische Beurteilung einer Norm nutzbar gemacht werden. Auch Rechtsgutstheorien werden zum Teil ausdrücklich nur als Leitlinien gesehen, die mit anderen Prinzipien zusammen wirken müssen, um eine echte kriminalpolitische Beschränkung des Strafgesetzgebers zu erreichen.20 15 Vgl. Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch Band 1, Vor § 1Rn. 115. 16 Vgl. Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB, Band I, Vor § 1, Rn. 1 ff. 17 Seher, Prinzipiengestützte Strafnormlegitimation und der Rechtsgutsbegriff, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 40. 18 Hefendehl, Die Materialisierung von Rechtsgut und Deliktsstruktur, GA 2002 (149), S. 22; Seher, Prinzipiengestützte Strafnormlegitimation und der Rechtsgutsbegriff, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 45. 19 Vgl. Bunzel, Die Potenz des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips als Grenze des Rechtsgüterschutzes in der Informationsgesellschaft, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 96; Appel, Rechtsgüterschutz durch Strafrecht?, KritV 1999, S. 282 f. 20 Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch Band 1, Vor § 1 Rn. 147.
C. Strafrechtliche Rechtsgutstheorien
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Vorliegend geht es also um die Erarbeitung von Richtlinien, anhand derer die Entscheidung des Strafgesetzgebers, die Tötung auf Verlangen durch § 216 StGB unter Strafe zu stellen, überprüft werden kann. I. Die klassische Rechtsgutslehre In der klassischen Rechtsgutslehre ist der Begriff des strafrechtlichen Rechtsguts ein „durch und durch positivrechtlicher Begriff“.21 Der Gesetzgeber entscheidet hiernach darüber, welches Gut er schützen will und damit zum Rechtsgut erhebt. In seiner Entscheidung ist er jedoch nicht völlig frei. „Er kann nur solche sozialen Gegebenheiten zum Schutz strafrechtlicher Normen erheben, die für die verfassungsmäßige Stellung und Freiheit des einzelnen Bürgers und für unser sich im Rahmen der Verfassung bewegendes Gesellschaftsleben notwendig sind“.22 Rechtsgüter sind damit für Rudolphi „werthafte Funktionseinheiten“, die für die verfassungsmäßige Gesellschaft und für den einzelnen Bürger unverzichtbar sind.23 Umfasst sind damit sowohl Individual- als auch Gemeinschaftsrechtsgüter. Dieser klassische Rechtsgutsbegriff ist aber auch von der gesellschaftlichen Entwicklung abhängig und daher dynamisch.24 Nicht strafwürdig sind demnach Verhaltensweisen, die sich nicht schädlich auf den gesellschaftlichen Funktionsorganismus auswirken. Bloße Moralwidrigkeiten sind daher vom klassischen Rechtsgutsbegriff ausgenommen. Vorschriften, die tief verwurzelte Kulturüberzeugungen schützen, müssen streng begrenzte Ausnahmen bleiben. Auch eine Ausdehnung der Strafbarkeit in Vorbereitungsstadien verbietet sich aus verfassungsrechtlicher Sicht. Nicht unmittelbar rechtsgutsgefährdende Verhaltensweisen dürfen nicht Gegenstand einer Strafrechtsvorschrift sein.25 Die Tatsache, dass Rudolphi Ausnahmen von seinem Rechtsgutsbegriff zulässt, könnte darauf hindeuten, dass er keine verfassungsrechtliche Verbindlichkeit des Rechtsgutsbegriffs sieht, sondern lediglich dem Gesetzgeber Kriterien an die Hand geben will, an denen dieser seine Entscheidungen, welche Güter er zu Rechtsgütern erheben will, messen kann.
21 Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB, Band I, Vor § 1, Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, S. 5 f. 22 Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB, Band I, Vor § 1, Rn. 23 Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB, Band I, Vor § 1, Rn. 24 Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB, Band I, Vor § 1, Rn. 25 Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB, Band I, Vor § 1, Rn.
Rn. 4; 5. 8. 8. 10.
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2. Kap.: Mögliche Beschränkungen des Strafgesetzgebers
II. Die personale Rechtsgutslehre Hassemer möchte die Anwendung des Strafrechts durch eine monistisch-personale Rechtsgutlehre begrenzen.26 Den Begriff des Rechtsguts hält Hassemer bewusst offen. Er wird umrissen durch Begriffshülsen wie „Interesse“, „Potential“, „werthafte Funktionseinheit“ und so weiter. Die Anerkennung von unentbehrlichen Gütern wie Leben, Freiheit, Gesundheit und Eigentum steht dabei außer Frage. Die Vagheit des Rechtsgutsbegriffs ist Folge seiner Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Wandel.27 Der Wert der personalen Rechtsgutslehre liegt in der Betonung der Person als Ausgangspunkt und obersten Wert jeder Staatsordnung. Rechtsgüter der Allgemeinheit werden daher nur insoweit anerkannt, als sie auch Interessen von Personen vermitteln.28 Beispielsweise ist das Rechtsgut der Urkundsdelikte nach der personalen Rechtsgutslehre nicht die Sicherheit des Rechtsverkehrs, sondern die Gesamtheit der am Rechtsverkehr teilnehmenden und deshalb an der Integrität des Beweismittels interessierten Individuen.29 Der Staat hat dem Menschen gegenüber eine lediglich dienende Funktion. Ein Zuviel an Gemeinschaftsrechtsgütern würde die Stellung des Strafrechts als „ultima-ratio“ gefährden.30 Hassemer sieht seinen Ansatz aber lediglich als ein „Argumentationstopos für eine eher am Menschen orientierte, eher durchsichtige und nachprüfbare Kriminalpolitik und Strafrechtsanwendung“,31 denn als verbindliche Vorgabe für den Gesetzgeber. Die Personenbezogenheit des Grundgesetzes spricht für einen personalen Rechtsgutsbegriff. Zwar ist das Menschenbild des Grundgesetzes das eines in die Gemeinschaft eingebundenen Individuums,32 allerdings ändert diese gemeinschaftsbezogene Ergänzung nichts daran, dass der Staat des Grundgesetzes menschenbezogen ist.33 Die menschliche Würde und die Menschenrechte sind Grundlage unseres Staates.34 26
Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 192 ff. Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch Band 1, Vor § 1 Rn. 142 ff. 28 Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 29, 33; Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch Band 1, Vor § 1 Rn. 128, 132 ff.; Roxin, Strafrecht AT 1, § 2 C Rn. 11. 29 Hassemer, Grundlinien einer personalen Rechtsgutslehre, in: Scholler/Philipps (Hrsg.), Jenseits des Funktionalismus, S. 92. 30 Hassemer, Grundlinien einer personalen Rechtsgutslehre, in: Scholler/Philipps (Hrsg.), Jenseits des Funktionalismus, S. 93 (Hassemer benutzt den Begriff Universalrechtsgut, der aber gleichbedeutend mit Gemeinschaftsrechtsgut ist.). 31 Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch Band 1, Vor § 1 Rn. 146. 32 BVerfGE 4, S. 7 (15 f.); 27, S. 344 (351); 45, S. 187 (227); 50, S. 166 (175). 33 Vgl. BVerfGE 27, S. 1 (6 f.). 27
C. Strafrechtliche Rechtsgutstheorien
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Nach Anastasopoulou vertauscht Hassemer bei seinen Beispielen aber Rechtsgutsträger und Rechtsgutsgegenstand. Die am Rechtsverkehr teilnehmenden Individuen seien beispielsweise lediglich die Träger des Rechtsgutes.35 Nicht alle Rechtsgüter der Allgemeinheit lassen sich auf bestimmte spezielle Individualrechtsgüter zurückführen.36 Die Forderung jedes Rechtsgut der Allgemeinheit auf Individualrechtsgüter zurückzuführen ist nicht legitimierbar.37 Auch Hassemer räumt ein, dass man im Strafrecht auf Universalrechtsgüter nicht verzichten kann.38 Rechtsgüter der Allgemeinheit bergen aber aufgrund ihrer gegenüber Individualrechtsgütern fehlenden „Greifbarkeit“ die Gefahr, dass es zu einer Überfrachtung des Strafrechts kommt, da immer neue Universalrechtsgüter „erfunden“ werden könnten.39 Die bereits bestehenden Universalrechtsgüter sollten demnach laut Hassemer nicht erweitert werden. Für die hier vorliegende Untersuchung kann man nur bedingt Schlüsse aus dieser Position ziehen, da § 216 StGB seit 1871 im deutschen StGB vorhanden ist. Richtig ist sicherlich, dass die Person den zentralen Stellenwert unserer Rechtsordnung einnimmt. Insofern kann die von Hassemer entwickelte personale Rechtgutlehre als Argumentationstopos benutzt werden, um die Ausrichtung der Strafrechtssetzung an den obersten Wert unserer Verfassung, der menschlichen Person, zu gewährleisten.40 Das systemkritische Potential eines derartigen Verständnisses der Rechtsgutstheorie ist damit gering. Etwas anderes kann aber nicht erwartet werden, wenn man bedenkt, dass über die Rechtsgutstheorie andernfalls die gesamte Legitimation einer Strafrechtsordnung von einem einzigen Rechtsgutsbegriff abhängen sollte.41 Eben diese Konsequenz möchte Hassemer nicht ziehen, wenn er seinen Rechtsgutsbegriff bewusst offen hält. Auch Anastasopoulou sieht die Gefahr der Überfrachtung des Strafrechts durch immer neue Universalrechtsgüter, schlägt aber unter Beachtung des von 34 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 376 f. 35 Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 35. 36 Amelung, Der Begriff des Rechtsguts in der Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 162; vgl. Kuhlen, Umweltstrafrecht, ZStW 105 (1993), S. 704. 37 Hefendehl, Die Materialisierung von Rechtsgut und Deliktsstruktur, GA 2002 (149), S. 24. 38 Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch Band 1, Vor § 1 Rn. 138. 39 Vgl. Hassemer, Grundlinien einer personalen Rechtsgutslehre, in: Scholler/Philipps (Hrsg.), Jenseits des Funktionalismus, S. 92. 40 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 378 f. 41 Vgl. Wohlers, Rechtsgutstheorie und Deliktsstruktur, GA 2002 (149), S. 16 f.
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2. Kap.: Mögliche Beschränkungen des Strafgesetzgebers
Hassemer herausgearbeiteten Primats der Person eine andere Beschränkung der Schaffung neuer Universalrechtsgüter vor: Sie folgert aus der Unableitbarkeit von Universalrechtsgütern aus Individualrechtsgütern, dass erstere als originäre Rechtsgüter neben Individualrechtsgütern anerkannt werden müssen.42 Hieraus ergibt sich aber auch eine unabdingbare Strukturbedingung von Universalrechtsgütern: So fern sich einem Straftatbestand unmittelbar individuelle Rechtsgüter zugrunde legen lassen, besteht kein Grund, Universalrechtsgüter zu hypostasieren.43 III. Strafrecht als generalisierender Opferschutz Lüderssen sieht das Strafrecht als „generalisierenden Opferschutz“.44 Es diene dem Interesse des Einzelnen am Ausgleich des erlittenen Schadens. Von dieser Prämisse ausgehend entwickelt er eingedenk des Vorrangs von Zivil- und Verwaltungsrecht die These, dass Rechtsgüter bereits im Zivil- und Verwaltungsrecht bestimmt sein müssen, bevor eine strafrechtliche Wertung hinzutritt. Das Strafrecht tritt nicht mit eigenständigen Wertungen auf, sondern nur in seiner Schutzfunktion.45 Der Ultima-Ratio-Gedanke des Strafrechts zeigt sich darin, dass die schutzwürdigen Rechtsgüter nur durch andere Rechtsgebiete bestimmt werden. Hierbei geht es primär um die Auswahl der Rechtsgüter.46 Für die hier entscheidende Frage hilft diese Sichtweise jedoch nicht weiter. Das Leben ist als Rechtsgut auch im Bürgerlichen und Öffentlichen Recht bekannt. Allein die Bestimmung des schützenswerten Rechtsguts über die außerstrafrechtlichen Rechtsgebiete genügt jedoch nicht, um das hier bedeutende Problem zu klären, ob das Leben eines Menschen auch gegen seinen Willen durch das Strafrecht geschützt werden kann. IV. Strafrecht und die Risikogesellschaft Auch aus den Überlegungen von Prittwitz lässt sich eine Orientierung des Strafrechts am Individuum ausmachen. Prittwitz hat sich in seiner Untersuchung mit der Auswirkung der „Risikogesellschaft“ beschäftigt. Das „moderne“ Strafrecht laufe Gefahr, übertrieben funktionalisiert zu werden. Positive Effekte 42 Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 43; Schünemann, Das Rechtsgüterschutzprinzip als Fluchtpunkt der verfassungsrechtlichen Grenzen der Straftatbestände und ihrer Interpretation, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 249; ebenso Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S. 81 ff. 43 Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S. 82. 44 Lüderssen, Die Krise des öffentlichen Strafanspruchs, S. 38. 45 Lüderssen, Die Krise des öffentlichen Strafanspruchs, S. 38 ff. 46 Lüderssen, Die Krise des öffentlichen Strafanspruchs, S. 44 f.
D. Rechtsgutstheorien als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips
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würden durch eine Funktionalisierung des Strafrechts kaum eintreten, da ein umfassender vorverlagerter Schutz nicht möglich sei. Sinnvoller sei demgegenüber ein „entrümpeltes“ Strafrecht, welches im Wesentlichen vorsätzliche schwere Verletzungen persönlicher Rechtsgüter erfasst. Auf diese Weise könne die größte Übereinstimmung mit den in der Gesellschaft herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen hergestellt werden.47 Prittwitz betont zu Recht die Gefahr eines überfunktionalisierten Strafrechts. Vor allem würde jedoch ein derartiges Verständnis große Einschnitte in die persönliche Freiheit des Einzelnen vornehmen. Insbesondere in der modernen Gesellschaft ist eine Begrenzung der Anwendung des Strafrechts als „ultima-ratio“ von großer Bedeutung.48
D. Strafrechtliche Rechtsgutstheorien als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips Wie diese Rechtsgutstheorien in das verfassungsrechtliche Gefüge einzuordnen sind, ist allerdings fraglich. Teilweise wird den Rechtsgutstheorien sogar ihre Existenzberechtigung als Legitimationskriterium abgesprochen (siehe oben, 1. Kapitel A. II.). Hirsch nimmt jedenfalls an, dass eine Begrenzung des „durch den Gesetzgeber Pönalisierbaren“ durch den Rechtsgutsbegriff nicht zu erreichen ist.49 Die Kritik an der Rechtsgutslehre ist vor allem dort berechtigt, wo man versucht, sie als verbindliche Vorgabe für den Strafgesetzgeber zu etablieren. Tatsächlich weist das Grundgesetz nicht auf eine Rechtsgutstheorie als Schranke der Gesetzgebungskompetenz hin. Daraus folgt, dass der strafrechtliche Rechtsgutsbegriff für den Gesetzgeber nicht verbindlich sein kann.50 Aus der Verfassung ergibt sich als Schranke der strafrechtlichen Gesetzgebungskompetenz nur die Verhältnismäßigkeit. Die Bindung des Strafgesetzgebers an das Gebot der Verhältnismäßigkeit steht aber außer Frage. Das Bundesverfassungsgericht hat sogar herausgestellt, dass „[. . .] der Einsatz des Strafrechts von Verfassungs wegen in besonderer Weise [. . .] an das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebunden“ ist.51 Das Strafrecht sei „die ,ultima ratio‘ im Instrumentarium des Gesetzgebers“.52 Die Verwandtschaft zu den Rechtsgutstheorien wird hierin offenbar. Man könnte daher die Aufgabe der Rechtsguts47
Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 167 ff. Prittwitz, Funktionalisierung des Strafrechts, StV 1991, S. 437. 49 Hirsch, Einwilligung und Selbstbestimmung, in: Stratenwerth/Kaufmann/Geilen/ Hirsch/Schreiber/Jakobs/Loos (Hrsg.), Festschrift für Welzel, S. 785. 50 Appel, Verfassung und Strafe, S. 381 ff., 390; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 145 ff., 162 f. 51 BVerfGE 96, 245 (249). 52 BVerfGE 39, S. 1 (47). 48
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2. Kap.: Mögliche Beschränkungen des Strafgesetzgebers
theorien darin sehen, strafrechtsspezifische Maßstäbe für die Verhältnismäßigkeitsprüfung zu bieten.53 Durch Rechtsgutstheorien bestimmte Rechtsgüter wären dann diejenigen Schutzgüter, zu deren Gunsten eine Strafrechtsnorm in der Regel verhältnismäßig ergehen kann. Mit Hilfe der Rechtsgutstheorien könnte man schon beim intendierten Gesetzeszweck eine Differenzierung zwischen legitimen und illegitimen Strafgründen vornehmen.54 Durch die aus den Rechtsgutstheorien und anderen rechtsphilosophischen Überlegungen gewonnen Prinzipien könnte sich eine evidente Unverhältnismäßigkeit bestimmter Normen herausarbeiten lassen.55 Auf diese Weise könnte das Verhältnismäßigkeitsprinzip angereichert werden und die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der konkreten Norm erleichtert werden.56 Stächelin zieht den strafrechtlichen Rechtsgutsbegriff dementsprechend sogar als Maßstab im Rahmen des Übermaßverbots heran.57 In Anbetracht der notwendigerweise geringen verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte können diese Prinzipien aber nur kriminalpolitische Funktion entfalten.58 Eine echte Bindung des Strafgesetzgebers kann nicht erwartet werden.
E. Absolute Schranken des Strafrechts aus der Verfassung Hörnle hat einen eigenen Versuch unternommen, dem Gesetzgeber strafrechtsspezifische Grenzen zu setzen. Weder die strafrechtlichen Rechtsgutstheorien noch die Einschränkung der Befugnisse des Strafgesetzgebers über das Verhältnismäßigkeitsprinzip überzeugen sie. In Bezug auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip als regulatives Element weist sie auf die gravierenden Unterschiede zwischen Eingriffen durch Strafrechtsnormen und sonstigen verwaltungsrechtlichen Eingriffen in Grundrechte hin. Ein wesentliches Charakteristikum der Kriminalstrafe ist der Eingriff in den Wert- und Achtungsanspruch des Verurteilten. Mit dem Unwerturteil wird nicht nur zukünftiges Verhalten des Betroffenen verhindert, sondern vergangenes Verhalten sanktioniert. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung sei wegen ihrer Ausrichtung auf zukünftige Zwecke kein adäquates 53 Hassemer, Darf es Straftaten geben, die ein strafrechtliches Rechtsgut nicht in Mitleidenschaft ziehen?, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 60. 54 Vgl. auch Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, S. 279 f. 55 Vgl. Sternberg-Lieben, Rechtsgut, Verhältnismäßigkeit und die Freiheit des Strafgesetzgebers, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 74. 56 Bunzel, Die Potenz des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips als Grenze des Rechtsgüterschutzes in der Informationsgesellschaft, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 114. 57 Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, S. 164 ff. 58 Sternberg-Lieben, Rechtsgut, Verhältnismäßigkeit und die Freiheit des Strafgesetzgebers, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 79 f.
E. Absolute Schranken des Strafrechts aus der Verfassung
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Mittel, um die Anwendung der Kriminalstrafe auf einen engen Kernbereich von Verhaltensweisen zu begrenzen.59 Inwieweit das Verhältnismäßigkeitsprinzip jedoch auf künftige Zwecke ausgerichtet ist, bleibt verborgen. Zwar wird die Prüfung der Verhältnismäßigkeit meist durchgeführt, um im Vorhinein unter Beachtung der zukünftigen Folgen einer Maßnahme zu entscheiden, ob sie zur Erzielung eines konkreten Zwecks durchgeführt werden darf. Insofern wäre auch in Bezug auf die Frage, ob ein Verhalten unter Strafe gestellt werden darf, die Verhältnismäßigkeitsprüfung zukunftsbezogen. Allein diese Frage ist kriminalpolitisch entscheidend. Aus dieser Warte erscheint die Verhältnismäßigkeitsprüfung daher durchaus geeignet. Hörnle hat aber insofern Recht, als die Verhältnismäßigkeitsprüfung denknotwendigerweise relativ ist. In der Strafrechtswissenschaft besteht Einigkeit darüber, dass nur wenige Verhaltensweisen strafrechtlich verboten werden sollten. Hörnle folgert aus diesem Ansatz, dass dem Strafgesetzgeber absolute, nicht wie bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung lediglich relative Grenzen gesetzt werden sollten. Echte Grenzen können dem Strafgesetzgeber nur gesetzt werden, wenn man den Kreis der zulässigen Schutzgüter eingrenzt.60 Dies möchte sie erreichen, in dem sie unter den Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG den Schranken der Rechte anderer und des Sittengesetzes besondere Bedeutung für die gesetzgeberische Entscheidung zuspricht, da die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung als einfacher Gesetzesvorbehalt dem Strafgesetzgeber keine Direktiven an die Hand geben kann.61 Tatsächlich ist auch der Gesetzgeber an die materielle Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gebunden. Wenn auch der Verfassung keine präzisen Handlungsanweisungen für den Strafgesetzgeber entnommen werden können, so kommt dem Grundgesetz doch eine anleitende, in Ausnahmefällen auch verfassungsgerichtlich justitiable Funktion der Umgrenzung strafrechtlicher Materie zu.62 Auch Hörnle sieht die Aufgabe der Strafrechtswissenschaft darin, Vorschläge für materielle Prinzipien zu schaffen, an denen sich der Gesetzgeber orientieren kann. Sie möchte Kritik an der Wahl des Gesetzeszwecks anhand der Wertung der Verfassung üben.63 Es geht ihr also nicht darum, die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung in dem Sinne aufzuheben, dass ein Gesetz, welches ausschließlich durch diese Schranke zu rechtfertigen ist, nichtig wird. Nicht die verfassungsgerichtliche Kontrolle soll verändert werden, sondern mit kriminal59
Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 40. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 40. 61 Vgl. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz Band 1, Art. 2 Abs. 1, Rn. 25 ff. 62 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 373 f. 63 Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 43. 60
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2. Kap.: Mögliche Beschränkungen des Strafgesetzgebers
politischer Intention soll dem Gesetzgeber bei seiner normschöpfenden Aufgabe zur Seite gestanden werden. I. Die Rechte anderer als Grenze der Handlungsfreiheit Die Rechte anderer hat das Bundesverfassungsgericht mit dem Hinweis auf die Gemeinschaftsgebundenheit der Person als Gemeinschaftsinteressen definiert.64 Diese Sichtweise erlangt Bedeutung, wenn es um eine Leistungspflicht des Grundrechtsträgers geht. Bei einer Verbotsnorm kann man jedoch wieder auf den Wortlaut des Grundgesetzes zurückgreifen. Eine Verletzung von Rechten anderer wird durch das Handlungsverbot verhindert.65 Rekurrierend auf den Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 GG stellt sich die Frage, ob auch Interessen der Allgemeinheit „Rechte anderer“ sein können. Hier fehlt es an einer individualisierten Person, die als „anderer“ bezeichnet werden könnte. Die herrschende Meinung des Verfassungsrechts verneint diese Frage. Beschränkungen im Interesse des Gemeinwohls seien nur über die Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung“ möglich.66 Für diese Interpretation spricht die Ausrichtung der Grundrechte auf natürliche Personen. Nur über Art. 19 Abs. 3 GG erlangen auch juristische Personen Grundrechtsschutz. Damit sind zwar auch juristische Personen geschützt, aber nicht die Allgemeinheit. Lagodny führt dagegen aus, dass der Begriff des Individualrechtsgutes der Verfassung fremd sei und daher eine Auflösung von Gemeinwohlinteressen in Individualinteressen nicht in Frage käme. Es sei eine unzulässige Übertragung strafrechtsdogmatischen Denkens auf die Grundrechtsdogmatik.67 In Bezug auf die „Rechte anderer“ zeigt sich jedoch, dass dem Verfassungsrecht ein Abstellen auf individuelle Rechte nicht fremd ist. In der Rechtsgutsdiskussion im Strafrecht wird diese verfassungsrechtliche Vorgabe vernachlässigt. Sie kommt allerdings in Form des wachsenden Misstrauens gegenüber Universalrechtsgütern, also Rechtsgütern der Allgemeinheit in neuerer Zeit immer deutlicher zum Ausdruck. Insbesondere die personale Rechtsgutstheorie versucht ebenfalls der besonderen Stellung des Individuums in der Verfassung durch Betonung von Individualrechtsgütern gerecht zu werden. Schließlich stellt sich die Frage, ob ausschließlich „Rechte“, oder auch „Interessen“ anderer ausreichen, um die allgemeine Handlungsfreiheit einzuschrän64
BVerfGE 4, S. 7 (15 f.). Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 49. 66 Kunig, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar Band 1, Art. 2 Rn. 21; Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz Kommentar Band 1, Art. 2 Abs. 1, Rn. 35; Podlech, in: Wassermann (Hrsg.), GrundgesetzKommentar (Reihe Alternativkommentare), Bd. I, Art. 2 Abs. 1 Rn. 68. 67 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 140; siehe auch Appel, Verfassung und Strafe, S. 201, 381. 65
E. Absolute Schranken des Strafrechts aus der Verfassung
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ken. Verfassungsrechtlich anerkannt ist, dass bloße Interessen nicht genügen.68 Die Rechte anderer seien aber nicht nur die Grundrechte, sondern alle von der Rechtsordnung anerkannten Positionen.69 Hier zeigt sich wieder die Orientierung an der bestehenden Rechtsordnung, wie sie auch Hassemer im Rahmen seiner personalen Rechtsgutstheorie für Universalrechtsgüter vorschlägt. Auf den ersten Blick wäre diese vorzugswürdig, weil sie klare Grenzen für Kriminalisierungsentscheidungen setzen würde. Schließlich sieht man sich aber in Hinblick auf die Anerkennung von Interessen als „Rechte anderer“ damit konfrontiert, über die vorpositive Wertung der Rechtsordnung zu erschließen, ob ein Verhalten strafwürdig ist, oder nicht. II. Die Schranke des Sittengesetzes Als besonders problematisch wird die Schranke des Sittengesetzes in Art. 2 Abs. 1 GG empfunden. Es gibt Autoren, welche die Schranke des Sittengesetzes generell für bedeutungslos halten. In Bezug auf Strafrechtsnormen ist dieser Gedanke nahe liegend. Die im Strafrecht herrschende Rechtsgutslehre hat vor allem die Aufgabe, das Strafrecht von der Strafbarkeit bloßer Moralwidrigkeiten frei zu halten.70 Diese Ansicht hat sich mittlerweile zu einem kaum mehr hinterfragten Dogma entwickelt. Appel weist jedoch zu Recht darauf hin, dass es keinen verfassungsrechtlichen Grund gebe, bloße Moralwidrigkeiten von vornherein aus dem Kreis strafbarer Verhaltensweisen herauszunehmen.71 Tatsächlich enthält Art. 2 Abs. 1 GG ausdrücklich die Schranke des Sittengesetzes. In der neueren verfassungsrechtlichen Literatur wird die Schranke des Sittengesetzes für praktisch bedeutungslos erklärt, weil eine aktuell mehrheitlich anerkannte Grundüberzeugung im Sinne eines Sittengesetzes in unserer Gesellschaft nicht auszumachen sei. Die Schranke des Sittengesetzes verweise nur auf die Menschenrechtstradition. Im Übrigen habe sie keine unmittelbar eigenständige Bedeutung neben der verfassungsmäßigen Ordnung.72
68 Di Fabio, in: Maunz-Dürig Grundgesetz Band I, Art. 2 Abs. 1 Rn. 44; Pieroth/ Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 385; Kunig, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar Band 1, Art. 2 Rn. 20. 69 Di Fabio, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz Band I, Art. 2 Abs. 1 Rn. 44; Kunig, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar Band 1, Art. 2 Rn. 20. 70 Roxin, Strafrecht AT 1, § 2 C Rn. 17; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 362; Marx, Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut“, S. 86. 71 Appel, Rechtsgüterschutz durch Strafrecht?, KritV 1999, S. 302. 72 Di Fabio, in Maunz-Dürig Grundgesetz Band I, Art. 2 Abs. 1 Rn. 46; Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz Kommentar Band 1, Art. 2
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2. Kap.: Mögliche Beschränkungen des Strafgesetzgebers
In der strafrechtlichen Diskussion haben sich allerdings Erwägungen zum Schutz der Moral unter dem Mantel der soziologischen Argumentation „eingeschlichen“. Es wird die Einhaltung von moralischen Vorstellungen zur Gewährung eines gesellschaftlichen Zusammenhaltes gefordert. Gerade in Bezug auf das Tötungsverbot, welches in unserer Gesellschaft noch am ehesten als eine weit verbreitete moralische Grundposition bezeichnet werden kann, werden derartige Erwägungen herangezogen. Ich werde auf diese später eingehen. Neben diesem konventionellen Moralverständnis wird teilweise der Begriff der „wahren Moral“ vertreten. Dieser soll Moralvorstellungen umschreiben, die unabhängig von ihrem Stellenwert in der Gesellschaft Gültigkeit besitzen. Eine derartige Sichtweise der Moral ist vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Präferenz für zweckrationale Begründungen nicht zu rechtfertigen.73 Wenn es nicht auf den Stellenwert einer Moral in der Gesellschaft ankommt, sind die Maßstäbe einer solchen Moral kaum auszumachen. Hörnle weist darauf hin, das eine Idee der „wahren Moral“ einen ethischen Kognitivismus voraussetzen würde.74 Ethischer Kognitivismus bedeutet, dass moralische Erkenntnis, Wissen darüber, welche Handlungen moralisch sind, erlangt werden könnte.75 Es wird allerdings bezweifelt, dass die moralische Richtigkeit von Handlungen Gegenstand von Erkenntnis sein kann. Weder empirische Erfahrungen noch gedankliche Einsicht können Erkenntnisse über die Richtigkeit einer Handlung herbeiführen. Allein die gedankliche Prüfung von Handlungen an vordefinierten moralischen Standards ist möglich.76 „Wahre Moral“ kann demnach kein Sittengesetz bieten. Ein Rückgriff auf religiöse Moral scheidet ebenfalls aus, weil das Grundgesetz weltanschaulich neutral ausgestaltet ist und daher eine Identifikation mit einer besonderen Weltanschauung außerhalb der „verfassungsimmanenten Ethik“ (Menschenwürde, Menschenrechte, Sozialstaatlichkeit) nicht in Frage kommt.77 Hörnle sieht daher nur eine „Sonderkonstellation“, in der die Schranke des Sittengesetzes Bedeutung erlangen könnte, wenn sich die moralische Norm aus der Verfassung selbst eindeutig ableiten lasse. Tatsächlich ist die Entscheidung Abs 1, Rn. 41; Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 388; Kunig, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 2 Rn. 28. 73 Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 61. 74 Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 62. 75 Engländer, Moralische Richtigkeit als Bedingung der Rechtsgeltung?, ARSP 2004, S. 86. 76 Engländer, Moralische Richtigkeit als Bedingung der Rechtsgeltung?, ARSP 2004, S. 95. 77 Erbel, Das Sittengesetz als Schranke der Grundrechte, Berlin 1971, S. 272 ff.; Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, Tübingen 1972, S. 236 ff.; Erichsen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rn. 41; Degenhart, Die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 I GG, in: JuS 1990, S. 164 f.
E. Absolute Schranken des Strafrechts aus der Verfassung
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für einen „moralisch indifferenten Staat“ bereits das Bekenntnis zu einer besonderen Weltanschauung. Auch das Bekenntnis zum Individuum, welches in unserer Verfassung zu Ausdruck kommt, deutet moralische Normen an. Für Hörnle hat in unserem an sich „neutralem“ Staat allein die in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Menschenwürde eine derartig zweifellose Rechtsgültigkeit, um die Handlungsfreiheit derart einzuschränken, dass sie als Sittengesetz angesehen werden könnte.78 Diese Einschätzung deckt sich mit der Meinung einiger Verfassungsrechtler, die in dem Sittengesetz einen Verweis auf die Menschenwürde sehen (siehe oben, 2. Kapitel E. II.).79 Zwar ist in Fällen, in denen die Menschenwürde betroffen ist, regelmäßig auch die Schranke der „Rechte anderer“ einschlägig, allerdings kann es Konstellationen geben, in denen ein Subjekt als Grundrechtsträger nicht auszumachen ist. Ob es möglich ist, über die Schranke des Sittengesetzes eine objektivierte, vom konkreten Grundrechtsträger gelöste Vorstellung der Menschenwürde zu schützen, ist allerdings fraglich.80 Hierauf wird in concreto später eingegangen. III. Kritik an der Etablierung der „Rechte anderer“ und des „Sittengesetzes“ als absolute Schranken des Strafrechts Hörnles Ansatz sieht sich gerade im konkreten Fall mit einem praktischen Problem konfrontiert. Aus dem einfachen Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG sind ohne weiteres keine zusätzlichen Schranken herauszulesen. Diese Schranke wäre aber einschlägig wenn man mit Pieroth und Schlink oder Sternberg-Lieben als Verstärkung der individualfreiheitssichernden Funktion der Grundrechte ein Verfügungsrecht des Einzelnen über seinen Tod annehmen würde. Die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG könnte dann in Bezug auf das „Opfer“ des § 216 StGB nicht herangezogen werden. Diesem Problem kann man mit der Argumentation ausweichen, dass das Opfer der Straftat auch keiner Sanktion unterworfen ist. Der § 216 StGB stellt demnach für den Sterbewilligen nichts anderes als eine Verhaltensnorm dar. Zwar wird auch durch die Verhaltensnorm in Grundrechte des Opfers eingegriffen, strafrechtsspezifische Grenzen müssen aber hier nicht entwickelt werden. Der Grundrechtseingriff ist für das Opfer nicht intensiver als im Fall von verwaltungsrechtlichen Verboten. Allein der Täter wird der Sanktion unterworfen. Nur für ihn könnten daher die Einschränkungen der Kompetenz des Strafgesetz-
78 79 80
Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 62 f. Siehe auch Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Rn. 98. Vgl. Neumann, Die Tyrannei der Würde, ARSP 1998, 156 f.
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2. Kap.: Mögliche Beschränkungen des Strafgesetzgebers
gebers Gewicht haben. Für ihn gilt aber gerade die Schranke des Art. 2 Abs. 1 GG. Es zeigt sich hier die strukturelle Schwäche des Ansatzes von Hörnle. Der Grundgesetzgeber hat die Schranke des parlamentarischen Gesetzes als eine hohe Schranke konzipiert. Aus diesem Grund sind auch Thesen abzulehnen, nach denen die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 für alle Grundrechte einschließlich der schrankenlos gewährten gilt.81 Die Annahme, dass die Schrankentrias eine kriminalpolitische Schranke für Strafrechtsvorschriften darstellt, ist kaum nachzuvollziehen. Allerdings zeigen die Analysen der Schrankentrias, dass die Verfassung Einschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit des Einzelnen in erster Linie zum Schutz von Individualrechtsgütern billigt. Andere Einschränkungen sind nur legitim, wenn sie dem Schutz bereits in der Rechtsordnung etablierter Interessen dienen. Die Überlegungen Hörnles stützen also in diesem Punkt die personale Rechtsgutstheorie Hassemers. Sie sind auch insoweit fruchtbar, als sie die der Verfassung zugrunde liegenden Wertungen zeigen und somit einen Hinweis auf die Prinzipien geben, an denen man Strafrechtsnormen im Lichte der Grundrechte messen sollte.
F. Erkenntnisse des „Harm Principle“ In englischsprachigen Ländern wird nicht auf den Begriff eines Rechtsguts als entscheidendes Kriterium der Legitimation von strafrechtlichen Normen abgestellt, sondern auf das sogenannte „Harm Principle“ (Schädigungsprinzip). Es basiert auf Überlegungen John Stuart Mills, der die Pönalisierung von selbstschädigenden Verhaltensweisen und ausschließlich sittenwidrigem Verhalten für unzulässig erachtet.82 Feinberg hat auf Grundlage dieser Annahmen herausgearbeitet, dass eine Pönalisierung von Verhaltensweisen dann legitim sei, wenn diese schädigend für andere („Harmful to Others“) sind.83 Im Unterschied zu Mill sieht er aber auch die Möglichkeit, eine Kriminalisierung von Verhaltensweisen zu legitimieren, wenn sie auf andere belästigend wirken („Offence to Others“). Diese zumindest dann, wenn sich keine anderen Mittel als ebenso effektiv darstellen.84 Insgesamt werden bei der Diskussion um das „Harm Principle“ auch andere Kriminalisierungsgründe anerkannt. Das „Harm Principle“ 81
Vgl. Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, § 12 Rn. 81. von Hirsch, Der Rechtsgutsbegriff und das „Harm Principle“, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 14. 83 Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law, vol. 1, Harm to Others, S. 31 ff. mit Anmerkungen von Neumann, Moralische Grenzen des Strafrechts, ARSP 1986, S. 118 ff. 84 Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law, vol. 2, Offence to Others, S. 3 f., 49. 82
F. Erkenntnisse des „Harm Principle‘‘
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wird zwar als primärer Kriminalisierungsgrund gesehen, neben ihm besteht aber noch die Möglichkeit, Kriminalisierungen durch „legal Paternalism“ oder das „Offence Principle“ zu rechtfertigen.85 Von Hirsch hat bereits versucht, aus der Diskussion um das „Harm Principle“ Erkenntnisse für die deutsche Rechtsgutslehre zu ziehen. Er hat mehrere Parallelen beider Ansätze herausgearbeitet. Auf Grundlage dieser Parallelen kann man nunmehr Erkenntnisse für die Fragen der Rechtsgutstheorien erlangen. Der Begriff des Schadens ist beim „Harm Principle“ als die Schädigung eines Interesses einer anderen Person definiert. Von Hirsch konkretisiert den Begriff des Interesses weiter, indem er das Interesse einer Person als Ressource bezeichnet, auf deren Integrität die betreffende Person einen Anspruch hat.86 Sowohl in seiner Umschreibung des Begriffs der Ressource als ein Mittel oder eine Fähigkeit, dem oder der im Normfall ein gewisser Wert für die menschliche Lebensqualität zukommt,87 als auch in der Schwierigkeit, eine genaue Definition des Begriffs zu liefern, zeigt sich die Ähnlichkeit mit dem Rechtsgutsbegriff. Diese Ähnlichkeit liegt in dem Umstand begründet, dass im Wesentlichen die gleichen Überzeugungen darüber bestehen, wann ein Verhalten kriminalisiert werden sollte, oder genauer, welche Werte, Güter, Interessen usw. von derartiger Relevanz sind, dass sie durch das Strafrecht geschützt werden sollten. Die Rechtsphilosophie ist zumindest in unserem Kulturkreis durch die Überlegungen von Locke, Humboldt und Mill geprägt, die dem Staat eine gegenüber dem Individuum dienende Funktion zuweisen. Eben diese Staatskonzeption liegt auch dem Grundgesetz zugrunde.88 Im Unterschied zum wenig konturierten Rechtsgutsbegriff kommt aber in dem Schadensbegriff des „Harm Principles“ deutlich zum Vorschein, dass die Verletzung des Interesses einen Individualbezug aufweisen muss. Der in Deutschland betriebenen und zu Recht kritisierten Ausweitung des Rechtsgutsbegriffs auf Funktionszusammenhänge und vergeistigte Zwischenrechtsgüter könnte durch Rückbesinnung auf die schon von Feuerbach verlangte Beeinträchtigung der Rechte anderer entgegengewirkt werden.89 Die Erkenntnisse des
85 Unter Nennung des umstrittenen „legal moralism“: Neumann, Moralische Grenzen des Strafrechts, ARSP 1986, S. 119. 86 von Hirsch, Der Rechtsgutsbegriff und das „Harm Principle“, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 16. 87 von Hirsch, Der Rechtsgutsbegriff und das „Harm Principle“, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 17. 88 Vgl. Sternberg-Lieben, Rechtsgut, Verhältnismäßigkeit und die Freiheit des Strafgesetzgebers, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 65 f.; Stratenwerth, Kriminalisierung bei Delikten gegen Kollektivrechtsgüter, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 255. 89 Vgl. von Hirsch, Der Rechtsgutsbegriff und das „Harm Principle“, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 18 f.
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2. Kap.: Mögliche Beschränkungen des Strafgesetzgebers
„Harm Principles“ weisen insofern in die gleiche Richtung wie der personale Rechtsgutsbegriff.90 Aber auch wenn das „Harm Principle“ grundsätzlich individualistisch ausgerichtet ist, erkennt es dennoch die Existenz von kollektiven Rechtsgütern an. Diese dienen jedoch im Regelfall den Interessen von Individuen. Sie werden also wie bei der personalen Rechtsgutstheorie von der Person her funktionalisiert.91
G. Zusammenfassung: Differenzierungskriterien für strafrechtliche Gesetzeszwecke In verfassungsrechtlicher Hinsicht illegitim und sogar verfassungsgerichtlich justitiabel sind Gesetzeszwecke, die nicht Gemeinwohlinteressen dienen. Des Weiteren ist für Strafrechtsvorschriften der Schutz von Rechtsgütern der einzig legitime Gesetzeszweck. Aus verfassungsrechtlicher Sicht hilft dieses Kriterium jedoch nicht wesentlich weiter. Nur wenige Rechtsgüter wurden durch das Verfassungsrecht als illegitim eingestuft. Die Zwecksetzungskompetenz des Gesetzgebers macht seine Entscheidungen in dieser Hinsicht verfassungsgerichtlich kaum überprüfbar. Auch die strafrechtlichen Rechtsgutstheorien konnten noch keinen letztgültigen Katalog von strafrechtswürdigen Rechtsgütern liefern, selbst wenn man diesen nur als kriminalpolitischen Impetus verstehen würde.92 Hassemer sieht es sogar als Vorteil des Rechtsgutsbegriffs an, dass sich dieser als dermaßen offen gestaltet.93 Im Rahmen dieser Untersuchung wird daher auch nicht auf Rechtsgüter im Sinne einer spezifischen strafrechtlichen Rechtsgutstheorie eingegangen. Wichtig ist aber eine Differenzierung zwischen Mittel und Zweck,94 wenn es um die korrekte Bestimmung eines Gesetzeszweckes geht. Insbesondere durch die Vergeistigung der Rechtsgutsbegriffe95 ist die Gefahr groß, bei Universal90 Seher, Prinzipiengestützte Strafnormlegitimation und der Rechtsgutsbegriff, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 48. 91 Vgl. Hassemer, Darf es Straftaten geben, die ein strafrechtliches Rechtsgut nicht in Mitleidenschaft ziehen?, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 57. 92 Vgl. hierzu auch Seelmann, Rechtsgutskonzept, „Harm Principle“ und Anerkennungsmodell als Strafwürdigkeitskriterien, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 261 f. 93 Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch Band 1, Vor § 1 Rn. 142 ff. 94 Gemeint ist der Unterschied zwischen einer Handlung, die verboten wird, um ein Rechtsgut direkt zu schützen und einer Handlung die nur mittelbar, gleichsam als Mittel, das Rechtsgut schützen soll.
G. Zusammenfassung
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rechtsgütern (Rechtsgütern der Allgemeinheit) das Rechtsgut von seinem Bezug auf die reale Welt abzukoppeln.96 Wenn man somit ein Rechtsgut voreilig als schützenswert deklariert, läuft man Gefahr, das eigentliche Problem zu übersehen. Gesetzeszweck wäre dann der Schutz eines vergeistigten Scheinrechtsgutes, welches in Wirklichkeit nur dem Schutz des eigentlich schutzwürdigen Rechtgutes dient. Die häufig kritisierten modernen Universalrechtsgüter sind im Grunde genommen umgewertete Individualrechtsgüter. Diese werden zu vagen und großflächigen Universalrechtsgüter uminterpretiert, um Schwierigkeiten auszuräumen, die durch eine Orientierung am Schutz personaler Interessen auftreten würden.97 Sie dienen als Mittel zum Zweck des Schutzes von Individualrechtsgütern. Insofern ist vor einer „Vorverlagerung der Rechtsgutsverletzung“, wie sie Jakobs diskutiert, zu warnen.98 Aus dem Grundgesetz kann man eine Orientierung des Staates am Individuum ausmachen. Dieser, ähnlich wie beim personalen Rechtsgutsbegriff, durch die Betonung von Individualinteressen (nicht Partikularinteressen) Rechnung zu tragen, liegt daher nahe.99 Eine derartige Orientierung an Individualinteressen ist auch aus der Untersuchung des „Harm Principle“ abzuleiten. Bei der Untersuchung der Zwecke des § 216 StGB wird deshalb primär auf Individualinteressen abgestellt. Nur in den Fällen, in denen sich das eventuell geschützte Rechtsgut nicht auf ein Individualinteresse zurückführen lässt, wird dieses als Rechtsgut der Allgemeinheit anerkannt. Auf diese Weise lassen sich „Scheinrechtsgüter“100 eliminieren.101 Gleichzeitig wird eine genauere Untersuchung der Deliktsstruktur ermöglicht, wie sie von Wohlers zu Recht gefordert wird.102 Das vorschnelle Anerkennen von Rechtsgütern, vor allem von Universalrechtsgütern, lässt Gefährdungsdelikte als Verletzungsdelikte erscheinen.103 Eine ge95 Zur Vergeistigung oder Entmaterialisierung des Rechtsgutsbegriffs siehe Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, S. 125 ff.; Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 17 ff., 25 ff. 96 Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 16. 97 Roxin, Strafrecht AT 1, § 2 C Rn. 10, 46 ff.; Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 239. 98 Vgl. Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung, ZStW 97 (1985), S. 773 ff. 99 Vgl. Sternberg-Lieben, Rechtsgut, Verhältnismäßigkeit und die Freiheit des Strafgesetzgebers, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 68 f. 100 Vgl. Roxin, Strafrecht AT 1, § 2 C Rn. 10; Hörnle, Der Schutz von Gefühlen im StGB, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 280. 101 Vgl. Schünemann, Das Rechtsgüterschutzprinzip als Fluchtpunkt der verfassungsrechtlichen Grenzen der Straftatbestände und ihrer Interpretation, in: Hefendehl/ von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 249 ff. 102 Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, S. 281 ff. 103 Vgl. Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch Band 1, Vor § 1 Rn. 137.
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2. Kap.: Mögliche Beschränkungen des Strafgesetzgebers
naue Analyse ist dann nicht möglich. Die Bestimmung eines legitimen Gesetzeszwecks, das Herausarbeiten eines auch für das Strafrecht akzeptablen Rechtsgutes, legitimiert noch nicht die Strafrechtsnorm. Ein schutzwürdiges Interesse alleine rechtfertigt noch nicht jede Form der strafrechtlichen Grundrechtseingriffe. Um eine Strafrechtsnorm zu legitimieren müssen auch die Grundsätze der objektiven Zurechnung und spezielle aus dem Verhältnismäßigkeitsgebot (insbesondere Übermaß- und Willkürverbot) abgeleitete Prinzipien beachtet werden. Diese sind für verschiedene Deliktstypen unterschiedlich herausgearbeitet worden.
Drittes Kapitel
Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen Anhand der durch die Verfassung und rechtsphilosophischen Prinzipien vorgegebenen, wenn auch recht spärlichen Direktiven kann nun eine Untersuchung der verschiedenen vorgeschlagenen Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen erfolgen. Diese Gründe können auch Zwecke des § 216 StGB darstellen. Damit soll aber nicht die Diskussion um Strafzwecke aufgeworfen werden. Um bei Lagodnys Differenzierung zu bleiben, geht es um den Zweck der Verhaltensvorschrift. Im Unterschied zu einer reinen Betrachtung von Gesetzeszwecken fällt das Augenmerk bei der folgenden Darstellung der möglichen Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen aber auch auf die Folgen der Strafnorm. Für Lagodny gehört erst eine an empirischen Erwägungen ausgelegte Abwägung zur Geeignetheitsprüfung.1 Umgekehrt bedeutet dies, dass alle nicht empirischen Überlegungen noch zur Prüfung des Gesetzeszwecks gehören, selbst wenn sie bereits Bezug auf die möglichen Folgen der gesetzlichen Regelung nehmen. Möglicherweise geht man mit diesem Zweckverständnis über die eigentliche Bedeutung des Gesetzeszweckes hinaus, weshalb ich den Begriff im weiteren Verlauf vermeide. Eine echte Abwägung im Sinne einer Angemessenheitsprüfung muss nicht in Hinblick auf Gesetzeszwecke erfolgen, die bereits mit dem Geist der Verfassung nicht vereinbar sind und daher illegitim sind. Ebenso scheiden auch Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen aus, wenn sie zur Erreichung des konkreten Zwecks ungeeignet sind. Nur legitime Gesetzeszwecke und geeignete Maßnahmen müssen einer an empirischen Erwägungen ausgelegten Abwägung zwischen Nutzen und Folgen unterzogen werden. In einem ersten Schritt werde ich daher die Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen daraufhin untersuchen, ob die verfolgten Zwecke mit der Verfassung in Einklang zu bringen sind und ob der § 216 StGB überhaupt geeignet ist, die anvisierten Zwecke zu erreichen. Erst wenn diese Voraussetzungen vorliegen, muss eine Abwägung zwischen Kosten und Nutzen der Vorschrift vorgenommen werden.
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Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 172.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
A. Überpositive Gründe für die Strafbarkeit In der Diskussion um § 216 StGB werden häufig Gründe angeführt, die sich jenseits unserer normativen Rechtsordnung bewegen. Der Grundgedanke dabei ist, dass es ein überpositives moralisches Prinzip geben könnte, nach dem der Einzelne kein Recht hat, über sein Leben zu verfügen. Teilweise wird behauptet, dass es durch Vernunft gebotene Verhaltensmaßstäbe geben könne, die sich als objektiv verbindlich erweisen (wahre Moral). Derartige Ansätze sind in der Strafrechtswissenschaft stets mit Skepsis betrachtet worden. Hoerster meint gar, dass diese Ansicht mit einem modernen wissenschaftlichen Weltbild nicht zu vereinbaren sei.2 Tatsächlich ist die Annahme eines ethischen Kognitivismus abzulehnen. Die Geschichte hat gezeigt, dass alle höheren Wahrheiten ihre Überzeugungskraft verlieren. Insofern ist es verständlich, dass der politische Skeptizismus in unserer Kultur tief verankert ist.3 Dennoch ist vor allem in der Diskussion um die aktive Sterbehilfe immer wieder versucht worden, das Verbot der Tötung auf Verlangen mehr oder minder offen auf überpositive Gründe zu stützen. Insofern ist eine Untersuchung dieser Gründe trotz der grundsätzlichen Bedenken sinnvoll. Weltanschauungen prägen die Gesellschaft, die ihrerseits auf den Staat Einfluss nimmt.4 I. Religiöse Begründung für die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens Aus religiöser Sicht wird meist das Prinzip der „Heiligkeit des Lebens“ als Grund für die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens genannt. Teilweise wird dieses Prinzip aber auch losgelöst von religiösen Erwägungen gebraucht. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass der § 216 StGB auf einer Vorstellung von der „Heiligkeit des Lebens“ beruht.5 Die Heiligkeit des Lebens wird als Grund für die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens bezeichnet.6 Laut Johannes Paul II. wäre ein Verstoß gegen dieses Prinzip der „Unantastbarkeit des menschlichen Lebens“ unabhängig von einem anderslautenden gesellschaftlichen Konsens nicht hinnehmbar. Kein menschliches Gesetz könne dieses Verbrechen für rechtmäßig erklären.7 In religiöser Hinsicht können meh2
Näher Hoerster, Rechtsethik ohne Metaphysik, JZ 1982, 265 ff. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 87. 4 Hollerbach, Religion und Kirche im freiheitlichen Verfassungsstaat, S. 31. 5 Eser, Neues Recht des Sterbens?, in Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 394. 6 Vgl. Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, S. 17. 7 Vgl. Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, S. 18 f.; Johannes Paul II., Evangelium vitae, 73 http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/encyclicals/documents/ hf_jp-ii_enc_25031995_evangelium-vitae_ge.html [6.4.2007]. 3
A. Überpositive Gründe für die Strafbarkeit
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rere Gesichtspunkte für die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens angeführt werden.8 Zum einen kann man annehmen, dass Gott allein das Recht hat, über Leben und Tod zu entscheiden, weil er der Herr über die Schöpfung ist und der Mensch kein Recht hat, in diese einzugreifen. Dieses Souveränitätsargument ist das theologische Hauptargument gegen die Verfügung über das eigene Leben.9 In theologischer Hinsicht wird an dieser Sichtweise kritisiert, dass Gott wie ein staatlicher Machthaber gesehen wird, der sich in Konkurrenz zu den Rechten der Menschen stellt. Ein derartiges Verständnis könne der Rolle Gottes nicht gerecht werden.10 Gott wird zunehmend nicht mehr als herrschender Souverän gesehen, sondern als geheimnisvoller liebender Gott, der nicht über die Menschen als seine Diener herrscht. Daher wird das Souveränitätsargument auch teilweise in einer abgeschwächten Form als „Geschenkargument“ gebraucht. Es wird auf den Charakter des Lebens als Geschenk Gottes hingewiesen.11 Ein Geschenk geht jedoch vollkommen in den Herrschaftsbereich des Beschenkten über. Andernfalls stellt es kein Geschenk, sondern eine bloße Leihgabe dar, was wiederum zur strengeren Sichtweise des Souveränitätsargumentes führen würde.12 Es mag eine Missachtung eines Geschenks sein, dieses nicht benutzen zu wollen, eine Pflicht ein Geschenk zu würdigen und zu erhalten, ergibt sich allerdings nicht. Das Geschenkargument kann folglich nicht der Begründung eines normativen Verbotes dienen.13 Das Souveränitätsargument sieht sich einer weiteren Schwierigkeit gegenüber. In welchem Umfang der Mensch in die Schöpfung Gottes eingreifen darf, muss erst noch bestimmt werden.14 Etwas zu radikal kritisiert Hoerster, dass der Mensch nach dieser Logik auch keinen Berg abtragen dürfe, da es in die Schöpfung Gottes eingreifen würde. Allein der Hinweis auf die Eigentümerstellung Gottes erklärt noch nicht, ob eine Beendigung des eigenen Lebens gegen seinen Willen verstößt.15 Tatsächlich wird meist auf die besondere Bedeutung des menschlichen Lebens aufgrund der Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott abgestellt, so dass dem 8 Siehe auch Hoerster, Rechtsethische Überlegungen zur Freigabe der Sterbehilfe, NJW 1986, S. 1787. 9 Vgl. Zimmermann-Acklin, Euthanasie, S. 185. 10 Zimmermann-Acklin, Euthanasie, S. 186. 11 Zimmermann-Acklin, Euthanasie, S. 186. 12 Birnbacher, Bioethik zwischen Natur und Interesse, S. 197; Wolbert, Du sollst nicht töten, S. 15. 13 Zimmermann-Acklin, Euthanasie, S. 188. 14 Vgl. Kautzky, Euthanasie und Gottesfrage, S. 205. 15 Wolbert, Du sollst nicht töten, S. 15 ff.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
menschlichen Leben eine besondere Würde und Heiligkeit zukommt.16 Dieser Wert ist dann ein intrinsischer Wert des menschlichen Lebens, der nicht erst durch ein Gesetz Gottes verliehen wird.17 Dem Menschen stehe die Gestaltung des gottgegebenen Lebens zu, aber nicht die radikale Entscheidung über sein Leben im Sinne einer schweren Schädigung oder Vernichtung des Lebens.18 Aber schon in der Lebenserhaltung von Kranken könnte ein Eingriff gesehen werden, der über den Gestaltungsspielraum des Menschen hinausgeht. Dass Gott dem Menschen ein Gestaltungsrecht einräumt, welches nur in Bezug auf die Selbstverletzung eingeschränkt ist, wirkt nicht sonderlich plausibel. Stimmiger ist daher wohl die Berufung auf das göttliche Gebot: Du sollst nicht töten (Gen 9,5–7). Von Gott gegeben steht es (zumindest für Menschen) unabänderlich fest. Es ist Ausfluss der in der Gottgegebenheit des menschlichen Lebens wurzelnden Unantastbarkeit des Lebens.19 Niederländische Theologen argumentieren gegen diese Sichtweise mit den Worten des Markusevangeliums (2,27): „Der Sabbat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Sabbat willen.“ Analog bedeutet dies, die Gesetze sollten für den Menschen da sein, nicht der Mensch für die Gesetze.20 Generell erkennt auch die Kirche von diesem Gesetz Ausnahmen an. So ist die Tötung aus Notwehr oder im Krieg erlaubt.21 Hieraus wird gefolgert, dass ein derartiges Gesetz des Christentums also nicht bestünde. Gegen diese Argumentation wird angeführt, dass das Christentum ein Verbot der direkten Tötung unschuldigen Lebens kennt.22 Im Fall von Todesstrafen und Tötungen im Krieg spricht man daher häufig von Tötungen von Schuldigen oder nicht willkürlichen Tötungen.23 Bei der Notwehr wird von dieser Formulierung meist abgesehen.24 Allerdings wird durch die Notwehr eine Bedrohung abgewendet. Einen absoluten Lebensschutz kennt das Christentum aber zweifelsohne nicht. Nur die aktive (direkte) Tötung eines Unschuldigen überschreitet danach die Kompetenz des Menschen gegenüber Gott. Das Sterbenlassen sei sogar un16
Zimmermann-Acklin, Euthanasie, S. 179. Wolbert, Du sollst nicht töten, S. 82. 18 Gründel, Euthanasie aus Mitleid?, in: Gose/Hoffmann/Wirtz (Hrsg.), Aktive Sterbehilfe?, S. 92. 19 Zimmermann-Acklin, Euthanasie, S. 179. 20 Vgl. Knoepffler, Zur Frage nach einer menschenwürdigen Sterbehilfe: ein Eskalationsmodell, in: Knoepffler/Haniel (Hrsg.), Menschenwürde und medizinethische Konflikte, S. 177. 21 Kautzky, Euthanasie und Gottesfrage, S. 205; Kautzky, Die Freiheit des Sterbenden und die Pflicht des Arztes, in: Eid (Hrsg.), Euthanasie, S. 37; Dixon, Kritisches zum heutigen Euthanasie-Gespräch, in: Valentin (Hrsg.), Die Euthanasie, S. 14. 22 Gründel, Euthanasie aus Mitleid?, in: Gose/Hoffmann/Wirtz (Hrsg.), Aktive Sterbehilfe?, S. 103; vgl. Lohmann, Euthanasie in der Diskussion, S. 102. 23 Lohmann, Euthanasie in der Diskussion, S. 178. 24 Wolbert, Du sollst nicht töten, S. 29. 17
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ter Umständen sittlich,25 etwa wenn dadurch das Leben eines anderen Menschen gerettet werden könnte. Eine Lebenserhaltung „um jeden Preis“ sei also nicht „christlich“.26 Eine derartig differenzierte Regelung kann nur durch ein von Gott gegebenes Gebot erklärt werden. Dieses sieht sich aber dem Problem gegenüber, dass seine Befolgung allein auf blindem Gehorsam gegenüber Gott gestützt werden kann und nicht auf wirkliche Einsicht. Das Argument der Ebenbildlichkeit jedenfalls kann nicht erklären, warum nicht auch „die Schuldigen“ Ebenbilder Gottes sind und damit geschützt werden müssten.27 Schließlich kann man die Unverfügbarkeit des Lebens in religiöser Hinsicht mit der christlichen Lehre vom göttlichen Heilsplan begründen. Das menschliche Leben stellt eine Bewährungsprobe dar, in welcher der Mensch durch ein gottgefälliges Leben die Erlösung erringen kann. In Bezug auf das Leiden Sterbender wird häufig von einer Funktion des Leidens als „Teilnahme am Leiden Jesu Christi“ gesprochen.28 Wenn jemand aber diesem göttlichen Heilsplan nicht entsprechen will, ist es schwer zu rechtfertigen, dass er dafür auch von der Gesellschaft getadelt werden sollte. Bei einer derartig spezifischen Glaubensanschauung ist nicht zu erwarten, dass sie von einem Großteil der Menschen in der Gesellschaft geteilt wird. Papst Pius XII. hat auf dem 9. Italienischen Kongress für Anästhesiologie 1957 ausdrücklich die indirekte (aktive) Sterbehilfe für zulässig erklärt.29 Insofern ist die christliche Position zur Tötung eines Menschen und erst recht ihre Rezeption in der Gesellschaft nicht so eindeutig, dass sie eine tragfähige Begründung für das strafrechtliche Verbot der Tötung auf Verlangen liefern könnte.30 Tatsächlich sind die Forderungen nach unbedingtem Lebensschutz unter den verschiedenen Religionen im Laufe der Zeit geringer geworden.31 Zimmermann-Acklin erklärt die fehlende Eindeutigkeit der christlichen Position dadurch, dass in der jüdisch-christlich motivierten Sichtweise der „Heiligkeit des Lebens“ das menschliche Leben als ein fundamentales Gut und nicht als ein absolutes Gut angesehen wird. Daher ist eine Güterabwägung in Konfliktsitua25
Vgl. Kautzky, Euthanasie und Gottesfrage, S. 194. Schröder, Religiöse Aspekte der Sterbehilfe II, in: DRiZ 2005, S. 265; Gründel, Euthanasie aus Mitleid?, in: Gose/Hoffmann/Wirtz (Hrsg.), Aktive Sterbehilfe?, S. 112 f.; Honecker, Sterbehilfe und Euthanasie aus theologischer Sicht, in: Oehmichen (Hrsg.), Lebensverkürzung, Tötung und Serientötung, S. 71. 27 Wolbert, Du sollst nicht töten, S. 82 f. 28 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Das Lebensrecht des Menschen und die Euthanasie, Bonn 1975, S. 5. 29 Vgl. Simson, Die Tötung aus Barmherzigkeit in rechtsvergleichender Sicht, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 330. 30 Hoerster, Rechtsethische Überlegungen zur Freigabe der Sterbehilfe, NJW 1986, S. 1787. 31 von Engelhardt, Euthanasie – historische Entwicklung, begriffliche Analyse, in: Oehmichen (Hrsg.), Lebensverkürzung, Tötung und Serientötung, S. 40. 26
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
tionen möglich und notwendig. Dies führt zu verschiedenen Interpretationen des Prinzips der „Heiligkeit des Lebens“. Zur Lösung normativer Konfliktsituationen kann es nicht beitragen, weil es seine Bedeutung ausschließlich im Bereich der Tugenden und Haltungen entfaltet.32 Ein überpositives Prinzip kann es daher nicht begründen und somit nicht die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen rechtfertigen. Des Weiteren beruht das Prinzip von der Heiligkeit des Lebens auf einer rein religiösen Begründung. Religiöse Gründe sind jedoch in einer pluralisierten Gesellschaft kaum konsensfähig und daher grundsätzlich nicht geeignet, eine Begründung für die Strafbarkeit einer Handlung zu liefern.33 Eine Strafnorm muss in einer modernen politischen Ordnung sowohl in ihrer Existenz als auch in Bezug auf ihre einzelnen Maßnahmen prinzipiell gegenüber jedermann begründungs- und rechtfertigungsfähig sein. Religiöse oder weltanschauliche Bekenntnisse werden aber nicht von jedem Mitglied der Gesellschaft geteilt. Demnach können weltanschauliche oder religiöse Gründe auch keine für jedermann nachvollziehbare Begründung einer Strafnorm bieten.34 Sofern das Prinzip der „Heiligkeit des Lebens“ losgelöst von einer religiösen Sichtweise gebraucht wird, spricht man meist von einem Tabu, der Unantastbarkeit des (fremden) Lebens. Dieses tief in dem „Stammeserbe des Menschen und vieler höherer Tierarten“ verwurzelte Tabu35 steht in direktem Zusammenhang mit dem Prinzip der „Heiligkeit des Lebens“. Teilweise wird das Tötungsverbot nicht als vererbtes, verwurzeltes Tabu sondern als eine kulturelle Errungenschaft angesehen.36 Letzteres ist jedenfalls leichter nachvollziehbar. Losgelöst von der jüdisch-christlichen Ethik hat dieses Tabu eine eigene Bedeutung in der Diskussion gewonnen.37 Tatsächlich ist in den Motiven zum Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes ausdrücklich auf „das unbestrittene Sittengesetz: dass das Leben ein nicht veräußerliches Gut ist,“ Bezug genommen worden.38 Der ursprüngliche Zweck des § 216 StGB war demnach der Schutz dieses Tabus. Ein Tabu kann aber nicht von sich aus ein Argument in einer kritischen 32
Zimmermann-Acklin, Euthanasie, S. 225. Knoepffler, Zur Frage nach einer menschenwürdigen Sterbehilfe: ein Eskalationsmodell, in: Knoepffler/Haniel (Hrsg.), Menschenwürde und medizinethische Konflikte, S. 177; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranke der Einwilligung im Strafrecht, S. 104 f. 34 Vgl. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 85. 35 Herzberg, Der Fall Hackethal: Strafbare Tötung auf Verlangen?, NJW 1986, S. 1644; Oduncu, Ärztliche Sterbehilfe (Teil 2), MedR 2005, S. 520. 36 Duttge, Sterbehilfe aus rechtsphilosophischer Sicht, GA 148 (2001), S. 173. 37 Zimmermann-Acklin, Euthanasie, S. 162. 38 Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, nebst Motiven und Anlagen, S. 70 zitiert nach Schroeder, Beihilfe zum Selbstmord und Tötung auf Verlangen, ZStW 106 (1994), S. 573; ähnlich auch Goltdammer, Die Materialien zum Straf-Gesetzbuche für die Preußischen Staaten Teil II, S. 364. 33
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Auseinandersetzung darstellen. Zu Recht weist Merkel darauf hin, dass „Tabus [. . .] leichter zu beseitigen [sind] als konsensfähige gute Gründe“.39 Das Tabuargument taucht daher in der Diskussion in mehreren verschiedenen Varianten auf. Meist wird der Schutz des Tabus durch die Rechtsordnung befürwortet, um die Wertvorstellung der Gesellschaft zu bewahren. Als rein überpositives Verbot der Tötung auf Verlangen taugt das Tabu allerdings nicht. So man die Lehre von der Unverfügbarkeit des Lebens nicht als aus sich heraus unantastbares Tabu versteht, genügt die bloße Behauptung der Unverfügbarkeit des Lebens nicht, um uns von der Pflicht zur Suche nach einer Begründung für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen zu entbinden.40 Im Verlauf der Arbeit werden also die anderen Varianten der Tabuargumentation nach ihrer Schutzrichtung aufgegliedert untersucht. II. Moralphilosophische Begründung im Sinne des deutschen Idealismus Zum Teil wird versucht aus der Philosophie Kants eine Begründung für das Selbstverfügungsverbot des § 216 StGB herzuleiten. Dies erscheint zunächst eigentümlich, wenn man den Ruf Kants als „Kronzeuge des ethischen und politischen Liberalismus“41 bedenkt. Ausgegangen wird von dem Gedanken, dass Autonomie und Selbstverantwortung in einem direkten Zusammenhang stehen.42 Aus dieser Verantwortung und der Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen wächst das Bedürfnis des Einzelnen, seine Handlungen an Kriterien der „Richtigkeit“ auszurichten. Kant hat mit dem kategorischen Imperativ ein Kriterium gefunden, an dem der Mensch die Richtigkeit seines Handelns messen kann. Die Bestimmung richtigen Handelns erfolgt aber nach Kant über den Willen selbst. Der Mensch wird also nicht fremdbestimmt, sondern zur vernünftigen Selbstbestimmung aufgefordert.43 Kant hat sich an mehreren Stellen mit der Frage beschäftigt, ob der Einzelne auf sein Dasein und seinen Körper zugreifen kann. Die „Selbstentleibung“, in 39 Merkel, Teilnahme am Suizid – Tötung auf Verlangen – Euthanasie. Fragen an die Strafrechtsdogmatik, in: Hegselmann/Merkel (Hrsg.), Zur Debatte über Euthanasie, S. 75. 40 Hoerster, Rechtsethische Überlegungen zur Sterbehilfe, in: Gose/Hoffmann/Wirtz (Hrsg.), Aktive Sterbehilfe?, S. 58. 41 Papageorgiou, Kant, ein Rechtsmoralist?, in: Alexy/Dreier (Hrsg.), ARSP Beiheft 51, S. 198. 42 Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten, S. 19 f. 43 Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten, S. 21.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
ihrer Konsequenz der Einwilligung in die eigene Tötung am ähnlichsten, hat für Kant grundsätzlich als „Verbrechen“ zu gelten.44 Maatsch hat sich diesem Ergebnis über den kategorischen Imperativ genähert und die Argumentation für unsere Rechtswirklichkeit nachvollzogen.45 Einer derartigen Herleitung steht aber ein grundsätzliches Problem gegenüber. Kant hat seine Überlegungen zum Selbstmord in der Tugend-, nicht in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten angesiedelt.46 Nach Kant hat die überhaupt vernunftbegabte Willkür den Anspruch, auch in aktuell unvernünftigen Entscheidungen von den „Zwangsinstrumentarien des Rechts unbehelligt zu bleiben“.47 Maatsch begründet die Rechtspflicht des Einzelnen über die von Kant in der Metaphysik der Sitten etablierten Rechtspflicht gegenüber sich selbst.48 Kant hat jedoch in der Metaphysik der Sitten unter rechtlichen Pflichten nur diejenigen verstanden, für die eine Gesetzgebung möglich ist. Die innere Rechtspflicht stellt allein eine Verbindlichkeit in Bezug auf andere dar. „Die rechtliche Ehrbarkeit besteh(e)t darin: im Verhältnis zu anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten[, . . .]“.49 Der ausschließlich allein ausgeführte Suizid wird von dieser Formulierung nicht erfasst. Maatsch erkennt dann in dieser Formulierung der Druckversion der Metaphysik der Sitten folgerichtig einen Widerspruch zur Vorlesungsmitschrift des Vigilantius.50 Kant differenziert zwischen Tugendpflichten und Rechtspflichten. Tugendpflichten sind dabei nicht durch äußeren Zwang durchsetzbar, sondern nur durch inneren Zwang.51 Nur der Einzelne kann sich selbst zur Tugendhaftigkeit zwingen. Wer gegen das Recht der Menschheit in der eigenen Person verstößt, kann nicht durch äußeren Zwang zu einer Unterlassung gebracht werden. 44 Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Weischedel (Hrsg.), Werke in zwölf Bänden, Band 8, S. 554. 45 Maatsch, Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtspflichtverstoß, S. 58. 46 Höffe, Recht und Moral, in: Bubner/Cramer/Wiehl (Hrsg.), Recht und Moral, Neue Hefte für Philosophie, Heft 17, S. 31; Kühl, Die Bedeutung der Kantischen Unterscheidung von Legalität und Moralität sowie von Rechts- und Tugendpflichten für das Strafrecht, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral, S. 174; Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 9 f. 47 Maatsch, Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtspflichtverstoß, S. 212. 48 Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Weischedel (Hrsg.), Werke in zwölf Bänden, Band 8, S. 447 ff. 49 Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Weischedel (Hrsg.), Werke in zwölf Bänden, Band 8, S. 344 f., S. 347. 50 Maatsch, Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtspflichtverstoß, S. 215 f. 51 Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Weischedel (Hrsg.), Werke in zwölf Bänden, Band 8, S. 512.
