Die Verfassung des Grundgesetzes: Rahmen und Werteordnung im Lichte der Gefährdungen durch Macht und Moral [1 ed.] 9783428539239, 9783428139231

Mit der Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat das deutsche Recht einen ersten Höhepunkt der Konstitutional

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German Pages 286 Year 2013

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Die Verfassung des Grundgesetzes: Rahmen und Werteordnung im Lichte der Gefährdungen durch Macht und Moral [1 ed.]
 9783428539239, 9783428139231

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1239

Die Verfassung des Grundgesetzes Rahmen- und Werteordnung im Lichte der Gefährdungen durch Macht und Moral

Von Birgit Reese

Duncker & Humblot · Berlin

BIRGIT REESE

Die Verfassung des Grundgesetzes

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1239

Die Verfassung des Grundgesetzes Rahmen- und Werteordnung im Lichte der Gefährdungen durch Macht und Moral

Von Birgit Reese

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Rostock hat diese Arbeit im Jahre 2011 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-13923-1 (Print) ISBN 978-3-428-53923-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-83923-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Vor zwanzig Jahren hat Horst Dreier prognostiziert, dass es in absehbarer Zeit ein Zurück hinter den erreichten Grundrechtsstandard nicht geben wird. Grund dafür sei die allgemeine, nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland zu konstatierende Bedeutungssteigerung der Verfassungsgerichtsbarkeit sowie die breite Akzeptanz, die die Idee objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte in Rechtsprechung und Lehre gefunden habe.1 Gerade die Bedeutungssteigerung der Verfassungsgerichtsbarkeit und die Multifunktionalität der Grundrechte aber waren und sind heftiger Kritik ausgesetzt. Unabhängig davon, ob man die Prognose Dreiers teilt oder ob man die mit ihr verbundene Bekräftigung objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte überhaupt für wünschenswert hält, liegt eine erhebliche Gefahr für den Grundrechtsschutz jedenfalls darin, dass man die Sensibilität für Grundrechtsgefährdungen verliert: sei es, dass man den Grundrechtsstandard als Gegebenes und nicht als Aufgegebenes betrachtet, sei es, dass die Verfassung und die Grundrechte im Übereifer überinterpretiert oder dass sie aus Überdruss vernachlässigt werden. Dass das Verfassungsund Grundrechtsverständnis im juristischen Alltag nicht stets reflektiert wird oder werden kann, entlastet die Rechtswissenschaft nicht von der Aufgabe, das der Rechtsanwendung (unbewusst) zugrundeliegende Vorverständnis über Bedeutung und Reichweite der Verfassung und der Grundrechte aufzudecken und kritisch zu hinterfragen. Einen Anknüpfungspunkt für diese Diskussion bilden die Vorstellungen von der Verfassung als Werte- und Rahmenordnung, denen sich die vorliegende Untersuchung versucht hat anzunähern. Für die Unterstützung dieses Vorhabens möchte ich ganz besonders meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Hans-Joachim Schütz danken. Er hat diese Arbeit im besten Sinne betreut, und zwar durch wertvolle inhaltliche Anregungen und Hinweise, aber auch durch seinen mitunter energischen Widerspruch, der die gedankliche Arbeit letztlich am meisten herausgefordert und befruchtet hat. Zu großem Dank bin ich ferner Herrn Professor Dr. Wolfgang März für die außerordentlich zügige Erstellung des Zweitgutachtens sowie für die im Rahmen der Begutachtung und der Disputation gemachten überaus hilfreichen Anmerkungen verpflichtet. Fachlich und in allen sonstigen Belangen unterstützt haben mich stets meine lieben Freunde und Kollegen am Lehrstuhl, Diana Boldt, Arkadiusz Mochtak, Kay-Uwe Neumann und Niklas Schreiner, denen ich für ihre große Hilfsbereitschaft besonderen Dank schulde. Zudem bedanke ich mich für die großzügigen finanziellen Förderungen. Wesentlich unterstützt wurde die Erstellung dieser Arbeit durch ein Stipendium, das mir das Land Mecklenburg-Vorpommern im Rahmen der Landes1

H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 63.

6

Vorwort

graduiertenförderung gewährt hat. Darüber hinaus hat das Bundesministerium des Innern durch die Gewährung eines erheblichen Druckkostenzuschusses die Veröffentlichung dieser Arbeit erleichtert. Zuletzt, aber am herzlichsten danke ich meinem Ehemann Bernd Hüpers. Warnemünde, im Februar 2013

Birgit Reese

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 A. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 B. Herangehensweise und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Erster Teil Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

20

A. Grundzüge der Werteordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 I. Die Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 II. Lüth – 1958 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 III. Grundrechte als objektiv-rechtliche Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1. Ausstrahlungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2. Grundrechte als Teilhabe- und Leistungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3. Grundrechte als Organisationsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4. Grundrechte als Verfahrensrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 5. Grundrechte als Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 B. Probleme der Werteordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 I. Kompetenzabgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1. Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 a) Gesetzeszwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 b) Gesetzgebungsaufträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Das BVerfG als Superrevisionsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 II. Strukturierung der Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 1. Wertrangordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

8

Inhaltsverzeichnis 2. Vorgang der Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 III. Grenzen der Werteordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Abwägungsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2. Katalog der Verfassungswerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3. Rückgriff auf allgemeine Gerechtigkeitserwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Zweiter Teil Die Verfassung als Werteordnung am Beispiel Robert Alexys Prinzipientheorie

78

A. Das Werteordnungsdenken als Prinzipiendenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 I. Die Prinzipientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 1. Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2. Regel- und Prinzipienkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3. Prima-facie-Charakter von Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4. Regel-Prinzipien-Modell der Grundrechtsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 II. Verfassungstheoretischer Erklärungswert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1. Die Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG im Lichte der Prinzipientheorie 83 a) Optimierung und Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 b) Optimierung und Grundrechte als objektiv-rechtliche Normen . . . . . . . . . . . 85 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2. Weite grundrechtliche Schutzbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 a) Weites und enges Schutzbereichsverständnis des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Schutzbereiche und Prinzipientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3. Zu den Grenzen der Prinzipientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 a) Der strikte Gegensatz zwischen Regeln und Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . 93 b) Der allgemeine Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 c) Spielraum des Gesetzgebers als formelles Prinzip? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4. Regeln und Prinzipien im Rechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) Konstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Inhaltsverzeichnis

9

b) Denken von den (Verfassungs-)Prinzipien her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 B. Das Prinzipiendenken als Denken von der Moral her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 I. Zur Verbindung von Prinzipien- und Rechtsbegriffsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . 111 1. Dworkin und Esser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2. Die Prinzipientheorie als eine „von unhaltbaren Annahmen gereinigte Werttheorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 II. Offenheits- oder Geschlossenheitsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 1. Zur Rationalität von Abwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 2. Zur Verbindung von Prinzipien- und Diskurstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3. Spielraumdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 III. Grenzen des Prinzipiendenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1. Das Prinzipienargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 a) Strukturtheoretische Version des Prinzipienarguments . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 b) Geltungstheoretische Version des Prinzipienarguments . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Das Unrechtsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 a) Relativierung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes . . . . . . . . . . . . . . 131 b) Relativierung weiterer Verfassungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Dritter Teil Die Verfassung als Rahmenordnung am Beispiel Ernst-Wolfgang Böckenfördes Rahmenordnungstheorie

139

A. Annäherungen an die Rahmenordnungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 I. Die Methodenkritik von Forsthoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1. „Die Umbildung des Verfassungsgesetzes“ – 1959 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2. Der entideologisierte Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 II. Die Methodenkritik von Böckenförde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. „Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation“ – 1974 . . . . . . . . . . . . . . . 148 2. „Die Methoden der Verfassungsinterpretation“ – 1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

10

Inhaltsverzeichnis 3. „Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts“ – 1988/1990 . . . . . . . . . . . . . . . . 156 4. „Grundrechte als Grundsatznormen“ – 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 5. Zwischenergebnis und weiterführende Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

B. Der konzeptionelle Gehalt der Rahmenordnungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 I. Grundrechte als Abwehrrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 II. „Polizeirechtliche Verhältnismäßigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 III. Die Lehre vom Gewährleistungsinhalt der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 1. Problemanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2. Schutzbereich und Gewährleistungsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3. Ermittlung des Gewährleistungsinhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a) Historisch-genetische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 b) Gewährleistungsinhalt der Forschungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 c) Gewährleistungsinhalt der Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 d) Gewährleistungsinhalt der Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 e) Methodisch gesicherte Erkenntnis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 4. Elementare Nichtstörungsschranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 C. Das Rahmenordnungsdenken als Regeldenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 I. Verfassungsnormen als „Lapidarformeln“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 II. Verfassungstheoretischer Erklärungswert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 1. Schutz der rechtsstaatlichen Freiheitsgewähr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 a) Inhaltsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 b) Verlagerungsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 c) Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 2. Schutz des parlamentarischen Gesetzes und des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . 200 a) „Legislatoris interpositio“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 b) Entschärfung des Kompetenzkonflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

Inhaltsverzeichnis

11

III. Regeln und Prinzipien im Rechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 1. Legalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 2. Denken von den Regeln her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 IV. Denken von der Demokratie her? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 D. Das Regeldenken als Denken vom Staat her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 I. Das „Denken vom Staat her“ in der Analyse von F. Günther . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 II. Staat und Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 III. Der Parlamentarische Gesetzgebungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 1. Die Staatsarten nach Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 2. Letztentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3. (Relative) Homogenität als Voraussetzung der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . 222 a) „Böckenförde-Dilemma“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 b) Zivilreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 c) „Leitkultur“ und „Ethos der Gesetzlichkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 4. Offenheit des Rechts als Ermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Vierter Teil Rahmenordnung versus Werteordnung

235

A. Argumentationsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 I. Verfassungsmäßige Verfassungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 II. Annäherungen zwischen Rahmen- und Werteordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 B. Denken von der Verfassung her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 I. Rechtsstaat und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 1. Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaat und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . 241 2. Einheit zwischen (materiellem) Rechtsstaat und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . 242

12

Inhaltsverzeichnis II. Gefährdungen durch Macht und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 1. Rechtsstaat und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 2. Demokratie und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 III. Konstruktive Alternative: Zu einem verfassungsimmanenten Werteordnungsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 1. Rationalitätsvorteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 2. Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Einleitung A. Fragestellung Die hier gestellte Frage nach der Verfassung des Grundgesetzes ist eine juristische. Die durch den Doppelsinn von „Verfassung“ implizierte Frage nach dem tatsächlichen Zustand der grundgesetzlichen Verfassung erhält ihren Sinn erst, wenn die Frage nach dem gesollten Zustand beantwortet werden kann. Eine und die hier maßgebliche Frage nach dem Sollen der Verfassung lautet: Soll die Verfassung als Rahmen- oder als Werteordnung verstanden werden? Man könnte sie der Frage nach dem Verfassungsbegriff zuordnen, wenn man die Arbeit am Verfassungsbegriff nicht semantisch, sondern juristisch versteht.1 Die Frage nach der Verfassung als Rahmen- oder Werteordnung ist nicht neu. Die mit den Begriffen der Rahmenordnung und Wert(e)ordnung2 verbundenen Konzepte sind aber keineswegs klar. Sie können Ausdruck gegensätzlicher Auffassungen über die Bedeutung und der normativen Reichweite der Verfassung sein.3 Rahmen- und Werteordnung müssen aber nicht Ausdruck alternativer Auffassungen sein. Man kann die Begriffe auch in einem so allgemeinen Sinn verwenden, dass sie nicht in Widerspruch zueinander geraten, was juristisch allerdings kaum aussagekräftig

1 Zu den Dimensionen der Frage nach dem Verfassungsbegriff grundlegend Schmitt, Verfassungslehre, S. 3 ff. Zum Verfassungsbegriff des Grundgesetzes jüngst Unruh, S. 161 f. 2 Die Begriffe Wertordnung und Werteordnung werden im Folgenden synonym verwendet. Zwar ist in der Literatur, die insofern der Rechtsprechung des BVerfG seit seinem Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198, LS 1) folgt, eine gewisse Präferenz für den Begriff Wertordnung erkennbar (vgl. nur Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz; Rensmann, Wertordnung und Verfassung; anders z. B. Di Fabio, Grundrechte als Werteordnung, S. 1 ff.), allerdings ohne ersichtliche Bedeutungsabgrenzung zum Begriff Werteordnung. Vereinzelt verwendet auch das BVerfG den Begriff der Werteordnung, vgl. BVerfGE 110, 141, 163; E 121, 317, 353. 3 Wahl, Vorrang, S. 507, mit Bezug auf den „unterschiedlichen Denkstil der beiden Konzepte“; Morlok, S. 105 ff., mit Hinweis auf „ein ,Rahmenverständnis‘ und eine im Kontrast hierzu als ,flächendeckend‘ zu bezeichnende Auffassung von der Wirkungsweise der Verfassung“, wobei letztere dazu tendiere, „für sämtliche Bereiche wenigstens verfassungsrechtliche ,Wertentscheidungen‘ oder Leitprinzipien als Maßgabe der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung zu sehen“. Zur Rahmen- und Werteordnung als gegensätzliche Idealtypen moderner Verfassungsstaaten – unabhängig von nationalen Besonderheiten – jüngst Rensmann, S. 243 ff. Die Gegensätzlichkeit zwischen Rahmen- und Werteordnung betont auch Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 75 ff., der der Unterscheidung im Übrigen aber nur einen richtunggebenden Aussagegehalt entnimmt („makrodogmatische Groborientierung“, ebda, S. 104).

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Einleitung

wäre.4 Oder man kann versuchen, die unterschiedlichen Konzepte – gleichsam als Synthese – miteinander in Einklang zu bringen. Letzteres dürfte der kritischen Frage Lerches entgegenkommen: „Stehen wir wirklich nur vor den Alternativen einer umfassend dirigierenden Verfassung und einer solchen als Rahmenordnung?“5 Ziel dieser Untersuchung ist nicht die Aufarbeitung der Begriffsverwendung von Rahmen- und Werteordnung in der Staatsrechtslehre. Nicht die Begriffe der Rahmenund Werteordnung sollen im Vordergrund stehen, sondern eine mit ihnen in Verbindung gebrachte normative Unterscheidung, nämlich diejenige zwischen einem restriktiven (Rahmenordnungs-) Verständnis der Verfassung einerseits und einem extensiven (Werteordnungs-) Verständnis der Verfassung andererseits. Doch ist die so verstandene Frage nach Rahmen- oder Werteordnung überhaupt relevant? Augenscheinlich relevant wird die Frage nach der allgemeinen Bedeutung der Verfassung in juristischen Ausnahmesituationen. So zeigen die Ereignisse des 11. September, wie unerwartete Bedrohungen die Verfassungsbindung in Frage stellen können. Gilt es nun, das „Undenkbare zu denken“?6 Muss wegen eines gesteigerten Sicherheitsbedürfnisses die normative Reichweite der Verfassung begrenzt werden? Oder muss möglicherweise zur Terrorbekämpfung – Stichworte: Folterverbot und Abschuss von Terrorflugzeugen – über eine unbefangenere und umfassendere Art der Güterabwägung nachgedacht werden?7 Eine theoretische Reflexion über Extrem- und Einzelfälle muss allerdings mehr bieten. Ihre Aussagen müssen sich auch im juristischen Alltag bewähren, insbesondere bei der Anwendung des einfachen Rechts.8 4 Kaum weiterführend daher Eichenberger, S. 232: „Die Beziehung von Politik und Verfassung wird neuerdings gerne mit dem Worte gekennzeichnet, dass diese für jene den Rahmen oder die Rahmenordnung abgebe. Bleibt man dem Bilde treu, wird man ihm vor allem entnehmen, dass die Politik über eine freie substantielle Kreationsfläche verfügt, aber durch die Verfassung streng und unentrinnbar eingefasst ist. Die Politik wird daran gehindert zu verfließen und sich ins Unangemessene auszuweiten.“ 5 Lerche, Nachwort, S. 77; siehe auch ders., Optimierungsgebote, S. 203 f. Kritisch insoweit auch H. Dreier, Grundlagen, § 1 Rn. 87, wonach sich die kategoriale Verschiedenheit von Rahmen- und Grundordnung als Chimäre erweise. In Richtung Kompatibilität von Rahmenund Wertordnung Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 14 f.; Ossenbühl, Grundrechtsinterpretation, § 15 Rn. 49; Unruh, S. 414 f.; Möstl, § 17 Rn. 16 ff. 6 Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaats, S. 9: „Im hereinbrechenden Zeitalter des Terrorismus aber gibt es eine moralische Verpflichtung, auch das ,Undenkbare zu denken‘ und das Notwendige mit Deutlichkeit zu sagen.“ 7 Zur Möglichkeit der Rettungsfolter Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 45 zu Art. 1, Stand 2003: „Daraus kann sich im Einzelfall ergeben, dass die Androhung oder Zufügung körperlichen Übels, die sonstige Überwindung willentlicher Steuerung oder die Ausforschung unwillkürlicher Vorgänge wegen der auf Lebensrettung gerichteten Finalität eben nicht den Würdeanspruch verletzen.“ Später aber relativierend, ders., in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 47, 95 zu Art. 1, Stand 2009 m.w.N. zum Diskussionsstand. Zum Abschuss von Terrorflugzeugen BVerfGE 115, 118 (Luftsicherheitsgesetz). 8 Zur Kritik an der Konstitutionalisierung des einfachen Rechts und ihrer Rhetorik („,Kontamination‘ des Verwaltungsrechts […], ,Kolonisierung‘ des Privatrechts […] grund-

B. Herangehensweise und Gang der Untersuchung

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Mit der Prinzipientheorie von Robert Alexy und der Rahmenordnungstheorie von Ernst-Wolfgang Böckenförde liegen zwei Ansätze vor, die gegensätzliche Auffassungen über Bedeutung und normative Reichweite der Verfassung idealtypisch zum Ausdruck bringen.9 Ihr Werte- und Rahmenordnungsverständnis soll die Grundlage bilden, um allgemeine Aussagen über die zugrunde liegenden Denktypen zu treffen und die jeweiligen Vorzüge und Schwächen zu diskutieren. Besonderes Augenmerk wird dabei darauf gerichtet, ob und inwieweit die verfassungstheoretischen Ansätze anfällig sind für außerrechtliche Einflüsse, und zwar durch Macht und Moral, und damit die Normativität der Verfassung gefährden. Die Diskussion der Ansätze von Alexy und Böckenförde soll dazu beitragen, die argumentative Grundlage für die Frage nach dem Verständnis der Verfassung als Rahmen- oder Werteordnung zu erweitern und ggf. über Annäherungen zwischen Rahmen- und Werteordnung nachzudenken.

B. Herangehensweise und Gang der Untersuchung Der Ansatz dieser Untersuchung ist ein verfassungstheoretischer.10 Der Begriff der Verfassungstheorie wird in diesem Zusammenhang mit Böckenförde als eine „systematisch orientierte Auffassung über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Verfassung als solcher und ihrer Teile“ verstanden.11 Im Vordergrund der verfassungstheoretischen Fragestellung soll die rechtstheoretische Perspektive stehen, und zwar verstanden als spezifisch jurechtlichen ,Gleichschaltung‘ des gesamten Gesetzesrechts“) Hermes, S. 122 ff. (m.w.N.); Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Rn. 66 zu Art. 93, spricht von „konstitutioneller ,Sättigung‘ und Absicherung“; von „Sättigungspunkten“ sprechen auch Schuppert/Bumke, S. 63 ff. Etwas vorsichtiger die Einschätzung von Rensmann, S. 203 f., der einerseits auf die vielfach vertretene Auffassung verweist, dass es ein „prinzipielles Zurück“ von der Werteordnungsjudikatur des BVerfG nicht geben werde, andererseits aber auch die Stimmen betont, die für ein „,schlankes‘, liberal-rechtsstaatliches Grundrechts- und Verfassungsverständnis“ eintreten. 9 Die besondere Bedeutung Böckenfördes als Vertreter einer limitierenden Verfassungstheorie hat Manterfeld herausgearbeitet. Nach Manterfeld, S. 17, biete das Werk Böckenfördes die Möglichkeit, „eine limitierende Verfassungstheorie des Grundgesetzes zu rekonstruieren, die in diesem Werk wie in keinem anderen angelegt, aber noch nicht unter diesem Aspekt ausgearbeitet ist“. Zur Gegenüberstellung der idealtypischen Ansätze von Alexy und Böckenförde vgl. auch Kaufmann, S. 161. 10 Umfassend zum Begriff der Verfassungstheorie Jestaedt, Verfassungstheorie; ders., Verfassungstheorie als Disziplin, § 1. 11 Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2098. Gleichsam als „Unterfall“ der Verfassungstheorie kann man die Grundrechtstheorie als eine „systematisch orientierte Auffassung über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Grundrechte“ ansehen, vgl. ders., Grundrechtstheorie, S. 1529; zur Bedeutung einer Grundrechtstheorie Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 74; Mahlmann, S. 13 ff. m.w.N. Zurückhaltend Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 66.

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Einleitung

ristische im Gegensatz zur rechtsphilosophischen oder rechtssoziologischen.12 Darüber hinaus wird ein notwendiger Zusammenhang zwischen Verfassungstheorie und Verfassungsauslegung zugrundegelegt, wonach erstere, also die Gesamtauffassung über die Bedeutung der Verfassung, die Verfassungsauslegung – bewusst oder unbewusst13 – leitet.14 Die Aufgabenstellung ist zunächst insoweit begrenzt, als sie sich auf das Werteund Rahmenordnungsverständnis von Alexy und Böckenförde als Beispiele für eine extensive und eine restriktive Verfassungstheorie konzentriert. Weitere Möglichkeiten für extensive und restriktive Verfassungstheorie bleiben außer Betracht.15 12 Vgl. die Unterscheidung von Rechtstheorie, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie bei R. Dreier, Der Begriff des Rechts, S. 894: „Man kann sagen, dass die Rechtsphilosophie das Recht unter dem Aspekt seiner moralischen Geltung, die Rechtssoziologie das Recht unter dem Aspekt seiner sozialen Geltung und die Rechtstheorie das Recht unter dem Aspekt seiner rechtlichen Geltung untersucht. […] Die Rechtstheorie ist, gemäß ihrem Ursprung und ihrer überwiegenden Tradition […] eine spezifisch juristische Disziplin, der ein spezifisch juristischer Forschungsaspekt zugrundeliegt. Sie ist […] darauf gerichtet, eine juristische Theorie der Grundbegriffe des Rechts […] zu erarbeiten.“ Zu den gleitenden Übergängen zwischen Rechtstheorie und Rechtsphilosophie Morlok, S. 44 ff.; Hoffmann, S. 226 sowie zur Abgrenzung zwischen Verfassungs- und Staatslehre dies., S. 22 ff. 13 Die Fragestellung der Verfassungstheorie zielt damit auf Reflexion und Begründung der verfassungsrechtlichen Vorannahmen. Diese kritische Funktion wird nach Jestaedt nicht schon durch die herkömmliche Verfassungsdogmatik geleistet. Vielmehr weise die Verfassungsdogmatik ein Theoriedefizit auf, da sie weniger wissenschaftlich als mehr praxis- und anwendungsorientiert („Gebrauchsdisziplin“) ausgestaltet sei und als Anleitung für die Praxis diene. Die Verfassungsdogmatik benötige daher die Verfassungstheorie als „Reflexionsdisziplin“, vgl. Jestaedt, Verfassungstheorie, S. 30, 32 ff. Ob man demzufolge Verfassungsdogmatik und Verfassungstheorie disziplinär voneinander trennt – so Jestaedt, Verfassungstheorie, S. 42 ff., 74 ff. – oder letztere als Fragestellung auch der Verfassungsdogmatik ansieht, mag dahinstehen, solange die reflexive und kritische Fragestellung der Verfassungstheorie anerkannt wird. 14 Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2097 f.; ders., Grundrechtstheorie, S. 1529; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 168; Hesse, Grundzüge, Rn. 61 ff. mit Verweis auf Gadamer (Gadamer, S. 250 ff.), Rn. 62: „Der Interpret kann den Inhalt der Norm nicht von einem außerhalb des geschichtlichen Seins liegenden, gleichsam archimendischen Punkt aus erfassen, sondern nur aus der konkreten geschichtlichen Situation heraus, in der er sich befindet, deren Gewordenheit seine Denkinhalte geprägt hat und sein Wissen und seine Vor-Urteile bestimmt. Er versteht den Inhalt der Norm von einem Vor-Verständnis her, das es ihm erst möglich macht, mit gewissen Erwartungen auf die Norm zu sehen, sich einen Sinn des Ganzen vorauszuwerfen und zu einem Vorentwurf zu gelangen, der dann im tieferen Eindringen der Bewährung, Korrektur und Revision bedarf, bis sich als Ergebnis ständiger Annäherung der jeweils revidierten Entwürfe an die ,Sache‘ die Einheit des Sinns eindeutig festlegt.“; Ehmke, Verfassungsinterpretation, S. 70: „Ob man sich nun dessen bewusst ist oder nicht, in allen Interpretationsfragen von einigem Schwierigkeitsgrad wird das Problem durch das bewusste oder unbewusste Vorverständnis, mit dem man an es herantritt, vorentscheiden.“ Siehe auch Wimmer, S. 22 ff.; Hillgruber, § 15 Rn. 5 ff. 15 Zu den Möglichkeiten restriktiver Verfassungstheorie vgl. Manterfeld, Die Grenzen der Verfassung; zur liberalen Grundrechtstheorie, die den Staat als Wohlfahrts- und Interventionsstaat an sich in Frage stellt zugunsten gesellschaftlicher Selbstorganisation („Einschätzungsspielraum der Gesellschaft“, „soziale Epistemologie“) und sich gleichermaßen von