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Zwangsbefugnisse entstehen erst in Bezug auf Rechtspflichten.52 Maatsch schließt aus diesen Ausführungen, dass der Grund für eine Straflosigkeit von Selbstschädigungsdelikten, an denen kein anderer beteiligt ist (wie der Suizid), nicht darin läge, dass der Einzelne keine Rechtspflicht gegen sich selbst verletzen könne, sondern allein in der Unmöglichkeit, einen äußeren Zwang zu begründen. Im Falle des § 216 StGB sei aber ein anderer beteiligt. Die Einwilligung des Sterbewilligen müsse unwirksam sein, weil sie eine Pflichtverletzung darstellt. Der Täter könne daher sein Tun nicht legitimieren.53 Tatsächlich hat Kant ausdrücklich die Einwilligung des Suizidenten als nichtig eingestuft, bezieht sich aber auch hier auf eine sittliche Verpflichtung.54 Kant unterscheidet die Tugendpflichten und die Rechtspflichten jedoch auch unter dem Gesichtspunkt des Eingriffs in die äußere Freiheit anderer.55 Daraus folgt, dass der Suizident zwar eine Tugendpflicht gegen sich selbst verletzt, aber keine Rechtspflicht, da er nicht in die Freiheit anderer eingreift.56 Erst der Eingriff in die Freiheit anderer ist die Legitimation für die Durchsetzung der officia externa durch äußeren Zwang.57 Kühl zieht den Vergleich mit der Lüge, die auch in unserer Gesellschaft als unmoralisch gilt. Kant hat das Verbot der Lüge als Pflicht gegen sich selbst eingeordnet, weil die Lüge „ein Verbrechen des Menschen an seiner eigenen Person“ enthalte.58 In unserer Rechtsordnung erlangt die Lüge aber erst dann Bedeutung, wenn sie eine Beeinträchtigung der äußeren Freiheitssphäre nach sich zieht.59 Auch Kant will nur in derartigen Fällen der Lüge rechtliche Bedeutung beimessen.60
52 Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Weischedel (Hrsg.), Werke in zwölf Bänden, Band 8, S. 339; Höffe, Recht und Moral, in: Bubner/Cramer/Wiehl (Hrsg.), Recht und Moral, Neue Hefte für Philosophie, Heft 17, S. 32. 53 Maatsch, Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtspflichtverstoß, S. 220 f. 54 Vgl. Kant, Reflexion 6801 zitiert nach Ritter, Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen, S. 318. 55 Vgl. Kants allgemeines Rechtsgesetz: „[. . .] handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne [. . .]“, Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Weischedel (Hrsg.), Werke in zwölf Bänden, Band 8, S. 338. 56 Kühl, Strafrecht und Moral – Trennendes und Verbindendes, in: Amelung/Beulke/Lilie/Rosenau/Rüping/Wolfslast (Hrsg.), Festschrift für Schreiber, S. 964. 57 Schroth, Spenderkreis im Transplantationsgesetz, in: Schünemann/Müller/Philipps (Hrsg.), Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, S. 37. 58 Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Weischedel (Hrsg.), Werke in zwölf Bänden, Band 8, S. 563. 59 Kühl, Strafrecht und Moral – Trennendes und Verbindendes, in: Amelung/Beulke/Lilie/Rosenau/Rüping/Wolfslast (Hrsg.), Festschrift für Schreiber, S. 965. 60 Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Weischedel (Hrsg.), Werke in zwölf Bänden, Band 8, Fußnote 4, S. 346.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Demnach ist die Selbsttötung kein Unrecht,61 weil keine soziale Beziehung verletzt wird. Gleiches gilt aber auch für Unterstützungshandlungen, weil ohne Zwang keine Verletzung der sozialen Beziehung vorliegt.62 Wilms und Jäger verfolgen einen ähnlichen, ebenfalls auf Kant basierenden Erklärungsansatz. Sie gehen ebenfalls davon aus, dass die Menschheit in jeder Person einen absoluten Wert hat. Dieser absolute Wert der Menschheit ist die Menschenwürde. Aus diesem Wert folgt das sittliche Gebot, dass die Person niemals nur als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck gebraucht werden soll.63 Die Selbsttötung widerspreche der Ethik, weil der Zweck des Menschen sei, zu existieren. Laut Kant ist ein Recht auf Vernichtung der menschlichen Personalität widersprüchlich, weil dieses Recht in der menschlichen Personalität wurzelt.64 Der Zweck des Rechts ist die Gewährung gleicher, größtmöglicher Freiheit aller.65 Wilms und Jäger folgern aus der Aussage Kants, dass ein allgemeines Gesetz der Freiheit nur solches sein könne, das den Anforderungen der Ethik gemäß sei und damit Gegenstand der Gesetzgebung nur dasjenige sein könne, was der Ethik entspräche. Daraus folge, dass Gesetzgebung ethisch sein müsse.66 Umgekehrt bedeutet dies allerdings nicht, dass alles was der Ethik nicht entspricht, Gegenstand möglicher Gesetzgebung sein muss. Dies hätte eine Aufhebung der Grenze zwischen Moral und Recht zur Folge.67 Diese Differenzierung wird Kant aber gerade zugeschrieben.68 Wilms und Jäger sehen die Tötung eines Anderen als Aufhebung seiner Freiheit an, selbst wenn der Getötete dies will. Die Freiheit, auf die eigene Freiheit zu verzichten, sei ein Widerspruch in sich.69 Diese Argumentation geht auf Kant und Hegel zurück. Sie benutzen die Worte Sittlichkeit (Kant) und personales Dasein (Hegel), die im Wesentlichen deckungsgleich mit dem Begriff der Freiheit und Menschenwürde sind. Eine Erklärung für diese Annahme bleiben sie jedoch schuldig.70 Vielmehr scheint mir der Zwang, die eigene Freiheit zu 61
Will heißen: Nicht im rechtlichen Sinne bedeutsam. Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 11 f. 63 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Weischedel (Hrsg.), Werke in zwölf Bänden, Band 7, S. 59 ff. 64 Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Weischedel (Hrsg.), Werke in zwölf Bänden, Band 8, S. 555. 65 Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Weischedel (Hrsg.), Werke in zwölf Bänden, Band 8, S. 511. 66 Wilms/Jäger, Menschenwürde und Tötung auf Verlangen, ZRP 1988, S. 45. 67 Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 96. 68 Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 69 ff. 69 Wilms/Jäger, Menschenwürde und Tötung auf Verlangen, ZRP 1988, S. 45. 62
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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erhalten, einen Widerspruch darzustellen.71 Kant selbst hat seine Bewunderung für eine stoische, aus innerer Überlegenheit entwickelte Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben ausgedrückt, zieht daraus aber den Schluss, dass ein derartiges „Wesen“ nicht zerstört werden sollte.72 Eine derartige Begründung deckt sich aber nicht mit dem Widerspruchsargument. Aus der Philosophie Kants kann ebenso abgeleitet werden, dass selbstbestimmtes Handeln rechtliche Sanktionen ausschließt, selbst wenn es unmoralisch sein sollte. Zum einen kann man aus der Auffassung Kants, dass nicht empirische Motive, wie die Vermeidung von Sanktionen, sondern der freie Wille zu moralischem Handeln führen muss, folgern, dass Gesetze nicht zur Durchsetzung von Moral benutzt werden dürfen. Zum anderen kommt in der Autonomie des Menschen in hohem Maße seine Würde zum Ausdruck, so dass das staatliche Recht die Betätigung freien Willens zu respektieren hat, soweit diese mit der Freiheit anderer vereinbar ist. Eine Rechtsordnung, die materielle Prinzipien verbindlich vorschreibt, ist nicht mit dem Bild eines Menschen, der selbst Zwecke setzt, vereinbar.73 Wo aus der moralischen Verpflichtung eine Rechtspflicht werden soll, verlässt man den kantischen Weg.74
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit Weltanschauliche oder moralische Prinzipien taugen demnach nicht zur Rechtfertigung des Verbotes der Tötung auf Verlangen. Insgesamt wird als Folge des „Scheiterns des ethischen Kognitivismus“ bezweifelt, dass weltanschauliche oder moralische Prinzipien überhaupt Gesetze rechtfertigen können. Die Alternative bildet eine metaphysikfreie Rechtfertigung auf Grundlage faktischer Präferenzen. Ein derartiger Ansatz ist die Konzentration auf Gesetzeszwecke, die dem menschlichen Zusammenleben dienen.75 Der Gesetzgeber darf zur Sicherung des menschlichen Zusammenlebens Gesetze erlassen. In Bezug auf Strafrechtsvorschriften ist dies der Schutz von Rechtsgütern. Wie oben be70 Vgl. Papageorgiou, Kant, ein Rechtsmoralist?, in: Alexy/Dreier (Hrsg.), ARSP Beiheft 51, S. 203. 71 Vgl. auch Birnbacher, Bioethik zwischen Natur und Interesse, S. 202; Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 10 f.; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 91. 72 Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Weischedel (Hrsg.), Werke in zwölf Bänden, Band 8, S. 555. 73 Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 71 f. 74 Kühl, Die Bedeutung der Kantischen Unterscheidung von Legalität und Moralität sowie von Rechts- und Tugendpflichten für das Strafrecht, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral, S. 174 75 Engländer, Moralische Richtigkeit als Bedingung der Rechtsgeltung?, ARSP 2004, S. 95; vgl. auch Hoerster, Rechtsethik ohne Metaphysik, JZ 1982, S. 269 ff. („intersubjektiv begründbare Rechtsethik“).
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
reits angedeutet, werde ich die möglichen Zwecke des § 216 StGB auf die jeweiligen Individualinteressen zurückführen. Nur wo eine derartige Rückführung nicht möglich ist, werde ich als Gesetzeszweck den Schutz eines Interesses der Allgemeinheit anerkennen, um ein Verwischen von Zweck und Mittel zu verhindern. I. Das Leben als Schutzgut des § 216 StGB Aufgrund der systematischen Stellung des § 216 StGB liegt es nahe anzunehmen, dass der Zweck der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen der Schutz des Rechtsguts Leben ist. 1. Das Grundrecht auf Leben als Abwehrrecht Das menschliche Leben wird auf Grundrechtsebene durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG im Sinne der biologisch-physischen Existenz geschützt. In seiner Abwehrfunktion schützt der Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG das Individuum vor Maßnahmen der öffentlichen Gewalt, die seinen Tod objektiv zurechenbar bewirken.76 Der Grund für die Einführung dieser Garantie, die in anderen Verfassungen77 nicht ausdrücklich enthalten ist, waren die menschenverachtenden Vorgänge im NSRegime. Der Art. 2 Abs. 2 S.1 GG gewährt dem Einzelnen also Schutz vor Eingriffen von Seiten des Staates in seine körperliche Existenz.78 Obwohl das Lebens häufig als „Höchstwert“ der Verfassung bezeichnet wird, bedeutet dies nicht, dass der Lebensschutz absolut wirkt. Der Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG lässt Ausnahmen des Tötungsverbotes zu. Auf diese Weise lassen sich gezielte Todesschüsse der Polizei oder die Wehrpflicht mit ihrer immanenten potentiellen Gefahr für das Leben rechtfertigen. Daher ist auch Art. 102 GG, welcher die Todesstrafe verbietet, nicht gegenstandslos.79 Ein absoluter Lebensschutz würde sich davon abgesehen auch ethisch kaum begründen lassen und ist demnach für ein rechtliches Prinzip in einem weltanschaulich neutralen Staat nicht geeignet.80 76 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar Band 1, Art. 2 II, Rn. 44. 77 Vgl. Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar Band 1, Art. 1 I, Rn. 26 ff. 78 Hirsch, Einwilligung und Selbstbestimmung, in: Stratenwerth/Kaufmann/Geilen/ Hirsch/Schreiber/Jakobs/Loos (Hrsg.), Festschrift für Welzel, 1974, S. 777; Lorenz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts VI, § 128 Rn. 62. 79 Man könnte ihn allerdings mit Schulze-Fielitz als ausschließlich deklaratorisch ansehen, weil die Todesstrafe als Strafe zwar geeignet, aber weder erforderlich noch angemessen sein dürfte. Vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar Band 1, Art. 2 II, Rn. 60. 80 Vgl. Birnbacher, Bioethik zwischen Natur und Interesse, S. 219.
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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Die Regelung des § 216 StGB steht in keinem Zusammenhang mit der ursprünglichen Abwehrfunktion des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, weil es hier nicht um Tötungen geht, die durch die öffentliche Gewalt verursacht werden. 2. Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG erschöpft sich jedoch nicht in seiner ursprünglichen Abwehrfunktion. In erster Linie sind Grundrechte zwar Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat,81 einzelne Grundrechte, vor allem aber Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG weisen jedoch einen objektiv-rechtlichen Gehalt auf.82 Ihre Regelungsgehalte werden als objektive Prinzipien verstanden, „[. . .] die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung(en) für alle Bereiche des Rechts Geltung [. . .]“83 haben. Für die Rechtsprechung folgt bereits hieraus die Verpflichtung des Staates, alles zu tun, um diese Prinzipien zu verwirklichen.84 Unmittelbar aus den Grundrechten kann sich daher die Pflicht des Staates ergeben, das betroffene Rechtsgut vor Verletzungen und Gefährdungen durch (nichtstaatliche) Dritte zu schützen.85 So gebietet Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG dem Staat, sich schützend vor das Leben zu stellen.86 Während die Grundrechte in ihrer Bedeutung als Abwehrrechte auf ein staatliches Unterlassen gerichtet sind, folgt aus ihrer schutzrechtlichen Funktion eine Verpflichtung zu staatlichem Tätigwerden.87 Diese Schutzverpflichtung bindet gemäß Art. 1 Abs. 3 GG Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung.88 In sofern weisen Grundrechte einen „Doppelcharakter“ auf. Über Art. 1 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG werden alle Staatsgewalten zur Verwirklichung der Schutzpflicht des Staates gegenüber dem Bürger verpflichtet.89
81 Vgl. bereits Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87, 94 ff. („Der negative Status“). 82 Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, S. 1635; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 69 I 3, S. 901 ff. 83 BVerfGE 73, S. 261 (269). 84 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 69 IV 1, S. 931. 85 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 350. 86 Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 2, Rn. 50. 87 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 350. 88 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 17. 89 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 70.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
a) Schutzrechtliche Bindung des Gesetzgebers Im Bereich der Legislative trifft den Gesetzgeber die Verpflichtung zur normativen Absicherung grundrechtlich geschützter Rechtsgüter. Diese Verpflichtung erschöpft sich nicht nur darin, Grundrechtsverletzungen durch Private als rechtswidrig einzustufen. Die Rechtsordnung soll derart gestaltet sein, dass das Risiko rechtswidriger Übergriffe gemindert wird.90 Bei der Ausgestaltung des Strafrechts tritt die Schutzpflicht des Staates am deutlichsten in Erscheinung. Beispielsweise hat das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf den Schutz ungeborenen Lebens ausdrücklich hervorgehoben, dass der Staat die Mittel des Strafrechts einsetzen muss, um seiner Schutzpflicht für das Leben gerecht zu werden.91 Durch die Normen des Strafrechts greift der Staat aber, wie oben gezeigt, seinerseits in Grundrechte ein. b) Herleitung der Schutzpflicht Wenn nun die Ausübung der Schutzpflicht des Staates ihrerseits zu Grundrechtseingriffen führt und somit die Grundrechte in ihrer „ursprünglichen“ Funktion als Abwehrrechte betroffen sind, stellt sich die Frage, ob der Staat sich tatsächlich zur Wahrung eines objektiv-rechtlichen Gehalts der Grundrechte berufen fühlen darf. Allein aus der Überlegung, dass die Grundrechte objektive Prinzipien darlegen, folgt noch nicht die Verpflichtung des Staates, diese Prinzipien durchzusetzen. Die Literatur gibt sich daher zu Recht nicht mit der Erklärung zufrieden, dass Grundrechte auch einen objektiv-rechtlichen Gehalt aufweisen. Die Rechtsprechung weist als weitere Begründung – unter Bezugnahme auf das menschliche Leben als notwendige Basis der Menschenwürde – auf Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG hin.92 Aus der ausdrücklichen Pflicht, die Menschenwürde zu schützen, könnte zum einen abgeleitet werden, dass diese Pflicht sich auch auf den Schutz aller anderen Grundrechte beziehe.93 Diese extensive Auslegung kann durch die systematische Stellung des Art. 1 GG gestützt werden, sieht sich aber der Kritik ausgesetzt, dass nicht allen Grundrechten ein objektiv-rechtlicher Gehalt zugesprochen wird und daher eine derartige Auslegung zu weit ginge. Allerdings fordert Isensee bereits die Anwendung von ähnlichen Strukturen auf alle Freiheitsrechte.94 Diese zu konkretisieren sei Aufgabe der Grundrechtsdogmatik.
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Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 70 f. BVerfGE 39, S. 1 (42). 92 BVerfGE 39, S. 1 (41); BVerfGE 46, S. 160 (164). 93 Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, S. 1635. 94 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Band V, § 111 Rn. 86. 91
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Die herausragende Stellung der Menschenwürde spricht allerdings gegen eine derartige Auslegung. Die Menschenwürde unterscheidet sich wesentlich von anderen Grundrechten. Sie ist grundlegendes Prinzip der Verfassung. In Art. 1 GG wird das Recht auf Menschenwürde nicht begründet. Es gilt dem Menschen als angeborenes Recht. Eine andere und insofern plausiblere Möglichkeit wäre, dass sich aus der Pflicht zum Schutz der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG eine Pflicht zum Schutz des Menschenwürdekerns eines jeden Grundrechts ergebe.95 Das hätte zur Folge, dass nicht eine umfassende Schutzpflicht des Staates vor jeder Beeinträchtigung des einzelnen Grundrechts bestehen würde, sondern der Staat nur regelnd eingreifen müsste, wenn der Menschenwürdekern des Grundrechts in Gefahr wäre. Eine derartige Sichtweise würde zumindest die Anwendung des Maßstabes der Verhältnismäßigkeit erleichtern. Das Verfassungsgericht selbst geht in neueren Entscheidungen in Hinblick auf die gefestigte Schutzpflichtjudikatur nicht mehr auf eine Begründung der grundrechtlichen Schutzpflicht ein.96 Der Großteil der Literatur ist dem gegenüber der Meinung, dass der Grund für die Verpflichtung des Staates zum Schutz der Grundrechte gegen Dritte aus der Etablierung des Staates als Friedensordnung folge. Der Staat reklamiert für sich das Gewaltmonopol. Dem Einzelnen wird daher eine Verteidigungsmöglichkeit gegen Angriffe auf seine Rechtsgüter genommen. Dieser Verlust muss vom Staat kompensiert werden, wenn er seine Aufgabe als Garant der Friedensordnung gerecht werden will.97 Diese Ansicht setzt aber eine Verteidigungsmöglichkeit des Rechtsgutsträgers voraus, auf welche dieser verzichtet. Wenn man nämlich die Schutzpflicht des Staates aus der Notwendigkeit, den Verlust der Verteidigungsmöglichkeit zu kompensieren, herleitet, kann dies nur gelten, wenn eine Verteidigungsmöglichkeit bestand.98 Verzicht setzt ja gerade die Möglichkeit voraus. Im Falle des Schutzes ungeborenen Lebens greift der Staat aber beispielsweise ein, obwohl der Rechtsgutsträger (noch) nicht im Stande ist, sein Rechtsgut zu verteidigen. 95
Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, S. 1635. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Band V, § 111 Rn. 80. 97 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 22; Herzog, Der Verfassungsauftrag zum Schutz des ungeborenen Lebens, JR 1969, S. 443 f.; Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Band V, § 111 Rn. 83; Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, S. 1636; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 33 f.; Isensee, Die Friedenspflicht der Bürger und das Gewaltmonopol des Staates, in: Müller/Rhinow/ Schmid/Wildhaber (Hrsg.), Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel, S. 26 f. 98 Vgl. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 24. 96
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Klein schlägt daher eine „Art Annextheorie“ vor. Die Grundrechte enthalten Prinzipien, die für die staatliche Friedensordnung unabdingbar sind und geschützt werden müssen, um das Gewaltmonopol des Staates zu rechtfertigen. Diese positiv-rechtliche Ausgestaltung der Grundrechte wirkt sich auch auf diejenigen aus, auf die der eigentliche Grund für die Etablierung der Schutzpflicht nicht zutrifft.99 Es zeigt sich also, dass der Verzicht des Einzelnen auf effektiven Selbstschutz der Grund für die Etablierung objektiver Schutzpflichten ist.100 Der Einzelne muss durch den Staat vor Dritten geschützt werden, da er selbst durch das Gewaltmonopol des Staates an einem effektiven Schutz seiner Interessen gehindert ist. c) Umfang der Schutzpflicht des Staates Mittlerweile gehört die Lehre von den objektiven Schutzpflichten zur gefestigten Judikatur und ist weitgehend akzeptiert. Der konkrete Umfang der Schutzpflicht des Staates ist jedoch weitgehend unklar. Fraglich ist, ob die Handlungsverpflichtung aus den Grundrechten eine Funktion der Grundrechte im Sinne eines „status positivus“ begründet,101 oder ob sie lediglich ein Instrument zur Stärkung des abwehrrechtlichen Gehalts der Grundrechte darstellt.102 Das BVerfG hat bereits die Beschreibung des Schutzgutes Leben in seinen drei maßgeblichen Entscheidungen103 unterschiedlich vorgenommen. Einerseits wird in der Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch auf das „konkrete einzelne Menschenleben“104 Bezug genommen, andererseits ist von einem „Verfassungswert“105 die Rede. Die erste Formulierung lässt eine subjektive, die zweite eine objektive Ausrichtung erkennen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Frage, ob die Schutzpflicht des Staates sich in der Abwehr von Beeinträchtigungen von Seiten Dritter erschöpft106 oder ob beispielsweise auch vorsorglich staatliche Leistungen und Einrichtungen bereitgestellt werden müssen (Teilhaberechte), nicht allein an99
Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, S. 1636. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 414 f. 101 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Band V, § 111 Rn. 3; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 28. 102 Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 211 ff. 103 „Schwangerschaftsabbruch/Fristenlösung“ BVerfGE 39, S. 1 ff.; H. M. „Schleyer“ BVerfGE 46, S. 160 ff.; „Kontaktsperre“ BVerfGE 49, S. 24. 104 BVerfGE 39, S. 1 (59). 105 BVerfGE 39, S. 1 (43). 106 Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, § 11 Rn. 204; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 350; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 34 ff. 100
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hand der Analyse der Rechtsprechung beantwortet werden kann.107 Im Fall der Tötung auf Verlangen drängt sich die konkrete Frage auf, ob auch der Schutz des Rechtsgutes vor dem Rechtsgutsträger selbst zur grundrechtlich vermittelten Pflicht des Staates gehört. Einigkeit besteht in Bezug auf den Umfang der Schutzpflicht jedenfalls dahingehend, dass sie nicht lückenlos sein kann.108 Abgesehen von der Menschenwürde kann kein Grundrecht einen absoluten Schutz beanspruchen. Stets sind grundrechtliche Positionen mit konfligierenden Rechtsgütern in Bezug zu setzen.109 Mithin besteht, ebenso wie es kein absolutes Abwehrrecht gibt, keine absolute Schutzpflicht des menschlichen Lebens. In seiner Entscheidung in Bezug auf das Leben des H. M. Schleyer hat das Bundesverfassungsgericht nach einer Abwägung mit der Schutzpflicht „gegenüber der Gesamtheit aller Bürger“ entschieden, dass im konkreten Fall der Schutz des Einzelnen zurückstehen müsse.110 Auch in seiner Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch hat das Bundesverfassungsgericht eine Abwägung zwischen Selbstbestimmung der Mutter und pränatalem Lebensrecht vorgenommen. Zwar nimmt es auf die „Unantastbarkeit und Unverfügbarkeit menschlichen Lebens“ Bezug, erlaubt aber dennoch Ausnahmen im Fall von medizinischen und kriminologischen Indikationen. Derartige Ausnahmen wären im Fall eines absoluten Lebensschutzes nicht möglich.111 In BVerfGE 88, S. 203 (253 f.) hat es schließlich wörtlich entschieden, dass „der Schutz des Lebens [. . .] nicht in dem Sinne absolut geboten [sei], dass dieses gegenüber jedem anderen Rechtsgut ausnahmslos Vorrang genösse“. Die Schutzpflicht entspricht dem Abwehrrecht in ihrer thematischen und personalen Reichweite.112 Es ist daher verfehlt, in der Schutzpflicht des Staates für das Leben ein verfassungsrechtliches Rechtsgut der Allgemeinheit zu sehen, welches durch § 216 StGB geschützt wird.113 Auf diese Weise umgeht man die Problematik, dass der Schutz des Lebens gegen den Willen des Sterbewilligen geschieht. Die beliebte 107 Vgl. Badura, Die Pflicht des Parlaments zur „Nachbesserung“ von Gesetzen, in: Müller/Rhinow/Schmid/Wildhaber (Hrsg.), Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel, S. 490; Grimm, Verfahrensfehler als Grundrechtsverstöße, NVwZ 1985, S. 867 f.; Podlech, in: Wassermann (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Reihe Alternativkommentare), Bd. I, Art. 2 Abs. 2 Rn. 23. 108 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 68. 109 Hufen, In dubio pro dignitate, NJW 2001, S. 850; Hesse, Die verfassungsrechtliche Kontrolle, in: Däubler-Gmelin/Kinkel/Meyer/Simon (Hrsg.), Gegenrede: Aufklärung – Kritik – Öffentlichkeit, S. 546. 110 BVerfGE 46, S. 160 (165). 111 Klug, Autonomie, Anarchie und Kontrolle, in: Kaufmann/Mestmäcker/Zacher (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenwürde, S. 243. 112 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Band V, § 111 Rn. 93. 113 So aber Hufen, In dubio pro dignitate, NJW 2001, S. 855.
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Formel, dass Selbstgefährdung und Selbstschädigung nur dann durch den Staat verhindert werden dürfen, wenn Rechtsgüter der Allgemeinheit oder Dritter in Mitleidenschaft gezogen werden,114 verstellt hier den Blick auf dieses Problem. Da man die Schutzpflicht des Staates als Rechtsgut der Allgemeinheit definiert, stellt sich das Problem des Grundrechtsschutzes gegen sich selbst gar nicht. Diese Schlussfolgerung ist aber voreilig. Es zeigt sich hier, dass bei Rechtsgütern der Allgemeinheit stets versucht werden muss, sie auf Individualrechtsgüter zurückzuführen, um zu verhindern, dass sie sich zu ideelen Rechtsgütern, die „um ihrer selbst willen“ geschützt werden, wandeln.115 II. Schutz des Sterbewilligen vor sich selbst (Paternalismus) Die Möglichkeit eines (Grundrechts-)Schutzes vor sich selbst wird im Bereich des so genannten Paternalismus behandelt. Vor allem im englischsprachigen Raum wird das Problem des Paternalismus lebhaft diskutiert. Dort gilt der „legal paternalism“ als eine Möglichkeit, den Einsatz von Strafrechtsnormen zu legitimieren. Das Wort Paternalismus leitet sich vom lateinischen Wort „pater“ (Vater) ab und steht für eine „väterliche“ Bevormundung zum Wohle des Einzelnen. Gerald Dworkin beschreibt den Paternalismus als eine Einmischung in die Handlungsfreiheit einer Person, die durch Gründe gerechtfertigt ist, welche sich ausschließlich auf die Wohlfahrt, Güter, Glück, Bedürfnisse, Interessen oder Werte der betroffenen Person beziehen.116 Dadurch gerät er in Konflikt mit dem Autonomieprinzip, welches dem Einzelnen die alleinige Definitionsmacht über seine Interessen und Werte zuspricht. Auch das Menschenbild des Grundgesetzes geht von einer mündigen Person aus, die zur Selbstbestimmung fähig ist. Jegliche Bevormundung würde diesem Bild augenscheinlich widersprechen.117 Dem Paternalismus liegt die Prämisse zugrunde, dass ein Individuum durch kurzfristige Motive, die seinen eigentlichen Interessen zuwiderlaufen, eine Verfehlung gegen sich selbst begehen kann. Problematisch ist vor allem das Auffinden dieser „eigentlichen“ Interessen. Während die als „harter“ Paternalismus bezeichnete Variante annimmt, dass es absolute Interesseninhalte geben kann, die objektiv bestimmt werden können 114
Hillgruber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz Band 1, Art. 2 I, Rn. 153. Vgl. auch Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 16, 43. 116 Dworkin, Paternalism, in: Satorius (Hrsg.), S. 19 f. 117 Schünemann, Das „Menschenbild des Grundgesetzes“, in: Schünemann/Müller/ Philipps (Hrsg.), Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, S. 5. 115
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(das „wahre“ Wohl118), geht der „weiche“ Paternalismus davon aus, dass jedes Individuum selbst seine eigenen Interessen definieren könne.119 Hier zeigt sich bereits das Dilemma des weichen Paternalismus. Der harte Paternalismus bestimmt das „wahre“ Wohl des Individuums nach den Maßstäben von Staat und Gesellschaft. Der Maßstab des weichen Paternalismus ist wegen seiner subjektiven Ausrichtung schwer zu umreißen. Aus der Schutzpflicht des Staates könnte nun die Wertung des Grundgesetzes hergeleitet werden, dass die Erhaltung des Lebens in jedem Fall dem Interesse des Sterbewilligen dient. Bei der Bestimmung eines Gesetzeszweckes ist der Gesetzgeber zwar in grundrechtlicher Hinsicht frei, solange die Gesetze einem öffentlichen Interesse (Gemeinwohlinteresse) dienen. Diese öffentlichen Interessen werden aber durch die Grundrechte konkretisiert. Die Schutzpflicht des Staates kann ein öffentliches Interesse prägen und somit zu einer Verpflichtung des Gesetzgebers werden.120 1. Schutzpflicht und Schutzrecht des Staates Die Schutzpflicht des Staates setzt aber ein Recht des Staates zum Schutz voraus.121 Grundsätzlich gehört die Pflicht des Staates, die Freiheiten und Güter des Einzelnen zu schützen, nach herrschender Meinung zur Selbstverständlichkeit eines modernen, freiheitlichen Staates.122 Die staatliche Schutzpflicht führt zu einer Verstärkung der Abwehrfunktion (Freiheitssicherung) der Grundrechte.123 Ihre Schranken findet diese Schutzpflicht daher dort, wo der Rechtsgutsträger bereit ist, in Ausübung seiner grundrechtlich garantierten Freiheit die ihm zustehenden grundrechtlich geschützten Güter einzusetzen.124
118 Nicht zu verwechseln mit dem „wahren Willen“, den Engisch meint, welcher zur Erforschung der Ernstlichkeit des Todeswunsches anhält. Engisch, Ärztliche Sterbehilfe, in: Jescheck/Lüttger (Hrsg.), Festschrift für Dreher, S. 317. 119 Schroth, Die strafrechtlichen Tatbestände des Transplantationsgesetzes, JZ 1997, S. 1153; Roxin, Die Abgrenzung von strafloser Suizidteilnahme, strafbarem Tötungsdelikt und gerechtfertigter Euthanasie, in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, S. 180; Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, S. 28 ff.; Hoerster, Warum keine aktive Sterbehilfe?, ZRP 1988, S. 3; Merkel, Früheuthanasie, S. 302 f. 120 Vgl. Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, § 11 Rn. 188, 204. 121 Schwabe, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, JZ 1998, S. 70. 122 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 26; Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Band V, § 111 Rn. 83. 123 BVerfGE 7, S. 198 (205); 50, S. 290 (337); siehe auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 69 II 3, S. 918. 124 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts V, § 111 Rn. 113 f.; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 219 ff., 230.
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Die Schutzpflicht des Staates ist akzessorisch zu seinem Schutzrecht.125 Die Verpflichtung des Staates verleiht ihm keine Eingriffsbefugnisse.126 „Das Müssen, das aus der Schutzpflicht folgt, geht nicht weiter und berechtigt nicht zu mehr als das Dürfen, welches durch die alten Errungenschaften grundrechtlicher Abwehransprüche begrenzt ist“.127 Auch wenn nämlich die Schutzpflichten Ausdruck einer sich aus den Grundrechten ergebenden objektiven Ordnung sind, darf der individualfreiheitssichernde Gehalt der Grundrechte nicht verkürzt werden.128 Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten soll den Grundrechtsschutz verstärken, nicht einschränken.129 Die Funktion der Grundrechte als objektive Prinzipien „[. . .] lässt sich deshalb nicht von ihrem eigentlichen Kern lösen und zu einem Gefüge objektiver Normen verselbstständigen, hinter den der ursprüngliche und bleibende Sinn der Grundrechte zurück tritt“.130 Der Sterbewillige wird durch die Vorschrift des § 216 StGB in seinem grundrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrecht betroffen. Die Grundrechte werden dann in ihrer ursprünglichen Form als Abwehrrechte betroffen. Zunächst muss also die Berechtigung des Gesetzgebers zum Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Sterbewilligen gegeben sein. Die Schutzpflicht des Staates lebt erst bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne wieder auf. Dort kann aus dem Dürfen des Gesetzgebers ein Müssen werden.131 Der „personale Kern“ der Grundrechte wird zu Recht in Literatur und Rechtsprechung immer wieder betont.132 Der „[. . .] einzelne Mensch als private, natürliche Person [steht] im Mittelpunkt“133 der Grundrechte. Eine dem Grundrechtsträger aufgedrängte staatliche Schutzgewähr ist nicht legitimierbar, wenn sich die intendierte Verstärkung des Grundrechtsschutzes nicht ins Gegenteil verkehren soll.134 Die Gefahr einer derartigen Entwicklung war auch Antrieb des ablehnenden Sondervotums der Richter Rupp-von Brünneck und Simon zum Urteil „Schwangerschaftsabbruch I“.135 125 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung, S. 23 und in FN 37. 126 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 208. 127 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 248 f. 128 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 127, 130 f.; SternbergLieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung, S. 34. 129 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 69 II 3, S. 918; BVerfGE 7, S. 198 (205). 130 BVerfGE 50, S. 290 (337). 131 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 13. 132 Vgl. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 197; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 150. 133 BVerfGE 61, S. 82 (100). 134 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung, S. 35. 135 BVerfGE 39, S. 68 (73).
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Eine Abspaltung des Grundrechts von seinem Träger, welche zu einer Abwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Grundrechtsträgers auf der einen und einem objektiv bestimmten Wert des Rechtsgutes auf der anderen Seite führt, ist daher nicht zulässig.136 Der Mensch als eine „mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte Persönlichkeit“ darf nicht zum Untertan einer noch so sehr um sein Wohl bemühten Obrigkeit werden.137 Teilweise nimmt die Rechtsprechung aber eine Abwägung zwischen Selbstbestimmungsrecht und einem objektiv bestimmten Grundrechtswert vor.138 Unter dem Gesichtspunkt des unzulässigen Grundrechtsverzichts139 wird eine Verfügungsmacht des Einzelnen über sein Rechtsgut verneint. Dabei wird jedoch verkannt, dass es bei einem Fall des aufgedrängten Grundrechtsschutzes nicht um eine Kollision von Grundrechten im eigentlichen Sinne geht, sondern leistungsstaatlicher und freiheitsverbürgender Gehalt innerhalb eines Grundrechts auf grundrechtlicher Ebene aufeinander stoßen.140 Es geht damit vielmehr um die Bestimmung des Verhältnisses einzelner Grundrechtsschichten zueinander.141 Die Anerkennung einer objektiven Wertentscheidung, die von dem Rechtsgutsträger losgelöst ist, würde den Rechtsgutsträger zu einem Objekt der staatlichen Ordnung machen. Das der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG innewohnende Autonomieprinzip verbietet dies. Der BGH formulierte dies in dem so genannten „Myom“-Urteil wie folgt: „Das in Art. 2 Abs. 2 S. 1 des Grundgesetzes gewährleistete Recht auf körperliche Unversehrtheit fordert Berücksichtigung auch bei einem Menschen, der es ablehnt, seine körperliche Unversehrtheit selbst dann preiszugeben, wenn er dadurch von einem lebensgefährlichen Leiden befreit wird. Niemand darf sich zum Richter in der Frage aufwerfen, unter welchen Umständen ein anderer vernünftigerweise bereit sein sollte, seine körperliche Unversehrtheit zu opfern, um dadurch wieder gesund zu werden“.142 Der Grundrechtsschutz darf damit nicht oktroyiert werden. Das geschützte „Opfer“ kann dagegen sein Abwehrrecht im 136 Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten, S. 26; Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 133 f.; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 74, 84; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 67. 137 Benda, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 17; vgl. BVerfGE 5, S. 85 (204). 138 BVerwG, NJW 1989, S. 2960 (2961); BayVerfGH BayVBl. 1989, S. 205 (207); BayObLG BayVBl 1989, S. 219, (220); VG Karlsruhe, JZ 1988, S. 208 (209). 139 Zu dem Problem, dass hier genau genommen kein Grundrechtsverzicht vorliegt, siehe oben, 1. Kapitel B. II. 4. d). 140 Lorenz in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts VI, § 128 Rn. 61. 141 Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 133 f.; zur Schichtenlehre: Stern in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts V, § 109 Rn. 38 ff.; SchulzeFielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar Band 1, Art. 2 II Rn. 84. 142 BGHSt 11, S. 111 (113 f.)
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Sinne des status negativus geltend machen.143 Im Fall des § 216 StGB ist dies zumindest sein Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG. Eine Bewertung der freiverantwortlichen Entscheidung eines Rechtsgutsträgers zur Preisgabe seines Rechtsgutes darf nicht nach den Kategorien der Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit bewertet werden. Selbst bei irreversiblen Schädigungen von Persönlichkeitsgütern bleibt die Alleinzuständigkeit für diese Entscheidung beim Rechtsgutsträger.144 Die Gegenmeinung, welche die Irreversibilität einer Entscheidung in Bezug auf ein wichtiges Rechtsgut als Rechtfertigung eines Schutzes vor sich selbst ausreichen lässt,145 verkennt, dass der Rechtsgutsträger allein beurteilt, was sein „wohlverstandenes“ Eigeninteresse ist.146 Dies ist Ausfluss der freiheitlichen Konzeption der Grundrechte. Selbstbestimmte Gestaltungsakte, die den Bereich des dem Rechtsgutsträger rechtlich garantierten Herrschaftsbereichs nicht überschreiten, verletzen und gefährden keine rechtlich geschützten Interessen anderer und können daher keinen Beschränkungen unterworfen werden. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sie allein oder im Zusammenwirken mit Dritten unternommen wurden.147 Der Einzelne darf unvernünftig, egoistisch oder unmoralisch handeln, solange keine unmittelbaren oder mittelbaren Freiheitsinteressen anderer betroffen sind.148 Selbst ein die Grundlage für jede Freiheitsbetätigung entziehendes Handeln wie die Preisgabe des Rechtsgutes Leben kann nicht zu einer Fremdbestimmung des Rechtsgutsträgers führen. Das Leben als ein „Höchstwert“ der Verfassung darf nicht einer freiheitsbeschränkenden Fremdbestimmung zugänglicher sein als weniger persönlichkeitsbezogene Grundrechte.149 Grundsätzlich gehört zum Selbstverfügungsrecht auch eine bei objektiver Betrachtung als unvernünftig zu wertende Selbstverfügung. Die „Freiheit zum Untergang“,150 die irreversible Verletzung von Persönlichkeitsgütern, gehört zu dem aus dem Autonomieprinzip fließenden Recht des Einzelnen. Nur der Rechtsgutsträger selbst kann bestimmen, wie er seine Freiheit ausüben will.151 Allein der Grund, dass seine Entscheidung von enormer Relevanz ist, zum einen weil sie irreversibel
143 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Band V, § 111 Rn. 92; vgl. auch BVerfG, NJW 1999, S. 3399 (3401). 144 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 58, 91 f.; Friedrich, Die ärztliche Sterbehilfe aus strafrechtlicher Sicht, in: Saner/Holzhey (Hrsg.), Euthanasie, S. 74. 145 Vgl. Wilms/Jäger, Menschenwürde und Tötung auf Verlangen, ZRP 1988, S. 43. 146 Vgl. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 223 ff. 147 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 52 f. 148 Stratenwerth, „Größtmögliche Freiheit“?, in: Kaufmann/Mestmäcker/Zacher (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenwürde, S. 573. 149 Hillgruber, Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 74 ff. 150 von Unruh, Besinnung auf den Rechtsstaat, DÖV 1974, S. 513. 151 Hufen, In dubio pro dignitate, NJW 2001, 851.
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ist, zum anderen, weil ein sehr wichtiges Grundrechtsgut betroffen ist, rechtfertigt noch nicht die staatliche Fremdbestimmung. Die Grundrechte würden dann freiheitsverkürzend eine Funktion entwickeln, die den Einzelnen zu seinem „besten Wohl“ gängeln würde.152 2. Die Menschenwürde als Verfügungsschranke Die Menschenwürde selbst, als oberstes Gebot unserer Verfassung, ist als Konstitutionselement des Rechtsstaats der Verfügung des Individuums entzogen.153 Man könnte aus dieser Wertung etwas für die Möglichkeit einer Verfügung über das menschliche Leben ableiten. Die Tötung der eigenen Person kann als eine derart lebensverneinende Entscheidung die Persönlichkeit nicht entfalten, sondern nur vernichten. Mit dem Tod wird dem Menschen jegliche Möglichkeit zur Entfaltung seiner Persönlichkeit und Realisierung seiner Interessen genommen.154 Das Bundesverfassungsgericht hat daher das Leben mehrfach als „vitale Basis der Menschenwürde“ bezeichnet. Die Menschenwürde sei auch ein Grund für die Pflicht des Staates, das Leben zu schützen.155 Das Schlagwort „Menschenwürde“ wird sowohl als Argument für, als auch als Argument gegen eine Disponibilität des Lebens angeführt. Dies ist wenig verwunderlich, wenn man betrachtet, wie offen und unbestimmt der Begriff der Menschenwürde ist. Dazu kommt, dass der Gedanke der Menschenwürde als der Verfassung zugrunde liegendes Prinzip Wirkung auf alle Grundrechte entfaltet.156 Eine Definition des Begriffes der Menschenwürde ist aber notwendig, wenn man überhaupt verstehen will, was der Art. 1 Abs. 1 GG für unantastbar erklärt. Das Bundesverfassungsgericht hat den Würdebegriff im Wesentlichen über den Verletzungstatbestand bestimmt.157 Als Definitionskriterium greift es dabei teilweise auf eine bloße „Konsensdefinition“ zurück. Bei dieser Definition wird auf eine logische Ableitung des Würdebegriffs verzichtet, weil ein Eingriff in die Menschenwürde außer Frage steht. Zur Klärung von Streitfragen an der Verletzungsgrenze des Art. 1 Abs. 1 GG taugt diese Methode allerdings nicht, weil gerade keine echte Definition des Begriffs der Menschenwürde erfolgt.158 152 Sternberg-Lieben, Begrenzung lebensverlängernder Maßnahmen, in: Arnold/ Burkhardt/Gropp/Heine/Koch/Lagodny/Perron/Walther (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht, Festschrift für Eser, S. 1186; Köhler, Freiheitliches Rechtsprinzip und Betäubungsmittelstrafrecht, ZStW 104 (1992), S. 15 f. 153 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 225; GeddertSteinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 80 f. 154 Vgl. BVerfGE 39, S. 1 (42). 155 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 140. 156 Vgl. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 22, 25. 157 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 26. 158 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 29.
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Aussichtsreicher ist dabei die „Objektformel“, die das Bundesverfassungsgericht mehrfach zur Definition der Menschenwürde herangezogen hat. In Anlehnung an den praktischen Imperativ, eine Variante des kategorischen Imperativs Kants, besagt die Objektformel, dass es der menschlichen Würde widerspricht, „den Menschen zum bloßen Objekt im Staate zu machen“.159 Relativierend hat das Bundesverfassungsgericht angemerkt, dass diese Herabwürdigung zum Objekt die Subjektsqualität des Menschen prinzipiell in Frage stellen müsse, um einen Verstoß gegen die Menschenwürde zu begründen.160 Eine derartige Relativierung oder gar ein Abstellen auf subjektive Elemente, wie sie in der selben Entscheidung zum Ausdruck kam,161 ist jedoch abzulehnen. Die Menschenwürde kann auch durch wohlmeinende Eingriffe, welche die Subjektstellung des Einzelnen negieren, verletzt werden.162 Als grundlegendes Prinzip der Verfassung muss ein umfassender Schutz der Menschenwürde gewährleistet werden. Die Versuche, die Menschenwürdegarantie an Kriterien der Missachtungsabsicht, der Willkür oder dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen, sind verfehlt, weil eine Bewertung der Würde des Menschen anhand einer Zweck-Mittel-Rationalität die Funktion der Würde unterlaufen würde. Die Würde des Menschen stellt ein Kriterium der Verhältnismäßigkeit dar – nicht umgekehrt.163 Aus der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG kann daher auch kein Zwang zum würdegemäßen Verhalten abgeleitet werden. Zwar hat das BVerwG in seiner „Peepshow“ Entscheidung164 einen solchen Zwang als Schranke gegenüber einer Selbstentwürdigung des Grundrechtsträgers angenommen, allerdings hat es verkannt, dass ein derartiger Zwang seinerseits gegen die Menschenwürde verstoßen würde, weil der Mensch zum Objekt einer staatlichen Wertentscheidung würde.165 Die „Menschenwürde schützt den Menschen auch davor, zum Objekt der Menschenwürdedefinition eines anderen zu werden.“166 Gleiches muss auch Wilms und Jäger entgegengehalten werden, wenn sie zwar die „Peepshow“ Entscheidung ablehnen, aber im Falle einer Tötung auf Verlan159
BVerfGE 45, S. 187 (228). BVerfGE 30, S. 1 (25 f.). 161 BVerfGE 30, S. 1 (27): „Jedenfalls verletzt es die Menschenwürde nicht, wenn der Ausschluss des Gerichtsschutzes nicht durch eine Missachtung oder Geringschätzung der menschlichen Person, sondern durch die Notwendigkeit der Geheimhaltung von Maßnahmen zum Schutze der demokratischen Ordnung und des Bestandes des Staates motiviert wird.“ 162 Vgl. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 47 f.; BVerfGE 30, S. 1 (40). 163 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 58 f. 164 BVerwGE 64, S. 274 (279). 165 Vgl. Benda, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, Rn. 57; Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 163. 166 Hufen, In dubio pro dignitate, NJW 2001, S. 851. 160
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gen aufgrund der Irreversibilität der Entscheidung eine Pflicht zu staatlichem Einschreiten annehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Objektformel in einen Begründungszusammenhang mit den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit gesetzt. Die Autonomie des Einzelnen prägt die Objektformel und damit auch die Definition der Menschenwürde entscheidend.167 Eine Einschränkung der Autonomie des Einzelnen, um seine eigene Menschenwürde zu erhalten, verstößt seinerseits gegen die Menschenwürde.168 Etwas anderes gilt nur, wenn die Handlung des Individuums nicht Ausdruck seiner Selbstbestimmung ist, weil es nicht freiverantwortlich handelt.169 Dem steht nicht entgegen, dass der Einzelne nicht in eine Verletzung der Menschenwürde einwilligen kann.170 Wenn auch die Menschenwürde als solche nicht zur Disposition des Einzelnen steht, so doch als eine Art „negatives Tatbestandsmerkmal“ seine Auffassung davon, was seiner Würde entspricht.171 Das Bundesverfassungsgericht hat in der Transsexuellen-Entscheidung ausgeführt, dass Art. 1 Abs. 1 GG die Würde des Menschen schützt „wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst wird“.172 Die Autonomie des Menschen konstituiert seine Menschenwürde. Die letzte Instanz für die Bestimmung der Menschenwürde muss daher der Einzelne selbst sein.173 Auch wenn der Einzelne nicht über die Menschenwürde disponieren kann, so liegt es doch an ihm zu bestimmen, was seiner Würde entspricht. Als „negatives Tatbestandsmerkmal“ verhindert diese Möglichkeit der Selbstdefinition, dass sich der Anspruch auf Achtung der Würde in eine Pflicht zu würdigem Verhalten verkehrt.174 Eine objektivierende Wertentscheidung würde nämlich das subjektive Recht des Rechtsgutsträgers konterkarieren. Der Begriff der Würde des Menschen würde im Fall einer objektivierenden Wertentscheidung in den Bereich von Sitte und Anstand verlagert.175
167 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 32 f.; Hufen, In dubio pro dignitate, NJW 2001, S. 851. 168 Klug, Autonomie, Anarchie und Kontrolle, in: Kaufmann/Mestmäcker/Zacher (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenwürde, S. 235. 169 Vgl. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 90. 170 BVerfGE 45, S. 187 (229). 171 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 48; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 91 f. 172 BVerfGE 49, S. 286 (298). 173 Robbers, Der Grundrechtsverzicht, JuS 1985, S. 929. 174 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 92; vgl. Amelung der als Ausfluss der Autonomie Art. 1 Abs. 1 GG bei einer Einwilligung in Grundrechtsverletzungen als gar nicht einschlägig sieht Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, S. 50. 175 Kunig, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar Band 1, Art. 1, Rn. 19; Herdegen, in: Maunz-Dürig, GG Kommentar Band I, Art. 1 Abs. 1 Rn. 29.
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Eine freiwillig begangene Handlung, die der Einzelne als seiner Würde entsprechend ansieht, schließt demnach einen Menschenwürdeverstoß aus.176 Die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, was seiner Menschenwürde entspricht, hat auch das BVerwG in der „Peepshow“-Entscheidung anerkannt.177 Es erscheint auch eigenartig, dem Einzelnen darzulegen, dass ihm eine Verletzung seiner Würde angetan wurde, die er selbst im Regelfall gar nicht bemerkt. Hinrichs weist auf die menschenunwürdige Behandlung der Kandidaten des „Big Brother“ Spiels hin und prangert die moralische Verwerflichkeit der Show an. Sie zeigt Parallelen zu Tierversuchen auf und stellt ihre Entrüstung über eine derartige Behandlung von Menschen dar.178 Die betroffenen Menschen jedoch fühlten sich als Prominente und augenscheinlich nicht im Mindesten in ihrer Würde verletzt. Ein paternalistisches Eingreifen zum Wohl der Betroffenen setzt aber eine Schädigung voraus, die in derartigen Fällen kaum auszumachen sein wird. Es ist fraglich, ob den Kandidaten durch ein Verbot der Show ein besseres Leben beschert worden wäre.179 Die Auffassung Hinrichs, dass die Autonomie des Einzelnen sich nur im Rahmen der Menschenwürde bewegen kann, setzt voraus, dass der Menschenwürde ein höherwertiger objektiver Gehalt zugesprochen wird.180 Die Erhebung dieses objektiven Gehalts der Menschenwürde über die Freiheit des Einzelnen, die selbst ein wesentliches Merkmal der Menschenwürde darstellt, stellt eine Missachtung der Subjektsqualität des Einzelnen dar. Sein persönliches subjektives Wertesystem wird als falsch deklariert und an Stelle seiner subjektiven Vorstellung die objektive Werteordnung der Gesellschaft gesetzt. Diese Missachtung des Individuums als mündiges Subjekt stellt selbst einen Eingriff in die Menschenwürde dar. Damit ist auch ausgeschlossen, dem Einzelnen eine Pflicht zu Leben aufzuerlegen, um ihm die „vitale Basis der Menschenwürde“ zu erhalten. Der Inhalt der Menschenwürde ist wohl kaum derart auszufüllen, dem Individuum die letzte Entscheidungsfreiheit über sein Leben abzuerkennen. In einem solchen Fall würde die Menschenwürde zu einem bloßen Selbstzweck erhoben. Dies würde der individualfreiheitsverstärkenden Funktion der Menschenwürdegarantie zuwiderlaufen.181 176 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 117 f.; Robbers, in: Umbach/ Clemens (Hrsg.), Grundgesetz Band 1, Art. 1, Rn. 22. 177 Das BVerwG hat dann allerdings die Darbietungen der beschäftigten Frauen nicht als Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung gesehen und daraus gefolgert, dass die Tätigkeit nicht die Menschenwürde konstituiere und damit verboten werden könne. BVerw 64, S. 274 (278 f.). 178 Hinrichs, „Big Brother“ und die Menschenwürde, NJW 2000, S. 2174 ff. 179 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 118 f. 180 Hinrichs, „Big Brother“ und die Menschenwürde, NJW 2000, S. 2175. 181 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 109 f.; vgl. Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, S. 48 f.
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Gerade bei Grundrechtsgütern, die essentiell für die Ausübung anderer Grundrechte sind, führt die gesteigerte Persönlichkeitsnähe dazu, dass die individuelle Verfügungsbefugnis an Relevanz gewinnt und nicht etwa dazu, dass eine Fremdbestimmung erleichtert würde.182 „Je stärker autonomiegeprägt und persönlichkeitsbezogen ein Grundrecht ist, desto weiter reicht die Dispositionsbefugnis des Einzelnen“.183 Da das Selbstbestimmungsrecht unabdingbare Voraussetzung für Wahrung der Menschenwürde ist, bedeutet jede Verletzung des Selbstbestimmungsrechts eine Verletzung der Menschenwürde.184 Das Verbot der freien Verfügung über das Leben aus Gründen des Schutzes der Menschenwürde würde außerdem eine Einbeziehung des Rechtsgutes Leben in den Schutzbereich von Art. 1 Abs. 1 GG bedeuten. Dies würde zu einer Vermischung an sich eigenständiger Rechtsgüter führen. Aufgrund der Möglichkeit, einen Teilaspekt der Menschenwürde in jedes Grundrecht hineinzulesen, läge diese Vermischung zwar auf der Hand, sie würde aber zu schwerwiegenden Problemen führen. Zunächst erscheint es verlockend, die „offene Flanke“ des Lebensschutzes durch eine Bezugnahme auf die unantastbare Menschenwürde zu festigen und so vor jeglichen Eingriffen zu schützen.185 Die Folge derartiger Interpretationen wäre jedoch, dass jegliche Tötungen an Art. 1 Abs. 1 GG gemessen werden müssten, was weit reichende Konsequenzen für die Diskussion um die Zulässigkeit von polizeilichen Todesschüssen und Notwehrrechten hätte. Eine Abwägung in Hinblick auf die Menschenwürde ist eingedenk ihres Absolutheitsanspruches kaum möglich. Es ist daher ratsam, das Lebensrecht als eigenständigen Maßstab anzuerkennen und nicht zu versuchen, ihm durch Bezug auf die Menschenwürde mehr „Stabilität“ zu verleihen.186 Aus ähnlichen Erwägungen ist auch die Argumentation, dass nur dem lebenden Menschen Würde zukommen könne und daher die Menschenwürde mit dem menschlichen Leben gleichgesetzt werden müsse,187 abzulehnen. Hier wird die biologisch-tatsächliche Gegebenheit mit einer rechtlichen Wertung über das
182 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 40; vgl. auch Gutmann, Gesetzgeberischer Paternalismus ohne Grenzen?, NJW 1999, S. 3388. 183 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 87. 184 Klug, Autonomie, Anarchie und Kontrolle, in: Kaufmann/Mestmäcker/Zacher (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenwürde, S. 235. 185 Steiner, Der Schutz des Lebens durch das Grundgesetz, S. 12. 186 Vgl. Hufen, Erosion der Menschenwürde?, JZ 2004, S. 317; Steiner, Der Schutz des Lebens durch das Grundgesetz, S. 12 f. 187 Di Fabio, Maunz-Dürig Grundgesetz Band I, 43. Lieferung, Art. 2 Abs. 2 Rn. 14 f.; Leisner, Das Lebensrecht, S. 23 ff.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Schutzniveau vermischt. Die tatsächliche Untrennbarkeit führt nicht notwendigerweise zu einer rechtlichen Übereinstimmung der Schutzbereiche.188 In systematischer Hinsicht kann gegen eine derartige Vermischung der Schutzbereiche die Spezialität des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sowie der Umstand angeführt werden, dass das Verbot der Todesstrafe in Art. 102 GG und der Gesetzesvorbehalt in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG überflüssig wären.189 Die Einschätzung Leisners, dass der Gesetzesvorbehalt nur staatlich geschaffene Risikosituationen legitimieren soll,190 überzeugt nicht. Kriegsfälle und der Schusswaffengebrauch der Polizei können nicht unter Hinweis auf die vage Hoffnung, es werde schon nicht zu Tötungen kommen, derart uminterpretiert werden, dass die angebliche Absolutheit des Lebensschutzes dem nicht entgegenstünde. Das Lebensrecht wird durch die Verknüpfung als „vitale Basis“ der Menschenwürde zu einem Höchstwert der Verfassung erhoben, der aber nicht eine Abwägung unmöglich machen soll, sondern vielmehr im Wege der Abwägung beachtet werden muss.191 Das Leben erhält durch seine Funktion für die Menschenwürde einen extrinsischen Wert, der aber Leben und Menschenwürde nicht in der Weise verknüpft, dass es zu einer Verschmelzung der Schutzbereiche kommt. Das Leben hat auch jenseits der Menschenwürde einen Wert und eine Funktion, ebenso wie auch die Menschenwürde jenseits des Lebens Bedeutung erlangen kann. Die Instrumentalisierung der Schutzpflicht des Staates zur Anwendung eines harten Paternalismus ist damit auch unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Menschenwürde durch die freiheitliche, individualistische Konzeption der Grundrechte ausgeschlossen.192 3. Autonomieorientierter Paternalismus Gegen den „Vorwurf“ eines harten Paternalismus versucht sich Klimpel zu wehren, wenn er den autonomieorientierten Paternalismus als eine Sonderform des Paternalismus zu etablieren sucht. Ausgehend von der Aufgabe des weichen Paternalismus, die Autonomie des Einzelnen nicht einzuschränken, sondern zu schützen, folgert er, dass ein zulässiger Paternalismus auch die Basis der Autonomie selbst schützen dürfe. Damit wird die Freiheit und ihre Entäußerung, die Autonomie, zu einem objektiven Prinzip, welches als Verfügungsschranke Wir-
188 Fink, Der Schutz des menschlichen Lebens im Grundgesetz, in: Jura 2000, S. 211. 189 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 141; vgl. Herzog, in: Kunst/Grundmann (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1961. 190 Leisner, Das Lebensrecht, S. 31. 191 Steiner, Der Schutz des Lebens durch das Grundgesetz, S. 13 f. 192 Antoine, Aktive Sterbehilfe in der Grundrechtsordnung, S. 207.
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kung entfalten könnte.193 Die Verwandtschaft mit der obigen Argumentation zeigt sich deutlich. Das menschliche Leben ist eine unverzichtbare Bedingung für eine autonome Betätigung und nur in dieser Funktion erlangt es Gewicht (extrinsischer Wert).194 Neben dem Rechtsgut Leben soll auch die körperliche Konstitution und die wirtschaftliche Möglichkeit des Freiheitsgebrauchs geschützt werden. Dieser Schutz kann nach Klimpel auch paternalistisch erfolgen. Die Freiheitsausübung durch Zerstörung der Grundlage der Freiheitsausübung sei ein Paradoxon.195 Unter Rückgriff auf Kant und Mill argumentiert er, dass der Mensch vor einer selbstgewählten Vernichtung seiner Autonomiegrundlage durch paternalistische Bevormundung geschützt werden müsse.196 Insofern ähnelt diese Argumentation dem stark paternalistischen Schutz der Menschenwürde. Ein entscheidender Unterschied ist, dass Klimpel nicht die Schutzpflicht des Staates aus der Verfassung herleiten will, sondern es für ihn zum Wesen der Autonomie gehört, deren Basis zu erhalten. Ähnlich argumentiert auch Enderlein, der eine Freiheitsbeschränkung „prima facie“ für geboten hält, wenn durch die in Frage stehende Handlung in Zukunft Freiheitsräume in höherem Maße beeinträchtigt werden als durch eine alternative Handlung.197 Kioupis sieht jede autonome Entscheidung als an das Autonomieprinzip gebunden an. Demnach wird eine Entscheidung, die auf die Vernichtung der Autonomie zielt, nicht anerkannt.198 Derartige Wertungen setzen aber ein philosophisches Grundgerüst voraus. Bereits oben wurde die Anwendung der Tugendlehre Kants als rechtsverbindlich abgelehnt. Auch hier ergeben sich keine neueren Gesichtspunkte. Die neue Wortwahl als autonomieorientierter Paternalismus ändert nichts daran, dass dem Individuum die Möglichkeit zur subjektiven Bestimmung seiner Interessen und Präferenzen abgesprochen wird. Damit liegt ein „harter Paternalismus“ vor, der zwar als einziges „wahre Wohl“ des Individuums die Fähigkeit zur Autonomie definiert, dennoch wird dem Einzelnen dadurch eine Wertordnung oktroyiert. Dies im Namen der Autonomie zu tun erscheint mir wesentlich paradoxer, als die autonome Vernichtung der Autonomiegrundlage. Dem Ansatz Klimpels liegen zum großen Teil ergebnisorientierte Erwägungen zu Grunde. Der status quo der Gesetzeslage lässt sich mit Hilfe der Idee vom autonomieorientierten Paternalismus problemlos erklären. Tatsächlich mö193
Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 107. Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 32; Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 96. 195 Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 29. 196 Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 29 ff.; ebenso Hohmann/Matt, Ist die Strafbarkeit der Selbstschädigung verfassungswidrig?, in: JuS 1993, S. 374. 197 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 52. 198 Kioupis, Notwehr und Einwilligung, S. 134 f. 194
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gen Erwägungen in dieser Richtung für viele der paternalistischen Vorschriften Pate gestanden haben,199 allerdings machen derartige Gesichtspunkte eine rechtsphilosophische Theorie noch nicht stimmig. Auch Geddert-Steinacher begnügt sich mit dem bloßen Hinweis, dass eine Grenze der subjektiven Verfügbarkeit möglicherweise dort gezogen werden könnte, wo die Voraussetzungen der Willensfreiheit selbst aufgehoben würden.200 Dies genügt indes nicht, um eine Bevormundung des Individuums nach objektiven Kriterien zu rechtfertigen. 4. Grundzüge des weichen Paternalismus Nachdem die Anwendung eines harten Paternalismus sich als unvereinbar mit der individualistischen und freiheitlichen Ausrichtung des Grundgesetzes dargestellt hat, bleibt die Möglichkeit des weichen Paternalismus. Dieser ist vom Ansatz her freiheitsverträglicher, weil dem Individuum die subjektive Definitionsmacht über seine Interessen verbleibt. Problematisch ist hierbei aber die Frage, inwiefern eine gewillkürte Handlung gegen ein eigenes Interesse verstoßen kann, ohne auf Kategorien der Vernünftigkeit zu rekurrieren. Hoerster differenziert in diesem Zusammenhang zwischen kurzfristigen „Wünschen“ und langfristigen „Interessen“. Er vertritt damit einen interessenorientierten Paternalismus, wobei die Interessen des Einzelnen nur die aufgeklärten, nicht nur kurzfristig orientierten Wünsche des Individuums sind.201 Nach Hoerster stünden Wünsche mit den Interessen des Individuums nur dann im Einklang, wenn sie im Zustand der Urteilsfähigkeit getroffen würden und das Individuum sich über die Tragweite und Bedeutung seines Wunsches im Klaren sei.202 Der Einzelne müsse die Situation vollständig „rational“ erfassen. Hoerster betont dabei, dass ein derartiger Begriff von Interessen subjektiver Natur sei und nicht davon ausginge, dass es „wahre Interessen“ eines Individuums gebe.203 Er ordnet seinen interessenorientierten Paternalismus also ausdrücklich dem weichen Paternalismus zu. Unter Bezugnahme auf den Stellenwert des menschlichen Lebens, seinen Wert für die Realisierung von Interessen und die Irreversibilität der Preisgabe des Lebens sieht Hoerster ein Interesse der Rechtsordnung daran, nicht von vorneherein an eine Freiverantwortlichkeit des Todeswunsches zu glauben.204 Auf199 200 201 202 203 204
Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 40. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 90. Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, S. 28. Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, S. 29. Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, S. 28. Vgl. Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, S. 30 f.
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grund der Irreversibilität des Todes und des besonderen Stellenwertes des Lebens werde die Preisgabe des selbigen seinen „langfristigen Interessen“ zuwiderlaufen.205 Prinzipiell ist leicht nachvollziehbar, dass ein Mensch ein Interesse an seiner Selbsterhaltung hat. Es ist Voraussetzung für alle anderen Interessen, die er haben kann. Daher müsse hier nach Hoerster die freie Selbstbestimmung hinter den langfristigen Interessen des Einzelnen zurück bleiben. Die vorübergehende Frustration der Selbstbestimmung falle im Gesamtzusammenhang des Lebens des Individuums weniger schwer ins Gewicht, als der verhinderte Schaden, die Aufgabe des Lebens an sich.206 Er geht sogar so weit, anzunehmen, dass die „aufgeklärten“ Interessen des Individuums dahin gingen, dass die Rechtsordnung das Individuum vor freiwilligen, aber leichtsinnig und übereilt vorgenommenen Selbstschädigungen schützen solle.207 Zunächst scheint es eine reine Fiktion zu sein, zu behaupten, dass derjenige, der ernstlich seine Tötung verlangt, hinter diesem aktuellen Wunsch noch ein längerfristiges, wichtigeres Interesse am Weiterleben hegt.208 Möglich ist eher, dass der Wunsch nicht wirklich bestand. Situationen, in denen dies angenommen werden kann, sind vor allem solche, in denen nur eine Gefährdung des Rechtsguts gewollt oder der Wunsch nicht Ausdruck einer freiverantwortlichen Entscheidung war. Derartige Konstellationen werden heute als Anwendungsfälle des weichen Paternalismus gesehen. 5. Fortbestehen der Schutzpflicht bei Selbstgefährdung Der Ansatz, eine Bevormundung nur im Fall einer Gefährdung zuzulassen, stellt eine Möglichkeit dar, die Anwendung des Paternalismus freiheitsverträglicher zu gestalten. In einem derartigen Fall kann auch die Schutzpflicht des Staates wieder aufleben. Der Grundrechtsträger will im Fall einer bloß gefährlichen Handlung die Preisgabe des Rechtsgutes gerade nicht. Seine Freiheitsausübung zielt lediglich auf das Eingehen des Risikos, nicht hingegen auf die Preisgabe des Grundrechtsgutes. Damit steht seine Autonomie einer Schutzpflicht in Bezug auf das Rechtsgut nicht entgegen, solange die selbstgefährdende Tätigkeit als solche und damit die Möglichkeit, das Risiko einzugehen, dem Rechtsgutsträger nicht verwehrt wird.209 Denn grundsätzlich ist die Mög205 Hoerster, Rechtsethische Überlegungen zur Freigabe der Sterbehilfe, NJW 1986, S. 1789. 206 Hoerster, Rechtsethische Überlegungen zur Freigabe der Sterbehilfe, NJW 1986, S. 1789. 207 Hoerster, Warum keine aktive Sterbehilfe?, ZRP 1988, S. 3. 208 Vgl. Maatsch, Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtspflichtverstoß, S. 47. 209 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 46.
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lichkeit, seine Rechtsgüter zu gefährden, Ausdruck der Autonomie des Individuums und damit zulässig.210 Die Legitimation für den Staat, selbstgefährdende Tätigkeiten einzuschränken ergibt sich vor allem dort, wo der Handelnde die Konsequenzen seiner Tätigkeit und damit den Grad der drohenden Gefahr nicht abschätzen kann. Insoweit ist seine Entscheidung zur Gefährdung seines Rechtsgutes auch nicht vollkommen freiverantwortlich. Falls der sich selbst Gefährdende die Konsequenzen seiner Handlungen aber voll überblicken kann, entfällt das Recht des Staates zum Eingriff in die Autonomie. Das Abwehrrecht des Individuums lebt wieder auf. Diese Überlegung ändert jedoch nichts daran, dass in auch bei einer nicht vollkommen freiverantwortlichen Entscheidung in die momentanen Interessen des Betroffenen eingegriffen wird. Es handelt sich daher immer noch um „weichen Paternalismus“.211 Hoerster zieht für seinen interessenorientierten Paternalismus in diesem Zusammenhang auch eine Parallele zur Gurtpflicht im Straßenverkehr heran. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht diese gerade nicht mit paternalistischen Erwägungen begründet, indes wäre dies durchaus möglich. Im Straßenverkehr gehen die Bürger regelmäßig eine Gefährdung ihrer Rechtsgüter ein. Kaum jemand, der sich bewusst nicht anschnallt, tut dies, damit er verletzt wird. Er geht vielmehr davon aus, dass er den Gurt nicht benötigen wird. In einem solchen Fall verstößt die paternalistische Bevormundung durch den Staat nicht gegen die oben angeführten Prinzipien des weichen Paternalismus, da der PKW Fahrer lediglich eine Gefährdung seines Rechtsgutes wünscht. Wenn dies der Fall ist, kann der Staat, wenn der einzelne das Risiko nicht voll einschätzen kann, paternalistisch eingreifen. Hier liegt aber gerade der Unterschied zur Tötung auf Verlangen. Der Sterbewillige will nicht nur eine Gefährdung seines Rechtsgutes Leben, er möchte die Vernichtung dieses Rechtsgutes. Ihm kommt es gerade auf die Realisierung der Lebensgefahr an. § 216 StGB stellt damit keinen Fall der Selbstgefährdung dar.