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Darüber hinaus sollen Fragen, die die rechtstheoretische Perspektive überschreiten, nur insoweit erörtert werden, als es der Zusammenhang erfordert. Dies betrifft vor allem allgemeine Fragen nach der philosophischen Begründung der Verfassung und des Rechts, Fragen nach dem Staatsverständnis oder rechtshistorische Überlegungen zu den Ursprüngen des Rahmen- und Werteordnungsverständnisses etwa im Weimarer Methodenstreit und ihren Denkschulen.16 Auch ist hervorzuheben, dass die hier aufgeworfenen Probleme der Verfassungsauslegung von der Vorentscheidung über das Verfassungsverständnis her beleuchtet werden sollen, nicht hingegen über einen explizit methodologischen Ansatz. Um die Frage nach den Gefährdungen der Verfassung durch Macht und Moral stellen zu können, bedarf es der – zumindest vorläufigen – Annahme der Unterscheidbarkeit des Rechts von außerrechtlichen Einflüssen durch Macht und Moral. Diese Unterscheidbarkeit muss keine strikte sein. D.h. das Recht kann auch unter Zugrundelegung eines positivistischen Rechtsbegriffs deckungsgleich sein mit moralischen Normen und die Ausübung faktischer staatlicher Macht kann Ausdruck von rechtlichen Normen sein. Eine Gefährdung der Normativität der Verfassung kommt aber in Betracht, wenn das Verhältnis zwischen Recht und Moral zugunsten eines Vorrangs der Moral oder das Verhältnis zwischen Macht und Recht (Sein und Sollen) zugunsten der faktischen Macht aufgelöst wird. Für die vorliegende Fragestellung soll es darauf ankommen, ob moralische Normen auch außerhalb ihrer Positivierung je nach Verfassungsverständnis auf das Recht normativ wirken sollen. Eine ähnliche Frage stellt sich für die rechtliche Einhegung staatlicher Macht. Soll die Ausübung staatlicher Macht allein auf dem Recht beruhen oder fördert das eine oder andere Verfassungsverständnis den Einfluss rechtlich möglichst ungebundener staatlicher Macht? Soll also die Zurückdrängung verfassungsrechtlicher Bindungen Räume schaffen für überpositive moralische Argumente? Oder dient die Begrenzung verfassungsrechtlicher Bindungen dazu, den Staat als faktische Machteinheit zur Geltung zu bringen, insbesondere in Form eines möglichst freien (letztentscheidenden) Gesetzgebers?17 Und wie beeinflussen die jeweiligen ArgumentationsRahmen- und Werteordnung abgrenzt K.-H. Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 78 ff. Zur Theorie vom Gewährleistungsstaat, die durch die Betonung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte neben der Eingriffsdogmatik vor allem zur Ausgestaltungsdogmatik der Grundrechte führt, vgl. Hoffmann-Riem, Gewährleistungsgehalte, S. 57 ff. Kritisch zur „gewährleistungsstaatlichen Grundrechtstheorie“ Volkmann, S. 264 f.; Martins, S. 461 ff. 16 Zur Entwicklung und Bedeutung der Schmitt- und Smend-Schule siehe F. Günther, Denken vom Staat her. 17 Wollte man primär die Frage nach der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers einerseits und nach der Verfassungsbindung andererseits behandeln, könnte man anstelle des Begriffs der (staatlichen) Macht auch auf den Begriff der Politik abstellen. Bei der „normalen“ Rechtsanwendung durch die Verwaltung oder durch die Fachgerichtsbarkeit eignet sich der Begriff Politik als Gegenbegriff zur Verfassungsbindung jedoch nicht. Insofern stellt sich vielmehr die Frage nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Entscheidung oder eben nach der konkreten Entscheidungsmacht.

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Einleitung

strukturen die Rationalität juristischer Entscheidungen, erhöhen oder verringern sie deren Rationalität? Die Frage nach den Verfassungsgefährdungen durch (staatliche) Macht einerseits und durch Moral anderseits setzt weiterhin die – wiederum zumindest vorläufige – Unterscheidbarkeit zwischen machtbezogenen und moralischen Einflüssen voraus. Entscheidend sind insofern die jeweils konkret herangezogenen Argumentationsstrukturen, mit denen die Grenzen verfassungsrechtlicher Bindung begründet werden. Wird also zugunsten der Geltung einer überpositiven Moral oder zugunsten des faktischen (und letztentscheidenden) Staates argumentiert? Aber auch die hier zugrundegelegte Unterscheidbarkeit zwischen Einflüssen durch Macht und Moral kann nach Überprüfung der Argumentationsstrukturen ihre Überzeugungskraft einbüßen: Möglicherweise kann dann die Berufung auf eine überpositive Moral ebenso als bloße Entfaltung einer rechtlich ungebundenen Entscheidungsmacht gedeutet werden, so wie umgekehrt die Berufung auf rechtlich ungebundenes Ermessen die Möglichkeit eröffnen mag, überpositive moralische Überzeugungen in die rechtliche Entscheidung einfließen zu lassen. Wer also Moral sagt, will vielleicht gar keine normative Bindung, sondern freie Entscheidungskompetenz und wer sich auf freie Entscheidungskompetenz beruft, will vielleicht keine bloße staatliche Machtentfaltung, sondern orientiert sich an gesellschaftlicher Sittlichkeit. Dies mögliche Ergebnis mindert den heuristischen Wert der Unterscheidung zwischen moralischen und machtbezogenen Verfassungsgefährdungen jedoch nicht. Die Arbeit ist in vier Teile gegliedert. Gegenstand des ersten Teils ist die Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG. Die Entwicklung und die wesentlichen Merkmale der verfassungsgerichtlichen Werteordnungsrechtsprechung sind schon vielfach nachgezeichnet worden.18 Ein Verweis auf die bisherigen Rekonstruktionen entlastet allerdings nicht von einem eigenen Zugriff. Denn die Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG bildet die Grundlage sowohl für das Verständnis der Verfassung als Werteordnung als auch für das Verständnis der Verfassung als Rahmenordnung: sei es, dass sie im Wesentlichen bestätigt wird – wie von Alexy – oder dass sie in wichtigen Punkten Ablehnung erfährt – wie von Böckenförde. Es ist daher notwendig, die Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG zunächst in ihren grundlegenden und für die Untersuchung maßgeblichen Weichenstellungen zu entfalten sowie ihre Probleme aufzuzeigen. Vor diesem Hintergrund sind sodann die verfassungstheoretischen Ansätze von Alexy und Böckenförde zu diskutieren. Zunächst soll im zweiten Teil der Unter18

Siehe insbesondere die ausführliche und kritische Untersuchung von Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz; Jarass, Wertentscheidungen, S. 363 ff.; ders., Grundrechte, S. 35 ff.; H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 10 f.; R. Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, S. 88 ff.; Böckenförde, Grundsatznormen, S. 3 ff.; Lübbe-Wolff, Eingriffsabwehrrechte, S. 283 ff.; Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 191 ff. Siehe auch die grenzüberschreitende Einordnung der Werteordnung durch Rensmann, Wertordnung und Verfassung, mit dem Versuch, die Wandlung der Völkerrechtsordnung „von einer staatenorientierten Konsensordnung zu einer anthropozentrischen Wertordnung“ (S. 4) zu begründen.

B. Herangehensweise und Gang der Untersuchung

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suchung der prinzipientheoretische Ansatz von Alexy analysiert werden. Die leitende Fragestellung dabei lautet: Wie weit reicht der verfassungstheoretische Erklärungswert der Prinzipientheorie? Im Einzelnen soll untersucht werden, was die Vorstellung von Prinzipien als Optimierungsgebote für das Verständnis der Verfassung innerhalb der Rechtsordnung leisten kann. Erklärt sie die Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG? Löst sie deren Probleme? Wird insbesondere durch die Prinzipienkonzeption eine Öffnung des Rechts für moralische Wertungen gefordert? Möglicherweise erweist sich eine ganz andere Herangehensweise, nämlich die einer Rahmenkonzeption der Verfassung als überzeugende Alternative. Diese gilt es im dritten Teil zu konkretisieren, und zwar am Beispiel der Rahmenordnungstheorie von Böckenförde. Wiederum lautet die leitende Fragestellung: Wie weit reicht der verfassungstheoretische Erklärungswert? Kann die Rahmenordnungstheorie die Verfassung durch eine Reduktion ihrer normativen Wirkungen besser erklären? Löst sie die durch die Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG aufgeworfenen Probleme? Oder verursacht die Rahmenordnungstheorie neue Probleme, indem sie anstatt auf verfassungsrechtliche Bindungen auf die rechtlich ungebundene Macht des Staates setzt? Schließlich mündet die Auseinandersetzung in die Diskussion der Ausgangsfrage: Soll die Verfassung als Rahmen- oder als Werteordnung verstanden werden? Gegenstand des vierten Teils der Arbeit ist der Versuch, sich einer Antwort auf diese Frage unter Berücksichtigung der bisherigen Untersuchungsergebnisse anzunähern. Wünschenswert im Sinne von Konsistenz und Kohärenz wäre möglicherweise eine klare Antwort zugunsten einer Theorie. Möglicherweise bedarf es jedoch differenzierter Aussagen, sei es, dass Rahmen- und Werteordnungstheorie jeweils nur in modifizierter Form überhaupt in Betracht kommen, sei es, dass Mischformen zur Grundlage einer Verfassungstheorie gemacht werden können.

Erster Teil

Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG A. Grundzüge der Werteordnung Das BVerfG hat die Vorstellung von einer grundgesetzlichen Werteordnung in seiner frühen Rechtsprechung entwickelt und die Bundesrepublik damit wesentlich geprägt. Der juristisch Geschulte ist an die Werteordnung gewöhnt und geht mit ihren Begriffen, wie Ausstrahlungswirkung, objektive Grundrechtswirkungen und Abwägungen selbstverständlich um. Der unbefangene Betrachter hingegen dürfte überrascht sein; nicht über eine Verfassung als Ordnung (welche Funktion sollte man einer Verfassung sonst zuschreiben?), wohl aber über die Verbindung mit Werten und damit mit einem Begriff, der keine Erwähnung im Grundgesetz findet und der vielfältige Assoziationen weckt, z. B. ins Ökonomische oder Philosophische,1 bei dem jedenfalls etwas mitschwingt, das über das spezifisch Juristische hinausweist. Die Werteordnungsentscheidung – Lüth2 – erging bereits 1958. Das BVerfG stellte fest, dass sich in den Grundrechtsbestimmungen (auch) eine objektive Wertordnung verkörpert, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt.3 Was folgt aus Lüth und wie kam es zur objektiven Wertordnung?

I. Die Anfänge Noch vor einer Bezugnahme zu Werten führt das BVerfG in der Südwest-Entscheidung (1951)4 die Vorstellung von einer aus der Verfassung ableitbaren Ordnung aus. Anlässlich der Auslegung des Art. 118 S. 2 GG betreffend die Neugliederung der badischen und württembergischen Länder betont das BVerfG zunächst, die einzelnen Verfassungsbestimmungen stünden nicht für sich, sondern müssten im Zusammenhang mit anderen Vorschriften der Verfassung ausgelegt werden. Dabei 1

Zu den Dimensionen des Wertbegriffs Di Fabio, Grundrechte als Werteordnung, S. 1 ff. BVerfGE 7, 198 (Lüth). Die Bedeutung der Lüth-Entscheidung als Ausdruck der Werteordnungsrechtsprechung betonend H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 10 f.; Alexy, Rezension, S. 156; Henne, S. 142; Wahl, Lüth, S. 373 ff. Eher auf die Elfes-Entscheidung (BVerfGE 6, 32) abstellend Lübbe-Wolff, Eingriffsabwehrrechte, S. 284. 3 BVerfGE 7, 198, LS 1 (Lüth). 4 BVerfGE 1, 14 (Südweststaat). 2

A. Grundzüge der Werteordnung

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unterscheidet das BVerfG zwischen Verfassungsbestimmungen einerseits und sich aus dem Gesamtinhalt der Verfassung ergebenden verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen andererseits. Die Verfassungsbestimmungen seien den verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen untergeordnet, jede Verfassungsbestimmung müsse so ausgelegt werden, dass sie mit jenen elementaren Verfassungsgrundsätzen und Grundentscheidungen des Verfassungsgesetzgebers vereinbar ist.5 Damit wird der Gedanke einer höherrangigen und auslegungsleitenden Ordnung etabliert. Die Bestandteile dieser Ordnung, die verfassungsrechtlichen Grundsätze und Grundentscheidungen, müssen aber nicht widerspruchsfrei zueinander stehen. Das BVerfG betont, Widersprüche – hier zwischen dem föderalistischen und demokratischen Prinzip – könnten nur ausgeglichen werden, wenn beide gewisse Einschränkungen erleiden.6 Eine genauere Vorstellung von der höherrangigen Ordnung vermittelt das BVerfG in seinen Entscheidungen zu den SRP- und KPD-Parteiverbotsverfahren (1952 und 1956).7 Darin expliziert es die freiheitlich demokratische Grundordnung des Art. 21 Abs. 2 GG als höherrangige Ordnung und spricht insofern ausdrücklich von einer wertgebundenen Ordnung und von einem Wertsystem. Die Freiheit der Parteien erlaube es, einzelne Vorschriften, ja selbst ganze Institutionen der Verfassung mit legalen Mitteln zu bekämpfen. An Grenzen stoße diese Freiheit allerdings, wenn oberste Grundwerte des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates betroffen seien, also die freiheitlich demokratische Grundordnung. Zu ihren grundlegenden Prinzipien zählt das BVerfG die Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, vor allem das Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.8 Der Schutz einer solchen Ordnung sei die Antwort des Grundgesetzes auf den totalen Staat des Nationalsozialismus. Das BVerfG konzipiert die freiheitliche demokratische Grundordnung als eine wertgebundene Ordnung, in der dem Menschen ein Selbstwert zukommt. Dazu heißt es im SRP-Urteil: „Dieser Grundordnung liegt letztlich nach der im Grundgesetz getroffenen verfassungspolitischen Entscheidung die Vorstellung zugrunde, dass der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind. Daher ist die Grundordnung eine wertgebundene Ordnung. Sie ist das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt.“9 Auch im KPD-Urteil wird die 5 6 7 8 9

BVerfGE 1, 14, 32 f. (Südweststaat). BVerfGE 1, 14, 50 (Südweststaat). BVerfGE 2, 1 (SRP); E 5, 85 (KPD). BVerfGE 2, 1, 12 f. (SRP). BVerfGE 2, 1, 12 (Herv. d. Verf.).

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

Aufstellung und der Schutz eines eigenen grundgesetzlichen Wertsystems betont, deren Grundprinzipien der Staatsgestaltung – wenn sie einmal auf demokratische Weise gebilligt sind – als absolute Werte gegen alle Angriffe verteidigt werden sollen. Das Denken des Verfassunggebers sei davon beherrscht gewesen, trotz grundsätzlicher Toleranz gegenüber den politischen Parteien wirksame rechtliche Sicherungen dagegen einzubauen, dass gewisse unantastbare Grundwerte der Staatsordnung beeinträchtigt werden.10 Das BVerfG vertieft den Schutzgedanken einer wertgebundenen Ordnung in der Elfes-Entscheidung (1957)11 und betont die gegenüber der öffentlichen Gewalt bestehenden materiellen Bindungen des Grundgesetzes. Diese gingen über die der Weimarer Reichsverfassung hinaus: „Damals waren nicht nur zahlreiche Grundrechte durch den allgemeinen Gesetzesvorbehalt, dem jedes verfassungsmäßig erlassene Gesetz entsprach, tatsächlich ,leerlaufend‘; der Gesetzgeber konnte durch ein mit der verfassungsändernden Mehrheit erlassenes Gesetz auch im Einzelfall eine ihm entgegenstehende verfassungsrechtliche Schranke jederzeit überwinden. Demgegenüber hat das Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung aufgestellt.“12 Nach dieser wertgebundenen Ordnung seien Gesetze nicht schon dann verfassungsgemäß, wenn sie formell ordnungsgemäß ergangen sind. Sie müssten auch materiell mit den obersten Grundwerten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als der verfassungsrechtlichen Wertordnung in Einklang stehen.13 Der Gesetzgeber müsse vor allem die Menschenwürde als obersten Wert des Grundgesetzes achten sowie den Wesensgehalt der geistigen, politischen und wirtschaftlichen Freiheit der Menschen nach Art. 19 Abs. 2 GG wahren. Die Bindung an die Wertordnung schließt dabei den verfassungsändernden Gesetzgeber mit ein. Die obersten Prinzipien der Wertordnung seien gegen Verfassungsänderungen (Art. 1, 20, 79 Abs. 3 GG) geschützt.14 Die wertgebundene Ordnung steht danach für die materiellen Verfassungsbindungen des Grundgesetzes.15 Dass mit dem Wertbezug mehr verbunden sein könnte als die Betonung materieller Verfassungsbindungen, deutet das BVerfG in der Entscheidung zur Haushaltsbesteuerung von Ehegatten an (1957).16 Zur Frage, ob sich der Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG auf eine Institutsgarantie beschränkt und darüber hinaus nur Programmcharakter entfaltet, führt das BVerfG leitsätzlich aus: „Art. 6 Abs. 1 GG ist nicht nur ein ,klassisches Grundrecht‘ zum Schutz der spezifischen 10

BVerfGE 5, 85, 137 ff. (KPD). BVerfGE 6, 32 (Elfes). 12 BVerfGE 6, 32, 40 (Elfes). 13 BVerfGE 6, 32, 40 f. (Elfes). 14 BVerfGE 6, 32, 41 (Elfes). 15 Vgl. H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 11, Fn. 8, der insofern von der Wertordnung als Kürzel für den antirelativistischen Charakter des Grundgesetzes und für das Konzept einer wehrhaften Demokratie spricht. 16 BVerfGE 6, 55 (Haushaltsbesteuerung von Ehegatten). 11

A. Grundzüge der Werteordnung

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Privatsphäre von Ehe und Familie sowie Institutsgarantie, sondern darüber hinaus zugleich eine Grundsatznorm, das heißt eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts.“17 Als wertentscheidende Grundsatznorm sei Art. 6 Abs. 1 GG auch im Steuerrecht zu berücksichtigen und beeinflusse den Ermessensspielraum des Gesetzgebers in zweifacher Hinsicht: positiv durch die Aufgabe, Ehe und Familie zu fördern und negativ durch das Verbot, Ehe und Familie durch störende Eingriffe zu beeinträchtigen.18 Da das BVerfG in der streitigen Steuervorschrift bereits einen störenden Eingriff in Ehe und Familie gesehen hat, bedurfte es keiner weiteren Ausführungen zu den positiven Wirkungen sowie zu den konkreten Wirkungen einer wertentscheidenden Grundsatznorm in den Bereichen des privaten und öffentlichen Rechts. Gleichwohl wird deutlich, dass das BVerfG von der Möglichkeit verschiedener Grundrechtsfunktionen ausgeht,19 was auch die Drittwirkung der Grundrechte einschließen könnte.20 Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist darüber hinaus die Berufung auf die Thomasche Auslegungsregel zur Begründung des Charakters des Art. 6 Abs. 1 GG als wertentscheidende Grundsatznorm.21 Nach Thoma hat „die Jurisprudenz, wenn nicht Treu und Glauben verletzt werden sollen, von mehreren, mit Wortlaut, Dogmengeschichte und Entstehungsgeschichte vereinbaren Auslegungen einer Grundrechtsnorm allemal derjenigen den Vorzug zu geben, die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltet.“22 Die Auslegungsregel passt insofern, als es in der verfassungsgerichtlichen Entscheidung um die Frage geht, ob Art. 6 Abs. 1 GG über die Institutsgarantie hinaus nur Programmcharakter entfaltet. Denn Thoma entwickelte seine Auslegungsregel genau für die Frage, ob die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung im Zweifel normativen oder nur Programmcharakter haben sollten.23 Die Formulierung der Auslegungsregel lässt aber eine weitergehende Deutung zu, nämlich die eines Grundsatzes der Grundrechtseffektivität. Danach ginge es darum, im Zweifel nicht nur überhaupt von einer juristischen Wirkungskraft der Grundrechte auszugehen, sondern von der stärksten.24 17

BVerfGE 6, 55 (Haushaltsbesteuerung von Ehegatten). BVerfGE 6, 55, 76 (Haushaltsbesteuerung von Ehegatten). 19 BVerfGE 6, 55, 72 (Haushaltsbesteuerung von Ehegatten) : „Wie eine ganze Reihe von Verfassungsnormen – insbesondere solche, die das Verhältnis des Bürgers zum Staat bestimmen oder das Gemeinschaftsleben regeln – erfüllt Art. 6 Abs. 1 GG mehrere Funktionen, die miteinander verbunden sind und ineinander übergehen.“ 20 Nach Rensmann findet in dieser Entscheidung bereits ein judizieller Dialog mit dem Bundesgerichtshof und dem Bundesarbeitsgericht zur Frage der Drittwirkung der Grundrechte statt, Rensmann, S. 79 f. 21 BVerfGE 6, 55, 72 (Haushaltsbesteuerung von Ehegatten). 22 Thoma, S. 9. 23 Thoma, S. 3 und S. 12: („[…] einheitlicher Auslegungsgrundsatz […], nämlich derjenige der Auslegung als Rechtssatz, nicht bloß als politisch-ethische Empfehlung“). 24 In diesem Sinne BVerfGE 39, 1, 38 (Schwangerschaftsabbruch I). Dagegen, im Ergebnis aber widersprüchlich Rensmann, S. 53 ff. Danach habe das BVerfG die Thomasche Ausle18

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

Nach den bisher dargestellten Entscheidungen besteht kein Anlass, die wertgebundene Ordnung woanders zu verorten als in der Verfassung. Das BVerfG bezieht sich ausdrücklich auf die im Grundgesetz aufgestellte wertgebundene Ordnung bzw. auf die Verfassungsgrundsätze und Grundentscheidungen des Verfassungsgebers. Das Wertetikett hätte demnach keine transzendente Bedeutung. In seiner Entscheidung zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen (1953)25 stellt das BVerfG aber einen Bezug zu außerverfassungsrechtlichen materialen Gerechtigkeitserwägungen her. Ausgangspunkt ist die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit von Art. 117 Abs. 1 GG, der vorsieht, dass dem Art. 3 Abs. 2 GG entgegenstehendes Recht nach Ablauf der Anpassungsfrist (31. 3. 1953) außer Kraft tritt. Zur grundsätzlichen Möglichkeit verfassungswidrigen Verfassungsrechts führt das BVerfG aus, auch der Verfassungsgesetzgeber unterliege der – wenn auch äußerst unwahrscheinlichen – Gefahr, die äußersten Grenzen der materialen Gerechtigkeit zu überschreiten. Die ausnahmslose Geltung des Willens des Verfassungsgesetzgebers würde einen Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus bedeuten.26 Einer so weitgehenden Aussage hätte es im konkreten Fall gar nicht bedurft. Das BVerfG bemühte nämlich keine allgemeinen Gerechtigkeitspostulate, sondern erklärte Art. 117 Abs. 1 GG mit den in der Verfassung verankerten Grundsätzen der Rechtssicherheit und Gewaltenteilung für vereinbar.27 Die Wirkung des obiter dictums zu den äußersten Grenzen der Gerechtigkeit wird damit jedoch nicht geschmälert. Nicht wertungsfreie, sondern wertgebundene Ordnung kann demnach auch bedeuten, dass der Verfassungsgesetzgeber an eine der Verfassung übergeordnete moralische Ordnung gebunden ist.

gungsregel irrtümlich als effet utile verstanden. Einen Irrtum wird man dem BVerfG allerdings nicht vorwerfen können. Wenngleich sich Thoma auf die Frage Programmsatz oder normative Wirkung der Grundrechte bezieht, schwingen zugleich Fragen der Grundrechtseffektivität mit. Im Zweifel für die normative Wirkung bedeutete für die zum Teil als soziale Grundrechte ausgestalteten Normen der Weimarer Verfassung nämlich im Ergebnis die stärkste normative Wirkkraft. Rensmann führt selbst aus, wie die Anerkennung normativer Kraft der Grundrechte die Bindungen des Gesetzgebers im Hinblick auf richtunggebende Wirkungen erweiterte und auch die Rechtsprechung und Verwaltung bei der Gesetzesanwendung miteinbezog (Rensmann, S. 52, 55 ff.). 25 BVerfGE 3, 225 (Gleichberechtigung). 26 BVerfGE 3, 225, 232 f. (Gleichberechtigung), mit Verweis auf Radbruch, S. 345: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“ 27 BVerfGE 3, 225, 237 ff., 247 f. (Gleichberechtigung); im entsprechenden Leitsatz heißt es dazu: „Die Norm einer Verfassung kann dann nichtig sein, wenn sie grundlegende Gerechtigkeitspostulate, die zu den Grundentscheidungen dieser Verfassung gehören, in schlechthin unerträglichem Maße missachtet.“

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II. Lüth – 1958 In den obigen Entscheidungen ist vor allem zum Ausdruck gekommen, was eine wertgebundene Ordnung nicht sein soll, nämlich kein die Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit missachtender totaler Staat (SRP, KPD), kein Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus (Gleichberechtigung), kein Wertrelativismus durch leerlaufende Grundrechte oder Verfassungsdurchbrechungen (Elfes) und keine Beschränkung der Grundrechte auf ihre Abwehrdimension (Haushaltsbesteuerung von Ehegatten). Die Bedeutung und Tragweite der wertgebundenen Ordnung lässt jedoch erst die Lüth-Entscheidung erahnen.28 Der Beschwerdeführer, der wegen seines Aufrufs, den Film „Unsterbliche Geliebte“ von Veit Harlan zu boykottieren, nach § 826 BGB zur Unterlassung verurteilt worden war, sah sich in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG verletzt. Das BVerfG hatte zu entscheiden, ob die Meinungsfreiheit auch die Anwendung von Vorschriften des bürgerlichen Rechts beeinflussen konnte. Es beschränkte sich aber nicht auf die Meinungsfreiheit, sondern führte allgemein zur Bedeutung der Grundrechte aus: „Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. […] Diesen Sinn haben auch die Grundrechte des Grundgesetzes, das mit der Voranstellung des Grundrechtsabschnitts den Vorrang des Menschen und seiner Würde gegenüber der Macht des Staates betonen wollte. […] Ebenso richtig ist aber, dass das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will (…), in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und dass gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt (Klein / v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, Vorbem. B III 4 vor Art. 1 S. 93). Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muss als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflusst es selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muss in seinem Geiste ausgelegt werden.“29 Mit diesen wenigen Sätzen legt das BVerfG die Grundlage für seine weitere Grundrechtsrechtsprechung. Es expliziert die Doppelnatur der Grundrechte, zum einen als Abwehrrechte gegen den Staat und zum anderen als objektive Normen innerhalb der sozialen Gemeinschaft. Die Akzeptanz objektiv-rechtlicher Grundrechtswirkungen durch das BVerfG, hier im Privatrecht, lässt die Aussagen zur abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension zuweilen zurücktreten, obwohl sie nicht 28 BVerfGE 7, 198. Jüngst zur Aufarbeitung des Lüth-Urteils Henne/Riedlinger, Das Lüth Urteil aus (rechts-)historischer Sicht. 29 BVerfGE 7, 198, 204 f. (Lüth).