210 Vgl. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 221; Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Band V, § 111 Rn. 113; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 48 f. 211 Vgl. aber Roxin, der den „weichen“ Paternalismus als „nicht-paternalistisch“ sieht. Roxin, Die Abgrenzung von strafloser Suizidteilnahme, strafbarem Tötungsdelikt und gerechtfertigter Euthanasie, in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, S. 180; ebenso Merkel, Teilnahme am Suizid – Tötung auf Verlangen – Euthanasie, in: Hegselmann/Merkel (Hrsg.), Zur Debatte über Euthanasie, S. 82; siehe auch Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law, vol. 3, Harm to Self, S. 12 f.
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6. Fortbestehen der Schutzpflicht bei fehlender Freiverantwortlichkeit Die Schutzpflicht des Staates wirkt auch in Fällen weiter, in denen die durch den Grundrechtsträger gewollte Grundrechtsbeeinträchtigung Folge einer nicht freiverantwortlichen Entscheidung ist.212 In einem solchen Fall ist die Autonomie des Einzelnen nicht betroffen, da der Autonomie die Freiverantwortlichkeit der Entscheidung wesenseigen ist.213 In diesem Zusammenhang erlangen die faktischen Grenzen der Autonomie Bedeutung. Neben der grundsätzlichen Frage um idealistische Autonomieentwürfe, dem Gegensatz zwischen Entscheidungsfreiheit und Determinismus, geht es um die psychische Autonomie, der persönlichen Autonomiekompetenz, und die soziale Autonomie, der Abwesenheit von äußeren Zwängen.214 Eine weitere, allerdings im Regelfall unproblematische Voraussetzung für Autonomie ist das Bestehen einer Handlungsalternative.215 Im Fall des § 216 StGB bedeutet dies, dass der die Tötung Verlangende dies auch unterlassen können muss. Problematisch ist die Feststellung von Autonomiedefiziten, seien sie auf der Ebene der psychischen oder der sozialen Autonomie. Auf diese Form des weichen Paternalismus weist scheinbar auch Hoerster hin, wenn er Wünsche, die im Zustand der Urteilsunfähigkeit oder in mangelhafter Kenntnis der entscheidenden Umstände als nicht mit den Interessen des Individuums in Einklang stehend darstellt. Fraglich ist jedoch, wann man von einer fehlenden Autonomie des Sterbewilligen sprechen kann. III. Was bedeutet Autonomie? Autonomie bedeutet bereits in begrifflicher Hinsicht Selbstbestimmung.216 Abgesehen von dem Erfordernis der Handlungsalternative – sonst kann von einer Entscheidung nicht die Rede sein – setzt eine autonome Entscheidung voraus, dass sie im Einklang mit der eigenen Wertordnung getroffen wird. Als autonom kann nur eine Entscheidung gelten, die der Einzelne in Übereinstimmung mit seinem subjektiven Wertsystem getroffen hat.217 212
Vgl. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 221 f. Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 27; vgl. Papageorgiou, Schaden und Strafe, S. 225; vgl. auch Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, § 15 Rn. 29, der das Problem als Grundrechtsverzicht sieht. 214 Damm, Imperfekte Autonomie und Neopaternalismus, MedR 2002, S. 376. 215 Vgl. Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 189 f. 216 autos = selbst; nomos = Gesetz. 217 Amelung, Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willensmängeln bei der Einwilligung des Verletzten, S. 41. 213
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Voraussetzungen für echte Autonomie sind daher das umfassende Wissen über entscheidungsrelevante Tatsachen und eine (möglichst) zutreffende Einschätzung von künftigen Kausalverläufen (Prognosen).218 Das Wissen bildet die Basis für die an eigenen Wertmaßstäben ausgerichtete Entscheidung des Individuums. Hierin liegt auch der Grund für die Beachtlichkeit von Irrtümern, die im Grunde nicht die Entscheidung direkt beeinflussen, sondern nur dazu führen, dass eine Entscheidung auf einer falschen „Wissensgrundlage“ getroffen wird. Der Einzelne muss sich über die Folgen seiner Entscheidung im Klaren sein. Andernfalls kann er das Für und Wider seiner Entscheidung nicht abwägen und demnach keine Wertung anhand seines Wertsystems vornehmen. Des Weiteren könnte Zwang ihn zu einer Entscheidung bringen, die er anhand seiner Wertrangordnung nicht so treffen wollte. 1. Ideale Autonomie oder rechtliche Autonomie Diese beiden Faktoren, fehlerhafte Wissensgrundlage und Zwang, sind für eine autonome Entscheidung von größter Bedeutung. In Bezug auf die Wissensbasis einer Entscheidung wäre also die Entscheidung optimal autonom, die aufgrund von Allwissenheit sowohl in Bezug auf die relevanten Tatsachen, als auch in Bezug auf künftige Vorgänge getroffen wird. Eine derartige Allwissenheit steht dem Menschen jedoch nicht zur Verfügung. Es kann stets eine Situation eintreten, in der jemand eine Entscheidung trifft, die er bei Kenntnis aller Umstände nicht in dieser Weise getroffen hätte. Hier liegt dann auch kein bewusster Verzicht auf eine vernünftige Entscheidung vor. Eine derartige Entscheidung wäre genau genommen nicht autonom. Gleiches gilt für Beeinflussungen durch Zwänge. Zwang ist in unserer Lebenswirklichkeit ubiquitär. Echte Autonomie setzt aber eine Entscheidung voraus, die allein aufgrund eigener Ziel- und Zwecksetzungen getroffen wurde. Jeder Mensch ist jedoch Zwängen unterworfen.219 Er ist seinem Körper untertan220 und sowohl sozialen als auch wirtschaftlichen Zwängen unterworfen. Knodel führte zu Recht aus, „dass es eine absolute Freiheit in der Welt des Tatsächlichen überhaupt nicht gibt“.221 Insofern kann man festhalten, dass die ideale Autonomie in der Realität kaum anzutreffen sein wird.
218
Amelung, Über die Einwilligungsfähigkeit (Teil 1), ZStW 104 (1992), S. 548 f. Vgl. Kautzky, Euthanasie und Gottesfrage, S. 106 f.; Meyer, Ausschluss der Autonomie durch Irrtum, S. 133 f. 220 Hiermit soll nicht auf die Frage der Hirnforschung Bezug genommen werden, ob neuronale Impulse unser Handeln lenken. Vielmehr ist die Abhängigkeit des Menschen von seiner physischen Existenz gemeint, zu der Bedürfnisse nach Schlaf, Nahrung und so weiter gehören. Zur Hirnforschung vgl. Walter, Hirnforschung und Schuldbegriff, in: Hoyer/Müller/Pawlik/Wolter (Hrsg.), Festschrift für Schroeder, S. 131 ff. 219
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Unser Rechtssystem baut aber gerade darauf auf, dass der Mensch zu autonomen Entscheidungen fähig ist, für die er sich im Folgenden verantwortlich zeigt.222 Rönnau sieht in diesem Zusammenhang auch keinen Grund, einen Autonomiebegriff zu prägen, der in der Realität nicht gegeben ist. Die Strafrechtsdogmatik soll Entscheidungen nicht an Maßstäben messen, denen sie kaum jemals entsprechen.223 Wenn wahre Autonomie in der Realität nicht existiert, kann diese nicht Maßstab der Rechtsordnung sein. Als wesentlicher Bestandteil der Menschenwürde ist der Autonomie des Einzelnen durch den Staat ein gewisser Stellenwert einzuräumen. Wenn man den Maßstab einer nicht existenten idealen Autonomie anlegen würde, wäre die Autonomie in unserer Rechtsordnung jedoch bedeutungslos. Der Staat könnte unter Hinweis auf die fehlende Möglichkeit zur echten Autonomie die Selbstbestimmung des Einzelnen grenzenlos einschränken. Jeder Mensch hat aber das Recht, die Beschränkungen für seine Freiheit möglichst gering zu halten.224 Die Rechtsordnung muss diese Rechtsansprüche der Individuen korrelieren. Vor dieser durch Zwang und Unkenntnis gezeichneten Kulisse der Lebenswirklichkeit ist nun der Autonomiebegriff zu bestimmen. Wenn man vor diesem Hintergrund an der Idealdefinition der Autonomie festhielte, wäre nahezu jede Entscheidung als nicht autonom einzustufen.225 Die Grundsätze des weichen Paternalismus wären dann bedeutungslos und der Einzelne der uferlosen Bevormundung des Staates ausgesetzt. 2. Kriterien rechtlicher Autonomie Die Selbstverantwortung ist eine nicht zu eliminierende Kehrseite der Selbstbestimmung. Real existierende Selbstbestimmung ohne Selbstverantwortung ist nicht denkbar. Der Einzelne muss die Konsequenzen bestimmter Entscheidungen selbst tragen. Von diesem Prinzip geht auch die Rechtsordnung aus, da ansonsten eine Strafrechtsordnung gar nicht denkbar wäre. Daher ist der Grundsatz der Selbstverantwortung bei der Bestimmung der Autonomie zu beachten. Als Ergebnis einer Korrelation dieser beiden Begriffe ergibt sich die „rechtli-
221 Knodel, Der Begriff der Gewalt, München, Berlin 1962, S. 7; vgl. auch Schreiber, Ethische und rechtliche Probleme der Zwangsbehandlung, in: Marquard/Seidler/ Staudinger (Hrsg.), Medizinische Ethik und soziale Verantwortung, S. 73. 222 Vgl. Roth, Wir sind determiniert. Hirnforschung befreit von Illusionen, in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, S. 222; Frister, Die Struktur des „voluntativen Schuldelements“, S. 18 f. 223 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 224. 224 Kautzky, Die Freiheit des Sterbenden und die Pflicht des Arztes, in: Eid (Hrsg.), Euthanasie, S. 25. 225 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 230.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
che“ Autonomie, die der Staat auch bei seiner legislativen Aufgabe als Kriterium anzuwenden hat. Amelung stellt zur Feststellung fehlender Autonomie auf eine „Verzerrung“ des Wertesystems des Handelnden ab. Er bezieht sich dabei auf die Definition einer autonomen Entscheidung als am eigenen Wertsystem ausgerichtete Entscheidung. Wenn eine Verzerrung des Wertesystems einträte, habe der Einzelne die Entscheidung nicht so getroffen, wie es seinem subjektiven Wertesystem entspräche.226 Dies könne laut Amelung bei Geisteskranken oder Kindern der Fall sein. Problematisch an dieser Konzeption ist jedoch, dass es eine an objektiven Kriterien ausgelegte Unterstellung ist, zu behaupten, dass sich das Wertesystem des Handelnden verzerrt hätte und nicht etwa bloß einem Wandel unterzogen wurde. Zwar will Amelung bei erkrankten Erwachsenen auf die „prämorbide“ Wertrangordnung des Menschen zurückgreifen,227 die Möglichkeit einer Wandelung der subjektiven Wertrangordnung gesteht er dem Individuum aber augenscheinlich nicht zu. Dies ist eine nicht haltbare Annahme. Dem Individuum muss eine Neugestaltung seiner Wertrangordnung möglich sein, wenn man seine Freiheit nicht unangemessen beschneiden will. Als Kriterium einer „rechtlichen Autonomie“ greift Amelung auch zu kurz, wenn zur Rechtfertigung eines paternalistischen Eingreifens des Staates eine geistige Behinderung, eine psychische Erkrankung oder Minderjährigkeit verlangt.228 In der Strafrechtsdogmatik wird vor allem im Bereich der Einwilligungslehre nach Kriterien gesucht, einen Maßstab für diese Form der „rechtlichen“ Autonomie zu finden. Die Erkenntnisse aus dieser Diskussion könnten auch für die hier vorliegende Frage fruchtbar gemacht werden. 3. Die Betrachtung der Autonomie in der Einwilligungsdogmatik Nach herrschender Meinung beinhaltet das ernsthafte Verlangen des § 216 StGB eine Einwilligung, die aber durch die gesetzgeberische Entscheidung ausnahmsweise keine strafbarkeitsbefreiende, sondern nur eine privilegierende Wirkung entfaltet. Wenn schon keine wirksame Einwilligung vorläge, kann auch nicht von einem ernsthaften Tötungsverlangen gesprochen werden. Erst die Pönalisierung der Tötung auf Verlangen in § 216 StGB nimmt einer ansonsten wirksamen Einwilligung die unrechtsausschließende Kraft. Andernfalls wäre die privilegierende Wirkung des § 216 StGB nicht zu erklären. Im Grunde stellt diese objektive Schranke der Einwilligung den Eingriff in die Grundrechte des 226
Amelung, Über die Einwilligungsfähigkeit (Teil 1), ZStW 104 (1992), S. 551 f. Amelung, Über die Einwilligungsfähigkeit (Teil 1), ZStW 104 (1992), S. 553. 228 Vgl. Amelung, Vetorechte beschränkt Einwilligungsfähiger in Grenzbereichen medizinischer Intervention, S. 10. 227
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„Opfers“ dar. Das Institut der Einwilligung schützt normalerweise das mögliche „Opfer“ einer Straftat vor einem Grundrechtseingriff durch den Staat. Es gewährt dem Einzelnen das Recht, in die Verletzung seiner Rechtsgüter einzuwilligen und somit seine Verfügungsgewalt über eigene Rechtsgüter auszuüben. Da die Einwilligung ein notwendiger Bestandteil des ernstlichen Verlangens aus § 216 StGB ist, kann auf die Kriterien der Einwilligungsdogmatik zurückgegriffen werden, um Maßstäbe für eine rechtlich relevante Autonomie zu erlangen.229 Auch bei der Beurteilung einer Einwilligung geht es um die Frage der Autonomie des Einzelnen. Der Standpunkt einer Gesellschaft und ihrer Rechtsordnung zur Einwilligung war schon immer ein Indikator für die Abwägung im Spannungsfeld zwischen Individualismus und Gemeinschaftsgebundenheit. Insofern berührt die Einwilligungslehre daher auch das Verfassungsrecht.230 Die Klärung der Frage der Wirksamkeit der Einwilligung ist also per se schon in engem Zusammenhang mit der Freiverantwortlichkeit einer Entscheidung zu sehen. a) Keine Anwendung der Regeln der Willenserklärungen Durch die Einwilligung erklärt der Einwilligende, dass er auf den Schutz seines Rechtsgutes durch das Strafrecht verzichten will und sein Rechtsgut preisgeben möchte. Eine Heranziehung zivilrechtlicher Regeln zur Willenserklärung für die Einwilligung wird heute im Allgemeinen abgelehnt.231 Die Rechtsprechung führt dazu an, dass eine Einwilligung im Unterschied zur Willenserklärung keine Ausübung eines Verfügungsrechtes sei. Der Einzelne könne über Ehre, Leben und Gesundheit nicht in gleicher Weise verfügen wie über Rechtsverhältnisse und dingliche Rechte.232 Diese Auffassung deckt sich aber nicht mit den Ergebnissen der grundrechtlichen Betrachtung (siehe oben, 1. Kapitel B. I. 1., II. 1.). Der Einzelne hat grundsätzlich die Möglichkeit, auf die aus den Grundrechten fließenden Befugnisse zu verzichten. Hierin zeigt sich die Verfügungsmacht des Individuums.233 Zwar mag es Gründe geben, diese Verfügungsgewalt einzuschränken, Zweifel an der Möglichkeit zur Disposition sind aber nicht begründet. 229
Vgl. Meyer, Ausschluss der Autonomie durch Irrtum, S. 136 f., 221. Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil Teilband 1, § 17 III Rn. 36 ff. 231 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 176 f. 232 RGSt 41, S. 392 (395 ff.); BGHZ 29, S. 33 (36 ff.). 233 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, § 86 II 4 b, S. 907; Amelung, Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willensmängeln bei der Einwilligung des Verletzten, S. 13; Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, S. 14. 230
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Ein tragendes Argument gegen die direkte Anwendung der §§ 119 ff. BGB ergibt sich aus dem Unterschied der Normarten von Zivil- und Strafrecht. Das Zivilrecht wird von konstitutiven Normen beherrscht, die keine Ge- oder Verbote enthalten, sondern nur eine den Normen entsprechende Verhaltensweise definieren. Dem Erklärungsempfänger des Zivilrechts liefert die Willenserklärung eine rechtlich gesicherte Planungsgrundlage. Die Einwilligung bei den strafrechtlichen Ge- und Verbotsnormen hat lediglich informierende Bedeutung. Die regulative Norm wird aufgrund der Erklärung, dass kein Interesse an dem Schutz der Norm bestehe, aufgehoben.234 Es zeigen sich also derartige strukturelle Unterschiede, dass eine direkte Anwendung der zivilrechtlichen Regelungen ausscheidet. Im Fall einer planwidrigen Regelungslücke könnte aber eine analoge Anwendung der Regeln zur Willenserklärung geboten sein. Allerdings sind Schwebezustände, wie sie die Anfechtungsregeln mit ihrer ex-tunc-Wirkung vorsehen, im Strafrecht nicht hinnehmbar.235 Besonders deutlich wird es im Fall des § 216 StGB, da hier eine Anfechtung schon praktisch nicht in Betracht kommt. Des Weiteren ist der Einwilligung eine fehlende Bindungswirkung zueigen. Die Einwilligung ist jederzeit widerruflich. Eine analoge Anwendung der zivilrechtlichen Regeln zur Willenserklärung wäre aufgrund der gravierenden Unterschiede zwischen Einwilligung und der zivilrechtlichen Willenserklärung nicht zielführend und ist daher abzulehnen. b) Mangelfreie Willensbildung als Voraussetzung der wirksamen Einwilligung Tragendes Kriterium für die Wirksamkeit einer Einwilligung ist die Freiheit von Willensmängeln. Die Einwilligung schließt das Unrecht einer tatbestandlichen Handlung kraft der autonomen Disposition des Rechtsgutsträgers aus. Dementsprechend sind Willensmängel beachtlich, da sonst eine autonome Disposition gerade nicht vorliegt.236 Die Definition von Willensmangel sieht sich dem Problem gegenüber, dass der menschliche Wille nicht an Kriterien gemessen werden darf. Die personale Würde des Menschen und sein Recht auf selbstbestimmte Entfaltung verbieten es, Willensentschlüsse nach Qualitätsmerkmalen zu werten. Jeder Willensentschluss ist an sich gleichwertig.237 Eine Differenzierung nach Grundsätzen der Vernünftigkeit ist ausgeschossen. Demnach kann ein Willensmangel nur in Zu234 Amelung, Über die Einwilligungsfähigkeit (Teil 1), ZStW 104 (1992), S. 527 f.; Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 178. 235 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 179. 236 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 181. 237 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 186.
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sammenschau mit dem Vorgang, der dem Willensentschluss vorangeht, begründet werden. Der Wille ist Produkt eines Willensbildungsprozesses. Dieser Prozess wird durch Rahmenbedingungen beeinflusst. Analog zu den oben genannten Formen der Autonomie (psychische Autonomie und soziale Autonomie) ergeben sich demnach drei Formen der Willensmängel. Die Einwilligung könnte auf einem Irrtum beruhen, der seinen Ursprung in der Person des Einwilligenden selbst hat. Die Zustimmung kann aber auch durch eine täuschungsbedingte Fehlvorstellung oder durch Drohung und Gewalt herbeigeführt worden sein. Die beiden letztgenannten Willensmängel würden beide die soziale Autonomie betreffen, unterscheiden sich aber deutlich dadurch, dass im Fall der Drohung und Gewalt der Einwilligende sich bewusst dem äußeren Druck (Zwang) beugt. Die Irrtümer betreffen die Wissensbasis des Einwilligenden und verhindern auf diese Weise eine autonome Willensbildung. Auch Zwang kann die autonome Willensbildung unangemessen beeinflussen. Ein weiteres Erfordernis ist die Einwilligungsfähigkeit. Diese kann bei Geisteskranken oder Kindern aufgrund fehlerhafter Wissensbasis oder aufgrund von Zwängen einen Mangel an Autonomie herbeiführen. 4. Irrtümer als Willensmängel Die Beachtlichkeit von Irrtümern ist im Bereich der Willensmängel von besonderer Bedeutung. Die Rechtsordnung geht von einem rational denkenden Menschen aus und schützt daher die Wissensbasis der Person vor Beeinflussungen. Dies stellt aber nur ein Angebot an den Einzelnen dar. Es besteht kein Zwang, rational oder „vernünftig“ zu handeln. Es geht allein um subjektive Rationalität. Autonomie bedeutet, insbesondere eine Wertung an eigenen Maßstäben vorzunehmen.238 Es mag vorkommen, dass Personen bewusst Entscheidungen treffen, die nicht auf dem ihnen zur Verfügung stehenden Wissen beruhen. Derartige Entscheidungen wären aber immer noch autonom.239 Zunächst muss der Einwilligende sein Rechtsgut bewusst preisgeben. Er muss mit der Rechtsgutseinbuße einverstanden sein. Hier wird eine Parallele zur Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit hergestellt.240 Derjenige, der, wie bei der bewussten Fahrlässigkeit, auf den positiven Ausgang des Geschehens hofft, setzt sein Rechtsgut nur im Sinne einer Gefährdung ein. Eine Einwilligung in die Verletzung des eigenen Rechtsgutes liegt 238
Amelung, Über die Einwilligungsfähigkeit (Teil 1), ZStW 104 (1992), S. 547. Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 214 ff. 240 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Abschnitt Rn. 117; Göbel, Die Einwilligung im Strafrecht als Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts, S. 25; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 215. 239
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
dann gerade nicht vor (siehe oben, 3. Kapitel B. III.).241 Im Fall des § 216 StGB bedeutet das „Verlangen“ natürlich einen gerade auf die Vernichtung des Rechtsgutes gerichteten Willen. Aus diesem Erfordernis folgt, dass zumindest rechtsgutsbezogene Irrtümer beachtlich sind. Wer über die Dimension der Rechtsgutsverletzung irrt oder überhaupt nicht weiß, welches Rechtsgut verletzt wird, hat nicht wirksam eingewilligt. Aufgrund der mangelhaften Kenntnis bezieht sich die Einwilligung auf eine andere Rechtsgutsbeeinträchtigung als die bewirkte.242 Auch bei rechtsgutsbezogenen Erklärungsirrtümern fehlt das Einwilligungsbewusstsein. Die Einwilligung ist demnach unwirksam.243 Dem Umstand, dass der Erklärende den Irrtum des Erklärungsempfängers selbst verursachte, kann im Rahmen der objektiven und subjektiven (Erfolgs-)zurechnung genügend Rechnung getragen werden. Beim Strafrecht kommt es im Unterschied zum Zivilrecht gerade nicht auf die Ermöglichung einer weitgehenden Planung für den Erklärungsempfänger an.244 a) Beachtlichkeit von Motivirrtümern Im Fall von Motivirrtümern jedoch kennt der Einwilligende Art und Umfang der bevorstehenden Rechtsgutsbeeinträchtigung. Lediglich die Motive für seine Einwilligung hat er aufgrund von fehlerhaften Vorstellungen gebildet. Allerdings wird der vom Einwilligenden verfolgte Zweck verfehlt. Zweck der Einwilligung ist nur selten die Preisgabe des Rechtsgutes an sich. Meist wird das Rechtsgut eingesetzt, um einen anderen Zweck zu erreichen.245 Der angestrebte Zweck wurzelt im Allgemeinen in zwei Grundmotiven menschlichen Handelns: Lustgewinn und Vermeidung von Leid.246 Der Einzelne könnte sein Rechtsgut einsetzen, um ein eigenes Rechtsgut zu erhalten (Einsatz der körperlichen Unversehrtheit bei der lebensrettenden Operation), oder es findet ein Gütertausch statt, bei dem der Einwilligende ein fremdes Rechtsgut erhält. Teilweise erfolgt der Einsatz eines Gutes aber auch allein aus altruistischen Moti-
241
Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 192. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Abschnitt Rn. 117; Amelung, Über die Einwilligungsfähigkeit (Teil 1), ZStW 104 (1992), S. 549. 243 So zumindest die herrschende Meinung, vgl. aber Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 198 f. 244 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 198. 245 Amelung, Vetorechte beschränkt Einwilligungsfähiger in Grenzbereichen medizinischer Intervention, S. 10; Amelung, Über die Einwilligungsfähigkeit (Teil 1), ZStW 104 (1992), S. 545. 246 Aristoteles, Nikomachische Ethik, S. 52; Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, S. 75. 242
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ven. In Ausnahmefällen ist auch eine Rechtsgutspreisgabe aus Gleichgültigkeit denkbar.247 Im Fall von Motivirrtümern ist eine Entscheidung aber nicht als vollkommen autonom zu bezeichnen. Autonomie bedeutet Selbstbestimmung. Hieraus folgt, dass die Ziele der Rechtsgutspreisgabe von dem Rechtsgutsinhaber selbst gesetzt werden müssten, um autonom zu sein. Die Preisgabe ist autonom, wenn der Einzelne in Übereinstimmung mit seinem Wertesystem handelt.248 Daraus folgt, dass ein Motivirrtum die Freiverantwortlichkeit der Entscheidung entfallen lässt. Die Unkenntnis oder der Irrtum über entscheidungsrelevante motivleitende Umstände führt dazu, dass der Einzelne das Ziel seines Gutseinsatzes nicht nach eigenen Wertmaßstäben definieren kann. Im Bereich der Sterbehilfe gehört beispielsweise die Kenntnis über die Möglichkeiten der Palliativmedizin zu den entscheidungsrelevanten Umständen. An dieser Stelle wird von der Deutschen Hospiz Stiftung meist gerügt, dass vielen Menschen die Möglichkeiten in diesem Bereich nicht bewusst sind. Die hohe Anzahl der Befürwortung der Sterbehilfe rühre aus dieser Unkenntnis.249 Grundsätzlich gehören auch fehlerhafte Prognosen zu den Motivirrtümern. Auch hier irrt der Entscheidende über das Ziel seines Gutseinsatzes, sofern der Irrtum auf gegenwärtigen Entscheidungsgrundlagen beruht.250 Zur rechtlichen Autonomie gehört aber auch die Selbstverantwortung, so dass man annehmen könnte, dass der Einzelne die Konsequenzen seiner Handlung tragen muss.251 Unklar ist daher die Folge, die aus dieser Erkenntnis für die Wirksamkeit einer Einwilligung gezogen werden kann. Die herrschende Meinung hält jeden Mangel an Autonomie und damit auch jeden Motivirrtum für beachtlich. Eine Einwilligung ist dann unwirksam. Eine starke Strömung in der neueren Literatur differenziert allerdings zwischen strafrechtlich beachtlichen und strafrechtlich unbeachtlichen Willensmängeln.252 Arzt stellt allein auf die Rechtsgutsbezogenheit des Willensmangels ab. Nur die Irrtümer, die dem Einwilligenden den Blick auf den Umfang der Rechtsgutsbeeinträchtigung verstellen, sind danach relevant. Wenn sich der Einwilligende nur über den Zweck der Gutspreisgabe irrt, bleibt der Eingriff ohne strafrecht247 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 203 ff.; Amelung, Über die Einwilligungsfähigkeit (Teil 1), ZStW 104 (1992), S. 546. 248 Amelung, Vetorechte beschränkt Einwilligungsfähiger in Grenzbereichen medizinischer Intervention, S. 10; Amelung, Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willensmängeln bei der Einwilligung des Verletzten, S. 41. 249 Vgl. Emnid-Umfrage der Deutschen Hospiz Stiftung v. 5.7.2000, siehe auch http://www.hospize.de/texte/emnid2000.htm [6.1.2007]. 250 Amelung, Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willensmängeln bei der Einwilligung des Verletzten, S. 58. 251 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 205 f. 252 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 207 f.
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liche Konsequenzen.253 Dabei stellen Einwilligungen aufgrund einer Drohung nach Arzt immer rechtsgutsbezogene Willensmängel dar, weil der entgegenstehende Wille gebrochen werde.254 Auf diese Weise möchte Arzt eine „Rechtsgutsvertauschung“ verhindert. Durch eine Rechtsgutsvertauschung könnte es geschehen, dass der Täter nicht für die Verletzung des eigentlichen Rechtsgutes bestraft wird, – mit dieser Verletzung war der Einwilligende ja gerade einverstanden – sondern er wird für die fehlende Realisierung des Einwilligungszieles bestraft.255 Amelung gibt aber gegen das Erfordernis der Rechtsgutsbezogenheit zu bedenken, dass durch die Erwartung des Einwilligenden in Bezug auf den verfolgten Zweck eine Verknüpfung zwischen Einwilligung und Zweck stattgefunden hat. Der Einwilligende hat diese gerade zu einem bestimmten Zweck erteilt. Insbesondere bei bewussten Täuschungen ist diese Nichtbeachtung der Ziele einer Einwilligung nicht hinnehmbar.256 Auch hat sich der Einwilligende ja nicht grundsätzlich mit der Rechtsgutsverletzung einverstanden erklärt, sondern er wollte diese nur um einen bestimmten Preis, nämlich der Zweckerreichung willen, hinnehmen. Eine Rechtsgutsvertauschung findet somit nicht statt. Zumindest wenn es wie hier allein um die Frage der rechtlich beachtlichen Autonomie geht, wird man auch Motivirrtümer als beachtlich ansehen müssen. Es geht nicht darum, dass der Täter wegen der Verletzung eines bestimmten Rechtsgutes bestraft wird. Eine eventuelle Vertauschung ist damit nicht von Interesse. Auch Motivirrtümer können zur Folge haben, dass eine Entscheidung nicht so getroffen wurde, wie der Einzelne es anhand seiner Wertordnung tun wollte. Sie sind also beachtlich. b) Vertrauensschutz in gegebene Einwilligungen Bei Irrtümern, die ihren Ursprung allerdings allein in Fehlvorstellungen der einwilligenden Person haben, also nicht von außen verursacht wurden, wird teilweise versucht, das durch die Einwilligung gesetzte Vertrauen zu schützen. Eingedenk der Unmöglichkeit echter Autonomie wird die Einwilligung aufgrund der Verantwortung des Einzelnen für den Umgang mit seinen Gütern als rechtlich autonom angesehen. Auf diese Weise kann der Konflikt zwischen idealer Autonomie und real möglicher Autonomie gelöst werden. Der Einwilligende muss für Entscheidungen, die er trotz gewisser Wissensmängel getroffen hat, 253 Arzt, Willensmängel bei der Einwilligung, S. 15 ff.; Lenckner in: Schönke/ Schröder, StGB, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 46. 254 Arzt, Willensmängel bei der Einwilligung, S. 32. 255 Amelung, Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willensmängeln bei der Einwilligung des Verletzten, S. 22 f. 256 Amelung, Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willensmängeln bei der Einwilligung des Verletzten, S. 21 f.
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die Verantwortung übernehmen, sofern die Wissensmängel nicht vom Täter verursacht wurden.257 Amelung wendet gegen diesen Ansatz ein, dass eine Abwägung zwischen den Interessen des Täters und des Opfers im Strafrecht auch im Bereich der Einwilligung nicht erfolgen müsse. Zwar handele der Täter im Falle einer nicht wirksamen Einwilligung rechtswidrig, der besonderen Situation könne aber durch die Zurechnungs- oder schuldausschließenden Irrtumslehren Rechnung getragen werden.258 Eine Entscheidung, die unter einem Erklärungsmangel leidet, bilde die Wertentscheidung des Einwilligenden nicht ab und sei daher nach Amelung unwirksam.259 Für die hier erhebliche Frage, ob der Staat in die Freiheitssphäre des Individuums eingreifen darf, haben diese Argumente für eine Differenzierung zwischen tatsächlicher Autonomie und rechtlicher Autonomie ohnehin keine Bedeutung. Der Einwand, dass die Interessen des Opfers einseitig berücksichtigt werden, trägt hier nicht.260 Im Fall einer gesetzlichen Regelung wie der des § 216 StGB ist es angezeigt, allein die Interessen des Opfers zu berücksichtigen, da der Täter kein rechtlich zu billigendes Interesse an der Tötung des Opfers haben kann. Auch der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes greift nicht, da dieser ja gerade durch die gesetzliche Regelung geschaffen wird. Hier zeigt sich also ein gravierender Unterschied zwischen der Bewertung der Freiverantwortlichkeit im Rahmen des § 216 StGB und im Rahmen der allgemeinen Einwilligung. In Bezug auf die Frage, ob der Staat weich paternalistisch eingreifen kann, ist daher nicht ohne weiteres auf die rechtliche Bewertung der Autonomie im Sinne der Einwilligungslehre zurückzugreifen. Bei dieser kriminalpolitischen Frage geht es allein um den Eingriff in die Selbstbestimmung des „Opfers“. Wenn schon tatsächlich keine Selbstbestimmung besteht, liegt auch kein Eingriff in die Autonomie vor. Vertrauensschutzgesichtspunkte des Täters sind hier irrelevant. Der Täter weiß, dass er sich auf eine Einwilligung des Sterbewilligen nicht verlassen darf. Er hat auch kein legitimes Interesse an der Tötung des Sterbewilligen. Ein Bedürfnis, den Begriff einer rechtlichen Autonomie einzuführen, besteht aus diesem Grund also nicht. Wenn also der Einzelne über den Zweck seines Todes irrt oder irrtümlich eine Erklärung abgibt, die er so nicht abgeben wollte, könnte der Staat demnach paternalistisch lenkend eingreifen 257 Vgl. Roxin, AT 1, § 13 G Rn. 111 f.; Hirsch, in: Leipziger Kommentar StGB, Band 2, Vor § 32, Rn. 122; in Bezug auf Erklärungsirrtümer: Arzt, Willensmängel bei der Einwilligung, S. 48 ff. 258 Amelung, Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willensmängeln bei der Einwilligung des Verletzten, S. 34. 259 Amelung, Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willensmängeln bei der Einwilligung des Verletzten, S. 47. 260 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 210.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
und seiner Schutzpflicht gegenüber dem Leben nachkommen, selbst wenn der Irrtum nicht von außen provoziert wurde. Der weiche Paternalismus ist keine Verletzung der Autonomie, sondern schützt vielmehr die autonome Willensbetätigung des Individuums.261 Obwohl die Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes hier nicht tragen, beansprucht das Selbstverantwortungsprinzip jedoch weiterhin Geltung. Wie oben dargelegt, ist eine Anerkennung der Selbstverantwortung essentiell, um den Einzelnen vor einem überbordenden Paternalismus zu schützen. Der Vertrauensschutz kann lediglich in der hier entscheidenden Frage die Waagschale nicht in Richtung Selbstverantwortung neigen. 5. Zwang als Autonomiedefizit Zwänge und Drohungen sind jenseits der Einwilligungsfähigkeit vor allem von außen kommende Einflüsse. Welche Arten von Zwängen rechtlich beachtlich sind, ist im Rahmen der Einwilligung umstritten. Zweifelsohne auch rechtlich autonomieausschließend wirkt absoluter Zwang. Wenn dem Einzelnen durch absoluten Zwang Handlungsalternativen vernichtet werden, fehlt schon die Grundvoraussetzung für die willensgetragene Ausübung personaler Freiheit.262 Durch kompulsiven Zwang jedoch wird nicht die Willensbetätigung unmöglich gemacht, sondern es wird über die Psyche des Opfers auf die Willensbildung eingewirkt.263 Die Handlungsalternativen werden derart mit Kosten belegt, dass eine abwägende Entscheidung des Opfers nur in einer bestimmten Richtung erfolgen kann. Die Autonomie des Einzelnen wäre dann ebenfalls eingeschränkt.264 Es kann aber nicht Aufgabe des Staates sein, den Menschen vor jeglicher Art von kompulsiven Zwängen zu befreien. Ebenso kann nicht schon dann ein Eingreifen des Staates gerechtfertigt sein, wenn ein Individuum eine Entscheidung aufgrund von kompulsiven Zwängen trifft. Wenn jemand eingedenk einer schweren Krankheit in die einzig mögliche lebensrettende Behandlung einwilligt, hat er dies getan, weil ihn seine Krankheit dazu zwang. Die Kosten einer anderweitigen Entscheidung erschienen ihm zu hoch. Ein paternalistisches Einschreiten in einer solchen Situation wäre aber mit unserer die Freiheit betonenden Verfassung nicht vereinbar. Auch eine gegenteilige Entscheidung müsste vom Staat akzeptiert werden. Der Handelnde übt seine „Freiheit in der (Rest-) 261 262 263 264
Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 28. Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 233. Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 234. Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 236 f.
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Freiheit“ aus.265 Hier greift das Selbstverantwortungsprinzip wieder voll durch. Der Einzelne hat die Freiheit, sich auch anderweitig zu entscheiden, allein der Preis für diese Entscheidung ist ihm zu hoch. Im Bereich seines durch Zwänge bestimmten Entscheidungsspielraums handelt er also gleichsam „beschränkt-autonom“. Das gleiche gilt für psychisch vermittelte Zwänge. Auch hier bleibt dem Individuum die Möglichkeit, sich über diese kompulsiven Zwänge hinwegzusetzen. Erst wenn diese Zwänge pathologische Qualitäten erreichen, wird man von einem Ausschluss der Autonomie im rechtlich relevanten Sinne sprechen können. Rönnau stellt unter Hinweis auf die Aufgabe des Strafrechts als Instrument zur Regulierung sozialschädlichen menschlichen Verhaltens auf Zwänge ab, die von Menschen hervorgerufen oder trotz rechtlichem Handlungsauftrag (partiell) nicht beseitigt wurden.266 Kühl spricht von objektiven Zwängen, welche die Wirksamkeit einer Einwilligung unberührt lassen.267 Diese Differenzierung zielt aber auf die Rolle des Täters als denjenigen ab, der in die Autonomie des Opfers eingreift. Hier geht es um einen Eingriff des Staates in die Autonomie des Opfers. Dennoch ist aber die Schutzpflicht des Staates, sofern er ihr durch Strafrecht nachkommt, nur eine Schutzpflicht vor sozialschädlichem Verhalten. Das Strafrecht ist nicht Instrument des Staates, um den Einzelnen vor „allgemeinen Lebensrisiken“ zu schützen.268 Der Schutz vor sozialschädlichem Verhalten gebietet es hingegen, kompulsive Zwänge, sofern sie von Menschen verursacht oder trotz Handlungspflicht nicht gemildert werden, als rechtlich erheblich zu qualifizieren.269 Diese Zwänge müssen aber eine derartige Qualität erreichen, dass man dem Einzelnen im Sinne des Selbstverantwortungsprinzips eine selbstständige Kompensierung nicht mehr zumuten muss. Schon der Begriff Zwang impliziert ja eine über die bloße Beeinflussung hinausgehende Qualität. Neben der Einwilligungsdogmatik gibt es auch noch andere Bereiche des Strafrechts, die Bezug zur Autonomie aufweisen. Auch diese könnten vor allem im Bereich von Drohung und Zwang für die Frage nach der notwendigen Intensität von Zwang nutzbar gemacht werden. Meist wird im Rahmen der Abgrenzung zwischen mittelbarer Täterschaft und Anstiftung auf das Verantwortungsprinzip zurückgegriffen.270 Danach ist der Hintermann dann nicht als Täter verantwortlich, wenn der unmittelbare Täter 265
Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 230 ff. Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 230 f. 267 Kühl, Strafrecht AT, § 9 Rn. 35. 268 Vgl. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 381. 269 Vgl. hierzu Herzberg, der den Fall einer relativen Freiverantwortlichkeit anführt. Herzberg, Straffreie Beteiligung am Suizid und gerechtfertigte Tötung auf Verlangen, JZ 1988, S. 183. 266
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vollverantwortlich (schuldfähig ohne Irrtum) handelte. Wenn man diesen Maßstab hier anlegen würde, wären Drohungen und Zwänge nicht von Bedeutung. Der entscheidende Unterschied liegt aber auch hier darin, dass im Fall der mittelbaren Täterschaft die Frage beantwortet werden muss, wer (und in welchem Umfang) strafrechtlich für die Tat verantwortlich gemacht werden kann. Diese Frage ist von dem hier vorliegenden Problem, ob der Staat in die Freiheit des Einzelnen eingreifen kann, zu unterscheiden. Jegliche die Autonomie beeinflussenden Situationen können aber auch nicht zu einer Berechtigung des Staates führen, da ein staatliches Eingreifen sonst in nahezu jeder Situation möglich wäre. Nahe liegender als die Anwendung der Überlegungen zur mittelbaren Fremdverletzung ist die Anwendung der Erwägungen zur abgenötigten Selbstverletzung. Der sich selbst Verletzende kann, wie auch der die Tötung Verlangende, ohnehin nicht strafrechtlich verantwortlich gemacht werden. Roxin bejaht eine mittelbare Täterschaft des Hintermanns nur dann, wenn der sich selbst Schädigende in einer Zwangslage handelt, die der des § 35 StGB entspricht. Die „bloße“ Drohung mit einem empfindlichen Übel kann demnach noch keinen Ausschluss der Verantwortlichkeit bewirken.271 Herzberg lässt die bloße Drohung bereits genügen und zieht als Maßstab die Grenze des § 240 StGB heran.272 Für diese Sichtweise spricht, dass § 240 StGB Situationen beschreibt, in denen die Selbstbestimmung des Einzelnen durch äußere Einflüsse verletzt wird und daher von der Rechtsordnung geschützt werden muss. Ähnlich wie Roxin stellt Jakobs eine Verbindung zu Fällen her, in denen das Opfer zu einer Straftat gezwungen würde und wendet § 34 StGB an.273 Die von Jakobs dann anzustellende Abwägung zwischen den Interessen führt im Fall des § 216 StGB dazu, dass eine fehlende Freiverantwortlichkeit nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht käme. Das Leben als Höchstwert der Rechtsordnung kann nicht im Rahmen einer Güterabwägung sinnvoll eingesetzt werden. Es läge stets eine Eigenverantwortlichkeit des Sterbewilligen vor. Sowohl dem Ansatz Roxins als auch dem Ansatz Jakobs ist entgegenzuhalten, dass eine Übertragbarkeit der Grundsätze von §§ 34, 35 StGB auf den vorliegenden Fall bedenklich ist. Die Situationen sind nicht ohne weiteres vergleichbar, geht es doch nicht um eine Rechtfertigung oder einen Schuldausschluss in Bezug auf eine vom Sterbewilligen begangene Handlung. Der 270 Göbel, Die Einwilligung im Strafrecht als Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts, S. 104; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 161 ff. 271 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 688. 272 Herzberg, Beteiligung an einer Selbsttötung oder tödlichen Selbstgefährdung als Tötungsdelikt (Teil 4), JA 1985, S. 336 f. 273 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 21. Abschnitt Rn. 88.
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Maßstab des § 240 StGB hingegen zeigt eine Konstellation, in welcher der Staat die Selbstbestimmung des Einzelnen grundsätzlich schützt. Es liegt daher nahe, diesen auch hier anzulegen. 6. Mängel der Autonomiekompetenz Schließlich setzt eine rechtlich autonome Entscheidung die Fähigkeit voraus, überhaupt eine wertende Entscheidung in Bezug auf die Preisgabe seines Rechtsgutes zu treffen. Insbesondere bei Entscheidungen von psychisch Kranken, Kindern oder Jugendlichen kann eine Freiverantwortlichkeit wegen fehlender Autonomiekompetenz entfallen. In einem solchen Fall ist die Fähigkeit zur Selbstbestimmung derart eingeschränkt, dass der Staat fürsorgerisch eingreifen und somit seiner Schutzpflicht in einem höheren Maße nachkommen darf, als es ihm bei vollverantwortlich handelnden Menschen möglich wäre.274 Hier lebt die Schutzpflicht des Staates auf, weil auch ihre Fähigkeit zur Selbstverantwortung eingeschränkt ist und somit die Wechselbeziehung zwischen Selbstbestimmung und Selbstverantwortung eine untergeordnete Rolle spielt. Im Falle eines Ausschlusses der Steuerungsfähigkeit kann sich die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sogar zu einer Handlungspflicht verdichten.275 Problematisch ist die Feststellung der fehlenden Autonomiekompetenz. Die Grundsätze aus §§ 19–21 StGB sind nicht ohne weiteres als Kriterien anzuwenden, weil es bei der Verantwortlichkeit des „Opfers“ des § 216 StGB nicht um die Fähigkeit geht Verbote zum Schutz fremder Rechtsgüter zu beachten, sondern den Wert eigener Rechtsgüter richtig einzuschätzen.276 Dennoch fehlt die Freiverantwortlichkeit zweifellos, wenn der Handelnde für seine Tat nach § 20 StGB nicht verantwortlich ist. In Bezug auf Jugendliche ist auch nicht ohne weiteres die Grenze der Volljährigkeit maßgeblich. Vielmehr geht es um die Einsichtsfähigkeit des konkreten Individuums.277 So hat der BGH auch den Suizidwillen eines 16-Jährigen für beachtlich gehalten.278
274 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 70; vgl. auch BVerfGE 58, 208, 225. 275 Lorenz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts VI, § 128 Rn. 67. 276 Amelung, Über die Einwilligungsfähigkeit (Teil 1), ZStW 104 (1992), S. 525 f. 277 Schneider, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar StGB Band 3, § 216, Rn. 21; vgl. Amelung, Über die Einwilligungsfähigkeit (Teil 1), ZStW 104 (1992), S. 527. 278 BGHSt 19, S. 135 (137).
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
IV. Fehlende Freiverantwortlichkeit im Rahmen des § 216 StGB 1. Folgen des Mangels an Freiverantwortlichkeit Für Hoerster folgt aus den oben genannten Mängeln der Freiverantwortlichkeit, dass die Wünsche des Sterbewilligen nicht mit den langfristigen Interessen übereinstimmen. In Bezug auf den § 216 StGB ergibt sich daher, dass nach den Grundsätzen des weichen Paternalismus ein Einschreiten in Fällen der fehlenden Freiverantwortlichkeit legitim sei. Er führt insbesondere Fälle an, in denen der Sterbewillige die Konsequenzen seines Todeswunsches aufgrund von Fehlvorstellungen nicht voll erfassen kann oder im Zustand der Urteilsunfähigkeit handelt, weil Fälle des Zwangs im Sinne von Drohungen ohnehin nicht von § 216 StGB erfasst werden. Der Todeswunsch des Sterbewilligen ist laut Hoerster häufig ein kurzfristiger Wunsch, der den langfristigen Interessen des Individuums schaden würde. Dies zeige sich bei Suizidenten, die häufig für ihre Rettung dankbar sind und ihren Todeswunsch im Nachhinein als unsinnig einstufen. Ein Todeswunsch könne in vielen Fällen auf Depressionen beruhen. Selbst wenn diese nicht so stark wären, dass an der Urteilsfähigkeit gezweifelt werden könnte, so beruhe ihr Todeswunsch nach Hoerster dennoch auf einer Fehleinschätzung, nämlich der Annahme, ihr Leben würde sich in Zukunft nicht bessern.279 Hoerster zählt also auch Motivirrtümer zu den autonomieausschließenden Willensmängeln. Allerdings ist die Beurteilung, ob der Sterbewillige später ein besseres Leben haben wird, ohne hart paternalistische Wertung nicht möglich. Zum einen kann man nicht wissen, ob das Leben des Sterbewilligen objektiv „besser“ wird, zum anderen ist eine Beurteilung, ob der Sterbewillige diese Situation auch subjektiv als „glücklich“ empfinden wird. Wenn also keine Hinweise darauf bestehen, dass der Einzelne eine Bewertung der Situation nicht rational durchführen kann, weil er beispielsweise unter Depressionen leidet, seine Urteilsfähigkeit also getrübt ist, darf eine Bewertung des Todeswunsches nicht erfolgen. Dementsprechend werden auch fehlerhafte Prognosen in Bezug auf die Wirksamkeit einer Einwilligung nur dann als rechtlich bedeutsam angesehen, wenn sie auf falschen Tatsachenannahmen in der Gegenwart beruhen. Hoerster nimmt aber dennoch eine Bewertung des Todeswunsches vor. Er differenziert zwischen Sterbemotiven, die dem Leben nur äußerlich und nur vorübergehend entgegenstehen und solchen, die das Leben des Rechtsgutsträgers irreversibel „wertlos“ machen.280 Nur wenn Motive der letztgenannten Art vorlägen, sei eine Einwilligung beachtlich.
279 Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, S. 32; wohl auch Herzberg, Sterbehilfe als gerechtfertigte Tötung im Notstand?, NJW 1996, S. 3047. 280 Hoerster, Warum keine aktive Sterbehilfe?, ZRP 1988, S. 3 f.
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Dies offenbart aber die grundsätzliche Schwäche der paternalistischen Ansätze. Die Differenzierung zwischen bloßen Wünschen und „langfristigen“ Interessen ist im weichen Paternalismus, der dem Einzelnen ja eigentlich die subjektive Definitionsmacht bezüglich eigener Interessen zuspricht, problematisch. Notwendig ist eine Bewertung der Interessen und Wünsche des Sterbewilligen am Kriterium der Nachvollziehbarkeit, welche Hoerster auch vornimmt. Er geht davon aus, dass Menschen, sofern sie an Depressionen leiden, kein Interesse an ihrer Tötung hegen, weil sich ihre Situation in Zukunft bessern könnte. Im Fall moribunder Patienten geht er aufgrund des bevorstehenden Todes davon aus, dass sie hinter ihrem aktuellen Todeswunsch kein Interesse mehr am Weiterleben hegen. Dies unterwirft das Individuum wiederum einer fremden Vernunftshoheit, obwohl Hoerster selbst betont, dass die Frage, „ob ein bestimmtes Leben lebensunwert oder wertlos ist, [. . .] nur vom Standpunkt der Wertungen, d. h. der Ziele, Ideale und Präferenzen seines Trägers aus beurteilt werden [kann]“.281 Benachteiligt sind damit diejenigen, deren Motive für die Mehrheit schwer nachvollziehbar sind. Dies erkennt Hoerster, nimmt es jedoch in Kauf.282 Überhaupt sind die langfristigen Interessen schwer auszumachen. Wilms und Jäger kritisieren zu Recht, dass man auch ein generelles Interesse des Einzelnen am Weiterleben annehmen könnte.283 Eine solche Abwägung am Maßstab der Vernünftigkeit ist aus grundrechtlicher Sicht unzulässig, weil dem Einzelnen nicht oktroyiert werden darf, welche Interessen er verfolgt. Eine paternalistische Bevormundung ist nur dort unbedenklich, wo der Rechtsgutsträger zu einer freiverantwortlichen Disposition nicht in der Lage ist.284 Jegliche darüber hinausgehende Bevormundung greift in unzulässiger Weise in seine Autonomie ein. Hoersters Ansatz läuft damit zum Teil auf einen „harten Paternalismus“ hinaus, da er eine Bewertung der Todeswünsche des Sterbewilligen an objektiven Kriterien vornimmt.285 Unbedenklich ist ein Eingreifen des Staates nur dort, wo man eine fehlende Freiverantwortlichkeit aufgrund von psychischen Defiziten und Fehlvorstellungen, Irrtümern oder Zwang anhand konkreter Hinweise annehmen kann.
281
Hoerster, Warum keine aktive Sterbehilfe?, ZRP 1988, S. 4. Vgl. Hoerster, Rechtsethische Überlegungen zur Freigabe der Sterbehilfe, NJW 1986, S. 1790: „. . . handelt er im Sinne seiner eigenen langfristigen Interessen durchaus rational, wenn er es [das Leben] preisgibt – nach genau den Maßstäben von „Rationalität“, nach denen jemand irrational handelt, wenn er etwa durch leichtsinnigen Drogenkonsum die Chance auf ein erfülltes Leben vorzeitig zerstört.“ 283 Wilms/Jäger, Menschenwürde und Tötung auf Verlangen, ZRP 1988, S. 45. 284 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 110. 285 Vgl. Duttge, Sterbehilfe aus rechtsphilosophischer Sicht, GA 148 (2001), S. 170 f. 282
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
2. Generell fehlende Freiverantwortlichkeit Problematisch ist vor diesem Hintergrund, dass § 216 StGB jedes Tötungsverlangen als unbeachtlich einstuft. Einige Autoren halten konsequenterweise den Todeswunsch eines Menschen per se für nicht freiverantwortlich. Wilms und Jäger wollen zwar das „generelle Interesse“ des Einzelnen am Weiterleben nicht ernsthaft annehmen, Bringewat hingegen ist der Ansicht, dass der Selbsttötungswille und damit auch der Todeswunsch an sich generell als krank angesehen werden müsse und aus diesem Grund eine Freiverantwortlichkeit stets entfiele.286 Ein Tötungsverlangen, das aufgrund eines pathologischen Zustandes geäußert wurde, ist bereits als Einwilligung ungeeignet, da schon die Autonomiekompetenz nicht vorlag. Bringewat bezieht sich dabei auf von Ringel287 angestellte Untersuchungen.288 Anhand von Syndromen, wie situative Einengung, Empfinden einer ausweglosen Lage oder Aggressionsumkehr gegen sich selbst, die bei nahezu allen Suizidenten in der letzten Phase vor der Tötung zu beobachten waren, wurde eine krankhafte Störung angenommen.289 Diese müssen nicht notwendigerweise die in § 20 StGB verlangte Intensität erreichen. Bereits das Vorliegen des präsuizidalen Syndroms mache den Sterbewilligen anfällig für Beeinflussungen und zeige die fehlende Fähigkeit zur Autonomie.290 Auch wenn der Todeswunsch häufig pathologischen Ursprungs sein mag, wäre die Konsequenz, Sterbewillige pauschal als einwilligungsunfähig anzusehen, aber zu weitgehend.291 Simson hat in diesem Zusammenhang in empirischer Hinsicht auf die signifikant unterschiedlich hohe Suizidquote in Europa verwiesen.292 In soziologischer Sicht hat sich gezeigt, dass bestimmte Lebensumstände einen Suizid begünstigen.293 Neuere Forschungen bezweifeln die 286 Im Fall des § 216 StGB spricht er von einem „quasi-präsuizidalen Syndrom“. Vgl. Bringewat, Psychologische, medizinische und soziologische Aspekte von Suizid und Euthanasie, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 223; Bringewat, Unbeachtlicher Selbsttötungswille und ernstliches Tötungsverlangen – ein Widerspruch?, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 375; Bringewat, Strafbarkeit der Beteiligung an fremder Selbsttötung, ZStW 87, S. 637. 287 Ringel, Neue Gesichtspunkte zum Präsuizidalen Syndrom, in: Ringel (Hrsg.), Selbstmordverhütung, S. 52 ff. 288 Bringewat, Unbeachtlicher Selbsttötungswille und ernstliches Tötungsverlangen – ein Widerspruch?, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 368, 375; von Münch, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, in: Stödter/Thieme (Hrsg.), Hamburg – Deutschland – Europa, S. 124 f. 289 Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 159. 290 Meyer, Ausschluss der Autonomie durch Irrtum, S. 231 f. 291 Vgl. Bottke, Suizid und Strafrecht, S. 98. 292 Simson, Die Suizidtat, S. 20. 293 Siehe bereits Stengel, Grundsätzliches zum Selbstmordproblem, in: Ringel (Hrsg.), Selbstmordverhütung, S. 12 ff.
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Nachweisbarkeit eines suizidspezifischen Ausschlusses der Freiverantwortlichkeit. Im Rahmen der Depressionsforschung wurden den Erscheinungsformen des präsuizidalen Syndroms auch abgesprochen, eine derartige Intensität erreichen zu können, dass man von einem Ausschluss der Steuerungsfähigkeit ausgehen müsste. Heute wird das Problem des Suizids in psychologischer Hinsicht als eine multifaktorielle, äußerst komplexe Problemlage gesehen, die eine Monokausalität, wie sie Ringel annahm, nicht mehr zulässt.294 Wenn man davon ausginge, dass ein Todeswunsch stets als pathologisch motiviert und damit unwirksam angesehen werden müsste, wäre auch das ernstliche Tötungsverlangen des Tatbestandes des § 216 StGB bedeutungslos, weil niemals ein Tötungsverlangen ernstlich sein könnte.295 Auf der anderen Seite gehören Fälle in denen der Todeswunsch einer nicht freiwilligen Willensentscheidung entsprang, nicht in den Anwendungsbereich des § 216 StGB, da kein ernstliches Tötungsverlangen vorläge. Man könnte allerdings den § 216 StGB als eine Privilegierung der Täter ansehen, die an eine wirksame Einwilligung glaubten und damit ein geringeres Gesinnungsunrecht verwirklichten. In einem derartigen Fall käme es auf eine wirksame Einwilligung gerade nicht an. Wenn aber davon ausgegangen wird, dass jeder Todeswunsch nicht freiverantwortlich zustande kam, ist diese Privilegierung kaum zu erklären, da auch der Täter davon wissen müsste. Eine Privilegierung aufgrund einer derart falschen Vorstellung des Täters kann kaum erklärt werden. Praktisch wird auch gerade das Kriterium der Ernstlichkeit des Todeswunsches im Bereich des Suizids herangezogen, um eine Freiverantwortlichkeit festzustellen.296 Die herrschende Meinung geht dementsprechend nicht davon aus, dass ein Todeswunsch in jedem Fall nicht freiverantwortlich zustande gekommen sei. Sie geht ausdrücklich davon aus, dass im ernsthaften Tötungsverlangen eine Einwilligung in die Tötung enthalten ist. Diese Einwilligung ist Grund für die mögliche Privilegierung des Täters des § 216 StGB. Insgesamt ist es höchst bedenklich, in einem in der Psychologie derart umstrittenen Feld wie der Frage der Freiverantwortlichkeit von menschlichem Handeln einen „vorjuristischen Krankheitsbegriff“ zu propagieren, mit Hilfe dessen sich sozial unerwünschte Handlungen als krankhaft definieren lassen und somit ihrer grundrechtlichen Garantie beraubt werden können.297 Über die Definition des Todeswunsches als „krankhaft“ wird dann die Autonomie des Sterbewilligen nur scheinbar grundrechtskonform eingeschränkt. 294
Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 159 f. Bringewat, Unbeachtlicher Selbsttötungswille und ernstliches Tötungsverlangen – ein Widerspruch?, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 369; Schmitt, Strafrechtlicher Schutz des Opfers vor sich selbst?, in: Schroeder/Zipf (Hrsg.), Festschrift für Maurach, S. 118. 296 Vgl. Bottke, Suizid und Strafrecht, S. 102 ff. 297 Bottke, Suizid und Strafrecht, S. 99. 295
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Hassemer sieht einen anderen Grund für den generellen Ausschluss der Freiverantwortlichkeit in Bezug auf Tötung auf Verlangen. Aufgrund des Phänomens des „verhüllten Todes“ könne der Einzelne keine freiverantwortliche Entscheidung über seinen Tod treffen, weil er die Tragweite seiner Entscheidung nicht überblicken könne.298 Der Staat greife mithin paternalistisch ein, um das Individuum vor den Folgen einer Entscheidung, die er ohne ihre Tragweite zu verstehen getätigt hat, zu bewahren. Das Phänomen des verhüllten Todes beschreibt nach Hassemer die Unfähigkeit der Gesellschaft, den Tod und seine Bedeutung zu erfassen. Er weist damit auf ein gesellschaftliches Tabu im Umgang mit dem Tod hin. Der Schutz von postmortalen Rechten zeige, dass die Gesellschaft nur scheinbar einsehe, dass mit dem Tode alle Einwirkungsmöglichkeiten in der Welt enden. Es sei sonst unerklärlich, warum das Vertrauen auf einen postmortalen Rechtsschutz „eine Bedingung für die freie menschliche Entfaltung zu Lebzeiten sein könnte“.299 Dieses Phänomen des verhüllten Todes führt nach Hassemer zu einem absoluten Lebensschutz. Die Gesellschaft könne den Tod und seine Bedeutung nicht begreifen und daher auch das Leben nicht bewerten, mithin nicht relativieren. Die Bewertung als Individualrechtsgut ändere nichts an dieser Konsequenz. Gegen Hassemers Theorie vom „Phänomen des verhüllten Todes“ kann aber zum einen angeführt werden, dass die Straflosigkeit des Suizids nicht erklärt werden kann, zum anderen ist bereits die Existenz dieses Phänomens des verhüllten Todes fraglich. Der Mensch hat, losgelöst von religiösen oder spirituellen Überzeugungen, die Gewissheit, dass der Tod das Ende seiner menschlichen Existenz darstellt. Dieses Wissen beschreibt die wohl wichtigste Konsequenz des Todes. Ob nach dem Tod eine weitere Existenzebene besteht, ist eine zweite Frage. Insofern kann man von einem gewissen Risiko sprechen, mit dem die Entscheidung, sein Leben zu beenden, behaftet ist. Wenn der Mensch sich aber sowohl der Konsequenz als auch des Risikos bewusst ist, kann nicht daran gezweifelt werden, dass er die Tragweite seiner Entscheidung erfasst hat. Eine Entscheidung ist auch dann autonom, wenn sie bewusst auf eine unsichere Wissensbasis gestützt wird.300 Eine generell fehlende Freiverantwortlichkeit kann daher nicht angenommen werden.
298 299 300
Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 188 f. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 186 f. Vgl. Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 215 f.
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3. Fehlende Freiverantwortlichkeit trotz mangelfreier Einwilligung Die Legitimation der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen durch einen weich-paternalistischen Schutz des Lebens des „Opfers“ setzt voraus, dass das „Opfer“ des § 216 StGB nicht freiverantwortlich handelt. In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, ob der Tatbestand des § 216 StGB überhaupt als erfüllt angesehen werden kann, wenn der die Tötung Verlangende nicht freiverantwortlich handelte. Zum einen ist nach herrschender Meinung eine wirksame Einwilligung Voraussetzung des § 216 StGB. Diese entfaltet lediglich ihre strafbefreiende Wirkung nicht, weil § 216 StGB eine objektive Einwilligungsschranke darstellt. Daraus folgt, dass eine Situation denkbar sein muss, in der trotz wirksamer Einwilligung das Tötungsverlangen nicht rechtlich autonom zustande gekommen ist. Eine derartige Situation ist in Bezug auf von außen aufgebrachten Zwang kaum denkbar. Die oben herausgearbeiteten Kriterien beschreiben die Grenze der Eigenverantwortlichkeit. Jenseits dieser Grenze wird das Individuum durch die Rechtsordnung bereits geschützt, indem die Einwilligung als unwirksam angesehen wird. Der Schutz der Selbstbestimmung ist unabhängig von dem bedrohten Rechtsgut derart bedeutend, dass jegliche Einwilligungen, die aufgrund von Drohungen im Sinne des § 240 StGB zustande kamen, unwirksam sind. Sofern aber die Grenze der Eigenverantwortlichkeit nicht überschritten wurde, ist es im Sinne des Schutzes der Autonomie des Individuums vor einer Bevormundung durch den Staat nicht angezeigt, einzugreifen. Die Möglichkeit eines nicht ernstlichen Tötungsverlangens trotz wirksamer Einwilligung muss also im Bereich der Irrtümer und der Einwilligungsfähigkeit zu suchen sein. Hoerster stellt daher auch ausdrücklich auf diesen Bereich ab. Wenn man mit Hoersters Ansatz die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen begründen will, muss es möglich sein, dass trotz mangelfrei gebildeten Willens ein Wunsch dem Interesse eines Individuums entgegen laufen könnte.301 Ansonsten läge ein hart paternalistischer Ansatz zugrunde, welcher den Individuen trotz ihrer Freiverantwortlichkeit einen Rechtsgüterschutz oktroyiert. Nach herrschender Meinung schließt aber jeglicher Irrtum die Wirksamkeit einer Einwilligung aus. Wenn man allerdings mit einem Teil der Literatur gewisse Irrtümer bei Einwilligungen für unbeachtlich hält, kann eine (willens-)mangelfreie Einwilligung angenommen werden und dennoch eine nicht freiverantwortliche Entscheidung vorliegen. Eingedenk dieser Erkenntnis stellt ein paternalistisches Argument darauf ab, dass die Motive des Sterbewilligen in vielen Fällen nur mo-
301 Allerdings ist zu beachten, dass Hoerster eine Revision des § 216 StGB vorschlägt, die aber ebenfalls eine Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen beinhalten soll.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
mentaner Natur wären.302 Der Todeswunsch sei schon Ausdruck einer seelischen Notlage, der anders als durch die Tötung begegnet werden müsse. Hirsch bezieht sich dabei ausdrücklich auf Zustände und Motivirrtümer, die nach seiner Ansicht gerade nicht die mangelfreie Willensbildung ausschließen.303 Wie oben gezeigt sind Irrtümer über die Zwecke einer Handlung in Hinblick auf die Selbstbestimmung beachtlich, weil die Unkenntnis oder die Fehlvorstellung über zwecksetzungsrelevante Umstände es dem Einzelnen unmöglich machen, eine an der eigenen Wertrangordnung orientierte Entscheidung zu treffen. Als Begründung für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen ergibt sich jedoch ein weiteres Problem. Derartige Autonomiedefizite werden nicht in jedem Fall der Tötung auf Verlangen vorliegen. Dies wäre nur denkbar, wenn man eine suizidspezifische Geistesstörung wie das präsuizidale Syndrom annähme. Der Hinweis auf die in vielen Fällen sicherlich gegebene seelische Notlage der Sterbewilligen ist dabei lediglich ein an sich begrüßenswerter Versuch, die geistige Verfassung moribunder Patienten beziehungsweise lebensmüder Menschen in das Blickfeld der Praxis zu rücken und keine Argumentation in Hinblick auf die Strafwürdigkeit des § 216 StGB. Der Todeswunsch eines Menschen sollte niemals unreflektiert akzeptiert, sondern immer kritisch hinterfragt werden. Häufig stecken hinter diesen Wünschen ganz andere Motive. Eine schlechte Pflegesituation und mangelnde Palliativmedizin mögen teilweise der Grund für den Todeswunsch von Patienten sein. Es sollte daher die Palliativmedizin gestärkt werden und nicht die Tötung des Patienten als Lösung angeboten werden. Dieses Problem ist aber nicht mit der Frage zu vermengen, ob einem Menschen, der ernstlich seine Tötung wünscht, wie es der Wortlaut des § 216 StGB verlangt, verwehrt werden darf, sich töten zu lassen. Im Fall einer schlechten Pflegesituation, oder wenn tatsächlich keine weiteren Möglichkeiten der Schmerztherapie in der konkreten Situation zu Verfügung stehen, beruht die Entscheidung des Sterbewilligen ja nicht auf Irrtümern. Der Todeswunsch ist zwar nicht das eigentliche Ziel seines Wunsches, aber in der konkreten Situation das einzige Mittel um das Ziel, die Freiheit von Schmerz, zu erreichen. Nicht einmal bei moribunden Patienten wird man eine in jedem Fall fehlende Autonomie annehmen können.
302 Hirsch, Einwilligung und Selbstbestimmung, in: Stratenwerth/Kaufmann/Geilen/ Hirsch/Schreiber/Jakobs/Loos (Hrsg.), Festschrift für Welzel, S. 780. 303 Hirsch, Einwilligung und Selbstbestimmung, in: Stratenwerth/Kaufmann/Geilen/ Hirsch/Schreiber/Jakobs/Loos (Hrsg.), Festschrift für Welzel, S. 791.