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

weniger spannend sind. Zunächst weist das BVerfG der abwehrrechtlichen Dimension einen gewissen Vorrang zu. Entsprechend ihrer geschichtlichen Entwicklung dienten Grundrechte in erster Linie der Abwehr staatlicher Eingriffe.30 Darüber hinaus macht es deutlich, dass die Grundrechte zwar Schranken unterliegen, nicht aber jede Relativierung durch den Gesetzgeber erlauben. Dass die Gesetze – wie in der Elfes-Entscheidung ausgeführt – auch materiell mit der Verfassung, insbesondere den Grundrechten, in Einklang stehen müssen, bedeutet hiernach, ihre wertsetzende Bedeutung bei der Ausgestaltung der Schranken zu beachten. Das BVerfG erteilt ausdrücklich der Auffassung eine Absage, wonach der Geltungsanspruch des Grundrechts – hier der Meinungsfreiheit – von vornherein auf den Bereich beschränkt bleibt, den die Gerichte durch die Auslegung der Gesetze noch belassen. Vielmehr müssten die das Grundrecht beschränkenden Gesetze – hier die allgemeinen Gesetze – im Lichte der Bedeutung des Grundrechts gesehen und interpretiert werden (Wechselwirkung).31 Über das Staat-Bürger-Verhältnis hinaus konstatiert das BVerfG eine in den Grundrechtsbestimmungen enthaltene objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten soll, d. h. in allen Rechtsgebieten sowie gegenüber allen Gewalten. Die Weichenstellung, die in der Entscheidung zur Haushaltsbesteuerung von Ehegatten bereits angedeutet wurde, nämlich die Charakterisierung des Art. 6 Abs. 1 GG als Grundsatznorm mit verbindlicher Wertentscheidung für das gesamte Ehe und Familie betreffende öffentliche und private Recht, wird hier ausgeweitet auf alle Grundrechtsnormen32 und in seiner Wirkungsweise entfaltet. Als Grundsatznormen bzw. als objektive Normen wirken die Grundrechte auch im Privatrechtsverhältnis. Ihnen komme zwar keine unmittelbare Wirkung zu, doch müsse sich der Rechtsgehalt der Grundrechte mittelbar in den privatrechtlichen Vorschriften, insbesondere über die Generalklauseln 30

BVerfGE 7, 198, 204 (Lüth). Siehe auch BVerfGE 50, 290, 337 (Mitbestimmung). BVerfGE 7, 198, 208 f. (Lüth): „Die gegenseitige Beziehung zwischen Grundrecht und ,allgemeinem Gesetz‘ ist also nicht als einseitige Beschränkung der Geltungskraft des Grundrechts durch die ,allgemeinen Gesetze‘ aufzufassen; es findet vielmehr eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die ,allgemeinen Gesetze‘ zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.“ Siehe auch Bryde, § 17 Rn. 35 ff., der vor allem die durch die Lüth-Entscheidung eingeleitete Stärkung der abwehrrechtlichen Dimension betont, Rn. 36: „Die entscheidende Verstärkung der Abwehrdimension erfolgte nämlich durch Verhältnismäßigkeitsprinzip und Wechselwirkungslehre auf der Schrankenseite. […] Noch vor der Ausdifferenzierung weiterer Grundrechtsfunktionen ist das Verständnis der Grundrechte als Wertentscheidungen also gerade auch für die abwehrrechtliche Dimension wichtig.“ Lübbe-Wolff, Eingriffsabwehrrechte, S. 287 f., führt dazu aus, das BVerfG habe sich mit dem Wertordnungs-Topos von einer nur formalen Schutzwirkung der Grundrechte zugunsten einer auf Abwägung ausgerichteten materiellen Schutzwirkung der Grundrechte distanziert mit der Folge, dass bei Grundrechtseinschränkungen abzuwägen sei zwischen der Freiheit und den Gründen, die für deren Einschränkung sprechen mögen. 32 Dazu Rensmann, S. 95 f. 31

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entfalten. Die Vorschriften des bürgerlichen Rechts seien im Geiste der Grundrechte auszulegen.33 Die Auslegung des einfachen Rechts im Geiste des grundrechtlichen Wertsystems findet dabei nicht erst bei Überschreiten einer bestimmten Grenze statt, sondern hat stets zu erfolgen. Bemerkenswert ist insofern die Verhältnisbestimmung von Grundrechten und Privatrecht: „Der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen entfaltet sich im Privatrecht durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften. Wie neues Recht im Einklang mit dem grundrechtlichen Wertsystem stehen muss, so wird bestehendes älteres Recht inhaltlich auf dieses Wertsystem ausgerichtet; von ihm her fließt ihm ein spezifisch verfassungsrechtlicher Gehalt zu, der fortan seine Auslegung bestimmt. Ein Streit zwischen Privaten über Rechte und Pflichten aus solchen grundrechtlich beeinflussten Verhaltensnormen des bürgerlichen Rechts bleibt materiell und prozessual ein bürgerlicher Rechtsstreit. Ausgelegt und angewendet wird bürgerliches Recht, wenn auch seine Auslegung dem öffentlichen Recht, der Verfassung, zu folgen hat.“34 Die Auslegung des bürgerlichen Rechts und – entsprechend der Erstreckung der Ausstrahlungswirkung auf alle Bereiche des Rechts – des gesamten einfachen Rechts unterliegt damit einem beherrschenden Einfluss durch das Verfassungsrecht, so dass man von einer Konstitutionalisierung des einfachen Rechts sprechen kann.35 Im Rahmen dieser „Verfassungs-Verrechtlichung“ müssen – wie die Lüth-Entscheidung zeigt – alle betroffenen Rechtsgüter, also auch die des Beschwerdegegners und allgemeine Rechtsgüter beachtet werden. Das BVerfG fordert insofern eine „Güterabwägung“ zwischen den betroffenen Rechtsgütern, und zwar unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles.36 Für die Abwägung der durch den Boykottaufruf betroffenen Rechtsgüter komme es darauf an, welche Bedeutung der Aufruf für die öffentliche Meinungsbildung habe. Der Schutz der privaten Rechtsgüter müsse um so eher zurücktreten, je stärker die Meinungsäußerung der öffentlichen Meinungsbildung diene.37 Das BVerfG begründet die Unterscheidung nach 33

BVerfGE 7, 198, 205. (Lüth). BVerfGE 7, 198, 205 f. (Lüth). 35 Eingehend dazu Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung. Siehe auch Bryde, § 17 Rn. 45 ff., wonach eine „Konstitutionalisierung der Rechtsordnung“ insbesondere in Transformationsstaaten von Bedeutung sei, in denen eine neue Verfassung auf eine Rechtskultur trifft, die nicht von den Werten der neuen Verfassung geprägt ist. Durch die Inkorporation des „Wertsystems“ der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in das Grundgesetz sieht Rensmann, S. 84 f., in der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung zugleich eine Internationalisierung der Rechtsordnung. 36 BVerfGE 7, 198, 210 f. (Lüth): „Es wird deshalb eine ,Güterabwägung‘ erforderlich: Das Recht zur Meinungsäußerung muss zurücktreten, wenn schutzwürdige Interessen eines anderen von höherem Rang durch die Betätigung der Meinungsfreiheit verletzt würden.“ Und ebda, S. 212: „Auch der Zivilrichter hat jeweils die Bedeutung des Grundrechts gegenüber dem Wert des im ,allgemeinen Gesetz‘ geschützten Rechtsguts für den durch die Äußerung angeblich Verletzten abzuwägen.“ 37 BVerfGE 7, 198, 212 (Lüth). 34

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

dem privaten oder öffentlichen Zweck der Meinungsäußerung mit der Bedeutung der Meinungsfreiheit für die freiheitliche Demokratie. Die privaten und wirtschaftlichen Interessen müssten grundsätzlich zurücktreten, „[w]enn es darum geht, dass sich in einer für das Gemeinwohl wichtigen Frage eine öffentliche Meinung bildet […].“38 Im Ergebnis sieht das BVerfG den Boykottaufruf durch den öffentlichen Zweck als gerechtfertigt an, mit der Folge, dass dieser nicht sittenwidrig sei. Doch welche Bedeutung kommt der Wertterminologie in der Grundrechtskonzeption des BVerfG zu? Soll damit das Grundrechts- und Verfassungsverständnis wertethisch fundiert werden? Obwohl das BVerfG nicht ausdrücklich auf eine bestimmte wertphilosophische Quelle (Max Scheler oder Nicolai Hartmann) verweist,39 schließt es eine solche Lesart auch nicht strikt aus. Eine naturrechtliche Begründung der Grundrechte lag schließlich auch dem Parlamentarischen Rat nicht fern und führte zum Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten in Art. 1 Abs. 2 GG.40 Von daher würde es nicht ausreichen, die 38

BVerfGE 7, 198, 219 (Lüth). H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 21: „Ganz im Gegenteil vermittelt die genaue Lektüre der einschlägigen Urteile den Eindruck, dass eine eindeutige Abstützung und Verankerung in derartigen philosophischen oder auch staatstheoretischen Systemen bewusst vermieden wurde. Es findet sich kein Anhaltspunkt dafür, dass die Rede von der ,objektiven Wertordnung‘ als gewissermaßen höchstrichterliche Anerkennung einer besonderen philosophischen Schule oder als verfassungsgerichtlicher Ritterschlag einer bestimmten Grundrechtsinterpretation gedacht war.“ Siehe auch Goerlich, Wertordnung, S. 141; Robbers, Wertorientierung, S. 167; anders Henne, „Smend oder Hennis“, S. 145, der aber einen entsprechenden Nachweis schuldig geblieben ist. 40 Vgl. dazu die Diskussion zum Entwurf von Art. 1: „Die Würde des Menschen ruht auf ewigen, einem Jeden von Natur aus eigenen Rechten.“ Der Parlamentarische Rat, Ausschuss für Grundsatzfragen, S. 62 ff., S. 63: „Dr. Bergsträssser: […] Das haben wir mit unserer Formulierung zu Art. 1 versucht, die wir Ihnen vorschlagen. Im Abs. 1 wird ausgedrückt, dass die Grundrechte auf vorstaatlichen Rechten beruhen, die von Natur aus gegeben sind.“; S. 64: „Dr. von Mangoldt: […] Wir wollten dem Art. 1 eine Fassung geben, mit der auf dem Naturrecht aufgebaut wird. Nur schien uns das Naturrecht in seinen einzelnen Sätzen noch zu unbestimmt, als dass man es mit der einfachen Anführung der Naturrechtssätze hätte bewenden lassen können. Die Sätze des Naturrechts wurden daher in den auf Art. 1 folgenden Grundrechtsartikeln, auf die Abs. 3 verweist, aufgezeichnet und in die für die unmittelbare Rechtsanwendung erforderliche Form gebracht. Diese Verweisung stellt für die Auslegung fest – es ist wichtig, sich das klar zu machen –, dass die folgenden Grundrechte auf dem Untergrund des Naturrechts ruhen und die Rechtsprechung diesen Untergrund des Naturrechts bei der Auslegung heranziehen kann. Das führt zu einer gewissen Beweglichkeit der Grundrechtssätze, soweit die in den einzelnen Artikeln gewählte Formulierung diese ermöglicht.“; S. 64 f.: „Dr. Schmid: Die Fassung des Art. 1 muss wohl überlegt werden; […]. […]. Nun ist Abs. 1 schon eine bedenkliche Sache. Ich sage nicht, dass ich ihm nicht zustimme; aber man müsste recht wohl bedenken: Nicht zu allen Zeiten hat man an Rechte, die einem von Natur zustehen, so geglaubt, wie heute. […] Die große Begeisterung für das Naturrecht, die sich heutzutage überall manifestiert, ist eine Gegenbewegung gegen die absolute Abneigung des deutschen juristischen Positivismus gegen das Naturrecht, den man für die Rechtsverleugnung unter dem Naziregime überhaupt verantwortlich macht, wobei ich mir nicht versagen möchte, darauf hinzuweisen, dass die nazistische Rechtstheorie auch auf dem ,Naturrecht‘ beruhte, allerdings auf einem, das nicht von dem Begriff des Menschen bei Lamettrie ausging, sondern von dem Darwins. Na39

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transzendenten Implikationen der Wertterminologie dahinstehen zu lassen,41 auch wenn das BVerfG zunehmend von anderen, vom „Pathos der Wertordnung befreiten Begriffen“ Gebrauch macht.42 Auf der anderen Seite beschränkt sich das BVerfG nicht auf einen Verweis auf die Wertordnung quasi als Zauberformel für sein Grundrechtsverständnis, sondern liefert auch eine juristische Begründung. Geht man dem Verweis des BVerfG auf die Kommentierung von Klein / v. Mangoldt nach,43 so werden die juristischen Grundlagen des Wertsystems deutlich, nämlich Art. 1 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3 GG sowie Art. 79 Abs. 3 GG.44 Unter Hervorhebung der verstärkten Geltungskraft der Grundrechte gegenüber der Weimarer Verfassung heißt es dort: „Die verstärkte Geltungskraft der Grundrechte des Grundgesetzes gegenüber denjenigen der Weimarer Verfassung ist nicht nur gradueller, sondern auch in mehrfacher Hinsicht prinzipieller Art. In den Grundrechten des Grundgesetzes drückt sich zunächst das ,Wertsystem‘ des Grundgesetzes am stärksten aus. Staatsphilosophische, insbesondere naturrechtliche Begründung gemäß Art. 1 Abs. 1 und 2, unmittelbare Binturrecht absolut zu setzen, ist eine gefährliche Sache. Ich empfehle daher Kant zu lesen und seinen Nachweis darüber, dass im Allgemeinen jeder das Naturrecht zu bekunden pflegt, das ihm für seine Lebenswünsche am bekömmlichsten erscheint.“ Siehe auch ebda, S. 917. 41 In diese Richtung Lübbe-Wolff, Eingriffsabwehrrechte, S. 284: „Das ,Wert‘-Pathos, das in Passagen wie der zitierten zum Ausdruck kommt, mag man angemessen oder überflüssig finden; der Sinn der Verwendung des Wertbegriffs im vorliegenden Zusammenhang jedenfalls ist klar und einfach.“ Nach H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 26, ist vielmehr die mit der Werteordnung verbundene Ausweitung der Grundrechtsdimensionen entscheidend: „Diese Ausweitung um objektiv-rechtliche Dimensionen entfaltet sich unabhängig von der Wertetikettierung.“ Vgl. auch Hesse, Grundzüge, Rn. 299, der auf die Hilfsfunktion des Wertbegriffs verweist: „Für die Interpretation der Grundrechte war der Gedanke der ,Wertordnung‘ ein Ansatz und eine Hilfe angesichts einer Lage, in der es noch weitgehend an einer Erarbeitung des konkreten normativen Inhalts und der Tragweite der Einzelgrundrechte, ihres Verhältnisses zueinander und der Voraussetzungen ihrer Begrenzung fehlte.“ 42 H. Dreier betont, dass nicht der Wertbegriff entscheidend sei, sondern die Sache selbst. Da das BVerfG zunehmend in seinen Entscheidungen von einer Vielzahl prinzipiell sinngleicher, aber vom Pathos der Wertordnung befreiter Ausdrücke Gebrauch mache (wertgebundene Ordnung, verfassungsrechtliche Grundentscheidung, objektive Prinzipien, wertsetzende Bedeutung der Grundrechte), habe die Frage der Terminologie an Bedeutung verloren, H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 23. Zum zunehmenden Verzicht auf die Wertterminologie durch das BVerfG, Stern, Staatsrecht III/1, S. 901 f. 43 BVerfGE 7, 198, 205 (Lüth): „Ebenso richtig ist aber, dass das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will […], in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und dass gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt (Klein-v. Mangoldt, GG, Vorbem. B III 4 vor Art. 1, S. 93).“ 44 Dies verkennen Goerlich, Wertordnung, S. 33: „Es fällt in diesem Begründungszusammenhang zunächst auf, dass sich dem Gericht das dem Grundrechtsabschnitt immanente ,Wertsystem‘ offenbar als factum brutum darstellt, ohne dass unmittelbar von Art. 1 III GG ausgegangen und dessen Interpretation der Einführung einer derartigen Terminologie vorausgeschickt wird.“ und Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 214 f.; ders., Objektiv-rechtlicher Gehalt der Grundrechte, S. 77 f.

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

dungswirkung gegenüber allen Staatsorganen, auch gegenüber der Gesetzgebung, gemäß Art. 1 Abs. 3 sowie exaktere Formulierungen ihrer Gewährleistungen und Einschränkungen […], ja Fortfall vieler ,besonderer Gesetzesvorbehalte‘ und die Verstärkung der Grundrechts-Wirkung durch die absolute Bestandsgarantie der auf alle Grundrechte ausstrahlenden Grundsätze des Art. 1 gegenüber Verfassungsänderungen durch Art. 79 Abs. 3 […] unterscheiden die Grundrechte des Grundgesetzes grundlegend von denjenigen der Weimarer Reichsverfassung.“45 Für die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte hebt das BVerfG die Bedeutung von Art. 1 Abs. 3 GG besonders hervor. Der Sinn der Bindung auch des Zivilrichters an die Grundrechte gemäß Art. 1 Abs. 3 GG bestehe gerade darin, die grundrechtlichen Beeinflussungen der privatrechtlichen Normen zu beachten.46 Schließlich öffnet das BVerfG im konkreten Fall das Recht nicht für beliebige (außerrechtliche) Werte oder Tageswertungen, sondern bewirkt gerade das Gegenteil, nämlich eine „Konstitutionalisierung der ,guten Sitten‘“47. Im Lüth-Urteil heißt es dazu: „Der Rechtsprechung bieten sich zur Realisierung dieses Einflusses [erg.: des Verfassungsrechts] vor allem die ,Generalklauseln‘, die, wie § 826 BGB, zur Beurteilung menschlichen Verhaltens auf außer-zivilrechtliche, ja zunächst überhaupt außerrechtliche Maßstäbe, wie die ,guten Sitten‘, verweisen. Denn bei der Entscheidung darüber, was diese sozialen Gebote jeweils im Einzelfall fordern, muss in erster Linie von der Gesamtheit der Wertvorstellungen ausgegangen werden, die das Volk in einem bestimmten Zeitpunkt seiner geistig-kulturellen Entwicklung erreicht und in seiner Verfassung fixiert hat.“48 Der Verweis auf die grundgesetzlichen Werte führt damit nicht weg vom Recht zu irgendwelchen Wertvorstellungen, sondern hin zu den in der Verfassung verankerten Werten und damit hin zu einer „Verfassungs-Verrechtlichung“ von ansonsten dem richterlichen Ermessen obliegenden Auslegungsspielräumen. Die Entscheidungsgründe stehen aber nicht nur für sich allein. Sie sind Ausdruck einer „fruchtbaren Kommunikation“49 zwischen Rechtsprechung und Literatur, so dass man für ein vertieftes Verständnis auch die geistigen Wegbereiter der Lüth45

v. Mangoldt/Klein, GG, Vorbem. B III 4 vor Art. 1, S. 93. BVerfGE 7, 198, 206 f. (Lüth), mit Verweis auf Dürig, S. 525. 47 So Rensmann, S. 85 f. Zur Bedeutung der Lüth-Entscheidung als Instrument zur Wiederherstellung des moralischen Ansehens Deutschlands in der Welt, ebda, S. 84 ff. 48 BVerfGE 198, 7, 206 (Lüth); ebda, S. 215: „§ 826 BGB verweist auf den Maßstab der ,guten Sitten‘. Es handelt sich hier nicht um irgendwie vorgegebene und daher (grundsätzlich) unveränderliche Prinzipien reiner Sittlichkeit, sondern um die Anschauungen der ,anständigen Leute‘ davon, was im sozialen Verkehr zwischen den Rechtsgenossen ,sich gehört‘. Diese Anschauungen sind geschichtlich wandelbar, können daher – in gewissen Grenzen – auch durch rechtliche Gebote und Verbote beeinflusst werden. Der Richter, der das hiernach sozial Geforderte oder Untersagte im Einzelfall ermitteln muss, hat sich, wie aus der Natur der Sache folgt, ihm aber auch in Art. 1 Abs. 3 GG ausdrücklich vorgeschrieben ist, dabei an jene grundsätzlichen Wertentscheidungen und sozialen Ordnungsprinzipien zu halten, die er im Grundrechtsabschnitt der Verfassung findet.“ 49 Böckenförde, Grundsatznormen, S. 5. 46

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Entscheidung berücksichtigen muss. Böckenförde verweist insofern auf Dürig, Nipperdey, v. Mangoldt/Klein, Hans Huber.50 Rensmann zeichnet darüber hinaus gleichsam „Satz für Satz“ die der Lüth-Entscheidung zugrunde liegenden Begründungsansätze nach und identifiziert die Urheber der vom BVerfG übernommenen Aussagen wie der „prinzipiellen Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte“ (Friedrich Klein) als Kontrapunkt zum „Wertrelativismus“ der Weimarer Verfassung,51 die „innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltende menschliche Persönlichkeit und Würde“ (Wintrich, Dürig, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte) als Ausdruck eines gewandelten gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsbedingten Freiheitsverständnisses52 sowie die „verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts“ als Weiterführung der Weimarer Diskussion zur Multifunktionalität der Grundrechte und insbesondere ihrer richtunggebenden Wirkungen.53 Die für die gesamte Rechtsordnung beachtliche Auslegungsfunktion der Grundrechte sei erstmals von Günter Holstein erkannt und dann von Erich Kaufmann, Rudolf Smend, Heinrich Triepel und Carl Schmitt weitergeführt worden.54 Die Weimarer Staatsrechtslehre habe daher den Grundstein für die Fusion von grundrechtlicher Programmatik und Normativität gelegt.55 Angesichts dieser geistigen Urheber lag es nicht fern, wie Triepel und insbesondere wie Smend von Werten zu sprechen.56 Den transzendenten Pfad, den die Wertterminologie dabei offenhält, beschreitet das BVerfG hier allerdings nicht. Es beschränkt sich aber auch nicht auf die ebenfalls in der Lüth-Entscheidung enthaltene neutrale Beschreibung der Grundrechte als objektive Normen.57 Das BVerfG hält trotz juristischer Begründung den Rekurs auf Werte nicht für entbehrlich.58

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Böckenförde, Grundsatznormen, S. 5. Rensmann, S. 98 ff. Siehe auch oben S. 29 f. 52 Rensmann, S. 100 ff. 53 Rensmann, S. 105 ff. 54 Rensmann, S. 107 ff. 55 Rensmann, S. 112. 56 Triepel, S. 90: „Wir, die wir ebenso wie Smend arbeiten, operieren auf unseren Gebieten mit Werten und drängen nach Herausstellung der im Gesetz festgelegten oder aus ihm erkennbaren Werturteile, mehr als dies die letzte Generation getan hat. In den Grundrechten finden wir für unsere Zwecke eine Fülle von Material. Denn sie enthalten vielfach nichts anderes als legalisierte Wertungen.“ Smend, Verfassung, S. 264 ff., „Werte-, Güter- oder Kultursystem“. 57 BVerfGE 7, 198 (Lüth), S. 205 („Der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen […].“), S. 207 („[…] den Gehalt der Grundrechtsnorm (als objektiver Norm) […].“). 58 Anders Goerlich, Wertordnung, zusammenfassend auf S. 140 f., wonach die Wertordnungsjudikate des BVerfG im Ergebnis substantiell durch andere Begründungen getragen werden könnten und der Rekurs auf Werte daher entbehrlich sei. 51

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

III. Grundrechte als objektiv-rechtliche Normen In seiner weiteren Rechtsprechung entfaltet das BVerfG die Wirkungen der grundrechtlichen Werteordnung, die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte und ihre Funktionen. Dabei stellt es auch und zunehmend auf die objektiv-rechtliche Funktion der Grundrechte ab.59 Die Rede von objektiven Normen oder objektivrechtlichen Grundrechtsgehalten ist aber verwirrend. Damit wird ein Gegensatz suggeriert, nämlich der zwischen einander gegenüberstehenden subjektiv- und objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten, der so nicht gemeint ist. Das BVerfG geht vielmehr schon in der Lüth-Entscheidung davon aus, dass auch der objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte, also der über die (subjektiv-rechtliche) Abwehrdimension hinausgehende Gehalt, subjektiv-rechtlich – im Wege der Verfassungsbeschwerde – geltend gemacht werden kann.60 Zwar wolle das BVerfG keine Superrevisionsinstanz sein, aber es müsse zu seiner Kompetenz gehören, „den spezifischen Wert, der sich in diesem Grundrecht für die freiheitliche Demokratie verkörpert, allen Organen der öffentlichen Gewalt, also auch den Zivilgerichten, gegenüber zur Geltung zu bringen und den verfassungsrechtlich gewollten Ausgleich zwischen den sich gegenseitig widerstreitenden, hemmenden und beschränkenden Tendenzen des Grundrechts und der ,allgemeinen Gesetze‘ herzustellen.“61 Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte steht damit nicht im Gegensatz zu subjektiv-rechtlichen Gehalten, sondern wird verstanden als Erweiterung der klassischen abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension. Als in diesem Sinne objektive Normen entfalten die Grundrechte richtunggebende Kraft auf das einfache Recht (Ausstrahlungswirkung) und bilden die Grundlage für Grundrechte als Leistungs-, Teilhabe-, Organisationsund Verfahrensrechte sowie als Schutzpflichten.62

1. Ausstrahlungswirkung Die in der Lüth-Entscheidung erklärte Verbindlichkeit der grundrechtlichen Werteordnung für das gesamte Recht und die damit verbundene Verpflichtung, diese bei der Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts stets zu beachten, setzt das 59 Empfohlen wird daher auch die Verwendung folgender Begriffe: „Grundrechte als Elemente objektiver Ordnung“, Hesse, Grundzüge, Rn. 290 ff.; „objektiv rechtliche Prinzipien“, Jarass, Wertentscheidungen, S. 367 ff.; „objektiv-rechtliche Gehalte“, Stern, Staatsrecht III/1, S. 918 ff. 60 BVerfGE 7, 198, 207 (Lüth). Wegen der subjektiv-rechtlichen Dimension des objektivrechtlichen Gehalts kritisch zur begrifflichen Unterscheidung der Grundrechte nach ihrem subjektiv- und objektiv-rechtlichen Gehalt Jarass, Wertentscheidungen, S. 368 f. Ausführlich und im Ergebnis zustimmend zur subjektiven Geltendmachung objektiv-rechtlicher Gehalte ders., Grundrechte, S. 46 ff. Vgl. dazu auch Kahl, Grundrechte, § 24 Rn. 9 ff. 61 BVerfGE 7, 198, 207, 209 (Lüth). 62 Zu den unterschiedlichen systematischen Zuordnungen der Grundrechtsfunktionen H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 42 f.