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4. Fehlende Freiverantwortlichkeit trotz ernstlichem Tötungsverlangen? Der Ansatz, trotz wirksamer Einwilligung eine fehlende Freiverantwortlichkeit anzunehmen setzt voraus, dass ein Sterbewilliger auf der einen Seite zur mangelfreien Willensbildung fähig ist, ein ernstliches Todesverlangen äußert, und ihm dennoch aufgrund von Motivirrtümern und besonderen Zuständen die Befugnis abgesprochen wird, derart über sein Rechtsgut zu disponieren, dass er den Täter von der Strafbarkeit entbindet. Wenn man nicht zum harten Paternalismus übergehen will, indem man jedes Motiv eines Sterbewilligen als nicht beachtenswert klassifiziert, muss dies gerade bedeuten, dass der Sterbewillige nicht freiverantwortlich handelte. Problematisch ist hierbei, das Tatbestandsmerkmal des ernstlichen Tötungsverlangens erfüllt zu sehen. Bei der Definition von „ernstlichem Verlangen“ wird meist auf das Kriterium des Verlangens eingegangen. Das Verlangen muss im Sinne eines Bestimmens erfolgt sein und handlungsleitend für die Tötung gewesen sein.304 „Ernstlich“ bedeutet nach herrschender Meinung, dass das Verlangen aufgrund eines subjektiv (nicht nur aus Tätersicht) freiverantwortlichen Entschlusses des Opfers zielbewusst auf die Tötung gerichtet sein muss.305 Schon die sprachliche Übereinstimmung zeigt, dass ein ernstliches Verlangen eine autonome Entscheidung voraussetzt. Die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Verlangenden muss also gegeben sein. Krankheits- oder altersbedingte Mängel der Autonomiekompetenz schließen damit die „Ernstlichkeit“ genauso aus wie Zwang oder Täuschung. Auch wesentliche Motivirrtümer lassen die „Ernstlichkeit“ entfallen. Wesentliche Motivirrtümer müssen dann aber alle einwilligungsrelevanten Irrtümer sein.306 Auch Verlangen aus einer Augenblicksstimmung oder vorübergehender Depression können nicht als ernstlich angesehen werden.307 Dies bedeutet aber nicht, dass eine Bewertung des Todeswunsches nach Kategorien der Vernünftigkeit zu erfolgen hat. Eine derartige Bewertung würde ohnehin die Grenze zum harten Paternalismus überschreiten. Motivirrtümer und jegliche Willensmängel, die schon eine wirksame Einwilligung aufgrund fehlender Autonomie entfallen ließen, lassen also auch die Ernstlichkeit des Tötungsverlangens entfallen.308 304
Vgl. BGH, NJW 2005, S. 1876 (1879). Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, § 216 Rn. 8. 306 Völlig gegen eine Differenzierung zwischen unwesentlichen und wesentlichen Motivirrtümern ist Schneider, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar StGB Band 3, § 216 Rn. 22. 307 Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, § 216 Rn. 8; Schneider in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar StGB Band 3, § 216, Rn. 29. 308 Vgl. Schneider, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar StGB Bd. 3, § 216 Rn. 22 f. 305
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Eine fehlende Freiverantwortlichkeit im Rahmen des § 216 StGB anzunehmen ist damit praktisch ausgeschlossen.309 Das ernstliche Tötungsverlangen in § 216 StGB setzt gerade eine autonome Entscheidung voraus. Hier tragen auch die Vertrauensschutzgesichtspunkte der Einwilligungsdogmatik nicht, so dass in jedem Fall auch Motiv- und Erklärungsirrtümer die Freiverantwortlichkeit entfallen lassen. V. Zweifel an der Freiverantwortlichkeit Eine fehlende Freiverantwortlichkeit im Rahmen des Anwendungsbereichs des § 216 anzunehmen scheint also unmöglich. Jakobs versucht dennoch, den § 216 StGB mit paternalistisch motivierten Erwägungen zu begründen. Im Unterschied zu Hoerster sieht Jakobs die Aufgabe des § 216 StGB nicht darin, bestimmte Interessen des Sterbewilligen zu schützen. Sein „zuständigkeitsorientierter“ Paternalismus geht davon aus, dass die allein dem Rechtsgutsträger zustehende Befugnis zur „Organisation“ seines Selbstverhältnisses geschützt werden soll. Das Individuum verwaltet grundsätzlich seinen „Organisationskreis“ selbst. Er hat dabei jedoch die „Organisationskreise“ anderer zu respektieren.310 Strafrechtliche Normen verpflichten damit in erster Linie zur schadlosen „Organisation“. Nicht die Verletzung des Rechtsgutes ist bereits strafwürdig, vielmehr muss noch die „schadensreiche Organisation“ des Täters hinzukommen.311 Das Unrecht einer Fremdtötung ist daher eine „Organisationsanmaßung“.312 Dem folgt, dass Selbstschädigungen und eingewilligte Fremdschädigungen kein Unrecht verwirklichen, da der Organisationsbefugte über sein Ordnungssystem verfügt.313 Das Unrecht des § 216 StGB kann also nicht in einer Verletzung des Lebens des Sterbewilligen liegen. Jakobs sieht den § 216 StGB damit ausdrücklich nicht als Verletzungsdelikt, sondern als ein abstraktes Gefährdungsdelikt an.314 Der Schutz des Lebens des 309 Vgl. Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 163; Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch Band 2, § 216 Rn. 1; Göbel, Die Einwilligung im Strafrecht als Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts, S. 35. 310 Jakobs, Zum Unrecht der Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen, in: Haft/ Hassemer/Neumann/Schild/Schroth (Hrsg.), Strafgerechtigkeit, S. 460. 311 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Abschnitt Rn. 5. 312 Jakobs, Zum Unrecht der Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen, in: Haft/ Hassemer/Neumann/Schild/Schroth (Hrsg.), Strafgerechtigkeit, S. 462 f. 313 Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 19; Jakobs, Zum Unrecht der Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen, in: Haft/Hassemer/Neumann/Schild/Schroth (Hrsg.), Strafgerechtigkeit, S. 466. 314 Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 23; Jakobs, Zum Unrecht der Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen, in: Haft/Hassemer/Neumann/Schild/Schroth (Hrsg.), Strafgerechtigkeit, S. 467.
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die Tötung Verlangenden kann laut Jakobs aufgrund seiner Befugnis zur Organisation seiner Rechtsgüter nicht Grund für die Strafbarkeit des § 216 StGB sein.315 Er erkennt seine Überlegungen als nachträgliche Rationalisierung einer Vorschrift, welche ursprünglich dem heute nicht mehr akzeptablen Zweck des Schutzes von christlich-sittlichen Vorstellungen diente.316 Es geht Jakobs also genau genommen nicht um den Schutz derjenigen Sterbewilligen, die von § 216 StGB betroffen sind. Tatsächlich sollen die Menschen geschützt werden, die nur scheinbar ein ernstliches Todesverlangen haben. Dementsprechend dient § 216 StGB nach Jakobs dem Schutz Dritter davor, durch ihr unerkannt nicht ernstliches Tötungsverlangen, getötet zu werden. Eine derartige Betrachtung des § 216 StGB erfordert eigenständige Erwägungen, bei denen die Deliktsstruktur abstrakter Gefährdungsdelikte beachtet werden muss. VI. Zwischenergebnis: Schutz vor Gefährdungen von Drittinteressen und Interessen der Allgemeinheit Der Schutz des Lebens des „Opfers“ des § 216 StGB eignet sich demnach nicht als Grund für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen. § 216 StGB setzt durch das Erfordernis des ernstlichen Verlangens eine freiverantwortliche Einwilligung des Opfers in die Verletzung seines Individualrechtsgutes voraus. Die Schutzpflicht des Staates kann einen aufgedrängten Grundrechtsschutz auch vor dem Hintergrund der Menschenwürde als konstituierendes Element der Verfassung nicht rechtfertigen. Der Zweck des § 216 StGB muss also jenseits des Schutzes von Rechtsgütern des „Opfers“ des § 216 StGB zu suchen sein. In Betracht kommt der Schutz von Rechtsgütern und Interessen der Allgemeinheit oder dritter Individuen. Auch hier sind Rechtsgüter im weiten Sinne gemeint, so dass grundsätzlich auch Interessen als mögliche Schutzgüter in Betracht kommen. Die Rechte anderer können als Schranke der Grundrechtsentfaltung des Einzelnen und damit auch der Individualautonomie jederzeit entgegenstehen. Insoweit kommt es nicht auf die Frage eines aufgedrängten Schutzes in Bezug auf den Grundrechtsträger an. Die Ablehnung der Zulässigkeit eines aufgedrängten Grundrechtsschutzes stellt nicht Dritte gegenüber der Freiheitsbetätigung eines Rechtsgutsträgers durch Preisgabe seines Rechtsgutes schutzlos.317 Demnach kann sich eine Einschränkung der möglichen Preisgabe des grundrechtlich geschützten Rechtsgutes aus den Interessen der Allgemeinheit beziehungsweise 315
Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 19. Jakobs, Zum Unrecht der Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen, in: Haft/ Hassemer/Neumann/Schild/Schroth (Hrsg.), Strafgerechtigkeit, S. 468. 317 Vgl. auch Wallace, Selbstmord und Totschlag und das Recht auf Leben, Sterben und Töten, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 208. 316
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Dritter ergeben. In einem derartigen Fall handelt es sich um eine echte Grundrechtskollision.318 Bei der Auswahl der schutzwürdigen Interessen sind die Erkenntnisse aus Verfassung und Rechtsgutstheorien insoweit heranzuziehen, dass einer vorschnellen Etablierung eines Rechtsgutes der Allgemeinheit entgegengewirkt werden sollte, indem man versucht, die Interessen der Allgemeinheit auf Individualrechtsgüter zurück zu führen. Ansonsten besteht die Gefahr, die Verletzung eines Scheinrechtsgutes anzunehmen und auf diese Weise zu übersehen, dass dieses Rechtsgut nur Mittel zum Schutz eines Individualrechtsgutes ist, welches andernfalls gefährdet sein könnte. Auf diese Weise würde verborgen bleiben, dass eigentlich kein Verletzungs-, sondern ein Gefährdungsdelikt vorliegt.319 Tatsächlich tritt im Rahmen des § 216 StGB nur beim Sterbewilligen eine echte Verletzung von Rechtsgütern ein. Die Tötung eines Sterbewilligen, der ernstlich seine Tötung verlangt hat und dabei freiverantwortlich handelte, kann aber nicht Grund für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen sein, weil ein aufgedrängter Grundrechtsschutz im Fall der Freiverantwortlichkeit des Grundrechtsträgers nicht tragbar ist. Durch die Tötungshandlung könnten aber Rechtsgüter Dritter oder der Allgemeinheit gefährdet werden. Die Annahme Jakobs, dass durch die Tötung auf Verlangen auch unerkannt nicht freiverantwortlich Handelnde getötet werden, gehört in diese Kategorie. Eine Verletzung von Rechtsgütern der Allgemeinheit ist per se schwer nachvollziehbar. Zum Schutz von Rechtsgütern der Allgemeinheit werden daher in der Regel abstrakte Gefährdungsdelikte herangezogen.320 Das abstrakte Gefährdungsdelikt gilt als das Mittel zum strafrechtlichen Schutz von Rechtsgütern der Allgemeinheit.321 Da auch die Verletzung von Rechtsgütern Dritter nicht Tatbestandsmerkmal des § 216 StGB ist, geht es allein darum, dass durch die in § 216 StGB kriminalisierte Handlung eine Gefährdung der Rechtsgüter Dritter oder der Allgemeinheit eintreten könnte. VII. § 216 StGB als Gefährdungsdelikt Dogmatisch gesehen stellt § 216 StGB damit ein Gefährdungsdelikt dar. Diese Einschätzung teilt auch Jakobs ausdrücklich.322 Die Einordnung des 318
Antoine, Aktive Sterbehilfe in der Grundrechtsordnung, S. 271. Vgl. in Bezug auf „Schutz des öffentlichen Friedens“, Hörnle, Der Schutz von Gefühlen im StGB, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 272. 320 Vgl. Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 59 ff.; Hefendehl, Die Materialisierung von Rechtsgut und Deliktsstruktur, GA 2002 (149), S. 26. 321 Otto, Grundsätze des Wirtschaftsstrafrechts I, ZStW 96 (1984), S. 363 f.; vgl. Schmitz, Der strafrechtliche Schutz des Kapitalmarkts, ZStW 115 (2003), S. 508. 319
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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§ 216 StGB in der Deliktsstruktur ist bei der Untersuchung der Strafrechtsnorm von großer Bedeutung. Wenn man die Legitimität einer Strafrechtsnorm überprüfen möchte, ist es ratsam zu prüfen, wie sich die Deliktsgruppe der in Frage stehenden Vorschrift legitimieren lässt. In der Strafrechtswissenschaft haben sich in Bezug auf einzelne Deliktstypen einige spezifische Prinzipien herausgebildet, die bei der Untersuchung herangezogen werden können. Leider ist die Dogmatik im Rahmen von Gefährdungsdelikten, insbesondere bei abstrakten Gefährdungsdelikten, bei weitem nicht so klar und widerspruchsfrei wie im Rahmen von Erfolgsdelikten. Gefährdungsdelikte zeichnen sich dadurch aus, dass sie im Gegensatz zu Verletzungsdelikten Verhaltensweisen erfassen, die noch keine direkte Beeinträchtigung geschützter Interessen zur Folge haben, sondern lediglich eine Situation begründen, aus der sich eine Beeinträchtigung entwickeln kann, aber nicht notwendigerweise entwickeln muss.323 Innerhalb der Gefährdungsdelikte wird zwischen konkreten und abstrakten Gefährdungsdelikten unterschieden. Konkrete Gefährdungsdelikte erfassen Verhaltensweisen, welche zwar das geschützte Interesse nicht notwendigerweise real beeinträchtigen, aber doch zumindest konkret gefährden. Abstrakte Gefährdungsdelikte erfassen Verhaltensweisen, denen „typischerweise die Herbeiführung einer konkreten Gefahr eigen ist“ und „deren Strafwürdigkeit auf der generellen Gefährlichkeit der tatbestandsmäßigen Handlung für bestimmte Rechtsgüter beruht“.324 Abstrakte Gefährdungsdelikte stellen eine Sammelkategorie dar, in die jede Strafrechtsnorm fällt, die gerade kein Verletzungs- und kein konkretes Gefährdungsdelikt ist.325 Die Möglichkeit, nahezu immer neue abstrakte Gefährdungsdelikte zu schaffen, ist eine der Hauptgefahren im Rahmen abstrakter Gefährdungsdelikte. Weiterhin besteht die Besonderheit, dass bei abstrakten Gefährdungsdelikten dem Einzelnen die Befugnis abgesprochen wird, selbst über die Gefährlichkeit seines Handelns zu entscheiden, da der Gesetzgeber bereits selbst die Prognose zur Gefährlichkeit einer Handlung getroffen hat. Diese abstrakt-generelle Prognose ist unwiderleglich.326 Daraus folgt, dass bei konkreten Gefährdungsdelikten der Eintritt der Gefahrensituation Tatbestands322 Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 23; Jakobs, Zum Unrecht der Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen, in: Haft/Hassemer/Neumann/Schild/Schroth (Hrsg.), Strafgerechtigkeit, S. 467. 323 Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 129; Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil Teilband 1, § 20 III Rn. 29 ff.; Roxin, Strafrecht AT 1, § 10 H Rn. 123. 324 Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 129; Heine, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. §§ 306 ff. Rn. 3; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Abschnitt Rn. 78, 86; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, S. 264. 325 von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie und Deliktsstruktur – zu den Kriterien fairer Zurechnung, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 198. 326 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 191.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
merkmal ist, bei abstrakten Gefährdungsdelikten die Gefährlichkeit des Verhaltens jedoch nur der Grund für seine Pönalisierung und kein Tatbestandsmerkmal ist.327 Eine konkrete Gefahr für Rechtsgüter der Allgemeinheit oder Dritter wird in der Tötung auf Verlangen nicht zu erblicken sein. Eine konkrete Gefahr erfordert einen Zustand, bei dem die nicht fern liegende Möglichkeit der Verletzung eines Rechtsgutes besteht.328 Nach dem allgemeinen Erfahrungswissen muss der Eintritt eines Schadens nahe liegen.329 Damit bleibt nur die Einordnung des § 216 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt. Den abstrakten Gefährdungsdelikten ist aber eigen, dass auch in Fällen, in denen eine reale Beeinträchtigung des Rechtsgutes unwahrscheinlich oder gar unmöglich ist, der Tatbestand erfüllt ist.330 Diese Besonderheit führt dazu, dass der Eingriff in die Rechte des Einzelnen bei abstrakten Gefährdungsdelikten wesentlich höher ist als bei konkreten Gefährdungsdelikten oder Verletzungsdelikten. Durch das fehlende Erfordernis eines konkreten Schadens für schützenswerte Interessen beziehungsweise Rechtsgüter wird dem Einzelnen bereits eine Handlung verboten, die noch gar keinen Schaden nach sich gezogen hat. Es fehlt mit dem fehlenden Erfolg nicht nur der Indikator für eine Störung des Rechtsfriedens, welcher den Strafrechtseinsatz legitimieren würde,331 sondern es wird auch dadurch, dass dem Einzelnen das Recht genommen wird, über die Gefährlichkeit seines Handelns selbst zu bestimmen, in hohem Maße in das Persönlichkeitsrecht des Einzelnen eingegriffen. Ihm wird nicht nur der Fehlgebrauch seiner Eigenverantwortlichkeit, sondern überhaupt der Gebrauch seiner Eigenverantwortlichkeit vorgeworfen.332 Die Gefahrenprognose des Gesetzgebers schneidet dem Einzelnen die Kompetenz ab, selbst im Einzelfall über die Gefährlichkeit seines Tuns zu urteilen. Zur Natur der abstrakten Gefährdungsdelikte werden im Wesentlichen zwei Theorien verfolgt.
327 Arzt/Weber, Strafrecht BT, Bielefeld 2000, § 35 Rn. 44; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, S. 264; Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil Teilband 1, § 20 III Rn. 31; Roxin, StrafR AT 1, § 10 H Rn. 124. 328 Vgl. RGSt 30, S. 179. 329 Heine, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem §§ 306 ff. Rn. 5. 330 Berz, Formelle Tatbestandsverwirklichung und materialer Rechtsgüterschutz, S. 101 ff.; Hoyer, Die Eignungsdelikte, S. 33 ff.; Schünemann, Moderne Tendenzen in der Dogmatik der Fahrlässigkeits- und Gefährdungsdelikte, JA 1975, 797. 331 Vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, S. 516 f. 332 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 438.
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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1. Theorie der generellen Gefährlichkeit Nach der mittlerweile herrschenden Theorie der generellen Gefährlichkeit möchte der Gesetzgeber diejenigen Verhaltensweisen unter Strafe stellen, welche generell bzw. typischerweise geeignet sind, zu einer Beeinträchtigung eines Rechtsgutes zu führen.333 Die Strafbarkeit tritt also aufgrund eines Verhaltens ein, welches eine Rechtsgutsbeeinträchtigung generell nach sich ziehen könnte. Ob das Verhalten im Einzelfall einen Schaden nach sich zieht oder hierzu überhaupt geeignet ist, ist ohne Belang. Die abstrakten Gefährdungsdelikte beschreiben eine Klasse oder Gattung von Verhaltensweise, die als gefährlich angesehen werden. Einzelne Handlungen dieser Klasse können durchaus ungefährlich sein. An der Bewertung ändert sich dadurch jedoch nichts.334 Um abstrakte Gefährdungsdelikte nach dieser Sichtweise zu legitimieren, muss die generelle Gefahr einen rechtlich tragfähigen Grund für das Verbot des konkreten Verhaltens darstellen. Schließlich muss die Geltung der legitimierten Norm335 derart wichtig sein, dass sie eine Sanktion rechtfertigt. Insofern ist eine zweifache Tauglichkeitsprüfung notwendig.336 Die Geltung des Tötungsverbotes gegen den Willen des Opfers ist wichtig genug, um eine Sanktion zu rechtfertigen. Fraglich ist hierbei nur, ob die Tötung auf Verlangen die Geltung des Tötungsverbots ohne Verlangen gefährdet. Ein rechtlich tragfähiger Grund für die Strafbarkeit einer Verhaltensweise, die nur generell gefährlich ist, kann nur dann gegeben sein, wenn die strafbare Verhaltensweise in signifikanter Häufigkeit einen Schaden nach sich zieht. Es geht also um die Frage der statistischen Relation von Schaden und Verhaltensweise. Das bedeutet, dass es nicht darauf ankommt, ob der Kausalzusammenhang in dem konkreten Einzelfall zum tragen kommt, sondern ob sich der Kausalzusammenhang in einem statistisch relevanten Anteil der Fälle realisiert.337 Nach Graul muss dies jedoch nicht bedeuten, dass die verbotene Verhaltensweise in über 50 Prozent der Fälle zu einem Schaden führen würde. Sie begründet dies damit, dass eine Verhaltensweise – beispielsweise Trunkenheit im Verkehr – in der überwiegenden Zahl der Fälle gefährlich sei, auch wenn es meist nicht zu einer Verletzung oder konkreten Gefährdung komme.338 Die Handlung müsse aber nicht einmal in der überwiegenden Zahl der Fälle gefährlich sein. Es
333
Heine, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem §§ 306 ff. Rn. 3. Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 144. 335 Kindhäuser sieht bereits Normen um ihrer selbst willen als erhaltungswert an. Gemeint ist aber wohl auch das hinter der Norm stehende Rechtsgut. Vgl. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 252. 336 Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 230. 337 Ahn, Zur Dogmatik abstrakter Gefährdungsdelikte, S. 4. 338 Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 149 f. 334
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
genüge, wenn sie sich „häufig“ als gefährlich darstellt.339 Kindhäuser sieht in diesem Abstellen auf statistische Relationen ein Problem, da auch bei geringer Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts die Etablierung abstrakter Gefährdungsdelikte angezeigt sein könne.340 Er bevorzugt daher die Feststellung der Verletzungsrelevanz bestimmter Verhaltensweisen anhand eines „kausalen Feldes“. Dieses beschreibe die Mindestbedingungen, welche für eine Verletzungsgefahr gegeben sein müssen. Falls diese vorlägen, wäre eine Verhaltensweise als grundsätzlich gefährlich anzusehen. Um diese Abstraktion zu rechtfertigen, dürfe jedoch das relevante „kausale Feld“ nicht ungewöhnlich sein.341 Die Fixierung auf statistische Relationen ist sicherlich nicht sinnvoll, dennoch ist es von großer Bedeutung, dass festgestellt werden kann, ob ein Verhalten typischerweise gefährlich ist oder nicht. Die Bewertung der Ungewöhnlichkeit, wie sie auch Kindhäuser vornehmen will, kann nur anhand statistischer Relationen erfolgen. Vor dem Hintergrund seiner Bedenken gegen das Hinzuziehen statistischer Relationen konstatiert Kindhäuser konsequent, dass eine Präsumtion der Gefahr notwendig sei, um abstrakte Gefährdungsdelikte zu legitimieren.342 2. Theorie der abstrakten Gefahr Einige Autoren fordern eine Reduktion der Anwendung der abstrakten Gefährdungsdelikte für den Fall, dass eine Rechtsgutbeeinträchtigung sicher ausgeschlossen ist.343 Dem liegt die Annahme zugrunde, dass nur die Verletzung und die konkrete Gefährdung eines Rechtsgutobjektes strafwürdig seien. Die Strafbarkeit abstrakter Gefährdungsdelikte beruhe daher auf einer Fiktion beziehungsweise Präsumtion der Gefährdung.344 Im Unterschied zur Theorie der generellen Gefährlichkeit wird hier also nicht das „Fehlenkönnen“ einer Verletzung oder einer konkreten Gefährdung als rechtliches Faktum hingenommen.345 Es wird also an der Ansicht festgehalten, dass eine Rechtsgutsverletzung eine wesentliche Voraussetzung für jedes Delikt darstellt.346 Nach der Theorie der abstrakten Gefahr vermutet der Gesetzgeber 339
Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 150. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 234 ff. 341 Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 238 f. 342 Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 242. 343 Backmann, Geiselnahme bei nicht ernst gemeinter Drohung, in: JuS 1977, S. 447 f.; Schröder, Die Gefährdungsdelikte im Strafrecht, ZStW 81 (1969), S. 16 f. 344 Schröder, Die Gefährdungsdelikte im Strafrecht, ZStW 81 (1969), S. 16 f.; Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 151 ff.; Kaufmann, Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit, JZ 1963, S. 432. 345 Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 151. 346 Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 66. 340
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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bei dem abstrakten Gefährdungsdelikt eine Gefahr. Die Natur dieser Präsumtion ist aber weitgehend unklar. In prozessualer Hinsicht stellt sich die Frage, ob sie als Beweis- oder als Beweislastregel zu behandeln ist. Als Beweisregel würde die Vermutung, dass ein Schaden eintreten würde, aufgrund der gesetzlichen Fiktion als Tatsache festgelegt, ohne dass eine richterliche Beweiswürdigung stattgefunden hat. Als Beweislastregel würde die Präsumtion erst greifen, wenn eine prozessuale Feststellung der Tatsachen nicht möglich ist.347 Für Graul sind beide Interpretationen nicht möglich. Als Beweislastregel läge ein Verstoß gegen das in dubio pro reo-Prinzip, als Beweisregel ein Verstoß gegen die verfassungsrechtlich abgesicherte freie richterliche Beweiswürdigung vor.348 3. Legitimation abstrakter Gefährdungsdelikte jenseits einer Präsumtion Diese rechtsstaatlich bedenklichen Präsumtionen sind aber nicht unbedingt notwendig. Sie sind Folge einer Fixierung auf eine erfolgsbezogene Unrechtsdogmatik. Viele Autoren versuchen dementsprechend diese Fixierung aufzulösen, indem sie den Unwertgehalt abstrakter Gefährdungsdelikte losgelöst von einem eventuellen Erfolg bestimmen. Cramer sieht bereits in der für strafbar erklärten Verhaltensweise einen Rechtsgutsangriff. Dieser sei zwar verglichen mit unmittelbaren Beeinträchtigungen und konkreten Gefährdungen weniger intensiv, jedoch seien auch lediglich potentiell gefährliche Verhaltensweisen ihrer Bedeutung nach auf „die Erschütterung der Daseinsgewissheit gerichtet“.349 Unklar bleibt allerdings, ob diese „Erschütterung der Daseinsgewissheit“ ein objektiver Schaden sein soll, oder ob der Wille, eine Handlung trotz der potentiellen Gefahr vorzunehmen genügt, um die Strafwürdigkeit eines Verhaltens zu begründen.350 Einige Autoren versuchen ausdrücklich, den Unwertgehalt abstrakter Gefährdungsdelikte losgelöst vom Erfolgsunrecht allein über das Verhaltensunrecht zu begründen. Der Unwert der Verhaltensweise ergibt sich dann allein aus der Risikoeingehung.351 Ein derartiger Ansatz liefert aber keine Antwort auf die Frage, warum diese bloße Pflichtwidrigkeit schon eine Pönalisierung zu legitimieren vermag.352
347
Ahn, Zur Dogmatik abstrakter Gefährdungsdelikte, Diss. München 1995, S. 7. Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 223 f., 287 ff., 349. 349 Cramer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, S. 65. 350 Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, S. 289. 351 Brehm, Zur Dogmatik des abstrakten Gefährdungsdelikts, S. 123 ff. 352 Vgl. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 252 f., 259 f. 348
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Kindhäuser versucht, abstrakte Gefährdungsdelikte ohne Rückgriff auf Rechtsgüterschutzgesichtspunkte zu legitimieren. Er hat als Kriterium für die Legitimation von abstrakten Gefährdungsdelikten auf die Legitimität der zugrunde liegenden Verhaltensnorm abgestellt. Falls diese legitim sei, ergebe sich die Legitimation der Pönalisierung aus dem Charakter der Sanktionsnorm als Selbstzwecknorm.353 Selbstzwecknorm bedeutet dabei nicht, dass eine Norm ihren eigenen Zweck setzt. Vielmehr legt eine Norm bereits ein Verhalten verbindlich fest und schon die Nichtbeachtung der Norm rechtfertigt die Sanktion. Zu Recht erkennt Kindhäuser aber, dass diese Sichtweise nicht die Frage beantworten kann, warum eine bestimmte Norm geschaffen werden sollte. Hier verweist er wiederum auf die Rechtsgutstheorien.354 Die Legitimation von Verhaltensnormen folgt für Kindhäuser aus der Aufgabe des Strafrechts zur Gewährleistung von Sicherheit. Einzelne Individuen könnten bestimmte Risiken nicht autonom kompensieren, so dass die vom Einzelnen nicht zu leistende Vorsorge zur ungefährlichen Verfügung über Güter im Rahmen des sozial Adäquaten heteronom erfolgen müsse.355 Kindhäuser definiert Sicherheit aber als „rechtlich garantierte[r] Zustand, dass hinreichend vorgesorgt ist“ und als „berechtigte Sorglosigkeit bei der Verfügung über Güter“.356 Für Kindhäuser schützen abstrakte Gefährdungsdelikte damit keine Rechtsgüter im eigentlichen Sinne (beispielsweise Leib und Leben), sondern die „berechtigte Sorglosigkeit bei der Verfügung über Güter“.357 Im weiten Sinn kann auch dies natürlich ein Rechtsgut darstellen. Meiner Ansicht nach stellt die Sorglosigkeit der Bürger aber lediglich einen Reflex des Rechtsgüterschutzes des Strafrechts dar. Kindhäuser definiert die Gewährung von Sicherheit als Gewährung eines Gefühls von Sicherheit. Dieses Sicherheitsgefühl ist aber Folge der tatsächlichen Gewährung von Sicherheit, die im Schutz von klassischen Individualrechtsgütern liegt. Kindhäuser verlagert durch seine Interpretation von abstrakten Gefährdungsdelikten lediglich die Problematik, indem er die Normen als Selbstzwecknormen etabliert, allerdings für die Frage, ob die konkrete Norm legitim sei, auf die Rechtsgutstheorien verweist. Eine echte Legitimation abstrakter Gefährdungsdelikte kann daher auch er nicht bieten.
353 354 355 356 357
Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 272 ff. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 273. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 279. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 280, 282. Roxin, Strafrecht AT 1, § 11 B Rn. 156.
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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4. Rechtsgüterschutz als Grund für die Etablierung abstrakter Gefährdungsdelikte Der Grund für die Schwierigkeiten, abstrakte Gefährdungsdelikte zu rechtfertigen, liegt in der Vorverlagerung des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes.358 Es geht also auch bei abstrakten Gefährdungsdelikten letztlich um den Schutz von Rechtsgütern.359 Als materieller Grund für die Strafbarkeit von abstrakten Gefährdungsdelikten wird zum einen der Verlust der Beherrschungsmöglichkeit über ein Risikopotential durch den Täter angeführt. Bei einer Handlung mit objektivem Gefährdungspotential kann die Vielfalt möglicher Geschehensablauf derart groß sein, dass eine Beherrschung des Risikopotentials unmöglich ist. Der Gesetzgeber will also Rechtsgüterschutz durch „Beherrschung“ des Zufalls betreiben.360 Das Zufallsmoment wird wegen des fehlenden Erfordernisses der konkreten Gefahr bei dem abstrakten Gefährdungsdelikt ausgeschaltet.361 Auf diese Weise soll der Rechtsgüterschutz optimiert werden.362 Ähnlich sieht Jakobs den Grund für abstrakte Gefährdungsdelikte in der Notwendigkeit, Verhaltensweisen zu standardisieren. Aufgrund der Komplexität mancher Lebensbereiche besteht Grund daran zu zweifeln, dass sich Personen selbst derart verhalten können, dass ein Schadenseintritt verhindert werde.363 Weitere Gründe dafür, Verhaltensweisen strikt zu verbieten, können Praktikabilitätserwägungen, Gesichtspunkte der Rechtssicherheit oder das Auftreten von Beweisproblemen sein.364 Diese Gründe können zu der abstrakten (genauer: generellen) Gefährlichkeit einer Handlung hinzutreten.365 Derartige Gesichtspunkte werden dementsprechend auch in der Literatur als Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen angeführt. Diese Gründe für die Einführung abstrakter Gefährdungsdelikte dürfen aber nicht mit der Legitimation dieser Art von vorverlagerter Verhaltenspönalisierung verwechselt werden.366 Nur weil es Gründe gibt, Verhaltensweisen zu kriminalisieren, bedeutet das noch nicht, dass dies auch legitim wäre. 358
Vgl. Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 79. Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 127. 360 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Abschnitt Rn. 86a; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S. 157; Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, S. 315. 361 Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 64. 362 Koriath, Zum Streit über Gefährdungsdelikte, GA 2001, S. 67. 363 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Abschnitt Rn. 86a; Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung, ZStW 97 (1985), S. 767. 364 Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 65; Otto, Grundsätze des Wirtschaftsstrafrechts I, ZStW 96 (1984), S. 364. 365 Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 151. 366 Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, S. 23 f. 359
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Der effektive Schutz von Rechtsgütern bildet aber immerhin einen Grund, abstrakte Gefährdungsdelikte zuzulassen. Schließlich gilt es zu bedenken, dass der Rechtsgüterschutz die primäre Funktion und damit auch Legitimation des Strafrechts darstellt. Eine außerhalb dieser Erwägungen zu suchenden Legitimation kann diesem Gesichtspunkt nicht gerecht werden. Dem entsprechend wird auch der Gedanke des Rechtsgüterschutzes in die Legitimationsversuche hinein genommen. Zum Teil wird dabei sogar versucht, abstrakte Gefährdungsdelikte unter dem Gesichtspunkt des vorverlagerten Rechtsgutschutzes allein über den Wert des geschützten Rechtsgutes zu legitimieren. Diesem Ansatz ist zunächst entgegenzuhalten, dass es sehr gewagt erscheint, eingedenk der nur eingeschränkten Tauglichkeit der Rechtsgutstheorien als Bewertungskriterien für Straftatbestände die „Wertigkeit“ eines Rechtsguts als Legitimationsgrundlage heranzuziehen. Abstrakte Gefährdungsdelikte setzen keine Rechtsgutsverletzung oder auch nur eine konkrete Gefahr voraus. Für Wohlers folgt daraus, dass abstrakte Gefährdungsdelikte eine eigenständige Legitimation benötigen, welche von dem Gedanken der Vermeidung einer Rechtsgutsverletzung zu lösen ist.367 Eine eigenständige Legitimation abstrakter Gefährdungsdelikte konnte in der Strafrechtsdogmatik bislang jedoch noch nicht überzeugend entwickelt werden. Die Bedeutung einer derartigen Legitimation erweist sich auch als eher gering, wenn man abstrakte Gefährdungsdelikte aus verfassungsrechtlicher Sicht betrachtet. Im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung ist es nahe liegend, die Wertigkeit des geschützten Rechtsgutes (im verfassungsrechtlichen Sinne) bei der Abwägung zu beachten. Die Probleme der Konturierung des strafrechtlichen Rechtsguts sind insoweit gar nicht von Belang. 5. Der verfassungsrechtliche Ansatz In verfassungsrechtlicher Hinsicht bestehen keine Bedenken gegen eine grundsätzliche Zulässigkeit abstrakter Gefährdungsdelikte.368 In Bezug auf die konkrete Norm muss man allerdings den besonderen Charakter abstrakter Gefährdungsdelikte beachten. Ein abstraktes Gefährdungsdelikt stellt Handlungen aufgrund ihres Gefahrpotenzials unter Strafe. Dies bewirkt eine Vorverlagerung der Strafbarkeitsgrenze gegenüber den Verletzungs- und den konkreten Gefährdungsdelikten. Verbunden ist diese Ausweitung der Strafbarkeit mit einem Verlust an Handlungsfreiheit für den Einzelnen.369 Die Zahl der konkret verbotenen 367
Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, S. 291 f. Vgl. BVerfGE 28, S. 175 (188). 369 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 194, 198; Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, S. 24; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 178. 368
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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Verhaltensweisen ist bei einem abstrakten Gefährdungsdelikt wesentlich höher als bei konkreten Gefährdungsdelikten oder Verletzungsdelikten. Dies folgt aus der generalisierenden Entscheidung des Gesetzgebers, die es dem Einzelnen unmöglich macht, selbst die Gefährlichkeit seiner Handlung zu beurteilen.370 Aus dem Wesen der Grundrechte ergibt sich, dass diese durch die öffentliche Gewalt nur soweit beschränkt werden dürfen, wie es für den Schutz der öffentlichen Interessen unerlässlich ist.371 6. Beschränkung der Anwendung abstrakter Gefährdungsdelikte Es verwundert daher nicht, dass die Diskussion um Beschränkungen der Anwendung abstrakter Gefährdungsdelikte einen hohen Stellenwert in der strafrechtswissenschaftlichen Literatur einnimmt. Sie ist weitgehend durch die sehr unterschiedlichen Konzepte zur Legitimation abstrakter Gefährdungsdelikte geprägt. Teilweise beziehen sich die Konzepte aber auch mehr oder weniger offen auf das Verfassungsrecht. Bedeutungsvoll für die vorliegende Untersuchung sind diese Konzepte insofern, als durch sie bestimmt werden kann, ob die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen als abstraktes Gefährdungsdelikt im Hinblick auf die besondere Struktur abstrakter Gefährdungsdelikte legitim ist. Insgesamt herrscht in der Strafrechtswissenschaft der Konsens, dass die Anwendung abstrakter Gefährdungsdelikte aufgrund ihrer hohen Eingriffsintensität beschränkt werden sollte. Bei der Vorverlegung des Rechtsgüterschutzes ergibt sich die Gefahr, dass „Unrechtsvergeltung“ zu „Verhaltenssteuerung“ und „Rechtsgüter“ zu „Funktionen“ werden.372 Bei komplexen kollektiven Rechtsgütern ist ein Nachweis der Gefährdung häufig nicht zu führen. Wenn aber ein Gefährdungsnachweis nicht konkret geführt werden muss, besteht die Gefahr, dass nicht mehr Rechtsgüterschutz, sondern ein dahinter stehendes Interesse des Staates verfolgt wird. Das Strafrecht könnte als eine Werte kreierende Zwangsethik missbraucht werden.373 Für Schünemann ist das abstrakte Gefährdungsdelikt sogar ein im Grunde primitives und archaisches Mittel, das ohne Rücksicht auf die konkrete Situation ein Verhalten verbietet und tabuisiert. Ein derartiges Mittel passe zu einer archaischen Gesellschaft, die mit religiösen Tabus arbeitet und nicht auf die Vernunft der Person vertraue.374 Auch durch die zunehmende 370 371 372
Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 186 f. BVerfGE 19, S. 342 (348 f.); 76, S. 1 (51). Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsfürsorge,
S. 72. 373 Sternberg-Lieben, Rechtsgut, Verhältnismäßigkeit und die Freiheit des Strafgesetzgebers, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 72. 374 Schünemann, Unzulänglichkeiten des modernen Fahrlässigkeitsdelikts in der modernen Industriegesellschaft, in: Graul/Wolf (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Meurer, S. 59.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Nutzung abstrakter Gefährdungsdelikte im Bereich der Daseinsvorsorge wird die Notwendigkeit, Kriterien für die Beschränkung der Anwendung dieser Delikte zu finden, immer größer.375 Aus strafrechtlicher Sicht stellt sich eingedenk des Grundsatzes, dass durch das Strafrecht in erster Linie Rechtsgüterschutz betrieben werden soll, die Frage, ob dem Täter die Bestrafung für ein Handeln zugemutet werden kann, welches sich lediglich als generell gefährlich für ein Rechtsgut darstellt. Wenn man auf die Gefahrfiktion verzichtet, wie es die Vertreter der Theorie der generellen Gefahr tun, stellt sich die Frage, „[. . .] ob ein abstrakt gefährliches Verhalten unter dem Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes bei Strafe verboten, und unter welchen Voraussetzungen diese Deliktsart als Angriff auf rechtlich geschützte Interessen bewertet werden kann“.376 Die gleiche Frage stellt sich aus verfassungsrechtlicher Sicht im Rahmen der Verhältnismäßigkeit. Die oben angeführten Versuche, abstrakte Gefährdungsdelikte losgelöst von der Rechtsgutsgefährdung zu legitimieren, konnten nicht überzeugen. a) Das Schuldprinzip als Schranke abstrakter Gefährdungsdelikte In der Strafrechtsliteratur wird häufig unter dem Stichwort des „Schuldprinzips“ die Legitimation von abstrakten Gefährdungsdelikten in Fällen bezweifelt, in denen eine Gefährdung wegen des besonderen Einzelfalls ausgeschlossen ist. Gemeint ist hierbei nicht das Schuldprinzip im engeren Sinne. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verlangt das Schuldprinzip nämlich lediglich, dass dem Täter in Bezug auf die Verwirklichung des objektiven Tatbestandsmerkmals zumindest Fahrlässigkeit zu Last gelegt werden kann, er mithin nicht schuldlos handelt. Dieser Vorwurf ist auch bei abstrakten Gefährdungsdelikten zu machen. Die abstrakte Gefährdung und nicht erst die mögliche Verletzung ist bereits Tatbestandsmerkmal.377 Tragend ist damit eher folgender Gesichtspunkt: Strafe setzt nicht nur einen formellen Gesetzesverstoß voraus, sondern auch materielles Unrecht und eine personal-individualistische Handlungsbeziehung zwischen Täter und dem angegriffenen Rechtsgut. Das Erfolgsunrecht entfällt, wenn durch die Handlung kein reales Gefährdungsrisiko geschaffen wurde. Wenn sich der Täter auch subjektiv von der Unmöglichkeit einer Rechtsgutsgefährdung überzeugt hat, entfällt auch das Handlungsunrecht. Eine Bestrafung des Täters trotz fehlenden Handlungs375
Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Vorsorge, S. 70 ff. Cramer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, S. 62, 74 f.; Hoyer, Die Eignungsdelikte, S. 33; Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 128. 377 Vgl. Hoyer, Die Eignungsdelikte, S. 34. 376
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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und Erfolgsunrechts ist mit dem Schuldprinzip jedoch nicht zu vereinbaren.378 Tatsächlich müssen derartige Überlegungen beachtet werden, wenn man legitime von illegitimen abstrakten Gefährdungsdelikten trennen will. b) Maßstäbe zur Unterscheidung legitimer und illegitimer abstrakter Gefährdungsdelikte Weber hält abstrakte Gefährdungsdelikte dann für legitim, wenn die Feststellung eines Verletzungserfolges schwierig ist, die Verantwortlichkeit für einen eingetretenen Erfolg trotz schadensgeneigtem Verhalten nicht sicher feststellbar oder die Zufallskomponente ausgeschaltet werden soll.379 Hier bleibt aber die generelle Frage offen, warum gerade bei Erfüllung dieser Kriterien die Schaffung von Straftatbeständen legitim sein soll. Allein die Effektivität des Rechtsgüterschutzes kann angeführt werden. Echte Kriterien stellt Weber aber damit nicht vor. Er umschreibt vielmehr mögliche Anwendungsbereiche abstrakter Gefährdungsdelikte. Insbesondere das Ausschalten von Zufallskomponenten kann der Gesetzgeber in jeder Konstellation intendieren. Man könnte Webers Ansatz in der Weise verstehen, dass nach seinem Dafürhalten abstrakte Gefährdungsdelikte nur dann eingesetzt werden sollten, wenn sie unerlässlich sind. Als Kriterium ist diese Vorgabe aber unbrauchbar, weil die Feststellung der Unerlässlichkeit nicht geführt werden kann. Jakobs leitet die Legitimation von Pönalisierungen daraus ab, dass es dem Bürger verboten sei, fremde Organisationskreise unzulässigerweise zu organisieren.380 Es gebe daher drei Tatbestandstypen: Zum einen externes Verhalten, welches schon an sich störend wirkt und bei dem nur die Schadensgeneigtheit generalisierend bestimmt wird. Der Störer soll sich nicht darauf berufen können, dass ein Schaden ausgeblieben sei, wenn schon sein Verhalten störend war. Zum anderen Delikte, bei denen die externe Störung generalisierend festgelegt wird, weil das Verhalten generell geeignet ist, extern störende Wirkungen hervorzurufen. Schließlich Verhaltensweisen, die ohne nachfolgendes Zutun einer anderen Person überhaupt nicht oder nur minimal gefährlich werden. Im Fall der ersten beiden Typen sei eine Vorverlagerung der Strafbarkeit nicht größer als beim vollendeten Versuch. Das gefährliche Verhalten ist komplett vollzogen.381 Der Vergleich mit dem vollendeten Versuch verkennt aber, dass bei generell gefährlichen Verhaltensweisen auch Fälle erfasst werden, in denen es an 378
Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 81 f. Weber, Die Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes durch Gefährdungs- und Unternehmungsdelikte, in: Jescheck (Hrsg.), Die Vorverlegung durch Gefährdungs- und Unternehmensdelikte, Beiheft zur ZStW, S. 23 ff. 380 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Abschnitt Rn. 25a, 6. Abschnitt Rn. 86a. 381 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Abschnitt Rn. 86a; Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung, ZStW 97 (1985), S. 768 ff. 379
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
der subjektiv-finalen Verknüpfung mit einer zu erwartenden Schädigung fehlt. Das abstrakte Gefährdungsdelikt wäre insofern eher mit dem fahrlässigen Versuch zu vergleichen.382 Jakobs stellt im Wesentlichen auf die riskante Gestaltung des Organisationskreises des Täters ab. Wenn der Täter sich der Möglichkeit begeben habe, „eine riskante Gestaltung seines Organisationskreises zu entschärfen“, sei eine Pönalisierung legitim.383 Problematisch ist bei dieser Sichtweise allerdings, dass ein alleiniges Abstellen auf die Beherrschbarkeit durch den Täter nicht in Frage kommt. Nahezu jedes Verhalten kann Auswirkungen auf die Umwelt haben und wird dann regelmäßig nicht beherrschbar sein. Es müssen also Kriterien gefunden werden, anhand derer sich normativ noch tolerierbare Risiken von nicht mehr hinnehmbaren Risiken unterscheiden lassen. Für Jakobs müsste die Frage also lauten: „Welches nachfolgende Verhalten einer Person muss der Täter als Teil des von ihm zu organisierenden Verhaltenskreises mitverantworten und aus diesem Grunde in seine Verhaltensorientierung einbeziehen?“384 Das entscheidende Kriterium für eine Differenzierung zwischen legitimen und illegitimen abstrakten Gefährdungsdelikten muss demnach die Gefahrgeneigtheit einer Handlung sein. Zu Recht werden abstrakte Gefährdungsdelikte daher auch „Risiko- bzw. Gefährlichkeitsdelikte“ genannt.385 Gleiches ergibt sich auch aus einer anderen Betrachtung. Bei abstrakten Gefährdungsdelikten wird nicht auf den konkreten Einzelfall abgestellt, sondern es geht um die Zugehörigkeit zu einer Klasse von Verhaltensweisen, die eine Rechtsgutsverletzung nach sich ziehen könnten, aber nicht müssen. Es stellt sich daher die Frage, wann eine Klasse von Verhaltensweisen mit signifikanter Häufigkeit Schäden einer bestimmten Art bedingt.386 Nur wenn diese Prämisse erfüllt ist, kann ein abstraktes Gefährdungsdelikt auch legitim sein. Dem Gesetzgeber ist eine gewisse Einschätzungsprärogative in Bezug auf diese Frage der abstrakt-generellen Gefahr zuzusprechen. Allerdings können völlig willkürliche Annahmen nicht geeignet sein, ein abstraktes Gefährdungsdelikt zu legitimieren. Wenn man diese Voraussetzung mit der Werthaltigkeit eines Rechtsgutes in Relation setzt, kann man mit Lagodny formulieren: „Je 382
Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, S. 304. Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung, ZStW 97 (1985), S. 766. 384 Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, S. 305; Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung, ZStW 97 (1985), S. 770. 385 Vgl. Hirsch, Gefahr und Gefährlichkeit, in: Haft/Hassemer/Neumann/Schild/ Schroth (Hrsg.), Strafgerechtigkeit, S. 549 ff., 558. 386 Siehe oben, 3. Kapitel B. VII. 1. Der Hinweis Kindhäusers, dass es auf eine „typische“ Gefahrrealisierung ankomme, läuft ebenfalls auf eine statistische Relationsprüfung hinaus. 383
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weniger plausibel das Vorliegen einer abstrakt-generellen Gefahr für die ,Gemeinwohlinteressen‘ als Rechtsgut im grundrechtsdogmatischen Sinne ist, umso größer muss das Gewicht der zu schützenden Rechtsgutsinteressen sein.“387 Diese Wechselbeziehung aus Werthaltigkeit des Rechtsgutes und Plausibilität der Gefahrenprognose trägt dem Gedanken Rechnung, dass der Schutz hochwertiger Rechtsgüter im Rahmen der Verhältnismäßigkeit auch größere Einschränkungen der persönlichen Freiheit rechtfertigt. An dieser Stelle können die Gründe, die für die Einführung von abstrakten Gefährdungsdelikten angeführt werden, Beweisschwierigkeiten und die Effektivität des Schutzes wichtiger Rechtsgüter durch Ausschalten von Zufallsrisiken wieder Gewicht erlangen. Im Rahmen der Abwägung der persönlichen Freiheit, die durch abstrakte Gefährdungsdelikte in einem höheren Maße als durch Verletzungsdelikte eingeschränkt wird, kommt es gerade darauf an, gute Gründe für diese Einschränkung zu finden. Im Ergebnis ist der Einsatz eines abstrakten Gefährdungsdeliktes nur dann gerechtfertigt, wenn die Strafnorm auf den Schutz eines besonders schützenswerten Rechtsgutes abzielt.388 c) Anwendung von Kriterien der objektiven Zurechnung Eine weitere Möglichkeit, die Anwendung von abstrakten Gefährdungsdelikten zu reduzieren, bietet die Lehre der objektiven Zurechnung.389 Im Bereich der Verletzungsdelikte ist die objektive Zurechnung das Hauptkriterium um strafrechtlich irrelevantes Verhalten von relevantem Verhalten zu differenzieren. Durch die Einbeziehung von mittelbaren Verletzungen oder Gefährdungen von Rechtsgütern droht eine unangemessene Ausweitung der Anwendbarkeit von Strafrechtsnormen. Praktisch jeder Straftatbestand könnte auf diese Weise auf ein legitimes Rechtsgut bezogen werden.390 Genau wie bei Verletzungsdelikten kann eine Strafrechtsnorm nicht allein unter Betrachtung des Zwecks der Norm (Schutz eines legitimen Rechtsgutes) legitimiert werden. Auch das Verhältnis
387 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 246; ders., Das materielle Strafrecht als Prüfstein der Verfassungsdogmatik, in: Hefendehl/von Hirsch/ Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 87; vgl. auch Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law, vol. 1, Harm to Others, S. 190 ff. 388 Vgl. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 207 f.; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 442, 483, 520. 389 Im Grunde genommen geht es hierbei um die Anwendung von Prinzipien, die auch bei der Zurechnungslehre eine Rolle spielen und auch für die Frage der Legitimation von Strafrechtsnormen bedeutsam sind. Vgl. Frisch, Rechtsgut, Recht, Deliktsstruktur und Zurechnung im Rahmen der Legitimation staatlichen Strafens, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 228. 390 von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie und Deliktsstruktur – zu den Kriterien fairer Zurechnung, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 196.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
zwischen Schädigung oder Gefährdung und Täter ist von Bedeutung.391 Wenn man die Grundsätze der objektiven Zurechnung, nämlich dass andere Personen sich auch auf das bestimmten Verhaltensweisen innewohnende Risikopotential einstellen müssen, auf Gefährdungsdelikte anwendet, folgt daraus, dass ein Risiko nur dann strafrechtlich relevant ist, wenn es weder durch den Täter noch in zumutbarer Weise durch andere Personen kompensiert werden kann.392 In Situationen, in denen die Betroffenen die möglichen Grundrechtsverletzungen nicht autonom regulieren können, könnte dann sogar die objektiv-rechtliche Schutzpflicht des Staates in Form einer konkreten Handlungsverpflichtung hervor treten.393 d) Differenzierungspflicht bei abstrakten Gefährdungsdelikten aus Art. 3 Abs. 1 GG Zu beachten ist weiterhin, dass in Hinblick auf die generalisierte Gefahrenprognose des Gesetzgebers geprüft werden muss, ob diese nicht zu „pauschal“ ausgefallen ist.394 Unter Beachtung des Art. 3 Abs. 1 GG dürfen nicht grundverschiedene Dinge gleich behandelt werden. Diese Differenzierung ist auch notwendig, um nicht auch Handlungen zu erfassen, bei denen eine Gefahrenprognose unplausibel ist. Dem Gesetzgeber ist zwar auch in Hinblick auf die Gefährdungsprognose ein Einschätzungsspielraum zuzugestehen, vom Strafgesetzgeber können aber zumindest operationalisierbare Gefährdungsprognosen erwartet werden.395 Strafrechtsnormen stellen Grundrechtseingriffe dar, die durch eine nachvollziehbare Gefährdungsprognose gerechtfertigt werden müssen. Unplausible Gefährdungshypothesen verstoßen gegen das Willkürverbot. Eine Gefährdungsprognose kann insbesondere dann unplausibel sein, wenn sich der Handelnde davon überzeugt hat, dass eine Rechtsgutsgefährdung ausgeschlossen ist. Insofern hängen die Überlegungen zur Einschränkung der Anwendung abstrakter Gefährdungsdelikte zusammen. Häufig sehen Gesetze Möglichkeiten vor, die Anwendung der Gefährdungsdelikte zu reduzieren. Dies ist in Hinblick auf Freiheits- und Gleichheitsrechte, welche durch eine zu undifferenzierte Prognose des Gesetzgebers betroffen werden, geboten. Diese Möglichkeiten sind zum einen Erlaubnisvorbehalte, zum anderen in den Tatbeständen festgeschriebene Ausnahmen oder Differenzierungsmöglichkeiten („Erzieherprivileg“ des § 184 II StGB, „offensichtlich“ in 391 von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie und Deliktsstruktur – zu den Kriterien fairer Zurechnung, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 197. 392 Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, S. 314. 393 Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 98. 394 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 240. 395 Sternberg-Lieben, Rechtsgut, Verhältnismäßigkeit und die Freiheit des Strafgesetzgebers, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 78.
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§ 6 Nr. 3 GjS, und in Bezug auf Sanktionsnormen auch in § 326 Abs. 5 StGB).396 Falls der Gesetzgeber seiner Differenzierungspflicht nicht nachkommt, wäre die Vorschrift für verfassungswidrig zu erklären, sofern nicht eine verfassungskonforme Auslegung in Betracht kommt. Die Möglichkeit einer teleologischen Reduktion durch den Strafrichter müsste in diesem Zusammenhang geprüft werden. Die teleologische Reduktion von abstrakten Gefährdungsdelikten in Fällen, in denen eine Gefährdung eines Rechtsgutes ausgeschlossen ist, stellt sich allerdings als problematisch dar, da eine derartige Interpretation des Tatbestandes das abstrakte Gefährdungsdelikt zu einem konkreten Gefährdungsdelikt transformieren würde. Der Gesetzgeber hat durch die Entscheidung für ein abstraktes Gefährdungsdelikt ja gerade auch objektiv ungefährliche Verhaltensweisen erfassen wollen. Eine teleologische Reduktion durch den Strafrichter würde also das Gewaltenteilungsprinzip tangieren.397 Der Richter würde seine Befugnisse überschreiten. Wenn das betreffende Gesetz aber andernfalls nichtig wäre, steht der teleologischen Reduktion nichts entgegen. Der Gesetzgeber kann nicht auf die Verbindlichkeit seiner verfassungswidrigen Entscheidung bestehen. 7. Kategorisierung abstrakter Gefährdungsdelikte Ausgehend von Schünemann398 hat sich in der Literatur eine Strömung entwickelt, welche abstrakte Gefährdungsdelikte in vier Kategorien unterteilt: Zum einen die als „fahrlässige Versuchsdelikte“,399 „klassische abstrakte Gefährdungsdelikte“400 oder „uneigentliche abstrakte Gefährdungsdelikte“401 bezeichneten Delikte. Bei ihnen muss sich ein unmittelbarer Bezug zur konkreten Gefährdung für das geschützte Rechtsgut zeigen lassen. Es wird insofern eine Reduktion der Tatbestände verlangt, falls eine Gefährdung nicht möglich und dies dem Täter auch bewusst war.402
396
Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 243 f. Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 480 ff. 398 Vgl. Schünemann, der die Eignungsdelikte nicht als Kategorie der abstrakten Gefährdungsdelikte aufführt, sondern als abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte bezeichnet. Schünemann, Moderne Tendenzen in der Dogmatik der Fahrlässigkeits- und Gefährdungsdelikte, JA 1975, S. 793, 798. 399 Schünemann, Moderne Tendenzen in der Dogmatik der Fahrlässigkeits- und Gefährdungsdelikte, JA 1975, S. 798. 400 Roxin, Strafrecht AT 1, § 11 B Rn. 154. 401 Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen System, S. 278. 402 Vgl. Roxin, Strafrecht AT 1, § 11 B 158 f. 397
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Eine zweite Kategorie bilden die so genannten „Massenhandlungen“ oder „eigentlichen abstrakten Gefährdungsdelikte“.403 Bei ihnen ist es aus lerntheoretischen Gründen geboten, die Strafe an den bloßen Regelverstoß zu knüpfen. Dem Bürger wird eine eigenmächtige Beurteilung der Gefahrensituation nicht zugemutet404 oder vielmehr nicht zugetraut. Auf diese Weise werden auch Beweisschwierigkeiten, wie sie beispielsweise bei einem auf konkreten Gefährdungen aufgebauten Straßenverkehrsrecht auftreten würden, ausgeräumt. Die dritte Kategorie wird durch Delikte mit vergeistigtem Zwischenrechtsgut geprägt.405 Die Verletzung des Zwischenrechtsgutes stellt hierbei bereits ein strafwürdiges Unrecht dar. Schließlich bilden die so genannten Eignungsdelikte eine vierte Kategorie. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass durch den Tatrichter noch festgestellt werden muss, dass die begangene Handlung „geeignet“ war, einen Schaden herbeizuführen. Von Schröder wurden sie als „abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte“ bezeichnet.406 Die Notwendigkeit der richterlichen Feststellung einer „Eignung“ ändert jedoch nichts an ihrer Natur als abstrakte Gefährdungsdelikte. Ein konkreter Gefahrerfolg muss nicht eintreten.407 Zur Legitimation abstrakter Gefährdungsdelikte trägt diese Kategorisierung allerdings nicht bei. Insbesondere die Kategorien der „Massenhandlungen“ und der „Delikte mit vergeistigtem Zwischenrechtsgut“ dienen allein dazu, eine für richtig gehaltene Pönalisierung durch eine Scheinbegründung zu legitimieren.408 Bei der Frage, ob ein Verhalten überhaupt unter Strafe gestellt werden sollte, hilft die Differenzierung zwischen „Massenhandlungen“ und „klassischen abstrakten Gefährdungsdelikten“ nicht weiter. Allein für den Rechtsanwender ist es hilfreich, wenn „Massenhandlungen“ als nicht einschränkbar bezeichnet werden. Bei „Delikten mit vergeistigtem Zwischenrechtsgut“ stellt sich die Frage, welchen vergeistigten Zwischenrechtsgütern der Gesetzgeber strafrechtlichen Schutz gewähren darf.409 Bereits oben wurde darauf hingewiesen, dass vergeis-
403 Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen System, S. 277. 404 Wolter spricht von einer Entlastung des Bürgers. Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen System, S. 277. 405 Schünemann, Moderne Tendenzen in der Dogmatik der Fahrlässigkeits- und Gefährdungsdelikte, JA 1975, S. 798. 406 Vgl. Schröder, JZ 1967, S. 522. 407 Roxin, Strafrecht AT 1, § 11 B Rn. 162. 408 Vgl. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, S. 34 ff.; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 269 f. 409 Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, S. 302.
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tigte Universalrechtsgüter nach Möglichkeit auf ihre dahinter stehenden Individualrechtsgüter zurückgeführt werden sollten. Die Annahme von vergeistigten Zwischenrechtsgütern für die Legitimation von abstrakten Gefährdungsdelikten ist daher zweifelhaft. Sie würden insofern Scheinrechtsgüter darstellen. Wohlers ordnet abstrakte Gefährdungsdelikte in drei Kategorien: Die „konkreten Gefährlichkeitsdelikte“, die Verhaltensweisen pönalisieren, deren Gefährlichkeit darauf beruht, dass sie zu Situationen führen, die für den Täter nicht mehr steuerbar sind und ohne weiteres, wenn nur ein Tatobjekt in den Einwirkungsbereich des Täters gelangen würde, zu einer konkreten Gefährdung oder einer Beeinträchtigung eines Rechtsgutes führen würden.410 Die Funktion eines derartigen Deliktes besteht darin, verbindliche Verhaltensstandards vorzugeben. Dies kann vor allem dann nützlich sein, wenn eine Verhaltenskoordination erwünscht ist. Eine solche ist in einigen Bereichen unerlässlich. Zu nennen wäre der Straßenverkehr, in dem es nicht jedem selbst überlassen bleiben kann, nach eigener Einschätzung einer Situation zu handeln. Die Gefahr von Irrtümern und Fehleinschätzungen wäre zu groß, die Folgen zu gravierend. In Anbetracht der Grundlagen der objektiven Zurechnung kann eine Verhaltensstandardisierung aber nur dann in Frage kommen, wenn das mit der anvisierten Handlung verbundene Risiko weder vom Täter noch von dritten Personen hinreichend sicher beherrscht werden kann.411 Als weitere Gruppe ist das Kumulationsdelikt zu nennen, bei dem eine relevante Beeinträchtigung erst durch das Zusammenwirken mehrer gleichgerichteter Verhaltensweisen auftreten kann.412 Schließlich nennt Wohlers diejenigen Verhaltensweisen, deren Risikopotential darin besteht, dass der Handelnde selbst oder eine andere Person an selbige anknüpfen kann, um deliktische Zwecke zu erfüllen (Vorbereitungsdelikte).413 Aufgrund des deliktischen Planungszusammenhangs sieht Lagodny bei Vorbereitungsdelikten das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit gewahrt. Daher können diese Delikte eher legitimiert werden als andere abstrakte Gefährdungsdelikte.414 Wohlers setzt aber nicht unbedingt einen Planungszusammenhang voraus. Ein Vorbereitungsdelikt kann auch dann gegeben sein, wenn gar keine Folgehandlung beabsichtigt war, das inkriminierte Verhalten aber ein rechtsgutsverletzendes Verhalten nach sich ziehen kann. Der Zurechnung dieses zweiten Verhaltens zum Täter des Vorbereitungsdelikts steht zunächst das Prinzip der 410
Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, S. 309. von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie und Deliktsstruktur – zu den fairer Zurechnung, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 412 von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie und Deliktsstruktur – zu den fairer Zurechnung, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 413 Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, S. 310. 414 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 441. 411
Kriterien S. 212. Kriterien S. 199.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Eigenverantwortlichkeit entgegen.415 Im Fall des Planungszusammenhangs kann man diese Hürde problemlos meistern, wenn dieser Zusammenhang allerdings fehlt, ist es kaum nachzuvollziehen, dass das Verhalten eines anderen dem Ersttäter zugerechnet wird. In Betracht kommt eine derartige Zurechnung nur, wenn der Ersttäter auf den Zweittäter in der Weise eingewirkt hat, dass er für das Verhalten des Zweittäters normativ verantwortlich gemacht werden kann („normative involvement“).416 Die Einordnung einer Strafrechtsnorm in eine der Kategorien hängt wesentlich von dem Schutzzweck der Norm ab. So kann sich die selbe Vorschrift unter dem einen Schutzgesichtspunkt als Kumulationsdelikt, unter einem anderen Gesichtspunkt jedoch als Vorbereitungsdelikt darstellen.417 8. Bedenken gegen die Einordnung des § 216 StGB als Gefährdungsdelikt In Bezug auf § 216 StGB ergibt sich die Besonderheit, dass die potentiell gefährliche Handlung die Tötung eines Menschen ist. Damit wäre § 216 StGB gleichzeitig ein Erfolgs- und ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Ein Teil der Literatur sieht hierin einen Widerspruch, da nur Verletzungs- und konkrete Gefährdungsdelikte Erfolgsdelikte darstellen könnten.418 Auf den ersten Blick widerspricht dies also einer Einordnung als abstraktes Gefährdungsdelikt. Notwendig ist aber, zwischen dem tatsächlich in Mitleidenschaft gezogenen „Objekt“ (Handlungsobjekt) und dem für den Tatbestand relevanten „Objekt“ (Rechtsgutsobjekt) zu unterscheiden.419 Bei § 306 a Abs. 1 Nr. 1 StGB beispielsweise ist das geschützte „Objekt“ (das Rechtsgutsobjekt) der eventuell gefährdete Mensch, dessen Leben und körperliche Unversehrtheit geschützt werden soll. Das in Brand gesetzte Gebäude hingegen ist lediglich Handlungsobjekt, dessen Zustand die Gefahr für den Menschen erst denkbar macht. Ähnlich verhält es sich bei der Tötung auf Verlangen. Ich habe bereits festgestellt, dass der Staat nicht legitimiert ist, die Tötung auf Verlangen eines freiverantwortlich handelnden Menschen unter Strafe zu stellen, um das Leben dieses Menschen zu schützen. Als „Rechtsgutsobjekt“ scheidet damit der freiverantwortlich Handelnde 415 von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie und Deliktsstruktur – zu den Kriterien fairer Zurechnung, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 200 f. 416 von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie und Deliktsstruktur – zu den Kriterien fairer Zurechnung, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 204 ff. 417 Wohlers, Rechtsgutstheorie und Deliktsstruktur, GA 2002 (149), S. 19. 418 Vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, S. 263 f.; Jescheck, in: Leipziger Kommentar StGB, Band 1, § 13 Rn. 2; Lackner/Kühl, StGB Kommentar, vor § 13, Rn. 32. 419 Vgl. Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 71 f.; Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 30 f.; Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 36 f.
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aus. Nun spricht alles dafür, die „Ernstlichkeit“ des Tötungsverlangens nur im Fall der Freiverantwortlichkeit anzunehmen. Daraus folgt, dass der in § 216 StGB vorausgesetzte Erfolg, die Tötung des Verlangenden nicht die Beeinträchtigung eines „Rechtsgutsobjektes“, sondern eines „Handlungsobjektes“ darstellt. VIII. Schutz von Interessen der Allgemeinheit Regelmäßig sind die Verletzungen von Interessen der Allgemeinheit nicht mit der für die Annahme von Verletzungsdelikten nötigen Sicherheit festzustellen. Daher dient hier das abstrakte Gefährdungsdelikt als Mittel zum strafrechtlichen Schutz von Rechtsgütern der Allgemeinheit.420 1. Grundrechtsfürsorge Isensee unterscheidet zwischen grundrechtlicher Schutzpflicht und Grundrechtsfürsorge. Die grundrechtliche Schutzpflicht setzt stets eine Dreier-Konstellation, Staat-Störer-Opfer, voraus. Fälle der Selbstgefährdung und Selbstschädigung fallen demnach nicht unter die grundrechtliche Schutzpflicht. Isensee sieht neben der grundrechtlichen Schutzpflicht allerdings eine Grundrechtsfürsorgepflicht des Staates. Diese kann im Fall eines Suizids oder der Tötung auf Verlangen ein Eingreifen des Staates rechtfertigen, selbst wenn der Todeswunsch freiverantwortlich zustande kam. Dies begründet Isensee mit der Würde des Menschen, die zwar in erster Linie in seiner subjektiven Freiheit bestehe, aber sich nicht darin erschöpfe. Er sieht einen „Moment objektiver, aufgegebener Menschenwürde“, über die der Einzelne nicht verfügen könne.421 Insofern besteht hier eine Verwandtschaft mit den Argumentationen von Wilms und Jäger. Isensee beruft sich aber allein auf die Wertung des Grundgesetzes ohne Rückgriff auf die Kantische Philosophie. Diese hatte allerdings starken Einfluss auf die Gestaltung der Grundrechte. Die Momente der objektiven Menschenwürde seien auch in anderen Grundrechten zu finden und Bestandteil des Sittengesetzes nach Art. 2 Abs. 1 GG. Die Betonung des „Momentes objektiver Menschenwürde“ zeigt, dass Isensee keinen paternalistischen Schutz der Menschenwürde bezweckt. Es soll nicht der Mensch um seinetwillen vor einer unüberlegten Aufgabe der Menschenwürde geschützt werden. Es geht vielmehr um die Idee der Menschenwürde als objektives Prinzip und Grundlage unserer Verfassung.
420 Otto, Grundsätze des Wirtschaftsstrafrechts I, ZStW 96 (1984), S. 363 f.; vgl. Schmitz, Der strafrechtliche Schutz des Kapitalmarkts, ZStW 115 (2003), S. 508. 421 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Band V, § 111 Rn. 115.
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Dieser Gedanke erhebt allerdings meines Erachtens die Menschenwürde durch die Ablösung von ihrem konkreten Träger zum bloßen Selbstzweck. Ein objektiver Gehalt der Menschenwürde ist schwer vorstellbar. Der Inhalt der Menschenwürde kann nicht objektiv bestimmt werden.422 Der Begriff der Menschenwürde ist mit dem Träger der Menschenwürde und seiner Befugnis zur Selbstdefinition des Inhalts der Menschenwürde untrennbar verbunden.423 Wie oben bereits dargelegt, ist eine Pflicht zu Leben nicht aus dem Gedanken der Menschenwürde herzuleiten. Der Staat ist Instrument zur Verwirklichung von individueller Freiheit und Würde. Die Menschenwürde darf nicht im Sinne einer Objektivierung der Individualität zugunsten des Staates oder eines objektiven Gemeinwohlinteresses interpretiert werden.424 Als abstraktes Prinzip könnte sie sich andernfalls gegen den Menschen selbst richten.425 Auch der Auftrag zum Schutz der menschlichen Gattung und die Bewahrung eines bestimmten Menschenbildes kann dem Art. 1 Abs. 1 GG nicht entnommen werden. Bereits in Hinblick auf den Wortlaut des Art. 1 GG, der nicht von der „Würde der Menschheit“ oder der „menschlichen Würde“ spricht, ist eine derartige Position fragwürdig.426 Tatsächlich spricht die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes dafür, dass unter Abkehr vom menschenverachtenden Kollektivismus der NS-Zeit eine individualistische Linie verfolgt wurde und die Würde des einzelnen Menschen gemeint war. Schließlich ist bereits Isensees Ansatz fragwürdig, da im Gegensatz zur grundrechtlichen Schutzpflicht eine Grundrechtsfürsorgepflicht des Staates nicht zur gefestigten Judikatur gehört. Es scheint, als solle hier über ein sprachliches Konstrukt der Gedanke eines objektiven Gehaltes der Grundrechte zu einem von dem konkreten Grundrechtsträger gelösten abstrakten Rechtswert „pervertiert“ werden. Auch ein Schutz des Wesensgehalts des Grundrechts auf Leben durch Verbot der totalen Zerstörung des Grundrechts kann nicht zu Lasten des Grundrechtsträgers etabliert werden. Aus der Wesensgehaltssperre des Art. 19 Abs. 2 GG kann eine Verpflichtung des Grundrechtsträgers zur Lebenserhaltung nicht hergeleitet werden. Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG erlaubt es dem Gesetzgeber sogar, in das Recht auf Leben einzugreifen. Die Vernichtung des individuellen Lebens kann also nicht dem Kernbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zuwiderlaufen.427
422 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 92; Podlech, in: Wassermann (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Reihe Alternativkommentare), Bd. I, Art. 1 Abs. 1 Rn. 46. 423 Vgl. Günzel, Das Recht auf Selbsttötung, S. 40 f. 424 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 107; Hufen, In dubio pro dignitate, NJW 2001, S. 851. 425 Hufen, Erosion der Menschenwürde?, JZ 2004, S. 313. 426 Herdegen, in: Maunz-Dürig Grundgesetz Band I, Art. 1 Abs. 1 Rn. 29.