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BVerfG in seiner weiteren Rechtsprechung fort.63 Die Werteordnung verpflichtet damit insbesondere Verwaltung und Rechtsprechung. In einer frühen Entscheidung führt das BVerfG dazu aus: „Denn auch wenn man Art. 6 Abs. 5 GG lediglich als Gesetzgebungsauftrag versteht, ist er Ausdruck einer verfassungsrechtlichen Wertentscheidung, die Gerichte und Verwaltung im Rahmen der geltenden Gesetze bei der Ausübung des Ermessens bindet. Die praktische Bedeutung dieser Bindung für die Gerichte liegt darin, dass die in der Verfassungsnorm ausgeprägte Wertauffassung bei der den Gerichten anvertrauten Interessenabwägung und vor allem bei der Interpretation der einfachen Gesetze zugrunde zu legen ist.“64 Die interpretationsleitende Wirkung der verfassungsrechtlichen Wertmaßstäbe, nicht nur bei den „Einbruchstellen“ der Generalklauseln, sondern auch bei der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe, beschreibt das BVerfG wie folgt: „Es ist richtig, dass die in § 81a StPO verwendeten Begriffe weitgehend unbestimmt sind. Diese Unbestimmtheit führt aber nicht zur Ungültigkeit der Bestimmung. Dass der Gehalt einer unvollkommen gefassten Vorschrift erst durch Auslegung unter Berücksichtigung ihres Zwecks – jetzt auch unter Beachtung der Wertmaßstäbe des Grundgesetzes – erschlossen werden muss, ist nichts Ungewöhnliches; […].“65 Die Normen des einfachen Rechts sind also mit der grundrechtlichen Werteordnung von vornherein verwoben und bestimmen die normative Begriffsbildung des einfachen Rechts. Im Zweifel ist derjenigen Auslegung der Vorzug zu geben, die den Wertentscheidungen der Verfassung besser entspricht.66 Auch wenn die Ausstrahlungswirkung „,nichts Privatrechtsspezifisches‘ ist“67, so scheint die über das engere Staat-Bürger-Verhältnis hinausgehende Wirkung der Grundrechte im Privatrechtsverhältnis besonders konfliktträchtig zu sein, da sich auf beiden Seiten Grundrechtsträger gegenüberstehen. Im Lüth-Urteil hat das BVerfG betont, dass die grundrechtlichen Wertmaßstäbe vor allem bei den zwingenden Vorschriften des Privatrechts wirken, da sie der Herrschaft des Privatwillens entzogen seien.68 Daraus folgt aber nicht, dass die Bereiche vertraglicher Autonomie dem Einfluss der grundrechtlichen Werteordnung entzogen wären, was in der Handelsvertreter-Entscheidung des BVerfG deutlich zum Ausdruck kommt: „Privatautonomie besteht nur im Rahmen der geltenden Gesetze, und diese sind ihrerseits 63 Beispielhaft für das Zivilrecht: BVerfGE 7, 230, 234; 25, 266 (Blinkfüer); E 35, 202 (Lebach); für das Strafrecht: BVerfGE 32, 98, 108 f. (Gesundbeter); E 75, 369, 376 (Strauß); E 77, 240, 250 f.; für das Verfahrensrecht: BVerfGE 51, 324 (Verhandlungsunfähigkeit). Weitere Beispiele zu besonderen Rechtsgebieten bei Stern, Staatsrecht III/1, S. 924 ff. 64 BVerfGE 8, 210, 217 (nachfolgend BVerfGE 25, 167, 179). 65 BVerfGE 16, 194, 200 f. (Liquorentnahme). 66 BVerfGE 8, 210, 221: „Die Interpretation dient vielmehr der legitimen richterlichen Aufgabe, den Sinn einer Gesetzesbestimmung aus ihrer Einordnung in die gesamte Rechtsordnung zu erforschen, ohne am Wortlaut des Gesetzes zu haften. Sind aber zwei verschiedene Deutungen einer Norm möglich, so verdient diejenige den Vorzug, die einer Wertentscheidung der Verfassung besser entspricht.“ 67 Stern, Staatsrecht III/1, S. 1511 ff. 68 BVerfGE 7, 198, 206 (Lüth).

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an die Grundrechte gebunden. […] Solche Schranken sind unentbehrlich, weil Privatautonomie auf dem Prinzip der Selbstbestimmung beruht, also voraussetzt, dass auch die Bedingungen freier Selbstbestimmung tatsächlich gegeben sind. Hat einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht, dass er vertragliche Regelungen faktisch einseitig setzen kann, bewirkt dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung.“69 Beim Schutz der Privatautonomie komme der Rechtsprechung eine besondere Bedeutung zu: „Selbst wenn der Gesetzgeber davon absieht, zwingendes Vertragsrecht für bestimmte Lebensbereiche oder für spezielle Vertragsformen zu schaffen, bedeutet das keineswegs, dass die Vertragspraxis dem freien Spiel der Kräfte unbegrenzt ausgesetzt wäre. Vielmehr greifen dann ergänzend solche zivilrechtlichen Generalklauseln ein, die als Übermaßverbote wirken, vor allem die §§ 138, 242, 315 BGB. Gerade bei der Konkretisierung und Anwendung dieser Generalklauseln sind die Grundrechte zu beachten (grundlegend BVerfGE 7, 198 [206]). Der entsprechende Schutzauftrag der Verfassung richtet sich hier an den Richter, der den objektiven Grundentscheidungen der Grundrechte in Fällen gestörter Vertragsparität mit den Mitteln des Zivilrechts Geltung zu verschaffen hat und diese Aufgabe auch auf vielfältige Weise wahrnimmt (…).“70 Mit dem Begriff der Ausstrahlungswirkung71 beschreibt das BVerfG die Bedeutung der Grundrechte für das einfache Recht treffend. Die grundrechtliche Werteordnung steht im Zentrum der Rechtsordnung und beeinflusst bzw. „erhellt“ von dort die Auslegung der Gesetze. Das BVerfG betont aber – möglichweise, um dem Einwand des bloßen Verfassungsvollzuges und der Abwertung des einfachen Rechts zuvorzukommen – dass es sich trotz der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte um die Anwendung einfachen Rechts handelt.72

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BVerfGE 81, 242, 254 f. BVerfGE 81, 242, 255 f. Siehe auch BVerfGE 89, 214, 232 (Bürgschaftsverträge): „Handelt es sich jedoch um eine typisierbare Fallgestaltung, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lässt, und sind die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend, so muss die Zivilrechtsordnung darauf reagieren und Korrekturen ermöglichen. Das folgt aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG).“; BVerfGE 103, 89, 100 (Eheverträge). 71 Zum Sprachgebrauch des BVerfG siehe Stern, Staatsrecht III/1, S. 923 f. 72 BVerfGE 42, 143, 148 (Deutschlandmagazin): „Auch wenn die ordentlichen Gerichte grundrechtlich verbürgte Positionen Privater gegeneinander abzugrenzen haben und dabei – vor allem bei der Interpretation von Generalklauseln und anderen ,Einbruchstellen‘ der Grundrechte in das bürgerliche Recht – grundrechtsbezogen argumentieren, wenden sie Privatrecht an (BVerfGE 7, 198 [205 f.] – Lüth –). Wie die ,richtige‘ Lösung einer bürgerlich-rechtlichen Streitigkeit konkret auszusehen hat, ist im Grundgesetz nicht vorgeschrieben. Es enthält vielmehr in seinem Grundrechtsabschnitt verfassungsrechtliche Grundentscheidungen für alle Bereiche des Rechts, die sich erst durch das Medium der das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften entfalten (BVerfGE 7, 198 [205] – Lüth –).“ Siehe dazu auch oben S. 27. 70

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2. Grundrechte als Teilhabe- und Leistungsrechte Als Leitentscheidung für die Anerkennung von Teilhabe- und Leistungsfunktionen der Grundrechte gilt die numerus-clausus-Entscheidung des BVerfG.73 Die Unterscheidung zwischen Teilhabe- und Leistungsrechten wird hier verwendet, um derivative Teilhaberechte einerseits, also Teilhabe an vom Staat bereits bereitgehaltenen Leistungen, von originären Leistungsrechten andererseits, die auf die Schaffung von Leistungen gerichtet sind, abzugrenzen. Die Berufung auf die objektive und wertsetzende Bedeutung der Grundrechte stellt die Grundlage für beide Ausprägungen dar. Das BVerfG verweist insofern auf die Besonderheiten des modernen Staates: „Der verfassungsrechtliche Grundrechtsschutz im Bereich des Ausbildungswesens erschöpft sich indessen nicht in der den Freiheitsrechten herkömmlich beigemessenen Schutzfunktion gegen Eingriffe der öffentlichen Gewalt. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach ausgesprochen, dass die Grundrechte zugleich als objektive Normen eine Wertordnung statuieren, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts Geltung beansprucht, und dass daher die Grundrechte nicht nur Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat sind […]. Je stärker der moderne Staat sich der sozialen Sicherung und kulturellen Förderung der Bürger zuwendet, desto mehr tritt im Verhältnis zwischen Bürger und Staat neben das ursprüngliche Postulat grundrechtlicher Freiheitssicherung vor dem Staat die komplementäre Forderung nach grundrechtlicher Verbürgung der Teilhabe an staatlichen Leistungen.“74 Der Grund für eine grundrechtliche Verbürgung dieser Rechte wird ebenso deutlich formuliert: „[…]; das Freiheitsrecht wäre ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos.“75 Für die Teilhabe an bereits vorhandenen, insbesondere in Form eines (Ausbildungs-)Monopols gewährten Leistungen, folgert das BVerfG aus dem Gleichheitssatz in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip einen Anspruch auf Zutritt zu Ausbildungseinrichtungen.76 Im Hinblick auf ein über die Teilhabe am Vorhandenen hinausgehenden Recht auf Schaffung von Leistungen – hier die Schaffung von Ausbildungskapazitäten – wählt das BVerfG eine vorsichtige Formulierung: „Da diesen Auswirkungen [erg.: des numerus clausus] nachhaltig nur durch Erweiterung der Kapazitäten begegnet werden kann, ließe sich fragen, ob aus den grundrechtlichen Wertentscheidungen und der Inanspruchnahme des Ausbildungsmonopols ein objektiver sozialstaatlicher Verfassungsauftrag zur Bereitstellung ausreichender Ausbildungskapazitäten für die verschiedenen Studienrichtungen folgt. Ob diese Frage zu bejahen wäre und ob sich aus diesem Verfassungsauftrag unter besonderen Voraussetzungen ein einklagbarer Individualanspruch des Staatsbürgers auf Schaffung von Studienplätzen herleiten ließe, bedarf jedoch hier 73 74 75 76

BVerfGE 33, 303 (numerus clausus). BVerfGE 33, 303, 330 f. (numerus clausus). BVerfGE 33, 303, 331 (numerus clausus). BVerfGE 33, 303, 331 f. (numerus clausus).

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keiner Entscheidung. Denn verfassungsrechtliche Konsequenzen kämen erst bei evidenter Verletzung jenes Verfassungsauftrages in Betracht.“77 Auch wenn das BVerfG hier das Vorliegen eines originären grundrechtlichen Leistungsanspruchs aus Art. 12 Abs. 1 GG offen lässt, wird gleichwohl deutlich, dass das Ziel einer effektiven Wahrnehmung der Grundrechte in die Auslegung einbezogen wird. Dabei spielt nicht nur der Schutz vor staatlichen Eingriffen eine Rolle. Auch das Vorenthalten von staatlichen Leistungen kann eine Grundrechtsbeeinträchtigung darstellen, wenn dadurch die tatsächliche Grundrechtsverwirklichung gefährdet wird. Dies bestätigt das BVerfG im späteren Hochschulurteil für die Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG.78 Danach folge aus der Wertentscheidung des Art. 5 Abs. 3 GG die Pflicht des Staates, für die Idee der freien Wissenschaft einzustehen und an ihrer Verwirklichung mitzuwirken. Der Staat habe funktionsfähige Institutionen für einen freien Wissenschaftsbetrieb zur Verfügung zu stellen.79 Im Hinblick auf die Bedingungen der tatsächlichen Grundrechtsverwirklichung heißt es: „Diesem Gebot kommt deswegen besondere Bedeutung zu, weil ohne eine geeignete Organisation und ohne entsprechende finanzielle Mittel, über die im wesentlichen nur noch der Staat verfügt, heute in weiten Bereichen der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften, keine unabhängige Forschung und wissenschaftliche Lehre mehr betrieben werden kann.“80 Neben die Freiheitsverwirklichung ohne den Staat tritt damit die Freiheitsverwirklichung durch den Staat. In der Konsequenz dieses Freiheitsverständnisses liegt es aber, nicht nur von objektiven Verfassungsaufträgen zur Förderung der Grundrechtsverwirklichung auszugehen, sondern auch subjektive Leistungsansprüche auf Schaffung von Grundrechtsverwirklichungsbedingungen in Betracht zu ziehen.81 Letztere stehen aber in besonderem Maße unter dem „Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann“82 und dem dabei zu berücksichtigenden Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers.83 77

BVerfGE 33, 303, 333 (numerus clausus). BVerfGE 35, 79 (Hochschulurteil). 79 BVerfGE 35, 79, 114 f. (Hochschulurteil). 80 BVerfGE 35, 79, 115 (Hochschulurteil). 81 In diese Richtung BVerfGE 75, 40, 65 (Privatschulen I): „Soll Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG nicht zu einem wertlosen Individualgrundrecht auf Gründung existenzunfähiger Ersatzschulen und zu einer nutzlosen institutionellen Garantie verkümmern, so muss diese Verfassungsnorm zugleich als eine Verpflichtung des Gesetzgebers verstanden werden, die privaten Ersatzschulen zu schützen und zu fördern.“ BVerfGE 90, 107, 114 f. (Waldorfschule/Bayern): „Es kann hier unerörtert bleiben, ob und welche Rechte sich aus der Garantie der Privatschule als Institution (…) für den einzelnen Träger des Grundrechts aus Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG ergeben. Jedenfalls muss der Staat dagegen Vorsorge treffen, dass das Grundrecht als subjektives Recht wegen der seinem Träger durch Art. 7 Abs. 4 Satz 3 und 4 GG auferlegten Bindungen praktisch kaum noch wahrgenommen werden kann. Insofern kann sich aus Art. 7 Abs. 4 GG über dessen Abwehrcharakter hinaus ein Anspruch auf staatliche Förderung ergeben (vgl. auch BVerfGE 75, 40 [62 f.]).“ Zum Existenzminimum vgl. BVerfGE 82, 60, 80 (steuerfreies Existenzminimum) und BVerfG NJW 2010, S. 505 ff. (Hartz IV). 82 BVerfGE 33, 303, 333 (numerus clausus). 78