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2. Kollektivistische Begründung Das Verbot der Tötung auf Verlangen wird teilweise auch damit begründet, dass im Interesse der Allgemeinheit das Individuum erhalten bleiben müsse. Der Hintergrund dieser Argumentation ist, dass jede Gemeinschaft aus Individuen besteht und nur mit ihren Individuen bestehen kann. Auch das Grundgesetz gibt die Gemeinschaftbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit aller Bürger vor.428 Hieraus wird gefolgert, dass es im Selbsterhaltungsinteresse der Gemeinschaft liege, zu verhindern, dass Individuen sich aus der Gemeinschaft lösen.429 Das Leben des Einzelnen wäre damit zumindest auch ein Rechtsgut der Allgemeinheit.430 Diese Sichtweise verurteilt die Tötung auf Verlangen ebenso wie den Suizid und die Beteiligung hieran und begründet eine Rechtspflicht des Individuums für den physischen Fortbestand der Gemeinschaft zu sorgen. Für Feuerbach endet das Recht auf freie Disposition über sein Leben für das Individuum, wenn er in den Staat eintritt. Er dürfe sich seiner Verpflichtung genau so wenig durch Selbsttötung entziehen, wie er sonst einseitig seinen Bürgervertrag aufheben dürfe.431 Kritik ist an diesem Ansatz deshalb zu üben, weil er das Subjekt als Mittel zur Erhaltung der Gesellschaft sieht. Mit dieser Sichtweise wird nicht nur verlangt, dass das Individuum zeitlebens der Gemeinschaft dient, sondern auch, dass es überhaupt lebt. Das Kollektiv wird damit über das Individuum gestellt. Diese staats- bzw. gemeinschaftsutilitaristische Sichtweise wurde bereits in der NS-Zeit vertreten.432 Mit dem Grundgesetz ist sie jedoch nicht zu vereinbaren. Die Würde des Menschen nimmt eine zentrale Rolle im Wertesystem des Grundgesetzes ein. Damit wird das Individuum über das Kollektiv gestellt.433 Diese bewusste
427
Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes,
S. 54. 428 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 114. 429 Eser, Neues Recht des Sterbens?, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 397; Schmidhäuser, Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord in strafrechtlicher Sicht, in: Stratenwerth/Kaufmann/Geilen/Hirsch/Schreiber/Jakobs/Loos (Hrsg.), Festschrift für Welzel, S. 817 ff.; Weigend, Über die Begründung der Straflosigkeit bei Einwilligung des Betroffenen, ZStW 98 (1986), 66. 430 BGHSt 4, S. 88 f. 431 Rehbach, Geschichte der Selbstmordbestrafung, DRiZ 1986, S. 245. 432 Vgl. Kallfelz, Anmerkung (zu RGZE 151, 350), JW 1936, S. 3115: „. . . Zurückdrängung eigensüchtigen Individuallebens . . .“. 433 Siehe auch die ursprüngliche Formulierung des Art. 1 Abs. 1 GG des Herrenchiemseer Verfassungsentwurfs: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz Kommentar, Art. 1 Rn. 1; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 60
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Entscheidung wurde insbesondere auch unter dem Eindruck der Gräueltaten des Dritten Reiches getroffen.434 Auch die Ausreisefreiheit des Einzelnen zeigt, dass das Grundgesetz davon ausgeht, dass ein Mensch sich sehr wohl der Gemeinschaft entziehen darf.435 Kaufmann formuliert die Verpflichtung des Einzelnen der Gemeinschaft gegenüber als Verpflichtung solange er lebt.436 Eine Verpflichtung überhaupt zu leben wäre ein bedenklicher Kollektivismus.437 Dies würde eine nicht hinnehmbare Umkehrung des Verhältnisses von Staat und Gemeinschaft auf der einen und Individuum auf der anderen Seite darstellen.438 Der Staat darf nicht zum Selbstzweck erhoben werden. Seine Aufgabe besteht darin, dem Individuum zu dienen, nicht umgekehrt. Eine Einschränkung der grundrechtlich gewährten Selbstbestimmung zum Schutz des Staates um seiner selbst willen ist nicht mit der individualistischen Konzeption des Grundgesetzes zu vereinbaren.439 Mit ähnlich gemeinschaftsutilitaristischer Stoßrichtung argumentiert Eser, wenn er das Verbot der Tötung auf Verlangen mit der „Abwehr tendenzieller Selbstaufgabe der Gesellschaft“ durch Tabuisierung rechtfertigt.440 Auch hier wird der Mensch als Mittel zur Erhaltung der Gesellschaft missbraucht, die ohne ihn erst gar nicht bestehen muss. Selbst wenn man den Grund für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen ausschließlich darin sähe, dass eine große Menge von Menschen die Tötung auf Verlangen praktizieren würde und erst darin eine Gefährdung für den Bestand der Gesellschaft erblicke, ist eine derartige gemeinschaftsutilitaristische Verplanung des Individuums nicht zu rechtfertigen. Auch als Kumulationsdelikt ist § 216 StGB somit nicht durch kollektivistische Begründungen zu legitimieren.
II 2, S. 146 f.; Dölling, Fahrlässige Tötung bei Selbstgefährdung des Opfers, GA 1984, S. 85. 434 Hufen, Erosion der Menschenwürde?, JZ 2004, S. 313. 435 Roxin, Die Mitwirkung beim Suizid, in: Jescheck/Lüttger (Hrsg.), Festschrift für Dreher, S. 338. 436 Dabei bezieht er sich auf die Formulierung Berners: „Das Individuum ist dem Staat und anderen verpflichtet, solange es lebt; es ist ihnen aber nicht verpflichtet zu leben.“; Berner, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, S. 93. 437 Kaufmann, Relativierung des rechtlichen Lebensschutzes?, in: Schünemann/ Achenbach/Bottke/Haffke/Rudolphi (Hrsg.), Festschrift für Roxin, S. 851. 438 Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 55; vgl. Herzog, in: Kunst/ Grundmann (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Spalte 1961. 439 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, § 79 IV 4 d g, S. 356 f. 440 Eser, Neues Recht des Sterbens?, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie als human- und sozialwissenschaftliches Problem, S. 397.
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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3. Sozialbindung Etwas anders akzentuiert ist der Ansatz, dass aus dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 GG) eine Rücksichtnahmepflicht des Sterbewilligen auf die Belange der Solidargemeinschaft hergeleitet wird. Der Tod eines Unterhaltsverpflichteten würde zu einer Belastung der Solidargemeinschaft führen, weil diese nunmehr sozialfürsorglich für den Unterhaltsberechtigten einstehen müsste.441 Für diese Argumentation kann man die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Schutzhelmtragepflicht für Motorradfahrer anführen. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, dass die Weigerung, einen Schutzhelm zu tragen, nicht nur eine Selbstgefährdung darstellt, sondern unter anderem durch mögliche soziale Folgelasten auch Allgemeininteressen berührt werden.442 Dieselbe Begründung kann auch für die Gurtpflicht herangezogen werden. Gerade in Bezug auf soziale Folgelasten schließt sich jedoch die Frage an, ob dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG eine Beschränkung der „Freiheit zum Risiko“ und damit eine Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Solidargemeinschaft entnommen werden kann. Aus dem Sozialstaatsprinzip würde dann die Pflicht des Individuums erwachsen, sich selbst gesund und am Leben zu erhalten, um seinen sozialen Aufgaben in der Gesellschaft nachzukommen. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach darauf hingewiesen, dass das Menschenbild des Grundgesetzes nicht das des isolierten Individuums ist, sondern das eines in die Gemeinschaft gestellten Menschen.443 Aus dieser Gemeinschaftsgebundenheit eine derartige Pflichtbindung des Individuums abzuleiten, verkennt jedoch die individualfreiheitssichernde Funktion der Grundrechte.444 Die Grundrechte könnten dann ihre Freiheiten nur unter dem Vorbehalt des Sozialstaatsprinzips garantieren. Trotz der vielbeschworenen Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums des Grundgesetzes ginge eine solche Sichtweise zu weit.445 Dem Menschen würde das Recht auf autonome Entscheidungen über das Eingehen von Risiken zugunsten einer Rechtspflicht zu einem sozialstaatlich verträglichen „vernünftigen“ Verhalten entzogen.446 Freiheitsverträglicher wäre dann der Ausschluss von Leistungsan-
441 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 116. 442 BVerfGE 59, S. 275 (279); BGHZ 74, S. 25 (34). 443 BVerfGE 4, S. 7 (15 f.); 32, S. 98 (107 f.). 444 Köhler, Freiheitliches Rechtsprinzip und Betäubungsmittelstrafrecht, ZStW 104 (1992), S. 21 f. 445 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 51; Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 119. 446 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 229; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 101, 159 ff.; Fink, Selbstbestim-
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
sprüchen im Falle der autonomen Verursachung von sozialen Folgelasten durch unmittelbare oder auch mittelbare Selbstverletzung bzw. -gefährdung.447 Auch die Berufsfreiheit darf der Staat nicht in Hinblick auf eine Verringerung der Arbeitslosenzahlen beschränken. Durch Gewährung sozialer Sicherheit soll dem sozial Schwachen die Freiheitsbetätigung ermöglicht werden. Das Sozialstaatsprinzip soll die Freiheitsbetätigung des Menschen also gerade stärken, nicht verkürzen. Die Schranke der „Rechte anderer“ in Art. 2 Abs. 1 GG beschreibt entgegengesetzte Individualrechte anderer, nicht öffentlichrechtliche Gemeinwohlbindungen. Sonst würde die freie Entfaltung des Einzelnen auf das „zahme Maß der Gemeinüblichkeit“ reduziert.448 „Die Verwirklichung des sozialen Staatszieles darf nicht die Lähmung der Freiheitsbetätigung der Einzelnen zur Konsequenz haben“.449 Die Freiheit ist nicht nur vorbehaltlich des Sozialstaatsprinzips zu gewähren.450 Das Sozialstaatsprinzip ist vielmehr Richtlinie für das Ermessen des Gesetzgebers und der Verwaltung. Es ist eine verfassungsrechtliche Wertentscheidung. Ein Auftrag oder gar eine Legitimation zu bestimmten gesetzgeberischen Maßnahmen ist in einer derartigen allgemeinen Staatszielbestimmung nicht zu sehen.451 4. Tabuschutz als Schutz der Wertbestimmung der Gesellschaft Eine Variante des „Tabu“-Arguments bezieht sich auf den Schutz von Allgemeininteressen. Hierbei geht es nicht darum, dass ein Tabu aus sich selbst heraus eine Verbindlichkeit entfalten soll, sondern es erlangt erst durch seine Bedeutung in der Gesellschaft Relevanz für die Rechtsordnung. Das Dogma der Unantastbarkeit fremden Lebens beziehungsweise der Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens ist nicht bereits in sich schon der Grund für eine Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen. Dieser ergibt sich erst unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Bedeutung des Tabus, die erhalten bleiben soll.452 Engisch nennt diese Ausprägung des Tabus ein „in der Volksanschauung wurzelndes rechtliches Prinzip“, welches nicht notwendigerweise moralisch neutral sein mung und Selbsttötung, S. 119; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 51. 447 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 101; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 54; Schwabe, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, JZ 1998, S. 73 f. 448 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 116. 449 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, S. 119. 450 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 159 ff. 451 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, S. 119 f. 452 Hirsch, Einwilligung und Selbstbestimmung, in: Stratenwerth/Kaufmann/Geilen/ Hirsch/Schreiber/Jakobs/Loos (Hrsg.), Festschrift für Welzel, 1974, S. 777.
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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müsse.453 Herzberg sieht einen Grund für die Tabuisierung fremden Lebens bereits in dem Umstand, dass die Mehrheit darauf beharre, dass aktive Euthanasie unerlaubt bleiben müsse. Es bestehe ein emotionales Interesse an der Erhaltung des Tabus.454 Abgesehen davon, dass diese Annahme anhand neuerer Umfragen in Zweifel gezogen werden muss, kann allein der Schutz der Werte der Gesellschaft nur schwerlich als derart wichtig angesehen werden, dass er Eingriffe in bedeutende Grundrechtsgüter rechtfertigen könnte.455 In der aktuellen kriminalpolitischen Diskussion hat sich der Konsens herausgebildet, dass die Pönalisierung von Verhaltensweisen zur Durchsetzung von Wertvorstellungen allein um ihrer selbst willen, das heißt ohne Rücksicht auf ihre Wirkungen auf das Zusammenleben der Menschen der staatlichen Gemeinschaft, illegitim ist.456 Tabus sind Ausdruck einer rein sittlichen Vorstellung. Bereits Jellinek hat aber festgestellt, dass das Strafrecht ein „ethisches Minimum“ darstellen sollte.457 Es hat sich daher auf konsensfähige Normen zu beschränken und unterschiedliche sittliche Überzeugungen der Rechtsunterworfenen in kontroversen Fragen so weit wie möglich zu respektieren.458 Die Anerkennung eines Tabus lässt eine Betrachtung und damit eine Respektierung anderer sittlicher Überzeugungen aber gar nicht erst zu. Herzberg selbst führte aus, dass das Strafrecht sich nicht der „Herrschaft“ einer Weltanschauung unterordnen darf.459 Daran darf sich auch nichts ändern, wenn eine Weltanschauung von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt wird. Der Schutz des Individuums vor einer „Tyrannei der Mehrheit“ war auch ein Hauptgesichtspunkt
453 Engisch, Die Strafwürdigkeit der Unfruchtbarmachung mit Einwilligung, in: Geerds/Naucke, Festschrift für Mayer, S. 415. 454 Herzberg, Sterbehilfe als gerechtfertigte Tötung im Notstand?, NJW 1996, 3047. Die Betonung des emotionalen Interesses könnte man angesichts dieses Beitrags Herzbergs auch als einen Hinweis auf ein Interesse des Einzelnen verstehen, vor einer Schädigung seiner Gefühlswelt bewahrt zu werden. Auf diese Interpretationsmöglichkeit werde ich weiter unten im Rahmen des Schutzes von Gefühlen durch das Strafrecht zu sprechen kommen. 455 Die Bewertung der Umfragen zur aktiven Sterbehilfe ist allerdings problematisch, da die verschiedenen Umfragen mit deutlichen Implikationen durchgeführt wurden. 456 Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, S. 201; Roxin, Strafrecht AT I, § 2 C Rn. 7 ff.; Amelung, Der Begriff des Rechtsgutes in der Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 170 f.; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB, Band I, Vor § 1 Rn. 1; Rudolphi, Die verschiedenen Aspekte des Rechtsgutsbegriffs, in: Festschrift für Honig, S. 159 ff., 165. 457 Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, S. 45. 458 Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I, Köln/Berlin, § 2 Rn. 2. 459 Herzberg, Der Fall Hackethal: Strafbare Tötung auf Verlangen?, NJW 1986, S. 1641 f.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
der Entwicklung von Mills „Harm Principle“. Der Einzelne sollte vor einem gesellschaftlich aufgebrachten Anpassungsdruck bewahrt werden.460 Jakobs hat festgestellt, dass in unserem modernen Staat, welcher Pluralismus und Individualismus grundrechtlich garantiert, die Sittlichkeit keinen Staatsinhalt darstellen kann. Es wäre ein Widerspruch gegen die freiheitliche, individualistische Konzeption des Staates, wenn er die Sittlichkeit nicht „privatisieren“ würde.461 Der Staat muss deswegen nicht der Unsittlichkeit Vorschub leisten. Der Schutz der Sittlichkeit jedoch kann für sich genommen kein ausreichender Grund für die Strafbarkeit einer Handlung sein. Daher sind auch Ansätze abzulehnen, welche die Sittlichkeit der Gesellschaft als Rechtsgut im strafrechtlichen Sinne anerkennen. Staatliches Handeln muss nachvollziehbar sein, um legitim zu sein. Im Sinne eines politischen Skeptizismus kann eine Wertvorstellung nicht ohne weiteres als „richtig“ angesehen werden. Die Verpflichtung des Staates zur Gleichbehandlung führt dazu, dass eine nicht für alle Bürger nachvollziehbare Begründung nicht geeignet ist, eine staatliche Maßnahme zu legitimieren.462 Fraglich ist, ob sich hier Besonderheiten ergeben, wenn man bedenkt, dass dem Opfer des § 216 StGB keine Pönalisierung angedroht wird. Nur der Täter ist einer Sanktion unterworfen. Schließlich ist aber auch eine Pönalisierung des Täters des § 216 StGB zum Schutz von Moralvorstellungen nicht zu rechtfertigen. Die Tötung des Opfers muss aufgrund der Einwilligung als gerechtfertigt angesehen werden. Es geht ja gerade um die Frage, zu welchem Zweck die Einwilligung als des Opfers für unbeachtlich erklärt werden sollte. Es wäre ein Fehlschluss, aufgrund der Sperrwirkung des § 216 StGB die Einwilligung als unbeachtlich zu werten und daher eine Bestrafung für legitim zu erklären. 5. Tabuschutz als Sicherung des Rechtsfriedens Duttge und Göbel sehen die Funktion des Tötungsverbotes und damit des Tabus der Fremdtötung in Verbindung mit der ursprünglichen Funktion des Rechts als Mittel der Friedenssicherung. Das Verbot der Tötung habe sich als kulturelle Errungenschaft herausgebildet und ein gezieltes Zuwiderhandeln stelle die Friedensordnung prinzipiell in Frage. Die Rechtsordnung muss sich hiergegen wehren können, in dem sie ein grundlegendes Element ihrer Friedensordnung schützt. Der Einzelne habe keine Befugnis über dieses grundle460 Kahlo, Über den Zusammenhang von Rechtsgutsbegriff und objektiver Zurechnung im Strafrecht, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 33 f. 461 Jakobs, Zum Unrecht der Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen, in: Haft/ Hassemer/Neumann/Schild/Schroth (Hrsg.), Strafgerechtigkeit, Festschrift für Kaufmann, S. 464 f. 462 Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 90.
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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gende Element (das Tötungsverbot) zu verfügen.463 Die Folge einer Schädigung des Rechtsfriedens wäre ein Infragestellen des Rechtsstaates als Friedensordnung insgesamt. Dies könnte dazu führen, dass die Bevölkerung zu unkontrollierter Selbsthilfe greifen würde.464 Die Autoren bürden meines Erachtens dem Tötungsverbot hier aber zu viel auf. Die grundsätzliche Bedeutung des Tötungsverbots begründet Duttge mit der Furcht des Einzelnen vor der eigenen Tötung, welche durch die Rechtsordnung als Friedensordnung verhindert werden muss. Insofern könnte man aber auch die Furcht vor Eigentumsbeeinträchtigungen vergleichend heranziehen. Genau wie Eigentumsbeeinträchtigungen im Falle einer Einwilligung nicht geeignet sind, eine Furcht vor Eigentumsbeeinträchtigungen ohne Einwilligung zu begründen, kann man nicht davon ausgehen, dass die Straffreiheit der Tötung auf Verlangen Furcht vor Tötungen ohne Verlangen nach sich ziehen, geschweige denn dass sie die Funktion der Rechtsordnung prinzipiell in Frage stellen würde. Die Einwilligung hat grundsätzlich zur Folge, dass eine Rechtsgutsverletzung keine Störung des Rechtsfriedens darstellt. Warum dies bei der aktiven Tötung anders sein soll erklärt dieser Ansatz nicht. Die mögliche Furcht kranker Menschen vor einem Missbrauch einer Sterbehilferegelung, wie sie in den Niederlanden scheinbar zu beobachten ist,465 stellt nicht die Rechtsordnung als solches in Frage. Sie kann aber Bedeutung erlangen, wenn es um den Schutz der Interessen dieser Menschen geht. Die Verletzung von Interessen Einzelner kann nicht unter dem Stichwort „Schutz des Rechtsfriedens“ geahndet werden. Dies würde zu einer Umwertung des Rechtsgutes zu einem Scheinrechtsgut der Allgemeinheit führen. IX. Rechtsgüter Dritter als Grundrechtsschranke 1. Schutz des Lebens Dritter Das Leben als Höchstwert der Verfassung kann einen Eingriff in die Grundrechte des Einzelnen am ehesten rechtfertigen. Eine Folge des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist, dass zum Schutz besonders werthaltiger Rechtsgüter auch besonders intensive Grundrechtseingriffe zulässig sind. Der Schutz des Lebens Dritter kann durch § 216 StGB in vielerlei Hinsicht bewirkt werden.
463
Duttge, Sterbehilfe aus rechtsphilosophischer Sicht, GA 148 (2001), S. 171 ff. Göbel, Die Einwilligung im Strafrecht als Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts, S. 42 f.; vgl. auch Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Abschnitt Rn. 20. 465 Vgl. Oduncu, Ärztliche Sterbehilfe (Teil 2), MedR 2005, S. 523. 464
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
a) Paternalistischer Schutz Dritter Im Rahmen des Schutzes des Lebens Dritter haben vor allem paternalistische Ansätze ein gewisses Gewicht erreicht. Dritte in diesem Sinne sind diejenigen Individuen, die gerade nicht im Sinne des § 216 StGB „sterbewillig“ sind. Viele der bereits vorgestellten paternalistischen Ansätze laufen im Grunde genommen auf einen Schutz des Lebens Dritter hinaus. Andere Ansätze sind zwar nicht per se auf den Schutz Dritter ausgerichtet, können aber in diesem Zusammenhang neues Gewicht erlangen. Wie oben gezeigt, betrifft der § 216 StGB gerade nicht die Fälle, in denen der weiche Paternalismus zur Anwendung käme. Die Freiverantwortlichkeit des Todeswunsches ist notwendiges Element des ernstlichen Verlangens in § 216 StGB. Demnach sind Sterbewillige im Sinne des § 216 StGB nicht diejenigen, die eines paternalistischen Eingreifens bedürfen, sofern man nicht zum harten Paternalismus übergehen will. Die paternalistischen Erwägungen erlangen aber bei denjenigen Bedeutung, die in Zuständen, welche eine freie Willensbildung ausschließen, ihren Tod verlangen. Sofern dies festgestellt werden kann, wird der § 216 StGB aber gar nicht zur Anwendung kommen. Die Regelung des § 216 StGB wäre dann überflüssig. Tatsächlich wird man jedoch häufig nur schwer feststellen können, ob die Einwilligung freiverantwortlich erfolgte oder nicht. Die Möglichkeit der Anfechtung seiner Willenserklärung ist dem Einwilligenden ja gerade genommen. Genau an dieser Stelle könnte der § 216 StGB eingreifen und seine Legitimation finden. Der Einzelne soll vor der Gefahr geschützt werden, aufgrund eines unerkannt nicht freiverantwortlichen Tötungsverlangens getötet zu werden. In diese Richtung argumentiert auch Jakobs. Nach seiner Konzeption kann die Tötung auf Verlangen insofern Unrecht verwirklichen, als die „Vollzugsreife“ der Entscheidung, sein Rechtsgut Leben aufopfern zu wollen, fraglich ist, wenn die verletzende Handlung von einem anderen ausgeführt wird.466 Jakobs fasst dieses Problem unter den Punkt der Beweisschwierigkeiten, obwohl es nicht um Beweisschwierigkeiten im eigentlichen prozessualen Sinn geht. Insofern unterscheidet sich sein Ansatz vom reinen Beweisargument, auf das ich später eingehen werde. Jakobs stellt vielmehr auf die Frage ab, ob ein Todeswunsch wirklich einer eigenen Zweckverfolgung dient. Er sieht die Gefahr, dass Menschen sich in Bezug auf die Entscheidung zwischen Leben und Tod der Diktion eines anderen unterwerfen.467 In einem solchen Fall wäre der Todeswunsch tatsächlich nicht selbstbestimmt und daher nicht freiverantwortlich. Zwar unterscheidet Jakobs zwischen Ernsthaftigkeit des Todeswunsches und der 466 467
Maatsch, Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtspflichtverstoß, S. 51. Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 22.
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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Frage, ob eine „eigene Zweckverfolgung“ des Sterbewilligen vorliegt,468 inwiefern sich ein Todeswunsch als ernsthaft darstellen kann, obwohl der Todeswunsch nicht durchdacht ist oder nicht einmal der eigenen Zweckverfolgung dient, bleibt jedoch unklar. Nach den oben dargestellten Grundsätzen setzt die Ernstlichkeit im Sinne des § 216 StGB einen freiverantwortlichen, autonom gefassten Wunsch voraus. Jakobs selbst führt in dieser Richtung aus: „Ohne den Todeswunsch für sich hinreichend begründet zu haben, geriert sich der Lebensmüde auf der mehr oder weniger bewussten Grundlage als Verlangender, der Adressat werde sich um die Begründung schon kümmern.“469 Diese Annahme ist allerdings nicht zwingend. Genau wie die Entscheidung für einen selbstständigen Suizid durch das Verlangen, einer argumentativen Auseinandersetzung zu entgehen, motiviert sein kann und somit eher eine fehlende Vollzugsreife dokumentieren würde, könnte das Hinzuziehen eines weiteren Menschen zu einer Objektivierung des Todeswunsches führen und somit die Vollzugsreife untermauern.470 Jakobs sieht den Zweck des § 216 StGB vor allem in der Folge, dass der Sterbewillige die endgültige Entscheidung über Leben und Tod nicht delegieren könne. Hierdurch werde ihm das Gewicht seiner Entscheidung vor Augen geführt und so eine übereilte Entscheidung verhindert.471 Der Sterbewillige müsse selbst den Zweckzusammenhang herstellen und damit wird die Gefahr der Übereilung oder Fremdbestimmung gemindert. Jakobs kritisiert aber auch, dass der Staat nicht eingreifen dürfe, wenn die Freiverantwortlichkeit der Entscheidung feststehe. Dann könne es nicht auf die Tatherrschaft ankommen. Dem Sterbewilligen dürfe nicht verboten werden, sich eines Helfers zu bedienen.472 Motiviert wird dies durch die, wie Jakobs es ausdrückt, „paternalistische Sorge“. Nicht ganz klar ist allerdings, warum beim Suizid generell eine Vollzugsreife angenommen werden kann,473 bei der Ausführung durch einen anderen im Fall der Tötung auf Verlangen jedoch ihr Fehlen vermutet wird.474 Jakobs zieht sich für die Begründung auf die Annahme eines gewissen Entscheidungsspielraums des Gesetzgebers zurück, der die Annahme einer vorliegenden Vollzugsreife an eine tatsächliche Voraussetzung, nämlich die eigenhändige Tat-
468
Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 21 f. Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 21 f. 470 Vgl. Maatsch, Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtspflichtverstoß, S. 51. 471 Jakobs, Zum Unrecht der Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen, in: Haft/ Hassemer/Neumann/Schild/Schroth (Hrsg.), Strafgerechtigkeit, S. 467 f. 472 Jakobs, Zum Unrecht der Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen, in: Haft/ Hassemer/Neumann/Schild/Schroth (Hrsg.), Strafgerechtigkeit, S. 470 f. 473 So aber Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 22. 474 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 112. 469
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
ausführung bindet. Falls dieses Merkmal fehlt, wird eine mangelnde Vollzugsreife angenommen.475 Roxin geht einen ähnlichen Weg. Auch er billigt dem Gesetzgeber bei der Frage der Tötung auf Verlangen einen erhöhten Entscheidungsspielraum zu.476 Aus der Irreversibilität und der Existentialität der Entscheidung folge, dass nur der eigenhändige Suizid den Sterbewillen mit derartiger Sicherheit zum Ausdruck bringt, dass ein Autonomiedefizit ausgeschlossen ist.477 Dabei geht es auch ihm nicht um eventuelle Beweisschwierigkeiten im eigentlichen Sinne (siehe oben, 3. Kapitel B. IX. 1. b)). Roxins Ansatz ist vielmehr eine Methode, die Frage Feststellung der Freiverantwortlichkeit praxisnah zu lösen. Im Unterschied zu Jakobs verzichtet er auf die Konstruktion einer Vollzugsreife oder der Notwendigkeit der Herstellung eines Zweckzusammenhangs. Es geht ihm allein darum, dass ein Todeswunsch nur scheinbar ernstlich sein kann und daher die Tötung von Personen verhindert werden muss, die nur scheinbar ernstlich ihren Tod verlangen. Seine Überlegungen sehen sich aber dem gleichen Einwand ausgesetzt, der auch gegen den Ansatz von Jakobs herangezogen werden kann: Die Annahme, dass bei eigenhändiger Ausführung eine Freiverantwortlichkeit auch nur wahrscheinlich vorliegt, ist aus der Luft gegriffen. Roxin geht aber so weit, die eigenhändige Ausführung der Tat als unwiderlegbaren Beweis für die „Ernstlichkeit“ des Todeswunsches, ungeachtet der Motivlage zu sehen.478 Roxin weist zu Recht darauf hin, dass nämlich eine Bewertung auf eine Beurteilung der „Vernünftigkeit“ des Todeswunsches hinauslaufen würde.479 Eine derartige Orientierung an Kategorien der „Vernünftigkeit“ würde das Individuum dem Diktat der „Vernunft“ unterwerfen und würde einen harten Paternalismus darstellen. Roxin sieht in der Gleichsetzung von „Ernstlichkeit“ mit „Vernünftigkeit“ einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot.480 Roxin verkennt dabei jedoch, dass eine Beurteilung des Todeswunsches freiheitsverträglicher sein kann als pauschal jegliche Tötungsverlangen als unzulässig zu deklarieren, weil die Gefahr besteht, dass sie nicht freiverantwortlich zustande gekommen seien. Der Grundsatz, dass die Entscheidung eines Indivi475
Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 22 f. So ja bereits in Bezug auf das Leben BVerfGE 46, 160 (164); 77, 170 (219). 477 Roxin, Strafrecht AT 1, § 2 C Rn. 33; Roxin, Die Sterbehilfe im Spannungsfeld von Suizidteilnahme, NStZ 1987, S. 347 f.; ebenso Duttge, Lebensschutz und Selbstbestimmung am Lebensende, ZfL 2004, S. 35. 478 Roxin, Die Mitwirkung beim Suizid, in: Jescheck/Lüttger (Hrsg.), Festschrift für Dreher, S. 345. 479 Roxin, Die Mitwirkung beim Suizid, in: Jescheck/Lüttger (Hrsg.), Festschrift für Dreher, S. 345. 480 Roxin, Die Mitwirkung beim Suizid, in: Jescheck/Lüttger (Hrsg.), Festschrift für Dreher, S. 346. 476
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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duums nicht an Kriterien der Vernunft gemessen werden darf, ist ja gerade Ausfluss der Selbstbestimmung. Es ist widersinnig, zur Wahrung dieses Grundsatzes die Selbstbestimmung in stärkerem Maße einzuschränken als eine Durchbrechung hinzunehmen. Wenn man in concreto feststellen will, ob eine Entscheidung auch nur wahrscheinlich freiverantwortlich erfolgte, wird man aber eine Beurteilung des Todeswunsches nicht umgehen können. Eine Bewertung anhand von Kriterien der Nachvollziehbarkeit ist unumgänglich. Eine Fixierung auf die Eigenhändigkeit der Tatausführung ist dabei nicht die überzeugendste Differenzierung. Ein Abstellen auf dieses Kriterium ist zunächst auch gar nicht notwendig. Die Ausführungen zur Autonomie zeigten, dass es Fälle geben kann, in denen der Todeswunsch nicht freiverantwortlich zustande gekommen ist. Weiterhin ist es wahrscheinlich, dass gerade diese fehlende Freiverantwortlichkeit nicht festgestellt werden kann. Als rein interner Prozess ist die Willensbildung nur schwer überprüfbar, insbesondere, wenn es um Motive, die ja ebenfalls autonomieausschließend wirken können, geht. Der hieraus entstehenden Gefahr der Tötung von Menschen, die nicht freiverantwortlich in ihre Tötung einwilligten, versucht der Gesetzgeber nach Meinung von Jakobs und Roxin durch Verbot der generell gefährlichen Handlung zu begegnen.481 Dann stellt sich der § 216 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt dar. Jakobs hat auch ausdrücklich diesen Schluss gezogen. Die Etablierung der Eigenhändigkeit als Differenzierungskriterium hat Jakobs dann auch folgerichtig dem Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers zugeordnet. Diese Entscheidung kann aber unter Berücksichtigung der Prärogative des Gesetzgebers noch in einer gesonderten Abwägung überprüft werden. Zunächst erscheint es eigenartig, in der konkreten Tötung eines Menschen eine abstrakte Gefahr für diesen Menschen zu sehen. Eine generelle Gefahr für das Leben eines Menschen kann sich durch die Möglichkeit ergeben, dass ein Mensch getötet wird, obwohl seine Einwilligung nicht freiverantwortlich erfolgte, sein Tötungsverlangen nicht ernstlich sei. Die Handlung (die Tötung) birgt also die Gefahr, dass der Getötete aufgrund eines nichtautonomen Tötungsverlangens zu Unrecht getötet wird. Sie ist damit abstrakt gefährlich. Gerade in Fällen der Sterbehilfe moribunder Patienten sind diese häufig starken Stimmungsschwankungen unterworfen.482 Derartige Stimmungsschwankungen können Fehlvorstellungen in Bezug auf die durch die Tötung verfolgten Zwecke auslösen. Eine derartige Fehlvorstellung verhindert dann eine freiver-
481 Vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, S. 160 f. 482 Vgl. Tröndle, Warum ist die Sterbehilfe ein rechtliches Problem?, ZStW 99 (1987), S. 38 f.; Damm, Imperfekte Autonomie, MedR 2002, S. 384.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
antwortliche Entscheidung. Als rein interner Vorgang wird eine eventuelle Fehlvorstellung nicht immer auszumachen sein. Schließlich können Fälle auftreten, in denen sich Sterbewillige einem bewusst oder auch unbewusst von Außen kommenden Druck zur Tötung beugen.483 Die Feststellung einer derartigen Beeinflussung ist nahezu unmöglich.484 Hier läge aber nicht unbedingt ein echter Missbrauch im Sinne einer bewussten Ausnutzung der Vorschrift vor. Thomas Morus hat diese Konstellationen bereits in „Utopia“ beschrieben.485 Der Sterbewillige würde tatsächlich den Wunsch zu Sterben verspüren. Der Wunsch des Sterbewilligen wurde dann jedoch trotzdem nicht völlig autonom getroffen, sondern von außen oktroyiert. Ein paternalistischer Schutz würde in diesem Fall gerade die Freiverantwortlichkeit seiner Entscheidung schützen. Jakobs führt aber zu Recht an, dass auch beim Suizid der Todeswunsch durch die Umwelt geweckt werden kann und dennoch gibt es keinerlei Bestrebungen, den Suizid oder – wichtiger noch – die Beteiligung am Suizid zu kriminalisieren.486 Auf diese Diskrepanzen im geltenden Recht wird später noch genauer eingegangen. Die Notwendigkeit, die Selbstverantwortung des Einzelnen als Bestandteil seiner Selbstbestimmung anzuerkennen ergibt sich aus dem Gegensatz von realer und idealer Autonomie. Wie bereits oben dargelegt sind Kriterien einer rechtlichen Autonomie bei der Frage der zulässigen paternalistischen Bevormundung anzulegen. Fälle des absoluten Zwangs können nicht als Begründung für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen angeführt werden. Im Fall eines absoluten Zwangs ist der Ausschluss der Autonomie offensichtlich. Der § 216 StGB käme nicht zur Anwendung. Problematisch ist die Feststellung eines eventuell fehlenden ernstlichen Verlangens nur bei kompulsivem Zwang, der ja die freiverantwortliche Entscheidung des Sterbewilligen nicht per se ausschließt, sondern lediglich die Entscheidung in eine bestimmte Richtung beeinflusst. Dieser Zwang muss eine gewisse Qualität erreichen. Nicht jede Beeinflussung von außen kann als Ausschluss der Autonomie gewertet werden. Wie oben dargelegt, ist es notwendig, einen Maßstab der real möglichen „rechtlichen“ Autonomie zu finden. Ein aus Rücksicht
483 Oduncu, Ärztliche Sterbehilfe (Teil 1), MedR 2005, S. 445; Wagner, Zur aktiven direkten Sterbehilfe und zur vorsätzlichen Tötung alter Menschen, in: Oehmichen (Hrsg.), Lebensverkürzung, Tötung und Serientötung, S. 20; Kutzer, Sterbehilfeproblematik in Deutschland, MedR 2001, S. 78. 484 Rutenfrans, Befreiung oder schiefe Ebene, in: Daub/Wunder (Hrsg.), Des Lebens Wert, S. 98. 485 Priester und Behörden reden dem Erkrankten zu, dass er anderen zur Last falle und seinen eigenen Tod überlebe. Morus, Utopia, S. 118 f. 486 Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 20 f.
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gegenüber den Angehörigen erfolgter Todeswunsch kann nur schwerlich als nicht autonom getroffen eingestuft werden, wenn nicht auf den Sterbewilligen in der Weise eingewirkt wurde, dass ihm die Möglichkeit zu einer autonomen Entscheidung genommen oder die Schwelle der strafrechtlich relevanten Drohung überschritten wurde. Wenn der aufgebaute Druck lediglich ein Motiv für den Todeswunsch darstellt, ohne dass jedoch ein Irrtum über dieses Motiv vorliegt, wäre ein Einschreiten des Staates daher nicht zu rechtfertigen. In Bezug auf Motive sind nur Irrtümer und Fehlvorstellungen als rechtlich autonomieausschließend zu werten. Ansonsten liefe man Gefahr, eine unzulässige objektive Wertung der Motive des Sterbewilligen vorzunehmen. Das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit schützt in dieser Hinsicht die Autonomie des Einzelnen vor einer Bevormundung. Jedem Einzelnen ist es dann aber auch überlassen, sich gegen Beeinflussungen zu wehren oder ihnen gegenüber resistent zu sein. Insofern könnte man auch von sozialadäquaten Beeinflussungen sprechen, die ein Mensch hinzunehmen hat, ohne dass der Staat gegen diese einschreiten muss oder auch nur darf. Gegen diese Zweckbestimmung des § 216 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt könnte man allerdings rechtsstaatliche Bedenken äußern. Die Kriminalisierung eines Verhaltens aufgrund des Verdachtes, dass eine wirksame Einwilligung im konkreten Fall nicht vorgelegen habe, mutet zunächst bedenklich an.487 Diese Zweifel werden aber geringer, wenn man die Funktion des § 216 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt bedenkt. Die Handlung des Täters birgt die Gefahr, dass in einer signifikanten Zahl der Fälle das „ernstliche Verlangen“ keiner autonomen Entscheidung entsprang. Von dieser Warte gesehen stellt sich der § 216 StGB als „gewöhnliches“ abstraktes Gefährdungsdelikt dar. Auch die Strafbarkeit des § 316 StGB wird nicht mit dem Hinweis auf die Konstruktion des Verdachts einer möglichen Rechtsgutsgefährdung als verkappte Verdachtsstrafe in Frage gestellt. Die Dogmatik abstrakter Gefährdungsdelikte hat sich im Sinne der Theorie der generellen Gefährdung von der Präsumtion einer Gefahr gelöst. Auf einen Verdacht kommt es somit gar nicht an. Dennoch sind die im Schuldprinzip wurzelnden Bedenken gegen derartige Vorschriften begründet. Sie treffen jedoch auf alle abstrakten Gefährdungsdelikte zu. Schließlich stellt sich die Frage, ob dem Täter des § 216 StGB diese Gefährdung „zuzurechnen“ ist. Oben wurde bereits ausgeführt, dass die Prinzipien fairer Zurechnung auch bei abstrakten Gefährdungsdelikten Anwendung finden müssen, wenn man eine uferlose Ausweitung der Strafbarkeit verhindern will. Der Rückgriff auf abstrakte Gefährdungsdelikte ist nur angebracht, wenn das geschaffene Risiko nicht durch den Täter oder Dritte zumutbar kompensiert 487 So jedenfalls Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 164 („verkappte Verdachtsstrafe“); Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 107.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
werden kann.488 Eine Kompensation des Risikos würde in diesen Fällen bedeuten, dass eventuelle Irrtümer ausgeschlossen würden. Dies könnte zum einen durch zweifelsfreie Rückversicherung des Täters erfolgen, oder durch eindeutige Äußerung des Sterbewilligen. Gerade hierin liegt aber das Problem. Ein ernsthaftes Tötungsverlangen ist nicht mit letzter Sicherheit zu erkennen, eine Kompensation daher nicht möglich. Ob das Risiko in Kauf genommen werden kann, muss durch gesonderte Abwägung ermittelt werden. Auf diese Risikoabwägung werde ich unter Beachtung der empirischen Erkenntnisse weiter unten eingehen. b) Das eigentliche Beweisargument In pragmatischer Hinsicht wird vorgebracht, dass § 216 StGB verhindern solle, dass der Täter sich dahingehend einlässt, das Opfer habe die Tötung verlangt. Das Opfer kann nicht mehr widersprechen, die Einlassung sei daher unwiderlegbar.489 Auch hier wird der Schutz der Rechtsgüter Dritter in den Vordergrund gestellt. § 216 StGB soll auch nach dieser Ansicht mittelbar diejenigen schützen, welche von seinem Tatbestand gerade nicht erfasst werden. Um prozessuale Beweisschwierigkeiten zu umgehen,490 soll nach diesem Ansatz ein eigentlich nicht strafwürdiges Verhalten für strafbar erklärt werden. § 216 StGB sähe damit eine Strafe für den Verdacht vor, dass ein ernstliches Verlangen nicht vorgelegen habe. Anders als bei dem Ansatz Roxins oder den oben genannten paternalistischen Ansätzen, die zwar auch davon ausgehen, dass der § 216 StGB die Gefahr verhindern soll, dass jemand getötet wird, der nur scheinbar ernstlich seinen Tod verlangte, wird hier nicht aufgrund der Schwierigkeit das tatsächliche Geschehen nachzuvollziehen, sondern aufgrund der Gefahr, dass sich ein Geschehen nicht beweisen lassen könnte, eine Strafbarkeit angenommen. Beweiswürdigung ist jedoch Aufgabe des Tatrichters. Der Täter soll nach dem Tatbestand, den er verwirklicht hat, bestraft werden, nicht nach irgendeinem passenden.491 In diesem Zusammenhang weist Jakobs darauf hin, 488 Vgl. von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie und Deliktsstruktur – zu den Kriterien fairer Zurechnung, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 212. 489 Kutzer, Die Auseinandersetzung mit der aktiven Sterbehilfe, ZRP 2003, S. 211; Tröndle, Warum ist die Sterbehilfe ein rechtliches Problem?, ZStW 99 (1987), S. 38; Engisch, Die Strafwürdigkeit der Unfruchtbarmachung mit Einwilligung, in: Geerds/ Naucke (Hrsg.), Festschrift für Mayer, S. 412. 490 Im Unterschied zu den Ansätzen von Roxin und Jakobs, die faktische Beweisschwierigkeiten, die problematische Feststellung einer freiverantwortlichen Entscheidung behandeln. 491 Vgl. Maatsch, Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtspflichtverstoß, S. 42; Kaufmann, Euthanasie – Selbsttötung – Tötung auf Verlangen, MedR 1983, S. 124; Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 21.
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dass die Strafandrohung des § 216 StGB außerdem nicht geeignet ist, das durch einen Mord oder Totschlag begangene Unrecht zu ahnden.492 Einige Autoren behaupten sogar, dass in einer derartigen Sichtweise ein Verstoß gegen den Grundsatz „in dubio pro reo“ zu sehen sei.493 Diese ist allerdings fraglich, da der Grundsatz „in dubio pro reo“ im Rahmen des Prozesses und nicht schon bei der Gesetzgebung Anwendung findet. Zwar geht es hier um prozessuale Beweisfragen, diese stellen sich jedoch im konkreten Prozess erst gar nicht, da sie schon durch die gesetzgeberische Entscheidung umgangen wurden. Tatsächlich ist eine derartige Regelung unter dem Gesichtspunkt des Schuldprinzips im weiteren Sinn bedenklich, weil sie auf eine „Verdachtsstrafe“ hinauslaufen könnte.494 Auch hier ist aber die Gefahr der Verdachtsstrafe unter dem Gesichtspunkt zu werten, dass es sich bei dem § 216 StGB um ein abstraktes Gefährdungsdelikt handelt. Beachtlich ist jedoch, dass Strafrechtsnormen den Schutz von Rechtsgütern garantieren sollen. Die Bestrafung eines Delinquenten ist nur Reflex dieser Schutzfunktion. Eine Strafnorm, die in erster Linie die Bestrafung erst ermöglichen soll, indem sie prozessuale Beweisschwierigkeiten ausräumt, ist rechtsstaatlich zweifelhaft. c) Missbrauchsargument Losgelöst von der Beweissituation wird häufig die Gefahr eines Missbrauchs im Fall einer Legalisierung der Tötung auf Verlangen gesehen.495 Zum einen kann ein Missbrauch durch die oben aufgezeigte teilweise problematische Beweislage geschehen. Ein Totschlag oder Mord könnte als Tötung auf Verlangen dargestellt werden. Zum anderen kann aber auch gezielt der Todeswunsch geweckt und somit ein nur scheinbar ernstliches Todesverlangen herbeigeführt werden.496 Dies kann durch gezielte Täuschung oder aber auch Drohung erfolgen. Auch in einem solchen Fall würde das Geschehen dem § 216 StGB gar nicht unterfallen, da das ernstliche Verlangen Tatbestandsmerkmal ist. Der Grund für dieses Tatbestandsmerkmal dürfte tatsächlich die Gefahr des Missbrauchs bereits dieser Privilegierung sein.497 492
Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 21. Maatsch, Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtspflichtverstoß, S. 41; Dölling, Fahrlässige Tötung bei Selbstgefährdung des Opfers, GA 1984, 86. 494 Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 68; Göbel, Die Einwilligung im Strafrecht als Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts, S. 30. 495 Kutzer, Die Auseinandersetzung mit der aktiven Sterbehilfe, ZRP 2003, S. 211. 496 Tröndle, Warum ist die Sterbehilfe ein rechtliches Problem?, ZStW 99 (1987), S. 38. 497 Arzt, Die Delikte gegen das Leben, ZStW 83 (1971), S. 36. 493
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Mit dem Missbrauchsargument verwandt ist die oben genannte paternalistische Argumentation, dass für Patienten eine Drucksituation aufgebaut würde.498 In der oben angeführten Variante führt die Drucksituation (der Zwang) durch Gesellschaft und Angehörige dazu, dass der einzelne seinen Tod wünscht. Da der Todeswunsch tatsächlich gegeben ist, wenn auch aufgrund einer fehlerhaften Motivation, ist ein Eingreifen des Staates hier als paternalistisch zu werten.499 Etwas anderes gilt jedoch, wenn sich das Opfer bewusst gegen seinen Willen einer Drohung beugt. Im Unterschied zur rein paternalistischen Argumentation setzt der Missbrauch aber eine bewusste Einflussnahme auf die Entscheidungsfindung voraus. Die Gefahr, dass ein gesetzlicher Tatbestand für Geschehen genutzt wird, die ihm eigentlich nicht unterfallen sollten, bietet sich praktisch bei jeder Norm.500 Bei der Tötung eines Menschen ist die Gefahr besonders gravierend, aber insbesondere auch die Notwehrvorschrift des § 32 StGB eröffnet eine Missbrauchsgefahr.501 Dies allein ist noch kein Argument dafür, eine weitere Gefahrenquelle zu schaffen. Hoerster nennt es eine bloße Spekulation, dass bei Zulassung einer Tötung auf Verlangen die Zahl der illegitimen Tötungen durch Missbrauch zunehme.502 Die Prognose der Realisierung einer Gefahr ist jedoch Wesensmerkmal abstrakter Gefährdungsdelikte. Tatsächlich ist das Risiko einer derartigen Entwicklung nur schwer einschätzbar. Ein Grund für die niederländische Legalisierung der aktiven Euthanasie war der Versuch die Zahl der Tötungen ohne Verlangen zu reduzieren. Durch die Legalisierung der Euthanasie sollten Tötungen am Lebensende aus der Heimlichkeit herausgeholt und so eine bessere Kontrolle ermöglicht werden.503 Dennoch hat es Fälle in den Niederlanden gegeben, in denen Patienten ohne ausdrückliches Verlangen getötet wurden.504 Die de facto Legalisierung der Euthanasie505 hat dies nicht verhindern können. Immer noch werden in den Nie-
498 Wolfslast, Gedanken zur Sterbehilfe, in: Kreuzer/Jäger/Otto/Quensel/Rolinski (Hrsg.), Fühlende und denkende Kriminalwissenschaften, S. 490; Geilen, Euthanasie und Selbstbestimmung, S. 27; BGHSt. 32, S. 367 (379). 499 Anderer Ansicht ist Papageorgiou, der auf den Unterschied zwischen Schutz vor sich selbst und Schutz vor Dritten hinweist. Er verkennt aber, dass der Betreffende auch vor sich selbst geschützt werden muss, weil durch Dritte auf seine Willensbildung eingewirkt wurde. Vgl. Papageorgiou, Schaden und Strafe, S. 237 f. 500 Vgl. auch Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 20. 501 Vgl. Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, S. 130. 502 Vgl. Hoerster, Rechtsethische Überlegungen zur Sterbehilfe, in: Gose/Hoffmann/Wirtz (Hrsg.), Aktive Sterbehilfe?, S. 66 (in Bezug auf aktive Sterbehilfe). 503 Ebenso Pohlmeier, Das alte Wort Euthanasie und die neue Idee der Sterbehilfebewegung, in: Oehmichen (Hrsg.), Lebensverkürzung, Tötung und Serientötung, S. 61 f. 504 Oduncu, Ärztliche Sterbehilfe (Teil 2), MedR 2005, S. 522.
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derlanden viele ärztliche Tötungen nicht gemeldet.506 Dass die neue Gesetzeslage in den Niederlanden jedoch zu einem Anstieg der Tötungen ohne Verlangen führte, konnte nicht festgestellt werden.507 Es liegen keine Erhebungen über die Zahl der Tötungen ohne Verlangen vor der Legalisierung der Euthanasie vor. Der Vergleich der Zahlen ist demnach gar nicht möglich.508 Duttge lässt auch ohne nachgewiesenen Anstieg von Tötungen ohne Verlangen bereits die hohe Zahl derartiger Tötungen in den Niederlanden ausreichen, um eine Erosion des Schutzes des menschlichen Lebens auszumachen.509 Zwar sind derartige Gefahren einer Legalisierung der Tötung auf Verlangen nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen, eine Einschätzung dieser Gefahren muss aber an empirischen Daten vorgenommen werden und darf nicht einfach behauptet werden. Im Rahmen einer Abwägung wird eine Einschätzung der möglichen Gefahren zu erfolgen haben. d) Schutz des Lebens anderer durch Tabubewahrung Auch wenn das „Tabu“-Argument direkt keine Strafbarkeitsgrund darstellen kann, weil der Schutz eines Tabus um seiner selbst Willen niemals den schweren Eingriff in die persönliche Freiheit des Einzelnen durch das Strafrecht rechtfertigen kann, könnte es mittelbar Bedeutung erlangen. Wenn die Tötung fremden Lebens als Tabu in der Gesellschaft verwurzelt bleibt, könnte dies dazu führen, Tötungsdelikte insgesamt zu verhindern.510 Die komplexen Verhältnisse gesellschaftlicher Beziehungen können nur dann durch das Strafrecht gelenkt werden, wenn die Gesellschaft auf einem Mindestmaß an von den Individuen anerkannten Wertvorstellungen zurückgreifen kann.511 Der Gesetzgeber könnte mit der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen die Stabilisierung des
505 Weiterhin sind sowohl Tötung auf Verlangen als auch Beihilfe zum Suizid in den Niederlanden strafbar. Unter gewissen Umständen ist aber ein Absehen von Strafe vorgesehen. Dies ist nunmehr in dem 2002 in Kraft getretenen „Gesetz über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung“ geregelt. 506 Vgl. Oduncu, Ärztliche Sterbehilfe (Teil 1), MedR 2005, S. 443 ff. 507 Einen anderen Schluss zieht jedoch Oduncu. Allerdings zeigt sich nach seinen eigenen Angaben in den Niederlanden kein Anstieg der Tötungen ohne Verlangen seit Legalisierung der aktiven Sterbehilfe. 508 Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, S. 131. 509 Duttge, Lebensschutz und Selbstbestimmung am Lebensende, ZfL 2004, S. 35 f. 510 Vgl. Kutzer, Auseinandersetzung mit der aktiven Sterbehilfe, ZRP 2003, S. 211; Otto, Eigenverantwortliche Selbstschädigung und -gefährdung, in: Jescheck/Vogler (Hrsg.), Festschrift für Tröndle, S. 158; Dölling, Fahrlässige Tötung bei Selbstgefährdung des Opfers, GA 1984, S. 86; Hirsch, Einwilligung und Selbstbestimmung, in: Stratenwerth/Kaufmann/Geilen/Hirsch/Schreiber/Jakobs/Loos (Hrsg.), Festschrift für Welzel, S. 779. 511 Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, S. 201.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Menschenbildes vom unantastbaren „heiligen“ Geschöpf bezwecken, um den Respekt vor dem fremden Leben in der Gesellschaft zu erhalten. Gerade in einem weltanschaulich neutralen Staat ist dieser darauf angewiesen, eine Internalisierung der in der positiven Rechtsordnung verkörperten Werte zu erreichen. Nicht der Schutz einer bestimmten Moral oder Sozialethik ist dann Ziel der Strafrechtsnorm, sondern der Schutz bestimmter Rechtsgüter mittels der Etablierung beziehungsweise des Schutzes eines ethischen Konzepts.512 Dass durch die Beachtung eines ernstlichen Verlangens eines Sterbewilligen die Achtung vor dem Leben der Mitmenschen beeinträchtigt werden soll, ist allerdings kaum nachvollziehbar.513 Die in Deutschland herrschende allgemeine Anerkennung der indirekten Sterbehilfe als straffrei ist in diesem Zusammenhang wesentlich bedenklicher, da hier auch ohne den ausdrücklichen Willen eines Menschen dessen Tod herbeigeführt wird. Davon abgesehen kann das Tabu nur dann Wirkung auf die Achtung vor dem menschlichen Leben haben, wenn es überhaupt in unserer Gesellschaft besteht. In diesem Zusammenhang muss auf empirische Aussagen zurückgegriffen werden. Im Laufe der Jahre wurden mehrere Umfragen zum Thema Sterbehilfe durchgeführt. Sie wurden mit unterschiedlichen Methoden und vor allem unterschiedlichen Fragestellungen durchgeführt. Die Beachtung dieser methodischen Unterschiede ist essentiell, wenn man die Ergebnisse richtig werten will. Eine Allensbacher Umfrage ergab, dass 70 Prozent der Befragten der Meinung waren, ein Schwerkranker müsse selbst entscheiden können, ob er leben oder sterben will. Lediglich 12 Prozent waren der Meinung, dass das Leben unantastbar sei und eine Tötung nicht in Frage käme selbst wenn der Kranke es verlange.514 Unter den Befürwortern der Tötung auf Verlangen gab es eine Differenz zwischen kirchlich gebundenen Menschen (60 Prozent Zustimmung) und nicht kirchlich gebundenen Menschen (83 Prozent Zustimmung).515 Eine andere Umfrage (Allbus-Erhebung zwischen 1990 und 2002) zeigte, dass zwei Drittel der Befragten die aktive Sterbehilfe an einem schwer Kranken als „weniger schlimm/überhaupt nicht schlimm“ einstuften. Ein Drittel der Befragten empfand diese Form der Sterbehilfe als „sehr schlimm/ziemlich schlimm“. Weitere Allensbacher Erhebungen zeigten, dass die Zustimmung für die aktive Sterbehilfe an Schwerkranken in Westdeutschland von 53 Prozent im Jahr 1973 auf 64 Prozent in 2001 stieg. In Ostdeutschland betrug die Zustimmung 2001 80 512 Böse, Grundrechte und Strafrecht als „Zwangsrecht“, in: Hefendehl/von Hirsch/ Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 93. 513 Schroeder, Beihilfe zum Selbstmord und Tötung auf Verlangen, ZStW 106 (1994), S. 567. 514 Allensbacher Berichte 9/2001: http://www.ifd-allensbach.de/news/prd_0109.html [6.1.2007]. 515 Vgl. Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, Stellungnahme vom 13.07.2006, S. 22.
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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Prozent.516 Ähnliche Ergebnisse haben auch verschiedene Forsa Umfragen erbracht.517 Diese Umfragen bezogen sich aber nur auf schwerkranke Patienten. Sie waren nicht auf eine allgemeine Tötung auf Verlangen gerichtet. Dennoch scheint ein Tabu der Unantastbarkeit menschlichen Lebens in unserer Gesellschaft nicht zu bestehen. Man mag von einer weiteren eng begrenzten Ausnahme für den Fall der schweren Krankheit sprechen. Diese Ausnahme würde sich in die Reihe der anderen Ausnahmen von dem Tabu der Unantastbarkeit menschlichen Lebens, wie Tötungen im Krieg oder aus Notwehr einreihen. Angesichts der oben dargestellten Umfragen ist es mehr als fraglich, dass eine Gesetzesnovelle die Achtung des menschlichen Lebens in der Gesellschaft beeinflussen könnte. Zu Recht weist der Nationale Ethikrat darauf hin, dass die Ergebnisse nicht bedeuten, dass die Mehrheit der Deutschen selbst aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen wollte. Nur weil man jemandem ein Recht zugestehen will, bedeutet das noch nicht, dass man selbst dieses Recht in Anspruch nehmen möchte.518 Die Umfragen zeigen aber, dass die Mehrheit einer Tabuisierung des menschlichen Lebens nicht zustimmt. Die Deutsche Hospiz Stiftung hat sich gegen diese Ergebnisse mit dem Argument gewandt, dass ein Großteil der Befragten die Möglichkeiten der Palliativmedizin nicht kenne. Tatsächlich hat eine eigene Emnid-Umfrage mit Hinweis auf Palliativmedizin ergeben, dass nur 35,4 Prozent der Befragten eine aktive Sterbehilfe befürworteten.519 Bei dieser Umfrage, und auch der Umfrage aus 2005, ist allerdings die Frage nach Palliativmedizin oder aktiver Sterbehilfe gestellt worden. Unterschlagen wurde die Möglichkeit, dass Palliativmedizin wirkungslos sein könnte und dann vielleicht Sterbehilfe in Betracht käme.520 Die Gegenüberstellung von Palliativmedizin und Sterbehilfe als unvereinbare Pole ist eine unangebrachte Vereinfachung. Auch die Palliativmedizin kann nicht den Wunsch nach einem selbstbestimmten Sterben ausräumen.521 Diese Umfragen sind also nur insoweit fruchtbar, als sie zeigen, dass der Ruf nach Palliativme516 Vgl. Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, Stellungnahme vom 13.07.2006, S. 22. 517 Vgl. DGHS zur Forsa Umfrage vom September 2003 http://www.dghs.de/ presse03/umfr092003.htm [6.1.2007]; Forsa Umfrage im Auftrag des Stern 2005 vgl. Die Welt vom 13.10.2005. 518 Vgl. Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, Stellungnahme vom 13.07.2006, S. 22 f. 519 Emnid-Umfrage der Deutschen Hospiz Stiftung vom 5.7.2000, vgl. [6.1.2007]; ebenso eine Emnid-Umfrage von 2005 vgl. Deutsche Hospiz Stiftung, Was denken die Deutschen wirklich über Sterbehilfe? Weblink: [6.1.2007]. 520 Vgl. Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, Stellungnahme vom 13.07.2006, S. 24 f. 521 Birnbacher, Sterbehilfe – eine philosophische Sicht, in: Thiele (Hrsg.), Aktive und passive Sterbehilfe, S. 34 f.; vgl. auch DGHS zur Forsa Umfrage vom September 2003 http://www.dghs.de/presse03/umfr092003.htm [6.1.2007].
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
dizin stärker ist als der nach aktiver Sterbehilfe. Sie treffen aber keine Aussage darüber, ob die aktive Sterbehilfe wegen eines tief verwurzelten Tabus abgelehnt wird. Im Gegenteil spricht einiges dafür, dass ausschließlich utilitaristische Erwägungen, die Aussicht auf ein schmerzfreies Dasein, für die Entscheidung maßgeblich sind. Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen kann also nicht auf ein Dogma der Unantastbarkeit des fremden menschlichen Lebens gestützt werden, da die Konzeption eines absoluten Lebensschutzes in unserer Gesellschaft nicht existiert.522 Problematisch ist in diesem Zusammenhang auch die Begründung einer Verantwortlichkeit des Täters des § 216 StGB für die Tötungen, die aufgrund einer Schädigung des Tabus der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens hervorgerufen werden könnten. Ein durch diese Argumentation legitimierter § 216 StGB wäre eine Vorbereitungsdelikt im Sinne der Unterscheidung Wohlers. Das inkriminierte Verhalten wäre verboten, weil es die Gefahr berge, dass ein zweites Verhalten zu einer Rechtsgutsverletzung führen würde. Im Grunde genommen geht es darum, dass die Tötung auf Verlangen ein schlechtes Bespiel für den Umgang mit Menschen geben könnte und somit die Zahl der Tötungen ansteigen könnten. Grundsätzlich geht unser Rechtssystem von einem mündigen Bürger aus, der zur Selbstbestimmung fähig ist. Dementsprechend würde eine Tötung in den Verantwortungsbereich des unmittelbaren Täters fallen. Man kann von einem zur Selbstbestimmung fähigen Bürger erwarten, dass er sich nicht durch „schlechte“ Vorbilder korrumpieren lässt.523 Eine Besonderheit besteht jedoch in dem hier entscheidenden Fall. Es geht nicht allein darum, dem Einzelnen zu erlauben, ein schlechtes Vorbild zu sein. Nicht allein der einzelnen Handlung der Tötung auf Verlangen wird die Gefahr einer Vorbildfunktion zugesprochen. Die Legalisierung der Tötung auf Verlangen würde eine durch die Rechtsordnung vermittelte Akzeptanz eines bestimmten Umgangs mit Menschen nach sich ziehen. Insofern sind die von Wohlers und von Hirsch entwickelten Grundsätze zum Vorbereitungsdelikt nur bedingt anwendbar. Tatsächlich geht es bei dieser Argumentation weniger um die Folgen einer unter Strafe gestellten Handlung, der Tötung auf Verlangen, sondern um die Folgen einer Legalisierung dieser Handlung durch Änderung der Strafrechtsnormen. Wenn man allerdings einen derartigen Gesetzeszweck annimmt, begibt man sich wiederum in die Nähe eines Strafrechts, welches der Erziehung
522 Hoerster, Warum keine aktive Sterbehilfe?, ZRP 1988, S. 1; Wolfslast, Rechtliche Neuordnung der Tötung auf Verlangen?, in: Amelung/Beulke/Lilie/Rosenau/ Rüping/Wolfslast (Hrsg.), Festschrift für Schreiber, S. 916. 523 Vgl. von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie und Deliktsstruktur – zu den Kriterien fairer Zurechnung, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 206.
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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der Bürger dient. Ein derartiges Verständnis der Strafrechtsordnung ist nicht hinnehmbar. In diesem Sinne wird häufig nicht direkt eine Beeinträchtigung der Achtung vor dem fremden Leben angenommen, sondern es wird als Folge des Abrückens von dem Dogma der Unantastbarkeit fremden Lebens ein Dammbruch vorausgesagt, der zu der Freigabe der Tötung ohne Verlangen führen würde. Eindeutige Befunde, welche die Gefahr einer derartigen Entwicklung stichhaltig beweisen würden, liegen allerdings nicht vor.524 Oduncu weist darauf hin, dass in den Niederlanden vielfach Ärzte und Angehörige die Entscheidung zur Tötung des Patienten treffen, ohne dass ein Sterbewille artikuliert wurde. Daraus folgert er eine „Enttabuisierung der Tötung lebensunwerten Lebens“ in den Niederlanden.525 Ob diese auf die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe zurückzuführen ist erscheint aber fraglich. Ein signifikanter Anstieg der Tötungen ohne Verlangen in den Niederlanden seit Legalisierung der aktiven Sterbehilfe526 ist nicht feststellbar (siehe oben, 3. Kapitel B. IX. 1. c)).527 Die Tötung ohne Verlangen ist auch in den Niederlanden verboten. Ein Zusammenhang ist daher jedenfalls nicht zu erwarten. Zu Recht weist Schroeder auch darauf hin, dass sich die Dammbruchargumentation wesentlich von der rein „generalpräventiv“ ausgestalteten Tabuargumentation unterscheidet.528 Im Folgenden wird daher noch einmal genauer auf die Dammbruchargumentation eingegangen. e) Zum Umgang mit Argumenten der schiefen Ebene Das Dammbruchargument ist in Deutschland eines der am häufigsten gegen die Freigabe der Tötung auf Verlangen vorgebrachten Argumente. Dieses Dammbruchargument oder Argument der schiefen Ebene besagt, dass die Durchführung oder Unterlassung einer bestimmten Handlung der erste Schritt auf eine schiefe Ebene sein könnte. Von da an gleitet man, so wird prognostiziert, über kleine Stufen in einem graduellen Prozess so weit ab, bis die Entwicklung in einem erschreckenden, nicht hinnehmbaren Resultat endet. Zu die524 Vgl. Hoerster, Rechtsethische Überlegungen zur Sterbehilfe, in: Gose/Hoffmann/Wirtz (Hrsg.), Aktive Sterbehilfe?, S. 64 (in Bezug auf Sterbehilfe). 525 Oduncu, Ärztliche Sterbehilfe (Teil 2), MedR 2005, S. 522. 526 Eine echte Legalisierung der aktiven Sterbehilfe hat auch in den Niederlanden nicht stattgefunden. Der Staatsanwaltschaft wird anheim gestellt von weiteren Ermittlungen abzusehen, wenn die Kriterien der Sterbehilfe erfüllt sind. 527 Vgl. Oduncu, Ärztliche Sterbehilfe (Teil 1), MedR 2005, S. 444; Wils, Sterben, S. 172 („– die Frequenz der Fälle von lebensbeendenden Handeln ohne ausdrückliches Gesuch eher abgenommen hat (um etwa 100 Fälle)“). 528 Vgl. Schroeder, Beihilfe zum Selbstmord und Tötung auf Verlangen, ZStW 106 (1994), S. 568.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
ser Argumentation gehört auch, dass wenn der erste Schritt erst einmal getan ist, eine Ereigniskette in Gang gesetzt werde, aus der ein Entkommen nicht mehr möglich ist.529 In der Sprachwelt der Dogmatik abstrakter Gefährdungsdelikte wäre also die Gefahr nicht mehr kompensierbar, sobald der erste Schritt getan ist. Ein Einschreiten ist daher bereits an dieser Stelle gerechtfertigt, um eine Rechtsgutsverletzung zu verhindern. Meist wird auf eine genaue Darstellung dieses Effektes verzichtet. Es wird darauf hingewiesen, dass durch die Freigabe der Tötung auf Verlangen eine Entwicklung zur Tötung ohne Verlangen und gegen den Willen des Getöteten in Gang gesetzt wird.530 Zunächst wirkt diese Prognose einigermaßen beliebig. Es ist möglich, dass diese Folge eintritt, ebenso möglich ist aber auch, dass sie ausbleibt.531 Das bedeutet aber nicht, dass eine Beschäftigung mit dem Argument der schiefen Ebene von vornherein unterbleiben sollte. Vielmehr geht es bei dem Argument der schiefen Ebene nicht darum, dass eine inakzeptable Konsequenz eintreten wird, sondern um das Risiko einer derartigen Konsequenz. Eine Berücksichtigung dieses Risikos kann nicht einfach mit dem Hinweis auf die Unsicherheit der Prognose unterbleiben. Das Recht muss auch praktikabel sein und darf sich möglichen Gefahren nicht verschließen. Das Argument der schiefen Ebene läuft im Kern auf eine Risikoabwägung hinaus.532 Jede Veränderung des status quo birgt die Gefahr, dass eine Lage eintreten wird, die nicht gewollt oder sogar nicht hinnehmbar ist. Eine Auseinandersetzung mit einem Argument der schiefen Ebene muss daher in einer Risikoeinschätzung liegen. Die bloße Behauptung einer logischen Möglichkeit der Fehlentwicklung genügt nicht.533 Es muss also eine Begründung gegeben werden, warum man das Risiko eingehen sollte oder nicht.534 Damit beschreibt das Argument der schiefen Ebene im Kern sogar Gründe für die Anwendung von abstrakten Gefährdungsdelikten. Das Besondere an dieser Argumentation ist gegenüber den anderen ebenfalls auf die potentielle Gefährlichkeit der Tötung auf Verlangen abzielenden Argumenten, dass über Zwischenschritte eine nicht hinnehmbare Situation erreicht wird.
529 Guckes, Das Argument der schiefen Ebene, S. 5; Engisch, Suizid und Euthanasie nach deutschem Recht, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 312. 530 Eser, Sterbehilfe und Euthanasie in rechtlicher Sicht, in: Eid (Hrsg.), Euthanasie, S. 69. 531 Robbers, Euthanasie und die Folgen für unsere Rechtsgemeinschaft, in: Gose/ Hoffmann/Wirtz (Hrsg.), Aktive Sterbehilfe?, S. 71. 532 Vgl. Saner, Vom Anspruch auf ein humanes Sterben, in: Saner/Holzhey (Hrsg.), Euthanasie, S. 11. 533 Hegselmann, Moralische Aufklärung, moralische Integrität und die schiefe Bahn, in: Hegselmann/Merkel (Hrsg.), Zur Debatte über Euthanasie, S. 208. 534 Guckes, Das Argument der schiefen Ebene, S. 7 f.
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
169
In Bezug auf die Sterbehilfe werden folgende Stufen genannt, die schließlich zur nicht hinnehmbaren Konsequenz der Sterbehilfe gegen den Willen des Betroffenen führen. 1. Sterbehilfe, die auf einer autonomen Entscheidung des Betroffenen beruht, führt zu Sterbehilfe an Personen, die nicht in der Lage sind, ihren Willen zu äußern. Durch die Freigabe der Tötung auf Verlangen könnte eine Situation eintreten, in welcher auch ohne ausdrückliches ernstliches Verlangen eine straflose Tötung angenommen wird. Die Begründung für diese Annahme ist nachvollziehbar. Aufgrund der ähnlichen Situation könnte angenommen werden, dass Sterbehilfe auch für diejenigen „zugänglich“ sein soll, die nicht in der Lage ihren Willen zu äußern. In Betracht kämen Neugeborene oder von Krankheit sehr schwer gezeichnete Menschen, die sich nicht mehr äußern können.535 Zwar würde eine Straflosigkeit der Tötung auf Verlangen auch eine autonom und ausdrücklich geäußerte Entscheidung voraussetzen, in Hinblick auf eine möglicherweise in Einzelfällen erstrebenswerte Gleichbehandlung könnte das Kriterium der Ausdrücklichkeit allerdings untergehen. Im Rahmen der amerikanischen Euthanasie-Bewegung forderte beispielsweise Marvin Kohl, dass niemand leiden solle, „weil er seinen Willen nicht zum Ausdruck bringen könne“ und „das fanatische Beharren auf Einwilligung nur fortgesetztes und vermehrtes Leiden“ bedeute.536 Auch Merkel zeigt in seiner Beurteilung eines BGH-Urteils eine derartige Linie, in dem er einen straflosen Behandlungsabbruch aufgrund einer mutmaßlichen Einwilligung fordert.537 2. Sterbehilfe, die auf einer autonomen Entscheidung des Betroffenen beruht, führt zu nur scheinbar zum Wohle des Betroffenen erfolgten Tötungen. Zum einen kann dies der Fall sein, wenn ein Irrtum über die objektiven Interessen des Betroffenen vorliegt. Zum anderen kann Druck von Außen die Autonomie der Entscheidung des Betroffenen beeinflussen. Missbrauch kann nicht ausgeschlossen werden, da die Motivlage nur schwerlich ausgemacht werden kann. Oduncu sieht in den Niederlanden daher eine Perversion der „Freiheit zum Tode“ zu einer „Unfreiheit zum Leben“. Viele Niederländer haben sich bereits eine CredoCard zugelegt, die eine Tötung gegen ihren Willen verhindern soll.538
535
Guckes, Das Argument der schiefen Ebene, S. 210. Zitiert nach Tröndle, Warum ist die Sterbehilfe ein rechtliches Problem?, ZStW 99 (1987), S. 39. 537 Merkel, Behandlungsabbruch und mutmaßliche Einwilligung, ZStW 107 (1995), S. 559 ff. 538 Oduncu, Ärztliche Sterbehilfe (Teil 2), MedR 2005, S. 523. 536
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Wie bereits ausgeführt, ist die Gefahr einer derartigen Entwicklung plausibel. Es ist schwierig festzustellen, ob eine Entscheidung autonom getroffen wurde, oder nicht.539 Zwar werden keine vagen Begriffe bei der gesetzlichen Regelung benutzt, eine eindeutige Zuordnung ist dennoch nicht möglich. Allerdings setzt auch § 216 StGB eine autonome Entscheidung voraus. 3. Sterbehilfe für Menschen, die ihren Willen nicht äußern können, führt zu Sterbehilfe, die gegen den Willen des Betroffenen verstößt. Die Folge einer Freigabe der Tötung von nicht äußerungsfähigen Personen könnten „Mitleidstötungen“ gegen den erklärten Willen der Betroffenen sein. Diese Stufe zu erreichen scheint jedoch fast ausgeschlossen. Wenn ein Mensch sich ausdrücklich gegen seine Tötung ausspricht, bleibt kein Raum ein „ernstliches Verlangen“ oder eine Einwilligung anzunehmen.540 Insofern wäre die Formulierung eindeutig, eine Um- oder Fehlinterpretation ausgeschlossen. Allein in Kombination mit dem Tabuargument erlangt dieser Gedanke Gewicht. Oduncu sieht eine „Enttabuisierung der Tötung lebensunwerten Lebens“ in den Niederlanden. Ärzte und Angehörige würden keine Hemmungen mehr verspüren, trotz des (auch in den Niederlanden) bestehenden Verbotes der Tötung ohne Verlangen, Menschen zu töten.541 Wegen der Schwierigkeiten der Überprüfungen derartiger Tötungen könne auch das gesetzliche Verbot keine Wirkung entfalten. Es ist aber unklar, ob die Liberalisierung der Gesetzeslage in den Niederlanden tatsächlich zu einem Anstieg der Tötungen ohne Verlangen geführt hat. Es gibt keine Vergleichszahlen zu der Situation vor der Legalisierung der aktiven Euthanasie (siehe oben, 3. Kapitel B. IX. 1. c)). 4. Sterbehilfe, die gegen den Willen des Betroffenen verstößt, wird zu Sterbehilfe gegen ihr subjektives und objektives Interesse. Diese Form der „Sterbehilfe“ ist durch das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten gerade im deutschen Kulturraum zu einer Schreckgestalt geworden, die im Rahmen der Dammbruchargumentation immer wieder genannt wird. Tatsächlich setzt eine derartige Entwicklung aber nicht nur die Freigabe der Sterbehilfe voraus. Notwendig ist der Wandel des Rechtsstaates mit seinen individualfreiheitsschützenden Grundrechten zu einem totalitären Staat, wie er in der Zeit des Dritten Reiches in Deutschland bestand.542 Solange der Rechtsstaat besteht, kann eine derartige Form der „Sterbehilfe“ nicht erfolgen.543 Der Fall des Rechtsstaates setzt aber einen Wandel in der gesamten Gesellschaft 539
Vgl. Guckes, Das Argument der schiefen Ebene, S. 215. Vgl. Guckes, Das Argument der schiefen Ebene, S. 215. 541 Oduncu, Ärztliche Sterbehilfe (Teil 2), MedR 2005, S. 522 f. 542 Vgl. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, S. 307. 543 Vgl. Thiele, Aktive Sterbehilfe, in: Thiele (Hrsg.), Aktive und passive Sterbehilfe, S. 22; Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, S. 126 ff. 540
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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voraus, die auf einer breiteren Fläche als nur auf dem Gebiet der Sterbehilfe erfolgen müsste. Selbst auf dem Gebiet der Sterbehilfe ist die Existenz einer psycho-sozialen Situation, welche die Menschen der Gesellschaft dazu veranlasst, das Lebensrecht bestimmter Gruppen von Menschen zu missachten und sie zu ihrem eigenen Vorteil zu töten, eine unbedingte Voraussetzung. Es wird allerdings vermutet, dass das Risiko des Eintritts einer derartigen Situation bei zunehmender Verschlechterung der ökonomischen Lage wächst. Dennoch ist eine derartige Entwicklung ausgeschlossen, solange der Rechtsstaat besteht. Wenn man das Argument der schiefen Ebene in diese Zwischenschritte aufschlüsselt, zeigt sich, dass eine Entwicklung zur letzten Konsequenz, wie sie von Vertreter des Dammbrucharguments befürchtet wird, äußerst unwahrscheinlich ist. Zu Bedenken ist weiterhin, dass durch die bereits erlaubten Formen der Sterbehilfe (indirekte und passive Sterbehilfe) das „Tor des Todes“ bereits aufgestoßen wurde544 und ein Dammbruch ausblieb. Allerdings werden teilweise bereits die möglichen Zwischenschritte als nicht hinnehmbar angesehen. Insofern wird im Wege der Abwägung zu klären sein, welche möglichen Folgen noch hinnehmbar sind, beziehungsweise welches Risiko eingegangen werden kann. 2. Schutz von Unterhaltsinteressen Anhaltspunkte, dass die Regelung des § 216 StGB als Schutzvorschrift für die Individualinteressen der Unterhaltsberechtigten konzipiert ist, ergeben sich nicht. Die systematische Stellung spricht dagegen. Auch ist nicht klar, inwieweit eine Mitwirkung am Suizid eine andere Wertung nach sich ziehen soll.545 Weiterhin ist nicht davon auszugehen, dass in einer relevanten Zahl von Tötungen auf Verlangen eine Unterhaltspflicht des Sterbewilligen besteht. Eine generelle Gefährdung von Unterhaltspflichten ist daher nicht ohne weiteres anzunehmen. Das BVerfG scheint allerdings eine Verpflichtung des Sterbewilligen gegenüber Angehörigen begründen zu wollen, wenn es bei der Frage, ob das Patiententestament einer Patientin bindend ist, eine Abwägung des Selbstbestimmungsrechts der Patientin mit den Rechten ihres Mannes und ihrer Kinder aus Art. 6 GG vornimmt.546 544
Duttge, Sterbehilfe aus rechtsphilosophischer Sicht, GA 148 (2001), S. 170. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 116 f. 546 BVerfG, NJW 2002, S. 206 f. 545
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Diese Abwägung hat das BVerfG jedoch nur in Zusammenhang mit Art. 4 GG vorgenommen. In Bezug auf Art. 2 GG hat es einen möglichen Widerruf angenommen. Diese Entscheidung ist jedoch insgesamt abzulehnen, weil diese Sichtweise die Selbstbestimmung des Individuums einschränken und seine Verpflichtung gegenüber Dritten in unzulässiger Weise ausweiten würde.547 Aus Art. 6 GG können Eheleute und Kinder keine widerstreitenden Rechte herleiten.548 Auch gegen eine Scheidung kann sich ein Ehegatte nicht unter Berufung auf Art. 6 GG zur Wehr setzen. Das Selbstbestimmungsrecht des Ehegatten geht durch die Eheschließung nicht verloren.549 Die Verpflichtung zur gegenseitigem Beistand und Rücksichtnahme geht nicht so weit, dass einem Ehegatten eine Pflicht zu leben erwachsen könnte. Zu beachten ist aber vor allem, dass die Entscheidung nur für den Fall erging, dass eine Entscheidung von der Patientin nicht mehr getroffen werden konnte. Wenn sie bei Bewusstsein gewesen wäre, dann hätte ihre Weigerung, eine Bluttransfusion zu erhalten, Gewicht gehabt.550 Insoweit ist es noch eine andere Frage, ob man einem Einwilligungsfähigen die Befugnis zur Vernichtung seines Rechtsgutes abspricht, oder die Erklärung einer mittlerweile Einwilligungsunfähigen nicht beachtet. Entscheidend ist, dass eine generelle Gefährdung von Unterhaltspflichten durch die Tötung eines Menschen nicht anzunehmen ist. 3. Schutz von Gefühlen Dritter Nach der praktischen Legalisierung der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden hat sich gezeigt, dass einige Menschen sich durch diese bedroht fühlen. Es hat sich die Angst vor unfreiwilliger Euthanasie entwickelt, die zur Benutzung von CredoCards führte, in denen die Menschen zum Ausdruck bringen, dass sie keine Sterbehilfe wünschen.551 Diese Entwicklung zeigt die Verletzung von Gefühlen einzelner Menschen. Der Ansatz Herzbergs, dass ein „emotionales Interesse“ an der Erhaltung des Tötungstabus bestehe, weist einen ähnlichen Hintergrund auf.552 Das Tabuargument kann in Bezug auf den Schutz der Gefühle Einzelner, die durch den Tabubruch berührt würden, eine weitere Dimension erhalten.553 547
Vgl. Hessler, Das Ende des Selbstbestimmungsrechts?, MedR 2003, S. 13 ff. Badura, in: Maunz-Dürig Grundgesetz, Art. 6 Rn. 14. 549 Hessler, Das Ende des Selbstbestimmungsrechts?, MedR 2003, S. 17 f. 550 Ulsenheimer, Der Arzt im Konflikt zwischen Heilauftrag und Selbstbestimmungsrecht des Patienten, in: Arnold/Burkhardt/Gropp/Heine/Koch/Lagodny/Perron/ Walther (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht, S. 1228 f. 551 Vgl. Oduncu, Ärztliche Sterbehilfe (Teil 2), MedR 2005, S. 523. 552 Herzberg, Sterbehilfe als gerechtfertigte Tötung im Notstand?, NJW 1996, S. 3047. 548
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen kann demnach auch dazu dienen, das Sicherheitsgefühl der Menschen zu bewahren. Ob der Schutz von Gefühlen ein tauglicher Gesetzeszweck sein kann, Gefühle mithin Rechtsgüter sein können, ist allerdings fraglich. Ein großer Teil der Strafrechtslehre lehnt die Vorstellung ab, dass Strafvorschriften Gefühle schützen sollten.554 „Aufgabe des Strafrechts ist die Erhaltung menschlicher Ko-Existenz, nicht menschlicher KoSentiments“.555 In der Strafrechtsliteratur wird dem entsprechend meist darauf verzichtet, Straftaten durch den Schutz von Gefühlen zu rechtfertigen. Häufig wird auf den Schutz des „öffentlichen Friedens“ verwiesen. Die Definition des „öffentlichen Friedens“ als „der tatsächliche Zustand der allgemeinen Rechtssicherheit“ sowie „das Vertrauen in die allgemeine Rechtssicherheit begründete Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung“556 zeigt jedoch, dass auch hier der Schutz von Gefühlen im Vordergrund steht. Der Zustand der allgemeinen Rechtssicherheit bedeutet nichts anderes als das Unterbleiben von Straftaten. Dies ist jedoch das Ziel jeder Strafnorm. Eine Bedeutung kann diesem ersten Element der Definition damit nicht zugesprochen werden. Allein der Schutz von Sicherheitsgefühlen und dem Vertrauen in die Rechtssicherheit der Bevölkerung kann also das schützenswerte Interesse sein, welches eine Strafbarkeit von Verhaltensweisen rechtfertigen würde. Das Rechtsgut „öffentlicher Frieden“ ist demnach nur eine zweckrationale Fassade, die den Blick auf die eigentliche Problematik der Legitimation von Gefühlsdelikten verstellt.557 Auch in diesem Bereich könnten die Erkenntnisse aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis nützlich sein. Dort wird neben einer möglichen Kriminalisierung einer Verhaltensweise aufgrund eines „Harm to Others“ auch die Möglichkeit einer Kriminalisierung wegen einer bloßen „Offence to Others“ diskutiert. „Offence to Others“ ist dabei eine, genau wie in der deutschen Strafrechtswissenschaft, von einer „normalen“ Schädigung zu unterscheidende Verletzung von 553 Vgl. Hörnle, die annimmt, dass Tabuschutz stets Gefühlsschutz bedeutet. Hörnle, Der Schutz von Gefühlen im StGB, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 277. 554 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, S. 346 f.; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 394 ff. 555 Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, S. 347. 556 Rudolphi/Stein, in: Systematischer Kommentar zum StGB, Band II, § 126 Rn. 2, § 130 Rn. 9; Rudolphi/Rogall, in: Systematischer Kommentar zum StGB, Band II, § 166 Rn. 15; von Bubnoff, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Band 4, § 126 Rn. 8; vgl. auch Lackner/Kühl, StGB Kommentar, § 126 Rn. 1 („frei von Furcht“). 557 Hörnle, Der Schutz von Gefühlen im StGB, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 268 ff.; vgl. auch Stratenwerth, Zum Begriff des „Rechtsgutes“, in: Eser/Schittenhelm/Schumann (Hrsg.), Festschrift für Lenckner, S. 386.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Gefühlen. Feinberg schlägt die Beachtung eines neben dem „Harm Principle“ bestehenden „Offence Principles“ vor.558 Auf die deutsche Strafrechtswissenschaft übertragen würde dies bedeuten, dem Kriterium der Rechtsgutsverletzung das Kriterium der „Belästigung“ zur Seite zu stellen.559 Für Feinberg sind Verhaltensweisen bereits dann legitim unter Strafe zu stellen, wenn sie unerwünschte intensive Gefühle herbeirufen, die weit verbreitet sind und die Verhaltensweise derart öffentlich durchgeführt wird, dass sie es dem anderen schwer macht, sich ihr zu entziehen.560 Von Hirsch hat diese Ansicht als zu subjektivistisch kritisiert. Nach Feinbergs Ansicht kommt es allein auf die Empfindung des „Opfers“ an. Es fehlt an der Erklärung, warum das Hervorrufen von unerwünschten Gefühlen kriminalisiert werden sollte. Zu Recht geht von Hirsch davon aus, dass bloße Unlustgefühle nicht ausreichen dürften.561 Entsprechend versucht er sich an einer Konkretisierung der schützenswerten Empfindungen. Verhaltensweisen, welche eine Respekt- und Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen Personen zum Ausdruck bringen, hält er für generell geeignet, eine Kriminalisierung zu rechtfertigen. Er lässt allerdings die Frage, ob auch eine Pönalisierung legitim wäre, ausdrücklich offen.562 Eine Respektlosigkeit gegenüber anderen käme jedoch durch die Tötung auf Verlangen nicht in Betracht. Der Sterbewillige hat den Wunsch zu sterben. Die Beachtung des Wunsches einer Person ist ja gerade ein Zeichen des Respektes. Seelmann hat auf Grundlage der Überlegungen Hegels das Anerkennungsmodell als Kriminalisierungskriterium neben „Harm Principle“ und der Rechtsgutstheorie entwickelt. Das Recht sollte danach den gegenseitigen Respekt von Personen untereinander garantieren. Eine Straftat wäre dann ein Infragestellen der Subjektsqualität des Opfers.563 Die Verwandtschaft mit dem Schutz der Menschenwürde ist evident.
558 Vgl. Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law, vol. 2, Offence to Others, S. 3 ff. 559 Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch Band 1, Vor § 1 Rn. 117. Man könnte allerdings aufgrund der Unbestimmtheit des Rechtsgutsbegriffs auch die Belästigung als Rechtsgutsverletzung ansehen. 560 Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law, vol. 2, Offence to Others, S. 49 ff. 561 von Hirsch, Der Rechtsgutsbegriff und das „Harm Principle“, in: Hefendehl/ von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 22; ebenso Roxin, Strafrecht AT 1, § 2 C Rn. 26 ff. 562 von Hirsch, Der Rechtsgutsbegriff und das „Harm Principle“, in: Hefendehl/ von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 22. 563 Seelmann, Rechtsgutskonzept, „Harm Principle“ und Anerkennungsmodell als Strafwürdigkeitskriterien, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 262 f.
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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Ähnlich wie auch von Hirsch kann Seelmann auf diese Weise die Kriminalisierung von Verhaltensweisen, die eine Respektlosigkeit zum Ausdruck bringen, erklären. Doch auch unter dem zusätzlichen Gesichtspunkt des Schutzes der Respektierung der Menschenwürde kann in der Tötung auf Verlangen keine Verletzung von Gefühlen gesehen werden. Wie oben dargelegt ist ein paternalistischer Schutz der Menschenwürde in Bezug auf die Tötung auf Verlangen nicht zu legitimieren. Die Tötung auf Verlangen verletzt nicht den Respekt vor der Person des Sterbewilligen. Generell wird also der Schutz von Gefühlen durch Strafrechtsnormen für möglich gehalten. Allerdings wird auch die Gefahr erkannt, dass es zu einer Überfrachtung des Strafrechts führen würde, wenn man jegliche Gefühle einem strafrechtlichen Schutz unterstellen wollte. In dieser Hinsicht wurden auch in der deutschen Strafrechtslehre verschiedene Versuche unternommen, teilweise ergebnisorientiert, die zu schützenden Gefühle von den nicht schutzwürdigen zu unterscheiden. Amelung geht von der Notwendigkeit einer Schädigung eines Gefühles aus. In diesem Sinne setzt er bei „negativen“ Gefühlen das vorherige Vorhandensein von „positiven“ Gefühlen voraus, die durch die Einwirkung des Täters geschädigt wurden. Als Beispiel nennt er die Erregung, die ein Zeitungsleser erfährt, wenn er von Morden in der Zeitung liest. Eine Schädigung seiner Gefühle läge nach Amelung nur dann vor, wenn er vorher erwogen habe wie schön eine Welt ohne Morde sei. In der Regel könne man aber nicht vom Vorliegen derartiger Gefühle ausgehen, weshalb ein Schutz von Gefühlen nur selten in Betracht käme. Auf diese Weise kann Amelung aber den Schutz von religiösen Gefühlen rechtfertigen, da er davon ausgeht, dass diese in gewissen Situationen in positiver Weise bestehen. Den Schutz von Sicherheitsgefühlen befürwortet er jedoch auch ohne konkrete Hinweise auf ein positives Sicherheitsgefühl, weil er davon ausgeht, dass ein Vertrauen in die Rechtsordnung dem gesellschaftlichen Menschen innewohne.564 Ein anderer Ansatz differenziert zwischen „unechten“ und „echten“ Gefühlsschutzdelikten. Letztere sind Delikte, die ausschließlich dem Schutz von Gefühlen dienen. Roxin will nur „unechte“ Gefühlsschutzdelikte, das heißt Delikte, bei denen es nicht primär um den Schutz der Gefühle des Einzelnen geht, als zulässige Strafrechtsdelikte anerkennen.565 Bei Delikten wie der Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen gehe es zumindest auch um den Schutz der Ausübung der Glaubens- und 564 Amelung, Der Begriff des Rechtsguts in der Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 172 f. 565 Vgl. Roxin, Strafrecht AT 1, § 2 C Rn. 28: „Hier geht es nicht nur um die Abwehr unerwünschter Gefühle.“
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Bekenntnisfreiheit des Art. 4 GG. Die Gefahr einer Diskriminierung von Bekenntnissen, Religionen und Weltanschauungen solle verhindert werden. Ebenso dienen Delikte der Aufforderung und Anleitung zu Straftaten sowie Belohnung und Billigung schwerwiegender Straftaten dem Schutz vor der Begehung derartiger Straftaten.566 „Echte“ Gefühlsschutzdelikte, wie die Erregung öffentlichen Ärgernisses will Roxin dem Polizei- oder Ordnungswidrigkeitenrecht überlassen.567 Wie Amelung sieht er aber dort für den Staat ein Bedürfnis einzugreifen, wo Sicherheitsgefühle beeinträchtigt werden. Ein friedliches Zusammenleben setze voraus, dass man sich nicht vor anderen fürchten oder sich von ihnen diskriminieren lassen muss.568 Diese Formulierung deutet darauf hin, dass Roxin in einem derartigen Fall echte Gefühlsschutzdelikte doch zulassen möchte. Hörnle hat die beeinträchtigten „Sicherheitsgefühle“ konkretisiert. Wie auch Roxin bezieht sie sich auf § 126 StGB, die Strafbarkeit der Androhung von Straftaten. Eine derartige Androhung würde neben der Störung des Sicherheitsgefühls zu einer Beeinträchtigung der Rechte von Individuen führen. Die Androhung von Straftaten, sei sie individualisiert erfolgt oder an eine breite Masse gerichtet, sei geeignet, die individuelle Lebensgestaltung erheblich zu beeinträchtigen. Diese Beeinträchtigung wäre nicht nur „ein unerwünschtes Gefühl“, sondern würde über Bedrohungsgefühle vermittelt, auch die Handlungsfreiheit des Einzelnen einschränken. Die Androhung eines gemeingefährlichen Anschlags würde nicht nur die Gefühle der potentiell Betroffenen tangieren, sondern sie würden – vernünftiges Verhalten vorausgesetzt – auch ihre Lebensumstände danach einrichten, beispielsweise öffentliche Plätze meiden.569 Die Entwicklung in den Niederlanden hat gezeigt, dass einige Personen sich durch die Legalisierung der Sterbehilfe verunsichert fühlen und Credo Cards benutzen, um sich vor einer unfreiwilligen Sterbehilfe zu schützen. Die Bedrohungsgefühle haben sich also ganz konkret durch eine Änderung der Lebensgestaltung realisiert. Die Lebensgestaltung des Einzelnen wäre also durch eine Zulassung der Tötung auf Verlangen gefährdet, weil sich Menschen genötigt fühlen könnten, zum Ausdruck zu bringen, ob sie getötet werden wollen oder nicht. Eine derartige Änderung der Lebensgestaltung ist aber nicht als eine Beeinträchtigung der Lebensgestaltung zu werten, die ein derartiges Gewicht hätte, dass sie durch das Strafrecht verhindert werden sollte. Es geht allein 566 A. A. Hörnle, die die Gefahr der Schaffung eines andere Straftaten begünstigenden „psychischen Klimas“ für unplausibel hält. Hörnle, Der Schutz von Gefühlen im StGB, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 277. 567 Roxin, Strafrecht AT 1, § 2 C Rn. 30. 568 Roxin, Strafrecht AT 1, § 2 C Rn. 27. 569 Vgl. Hörnle, Der Schutz von Gefühlen im StGB, in: Hefendehl/von Hirsch/ Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 275.
B. Pragmatische Gründe für die Strafbarkeit
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darum, dass eine Willenserklärung abgegeben wird. Eine echte Beeinträchtigung ist hierin nicht zu sehen. Auch Hörnle verlangt ähnlich wie Feinberg eine „wesentliche Beeinträchtigung“ und in Zusammenhang damit die fehlende Möglichkeit sich der Gefahr zu entziehen.570 Davon abgesehen wäre es nach den Grundsätzen der objektiven Zurechnung äußerst fraglich, ob dem Täter des § 216 StGB eine Beeinträchtigung der „Sicherheitsgefühle“ anderer in der Weise zugerechnet werden kann, dass eine Bestrafung legitim wäre. Das Risiko der Verletzung von Gefühlen kann durch die eventuell Betroffenen selbst zumutbar kompensiert werden. Tatsächlich ist der Gebrauch von Credo Cards, oder das Niederlegen des eindeutigen Ablehnens von Sterbehilfe keine unzumutbare Belastung und geeignet, jegliche Bedrohungsgefühle auszuschalten. Warum sollte es nicht zur Norm werden, Verfügungen über die Art seines Sterbens zu treffen? Der Respektierung der Selbstbestimmung wäre damit gedient. Wahrscheinlich auch auf den Schutz von Gefühlen zielt die Argumentation, dass die Tötung auf Verlangen, so sie von Ärzten ausgeführt werden soll, zu einer Schädigung des Arzt – Patienten Vertrauensverhältnisses führen würde. Der Patient könne sich nicht mehr darauf verlassen, dass der Arzt ihn nicht töten werde.571 Diese Argumentation verkennt aber, dass auch bei Freigabe der Tötung auf Verlangen das Verlangen des Patienten ein notwendiges Element darstellt. Es ist nicht einzusehen, warum Ärzte, die sich über dieses Erfordernis hinwegsetzen würden, nicht bereits heute Tötungen vornehmen. Auch irrationale Ängste könnten zwar das Arzt – Patienten Vertrauensverhältnis verletzen, wenn jedoch eine Verletzung des Vertrauensverhältnisses nicht konkret festgestellt werden kann, kommt es auf die Plausibilität der Gefahr an. Die Entwicklung von irrationalen Ängsten ist aber nicht plausibel. Umgekehrt könnte die Betonung der Eigenverantwortlichkeit der Patienten den Arzt davor schützen, zu glauben, er selbst müsse die Situation des Patienten beurteilen. In den Niederlanden wurde unter diesem Gesichtspunkt erhofft, die von Ärzten ausgeführten Tötungen ohne Verlangen zu reduzieren.572 Schließlich ist fraglich, ob die Rezeption des Berufsbildes des Arztes in der Gesellschaft von derartiger Bedeutung ist, dass die Gefahr, es könne durch die
570 Vgl. Hörnle, Der Schutz von Gefühlen im StGB, in: Hefendehl/von Hirsch/ Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 276. 571 Wolfslast, Gedanken zur Sterbehilfe, in: Kreuzer/Jäger/Otto/Quensel/Rolinski (Hrsg.), Fühlende und denkende Kriminalwissenschaften, S. 491; von Engelhardt, Euthanasie – historische Entwicklung, begriffliche Analyse, in: Oehmichen (Hrsg.), Lebensverkürzung, Tötung und Serientötung, S. 41; Lohmann, Euthanasie in der Diskussion, S. 171. 572 Vgl. Oduncu, Ärztliche Sterbehilfe (Teil 1), MedR 2005, S. 443 ff.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Betätigung von Ärzten als aktive Sterbehelfer Schaden nehmen, durch eine strafrechtliche Regelung gebannt werden müsste.573 4. Schutz der Ärzte vor der Pflicht zu Töten Der nationale Ethikrat hat in seiner Stellungnahme vom 13.07.2006 zur Legalisierung der Sterbehilfe als einen wesentlichen Grund gegen die Freigabe der aktiven Sterbehilfe das Interesse der Ärzte, vor einer Pflicht zur Tötung von Sterbewilligen bewahrt zu werden, angegeben. In Zusammenhang mit diesem Argument wird häufig der Hippokratische Eid genannt, der sowohl die Beihilfe zum Suizid als auch die Sterbehilfe verbietet.574 Kautzky weist aber zu Recht darauf hin, dass man sich nicht an einen 2000 Jahre alten Eid halten müsse, wenn man ihn für falsch hält. Tatsächlich besteht Einigkeit darüber, dass die fortgeschrittene technische Entwicklung in der Medizin die Problematik der Sterbehilfe verstärkt hat. Der Mensch fängt an, sich vor einer unendlichen Lebensverlängerung durch Apparate zu fürchten. Andere Regelungen des Eides werden durch Ärzte ebenfalls nicht mehr befolgt, weil sie sich heute als unsinnig darstellen.575 Auch in der Antike war der hippokratische Eid nicht für jeden Arzt bindend. Schon damals wurden auch andere Positionen vertreten. So hat Plato in seiner „Politeia“ gar die Tötung einiger Menschen („[. . .], und die in Bezug auf die Seele schlechtgearteten und unheilbaren selbst töten werden?“)576 befürwortet.577 Dem Selbstbestimmungsrecht des Sterbewilligen steht das Selbstbestimmungsrecht des designierten Täters gegenüber. Der Arzt darf nicht dazu gezwungen werden, eine Tötung auf Verlangen vorzunehmen.578 Dieser Zwang würde aber durch die Freigabe der Tötung auf Verlangen zur Tötung gar nicht entstehen. Der Umstand, dass er nicht bestraft würde, verpflichtet ihn nicht, dem Wunsch des Patienten nachzukommen. Ein Recht „getötet zu werden“ ist nicht gleichbedeutend mit einem Anspruch darauf, getötet zu werden. In einem solchen Fall müsste der Staat sogar Menschen bereitstellen, welche die Tötung 573 So aber wohl Kautzky, Euthanasie und Gottesfrage, S. 209; dagegen Birnbacher, Recht auf Sterbehilfe – Pflicht zur Sterbehilfe?, in: Orsi/Seelmann/Smid/Steinvorth (Hrsg.), Medizin – Recht – Ethik, S. 81 f. 574 „Niemals werde ich jemanden raten, seine Zuflucht in Gift zu nehmen, und ich werde es denen verweigern, die mich darum bitten.“ zitiert nach Kautzky, Die Freiheit des Sterbenden und die Pflicht des Arztes, in: Eid (Hrsg.), Euthanasie, S. 37. 575 Kautzky, Die Freiheit des Sterbenden und die Pflicht des Arztes, in: Eid (Hrsg.), Euthanasie, S. 37. 576 Platon, Der Staat, Sämtliche Werke Band 2, S. 113. 577 von Engelhardt, Euthanasie – historische Entwicklung, begriffliche Analyse, in: Oehmichen (Hrsg.), Lebensverkürzung, Tötung und Serientötung, S. 29. 578 von Engelhardt, Euthanasie – historische Entwicklung, begriffliche Analyse, in: Oehmichen (Hrsg.), Lebensverkürzung, Tötung und Serientötung, S. 41.
C. Fazit
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durchführen würden. Ein Mittelweg ist aber, dass der Staat zumindest nicht diejenigen behindert, die zur Tötung der Sterbewilligen bereit wären.579 Tatsächlich hat ein Arzt ein Interesse daran, vor einer Pflicht zur Tötung eines Menschen geschützt zu werden. Es ist aber nicht erforderlich, diesen Schutz durch ein strafrechtliches Verbot der Tötung auf Verlangen zu erreichen.580 Es verlangt auch niemand die Beihilfe zum Suizid unter Strafe zu stellen, um mögliche Gehilfen vor der Gewissensqual zu bewahren. Die Gefahr, dass aus der Möglichkeit eine straflose Tötung auf Verlangen eine Pflicht zur Tötung wird, ist unplausibel. Auch beim Schwangerschaftsabbruch hat die Fristenlösung nicht zu einer Pflicht des einzelnen Arztes geführt, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen.581
C. Fazit: Grundsätzlich zulässige Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen Die Untersuchung der möglichen Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen hat zunächst einmal gezeigt, dass Gründe, die auf einer religiösen oder weltanschaulichen Vorprägung basieren, nicht tragen. Dies liegt nicht nur daran, dass der Staat des Grundgesetzes weltanschaulich neutral ausgestaltet sein soll. Das Bekenntnis des Grundgesetzes zur individuellen Freiheit ist schließlich selbst ein Beleg für eine bestimmte Weltanschauung.582 Vor allem lassen sich keine zwingenden Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen aus den heute vorherrschenden Prinzipien unseres Kulturkreises herleiten. Sodann wurde festgestellt, dass ein paternalistischer Schutz des „Opfers“ des § 216 StGB nicht in Frage kommt. Eine Bevormundung des Einzelnen, der seinen Tod ernstlich und damit autonom verlangt, ist im Lichte des Autonomieprinzips nicht hinnehmbar. Diese Form des harten Paternalismus ist abzulehnen. 579
Eser, Sterbehilfe und Euthanasie in rechtlicher Sicht, in: Eid (Hrsg.), Euthanasie,
S. 67. 580 Anders sieht dies wohl Detering, der zweifelt, ob es dem Arzt zumutbar wäre sich allein auf sein Gewissen zu berufen, ohne sich auf das strafrechtliche Verbot berufen zu können. Detering, § 216 StGB und die aktuelle Diskussion um die Sterbehilfe, JuS 1983, S. 422. 581 Birnbacher, Recht auf Sterbehilfe – Pflicht zur Sterbehilfe?, in: Orsi/Seelmann/ Smid/Steinvorth (Hrsg.), Medizin – Recht – Ethik, S. 80 f. 582 Insofern stellt Roellecke fest, dass die Annahme, der Staat leite seine Berechtigung vom Individuum ab und sei nicht aus sich selbst heraus derjenige, der gönnerhaft dem Individuum Rechte zubilligt, aufgrund der tatsächlichen Macht des Staates selbst ein weltanschauliches Glaubensbekenntnis. Roellecke, Gibt es ein „Recht auf den Tod“?, in: Eser (Hrsg.), Euthanasie, S. 337 ff., 345.
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3. Kap.: Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen
Der Eingriff in die Grundrechte ist nicht durch einen aufgedrängten Grundrechtsschutz zu rechtfertigen. Auch aus der schutzrechtlichen Funktion der Grundrechte folgt nichts anderes. Eine Einschränkung der Dispositionsbefugnis des Grundrechtsträgers kann nur aus Gründen der vorrangigen Interessen der Allgemeinheit oder Dritter herzuleiten sein, nicht aus dem Gedanken des Schutzes des Einzelnen vor sich selbst.583 Sofern ein Grundrecht also ausschließlich dem Schutz der Individualinteressen des Grundrechtsträgers gilt, ist eine Beschränkung der Dispositionsbefugnis ausgeschlossen. Nur wenn durch die grundgesetzliche Bestimmung neben dem Individualschutz auch Allgemeininteressen oder Interessen Dritter Schutz erfahren, ist die Dispositionsbefugnis des Einzelnen beschränkt.584 Es ist nicht anzunehmen, dass durch das Rechtsgut Leben als höchstpersönliches Individualrechtsgut der Schutz von Allgemeininteressen vermittelt werden soll. Auch andere Interessen der Allgemeinheit sind nicht geeignet, den Einzelnen in seiner Dispositionsfreiheit in Bezug auf die Beendigung seines Lebens zu beschränken. Der Schutz der persönlichen Freiheit hat einen zu hohen Stellenwert in unserer Verfassung. Erst wenn Individualinteressen anderer bedroht werden, endet die Freiheit des Einzelnen. Das Interesse von Ärzten, davor geschützt zu werden, die Tötung eines Menschen durchführen zu müssen, kann nicht als legitimer Grund für die Etablierung des § 216 StGB angeführt werden, da sie bereits durch andere Strafnormen, wie § 240 StGB davor geschützt werden, gegen ihren Willen zu Handlungen gezwungen zu werden. Die Regelung des § 216 StGB wäre damit nicht erforderlich und nur bedingt geeignet. Auch die Aussicht auf eine schiefe Ebene, die zu einer Tötung gegen den Willen des Opfers führen sollte, vermag keine Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe zu liefern, da bereits die Überlegungen zur Kausalkette unplausibel sind. Der Schutz des Lebens derer, die nur scheinbar ernsthaft ihre Tötung verlangen, könnte aber eine Legitimation des § 216 StGB darstellen. § 216 StGB mag also dem Zweck dienen, der Gefahr entgegenzuwirken, dass jemand, der unerkannt nicht freiverantwortlich seine Tötung verlangt, getötet wird. In dieser Konstellation greifen die paternalistischen Argumente des Schutzes vor übereilten und unüberlegten Entscheidung voll durch. Eine Besonderheit ist jedoch, dass lediglich die Gefahr besteht, dass eine derartige Konstellation vorliegt. Es geht also nicht darum, anzunehmen, dass ein Tötungsverlangen grundsätzlich keine rechtfertigende Wirkung hat. Vielmehr bestimmt das Gesetz aufgrund des Risikos der nicht freiverantwortlich getroffenen Einwilligung, dass diese keine rechtfertigende Wirkung haben soll. Dies ist im Rahmen der Anwendung 583 584
S. 44.
Hillgruber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz Band 1, Art. 2 I Rn. 153. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht,
C. Fazit
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abstrakter Gefährdungsdelikte möglich. Eine Handlung wird dabei wegen ihres Gefahrenpotentials unter Strafe gestellt. Dieses Gefahrenpotential ergibt sich aus mehren Gesichtspunkten. Zum einen besteht die Möglichkeit, dass ein Tötungsverlangen ohne bewusste Beeinflussung nicht freiverantwortlich getroffen wurde und dies aufgrund der Schwierigkeiten der Feststellung einer Freiverantwortlichkeit nicht bemerkt wird. Zum anderen besteht die Gefahr des Missbrauchs der Norm, sei es durch Drohungen oder Zwang oder durch den prozessualen Missbrauch der schwierigen Beweissituation. Das Gefahrenpotential der Tötung auf Verlangen zeigt sich auch in der Enttabuisierung des Schutzes menschlichen Lebens. Durch den Abbau von Tötungshemmungen könnte eine nicht mehr hinnehmbare Fehlentwicklung geschehen, auch wenn die Gefahr einer Entwicklung bis zu „NS-Euthanasie“ ähnlichen Zuständen unplausibel ist.
Viertes Kapitel
Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne A. Abwägung unter empirischen Gesichtspunkten Die oben aufgeführten Gefahren bilden an sich zulässige Gesetzeszwecke, die aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne mit den Einschränkungen, welche § 216 StGB für die Freiheit des Täters und des Opfers birgt, abgewogen werden müssen. Auch wenn den Staat eine Schutzpflicht in Bezug auf das Rechtsgut Leben trifft, macht das eine Prüfung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz noch nicht entbehrlich.1 Strafvorschriften sind, auch wenn sie in Erfüllung einer Schutzpflicht des Staates erlassen werden, nur als „ultima ratio“ gerechtfertigt, wenn die weniger einschneidenden Mittel des bürgerlichen oder öffentlichen Rechts (im Sinne des Verwaltungsrechts) nicht ausreichen, um einen wirksamen Rechtsgüterschutz zu gewährleisten.2 Diese „Subsidiarität“ des Strafrechts ist Ausdruck des öffentlich-rechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips als Teil des Schrankensystems der Grundrechte.3 An dieser Stelle kann auf empirische Aussagen zurückgegriffen werden. Es geht gerade um die Frage, welche faktischen Auswirkungen die Legalisierung der Tötung auf Verlangen haben wird.4 Diese Auswirkungen müssen anschließend mit den Folgen der Regelung, den Grundrechtseingriffen in die Rechte der Täter und Opfer, abgewogen werden.5
1 Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, S. 1638; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I, § 2 Rn. 19. 2 Weber in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 3 Rn. 19; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, Rn. 9. 3 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 70; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Abschnitt Rn. 27 (mit kritischen Anmerkungen zum Subsidiaritätsprinzip). 4 Vgl. Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, Stellungnahme vom 13.07.2006, S. 17 f. 5 Vgl. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 509.
B. Abwägungskriterien bei abstrakten Gefährdungsdelikten
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B. Abwägungskriterien bei abstrakten Gefährdungsdelikten Bei der konkreten Abwägung in Bezug auf § 216 StGB kann man zunächst auf die Kriterien der Zulässigkeit abstrakter Gefährdungsdelikte zurückgreifen, die bereits oben herausgearbeitet wurden. Bereits Binding hat als Kriterien für den Abwägungsprozess bei „Delikten des einfachen Ungehorsams“ den Prozentsatz der schädlichen bzw. unschädlichen Handlungen, die Schwere der zu erwartenden Auswirkungen und das hinter der Vornahme der Handlung stehende Bedürfnis angeführt.6 In die Abwägung mit einbezogen werden muss, welche berechtigten Interessen der Einzelne an der gefährlichen Handlung haben kann. Ein generelles Verbot ist umso weniger dramatisch, wenn es keine legitimen Gegeninteressen gibt.7 Beispielsweise kann bei Trunkenheitsfahrten ein legitimes Gegeninteresse nur in Ausnahmefällen erblickt werden, denen durch Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe Rechnung getragen werden kann.8 Wenn die Errichtung abstrakter Gefährdungsdelikte allerdings keinen effizienten Schutz des fraglichen Rechtsgutes bewirken kann, wäre ihre Errichtung unverhältnismäßig (im engeren Sinne).9 Des Weiteren setzt eine Strafandrohung bei abstrakter Gefährdung ein besonders wichtiges Rechtsgut voraus, welches derart intensiv geschützt wird. Je höher der Stellenwert des geschützten Rechtsgutes, um so eher darf der Gesetzgeber auf das Verbot abstrakter Gefährdungen zurückgreifen.10 Von Bedeutung ist auch der Gesichtspunkt der Zurechnung. Möglicherweise kann eine Gefahr durch Dritte oder den Täter selbst zumutbar kompensiert werden. Der Rückgriff auf abstrakte Gefährdungsdelikte wäre dann unangemessen. Schließlich hat eine Beschränkung der Anwendung abstrakter Gefährdungsdelikte in der Weise zu erfolgen, dass die Entscheidung des Gesetzgebers nicht zu pauschal ausfallen darf. Es dürfen nicht unnötigerweise objektiv ungefährliche Verhaltensweise pönalisiert werden. Dies ist eine Folge des verfassungsrechtlichen Willkürverbotes.
6
Binding, Die Normen und ihre Übertretung Band I, S. 399 ff. Koriath, Zum Streit um Gefährdungsdelikte, GA 2001, S. 68; Binding, Die Normen und ihre Übertretung Band I, S. 399 f. 8 Vgl. Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, S. 315 FN 188; von Hirsch/Wohlers, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 213. 9 Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S. 107. 10 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 442, 520. 7
184
4. Kap.: Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
C. Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers und Abwägungsgrenzen Dem Gesetzgeber wird in Hinblick auf seine Entscheidung zur Kriminalisierung von Verhalten eine Einschätzungsprärogative eingeräumt. Bei der nachträglichen Prüfung von Strafrechtsvorschriften ist dieser Freiraum bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit, der Abwägungskontrolle, zu beachten. Aus diesem ergibt sich eine nur eingeschränkte Justitiabilität der gesetzgeberischen Entscheidung.11 Der Abwägungsspielraum des Gesetzgebers wird jedoch auf der einen Seite durch abwehrrechtliche, auf der anderen Seite durch schutzfunktionale Erwägungen begrenzt. Aus schutzfunktionalen Erwägungen könnte im Rahmen des Untermaßverbotes die Verpflichtung des Gesetzgebers zum Einsatz des Strafrechts folgen.12 Eine derartige Verpflichtung wird allerdings nur bei hoch- und höchstrangigen Rechtsgütern angenommen.13 Das Rechtsgut Leben ist ein Höchstwert unserer Rechtsordnung. Daraus folgt aber nicht in jedem Fall eine Verpflichtung zur Schaffung von Straftatbeständen.14 Die Pflicht zum Schutz des Rechtsgutes kann auch durch andere gesetzgeberische Mittel erreicht werden. Es besteht nur eine Verpflichtung zur Herstellung des Schutzerfolges.15 Diese Konsequenz folgt aus der Beachtung der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers. Gewichtige abwehrrechtliche Prinzipien könnten als gegenläufige Interessen einem Schutz des Rechtsgutes Leben durch das Strafrecht entgegenstehen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch die Menschenwürde, das Recht der Schwangeren auf ihr Leben und das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Gegenrechte anerkannt.16 Innerhalb der abwehrrechtlichen und schutzfunktionalen Abwägungsgrenzen hat also eine Ab-
11 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 509. 12 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, S. 229. 13 Vgl. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 115; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1, § 69 IV 5 d, S. 949. 14 Vgl. BVerfGE 39, S. 1 (41 ff.): „Indes kann Strafe niemals Selbstzweck sein. Ihr Einsatz unterliegt grundsätzlich der Entscheidung des Gesetzgebers. Er ist nicht gehindert, unter Beachtung der oben angegebenen Gesichtspunkte die grundsätzlich gebotene rechtliche Missbilligung des Schwangerschaftsabbruchs auch auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen als mit dem Mittel der Strafdrohung.“; andere Ansicht, Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 2, Rn. 50. 15 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 446; Amelung, Der Begriff des Rechtsguts in der Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 162; Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 97; vgl. auch BVerfGE 92, S. 26 (46). 16 BVerfGE 88, S. 203 (254).
D. Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers
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wägung stattzufinden. Dies ist Folge des Verhältnisses von Übermaß- und Untermaßverbot.17 Sternberg-Lieben hat in diesem Zusammenhang angedacht, eine gerichtliche Abwägungskontrolle anhand der von der Verwaltungsgerichtsbarkeit entwickelten Abwägungsrichtlinien (Abwägungsausfall, -defizit, -fehleinschätzung und Abwägungsdisproportionalität) durchzuführen. Ohne weiteres ist eine Übertragung dieser Grundsätze zwar nicht möglich, aber Sternberg-Lieben ist zuzustimmen, dass die Erfahrung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in diesem Bereich auch für die Kontrolle von gesetzgeberischen Abwägungsentscheidungen nutzbar gemacht werden könnte.18
D. Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers Die vom Bundesverfassungsgericht immer wieder betonte Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers führt dazu, dass auch Prognosen, die sich nachträglich als falsch erweisen, vom Bundesverfassungsgericht akzeptiert werden. Das Gericht bezieht seine inhaltliche Prüfungsperspektive auf den Zeitpunkt des Gesetzeserlasses. Das Gebot des effektiven Grundrechtsschutzes verlangt dann aber vom Gesetzgeber auch, dass er seine Entscheidungen überwacht. Sternberg-Lieben spricht hier von einer Pflicht zur Lageüberwachung (Folgenverantwortung).19 Prognosen, die sich im nach hinein als falsch herausgestellt haben, können nur vom Gesetzgeber korrigiert werden. Gleiches gilt, wenn nicht die Prognose selbst falsch ist, sondern sich die gesellschaftlichen Gegebenheiten verändert haben. Das Bundesverfassungsgericht nennt diese Verpflichtung des Gesetzgebers eine „Nachbesserungspflicht“.20 In Anbetracht dessen, dass die Pflicht des Gesetzgebers zur Nachbesserung von Gesetzen durch das Bundesverfassungsgericht meist nur festgestellt wurde, ohne eine konkrete Appellfunktion zu entfalten, könnte man davon ausgehen, dass die Nichtbeachtung dieser Pflicht nicht die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zur Folge hätte. Tatsächlich gebietet ja gerade das Gewaltenteilungsprinzip eine Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, die nicht durch eine Pflicht zur Nachbesserung zur Disposition des Verfassungsgerichts gestellt werden darf. Dennoch hat das Verfassungsgericht auch die Möglichkeit gesehen, dass ein Ge-
17
Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 447 f. Sternberg-Lieben, Rechtsgut, Verhältnismäßigkeit und die Freiheit des Strafgesetzgebers, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 80. 19 Sternberg-Lieben, Rechtsgut, Verhältnismäßigkeit und die Freiheit des Strafgesetzgebers, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 81. 20 Badura, Die Pflicht des Parlaments zur „Nachbesserung“ von Gesetzen, in: Müller/Rhinow/Schmid/Wildhaber (Hrsg.), Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel, S. 484 f. 18
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4. Kap.: Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
setz verfassungswidrig würde, wenn nicht eine Nachbesserung durch den Gesetzgeber erfolge.21 Als Maßstab, wann ein verfassungsgerichtliches Einschreiten vor dem Hintergrund der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers angemessen ist, kann die Evidenz-Formel dienen. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle findet in ihr ihre Grenzen. Nur bei evidenten Pflichtverletzungen des Gesetzgebers darf das Bundesverfassungsgericht einschreiten. Notwendig ist der Vorwurf der Willkür, eines untragbaren Rechtsverstoßes oder sachwidriger Erwägungen.22 Ein derartiger Verstoß ist in Bezug auf § 216 StGB nicht ohne weiteres festzustellen. Ein möglicher Fall der Nachbesserungspflicht ist der § 216 StGB aber in jedem Fall. Durch die Einführung des Grundgesetzes hat sich die Wertung der Rechtsordnung deutlich in Richtung individuelle Freiheit und Verantwortung verschoben. Erst mit dem Grundgesetz ist die Spannungslage zwischen nunmehr verbrieftem Freiheitsrecht und der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen entstanden. Die ursprünglich religiös und sittlich motivierte Begründung des § 216 StGB kann in unserem heutigen Verfassungsstaat nicht mehr tragen. Dennoch wäre eine Veränderung der Gesetzeslage unangebracht, wenn sich andere Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen anführen lassen könnten. Wie oben gezeigt ist eine Legitimation des § 216 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt grundsätzlich möglich.
E. Die Gefahren der Freigabe der Tötung auf Verlangen Bei der konkreten Abwägung müssen die Gefahren einer Freigabe der Tötung auf Verlangen beachtet werden, um eine Risikobewertung vornehmen zu können. § 216 StGB kann unter mehreren Gesichtspunkten dem Schutz des menschlichen Lebens dienen. Die hohe Wertigkeit des Rechtsgutes hat Auswirkungen auf die Abwägung im Rahmen abstrakter Gefährdungsdelikte. Ein hohes Schutzgut rechtfertigt schneller einen kriminalstrafrechtlichen Vorwurf. Lagodny betont hierbei besonders verfassungsrechtlich legitimierte „Gemeinwohlinteressen“.23 Bei diesen führt die Schutzfunktion des Staates zu einer Verpflichtung des Staates, die sich in der Abwägung niederschlägt. Insofern prallen schutzfunktionsrechtliche und abwehrrechtliche Aspekte der Grundrechte aufeinander. Das Recht auf Leben ist in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG niedergelegt und stellt damit 21
BVerfGE 54, S. 11 (34 f., 39). Badura, Die Pflicht des Parlaments zur „Nachbesserung“ von Gesetzen, in: Müller/Rhinow/Schmid/Wildhaber (Hrsg.), Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel, S. 487 f. 23 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 520. 22
E. Die Gefahren der Freigabe der Tötung auf Verlangen
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ein verfassungsrechtlich legitimiertes Rechtsgut oder Gemeinwohlinteresse dar. Die Schutzpflicht des Staates greift auch im Fall paternalistischer Bevormundung, soweit die Handlung des Tötungsverlangenden nicht freiverantwortlich war. Genau um diese Gefahr geht es bei der Schutzfunktion des § 216 StGB. Auf der anderen Seite verlangt das abwehrrechtliche Übermaßverbot im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, dass eine strafrechtliche Sanktionierung nur in wichtigen Fällen geschieht. Auf abstrakte Gefährdungsdelikte bezogen formuliert Lagodny: „Je weniger plausibel das Bestehen einer abstrakt-generellen Gefahr für die Gemeininteressen als Rechtsgut im grundrechtsdogmatischen Sinne ist, umso größer muss das Gewicht der zu schützenden Rechtsgutinteressen sein.“24 Da das Leben einen Höchstwert unserer Rechtsordnung darstellt, kann bereits eine wenig plausible Gefahr einen Eingriff in die Grundrechte rechtfertigen, um das Rechtsgut zu schützen. Wie bereits oben dargelegt, kann sich eine Gefährdung des menschlichen Lebens durch die Freigabe der Tötung auf Verlangen oder sogar der Tötung mit Einwilligung aus mehreren Gesichtspunkten ergeben. Eine rechtlich relevante Verletzung des menschlichen Lebens ergibt sich nur bei denjenigen, die gegen oder ohne ihren Willen getötet wurden. Oben wurde gezeigt, dass eine Verpflichtung zu leben für das Individuum nicht besteht. Demnach kann der Schutz des Lebens nur dort legitim sein, wo die Tötung dem Willen des Opfers nicht entspricht. I. Das eigentliche Beweisargument Relativ leicht zu beurteilen ist die Gefahr von echten prozessualen Schwierigkeiten als Folge einer Legalisierung der Tötung auf Verlangen. Das denkbare Risiko, dass Täter aufgrund von prozessualen Beweisschwierigkeiten nicht wegen Totschlages verurteilt werden könnten, weil sie unwiderlegbar ein Tötungsverlangen behaupten, ist gering. Schroeder stellte in diesem Zusammenhang fest, dass den Befürchtungen der Unwiderlegbarkeit der Einlassungen von Mördern und Totschlägern in Bezug auf angebliche Einwilligungen des Getöteten oder Notwehrsituationen die Erfahrung aus der richterlichen Praxis entgegensteht. In den meisten Fällen hätte bei dieser Annahme ein Freispruch beziehungsweise eine Verurteilung nach § 216 StGB erfolgen müssen, was nicht der Fall war.25 Die bloße Einlassung des Täters ist für den Tatrichter nicht bindend.
24 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 520; vgl. auch Seetzen, Der Prognosespielraum des Gesetzgebers, NJW 1975, S. 431 f. 25 Schroeder, Beihilfe zum Selbstmord und Tötung auf Verlangen, ZStW 106 (1994), S. 570.
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4. Kap.: Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
Entscheidend ist die Glaubhaftigkeit der Einlassung. Wenn man diesen Aspekt mit hinzuzieht, wird klar, dass Richter nicht geneigt sind, dem Täter eine derartige Einlassung zu glauben, sondern sie vielmehr als Schutzbehauptung einstufen. Aufgrund der hohen Wertigkeit des Rechtsguts Leben könnte aber auch diese unplausible Gefahr einer Verletzung ausreichen, um ein abstraktes Gefährdungsdelikt zu legitimieren. In Hinblick auf die Differenzierungspflicht des Gesetzgebers jedoch zeigt sich, dass ein derartiges pauschales Verbot der Tötung auf Verlangen nicht sachgerecht ist. Meist wird in der aktuellen Diskussion ohnehin keine völlige Freigabe der Tötung auf Verlangen gefordert, sondern es wird nur angeregt, für den Teilbereich der Sterbehilfe eine Regelung zu treffen. Vorschläge zu dieser Regelung beinhalten meist ein Verfahren zur Sicherung der Autonomie des Sterbewilligen. Die Missbrauchsgefahr in Hinblick auf prozessuale Beweisschwierigkeiten kann im Fall eines Verfahrens der Sterbehilfe, beispielsweise durch Hinzuziehen einer Kommission, praktisch ausgeräumt werden. II. Weich-paternalistisch motivierter Schutz Wesentlich schwieriger zu beurteilen sind die Risiken einer Legalisierung im Hinblick auf soziale Folgen oder psychologische Effekte. Hierbei begibt man sich als Jurist auf weitgehend unbekanntes Terrain. Die Tötung entspricht auch dann nicht dem Willen des Opfers, wenn ein Tötungsverlangen nur scheinbar ernstlich, aber tatsächlich rechtlich nicht autonom erfolgte. Im Rahmen der paternalistischen Ansätze wurde herausgearbeitet, dass auf eine real mögliche Form der Autonomie zurückgegriffen werden muss. Die Fixierung auf eine ideale Autonomie, die in der Realität nicht existiert, ist nicht zielführend. Eine Entscheidung ist demnach autonom, wenn sie an einer eigenen Wertrangordnung ausgerichtet ist. Es darf kein Irrtum über motivbildende Tatsachen vorliegen. Prognosen dürfen nicht aufgrund von Fehlvorstellungen in der Gegenwart getroffen worden sein. Es sind leicht Konstellationen denkbar, in denen diese Anforderungen an die Autonomie des Einzelnen nicht erfüllt sind. Irrtümer über den Zweck des eigenen Todes sind häufig in den Fällen auszumachen, die uns besonders verhinderungswürdig erscheinen. Der Todeswunsch aufgrund von Liebeskummer beruht beispielsweise auf der in der Regel fehlerhaften Vorstellung, ein Leben ohne den anderen wäre nie wieder lebenswert. Im Bereich der Selbstmordforschung ist festgestellt worden, dass viele Suizidenten nach missglücktem Versuch froh über ihre Rettung sind und ihren Todeswunsch im Nachhinein als unsinnig und auf Fehleinschätzungen beruhend klassifizieren. Die Existenz von Suiziden als
E. Die Gefahren der Freigabe der Tötung auf Verlangen
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„Hilferuf“ zeigt ebenfalls, dass ein Todeswunsch nicht immer tatsächlich gegeben ist.26 An dieser Stelle begibt man sich zwangsläufig in den Bereich der Bewertung von Sterbemotiven. Es geht darum, wann ein Todeswunsch als nicht irrtumsbedingt eingestuft werden kann. Das einzige Kriterium ist hierbei die Nachvollziehbarkeit des Todeswunsches. Der Einzelne wird also der fremden Vernunftshoheit nicht entkommen. Um den Einzelnen vor einer absoluten Bevormundung zu bewahren, muss das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit anerkannt werden. Auch wenn eine Entscheidung nicht autonom getroffen wurde, hat der Einzelne sie selbst zu verantworten, wenn lediglich ein Motivirrtum vorliegt. Eine derartige Bestrebung gibt es im Bereich der Einwilligungsdogmatik. Im Rahmen der Tötung auf Verlangen ist jedoch die Irreversibilität der Rechtsgutsbeeinträchtigung zu beachten. Auch aus diesem Grund hat der Staat eine grundrechtlich statuierte Schutzpflicht für das Leben. Wie oben dargelegt ist ein Abstellen auf die Eigenverantwortlichkeit des Sterbewilligen nicht zwingend. Im Sinne eines weichen Paternalismus ist allein entscheidend, ob der Sterbewillige autonom handelte oder nicht. Die Frage der Feststellung der Autonomie ist eine rein praktische Frage, die der Gesetzgeber unter Abwägung aller Umstände zu entscheiden hat. An dieser Stelle tritt wiederum die Differenzierungspflicht bei abstrakten Gefährdungsdelikten in Kraft. Zu pauschal ausgefallene Einschätzungen des Gesetzgebers sind nicht zulässig. Falls also die Freiverantwortlichkeit des Todeswunsches festgestellt werden kann, müsste der Gesetzgeber diese aus der Strafbarkeit herausnehmen, wenn ein berechtigtes Interesse an der Durchführung der Handlung besteht. Beim Täter wird kaum ein berechtigtes Interesse an der Tötung eines anderen Menschen zu erblicken sein. Allerdings kann das Opfer ein Interesse an seinem eigenen Tod haben. In diesem Zusammenhang gibt es bereits verschiedene Ansätze. Es sind Alternativentwürfe für Sterbehilfegesetze entwickelt worden, die auf den sicherlich nachvollziehbarsten Fall der Tötung auf Verlangen, der Sterbehilfe an moribunden Patienten abstellen. Tatsächlich sollte man genau hier ansetzen, weil gerade im Bereich der Sterbehilfe der Ruf nach der Möglichkeit der Tötung auf Verlangen besonders laut ist. Das liegt zum einen daran, dass der Mensch bei fortschreitender medizinischer Technik eine Angst vor dem nahezu endlosen, aber nicht mehr lebenswerten Leben an Apparaten hat, zum anderen an der häufigen Unfähigkeit der moribunden Patienten zum Suizid. 26 Vgl. Kautzky, Die Freiheit des Sterbenden und die Pflicht des Arztes, in: Eid (Hrsg.), Euthanasie, S. 39.
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4. Kap.: Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
Andere Sterbewillige könnten ja auf den Suizid verwiesen werden, so dass ihre Freiheitsausübung nicht vollkommen verhindert wird. Ein berechtigtes Interesse, von einem anderen getötet zu werden, wenn man sich auch selbst töten könnte, ist demgegenüber schwer zu begründen. Die Beschränkung des abstrakten Gefährdungsdeliktes muss nicht in der Weise erfolgen, dass bereits im Gesetzestext eine Ausklammerung nachvollziehbarer Todeswünsche vorgesehen ist, es kann auch auf eine weitere Entscheidung abgestellt werden, gleichsam ein „Erlaubnisvorbehalt“. Der zweite Hauptfall der möglichen Gefährdung menschlichen Lebens ist eine fehlende Autonomie aufgrund nicht vorhandener Autonomiekompetenz. Wenn dem Einzelnen die Fähigkeit zum autonomen Handeln fehlt, kann seine Entscheidung nicht freiverantwortlich sein. Er muss dann vom Staat vor einer lebensbeendenden Entscheidung bewahrt werden. Die Feststellung einer fehlenden Autonomiekompetenz ist nach psychologischen Grundsätzen möglich und im Rahmen einer konkreten Beurteilung des Sterbewilligen vorzunehmen. Wesentlich schwieriger zu beurteilen ist eine dritte Konstellation. Das geäußerte Tötungsverlangen kann aufgrund einer von außen aufgebrachten Drucksituation, also unter Zwang geäußert worden sein. Allerdings kann nicht jeder Zwang als autonomieausschließend im rechtlichen Sinne angesehen werden, da nahezu jede Entscheidung auf äußeren oder inneren Zwängen, die nicht notwendigerweise pathologische Qualität haben müssen, beruht. Wie oben dargelegt, ist es notwendig, ein Verhalten als rechtlich autonom zu qualifizieren. Rechtlich autonomieausschließend wirkt der absolute Zwang. In einem derartigen Fall wird aber ohne weiteres die fehlende Freiverantwortlichkeit zu erkennen sein. Bei Zulassung einer Tötung auf Verlangen wird die Gefahr der Tötungen, bei denen eine Einwilligung durch absoluten Zwang abgenötigt wurde, nicht zunehmen. Kompulsive Zwänge können aber auch rechtlich autonomieausschließend wirken. Sofern sie auf inneren Zwängen beruhen, ist dies aber nur dann der Fall, wenn die Zwänge eine pathologische Qualität erreichen. Innere Zwänge, wie der durch eine innere Überzeugung entstehende Gewissensdruck, wirken nicht autonomieausschließend im rechtlichen Sinne, sonst würde die Persönlichkeit des Einzelnen nicht ausreichend respektiert. Auch bei äußeren Zwängen wird eine gewisse Qualität der Zwänge vorliegen müssen, um rechtlich relevant zu sein. Schon die Bezeichnung Zwang impliziert eine über bloße Beeinflussungen hinausgehende Qualität. Problematisch ist hier vor allem die Festlegung der Grenze zwischen zulässiger Beeinflussung und unzulässigem Zwang. Gerade alten Menschen kann das Gefühl gegeben werden, unerwünscht zu sein. Motiviert durch diesen Eindruck könnten sich Menschen für den Tod
E. Die Gefahren der Freigabe der Tötung auf Verlangen
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durch ernstliches Verlangen entscheiden. Eine derartige Entscheidung wäre durch das Verhalten der Umwelt motiviert und insofern nicht ideal autonom. Unter Umständen wurde der Todeswunsch sogar zurechenbar herbeigeführt. Kautzky sieht sogar die Gefahr, dass gerade durch die Freigabe der Tötung auf Verlangen der Einzelne unter erhöhten Druck geraten könnte, seine Tötung zu verlangen, obwohl er dies gar nicht wirklich will.27 Wolbert spricht insofern davon, dass die Autonomie des Patienten in dieser Hinsicht gerade eingeschränkt wird.28 Allerdings geht es nicht um ideale Autonomie. Entscheidend ist die Frage, ob die Möglichkeit, eine autonome Entscheidung zu treffen, gewahrt bleibt. Dem Einzelnen muss in unserer Gesellschaft zugemutet werden, sich den Einflüssen anderer zu widersetzen. Andernfalls ist seine Selbstbestimmung durch einen ständig eingreifenden Staat in Gefahr. Solange also der von Außen kommende Druck nicht rechtlich relevant im herkömmlichen Sinne ist, er also nach den Grundsätzen der Einwilligungsdogmatik die Wirksamkeit der Einwilligung unberührt lässt oder nicht mindestens die Qualität einer Nötigung im Sinne des § 240 StGB erreicht, ist dem Einzelnen zuzumuten, dass er sich dem Druck erwehrt (siehe oben, 3. Kapitel B. III. 5.). Die Beeinflussung eines Sterbewilligen kann aber auch bewusst erfolgen. Es besteht die Gefahr, dass durch Täuschung oder Drohung das ernstliche Verlangen herbeigeführt wird und insofern ein Missbrauch der Tötung auf Verlangen geschieht. Zwar könnte man anführen, dass auch heute aufgrund der Privilegierung, abgesehen von der Möglichkeit eine derartige Tötung in moralischer Hinsicht vor sich selbst besser rechtfertigen zu können, ein gewisser Anreiz besteht, ein derartiges „ernstlichen Verlangen“ bei demjenigen herbeizuführen, dessen Tod man wünscht, allerdings ist eine völlige Straffreiheit ein wesentlicher höherer Anreiz, sich einer solchen Methode zu bedienen als eine Privilegierung. In Hinblick auf den straflosen Suizid und vor allem auf die Beihilfe hierzu stellt sich aber die Frage, ob nicht auch in diesem Bereich ein Missbrauch stattfindet. Zwar ist der Missbrauch im Bereich des Suizids noch kein Grund, ein weiteres Feld des möglichen Missbrauchs zu eröffnen, jedoch sind Fälle, in denen ein Suizid durch Drohung oder Täuschung herbeigeführt wurde, selten. Einen Hinweis darauf, dass bei Legalisierung der Tötung auf Verlangen der Missbrauch auf diese Weise eher vorkommen wird als beim Suizid gibt es nicht. Dieser wenig plausiblen Gefahr eines Missbrauchs könnte durch ein vorgeschriebenes Verfahren begegnet werden, welches die Möglichkeiten der Beein27 Kautzky, Die Freiheit des Sterbenden und die Pflicht des Arztes, in: Eid (Hrsg.), Euthanasie, S. 39. 28 Wolbert, Du sollst nicht töten, S. 131.
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4. Kap.: Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
flussung des Sterbewilligen minimiert. Sachverständige können häufig erkennen, ob eine Entscheidung von außen beeinflusst getroffen wurde oder nicht. Dem „Nicht-Sterbewilligen“ könnte in Einzelgesprächen die Möglichkeit gegeben werden, sich von seinem Wunsch zu distanzieren. III. Gefahr von Fehlentwicklungen Auch wenn die Gefahr eines „Dammbruchs“ bis zur Freigabe einer der NSEuthanasie ähnlichen Tötung gegen den Willen der Getöteten unplausibel ist, können dennoch Fehlentwicklungen eintreten, die derart unerwünscht sind, dass die Pönalisierung des gefährlichen Verhaltens legitim wäre. Gerade im Bereich der gesetzgeberischen Abwägung müssen Gefahren, die mit Einführung oder Beseitigung einer bestimmten Rechtsnorm verbunden sind, beachtet werden.29 Fehlentwicklungen können vor allem dann eintreten, wenn eine Regelung Raum für Interpretationen lässt, in dem sie mit vagen Begriffen arbeitet. In der Schweiz verlangt die Satzung von EXIT,30 dass nur Patienten mit hoffnungsloser Prognose, unerträglichen Schmerzen oder unzumutbarer Behinderung Beihilfe zum Suizid geleistet wird. In der Praxis ist aber vor allem der Wunsch des Patienten entscheidend. Der Nationale Ethikrat kritisiert, dass auch in den Niederlanden, die neben einem aussichtslosen Gesundheitszustand auch unerträgliches Leiden für eine legitime Tötung auf Verlangen voraussetzen, bei der Beurteilung des Leidens meist ausschließlich auf das Urteil des Patienten abgestellt wird.31 Es stellt sich hier aber die Frage, wer die Unerträglichkeit des Leidens sonst beurteilen könnte. Der Begriff des unerträglichen Leidens ist jedoch vage und bietet somit einen Spielraum, der über die ursprüngliche Intention hinaus erweitert werden kann. Die beschriebene Entwicklung allein ist aber keine nicht tolerierbare Gefahr. Die Begrenzung der Tötung auf Verlangen auf Fälle der Sterbehilfe ist lediglich ein Mittel, der Gefahr einer nicht autonom getroffenen Entscheidung zu begegnen. Das Hauptkriterium für die Straffreiheit einer Tötung auf Verlangen bleibt die Selbstbestimmung des Sterbewilligen. Einige sehen aber in diesem „Aufweichen“ der Grenzen einen Hinweis darauf, dass sich die Grenzen in alle Richtungen verschieben werden. Diese Befürchtung beschreibt das Dammbruchargument. Wie oben bereits ausgeführt, ist die Möglichkeit einer Ausweitung aber konkret zu prüfen. Es ist allerdings nicht zu erblicken, wie über den Begriff des unerträglichen Leids die Tötung ohne Verlangen etabliert werden könnte. 29
Herzberg, Sterbehilfe als gerechtfertigte Tötung im Notstand?, NJW 1996 S. 3044. Ein Verein, der sich für die Zulassung der Sterbehilfe in der Schweiz einsetzt. 31 Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Ende des Lebens, Stellungnahme vom 13.07.2006, S. 30. 30
E. Die Gefahren der Freigabe der Tötung auf Verlangen
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Fehlentwicklungen könnten jedoch durch andere Faktoren eintreten. Wie oben bereits dargestellt, gibt es Tendenzen, Menschen, die ihren Willen nicht mehr äußern können, die gleiche „Gnade“ zuteil werden zu lassen wie denen, die ihren Todeswunsch noch artikulieren können. Tatsächlich ist die Äußerung des Todeswunsches ja nur ein starkes Indiz für selbigen. Er kann auch vorliegen, ohne geäußert zu werden. Einen Todeswunsch bei jemandem anzunehmen, der diesen nicht äußert, kommt überhaupt nur in Betracht, wenn der Betreffende zu einer Äußerung nicht mehr fähig ist. Ansonsten kann nicht erklärt werden, warum er den Wunsch nicht äußert. Problematisch ist also die Situation der mutmaßlichen Einwilligung. Bei dieser kommt es auf den tatsächlichen Willen des Betreffenden an, nicht darauf, was in seinem besten Interesse wäre. Die Selbstbestimmung ist auch hier entscheidend. Tatsächlich konnte in den Niederlanden ein Anstieg der Tötungen auf Verlangen, bei denen der Todeswunsch nicht ausdrücklich geäußert wurde oder dokumentiert war, verzeichnet werden. 1995 waren es 7,3 Prozent der erfassten Todesfälle, 2001 10 Prozent. Allerdings könnten hier auch Fälle der indirekten Sterbehilfe erfasst worden sein.32 Dennoch scheint diese Entwicklung auf eine Erosion der Achtung vor dem menschlichen Leben hinzuweisen.33 Bemerkenswert ist jedoch, dass die Achtung vor der Selbstbestimmung des Patienten in den Ländern, die als Vorreiter der aktiven Sterbehilfe fungieren, größer zu sein scheint als in anderen Ländern. In den Niederlanden wurden in 92 Prozent der Fälle die Entscheidungen am Lebensende mit den Patienten besprochen, sofern diese noch entscheidungsfähig waren. Auch ist die Bereitschaft der Ärzte, Menschen ohne ausdrückliches Verlangen zu töten, in den Niederlanden von 1990 bis 2001 gesunken. Die Zahl derer, die dies nach eigenen Angaben bereits getan haben, hat sich von 27 Prozent auf 13 Prozent halbiert, während die Zahl derer, die angaben solch eine Tötung niemals durchzuführen von 41 Prozent auf 71 Prozent gestiegen ist.34 Die Freigabe der aktiven Sterbehilfe scheint also dem ausdrücklichen Verlangen des Sterbewilligen zu einer größeren Bedeutung zu verhelfen. Die Bereitschaft, jemanden ohne ausdrückliches Verlangen zu töten, sinkt. Der Grund hierfür könnte sein, dass durch die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe auf Verlangen die Selbstbestimmung des Patienten erst möglich wird und damit der Arzt aus seiner Rolle des allein zuständigen Richters über Leben und Tod entlassen wird. Wenn dem Einzelnen die Entscheidung über sein eigenes Leben 32 Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Ende des Lebens, Stellungnahme vom 13.07.2006, S. 32. 33 Duttge, Lebensschutz und Selbstbestimmungsrecht am Lebensende, ZfL 2004, S. 35 f. 34 Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Ende des Lebens, Stellungnahme vom 13.07.2006, S. 32.
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4. Kap.: Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
nicht zugestanden wird, bleibt sie bei dem einzigen, der sie faktisch vornehmen muss: dem Arzt. Eine Freigabe der Tötung auf Verlangen könnte also die Gefahr einer Tötung ohne Verlangen senken. Diese Aussicht war auch ein Grund für die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden. Allerdings konnte eine Verringerung der Zahl der Tötungen ohne Verlangen trotz sinkender Bereitschaft der Ärzte zur Tötung ohne Verlangen, nicht festgestellt werden. Die These, dass die Freigabe der Tötung auf Verlangen zu einem Anstieg der Tötungen ohne Verlangen führen würde, ist aber durch die empirischen Daten aus den Ländern, welche die aktive Sterbehilfe legalisierten, ebenfalls nicht zu belegen. Ohne diese Belege bleibt nur die bloße Behauptung des Anstiegs der Tötungen ohne Verlangen. Diese ist eingedenk der Entwicklungen im Rahmen der passiven und der indirekten Sterbehilfe, die eine Tötung oder ein Sterbenlassen auch für den Fall möglich machen, dass kein ausdrückliches Verlangen vorliegt, nicht plausibel genug, um eine Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen zu rechtfertigen. Eine weitere Gefahr könnte durch die Erosion der Achtung vor dem menschlichen Leben in der Weise geschehen, dass Menschen eher bereit wären, auf einen anderen einzuwirken, um ihn zu einem Tötungsverlangen zu überreden und somit die Regelung der Tötung auf Verlangen zu missbrauchen. Tatsächliche Relevanz kann einer solchen Beeinflussung nur in Pflegefällen zugesprochen werden. Als beeinflussende Personengruppen kommen dann vor allem Angehörige, Ärzte und Pflegepersonal in Betracht. Eine derartige Eingrenzung wäre umso offenbarer, wenn man die Freigabe der Tötung auf Verlangen wie in den Niederlanden auf Fälle, in denen der Todeswunsch generell nachvollziehbar ist, also im Falle einer moribunden Krankheit oder unerträglichen Leidens, beschränken würde. Die wachsende Bereitschaft, auf Menschen einzuwirken, um sie zu einem Tötungsverlangen zu bewegen, würde aber auch eine Erosion der Achtung des Verfügungsrechtes des Einzelnen über sein Leben voraussetzen. Diese Tendenz ist bei den niederländischen Ärzten nicht auszumachen gewesen. Es ist unklar, inwieweit sich eine derartige Einstellung durch Legalisierung der Tötung auf Verlangen bei anderen Menschen – insbesondere Angehörigen – bilden könnte.
F. Abwägungsergebnis in Hinblick auf eine Abwägungskontrolle des Gesetzgebers Die Abwägung zwischen schutzfunktionsrechtlichen und abwehrrechtlichen Aspekten hat ergeben, dass zugunsten des Schutzes des Lebens anderer die Dispositionsfreiheit des Einzelnen über sein Leben beschränkt werden kann. Die
F. Abwägungskontrolle des Gesetzgebers
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Tötung auf Verlangen birgt die Gefahr, dass Menschen getötet werden, die nicht freiverantwortlich handelten. Obwohl die Freiverantwortlichkeit der Entscheidung im Rahmen der Ernsthaftigkeit des Tötungsverlangens ein Tatbestandsmerkmal ist, besteht die Gefahr, dass nur scheinbar ein ernsthaftes Tötungsverlangen vorliegt. Diese Gefahr ist eingedenk der hohen Bedeutung des Rechtsgutes Leben gewichtig. Um sicherzustellen, dass die Entscheidung – es kommt hierbei vor allem auf eine wirksame Einwilligung an – tatsächlich freiverantwortlich getroffen wurde, sollten weitere Kriterien in den Tatbestand aufgenommen werden. Auf der anderen Seite ist er insoweit zu begrenzen, als die Möglichkeit gegeben sein sollte, einer freiverantwortlichen Entscheidung in Bezug auf die Beendigung des eigenen Lebens rechtliches Gehör zu verschaffen. Dies sollte für Fälle möglich sein, in denen eine freiverantwortliche Entscheidung mit sehr großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist. In der Dogmatik abstrakter Gefährdungsdelikte sind dies Fälle, in denen eine Gefährdung praktisch ausgeschlossen ist. Der Gesetzgeber könnte mit seiner Entscheidung, pauschal jegliche Tötung auf Verlangen unter Strafe zu stellen, gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen haben, indem er Ungleiches gleich behandelt. Angesichts der von dem Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber eingeräumten umfassenden Freiheit in Bezug auf den effektiven Schutz von Rechtsgütern wird man aber eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG, die zu einer Verfassungswidrigkeit des § 216 StGB führen würde, ablehnen müssen. In Hinblick auf das Gewaltenteilungsprinzip ist es durchaus sinnvoll, dem Gesetzgeber die Freiheit einzuräumen, auch Gesetze zu schaffen, die nicht optimal sind. Die größte Gefahr eines unerkannt nicht ernstlichen Tötungsverlangens ist der Motivirrtum in Bezug auf Prognosen für den Lebenswert des eigenen Lebens. Im Rahmen der Abwägung zwischen abwehrrechtlicher und schutzrechtlicher Funktion kann auf die Eigenverantwortlichkeit des Entscheidenden abgestellt werden und somit das paternalistische Einschreiten abgelehnt werden. Grundsätzlich kann man aber auch eine weich paternalistische Intention verfolgen. Die Grundrechte stehen in ihrer abwehrrechtlichen Funktion dem nicht entgegen (siehe oben, 3. Kapitel B. II. 6.). Die Entscheidung des Gesetzgebers, eingedenk der Schutzfunktion der Grundrechte durch ein Verbot der Tötung auf Verlangen die Gefahr zu minimieren, dass Menschen getötet werden, die nur aus einer Laune heraus ihren Tod verlangten, ist von der dem Gesetzgeber eingeräumten Einschätzungsprärogative gedeckt. Feinberg allerdings ist der Ansicht, dass weicher Paternalismus niemals durch das Strafrecht durchgesetzt werden dürfe. Es sei immer moralisch unvertretbar, jemanden mit Strafe zu bedrohen, der sich unfreiwillig selbst gefährde.35 35
Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law, vol. 3, Harm to Self, S. 15.
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4. Kap.: Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
Diese Begründung trifft aber auf den Fall des § 216 StGB gar nicht zu. Nicht der paternalistisch Bevormundete wird bestraft, sondern der freiwillig handelnde Täter. Es handelt sich insofern um indirekten Paternalismus.36 Auch in Bezug auf mögliche Missbrauchsgefahren ist die Entscheidung des Gesetzgebers, den § 216 StGB unverändert zu belassen, laut Sternberg-Lieben so lange nicht zu tadeln, bis die Missbrauchsgefahren durch gesicherte empirische Erkenntnisse aus dem Ausland widerlegt sind.37 Die Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers ist ebenfalls nicht geeignet, eine gerichtlich durchsetzbare Verpflichtung des Gesetzgebers zur Reform des § 216 StGB zu begründen. Die Erwägungen, den § 216 StGB aus den oben genannten Gründen beizubehalten, sind nicht derart evident unplausibel, dass eine justitiable Verpflichtung zum Tragen käme. Der Umstand, dass der § 216 StGB damit nicht verfassungswidrig im Sinne einer justitiablen Entscheidung ist, bedeutet aber noch nicht, dass er auch kriminalpolitisch sinnvoll ist. Nicht einmal eine besondere Verträglichkeit mit der Verfassung wird dem § 216 StGB attestiert werden können. Die Nichtjustitiabilität hat ihren Grund vor allem in der Wahrung des Gewaltenteilungsprinzips und der daraus folgenden Respektierung der gesetzgeberischen Entscheidungen. In kriminalpolitischer Hinsicht kann aber gerade diese Entscheidung beeinflusst werden. Die Grenzen der Justitiabilität müssen bei einer rein kriminalpolitischen Entscheidung ohnehin nicht beachtet werden. Eine nicht sinnvolle Entscheidung ist auch dann angreifbar, wenn sie in verfassungsrechtlicher Hinsicht tolerabel ist. Der Gesetzgeber ist dazu verpflichtet, Gesetze zu erlassen, die dem durch die Verfassung vorgegebenen Freiheitsschutz möglichst optimal Rechnung tragen, auch wenn seine konkrete Entscheidung zwecks Wahrung des Gewaltenteilungsprinzips nur eingeschränkt justitiabel ist.38
36
Vgl. Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 16. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 120. 38 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 320 (Verhältnismäßigkeitsgebot), 439 (Willkürverbot). 37
Fünftes Kapitel
Kriminalpolitische Erwägungen Im Rahmen kriminalpolitischer Erwägungen können wesentlich mehr Positionen in die Abwägung einbezogen werden. Es geht nicht mehr nur um vertretbare Maßnahmen eines Gesetzgebers, sondern um sinnvolle Maßnahmen. Bis hierher wurde die Untersuchung des § 216 StGB, abgesehen von der grundrechtlichen Bedeutung der Norm, einigermaßen isoliert durchgeführt. Wechselbeziehungen zu eventuell widersprüchlichen Wertungen der Rechtsordnung wurden weitgehend nicht beachtet. Sie können vor allem durch einen Vergleich mit anderen Vorschriften zutage treten.
A. Zum Erfordernis der Systemkonformität im Strafrecht Aus Gründen der Rechtssicherheit sollte sich die Rechtsordnung jedoch als geschlossenes System darstellen. Die einzelnen Normen sollten einheitliche Maßstäbe setzen, die somit normübergreifend den Grundrechtsschutz konkretisieren.1 Nur wenn die Normen sich nicht widersprechen kann die Einheit der Verhaltenserwartungen gewährleistet werden und so eine intuitive Befolgung der Normen nach sich ziehen.2 Eine Untersuchung anderer Normen und deren Bedeutung in der Judikatur kann somit hilfreich sein, Klarheit über die der Rechtsordnung zugrunde liegenden Maßstäbe zu erlangen. Ein derartiger Ansatz unterscheidet sich von dem Versuch, anhand der Verfassung und grundlegender rechtsphilosophischer Überlegungen Maßstäbe unserer Rechtsordnung herauszuarbeiten. Er kann zwar nur eine indizielle Bedeutung für die Frage, ob ein Verhalten verboten werden sollte oder nicht, entfalten, weil gewisse Inkonsistenzen der Rechtsordnung zu erwarten sind, dennoch müssen sich die oben herausgearbeiteten Maßstäbe auch in der konkreten Anwendung auf die Rechtsordnung beweisen.
1 2
BVerfG, Beschluss vom 26.01.1988 – 1 BvR 1561/82 – Umdruck S. Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I, Köln/Berlin, § 2 Rn. 21.
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5. Kap.: Kriminalpolitische Erwägungen
B. Das Selbstbestimmungsrecht in der Rechtsordnung Die bestehende Rechtsordnung hat in mehreren Bereichen Normen, die zur Interpretation des § 216 StGB herangezogen werden können. Die Selbstbestimmung des Einzelnen in Bezug auf Leib und Leben ist vor allem im Arztrecht von großer Bedeutung. In Gestalt der Sterbehilfe liegt auch hier der Hauptanwendungsfall des § 216 StGB. I. Behandlungshoheit des Patienten Zunächst kann man den Stellenwert der Autonomie im Rahmen von Heilbehandlungen heranziehen. Bei der ärztlichen Heilbehandlung geht es um einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, welche durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützt wird. Es ist ein allgemein anerkannter Grundsatz, dass der Patient die volle Entscheidungsfreiheit über seine Behandlung hat. Die ärztliche Heilbehandlung stellt regelmäßig einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar.3 Tatbestandlich ist sie damit eine einfache oder unter Umständen sogar gefährliche Körperverletzung. Nur durch die Einwilligung des aufgeklärten Patienten erreicht der Arzt seine Straflosigkeit. Gegen diese Einstufung haben sich Ärzte lange gewehrt und es gab verschiedene Ansätze, den Arzt zu „entkriminalisieren“.4 Dass weiterhin an dem Bedürfnis der Einwilligung festgehalten wird, macht eine Achtung der Autonomie des Patienten deutlich. Die Behandlungshoheit liegt allein beim Patienten.5 Dem steht auch nicht entgegen, dass es im Rahmen der mutmaßlichen Einwilligung Fälle gibt, in denen eine Behandlung auch ohne die erklärte Zustimmung rechtmäßig ist. Die Möglichkeit der Behandlung aufgrund einer mutmaßlichen Einwilligung ist eine lebensnahe Lösung für das Problem der bewusstlosen Patienten. Die Konzeption, dass der Arzt eine Behandlung vornehmen darf, wenn sie dem wahrscheinlichen (mutmaßlichen) Willen des Patienten entspricht, ist vielmehr ein weiteres Indiz dafür, dass der Wille des Patienten maßgeblich ist. Der Arzt soll diese Entscheidung nämlich nicht aufgrund seines eigenen Ermessens entscheiden, sondern sich mit der Frage auseinandersetzen, ob der Patient, wäre er bei Bewusstsein, seine Einwilligung erteilen würde.6 Eine ärztliche Heilbehandlung wird demnach von der 3 Vgl. bereits RGSt 25, S. 375 (377 ff.); Kutzer, Sterbehilfeproblematik in Deutschland, MedR 2001, S. 77. 4 Vgl. nur Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, § 223 Rn. 30 ff. mit weiteren Nennungen. 5 Hoerster, Rechtsethische Überlegungen zur Sterbehilfe, in: Gose/Hoffmann/Wirtz (Hrsg.), Aktive Sterbehilfe?, S. 53; Holzhauer, Von Verfassungs wegen: Straffreiheit für passive Sterbehlife, ZRP 2004, S. 41; Lipp, „Sterbehilfe“, FamRZ 2004, S. 318.
B. Das Selbstbestimmungsrecht in der Rechtsordnung
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Rechtsordnung nur gebilligt, wenn sie mit dem Willen des Patienten unabhängig von der „Vernünftigkeit“ der Entscheidung konform geht. Der Wille des Patienten ist selbst dann entscheidend, wenn er nach objektiven Maßstäben als unverantwortlich gewertet werden muss.7 Kriterien der Vernünftigkeit haben nur insoweit Bedeutung, als davon ausgegangen wird, dass vernünftige Handlungen dem Willen der meisten Menschen entsprechen. Nur falls keine Hinweise auf den wirklichen Willen des Patienten zu erlangen sind, kann man darauf rekurrieren, dass eine vernünftige Maßnahme seinem Willen entspräche. Objektive Kriterien dienen damit nur der Ermittlung des individuellen hypothetischen Willens.8 II. Zwangsbehandlung Im arztrechtlichen Schrifttum wird allerdings über Möglichkeiten und Grenzen einer Zwangsbehandlung diskutiert. Tatsächlich gibt es bereits Konstellationen des mittelbaren Behandlungszwangs. Im Bereich des Sozialversicherungs-, Beamten-, und Schadensersatzrechts gibt es Vorschriften, die mittelbar den Patienten zur Duldung der Behandlung zwingen. Sie enthalten zwar nicht die Befugnis, entgegen seiner Weigerung eine Behandlung durchzuführen, die Weigerung führt aber zur Versagung von sozialen Leistungen oder Anspruchskürzungen. Hierin liegt jedoch kein Hinwegsetzen über seine autonome Entscheidung. Zur Selbstbestimmung gehört auch die Selbstverantwortung. Derjenige, der die ärztliche Maßnahme verweigert, muss auch die Konsequenzen seiner Entscheidung tragen. Im Falle der Gewährung von Leistungen ist es zulässig, diese an gewisse Voraussetzungen zu knüpfen, so dass die Konsequenz der Weigerung (Anspruchskürzungen, Leistungsverweigerungen, etc.) rechtmäßig ist.9 Schwieriger stellt sich das Problem der echten Zwangsbehandlung dar. Durch das Übergehen eines Behandlungsvetos wird in jedem Fall in die körperliche Integrität des Patienten eingegriffen. In vielen Fällen kann die Motivation für eine derartige Tat der Erhalt von anderen Rechtsgütern des Patienten, mithin 6 Hoerster, Rechtsethische Überlegungen zur Sterbehilfe, in: Gose/Hoffmann/Wirtz (Hrsg.), Aktive Sterbehilfe?, S. 54 f.; Merkel, Behandlungsabbruch und mutmaßliche Einwilligung, ZStW 107 (1995), S. 560, 563 ff. 7 Kutzer, Die gegenwärtige Rechtslage der Behandlung Schwerstkranker, in: Thiele (Hrsg.), Aktive und passive Sterbehilfe, S. 65 f.; Lipp, „Sterbehilfe“, FamRZ 2004, S. 318 f.; Roxin, Zur strafrechtlichen Behandlung der Sterbehilfe, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht, S. 100; Merkel, Behandlungsabbruch und mutmaßliche Einwilligung, ZStW 107 (1995), S. 557; Schreiber, Ethische und rechtliche Probleme der Zwangsbehandlung, in: Marquard/Seidler/Staudinger (Hrsg.), Medizinische Ethik und soziale Verantwortung, S. 71; siehe auch Holzhauer, Von Verfassungs wegen: Straffreiheit für passive Sterbehilfe, ZRP 2004, S. 42, der zwischen Wohl und Willen des Patienten unterscheidet. 8 Vgl. BGHSt 45, S. 219 (221). 9 Vgl. Köhler, Freiheitliches Rechtsprinzip und Betäubungsmittelstrafrecht, ZStW 104 (1992), S. 21 f.
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5. Kap.: Kriminalpolitische Erwägungen
paternalistischer Natur sein. Eine Operation trotz Verweigerung der Einwilligung durchzuführen, könnte die einzige Möglichkeit darstellen, das Leben des Patienten zu retten. Der Eingriff in die körperliche Integrität wäre dann ein notwendiges Übel, um das Leben des Patienten zu retten. Ein weiteres Beispiel wäre die Zwangsernährung gemäß § 101 Abs. 1 StrafVollzG.10 Die Zulässigkeit derartiger paternalistischer Eingriffe ist äußerst problematisch und dementsprechend umstritten. Das bewahrte Rechtsgut muss nicht in jedem Fall ein Rechtsgut sein, welches dem „Opfer“ zusteht. Es kann auch vorkommen, dass ihm die Duldung eines Eingriffs auferlegt wird, um unmittelbar Drittinteressen zu wahren. Als Beispiele können die Blutentnahme zur Wahrheitsermittlung zugunsten der Strafrechtspflege (§§ 81 a, 81 c StPO) beziehungsweise zugunsten der Zivilrechtspflege (§ 372 a ZPO) oder der Untersuchungszwang zugunsten der Volksgesundheit (§ 32 Abs. 2 BSeuchG) genannt werden. Auch die hier genannten Interessen Dritter lassen sich trotz der schlagwortartigen Bezeichnungen, die auf Universalrechtsgüter hindeuten, als Interessen zum Schutz von Individualrechten anderer sehen. So schützt die Rechtspflege die Rechte Dritter, und die Volksgesundheit bezeichnet die Gesundheit der Einzelpersonen der Gesellschaft. Derartige Eingriffe sind in Bezug auf die vorliegende Untersuchung allerdings nur von geringer Bedeutung. Hier wird nicht durch den Schutz eines Rechtsgutes des „Opfers“ mittelbar ein Schutz von Rechtsgütern Dritter bewirkt. Es handelt sich um verhältnismäßige Eingriffe zum Schutz höherwertiger Interessen Dritter, die nicht den Schutz des Opfers vor sich selbst beinhalten. Die Zulässigkeit derartiger Eingriffe steht außer Frage und stellt Situationen echter Grundrechtskollisionen dar. In diese Gruppe von Eingriffen fällt auch die Konstellation der Fetaltherapie. Bei genauerer Betrachtung wird klar, dass das Gebiet der Fetaltherapie keinen paternalistischen Eingriff darstellt, sondern zugunsten von Drittinteressen erfolgt. Der Fetus wächst durch die fortschreitende technische Entwicklung der Pränataldiagnostik immer mehr zum selbstständigen Rechtsgutsträger. Verfassungsrechtlich erfährt auch er schon den vollen Lebensschutz des Art. 2 Abs. 2 GG. Mittlerweile bestehen bereits Behandlungsmethoden, die durch Eingriffe in den Mutterleib das ungeborene Kind heilen können.11 Der Fetus wird damit 10 Hier besteht die Besonderheit, dass die Suizidgefahr durch den Staat verursacht wurde. Die Suizidrate ist in Gefängnissen deutlich höher als in Freiheit (Bottke, Das Recht auf Suizid und Suizidverhütung, GA 1982, S. 359). Insofern drängt sich förmlich der Verdacht auf, dass der Suizident unter der Fehlvorstellung leidet, sein Leben würde sich nicht mehr bessern. Ein Einschreiten könnte also auch hier unter dem Gesichtspunkt der Gefahr des nichtfreiverantwortlichen Todeswunsches zu rechtfertigen sein. Bottke sieht in der „Unzumutbarkeitsklausel“ des § 101 I S. 1 2. Halbsatz eine Möglichkeit dem Selbstbestimmungsrecht des Lebensmüden Geltung zu verschaffen (Bottke, Das Recht auf Suizid und Suizidverhütung, GA 1982, S. 360).
B. Das Selbstbestimmungsrecht in der Rechtsordnung
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zum selbstständigen Patienten, dessen Behandlung aber stets einen Eingriff in die körperliche Integrität der Mutter nach sich zieht. Dies kann zu der Frage führen, ob der Fetus Rechtsansprüche auf eine Behandlung gegen seine Mutter beispielsweise aus Vorwirkungen der elterlichen Personensorge ableiten kann.12 Die Besonderheiten eines derartigen Falles liegen auf der Hand. Der Eingriff in die Körperintegrität erfolgt nicht zugunsten von Drittinteressen, die einer Summe von Menschen zugute kommen, sondern es besteht ein direkter Konflikt der Interessen zweier Menschen. Dieser Konflikt entsteht nun genau dort, wo eigentlich eine „einzigartige Verbindung“, eine „Zweiheit in Einheit“13 herrscht. Die Erwägungen in Bezug auf eine Rechtspflicht der Frau, einen Eingriff in ihre Körperintegrität zu dulden, um das Leben ihres Kindes zu schützen, führen auf einen Weg, der die Frau zu einem bloßen Mittel zum künftigen Kind und damit zu einem Objekt herabwürdigen würde.14 Dieser Bereich der möglichen Zwangsbehandlungen ist erstens eher von akademischer Natur (im Regelfall wird die Mutter in eine Heilbehandlung zugunsten ihres ungeborenen Kindes einwilligen) und zweitens aus den sich abzeichnenden Erwägungen derart umstritten, dass nicht zu erwarten ist, aus diesem Bereich eine zuverlässige Einschätzung der Reichweite der Personenautonomie im Strafrecht abzuleiten.15 Ähnlich problematisch stellt sich auch der umgekehrte Fall dar, dass zur Behandlung der schwangeren Frau ein Eingriff in den Rechtsbereich des ungeborenen Kindes erfolgt, allerdings nur dann, wenn die Behandlung nicht zur Rettung des Lebens der Frau erfolgt, weil in einem derartigen Fall die Behandlung essentiell für das ungeborene Kind wäre. Die Behandlung derartiger Konstellationen wird durch die Vorschrift des § 218 StGB vorgezeichnet. Von der Zwangsbehandlung zum unmittelbaren Schutz von Rechtsgütern Dritter ist auch die Zwangsbehandlung zu unterscheiden, die vorgenommen wird, um ein Rechtsgut des Zwangsbehandelten zugunsten der Allgemeinheit (oder Dritter) zu schützen. Hierbei wird wie bei der paternalistischen Sorge ein Rechtsgut des Einzelnen gegen seinen Willen geschützt. Ein Beispiel für eine derartige Zwangsbehandlung wäre die Auferlegung eines Impfzwangs zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten. Dem Rechtsgutsträger wird also die Dispositionsfreiheit über sein Rechtsgut zugunsten der Allgemeinheit beziehungsweise zugunsten der individuellen Gesundheit der die Allgemeinheit bildenden Dritten entzogen. Als Legitimation kommt zum einen die Sozialpflichtigkeit der 11 Ausführliche Beispiele: siehe Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 241. 12 Kapp, Der Fötus als Patient?, MedR 1986, S. 277. 13 BVerfGE 88, S. 203 (253, 256). 14 Van den Daele, Fötus als Subjekt und die Autonomie der Frau, KJ 1988, S. 30. 15 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 245.
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5. Kap.: Kriminalpolitische Erwägungen
Person in Betracht. Das Verfügungsrecht des Einzelnen wird zum Schutze höherwertiger Güter der Allgemeinheit begrenzt. Die Wahrung der gesundheitlichen Interessen des Zwangsbehandelten sind nicht Zweck, sondern allenfalls Reflex des Eingriffs.16 Im Fall von Zwangsbehandlungen tritt die Verknüpfung von Schutz der Allgemeinheit und Eingriff in die Selbstbestimmung des Einzelnen deutlich hervor. Wesentlich schwieriger ist die Zulässigkeit der Zwangsbehandlung zum Schutz vor sich selbst zu beurteilen. Hier ist die Wahrung der Interessen des Einzelnen Zweck der Zwangsbehandlung. Damit stellt diese Konstellation ein Fall des echten Paternalismus dar. Wie oben bereits festgestellt, steht die grundrechtlich garantierte Freiheit der Person als Ausfluss der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem jeweils einschlägigen Grundrecht) einer staatlichen Bevormundung des Menschen grundsätzlich entgegen. Jedem steht es frei, Hilfe zurückzuweisen, solange nicht Rechtsgüter anderer oder der Allgemeinheit in Mitleidenschaft gezogen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Begründung zur Verfassungskonformität bußgeldbewehrter Schutzhelmtrage- und Gurtanlegepflicht auf diese Kriterien abgestellt.17 Als Ausfluss seiner Selbstbestimmung hat der Einzelne das Recht, eine medizinisch indizierte Behandlung abzulehnen („Freiheit zur Krankheit“).18 Wie bereits festgestellt, gilt dies aber nur solange, wie das Verhalten des Einzelnen noch Ausdruck seiner Selbstbestimmung ist.19 Dort, wo die Möglichkeit des Einzelnen endet, in freier Selbstbestimmung und Verantwortung über seine Rechtsgüter zu entscheiden, lebt die Schutzpflicht des Staates wieder auf. Ein fürsorgerisches Eingreifen ist dann möglich. Das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen wird in einem solchen Fall gar nicht tangiert, weil die Weigerung der Person zur Behandlung nicht Ausdruck der Selbstbestimmung ist. Auch hier tritt aber das Problem auf, dass man nur schwer Kriterien für eine Freiverantwortlichkeit festlegen kann. Allein die Tatsache, dass der Einzelne objektiv (nach Auffassung Dritter) unvernünftig handelt, kann noch nicht auf die fehlende Fähigkeit zur Selbstbestimmung schließen lassen.20 Die freiheitliche Selbstbestimmung wird in unserer Rechtsordnung nur einem gewissen Teil der Gemeinschaft zugesprochen, nämlich denen, die zur Selbstbestimmung fähig sind.21 Stellt sich die Unterscheidung in einigen Fällen, in denen man auf 16 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 248. 17 BVerfGE 59, S. 275 (278 f.); BVerfG NJW 1987, S. 180. 18 BVerfGE 58, S. 208 (226). 19 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 71. 20 Vgl. Hruschka, Anmerkung zu BGH 2 StR 372/77, in: JR 1978, S. 520 f.
B. Das Selbstbestimmungsrecht in der Rechtsordnung
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medizinische Erkenntnisse zu psychischen Krankheiten und Ausnahmesituationen zurückgreifen kann, noch als einigermaßen klar dar, wird doch eine trennscharfe Grenzziehung letztlich unmöglich. Jenseits dieses Bereiches, in dem auf die Wertungen im Zusammenhang mit §§ 20 und 35 StGB zurückgegriffen werden kann, bleibt es bei Einzelfallbetrachtungen, die vor allem die Bewertung des Verhaltens des Handelnden an dem Kriterium der Nachvollziehbarkeit zum Gegenstand haben.22 Bei Kindern und Jugendlichen wird auch im Bereich des Arztrechts eine nur eingeschränkte Fähigkeit zur Selbstbestimmung angenommen. In Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht für die Rechtsgüter Leben und Gesundheit wird daher den Erziehungsberechtigten die Wahrnehmung der objektiv „vernünftigen“ Interessen übertragen. Das „pflichtgebundene Recht“ des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG und seine Konkretisierung durch §§ 1626 ff. BGB binden die Eltern in der Ausübung ihrer Entscheidungsfreiheit an das Wohl des Kindes (keine autonom-beliebige Ausübung).23 Das Recht der Kinder und Jugendlichen zur Selbstbestimmung wächst mit ihrem – mit dem fortschreitenden Lebensalter verbundenen – Reifeprozess und damit ihrer Möglichkeit, Verantwortung (auch für ihr Leben) zu tragen. Eine derartige Sichtweise deckt sich unproblematisch mit den oben erarbeiteten Grundsätzen des weichen Paternalismus. Jenseits dieser Grenze der fehlenden Autonomiekompetenz geht das Selbstbestimmungsrecht des Patienten aber derart weit, dass er eine vital indizierte Behandlung selbst dann ablehnen darf, wenn ihn die Behandlungsverweigerung in die Gefahr des Todes bringt.24 Der Arzt muss das Selbstbestimmungsrecht des Patienten nach herrschender Meinung auch dann anerkennen, wenn ein lebensrettender Eingriff abgelehnt wird. „Maßnahmen zur Lebensverlängerung sind nicht schon deswegen unerlässlich, weil sie technisch möglich sind“.25 Der paternalistischen Sorge sind also enge Grenzen gesetzt. Auch der Abbruch einer Behandlung jenseits des Bereichs der eigentlichen Sterbehilfe ist für zulässig erklärt worden.26 Lebensverlängernde Maßnahmen können auch bei Patienten eingestellt werden, bei denen der Sterbeprozess noch nicht begonnen hat. Der Bundesgerichtshof hat den Abbruch der künstlichen Ernährung bei einer irreversibel schwerst cerebral geschädigten, äußerungsunfähigen Kranken unter Beru21 Schreiber, Ethische und rechtliche Probleme der Zwangsbehandlung, in: Marquard/Seidler/Staudinger (Hrsg.), Medizinische Ethik und soziale Verantwortung, S. 71. 22 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 252 f. 23 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 255. 24 BGHSt 11, S. 111 (114); BGHSt 32, S. 367 (378); siehe auch BGHZ 29, S. 46 (49, 53); 90, S. 103 (105 f.). 25 BGHSt 32, S. 367 (379 f.). 26 BGHSt 40, S. 257 (260 ff.).
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5. Kap.: Kriminalpolitische Erwägungen
fung auf die Entscheidungsfreiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit für zulässig gehalten. An die Annahme des mutmaßlichen Willens der Patientin sind dabei besondere Anforderungen gestellt worden. Der BGH hat dabei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass objektiven Kriterien, wie der „Vernünftigkeit“ der Entscheidung höchstens indizielle Bedeutung zukommt. Erst wenn ein mutmaßlicher Wille nicht zu ermitteln ist, darf auf objektive Kriterien zurückgegriffen werden, und auch dann ist eine Lebenserhaltung nicht zwingend.27 Das Recht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 GG begründet nur eine Schutzpflicht des Staates gegen Eingriffe von Dritten, nicht gegen Eingriffe des Rechtsgutsträgers selbst. Andernfalls würden die Freiheitsrechte des Grundgesetzes durch die staatliche Schutzpflicht, welche den Freiheitsschutz gerade erweitern soll, ins Gegenteil verkehrt. Der Patient ist von Verfassungs wegen nicht dritten Personen und ihren Maßstäben Rechenschaft über seine Entscheidung, Einwilligungen zu erteilen oder zu verweigern schuldig, sondern kann diese allein nach seinen ureigensten Maßstäben treffen.28 Eine Pflicht zum Weiterleben besteht nicht. Auch kann der Patient nicht zum Nutzen der Allgemeinheit zu einer Behandlung gezwungen werden, sonst würde er entgegen der Wertentscheidung des Art. 1 Abs. 1 GG zu einem Objekt herabgewürdigt werden, da er als Mittel zum Zwecke der Allgemeinheit gebraucht würde. Weder der Schutz der Solidargemeinschaft (Erhaltung der Arbeitskraft), noch der Schutz von Wertbestimmungen der Gesellschaft (Schutz des Lebens als Tabu) können eine derartige Einschränkung der Selbstbestimmung des Patienten rechtfertigen.29 Die nach herrschender Meinung fehlende Bindungswirkung von Patiententestamenten tut dieser Achtung der Selbstbestimmung des Patienten keinen Abbruch. Vielmehr liegt sie in der Annahme begründet, dass der Patient im Vorhinein keine Einschätzung seines wirklichen Willens zum Krankheitszeitpunkt treffen könne. Die Gegner des Patiententestaments sprechen dem Patienten also nicht grundsätzlich die Befugnis ab, eine lebensnotwendige Behandlung zu verweigern, sie bezweifeln lediglich, dass der Patient auch aktuell dieselbe Entscheidung treffen würde, die er in dem Patiententestament niedergelegt hatte. Das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen wird im Fall der Verweigerung einer notwendigen Behandlung als entscheidend angesehen. Eine Folge dieser Sichtweise ist die Anerkennung der passiven Sterbehilfe.
27 Sternberg-Lieben, Begrenzung lebensverlängernder Maßnahmen, in: Arnold/ Burkhardt/Gropp/Heine/Koch/Lagodny/Perron/Walther (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht, S. 1191. 28 Vgl. Minderheitenvotum BVerfGE 52, S. 131 (178). 29 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 256.
B. Das Selbstbestimmungsrecht in der Rechtsordnung
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III. Selbstbestimmung und Suizid Während man im Rahmen der ärztlichen Heilbehandlung dem Patienten die absolute Herrschaft über sein Leben zuerkennt, wird der Wille des Suizidenten häufig als unbeachtlich angesehen. Ursprünglich leitete der BGH die Unbeachtlichkeit des Suizidentschlusses aus der sittlichen, auch religiös motivierten Missbilligung des Suizids her (BGHSt 6, 147 ff.). Von dieser Argumentationslinie, die heute nicht mehr haltbar sein dürfte, da weder die religiöse noch die sittliche Missbilligung in unserer Gesellschaft derart stark sind, dass der autonomen Entscheidung des Suizidenten kein Gewicht beigemessen werden kann (siehe oben, 3. Kapitel B. VIII. 4., IX. 1. d)), scheint der BGH mittlerweile abzurücken.30 Im Wittig-Fall hat der BGH aber dennoch dem Todeswunsch der Patientin keine verbindliche Wirkung zuerkannt. Für den Arzt sei es „grundsätzlich unzulässig“, sich dem „Todeswunsch des Suizidenten“ zu beugen und somit Rettungsmaßnahmen zu unterlassen. Eine Ausnahme sei nur dann gegeben, wenn der Suizident nach seiner Rettung schwer und irreversibel geschädigt wäre.31 Diese Entscheidung ist in der Literatur zum großen Teil auf Ablehnung gestoßen.32 Zwar weist der BGH zu Recht darauf hin, dass Suizide häufig in einem die freie Entscheidung ausschließenden Zustand verübt werden (präsuizidales Syndrom), allerdings war in dem Wittig-Fall eine solche Konstellation nicht anzunehmen. Wenn der Suizid jedoch auf einer autonomen Willensentscheidung des Suizidenten beruht, ist der Wille des Suizidenten zu respektieren.33 Eine derartige Sichtweise scheint sich auch in einer neueren Entscheidung des BGH abzuzeichnen.34 Die Annahme, dass Suizidenten häufig nicht freiverantwortlich handeln und damit die ursprüngliche Schutzpflicht des Staates wieder auflebt, erklärt viele scheinbare Widersprüche. Obwohl Suizid und die Beteiligung hieran nicht strafbar sind, wird zum größten Teil eine Hilfspflicht im Falle eines Suizidversuchs angenommen. Diese Hilfspflicht wird sogar strafbewehrt durchgesetzt. So käme 30 Vgl. BGHSt 32, S. 367 (375 f.): Der Senat lässt es dahinstehen, „ob die gegebene Begründung heute noch in vollem Umfang anerkannt werden kann [. . .]“. 31 BGHSt 32, S. 367 (380). 32 Vgl. Schöch, Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen, NStZ 1995, S. 153. 33 Roxin, Zur strafrechtlichen Behandlung der Sterbehilfe, in: Roxin/Schroth, Medizinrecht, S. 101. 34 BGH, NStZ 1988, S. 127: Der 2. Strafsenat neigt dazu, „einem ernsthaften freiverantwortlich gefassten Selbsttötungsentschluss eine stärkere rechtliche Bedeutung beizumessen“. Vgl. aber auch BGHSt 46, S. 279 (285): „Die Rechtsordnung wertet eine Selbsttötung [. . .] als rechtswidrig, stellt die Selbsttötung und die Teilnahme hieran lediglich straflos“.
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5. Kap.: Kriminalpolitische Erwägungen
eine Strafbarkeit des untätigen Außenstehenden nach § 323 c oder sogar nach §§ 212, 13, 222 StGB in Betracht. Dies scheint zunächst auf einen harten Paternalismus hinzudeuten. Nur im Fall der fehlenden Freiverantwortlichkeit wäre nach den Grundsätzen des weichen Paternalismus ein Einschreiten zulässig. Essentiell ist also eine Differenzierung der Suizide. Zu unterscheiden sind die Fälle des so genannten Bilanzselbstmordes, in dem der Suizident tatsächlich seinen Tod herbeiführen will, von den Fällen, in denen der Suizident den Selbstmordversuch nur als Mittel benutzen will, um auf sich und seine Situation aufmerksam zu machen, sich der Selbstmordversuch gleichsam als Hilferuf darstellt. In letzterem Fall ist eine Rettung des Suizidenten unproblematisch zulässig. Sie entspricht seinem Willen, da er eine Vernichtung seines Rechtsgutes Leben gar nicht wirklich will. Der BGH sieht einen Suizidversuch als Unglücksfall an, so dass eine Hilfspflicht ausgelöst wird.35 Damit ist eine Rettung des Suizidenten nicht nur zulässig, sondern notwendig, um einer Strafbarkeit nach § 323 c StGB zu entgehen. Die Begründung des BGH, den Sterbewillen wegen seiner Sittenwidrigkeit als unbeachtlich anzusehen, ist allerdings nicht nachvollziehbar. Vielmehr ist die Rettung des Suizidenten angebracht, weil ein wirksamer Sterbewille schon gar nicht besteht und die Rettung regelmäßig in seinem Interesse ist. Im Falle eines Bilanzselbstmordes hat auch der BGH in einer neueren Entscheidung36 zu Erkennen gegeben, dass der Wille des Suizidenten Beachtung finden müsse. Insofern wäre ein Eingreifen gegen den Willen des Suizidenten dann unzulässig.37 Der Suizid stellt in einem solchen Fall eine Betätigung des dem Recht auf Leben immanenten Selbstbestimmungsrechtes dar.38 Im Regelfall wird aber gerade diese Erkenntnis, ob es sich um einen wohlüberlegten, bilanzierten Selbstmord handelt, für den Außenstehenden nicht zu erlangen sein. In Anbetracht der Irreversibilität des Suizids ist daher eine Konstituierung einer Hilfspflicht im Falle einer Ungewissheit über die Natur des Suizidversuchs (Bilanzselbstmord oder Hilferuf) vor dem Hintergrund des Schutzes des menschlichen Lebens gerechtfertigt. Daher erfährt auch das polizeiliche Einschreiten im Falle des Suizids ein Rechtfertigung. Für die Zulässigkeit polizeilichen Einschreitens im Fall von Suizidversuchen spricht auch, dass häufig Dritte durch den Suizid gefährdet werden.39 Das polizeiliche Einschreiten wäre damit ein Gefahrerforschungsein35
BGHSt 6, S. 147 (149 ff.); 13, S. 162 (169). BGH, NStZ 1988, S. 127. 37 Vgl. auch Birnbacher, Bioethik zwischen Natur und Interesse, S. 211, 219 f. 38 Vgl. Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 203; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 259. 39 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, S. 134, Rn. 31. 36
B. Das Selbstbestimmungsrecht in der Rechtsordnung
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griff bzw. ein Fall der Anscheinsgefahr, wenn der Polizeibeamte nur irrig davon ausging, dass der Suizid nicht Ausdruck der freien Willensbildung wäre.40 Die Folge ist, dass in den Fällen, in denen der freie Wille klar und unmissverständlich artikuliert wurde, ein polizeiliches Eingreifen nicht angezeigt wäre. IV. Selbstbestimmung und die guten Sitten des § 228 StGB Ähnlich wie § 216 StGB stellt auch § 228 StGB eine Beschränkung der Einwilligungsmöglichkeiten des Einzelnen dar. Auch hier geht es um die Verletzung des grundlegenden Rechtsgutes einer Person, nämlich seiner Gesundheit. § 228 StGB erklärt eine Einwilligung zur Körperverletzung für unwirksam, wenn sie gegen „die guten Sitten“ verstößt. Dieses Kriterium stellt sich allerdings als problematisch dar. Zum einen sind in der Gesellschaft die „guten Sitten“ kaum noch auszumachen, zum anderen herrscht ein weitgehender Konsens, dass der Einzelne nicht durch die Rechtsordnung moralisierend erzogen werden soll (siehe oben, 3. Kapitel B. VIII. 4.). Wie passt also der § 228 StGB als Schranke der Freiheitsbetätigung des „Opfers“ in das Strafrechtssystem? Sternberg-Lieben ist der Ansicht, dass § 228 StGB aufgrund mangelnder Bestimmtheit gar nicht in das System einzuordnen ist.41 Tatsächlich wird man ein neues Verständnis von Sittenwidrigkeit finden müssen. Neuerdings wird Sittenwidrigkeit häufig im Sinne einer Unverhältnismäßigkeit gelesen. Eine Körperverletzung sei dann sittenwidrig, wenn sie in Ansehung ihrer schweren Folgen als unverhältnismäßig gewertet werden müsse. Zunächst wurde hierbei nur auf die schwere Folge abgestellt,42 Jakobs weist aber zu Recht darauf hin, dass eine lebensgefährdende Behandlung im Rahmen der Therapie einer schweren Krankheit als gerechtfertigt angesehen werden sollte. Demnach käme es auf eine Relation von Zweck und Folge an.43 Nur so könne man eine lebensgefährliche sado-masochistische Behandlung, ungeachtet ihrer moralischen Komponente, als nicht rechtfertigungsfähig ansehen, während eine vital indizierte, aber lebensgefährdende ärztliche Behandlung gerechtfertigt wäre.44 40
Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, S. 134, Rn. 32. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 136 ff., 157 ff. 42 Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT 1, § 8 Rn. 14; Köhler, Freiheitliches Rechtsprinzip und Betäubungsmittelstrafrecht, ZStW 104 (1992), S. 20; Hirsch, Hauptprobleme einer Reform der Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit, ZStW 83 (1971), S. 166 f.; Roxin, Strafrecht AT 1, § 13 C Rn. 40. 43 Kühl, Strafrecht AT, § 9 Rn. 30. 44 Jakobs, Einwilligung in sittenwidrige Körperverletzung, in: Hoyer/Müller/Pawlik/Wolter (Hrsg.), Festschrift für Schroeder, S. 511 f. 41
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5. Kap.: Kriminalpolitische Erwägungen
Eine derartige Interpretation unterwirft den Einzelnen allerdings einer fremden Vernunftshoheit. Genau dies scheint das Motiv hinter einem Verbot „unverhältnismäßiger“ Rechtsgutseinsätze zu sein. Es ist unvernünftig, sich nur aus Lustgewinn in die Gefahr des Todes zu begeben.45 Jakobs sieht in der Bewertung von Motiven die Gefahr, dass wiederum moralisierende Erwägungen Einzug halten.46 Bedenklicher erscheint es mir allerdings, dass die Freiheit des Einzelnen auf diesem Weg in hart paternalistischer Weise beschränkt wird. Die Vorschrift des § 228 StGB birgt in sich bereits die Gefahr einer Öffnung für moralisierende Erwägungen.47 Zu beachten ist weiterhin, dass zur Legitimation des § 228 StGB die Wertung des § 216 StGB herangezogen wird.48 Eine Begründung der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen durch die Wertungen des § 228 StGB wäre also tautologisch. V. Verbot der Lebendspende von Organen Hart paternalistisch wirkt auch das 1997 eingeführte Verbot der Lebendspende von Organen.49 Nach § 8 Absatz 1 Satz 2 TPG ist die Spende von Organen, die sich nicht wieder bilden können, nur zugunsten von Verwandten 1. oder 2. Grades, Ehegatten, Verlobten oder anderen Personen, die dem Spender offenkundig nahe stehen, möglich. § 19 Absatz 2 TPG sieht eine Freiheits- oder Geldstrafe für Zuwiderhandlungen vor. Auch hier ist der Gedanke des Schutzes vor sich selbst leitend gewesen. Überwiegend wird heute paternalistischer Schutz nur für zulässig gehalten, wenn die Autonomie des Einzelnen erhalten, erweitert oder Unverfügbares als unverfügbar bewahrt werden soll.50 In dieser Formulierung mischen sich die Gedanken des autonomieorientierten Paternalismus mit denen des weichen Paternalismus. Durch die in Streit stehenden Vorschriften des TPG wird allerdings nicht die Autonomie des Einzelnen geschützt.51 Die Einschränkung der Möglichkeit einer
45 Insofern unverhüllt autonomieorientiert paternalistisch: Köhler, Freiheitliches Rechtsprinzip und Betäubungsmittelstrafrecht, ZStW 104 (1992), S. 20. 46 Jakobs, Einwilligung in sittenwidrige Körperverletzung, in: Hoyer/Müller/Pawlik/Wolter (Hrsg.), Festschrift für Schroeder, S. 516. 47 Vgl. Niedermair, Körperverletzung mit Einwilligung und die Guten Sitten, S. 258. 48 Roxin, Strafrecht AT 1, § 13 C Rn. 41 ff. 49 Das Transplantationsgesetz (TPG) trat am 1.12.1997 in Kraft. 50 Schroth, Die gesetzlichen Begrenzungen der Lebendspende – wie viel Paternalismus ist legitim?, in: Amelung/Beulke/Lilie/Rosenau/Rüping/Wolfslast (Hrsg.), Festschrift für Schreiber, S. 844. 51 Schroth, Die gesetzlichen Begrenzungen der Lebendspende – wie viel Paternalismus ist legitim?, in: Amelung/Beulke/Lilie/Rosenau/Rüping/Wolfslast (Hrsg.), Festschrift für Schreiber, S. 844.
B. Das Selbstbestimmungsrecht in der Rechtsordnung
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Organspende ist nicht darauf zurückzuführen, dass in anderen als den benannten Situationen eine Freiverantwortlichkeit des Einwilligenden nicht gegeben wäre. Die Freiverantwortlichkeit der Entscheidung kann gerade bei engen persönlichen Beziehungen zum Empfänger der Spende eingeschränkt sein.52 Auch etwas Unverfügbares – als solches käme natürlich die Menschenwürde in Betracht – wird durch die Regelung der Lebendspende nicht geschützt. Als Begrenzung des kriminellen Organhandels scheint die Vorschrift ebenfalls missglückt. Insgesamt ist die Vorschrift in der Literatur zu Recht wegen der unangemessenen Bevormundung eigentlich mündiger Personen schwer angegriffen worden.53 VI. Betäubungsmittel Problematisch sind auch die Strafbarkeiten des Betäubungsmittelgesetzes (§ 29 BtMG). Obwohl nicht der Konsum von Betäubungsmitteln, sondern „Besitz“, „Erwerb“ und „Sichverschaffen in sonstiger Weise“ unter Strafe stehen, stellt das Betäubungsmittelgesetz ein Mittel der Verhinderung auch des Eigenverbrauchs von Drogen dar. Schließlich werden unumgängliche Vorstadien des Verbrauchs erfasst.54 Der BGH hat über die Etablierung eines Rechtsgutes der „Volksgesundheit“ versucht, den Schutz des Einzelnen vor einer Selbstschädigung durch das Strafrecht zu rechtfertigen. Das Rechtsgut der „Volksgesundheit“ kann aber nur ein Scheinrechtsgut darstellen. Die Volksgesundheit kann kaum mehr sein, als die Gesundheit der einzelnen Bürger des Volkes.55 Es zeigt sich also, dass (zumindest auch) ein Schutz des Einzelnen vor Selbstschädigung intendiert ist. Bei Betäubungsmitteln besteht allerdings die Besonderheit, dass die Gefahr der Sucht naturgemäß vom Einzelnen schwer einzuschätzen ist. Insofern ist der Eingriff in die Selbstbestimmung geringer, da die mit dem Betäubungsmittelkonsum einhergehenden Gesundheitsschäden gerade nicht beabsichtigt waren. Bei Selbstgefährdung kann der Staat eher paternalistisch eingreifen, um den Einzelnen vor (für ihn) unüberschaubaren Folgen zu bewahren (siehe oben, 5. Kapitel B. II. 5.). Zwar konnte die Bedeutung von Cannabis als „Einstiegs52 Schroth, Spenderkreis im Transplantationsgesetz, in: Schünemann/Müller/Philipps (Hrsg.), Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, S. 40. 53 Siehe Gutmann, Gesetzgeberischer Paternalismus ohne Grenzen?, NJW 1999, S. 3387 ff.; Schroth, Die gesetzlichen Begrenzungen der Lebendspende – wie viel Paternalismus ist legitim?, in: Amelung/Beulke/Lilie/Rosenau/Rüping/Wolfslast (Hrsg.), Festschrift für Schreiber, S. 843 ff. 54 Hohmann/Matt, Ist die Strafbarkeit der Selbstschädigung verfassungswidrig?, JuS 1993, S. 371; Köhler, Freiheitliches Rechtsprinzip und Betäubungsmittelstrafrecht, ZStW 104 (1992), S. 8. 55 Köhler, Freiheitliches Rechtsprinzip und Betäubungsmittelstrafrecht, ZStW 104 (1992), S. 27 f.
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5. Kap.: Kriminalpolitische Erwägungen
droge“ empirisch nicht belegt werden,56 allerdings sind mögliche psychische Folgen eines ausgedehnten Cannabiskonsums unumstritten. Diese können zwar auch bei Genuss „legaler“ Drogen, wie Alkohol oder Nikotin auftreten, es ist aber nur eine Frage der Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG, ob deswegen eine Strafbarkeit des Konsums „kulturfremder“ Drogen unangemessen ist. Die grundsätzliche Möglichkeit des Gesetzgebers, den Drogenkonsum weich paternalistisch zu verbieten, wird insofern nicht in Frage gestellt. Das Bundesverfassungsgericht hat in Hinblick auf Betäubungsmittelgesetze vor allem auf die Sozialschädlichkeit von Drogenkonsum hingewiesen. Durch die inkriminierten Handlungen könnten Minderjährige und damit nicht voll freiverantwortlich Handelnde an die Sucht herangeführt werden.57 Die Zulässigkeit der Strafbarkeit von Verhaltensweisen, die nur dem gelegentlichen Eigenverbrauch von weniger gefährlichen Rauschmitteln, wie Cannabis, dienen, hat das Bundesverfassungsgericht auch vor dem Hintergrund der Gefahren von Alkoholmissbrauch vor allem mit dem Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers begründet. Insbesondere könne dem geringen Unrechtsgehalt durch die Vorschriften der §§ 153 ff. StPO oder § 31a BtMG Rechnung getragen werden (§ 29 V BtMG).58 So methodisch bedenklich dieser Verweis des Gerichts ist,59 zeigt er aber die gewichtigen Bedenken gegen eine paternalistische Bevormundung des Einzelnen. Zu Recht scheuen die Gerichte davor, eine Strafbarkeit nur mit dem Schutz vor Selbstschädigung zu begründen. Diese dürfte auch der Grund für die Heranziehung von Scheinrechtsgütern wie der „Volksgesundheit“ sein. Auch im Rahmen des Betäubungsmittelrechts wird also versucht, die Beschränkung für das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen möglichst klein zu halten. VII. Die Sterbehilfe Für die hier betriebene Untersuchung des § 216 StGB ist die Konstellation der Sterbehilfe von besonderer Relevanz. Die Widersprüchlichkeit der Behandlung der verschiedenen Formen der Sterbehilfe zeigt die Unzulänglichkeit des § 216 StGB, den Fall der Sterbehilfe zu erfassen. Oben wurde gezeigt, dass die Gerichte zwischen passivem Sterbenlassen – als solches wird auch der Abbruch einer Behandlung eingestuft – und aktiver Tötung unterscheiden. Dies tun sie vor allem unter Hinweis auf den § 216 56 Vgl. Hohmann/Matt, Ist die Strafbarkeit der Selbstschädigung verfassungswidrig?, JuS 1993, S. 371 f. 57 BVerfGE 90, S. 145 (147). 58 BVerfGE 90, S. 145 (189 ff.). 59 Vgl. Nelles/Velten, Einstellungsvorschriften als Korrektiv für unverhältnismäßige Strafgesetze?, NStZ 1994, S. 367 f.
B. Das Selbstbestimmungsrecht in der Rechtsordnung
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StGB, der die aktive Tötung ja gerade selbst im Fall des ernstlichen Verlangens unter Strafe stellt. 1. Formen der Sterbehilfe Auf dieser Unterscheidung baut auch die Behandlung der verschiedenen Formen der Sterbehilfe auf. Die Beurteilung der Sterbehilfe gestaltet sich als sehr schwierig, nicht zuletzt, weil die strikte Unterscheidung zwischen Sterbenlassen und Töten in moralischer Hinsicht in vielen Fällen unbillig wirkt. Auf der einen Seite unterscheidet man zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe. Bei aktiver Sterbehilfe wird die Sterbehilfe durch ein Handeln herbeigeführt, während passive Sterbehilfe durch ein Unterlassen geleistet wird. Auf der anderen Seite wird zwischen direkter und indirekter Sterbehilfe unterschieden. Bei direkter Sterbehilfe ist die Lebensverkürzung gerade beabsichtigt. Dies kann sowohl den Fall der aktiven als auch den Fall der passiven Sterbehilfe erfassen. Indirekte Sterbehilfe ist die Behandlung eines Schwerkranken bei in Kauf genommener Lebensverkürzung.60 Dies ist insbesondere bei potenter Schmerztherapie der Fall. Die Lebensverkürzung ist dabei nicht Zweck, sondern nur in Kauf genommene Nebenwirkung der Behandlung. Diese Form der Sterbehilfe wird auch Hilfe beim Sterben genannt, wenn eine Lebensverkürzung nicht bewusst in Kauf genommen wurde.61 Insofern ist die indirekte Sterbehilfe eine Form der aktiven Sterbehilfe, weil auch hier der Tod durch eine Handlung ausgelöst wird.62 Aus diesem Grund wird die aktive Sterbehilfe im oben genannten Sinn auch teilweise aktive direkte Sterbehilfe genannt. Schließlich gibt es noch den so genannten Sterbebeistand beziehungsweise Sterbebegleitung. Sie bedeutet im Wesentlichen eine Hilfe im Sterben und ist für diese Untersuchung nicht von Belang, da keine Lebensverkürzung eintritt. 2. Die rechtliche Bewertung der Sterbehilfe a) Aktive direkte Sterbehilfe Aktive Sterbehilfe beschreibt die Tötung Schwerkranker auf Verlangen. Die aktive Sterbehilfe wird von der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie und In60 Vgl. Saner, Vom Anspruch auf ein humanes Sterben, in: Saner/Holzhey (Hrsg.), Euthanasie, S. 14. 61 Buschendorf, Die strafrechtliche Problematik der Euthanasie und die Freigabe „lebensunwerten Lebens“, in: Valentin (Hrsg.), Die Euthanasie, S. 53. 62 Roxin, Zur strafrechtlichen Behandlung der Sterbehilfe, in: Roxin/Schroth, Medizinrecht, S. 109.
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5. Kap.: Kriminalpolitische Erwägungen
tensivmedizin (DGAI) als „Tötung eines unheilbar Kranken aufgrund seines ernstlichen Willens durch aktive Handlung“ definiert.63 Im Lexikon „Medizin, Ethik, Recht“ wird aktive Sterbehilfe als „aktive und absichtliche Beschleunigung des Todeseintritts“ bezeichnet.64 Ob die aktive Sterbehilfe voraussetzt, dass der Sterbeprozess bereits begonnen hat, ist in der Literatur jedoch umstritten.65 Die aktive direkte Sterbehilfe stellt in der Regel eine Tötung auf Verlangen dar und ist in der Praxis der Hauptanwendungsfall des § 216 StGB. Durch die objektive Einwilligungsschranke des § 216 StGB wird jegliche Tötung auf Verlangen als unzulässig angesehen – ohne Rücksicht auf die weiteren Umstände des Todesverlangens. Einige Autoren versuchen allerdings, die Strafbarkeit nach § 216 StGB de lege lata zu reduzieren. Dieser Wunsch dürfte darin wurzeln, dass die Beschränkung persönlicher Freiheit durch den § 216 StGB richtigerweise in einigen Fällen als zu weitgehend empfunden wird.66 Am aussichtsreichsten ist dabei wohl der Versuch, den Rechtfertigungsgrund des Notstandes im Sinne des § 34 StGB für einige Fälle der Sterbehilfe fruchtbar zu machen.67 Die herrschende Meinung lehnt diesen Ansatz allerdings aufgrund der Notstandsuntauglichkeit des § 216 StGB ab. Das menschliche Leben sei einer Abwägung nicht zugänglich. In der Tat scheint es dem Sinngehalt des § 216 StGB zu widersprechen, wenn man die Rechtfertigung durch Einwilligung aufgrund der Wertigkeit des Rechtsgutes ablehnt, aber eine Abwägung nach Notstandsgesichtspunkten zulässt. Auch wenn Herzberg darauf hinweist, dass die Einwilligung weiterhin eine notwendige Voraussetzung für die Anwendung des § 34 StGB bleibt, gleichsam den ersten Schritt einer Rechtfertigungskette bildet,68 erscheint eine derartige Konstruktion angesichts des § 216 StGB gekünstelt.
63 DGAI/BDA (Hrsg.), Entschließungen, Empfehlungen, Vereinbarungen und Leitlinien, S. 558. 64 Eser/von Lutterotti/Sporken (Hrsg.), Medizin, Ethik, Recht, S. 1093. 65 Vgl. Thiele, Aktive Sterbehilfe, in: Thiele (Hrsg.), Aktive und passive Sterbehilfe, S. 15 FN 22. 66 Vgl. Kutzer, Sterbehilfe – rechtlich ethische Aspekte, in: DRiZ 2005, S. 258. 67 Schroeder, in: Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT 1, § 1 Rn. 34; Merkel, Teilnahme am Suizid – Tötung auf Verlangen – Euthanasie, in: Hegselmann/Merkel (Hrsg.), Zur Debatte über Euthanasie, S. 97; Herzberg, Der Fall Hackethal: Strafbare Tötung auf Verlangen?, NJW 1986, S. 1639. 68 Herzberg, Der Fall Hackethal: Strafbare Tötung auf Verlangen?, NJW 1986, S. 1639.
B. Das Selbstbestimmungsrecht in der Rechtsordnung
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b) Passive Sterbehilfe Passive Sterbehilfe definiert die DGAI als „Verzicht auf lebensverlängernde Behandlungsmaßnahmen, insbesondere auf Wiederherstellung und Aufrechterhaltung vitaler Funktionen durch intensivmedizinische Verfahren bei progredienten Erkrankungen mit infauster Prognose“.69 Die Bezeichnung im Lexikon „Medizin, Ethik, Recht“ lautet „Behandlungsverzicht“ oder „Abbruch von Maßnahmen bei Sterbenden oder bald Sterbenden“.70 Passive Sterbehilfe, also der Verzicht auf lebensverlängernde Behandlungen, ist straflos, wenn sie auf Verlangen erfolgt. Eine Weiterbehandlung gegen den Willen des Patienten ist unabhängig von der Vernünftigkeit der Entscheidung ausgeschlossen (siehe oben, 5. Kapitel B. I.). Zwar besteht hier eine eventuelle Garantenpflicht des behandelnden Arztes weiter, allerdings kann der Wille des Patienten den Umfang der Garantenpflicht beschränken oder ganz aufheben.71 Ein Problem stellt sich bei der Behandlung von Suizidenten. Durch den vorangegangenen Suizidversuch hat der Sterbende eigentlich seinen Todeswunsch klar zum Ausdruck gebracht. Der Bundesgerichtshof ist allerdings der Auffassung, dass der Garant sich grundsätzlich auch durch Unterlassen nach § 216 StGB strafbar machen kann.72 Nur in Ausnahmefällen dürfe der Arzt eine Behandlung verweigern.73 Das Schrifttum lehnt die Möglichkeit, den § 216 StGB durch Unterlassen zu verwirklichen, zum größten Teil ab. Grund hierfür ist, dass eine derartige Betrachtungsweise die Straflosigkeit der Beihilfe zum Suizid aushöhlen würde.74 Der Abbruch der Behandlung erfolgt in vielen Fällen durch Abschalten der lebenserhaltenden Maschinen. Obwohl das Abschalten einer Maschine eine Handlung darstellt, unterfällt dieser Fall der passiven Euthanasie, stellt also ein
69 DGAI/BDA (Hrsg.), Entschließungen, Empfehlungen, Vereinbarungen und Leitlinien, 4. Auflage, Ebelsbach 2006, S. 558. 70 Eser/von Lutterotti/Sporken (Hrsg.), Medizin, Ethik, Recht, S. 1088. 71 Schneider, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar StGB Bd. 3, Vor §§ 211 ff. Rn. 67 ff.; Eser, Sterbehilfe und Euthanasie in rechtlicher Sicht, in: Eid (Hrsg.), Euthanasie oder soll man auf Verlangen töten?, S. 55. 72 BGHSt 13, S. 162 (166). 73 Vgl. BGHSt 32, S. 367 (380 f.). 74 Jähnke, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Band 5, § 216 Rn. 9; Lackner/ Kühl, StGB Kommentar, § 216 Rn. 4; Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, § 216 Rn. 10; Horn, in: Systematischer Kommentar zum StGB, Band II, § 216, Rn. 14; Wessels/ Hettinger, Strafrecht BT I, Rn. 161; Hohmann/Sander, Strafrecht BT II, § 3 Rn. 11 f.; Arzt/Weber, Strafrecht BT, § 3 Rn. 43 ff.; differenzierend: Schneider, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar StGB, Band 3, § 216 Rn. 61; a. A. Merkel, Früheuthanasie, S. 242.
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5. Kap.: Kriminalpolitische Erwägungen
Unterlassen dar. Der sozialen Bedeutung nach stellt sich der Vorgang als eine Einstellung der Behandlung dar.75 Die Maschine ist nur der technisierte „Arm“ des Arztes. Wenn sie ausgeschaltet wird, entspricht das dem Fall, dass ein Arzt die Behandlung abbricht. Schwieriger ist die Beurteilung, wenn nicht ein Arzt oder anderweitig Befugter die Maschine ausstellt, sondern beispielsweise ein Angehöriger. Hier einen Abbruch der Behandlung durch Unterlassen anzunehmen ist schon schwieriger, weil nicht der Behandelnde (der Arzt) die Behandlung abbricht und damit von einem Tun zu einem Unterlassen übergeht, sondern ein Außenstehender dem Arzt gleichsam in den Arm fällt und eine Weiterbehandlung verhindert. Falls dieses auf Verlangen geschehen würde, wäre eine Strafbarkeit nach § 216 StGB angezeigt. Dennoch wurde ein derartiger Fall bereits in der Weise entschieden, dass von einer straflosen passiven Sterbehilfe ausgegangen wurde.76 Für diese Sichtweise würde sprechen, dass die lebenserhaltende Maßnahme ausschließlich eingestellt und insofern der Tod nicht direkt aktiv herbeigeführt wird.77 Insbesondere dürften aber praktische Erwägungen der Grund für diese Sichtweise darstellen. Man möchte dem Menschen die Möglichkeit der Sterbehilfe zur Leidensminderung zumindest im Bereich der passiven Sterbehilfe zugestehen. Auch hier zeigt sich damit, dass die Wertung des § 216 StGB dem moralischen Empfinden in vielen Fällen widerspricht. Anders ist es kaum zu erklären, dass die Strafrechtslehre derart viele dogmatische Friktionen in Bezug auf Sterbehilfe hinnimmt oder gar befürwortet. Falls eine Behandlung unterlassen wird, obwohl der Patient sie wünscht und dadurch der Tod eintritt, stellt die passive Sterbehilfe eine Form der Tötung durch Unterlassen in Form eines unechten Unterlassungsdeliktes (§ 13 StGB) dar. Die Strafbarkeit wegen Tötung durch Unterlassen setzt eine Garantenstellung des Täters voraus. In den meisten Fällen ist diese gegeben. Regelmäßig geht der passiven Euthanasie eine Phase der Pflege voraus. Durch diese Phase sind meist die Täter der passiven Euthanasie Garanten. Der behandelnde Arzt hat aus diesem Grund beispielsweise eine Garantenstellung inne. Bei nahen Angehörigen folgt die Garantenstellung auch aus ihrer persönlichen Beziehung zu dem Sterbenden. Fehlt eine derartige Garantenstellung, kommt noch immer eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung in Betracht. 75 Roxin, Zur strafrechtlichen Behandlung der Sterbehilfe, in: Roxin/Schroth, Medizinrecht, S. 101. 76 LG Ravensburg, NStZ 1987, S. 229. 77 Birnbacher, Recht auf Sterbehilfe – Pflicht zur Sterbehilfe?, in: Orsi/Seelmann/ Smid/Steinvorth (Hrsg.), Medizin – Recht – Ethik, S. 77.
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Wenn der Patient eine Behandlung verlangt, diese ihm aber verweigert wird, liegt daher ein Totschlag oder sogar Mord als unechtes Unterlassungsdelikt vor. Neben diesen Fällen, in denen der Sterbende konkret seinen Willen zu leben oder zu sterben zum Ausdruck bringt, gibt es noch den Fall, in dem der Sterbende keine Willensäußerung abgegeben hat. Solche Fälle ergeben sich vor allem, wenn der Sterbende durch Unfall oder Krankheit das Bewusstsein verloren hat. Es stellt sich dann die Frage, ob der Arzt verpflichtet ist, dem Sterbenden das Leben zu verlängern, wenn es doch letztlich nicht zu retten ist. Nach herrschender Meinung soll es dem Arzt, der noch keine Behandlung aufgenommen hat, freistehen, ob er dies tun will.78 Doch zumindest in den Fällen, in denen der Arzt zu dem Patienten bereits ein Behandlungsverhältnis aufgenommen hat oder im Bereitschaftsfall kann man diese Freiheit nicht unproblematisch annehmen. In diesen Fällen wird man nämlich von einer Garantenstellung des Arztes oder auch von einer Haftung nach § 323 c StGB ausgehen müssen.79 Im Ansatz sollte der Fall, in dem die Aufnahme einer Behandlung abgelehnt wird, genauso behandelt werden wie der Fall eines Abbruchs einer Behandlung. Wenn die Einleitung einer Behandlung notwendig ist, ist auch ihre Fortführung geboten und der Abbruch unzulässig. Wenn umgekehrt eine Behandlung nicht eingeleitet werden muss, dürfte auch der Abbruch einer Behandlung zulässig sein. Teilweise wird angenommen, dass der Arzt in jedem Fall alles tun muss, um das Leben des Sterbenden zu verlängern.80 Eser stellt hier zu Recht die Frage, ob es noch eine Hilfe sein kann, wenn ein Leben um qualvolle Zeit verlängert wird, ohne dass eine Besserung des Zustandes eintritt.81 Aus diesem Grund wird auf verschiedenen Wegen versucht, eine Grenze der Behandlungspflicht zu finden. Jenseits dieser Grenze sollte sowohl der Abbruch als auch das Unterlassen der Aufnahme einer Behandlung straflos sein. Hierbei geht es im Wesentlichen um die Straflosigkeit der passiven Sterbehilfe. Die herrschende Meinung hat in diesem Zusammenhang erkannt, dass ein 78 Buschendorf, Die strafrechtliche Problematik der Euthanasie und der Freigabe „lebensunwerten Lebens“, in: Valentin (Hrsg.), Die Euthanasie, S. 57. 79 Eser, Sterbehilfe und Euthanasie in rechtlicher Sicht, in: Eid (Hrsg.), Euthanasie oder soll man auf Verlangen töten?, S. 56. 80 Unter Hinweis auf die ärztliche Pflicht zur Lebenserhaltung. Vgl hierzu Eser, Neues Recht des Sterbens?, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie als human- und sozialwissenschaftliches Problem, S. 401 ff. 81 Eser, Sterbehilfe und Euthanasie in rechtlicher Sicht, in: Eid (Hrsg.), Euthanasie oder soll man auf Verlangen töten?, S. 56.
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absoluter Lebensschutz nicht erstrebenswert ist. Die passive Sterbehilfe in Einklang mit der Rechtsordnung zu bringen, stellt sich allerdings als schwierig dar. Eser schlägt eine Begrenzung an dem Kriterium der „faktischen Unmöglichkeit“ vor.82 Ist es dem Arzt unmöglich, Hilfe zu leisten, endet seine Pflicht sowohl im Bereich des § 323 c StGB als auch in Hinblick auf eine Garantenstellung. Dieses Kriterium ist aus den Erwägungen zum Unterlassungsdelikt – um ein solches handelt es sich bei der passiven Euthanasie – bekannt. Schwierigkeiten ergeben sich in den Fällen, in denen es um die „Verwaltung eines Mangels“ geht. Das sind solche Fälle, in denen nicht allen Hilfebedürftigen in gleicher Weise geholfen werden kann, sei es aus Mangel an Zeit, Personal oder Hilfsmitteln. Ein solcher Fall ist aber genau genommen schon kein Fall der faktischen Unmöglichkeit. Zwar ist es, betrachtet man die Gesamtsituation, faktisch unmöglich, allen Hilfebedürftigen zu helfen, bezogen auf den Einzelnen liegt aber keine Unmöglichkeit vor, da ja die Möglichkeit der Hilfe bestünde, wenn auch auf Kosten anderer. Hier schließt sich die zweite mögliche Begrenzung einer Behandlungspflicht an: Die „normative Unzumutbarkeit“ einer Behandlung. Vielfach wird vorgeschlagen, danach zu unterscheiden, ob „gewöhnliche“ oder „außergewöhnliche“ Lebensverlängerungsmaßnahmen getroffen werden müssen. „Außergewöhnliche“ Maßnahmen sollten im Ermessen des Arztes liegen, während „gewöhnliche“ Maßnahmen in jedem Fall getroffen werden sollten. Die Differenzierung zwischen „gewöhnlichen“ und „außergewöhnlichen“ Maßnahmen hängt vom jeweiligen Stand der Wissenschaft und Technik ab. Eine Koppelung der Zumutbarkeit an dieses Kriterium ist kein verlässlicher Abgrenzungsmaßstab. Teilweise wird auch danach unterschieden, ob die Behandlung noch einen „Sinn“ habe.83 Bei diesem Kriterium kommt es letztlich auf eine Wertung des individuellen Lebens an. Lohnt es, sich dieses Leben zu verlängern? Zwar wird diese Wertung vor dem Hintergrund der physischen Lage des Patienten getroffen, dennoch liegt hierin ein Urteil über das Leben eines anderen Menschen. Eser kritisiert dies, sieht aber gleichzeitig, dass man sich dieser Frage nicht auf Dauer entziehen kann.84 Er schlägt daher vor, abgesehen vom Eintritt des Hirntodes, der nach allgemeiner Auffassung den endgültigen Tod eines Menschen bedeutet, von einer 82 Eser, Sterbehilfe und Euthanasie in rechtlicher Sicht, in: Eid (Hrsg.), Euthanasie oder soll man auf Verlangen töten?, S. 57. 83 Engisch, Der Arzt an den Grenzen des Lebens, S. 43 f. 84 Eser, Sterbehilfe und Euthanasie in rechtlicher Sicht, in: Eid (Hrsg.), Euthanasie oder soll man auf Verlangen töten?, S. 59.
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Behandlung Abstand nehmen zu dürfen, sobald der Patient aufgrund irreversibler Bewusstlosigkeit kommunikationsunfähig geworden sei. Gleiches solle gelten, wenn der moribunde Patient nicht mehr um seiner selbst willen, sondern nur noch als Objekt ärztlicher Kunstfertigkeit am Leben erhalten werde.85 Ein derartiges Vorgehen widerspricht zweifelsohne der Menschenwürde. Allerdings verkennt Eser, dass es auch bei dieser Beurteilung letztlich auf eine Wertung ankommt. In beiden von ihm genannten Fällen handelt es sich im Kern um Situationen, in denen nach seiner Auffassung eine Behandlung sinnlos wäre. Die Entscheidung über den Abbruch einer Behandlung bei äußerungsunfähigen Patienten wird also weiterhin eine schwierige moralische Entscheidung bleiben, für die es kaum befriedigende Kriterien gibt. c) Indirekte Sterbehilfe Die indirekte Sterbehilfe wird von Praxis und Lehre einhellig als zulässig angesehen, selbst wenn die Lebensverkürzung vorausgesehen wird. Auch die indirekte Sterbehilfe setzt einen erklärten oder zumindest mutmaßlichen Willen des Patienten voraus. Der BGH hat entschieden, dass eine indizierte schmerzlindernde Behandlung nicht durch die unbeabsichtigte, aber als Nebenfolge in Kauf genommene Lebensverkürzung unzulässig wird.86 Problematisch ist diese Stellungnahme vor allem insofern, als bewusst eine durch aktives Tun verursachte Tötung, allein weil sie nicht Motiv, sondern nur unvermeidbare Nebenwirkung einer Schmerztherapie ist, für zulässig erklärt wird. Normalerweise wird man beim Arzt zumindest einen bedingten Vorsatz hinsichtlich der Lebensverkürzung annehmen müssen. Aktive Tötungen sind ohne Rücksicht auf die Motivation durch die §§ 211 ff. StGB verboten. In dogmatischer Hinsicht können daher angesichts des gegebenen, zumindest bedingten Vorsatzes weder die Motivation noch der ohnehin bevorstehende Tod von Bedeutung sein. Allerdings wird im Fall der indirekten Sterbehilfe genau auf diese Punkte abgestellt.87 Nur im Fall einer Tötungsabsicht, wäre der Täter nach § 216 StGB strafbar.88 Nach dieser gängigen Definition der indirekten Sterbehilfe wäre sogar dolus directus zweiten Grades der erlaubten Vorsatzform zuzurechnen.89 85 Eser, Sterbehilfe und Euthanasie in rechtlicher Sicht, in: Eid (Hrsg.), Euthanasie oder soll man auf Verlangen töten?, S. 59. 86 BGHSt 42, S. 301 (305). 87 Merkel, Aktive Sterbehilfe, in: Hoyer/Müller/Pawlik/Wolter (Hrsg.), Festschrift für Schroeder, S. 314 f. 88 Roxin, Zur strafrechtlichen Behandlung der Sterbehilfe, in: Roxin/Schroth, Medizinrecht, S. 99. 89 Schöch, Die erste Entscheidung des BGH zur sog. indirekten Sterbehilfe, NStZ 1997, S. 410.
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5. Kap.: Kriminalpolitische Erwägungen
Grundsätzlich müsste die indirekte Sterbehilfe aber nach § 212 StGB oder § 216 StGB strafbar sein,90 denn normalerweise genügt der bedingte Vorsatz,91 um eine strafrechtliche Verantwortung auszulösen.92 In der Strafrechtsdogmatik gibt es verschiedene Ansätze, um dieses zu Recht als unbillig empfundene Ergebnis zu verhindern. Ein Teil der Literatur verneint bereits den Tatbestand eines Tötungsdeliktes. Diese Annahme zu begründen fällt allerdings schwer. Teilweise wird angenommen, dass die Tötungsfolge einer indirekten Sterbehilfe in den Bereich eines „erlaubten Risikos“ falle.93 Bei einer Handlung, die vorhersehbar zum Tode führt, kann aber nicht von einem „erlaubten“ Risiko gesprochen werden. Das Erfolgsrisiko ist insofern zu „dicht“.94 Beckmann weist auf den Unterschied zwischen einer Schmerzbehandlung, die das Risiko einer Lebensverkürzung beinhaltet, und einer gezielten Tötung hin. Der Vorsatz könne bei einer „indirekten“ Sterbehilfe auch nur „indirekt“ und damit bedingt sein.95 Ob diese Folgerung stichhaltig ist, kann dahinstehen. Beckmann führt selbst an, dass die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen, die eine direkte aktive Sterbehilfe sanktioniert, und die Strafbarkeit der fahrlässigen Tötung dazu führen müsste, die dazwischen anzusiedelnde indirekte Sterbehilfe ebenfalls für strafbar zu erklären.96 Dieser Diskrepanz mit dem geltenden Recht kann man auch nicht durch Hinweis auf die Zulässigkeit von Behandlungen, die lege artis vorgenommen wurden, entgegentreten.97 Auch der Ansatz, eine Tatbestandslosigkeit der indirekten Sterbehilfe aufgrund des alleinigen „Handlungssinns der Schmerzlinderung“ anzunehmen kann nicht überzeugen. Merkel hat klargestellt, dass eine derartige Sichtweise bedeuten würde, die Todesfolge aufgrund einer Motivation des Handelnden für uner90 Merkel, Aktive Sterbehilfe, in: Hoyer/Müller/Pawlik/Wolter (Hrsg.), Festschrift für Schroeder, S. 297 f.; Roxin, Zur strafrechtlichen Behandlung der Sterbehilfe, in: Roxin/Schroth, Medizinrecht, S. 96. 91 Zumindest dieser wird von der herrschenden Meinung als geringwertig genug für eine Annahme der erlaubten indirekten Sterbehilfe angesehen. Vgl. Schöch, Die erste Entscheidung des BGH zur sog. indirekten Sterbehilfe, NStZ 1997, S. 411. 92 Ganz zu Schweigen von der Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung. 93 Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem §§ 211 ff. Rn. 26; Engisch, Aufklärung und Sterbehilfe bei Krebs, in: Kaufmann/Bemmann/Krauss/Volk (Hrsg.), Festschrift für Bockelmann, S. 532 f. 94 Merkel, Aktive Sterbehilfe, in: Hoyer/Müller/Pawlik/Wolter (Hrsg.), Festschrift für Schroeder, S. 299 f. 95 Beckmann, Patiententötung, Behandlungsabbruch, Schmerzbehandlung, in: DRiZ 2005, S. 253. 96 Beckmann, Patiententötung, Behandlungsabbruch, Schmerzbehandlung, in: DRiZ 2005, S. 253. 97 Vgl. Merkel, Aktive Sterbehilfe, in: Hoyer/Müller/Pawlik/Wolter (Hrsg.), Festschrift für Schroeder, S. 301.
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heblich zu erklären. Als entscheidendes Kriterium kann die Motivation des Handelnden aber nicht dienen. Auch bei Fällen des § 216 StGB, die man gemeinhin nicht als Sterbehilfe bezeichnen würde, insbesondere, wenn der Patient trotz großer Schmerzen heilbar wäre, könnte nämlich eine Situation auftreten, in welcher der Täter zum Zweck der Schmerzlinderung handelt. Diese für zulässig zu erklären ist nicht im Sinne der mehrheitlichen Meinung.98 Insgesamt ist es bedenklich, die unerwünschte Folge einer Handlung aus der Betrachtung auszuklammern, weil die erwünschte Folge nicht ohne diese erreicht werden kann. In dieser Hinsicht systematisch überzeugender ist der Ansatz Herzbergs, der davon ausgeht, dass die indirekte Sterbehilfe dem Sinngehalt der Tötungsvorschriften nicht unterfällt.99 Er nimmt einen Ausschluss des Tatbestandes an, weil indirekte Sterbehilfe sozialadäquat sei. Herzberg geht davon aus, dass der Patient kein Interesse am Leben mehr habe und von daher eine Abwägung im Sinne des § 34 StGB gar nicht zu erfolgen habe. Aufgrund des fehlenden Interesses des Rechtsgutsträgers an der Erhaltung seines Rechtsgutes sei der Sinngehalt von Tötungsvorschriften bei der indirekten Sterbehilfe nicht berührt.100 Problematisch an diesem Ansatz ist vor allem, dass einigermaßen beliebig behauptet wird, eine Tötung als unbeabsichtigte, aber vorhergesehene Nebenfolge einer Schmerztherapie sei nicht vom Schutzzweck der Tötungsdelikte umfasst. Gerade der Tatbestand des § 216 StGB spricht gegen eine derartige Einschätzung. Augenscheinlich soll jegliches Leben geschützt werden, sogar gegen den erklärten Willen des Patienten.101 Demselben Problem sehen sich aber auch die Ansätze gegenüber, die von einer Rechtfertigung des Täters ausgehen. Teilweise werden hier Einwilligung und sogar mutmaßliche Einwilligung als Rechtfertigungsgründe der Tötung anerkannt.102 Die objektive Einwilligungsschranke des § 216 StGB stehe dem nicht entgegen, weil der Schutzzweck der Norm (paternalistischer Schutz, Schutz durch Tabuisierung des Lebens) das ärztlich begleitete Sterben nicht erfasse.103 Diese Behauptung ist wenig mehr als nur das und stellt keine Begründung dar. Oben wurde bereits gezeigt, dass auch das ärztliche Handeln als prob98 Merkel, Aktive Sterbehilfe, in: Hoyer/Müller/Pawlik/Wolter (Hrsg.), Festschrift für Schroeder, S. 302 ff. 99 Herzberg bezieht sich dabei auf Wessels. Vgl. Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 1, Rn. 32: „. . . ihrem sozialen Gesamtsinn nach etwas ganz anderes als eine ,Tötungshandlung‘ . . .“. 100 Herzberg, Sterbehilfe als gerechtfertigte Tötung im Notstand?, NJW 1996, S. 3048. 101 Roxin, Zur strafrechtlichen Behandlung der Sterbehilfe, in: Roxin/Schroth, Medizinrecht, S. 97. 102 Es besteht auch die Möglichkeit die Einwilligung als Tatbestandsausschluss zu werten. Vgl. Verrel, Selbstbestimmungsrecht contra Lebensschutz, JZ 1996, S. 226 f. 103 Verrel, Selbstbestimmungsrecht contra Lebensschutz, JZ 1996, S. 226 f.; Niedermair, Körperverletzung mit Einwilligung und die Guten Sitten, S. 139, Fn. 531.
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lematisch und dem Missbrauch zugänglich angesehen wird. Schließlich ist aktive Sterbehilfe auch dann strafbar, wenn sie von Ärzten durchgeführt wird.104 Es zeigt sich, dass die Eingrenzung des Schutzzwecks der Norm sich doch als ergebnisorientiert und willkürlich darstellt. Die herrschende Lehre geht davon aus, dass eine Tötung auf Verlangen beziehungsweise im Fall der bloß mutmaßlichen Einwilligung eine Tötung nach § 212 StGB, in der Konstellation der indirekten Sterbehilfe nach § 34 StGB als Notstand gerechtfertigt wäre.105 Es handele sich um eine „klassische Notstandssituation“, in der die Pflicht, eine Tötung zu unterlassen mit der Pflicht der Schmerzlinderung kollidiere.106 Scheinbar stört hier die Notstandsuntauglichkeit des § 216 StGB, die für die direkte Sterbehilfe postuliert wird, nicht.107 Diese Abwägung von menschlichem Leben wird traditionell als unzulässig angesehen, was auch von einigen Vertretern der Tatbestandslösungen gegen die Rechtfertigungslösung vorgebracht wird.108 Ich habe bereits oben gezeigt, dass ein absoluter Schutz des menschlichen Lebens jedoch in unserer Rechtsordnung weder existiert noch wünschenswert wäre. Herzberg stellt richtigerweise fest, dass jeder, der die indirekte Euthanasie als zulässig ansieht, eine Wertung über das menschliche Leben trifft, was einer Abwägung entspricht.109 Die notwendige Abwägung kommt im Rahmen des § 34 StGB deutlich zur Geltung. Aus diesem Grund favorisiert auch Merkel diesen Ansatz. Gegen die Tatbestandslösung bringt er vor, dass die erforderliche Abwägung zwischen menschlichem Leben und dem Interesse an Schmerzfreiheit, welche der eigentliche Grund für die als rechtens empfundene Billigung der indirekten Sterbehilfe sein dürfte, im Rahmen der Rechtswidrigkeit zu erfolgen habe. Bereits den Tatbestand zu verneinen würde über die Abwägung hinweg täuschen und entspräche nicht der juristischen Methode.110 Merkel verkennt aber, dass der Grund dafür, ein Verhalten nicht unter Strafe zu stellen, durchaus das Ergebnis einer Abwägung sein kann, ohne dass dies 104 Vgl. Merkel, Aktive Sterbehilfe, in: Hoyer/Müller/Pawlik/Wolter (Hrsg.), Festschrift für Schroeder, S. 307. 105 Herzberg, Sterbehilfe als gerechtfertigte Tötung im Notstand?, NJW 1996, S. 3043. 106 Merkel, Teilnahme am Suizid – Tötung auf Verlangen – Euthanasie, in: Hegselmann/Merkel (Hrsg.), Zur Debatte über Euthanasie, S. 93 ff. 107 Merkel, Aktive Sterbehilfe, in: Hoyer/Müller/Pawlik/Wolter (Hrsg.), Festschrift für Schroeder, S. 298. 108 Tröndle, Warum ist die Sterbehilfe ein rechtliches Problem?, ZStW 99 (1987), S. 30. 109 Herzberg, Sterbehilfe als gerechtfertigte Tötung im Notstand?, NJW 1996, S. 3045. 110 Merkel, Tödlicher Behandlungsabbruch und mutmaßliche Einwilligung bei Patienten im apallischen Syndrom, ZStW 107 (1995), S. 569 f.
B. Das Selbstbestimmungsrecht in der Rechtsordnung
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auch in der dogmatischen Behandlung der Straflosigkeit Widerhall finden muss. Die Entscheidung, ein Verhalten nicht unter Strafe zu stellen, stellt sich sogar häufig als Ergebnis einer Abwägung dar. Ein bewohntes Haus anzuzünden ist in Ansehung der möglichen Folgen strafwürdiger als eine Mülltonne in Brand zu setzen. Dennoch wird auch hier nicht die Abwägung im Rahmen der Rechtfertigung oder Schuld eines allgemeinen Brandstiftungsdelikts vorgenommen. Wenn sich ein als billig empfundenes Verhalten derart standardisieren lässt, dass eine Einzelfallabwägung nicht zu erfolgen hat, besteht auch kein Grund, diese zu fordern. Problematisch an der Rechtfertigungslösung ist vor allem, dass es nicht um den normalen Fall von Interessenkollisionen zweier Individuen geht, sondern, wenn überhaupt,111 eine Interessenkollision verschiedener Interessen derselben Person vorliegt.112 Im Grunde genommen kann man gegen alle aufgeführten Lösungen eingedenk des § 216 StGB Einwände erheben. Sie basieren auf der Erkenntnis, dass ein Leben unter Umständen nicht mehr lebenswert sein könnte und es für den Betreffenden besser sei, zu sterben. Eine derartige Erkenntnis mit dem § 216 StGB in Einklang zu bringen ist aber äußerst schwierig, da er ja scheinbar jegliche Disposition über das Rechtsgut Leben ausschließt.113 d) Sterbebegleitung, „reine“ Sterbehilfe Bei der „reinen Sterbehilfe“ wird weder aktiv noch passiv der Tod eines Menschen verursacht. Daher ist diese Form der Hilfe im Sterben unproblematisch zulässig. In der Regel wird sogar bei Sterbenden, die keine Willenserklärung mehr abgeben können, ein mutmaßlicher Wille in Richtung „reiner Sterbehilfe“ anzunehmen sein.114 Falls natürlich der Sterbende eine Behandlung verweigert, darf sie nicht vorgenommen werden. Da die reine Sterbehilfe sich nicht einmal als Heilbehandlung darstellt, steht eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung außer Zweifel.
111 Herzberg gibt zu bedenken, dass ein Sterbewilliger eben kein Interesse am Weiterleben hege. Eine Kollision von Interessen läge also nicht vor. Positiv an diesem Ansatz ist, dass das Paradoxon eines Individuums, das zwei gegenläufige Interessen hegt, vermieden wird. Problematisch ist aber, dass auch weich-paternalistische Ansätze mit dieser Fiktion der gegenläufigen Interessen arbeiten und prinzipiell begrüßenswert sind (siehe oben, 3. Kapitel B. II.). Vgl. Herzberg, Sterbehilfe als gerechtfertigte Tötung im Notstand?, NJW 1996, 3047 f. 112 Merkel, Früheuthanasie, S. 528. 113 Ebenso Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 1, Rn. 33. 114 Roxin, Zur strafrechtlichen Behandlung der Sterbehilfe, in: Roxin/Schroth, Medizinrecht, S. 94.
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5. Kap.: Kriminalpolitische Erwägungen
Der umgekehrte Fall, eine Hilfe im Sterben (Schmerzbehandlung) wird trotz Bitte des Patienten unterlassen, stellt im Falle einer Garantenstellung des Arztes und naher Angehöriger eine Körperverletzung durch Unterlassen dar. Wie oben bereits dargelegt, wird bei behandelnden Ärzten regelmäßig eine Garantenpflicht im Sinne des § 13 StGB vorhanden sein. Falls dies nicht der Fall ist, käme auch eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung in Betracht (§ 323 c StGB).115 Die Zulässigkeit einiger Formen der Sterbehilfe führt zu Wertungswidersprüchen mit § 216 StGB. In Hinblick auf die Zulässigkeit passiver Sterbehilfe stellt sich die Frage, ob die Differenzierung zwischen aktivem Töten und passivem Sterbenlassen sachgerecht ist. In Bezug auf die Zulässigkeit der indirekten aktiven Sterbehilfe ist fraglich, ob die Tatsache, dass die den Tod auslösende Handlung zum Zweck der Schmerzminderung vorgenommen wurde und dabei der Tod nicht beabsichtigt, sondern lediglich in Kauf genommen wurde, eine rechtliche Differenzierung rechtfertigt.
C. Gründe für die moralische Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen Die moralische Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen ist ein viel diskutiertes Problem. Meist wird bereits intuitiv ein Sterbenlassen für moralisch weniger verwerflich als ein Töten angesehen.116 Diesen Impuls zu begründen fällt dann jedoch schwer. Häufig zieht man sich auf den Hinweis zurück, dass eine moralische Verantwortung beim Sterbenlassen nicht hinnehmbar sei, weil man sich in einem derartigen Fall für alle möglichen Unterlassungen zu verantworten habe.117 Die Tatsache, dass eine bestimmte Sichtweise unangenehme Folgen hätte, ist allerdings keine Begründung dafür, dass diese Sichtweise auch falsch ist. Der wahre Grund für den Unterschied zwischen aktiver Tötung und passivem Sterbenlassen liegt vielmehr in der Verantwortung des aktiv Handelnden. Nur der Tötende hat das Leben des Opfers beendet. Derjenige, der es nur sterben lässt, hat lediglich den Tod nicht verhindert. Eine Kausalität liegt allerdings in beiden Fällen vor.118
115 Roxin, Zur strafrechtlichen Behandlung der Sterbehilfe, in: Roxin/Schroth, Medizinrecht, S. 95. 116 Birnbacher, Recht auf Sterbehilfe – Pflicht zur Sterbehilfe?, in: Orsi/Seelmann/ Smid/Steinvorth (Hrsg.), Medizin – Recht – Ethik, S. 75. 117 Vgl. Kautzky, Euthanasie und Gottesfrage, S. 151 ff. 118 Birnbacher, Sterbehilfe – eine philosophische Sicht, in: Thiele (Hrsg.), Aktive und passive Sterbehilfe, S. 35 f.
C. Gründe für die Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen
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Diese kausale Verantwortung kann man aber nicht ohne weiteres mit moralischer Verantwortung gleichsetzen.119 Die Zuschreibung einer moralischen Verantwortung hängt davon ab, ob man eine Intervention für sittlich geboten hält. Im Rahmen der Dogmatik um Garanten hat dieser Gedanke auch in unsere Strafrechtsordnung Einzug gehalten. Als direkte Ursache des Todes ist eine aktive Tötung immer problemlos auszumachen. Einer Unterlassung ist ein Erfolg wesentlich schwieriger zuzurechnen. In jedem Fall muss dort eine weitere Ursache vorhanden sein, sei es eine Krankheit, ein Unfall oder ähnliches, ohne deren Vorliegen die Unterlassung bedeutungslos wäre. Insofern ist ein qualitativer Unterschied zwischen aktiver Tötung und passiven Sterbenlassen auszumachen. Dieser Unterschied liegt aber im Bereich der Kausalität und Zurechnung. Er ist für den Täter von Bedeutung, wenn es um ein Rechtsgut geht, welches nicht verletzt werden darf. Wenn schon in der Verletzung kein Unrecht zu sehen wäre, käme es auf die Kausalität aber gar nicht an. Das entscheidende Argument jedoch, warum man den Abbruch einer Behandlung billigt, ist das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen über sein Rechtsgut. Demnach ist die Frage der Kausalität hier nicht entscheidend, weil schon die Verletzung kein Unrecht darstellt. Der augenfällige Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen ist also in diesem Bereich bedeutungslos. In der Praxis ist vor allem die Strafbarkeit des § 216 StGB Grund für die rigorose Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen. Andere Gründe tragen eine Differenzierung nur bedingt. Der Schutz vor einer nicht autonomen Entscheidung kann beispielsweise auch im Bereich der passiven Sterbehilfe von Bedeutung sein. Auch die Entscheidung, eine lebenserhaltende Maßnahme nicht durchführen zu lassen, kann durch heteronome Motive geleitet sein.120 Ebenso ergeben sich Gefahren des Missbrauchs bei Zulassung der passiven Sterbehilfe in gleicher Weise wie bei der aktiven. Allein die Gefahr der Fehlentwicklungen durch einen Einbruch im Bereich des Tabus der Fremdtötungen besteht ausschließlich im Bereich der aktiven Tötung, da es die passive Sterbehilfe definitionsgemäß nicht umfasst.
119
Vgl. Wolbert, Du sollst nicht töten, S. 119. Birnbacher, Recht auf Sterbehilfe – Pflicht zur Sterbehilfe?, in: Orsi/Seelmann/ Smid/Steinvorth (Hrsg.), Medizin – Recht – Ethik, S. 78. 120
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5. Kap.: Kriminalpolitische Erwägungen
D. Unterscheidung zwischen indirekter Sterbehilfe und direkter Sterbehilfe Auch die Unterscheidung zwischen indirekter aktiver Sterbehilfe und direkter aktiver Sterbehilfe stellt sich als fragwürdig dar. Die herrschende Meinung wendet im Fall der indirekten Sterbehilfe die Regelung des Notstandes aus § 34 StGB an. In Bezug auf § 216 StGB geht sie aber von einer Notstandssperre aus. Tatsächlich erscheint es zunächst eigenartig, durch § 216 StGB die Einwilligung, welche den einzigen plausiblen Rechtfertigungsgrund für eine straffreie Tötung darstellen dürfte, auszuklammern, die Möglichkeit der Rechtfertigung durch Notstand im Rahmen des § 216 StGB jedoch zu erhalten. Dieses Paradox löst sich aber auf, wenn man Herzbergs Hinweis aufnimmt, dass auch die Lösung nach § 34 StGB die Einwilligung des Sterbewilligen voraussetzt, mithin § 216 StGB nur klarstellt, dass eine Einwilligung allein nicht ausreicht, um das Unrecht einer Tötung auf Verlangen aufzuheben.121 Das eigentliche Problem der unterschiedlichen Behandlung von indirekter und direkter Sterbehilfe liegt in dem Umstand, dass trotz bedingten Vorsatzes die Motivation des Täters ausschlaggebend sein soll, eine Straffreiheit herbeizuführen. Zwar ist die Motivation des Täters in moralischer Hinsicht durchaus beachtlich, da jedoch normalerweise bereits bedingter Vorsatz für eine Strafbarkeit ausreicht, stellt sich hier die Frage, warum bei Sterbehilfe dieser Grundsatz durchbrochen werden sollte. In praktischer Hinsicht mag sich anführen lassen, dass die Möglichkeit der potenten Schmerzmedikation aus humanitären Gründen erhalten bleiben sollte. In rechtlicher Hinsicht ist diese Lösung jedoch schwerlich mit der Wertung des § 216 StGB in Einklang zu bringen.
E. Gründe für die unterschiedliche Behandlung von Suizid und Tötung auf Verlangen Der Suizid und die Teilnahme an selbigem sind in Deutschland straflos. Dies ist nicht so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheint. Das Strafgesetzbuch Maria Theresias von 1769 sah noch eine postmortale Ächtung des Suizidenten vor. In England war der missglückte Suizid bis 1961 strafbar.122 Die Verabschiedung von der Strafbarkeit des Suizids und seiner Teilnahme ist
121 Herzberg, Der Fall Hackethal: Strafbare Tötung auf Verlangen?, NJW 1986, S. 1639. 122 Eser, Sterbehilfe und Euthanasie in rechtlicher Sicht, in: Eid (Hrsg.), Euthanasie, S. 50.
E. Unterschiedliche Behandlung von Suizid und Tötung auf Verlangen
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eine praktische Folge der Aufklärung.123 Sie vollzog sich durch eine Abkehr von der Auffassung, durch Strafrecht göttliche Gerechtigkeit zu üben. Auf diese Weise erfolgte eine Trennung von Recht und Moral, die bis heute (mehr oder weniger) durchgehalten wird.124 Die Straflosigkeit des Suizids auf der einen und die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen auf der anderen Seite führen zu einem Spannungsverhältnis, das bei der Untersuchung der möglichen Begründung für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen beachtet werden muss.125 Wenn man die Tötung auf Verlangen als mittelbare Selbsttötung definiert, wird klar, dass die Differenzierung nach Selbst- und Fremdtötung als Erklärung für den Wertungswiderspruch nicht trägt.126 Tatsächlich sind beide Handlungen Ausdrucksformen des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen.127 Meist wird für die Straffreiheit des Suizids der Vorrang des Selbstbestimmungsrechtes des Einzelnen angeführt. Dieses Selbstbestimmungsrecht über das eigene Leben wird aber von der herrschenden Meinung dem Einzelnen in Bezug auf die Tötung auf Verlangen gerade nicht zuerkannt. Nur in Bezug auf die passive Sterbehilfe, das Sterbenlassen, greift die Autonomie des Einzelnen wieder. Der Patient darf nicht entgegen seinen Willen behandelt werden, selbst wenn es zur Rettung seines Lebens führen würde (siehe oben, 5. Kapitel B. I. f)). Die aktive Sterbehilfe wird wegen § 216 StGB allgemein als unzulässig angesehen. Wenn es um die aktive Lebensbeendung geht, ist das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen eingeschränkt, wenn er sich nicht selbst tötet. Für Schroeder ist die Beachtung dieser Diskrepanz von entscheidender Bedeutung.128 Einige mögliche Gründe für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen scheiden für ihn schon deshalb aus, weil sie auch für eine Strafbarkeit des Suizids angeführt werden könnten, dieser aber nicht strafbar ist. Diese Argumentation ist jedoch nicht zwingend. Es ist denkbar, dass der Grund für die Straflosigkeit des Suizids schwerer wiegt als der Grund für die Strafbarkeit, der sowohl für die Tötung auf Verlangen als auch für den Suizid greifen würde. 123 Rehbach, Bemerkungen zur Geschichte der Selbstmordbestrafung, DRiZ 1986, S. 241, 244. 124 Vgl. Rehbach, Bemerkungen zur Geschichte der Selbstmordbestrafung, DRiZ 1986, S. 244 f. 125 Vgl. hierzu bereits Engisch, Ärztliche Sterbehilfe, in: Jescheck/Lüttger (Hrsg.), Festschrift für Dreher, S. 311 ff. 126 Eser, Neues Recht des Sterbens?, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 394. 127 Göbel, Die Einwilligung im Strafrecht als Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts, S. 99 ff.; Meyer, Ausschluss der Autonomie durch Irrtum, S. 222. 128 Vgl. Schroeder, Beihilfe zum Selbstmord und Tötung auf Verlangen, ZStW 106 (1994), S. 567 ff.
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5. Kap.: Kriminalpolitische Erwägungen
I. Der Suizid als unverbotene Handlung In diesem Zusammenhang wird teilweise davon ausgegangen, dass der Suizid nur straffrei und nicht bereits tatbestandslos ist. Der Suizident hat einen Menschen getötet, oder es zumindest versucht, so dass augenscheinlich ein Tötungstatbestand erfüllt ist. Seine Handlung stellt aber eine derartige persönliche Tragödie dar, dass man ihn zum einen nicht bestrafen sollte, zum anderen Strafen ihn nicht abschrecken könnten, da irdische Strafen für ihn kaum eine Bedeutung entfalten dürften.129 Es könnte zwar auch Fälle geben, in denen sich ein Suizident durch eine postmortale Kriminalisierung in seiner Ehre gekränkt sähe, von seinem Vorhaben wird er sich dadurch aber wohl kaum abbringen lassen. Auch in Hinblick auf eine Bestrafung nach missglücktem Suizid wird sich kaum eine Verhaltensänderung bei potentiellen Suizidenten erreichen lassen. In der Regel werden sie von einem Gelingen ihres Vorhabens ausgehen, so dass Strafdrohungen keine Bedeutung hätten. Wenn man aber diesen Ansatz wählt, ist die beliebte normlogische Begründung für die Straffreiheit von Suizidgehilfen nicht mehr tragfähig, denn der oben angeführte Grund stellt einen persönlichen Strafausschließungsgrund dar, der die Strafbarkeit des Gehilfen nicht berührt. Eine andere Variante sieht in der fehlenden Suizidstrafbarkeit einen Schuldausschließungsgrund.130 Auch hier bedarf die Straffreiheit der Beihilfe zum Suizid einer gesonderten Begründung.131 Schmidhäuser folgert dementsprechend konsequent, dass die Beihilfe zum Suizid strafbar sein sollte.132 Gegen diese Sichtweisen spricht aber, dass der Gesetzgeber die Tötung auf Verlangen aus dem sächsischen StGB übernommen, die Strafbarkeit der Beteiligung am Suizid aus dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 jedoch noch vor 1871 aufgehoben wurde.133 Eine gesonderte Regelung wäre somit zu erwarten gewesen.134 Aus diesem systematischen Zusammenhang ergibt sich, dass mit der Tötung eines Menschen stets die Tötung eines anderen Menschen 129 Hirsch, Einwilligung und Selbstbestimmung, in: Stratenwerth/Kaufmann/Geilen/ Hirsch/Schreiber/Jakobs/Loos (Hrsg.), Festschrift für Welzel, S. 779. 130 Schmidhäuser, Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord in strafrechtlicher Sicht, in: Stratenwerth/Kaufmann/Geilen/Hirsch/Schreiber/Jakobs/Loos (Hrsg.), Festschrift für Welzel, S. 819 ff. 131 Vgl. Göbel, Die Einwilligung im Strafrecht als Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts, S. 31. 132 Schmidhäuser, Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord in strafrechtlicher Sicht, in: Stratenwerth/Kaufmann/Geilen/Hirsch/Schreiber/Jakobs/Loos (Hrsg.), Festschrift für Welzel, S. 820 f. 133 Vgl. Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 60. 134 Dölling, Fahrlässige Tötung bei Selbstgefährdung des Opfers, GA 1984, S. 76; Roxin, Die Mitwirkung beim Suizid, in: Jescheck/Lüttger (Hrsg.), Festschrift für Dreher, S. 336.
E. Unterschiedliche Behandlung von Suizid und Tötung auf Verlangen
227
gemeint war.135 Eine Einbeziehung des Suizids in die Tötungsdelikte wäre eine vom Gesetz nicht gedeckte, verfassungswidrige Erweiterung der Strafbarkeit.136 Die überwiegende Ansicht in der Literatur geht dementsprechend auch von einer Rechtmäßigkeit des Suizids aus.137 Kaufmann hat eine grundsätzlich andere Behandlung des Suizids vorgeschlagen. Er folgert aus der im Regelfall tragischen Not- und Konfliktsituation des Suizidenten, dass die Rechtsordnung ihm einen Freiheitsraum lassen müsse, in dem jeder eine freie, sittliche, allein vor eigenem Gewissen zu verantwortende (mithin autonome) Entscheidung treffen könne.138 Diese Entscheidung sei weder Rechtsausübung noch Rechtsverletzung, sondern „unverboten“. Daher könne der Suizident trotz einer fehlenden Verpflichtung zu leben, einer Rettung auch kein Recht auf den Tod entgegensetzen. Die Figur des „rechtsfreien Raumes“ ist aber vor dem Hintergrund des umfassenden Grundrechtsschutzes kaum zu rechtfertigen.139 Insbesondere Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG schützen bereits den Freiheitsraum des Einzelnen vor Beeinträchtigungen seiner Autonomie. Innerhalb dieses Schutzes noch einen „Kernbereich“ der Freiheit anzunehmen erscheint willkürlich. Das Hauptargument Kaufmanns für die Annahme eines „rechtsfreien Raums“ ist die Unmöglichkeit der rationalen Wertung einer derartig an subjektiven Moralvorstellungen gekoppelten Entscheidung, wie die des Suizids.140 Er verkennt dabei aber, dass es auch andere Gründe geben kann, ein Verhalten zu verbieten oder zu gebieten, als nur die Einstellung des Täters. Wenn man diese als entscheidend ansieht, genügt die Einschätzung des Täters als schuldlos handelnd, weil in subjektiver Hinsicht nicht vorwerfbar, vollkommen. Suizid ist also nach dem Willen des Gesetzgebers ein unverbotenes Verhalten. Der Grund hierfür dürfte in der Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen liegen. Die Hilfspflicht im Fall eines Suizidversuches und die Befugnis der Polizei zum Einschreiten ergeben sich aus der Möglichkeit eines nicht freiverantwortlichen Suizids. Im Bereich der Suizidforschung hat sich gezeigt, dass Suizidversuche häufig nicht durch einen unbedingten Sterbewillen getragen wurden (siehe oben, 3. Kapitel B. IV. 2., 5. Kapitel B. III.). 135 BGH, NStZ 1984, S. 410; Bottke, Das Recht auf Suizid und Suizidverhütung, GA 1982, S. 348. 136 Simson, Die Suizidtat, S. 73. 137 Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 15. 138 Kaufmann, Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung, in: Schroeder/Zipf (Hrsg.), Festschrift für Maurach, S. 337 ff. 139 Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 99; Bottke, Suizid und Strafrecht, S. 43; Bottke, Das Recht auf Suizid und Suizidverhütung, GA 1982, S. 349. 140 Kaufmann, Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung, in: Schroeder/Zipf (Hrsg.), Festschrift für Maurach, S. 337 f.
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5. Kap.: Kriminalpolitische Erwägungen
Der augenfällige Unterschied zwischen Tötung auf Verlangen und Suizid liegt vor allem darin, dass im Fall der Tötung auf Verlangen eine Fremdtötung vorliegt. Jakobs spricht daher dem Suizid jegliche soziale Bedeutung ab.141 In Bezug auf die Beteiligung beim Suizid ergibt sich aber das Problem, dass aufgrund der Beteiligung des Gehilfen dem Suizid wieder eine soziale Bedeutung zukommen könnte. II. Eigenhändigkeit des Suizids als entscheidendes Differenzierungskriterium Wenn man die Eigenhändigkeit der Ausführung des Suizids als entscheidendes Unterscheidungskriterium ansieht, stellt sich die Frage, warum diese eine rechtliche Differenzierung rechtfertigt. Schroeder gibt als Grund für die unterschiedliche Behandlung von Suizid und Tötung auf Verlangen an, dass die Entscheidung über den eigenen Tod so existentiell sei, dass auch der Vollzug der Entscheidung keiner anderen Person übertragen werden dürfe. In Verwandtschaft zu Jakobs sieht er in dem Wunsch nach Tötung durch einen anderen eine Scheu vor dem Suizid und einen Versuch, die Verantwortung auf andere abzuwälzen.142 Dabei muss man aber vor Augen haben, dass lediglich der Vollzug, nicht die Entscheidung selbst auf einen anderen übertragen wird. Insofern ist auch eine Übertragung der Verantwortung nicht gegeben. Jakobs führt dazu aus, dass der die Tötung Verlangende seine Tötung organisiert und damit nicht die Entscheidung über das Leben auf andere überträgt.143 Die Begründung, warum die Übertragung des Vollzugs des eigenen Todeswunsches vom Staat unterbunden werden sollte, bleibt Schroeder schuldig. Aus dem Zusammenhang mit der Wertung des Grundgesetzes, aus dem er eine Unverzichtbarkeit des eigenen Lebens ableitet, kann man nur bedingt eine Begründung herleiten. Allein der Hinweis auf diese Verfassungsinterpretation erklärt nicht, warum der Gesetzgeber diese Wertung getroffen haben sollte. Bereits oben wurde klargestellt, dass die Tötung auf Verlangen einen mittelbaren Suizid darstellt. Es geht nicht darum, dass der Sterbewillige sein Rechtsgut Leben einem anderen zur Verfügung überlässt. Der Täter des § 216 StGB soll nicht nach Gutdünken über das Leben des Sterbewilligen verfügen, sondern er hat die klare Vorgabe des Sterbewilligen zu beachten. Die Vernichtung des höchstpersönlichen Rechtsgutes Leben erfolgt zur Realisierung der eigenen Zwecke des Verfügenden. Er bedient sich nur des Tötenden. Der Täter des § 216 StGB muss den Zwecken des Sterbewilligen dienen wollen. Nach herrschender Mei141
Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 15. Schroeder, Beihilfe zum Selbstmord und Tötung auf Verlangen, ZStW 106 (1994), S. 574. 143 Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 15. 142
E. Unterschiedliche Behandlung von Suizid und Tötung auf Verlangen
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nung muss der Todeswunsch leitendes Motiv der Tötung gewesen sein.144 Bei der Tötung auf Verlangen liegt also eine Organisation der Tat zur Verfolgung eigener Zwecke durch den Sterbewilligen vor.145 Die Eigenhändigkeit einer Tat spielt weder in Bezug auf den Umgang mit höchstpersönlichen Rechtsgütern noch in den allgemeinen Grundsätzen der strafrechtlichen Zurechnungslehre eine besondere Rolle.146 Gründe, die eine unterschiedliche Behandlung von Suizid und Tötung auf Verlangen rechtfertigen, sind vor allem das Festhalten am Tabu der Fremdtötung, mit welcher Intention auch immer, sowie der Gedanke von der besonderen Gewissheit bezüglich des Sterbewillens, der durch die eigenhändige Tötung zum Ausdruck kommt.147 Roxin und Jakobs sehen in der eigenhändigen Tatausführung ein sicheres Indiz für die Freiverantwortlichkeit des Sterbewillens.148 Auch Engisch und Hirsch nehmen an, dass der Selbsterhaltungstrieb dem Suizidenten die eigenhändige Tatausführung erschwere und ihn von der Tötung abhalten könne. Bei der Fremdtötung gebe es diese Grenze nicht, weshalb sie durch § 216 StGB auch im Fall der Einwilligung beziehungsweise des ernstlichen Verlangens verboten werden müsse, um das Leben des Sterbewilligen zu retten.149 Wie bereits oben angedeutet, erscheint diese Annahme aber willkürlich. Eine fehlende Freiverantwortlichkeit kann auch bei Suizidenten gegeben sein (so genanntes präsuizidales Syndrom). Allein die Annahme einer natürlichen Selbsttötungshemmung könnte die Theorie stützen, dass im Fall des Suizids eine Freiverantwortlichkeit eher zum Ausdruck käme als bei einer Delegation der Tötungshandlung. Auf der anderen Seite ist aber nicht gesagt, dass diese Hemmung nicht gerade bei Menschen, die keinen freiverantwortlichen Sterbewillen haben, ausgeschaltet ist. Zu Recht weist Maatsch darauf hin, dass die Einbeziehung eines anderen als Tatausführenden unter Umständen eine effektivere Rationalisierung des Sterbewillens zur Folge habe könnte, da diesem der Todeswunsch erst verständlich gemacht werden müsse.150 144
Vgl. hierzu BGH, NJW 2005, S. 1876 (1879). Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 15. 146 Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 16 f. 147 Bottke, Suizid und Strafrecht, S. 37. 148 Roxin, Strafrecht AT 1, § 2 C Rn. 33; Jakobs, Zum Unrecht der Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen, in: Haft/Hassemer/Neumann/Schild/Schroth (Hrsg.), Strafgerechtigkeit, S. 467 f. 149 Engisch, Die Strafwürdigkeit der Unfruchtbarmachung mit Einwilligung, in: Geerds/Nauke (Hrsg.), Festschrift für Mayer, S. 412; Engisch, Ärztliche Sterbehilfe, in: Jescheck/Lüttger (Hrsg.), Festschrift für Dreher, S. 318; Hirsch, Einwilligung und Selbstbestimmung, in: Stratenwerth/Kaufmann/Geilen/Hirsch/Schreiber/Jakobs/Loos (Hrsg.), Festschrift für Welzel, S. 779 f. 150 Maatsch, Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtspflichtverstoß, S. 51. 145
230
5. Kap.: Kriminalpolitische Erwägungen
Wenn auch die Strafbarkeit des Suizids nicht geeignet ist, um den Suizidenten von seinem Vorhaben abzubringen, im Falle seines Erfolges entzieht er sich ja praktisch der Strafe, ist dennoch die Straffreiheit der Gehilfen unter diesen Gesichtspunkten nicht nachvollziehbar. Auf der kriminalpolitischen Diskussionsebene kann eine rein normlogische Begründung nicht tragen, da dem Gesetzgeber ja die Möglichkeit gegeben wäre, einen Sondertatbestand der Suizidbeihilfe einzuführen. Die Möglichkeit der fehlenden Freiverantwortlichkeit im Rahmen des Suizids war dem Gesetzgeber durchaus bewusst. Bei der Entscheidung der großen Strafrechtskommission 1958 haben allein pragmatische Gründe dazu geführt, eine Verleitung zum Suizid nicht unter Strafe zu stellen.151 An der eigentlichen Strafwürdigkeit bestand demgegenüber kein Zweifel. Vielmehr hat man in Hinblick auf Beweisschwierigkeiten und der unangenehmen Folge, eventuell das Privat- und Familienleben des Suizidenten durchforschen zu müssen, davon abgesehen.152 Nun mag es ja, wie Roxin ausführte, Prärogative des Gesetzgebers sein, die eigenhändige Tatausführung als entscheidendes Kriterium zur Feststellung einer fehlenden Freiverantwortlichkeit zu küren,153 in kriminalpolitischer Hinsicht überzeugt dieser Ansatz jedoch nicht. Die Gefahr des Missbrauchs könnte sich beim Suizid und der Beihilfe hieran als geringer darstellen, weil der Suizident die letzte Tatausführung in Händen hält. Jedoch kann auch der Suizid durch andere erzwungen worden sein. Auch die Tarnung einer Tötung als Suizid ist denkbar. Allein der Umstand, dass die letzte Tatausführung durch den Suizidenten durchgeführt wird, mindert das Missbrauchsrisiko nur minimal. Die Straffreiheit des Suizids und der Beihilfe an selbigem ist nicht plausibel zu erklären. Die Fixierung auf die Eigenhändigkeit des Suizids überzeugt in Bezug auf Schutz vor nicht freiverantwortlichen Tötungen oder Missbrauch nicht. Der Schutz des Lebens Dritter durch Bewahrung des Tabus der Fremdtötung ist ohnehin nicht plausibel.
F. Wertungswidersprüche bei der „Einwilligung“ in fahrlässige Tötung? In der Strafrechtswissenschaft wird das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit im Rahmen der fahrlässigen Tötung angewendet, wenn das „Opfer“ sich bewusst in Lebensgefahr begeben hat, etwa durch Zusteigen bei einem Fahruntüchtigen. Teilweise wird ein sachlich vernünftiger Grund für die Risikoeinwil151 152 153
Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 60. Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 60. Roxin, Strafrecht AT 1, § 2 C Rn. 33.
G. Gefahren der Fehlentwicklung nach geltendem Recht
231
ligung zur Anwendung dieses Prinzips vorausgesetzt. Zum Teil wird aber generell eine Verantwortlichkeit des Täters abgelehnt, wenn er die freiverantwortliche Selbstgefährdung oder -verletzung nur gefördert, veranlasst oder ermöglicht hat.154 Göbel sieht hierin einen Widerspruch zur Behandlung des § 216 StGB. Insbesondere den Tabuisierungsgedanken kann er nicht mit dieser Wertung in Einklang bringen.155 Dabei verkennt er aber, dass es bei der Tötung auf Verlangen um eine gezielte, daher auch vorsätzliche Tötung geht. Das Tabu kann daher auf die gezielte Tötung fremden Lebens gerichtet sein. Tatsächlich tangiert eine unabsichtliche Tötung nicht die Wertvorstellungen der Menschen in Hinblick auf das Leben. Es wird im Gegensatz zu einer Freigabe für aktive Tötungen nicht im Mindesten herabgewürdigt. Auch unter dem Gesichtspunkt des effektiven Schutzes des menschlichen Lebens vor Gefahren ergibt sich kein Widerspruch. In vielen Bereichen wird dem Einzelnen das Eingehen von Risiken durch nicht strafrechtliche Normen verboten. Diese Maßnahmen genügen in der Regel, um ihn auf Gefahren aufmerksam zu machen. Das Risiko kann somit von ihm kompensiert werden. Der fahrlässige Täter wird im Unterschied zur Tötung auf Verlangen ohnehin versuchen, eine Rechtsgutsverletzung zu verhindern. Dadurch, dass ein sachlich vernünftiger Grund für die Anwendung des Prinzips der Eigenverantwortlichkeit verlangt wird, zeigt sich das auch in diesem Fall bestehende grundsätzliche Misstrauen in die Freiverantwortlichkeit des „Opfers“. Es geht auch hier um die Nachvollziehbarkeit des Wunsches, welcher ein Anhaltspunkt dafür sein kann, ob der „Risikoeinwilligende“ sich der Gefahr bewusst ist und Autonomiekompetenz besitzt. Es zeigt sich also hier kein Wertungswiderspruch zur Behandlung der Tötung auf Verlangen, sondern vielmehr eine Bestätigung der Wertung.
G. Gefahren der Fehlentwicklung nach geltendem Recht Oben wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die befürchteten Gefahren von Missbräuchen und Fehlentwicklungen bereits nach geltendem Recht bestehen. Zwar können die bereits bestehenden Risikoquellen nicht die Schaffung weiterer rechtfertigen, allerdings verliert die Argumentation gegen eine Eröffnung weiterer Risikoquellen an Gewicht, wenn man sich klarmacht, welche Gefahren bereits bestehen. Die Straffreiheit des Suizids und der Beihilfe an selbigem eröffnen mannigfaltige Risiken. Angehörige können bis zur Grenze der Anstiftung Einfluss auf
154
BGH, NStZ 1984, S. 410. Göbel, Die Einwilligung im Strafrecht als Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts, S. 38 f. 155
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5. Kap.: Kriminalpolitische Erwägungen
Menschen nehmen und sie mit Mitteln zum Suizid versorgen.156 Natürlich können auch Morde als Suizid getarnt werden. Im Bereich der zulässigen Formen der Sterbehilfe können angebliche Behandlungsvetos vorgeschoben werden. Tötungen könnten als „Sterbenlassen“ ausgegeben werden. Daneben birgt vor allem die Zulässigkeit der indirekten und passiven Sterbehilfe aufgrund von mutmaßlichen Einwilligungen die Gefahr, dass nicht der wirkliche Wille des Patienten, sondern ganz andere Beweggründe entscheiden. All diese Gefahren bestehen bereits nach heute herrschender Rechtsauffassung.157 Insofern ist es nicht einleuchtend, aufgrund ähnlicher Gefahren eine Tötung auf Verlangen kategorisch abzulehnen.158 Gerade in Bezug auf Sterbehilfe im Fall der mutmaßlichen Einwilligung kann es nützlich sein, durch die Straffreiheit der Tötung auf Verlangen die Bedeutung des Willens des Individuums in den Vordergrund zu rücken und nicht durch eine objektive Einwilligungsschranke in Bezug auf das eigene Leben den Eindruck zu vermitteln, dass es auf objektive und nicht auf subjektiv-individuelle Gesichtspunkte ankäme, wenn es um die Frage des individuellen Lebens geht.
H. Widersprüche mit der bestehenden Rechtsordnung Aus dem Vergleich des § 216 StGB mit anderen Vorschriften ergeben sich etliche Widersprüche. Gerade die Behandlung der Sterbehilfe ist im Lichte des § 216 StGB äußerst widersprüchlich.159 Während im Fall der ärztlichen Behandlung das Selbstbestimmungsrecht des Patienten auch die Verweigerung einer Einwilligung in eine lebensrettende Behandlung untersagt, erklärt § 216 StGB die Einwilligung in eine Verletzung des Rechtsguts Leben für unwirksam. Sogar indirekte aktive Sterbehilfe wird mittels dogmatischer Konstruktionen für zulässig erachtet. Nach herrschender Meinung kann eine indirekte Sterbehilfe nach § 34 StGB gerechtfertigt sein, während für die direkte Sterbehilfe in § 216 StGB eine Notstandssperre enthalten sein soll. Die Straffreiheit des Suizids und der Beihilfe am Suizid stellt ebenfalls ein Widerspruch zur Strafbarkeit des § 216 StGB dar, der sich als mittelbarer Suizid bezeichnen ließe. Mit dem § 216 StGB konform scheint nur § 228 StGB zu gehen, wenn er eine Einwilligungsschranke für Körperverletzungen, die eine Lebensgefahr nach sich ziehen, aufstellt. 156
Vgl. Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 20 f. Vgl. Birnbacher, Sterbehilfe – eine philosophische Sicht, in: Thiele (Hrsg.), Aktive und passive Sterbehilfe, S. 38; Herzberg, Sterbehilfe als gerechtfertigte Tötung im Notstand?, NJW 1996, S. 3045. 158 Wolfslast, Gedanken zur Sterbehilfe, in: Kreuzer/Jäger/Otto/Quensel/Rolinski (Hrsg.), Fühlende und denkende Kriminalwissenschaften, S. 492. 159 Wolfslast, Gedanken zur Sterbehilfe, in: Kreuzer/Jäger/Otto/Quensel/Rolinski (Hrsg.), Fühlende und denkende Kriminalwissenschaften, S. 493. 157
Fazit Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass die ursprüngliche Begründung für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen, der Widerspruch gegen die sittlich-moralischen Wertvorstellungen der Gesellschaft, nicht mehr tragfähig ist. Eine nachträgliche Rationalisierung der Vorschrift ist aber grundsätzlich möglich und kann auch vom Gesetzgeber vorgenommen werden, so dass eine Reform des § 216 StGB nicht notwendig wäre. Wenn eine Vorschrift sich als sinnvoll erweist, muss sie nicht aufgehoben werden, nur weil der ursprüngliche Zweck nicht mehr erfüllt wird. Heute kann der Zweck des § 216 StGB im Schutz des Lebens Dritter, also nicht der in § 216 StGB erwähnten, ihre Tötung ernstlich verlangenden Sterbewilligen gesehen werden. Eine Freigabe der Tötung auf Verlangen birgt die Gefahr, dass Menschen getötet werden, die ihren Tod gerade nicht ernstlich verlangten. Der § 216 StGB ist demnach ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Durch die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen wird verhindert, dass Menschen getötet werden, die nur scheinbar ernstlich ihre Tötung verlangten. Die Ernstlichkeit eines Todeswunsches ist sehr schwer feststellbar und die Folgen einer fehlerhaften Beurteilung wären irreversibel und schwerwiegend. Weniger plausibel, aber auch nicht völlig von der Hand zu weisen, ist die Annahme, dass die Erhaltung des Tabus der Fremdtötung einen Anstieg der Tötungsrate in der Gesellschaft verhindern würde, der im Fall einer Freigabe der Tötung auf Verlangen bevorstünde. Dem Gesetzgeber ist aus Gründen der Gewaltenteilung eine Einschätzungsprärogative zuzugestehen. Er kann sich dafür entscheiden, dass die Gefahren einer Freigabe der Tötung auf Verlangen in Hinblick auf die mögliche Gefahr der Tötung von unfreiwillig ihre Tötung Verlangenden oder des Anstiegs der Tötungsbereitschaft in der Gesellschaft insgesamt gegenüber der Selbstbestimmung des Einzelnen schwerer wiegen. Justitiabel ist die Entscheidung des Gesetzgebers, den § 216 StGB beizubehalten, daher nicht. Seine Erwägungen sind nicht evident falsch und damit von seinem Entscheidungsspielraum gedeckt. In kriminalpolitischer Hinsicht ergeben sich aber schwere Bedenken gegen § 216 StGB. Der Vergleich mit anderen Vorschriften zeigt, dass § 216 StGB die Selbstbestimmung des Einzelnen ungewöhnlich stark einschränkt. Auch die Gefahren der Fehlentwicklung und des Missbrauchs relativieren sich, wenn man die bereits bestehenden Gefahrenquellen betrachtet.
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Fazit
Vor allem ist der völlige Ausschluss der Möglichkeit der Tötung auf Verlangen zu pauschal. Durch die Gleichbehandlung von Fällen schwerster Krankheit mit infauster Prognose und Unfähigkeit, selbst dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, und Fällen, in denen ein nicht nachvollziehbarer Todeswunsch geäußert wird, wird Ungleiches zu Unrecht gleich behandelt. In ersterem Fall ist ein Todeswunsch aufgrund der aussichtslosen Lage des Patienten leicht nachvollziehbar und wird auch als freiverantwortlich zu werten sein, wenn keine gegenteiligen Anhaltspunkte vorliegen. Im Fall eines scheinbar unmotivierten Todeswunsches drängt sich dagegen der Verdacht auf, dass dieser nicht freiverantwortlich zustande kam. Wie oben ausgeführt ist im Falle der Sterbehilfe bei Schwerkranken mit infauster Prognose die Gefahr, dass häufig eine Freiverantwortlichkeit nicht vorlag, derart unplausibel, dass eine Strafbarkeit des Täters und eine Beschränkung der Freiheit des Opfers nicht in Frage kommen. Missbrauchsgefahren und Gefahren von Fehlentwicklungen können durch vorgeschriebene Verfahren, in denen die Freiverantwortlichkeit des Sterbewilligen festgestellt werden kann, begegnet werden. Auch Risiken einer Enttabuisierung des menschlichen Lebens erscheinen nach neueren Umfragen unplausibel, da dieses Tabu in Hinblick auf die aktive Sterbehilfe bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht (mehr) besteht. Insofern haben sich die Grundlagen für die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen derartig geändert, dass ein Tätigwerden des Gesetzgebers angezeigt wäre. Eine Strafrechtsnorm, die grundrechtsverträglicher ausgestaltet werden könnte, mangels „akutem Handlungsbedarfs“, wie dies in Bezug auf die Sterbehilfe häufig reklamiert wird, nicht zu ändern, ist mit dem Gebot des effektiven Grundrechtsschutzes nicht vereinbar.1 Auch wenn in Folge der Notwendigkeit, den gesetzgeberischen Entscheidungsprozess von einer verfassungsgerichtlichen Beeinflussung weitgehend frei zu halten, die Vorschrift des § 216 StGB nicht als verfassungswidrig im justitiablen Sinn angesehen werden kann, sollte ein verfassungstreuer Gesetzgeber eine Reform des § 216 StGB vornehmen.
1
Vgl. Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, S. 200 ff.
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Stichwortverzeichnis Abgrenzung zwischen mittelbarer Täterschaft und Anstiftung 113 absoluter Zwang 112 abstrakte Gefährdungsdelikte 126, 127, 129, 130, 132–134, 136–139, 141–143, 159, 183, 187 – abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte 142 – Delikte mit vergeistigtem Zwischenrechtsgut 142 – eigentliche abstrakte Gefährdungsdelikte 142 – Eignungsdelikte 142 – fahrlässige Versuchsdelikte 141 – klassische abstrakte Gefährdungsdelikte 141 – konkrete Gefährlichkeitsdelikte 143 – Kumulationsdelikte 143, 144, 148 – Massenhandlungen 142 – uneigentliche abstrakte Gefährdungsdelikte 141 – Vorbereitungsdelikte 143 Abwägung am Maßstab der Vernünftigkeit 117 Abwehr tendenzieller Selbstaufgabe der Gesellschaft 148 allgemeine Handlungsfreiheit 22–24, 29, 30, 37, 60 allgemeine Persönlichkeitsrecht 23, 25, 38, 42, 184 Argument der Ebenbildlichkeit 73 Argument der schiefen Ebene Siehe Dammbruchargument ärztliche Heilbehandlung 30, 198 Autonomie Siehe Selbstbestimmung Autonomiekompetenz 101, 115, 118, 123, 190, 203, 231
Autonomieprinzip 14, 19, 21, 34, 37, 86, 89, 90, 97 Dammbruchargument 167, 192 Eingriff in die körperliche Unversehrtheit 198 Einschätzungsprärogative 46, 138, 184– 186, 195, 233 Einwilligung 13, 26, 35, 36, 76, 77, 104–113, 116, 118, 119, 121, 123, 125, 152–154, 157, 159, 169, 170, 180, 187, 190, 191, 193, 195, 198, 200, 207, 212, 219, 220, 224, 229, 230, 232 Einwilligungslehre 104, 105, 111 Einwilligungsschranke 26, 27, 121, 212, 219, 232 Ethischer Kognitivismus 62 Fetaltherapie 200 Freiheit in der (Rest-)Freiheit 113 Freiheit von Willensmängeln 106 Freiheit zum Untergang 90 Freiverantwortlichkeit 98, 101, 105, 109, 111, 114–121, 123, 124, 126, 145, 154–158, 181, 189, 190, 195, 202, 206, 209, 229–231, 234 Freiverantwortlichkeit des Todeswunsches 98, 154, 189 Fremdbestimmung 19, 90, 95, 155 Friedenssicherung 152 Gebot des effektiven Grundrechtsschutzes 185, 234 Gemeinwohlinteresse 41, 49, 50, 87, 187 Geschenkargument 71 Gesellschaftsvertrag 21
254
Stichwortverzeichnis
Gesetzeszweck 47, 58, 66, 67, 80, 166, 173 grundrechtliche Schutzpflicht 145 Grundrechtseingriff 18, 26, 41, 44, 63, 105 Grundrechtsfürsorge 145 Grundrechtsverzicht 35, 36
negative Ausübungsfreiheit 35 negative Grundrechtsbetätigung 30 Nichtausübung eines Grundrechts 35
Harm Principle 64–67, 152, 174 Harm to Others 173 Heiligkeit des Lebens 70, 73, 74 Heteronomie Siehe Fremdbestimmung
Palliativmedizin 109, 122, 165 Partikularinteresse 49 Paternalismus 86, 96–101, 103, 112, 116, 117, 123, 124, 154, 156, 179, 189, 195, 196, 202, 203, 206, 208 – harter Paternalismus 97 – interessenorientierter Paternalismus 98 – weicher Paternalismus 87, 96, 98, 100, 206, 208 Persönlichkeitskerntheorie 22 Persönlichkeitstheorie 22 Phänomen des verhüllten Todes 120 präsuizidales Syndrom 118, 119 Prinzip der Eigenverantwortlichkeit 143, 159, 189, 230
Individualinteresse 49, 67 innere Rechtspflicht 76 Interessen der Allgemeinheit 125, 145, 180
44, 60,
Koexistenzordnung 40 Kollision von Grundrechten 89 kompulsiver Zwang 112 konkrete Gefährdungsdelikte 127 Konsensdefinition 91 Konstitutionalismus 44 legal Paternalism 65 Legalismus 44 Lehre der objektiven Zurechnung 139 Lehre vom göttlichen Heilsplan 73 Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten 81, 88 Lehre von den objektiven Schutzpflichten 84 Leviathan 40 Menschenbild des Grundgesetzes 22, 23, 40, 54, 86, 149 Menschenwürde 20, 21, 32, 34, 42, 44, 49, 62, 63, 78, 82, 83, 85, 91–97, 103, 125, 145, 146, 174, 175, 184, 202, 209, 217 Menschenwürdegarantie 21, 89, 92, 94 Missbrauchsargument 161, 162 Motivirrtum 109, 189, 195
Objektformel 92, 93 Offence Principle 65 Offence to Others 64, 173
Recht auf den eigenen Tod 28, 29, 31, 39 Rechtsgutsbegriff 16, 17, 52–55, 57, 58, 65, 67 rechtsgutsbezogene Irrtümer 108 Rechtsgutsbezogenheit des Willensmangels 109 Rechtsgutslehre 16, 17, 52–54, 61, 65 Rechtsgutstheorie 16, 45, 55, 57, 60, 61, 64, 66, 174 Rechtsgutsvertauschung 110 Rechtsordnung als Friedensordnung 153 Rechtspflicht gegenüber sich selbst 76 Rechtspflichten 76, 77 Rechtsstaatsprinzip 41 religiöse Moral 62 Sanktionsvorschrift 18, 19, 24, 27, 42, 49 Schädigung des Rechtsfriedens 153 Scheinrechtsgüter 67, 143 Schranke des Sittengesetzes 61–63
Stichwortverzeichnis Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG 43, 63 Schutz der Sittlichkeit 152 Schutz des Lebens Dritter 153, 154, 230, 233 Schutz ungeborenen Lebens 82 Schutz von Gefühlen durch Strafrechtsnormen 175 Schutz vor sich selbst 202 Schutzhelmtragepflicht für Motorradfahrer 149 Schutzpflicht des Staates 31, 36, 81–85, 87, 88, 96, 97, 99, 101, 113, 115, 125, 140, 182, 187, 202, 204, 205 Selbstbestimmung 19, 22, 26, 32, 34, 37–40, 42, 44, 50, 75, 85, 86, 93, 99, 101, 103, 109, 111, 114, 115, 121, 122, 148, 157, 158, 166, 172, 177, 191–193, 198, 199, 202–205, 207, 209, 233 Selbstbestimmungsrecht 34, 37, 39, 88, 89, 95, 172, 178, 198, 202–204, 210, 223, 225, 232 Selbstgefährdung 37, 86, 99, 100, 145, 149, 209, 231 Selbstmord Siehe Suizid Selbsttötung 31, 38, 39, 78, 147, 225 Selbstverantwortung 75, 103, 109, 112, 115, 158, 199 Sittengesetz 41, 62, 63, 74 Sittenwidrigkeit 206, 207 Souveränitätsargument 71 Sozialstaatsprinzip 149, 150 status negativus 30, 90 Sterbehilfe 13, 14, 27, 32, 70, 73, 109, 157, 164, 165, 167, 169–172, 176– 178, 188, 189, 192–194, 198, 203, 204, 210–212, 214, 215, 218–225, 232, 234, 237, 248 – aktive direkte Sterbehilfe 211, 212 – aktive Sterbehilfe 165, 166, 211, 224 – direkte Sterbehilfe 211, 224 – indirekte Sterbehilfe 211, 217–219, 232 – passive Sterbehilfe 171, 211, 213, 216 – reine Sterbehilfe 221
255
Suizid 13, 32, 76, 77, 118, 147, 155, 156, 158, 171, 178, 179, 189–192, 205, 206, 213, 224–230, 232 Suizidversuch als Unglücksfall 206 Tabu der Unantastbarkeit menschlichen Lebens 165 Tabuargument 75, 170, 172 Tatbestandstheorie 23, 24 Theorie der abstrakten Gefahr 130 Theorie der generellen Gefährlichkeit 129, 130 Todeswunsch 116–119, 122, 145, 154– 159, 161, 162, 188, 189, 191, 193, 194, 205, 213, 229, 234 Tötung auf Verlangen 13, 16, 32, 48, 53, 69, 70, 73, 75, 79, 80, 85, 93, 100, 104, 120–122, 125, 126, 128, 129, 133, 135, 144, 145, 147, 148, 150, 153–156, 158, 161–164, 166–169, 173–179, 181, 182, 186–192, 194, 195, 208, 212, 218, 220, 224–226, 228, 229, 231–234 Tugendpflichten 76, 77 Übermaßverbot 41, 43, 187 Ultima-ratio-Gedanke 27 Verbot der Lebendspende von Organen 208 vergeistigte Zwischenrechtsgüter 65 Verhaltensvorschrift 18, 19, 24, 25, 27, 41, 42, 49, 50, 69 Verhältnismäßigkeitsgebot 41, 52, 68 Verzerrung des Wertesystems 104 vitale Basis der Menschenwürde 91 Vorverlagerung des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes 133 wahre Moral 62, 70 Wertrangordnung 19, 102, 104, 122, 188 Zwangsbehandlung 199, 201, 202