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3. Grundrechte als Organisationsrechte Das soeben erwähnte Hochschulurteil des BVerfG ist darüber hinaus grundlegend für die organisationsrechtliche Dimension der Grundrechte. Als objektive, wertentscheidende Grundsatznorm schütze die Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG nicht nur vor staatlichen Eingriffen in den Eigenbereich der Wissenschaft, sondern fordere auch die Pflege der freien Wissenschaft durch „Bereitstellung von personellen, finanziellen und organisatorischen Mitteln“.84 Innerhalb des vom Staat einzurichtenden bzw. eingerichteten öffentlichen Wissenschaftsbetriebs habe er „durch geeignete organisatorische Maßnahmen dafür zu sorgen, dass das Grundrecht der freien wissenschaftlichen Betätigung soweit unangetastet bleibt, wie das unter Berücksichtigung der anderen legitimen Aufgaben der Wissenschaftseinrichtungen und der Grundrechte der verschiedenen Beteiligten möglich ist.“85 Darunter fällt nicht nur die Verpflichtung, auch im öffentlichen Wissenschaftsbetrieb das gegen staatliche Eingriffe gerichtete Individualrecht aus Art. 5 Abs. 3 GG zu gewährleisten. Darüber hinaus – und insoweit kommt der Wertcharakter der Norm zum Tragen – komme dem Grundrechtsträger das Recht auf „solche staatlichen Maßnahmen auch organisatorischer Art [zu], die zum Schutz seines grundrechtlich gesicherten Freiheitsraums unerlässlich sind, weil sie ihm freie wissenschaftliche Betätigung überhaupt erst ermöglichen“.86 Das BVerfG bezieht in seine normative Betrachtungsweise ein, dass die (tatsächliche) Wahrnehmung der Wissenschaftsfreiheit ohne Schaffung funktionsfähiger Wissenschaftseinrichtungen, ohne Teilhabe am öffentlichen Wissenschaftsbetrieb und ohne organisatorisch gewährleisteten Freiheitsraum schon nicht möglich wäre. Um die Grundrechtsverwirklichung aber gleichwohl zu gewährleisten – nicht nur im Interesse der persönlichen Freiheitsverwirklichung, sondern auch im Interesse des Gemeinwesens an einem funktionierenden Wissenschaftsbetrieb – sichert das BVerfG ihre Bedingungen subjektiv-rechtlich ab: „Diese 83

BVerfGE 90, 107, 115 (Waldorfschule/Bayern): „Allerdings verpflichtet nicht schon jede grundrechtliche Freiheitsverbürgung den Staat, dem Grundrechtsträger durch Leistungen, namentlich finanzieller Art, die Ausübung des Grundrechts zu ermöglichen.“ Besonders deutlich auch BVerfGE 112, 74, 84 (Privatschulen II): „Bei der Entscheidung, in welcher Weise dieser Schutz- und Förderpflicht nachzukommen ist, hat der Landesgesetzgeber eine weitgehende Gestaltungsfreiheit (…). Die den Staat treffende Schutz- und Förderpflicht löst erst dann eine Handlungspflicht aus, wenn andernfalls der Bestand des Ersatzschulwesens als Institution evident gefährdet wäre (…). Das gilt auch für die Gewährung finanzieller Leistungen. Aus Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG folgt kein verfassungsunmittelbarer Anspruch auf Gewährung staatlicher Finanzhilfe und schon gar nicht ein Anspruch auf Leistung in bestimmter Höhe (…). Zu einer solchen Hilfe ist der Staat nur verpflichtet, wenn anders das Ersatzschulwesen als von der Verfassung anerkannte und geforderte Einrichtung in seinem Bestand eindeutig nicht mehr gesichert wäre.“ Auch im Hinblick auf das menschenwürdige Existenzminimum gesteht das BVerfG dem Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum zu, behält sich aber eine Evidenzkontrolle vor, die sich vor allem auf das gesetzliche Verfahren zur Bemessung des Existenzminimums bezieht, vgl. BVerfG NJW 2010, S. 505, 508 f. (Hartz IV). 84 BVerfGE 35, 79, 114 f. (Hochschulurteil). 85 BVerfGE 35, 79, 115 (Hochschulurteil). 86 BVerfGE 35, 79, 116 (Hochschulurteil).

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Befugnis des einzelnen Grundrechtsträgers, gegenüber der öffentlichen Gewalt die Beachtung der wertentscheidenden Grundsatznorm durchsetzen zu können, gehört zum Inhalt des Individualgrundrechts, dessen Wirkungskraft dadurch verstärkt wird.“87 Zu den grundrechtlich gebotenen staatlichen Organisationsnormen von Hochschulgesetzen – hier dem niedersächsischen Vorschaltgesetz – nimmt das BVerfG relativ konkret Stellung. In gruppenmäßig besetzten Kollegialorganen soll bei Fragen betreffend die Lehre und die Forschung der Gruppe der Hochschullehrer ein maßgebender bzw. ausschlaggebender Einfluss zukommen.88 Denn für die freie Ausübung von Forschung und Lehre seien nicht erst die Beschlüsse der Hochschulorgane relevant: „Nicht nur das formale Beratungs- und Entscheidungsverfahren der einzelnen Organe, sondern auch der Inhalt ihrer Entscheidungen wird durch ihre Zusammensetzung mindestens tendenziell, in einem allgemeinen qualitativen Sinn, vorausbestimmt mit der Folge, dass die Entscheidungen dieser Organe sich je nach deren Zuständigkeit auf den durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützten Freiheitsraum auswirken können. Ein effektiver Grundrechtsschutz erfordert daher adäquate organisationsrechtliche Vorkehrungen.“89 In ihrem Sondervotum üben die Richter Rupp-v. Brünneck und Simon deutliche Kritik an der Entscheidung und markieren das problematische Kompetenzverhältnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber bei der Annahme grundrechtlicher Leistungsansprüche, wie hier auf Schaffung von Organisationsnormen. Mit der Herleitung detaillierter Anforderungen an die Organisation der universitären Selbstverwaltung unmittelbar aus der Verfassung setze sich das BVerfG unter Überschreitung seiner Funktion an die Stelle des Gesetzgebers. Die Verdichtung zu einem subjektiv-rechtlichen Anspruch auf Schaffung bestimmter Organisationsnormen komme erst bei Überschreiten äußerster Grenzen in Betracht.90 Damit weichen die dissentierenden Richter zwar vom Ergebnis der Senatsmehrheit ab. Die grundsätzliche Anerkennung des Zusammenhangs zwischen effektiver Grundrechtsverwirklichung und Organisationsnormen sowie der diesbezüglichen normativen Wirkungen der Wissenschaftsfreiheit als wertentscheidender Grundsatznorm auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers91 ist jedoch unstrittig und findet sich auch in der folgenden Rechtsprechung des BVerfG.92 87

BVerfGE 35, 79, 116 (Hochschulurteil). BVerfGE 35, 79, 126 ff. (Hochschulurteil). 89 BVerfGE 35, 79, 121 (Hochschulurteil). 90 Sondervotum BVerfGE 35, 79, 148 ff. (Hochschulurteil). 91 Sondervotum BVerfGE 35, 79, 148 ff. (Hochschulurteil). 92 Siehe BVerfGE 56, 216, 236 (Rechtsschutz im Asylverfahren): „Indes bedürfen Grundrechte allgemein, sollen sie ihre Funktion in der sozialen Wirklichkeit erfüllen, geeigneter Organisationsformen und Verfahrensregelungen sowie einer grundrechtskonformen Anwendung des Verfahrensrechts, soweit dieses für einen effektiven Rechtsschutz von Bedeutung ist (…).“; BVerfGE 57, 295, 320 (privater Rundfunk): „Es bedarf dazu vielmehr einer positiven Ordnung, welche sicherstellt, dass die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in möglichster Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet und dass auf diese Weise umfassende Information geboten wird. Um dies zu erreichen, sind materielle, organisatorische und Ver88

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4. Grundrechte als Verfahrensrechte In engem Zusammenhang mit den organisationsrechtlichen Voraussetzungen der Grundrechtsverwirklichung stehen ihre verfahrensrechtlichen Voraussetzungen.93 Neben den eigentlichen Verfahrensgrundrechten (z. B. Art. 19 Abs. 4, Art. 101 Abs. 1 S. 2, Art. 103 Abs. 1 GG) hat das BVerfG auch für die materiellen Grundrechte verfahrensrechtliche Schutzwirkungen durch und im Verfahren entwickelt.94 Betroffen sind Verfahrensregelungen in behördlichen, gerichtlichen und Vollstreckungsverfahren betreffend das Staat-Bürger-Verhältnis oder das Verhältnis zwischen Privaten.95 Bereits in seiner Entscheidung zum Hamburger Deichgesetz stellt das BVerfG heraus, dass der Gedanke des effektiven Rechtsschutzes ein wesentlicher Bestandteil des materiellen Grundrechts selbst – hier des Eigentumsgrundrechts aus Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG – ist.96 Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass eine effektive Grundrechtswahrnehmung nicht nur vom materiellen Recht, sondern wesentlich auch von der Verfahrensgestaltung abhängt.97 In einem Sondervotum führt Richter Böhmer dazu aus: „Das Mittel zur Durchsetzung der verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen ist das Verfahrensrecht. Die staatlichen Organe haben nicht nur die Pflicht, die materiellen Grundrechte zu beachten, sie müssen ihnen auch durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung Wirksamkeit verschaffen. Wenn das Verfahrensrecht nicht auf die Effektuierung der Grundrechte ausgerichtet ist, kann fahrensregelungen erforderlich, die an der Aufgabe der Rundfunkfreiheit orientiert und deshalb geeignet sind zu bewirken, was Art. 5 Abs. 1 GG gewährleisten will.“; siehe auch BVerfGE 73, 118, 152 f.; E 119, 181, 214. Zur Nähe zwischen Wertentscheidung und institutionellem Grundrechtsgehalt Jarass, Wertentscheidungen, S. 367; ders., Grundrechte, S. 50 f. (Ausgestaltungsvorbehalt). 93 H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 44. 94 Goerlich, Verfahrensgarantien, S. 20 spricht insofern von den Verfahrensgarantien der Einzelgrundrechte. 95 Zum universalen Charakter der verfahrensrechtlichen Grundrechtsdimension H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 46 f. 96 BVerfGE 24, 367, 401. Für das Eigentumsgrundrecht sei nicht nur die Frage der Entschädigung und der insoweit eingeräumte Rechtsweg nach Art. 14 Abs. 3 S. 4 GG bedeutsam: „Die erste Frage ist immer, ob der Zugriff auf das Eigentum zulässig ist; […]. Nach der grundgesetzlichen Konzeption ist hiernach ein effektiver – den Bestand des Eigentums sichernder – Rechtsschutz ein wesentliches Element des Grundrechts selbst.“ Dieser dem Grundrecht wesensmäßig zugehörige Rechtsschutz erfordere es, dass der Gesetzgeber nur in Ausnahmefällen von einer Enteignung durch Gesetz (Legalenteignung) Gebrauch mache. Denn gegenüber Enteignungen durch Verwaltungsakte sei der Rechtsschutz durch Legalenteignungen entscheidend gemindert. 97 BVerfGE 53, 30, 65 (Mülheim-Kärlich) und m.w.N.: „Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung dieser Frage ist von der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auszugehen, dass der Grundrechtsschutz weitgehend auch durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken ist und dass die Grundrechte demgemäß nicht nur das gesamte materielle, sondern auch das Verfahrensrecht beeinflussen, soweit dieses für einen effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung ist.“

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deren substantieller Gehalt beeinträchtigt werden. Im Grunde ist ein ordnungsgemäßes Verfahren die einzige Möglichkeit, Grundrechte durchzusetzen oder wirksam zu gewährleisten.“98 Die Annahme verfahrensrechtlicher Grundrechtswirkungen kann sich dabei zum einen auf die Auslegung und Anwendung bereits bestehenden Verfahrens- und Prozessrechts auswirken und zum anderen auf deren gesetzgeberische Ausgestaltung.99 Im Hinblick auf die Ausstrahlung verfahrensrechtlicher Grundrechtswirkungen fordert das BVerfG, die Verfahrensnormen so zu handhaben, dass die Verfassungsgebote in effektiver Weise realisiert bzw. die grundrechtlichen Wertentscheidungen verwirklicht werden können.100 Bei mehreren Auslegungsmöglichkeiten ist diejenige zu wählen, die dem Gericht ermöglicht, die Grundrechte der Verfahrensbeteiligten durchzusetzen und zu verwirklichen.101 Die verfahrensrechtliche Ausstrahlungswirkung der Grundrechte betrifft dabei nicht nur die Grundrechtsverwirklichung durch Verfahren. Auch im Verfahren müssen die betroffenen Grundrechte, wie z. B. die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 GG, bei der Auslegung des Verfahrens- und Prozessrechts beachtet werden.102 98

Sondervotum zu BVerfGE 49, 220, 228 ff., 235. Siehe dazu das Sondervotum der Richter Simon und Heußner zur Mülheim-KärlichEntscheidung des BVerfG, BVerfGE 53, 30, 71. 100 BVerfGE 35, 348, 361 ff. (Armenrecht für juristische Personen). Zu weiteren Beispielen für die Verfahrensdimension materieller Grundrechte siehe die Nachweise im Sondervotum der Richter Simon und Heußner, BVerfGE 53, 30, 69 ff., 73 (Mülheim-Kärlich). 101 BVerfGE 49, 252, 257 (Zwangsversteigerung). Zum Nebeneinander von Rechtsweggarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG und Rechtsschutzansprüchen aus den materiellen Grundrechten ebda, S. 256 f.: „Nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG steht demjenigen, dessen Rechte durch Maßnahmen der öffentlichen Gewalt betroffen werden, der Rechtsweg offen. […]. Diese Regelung wird ergänzt durch den sich unmittelbar aus dem materiellen Grundrecht des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 ergebenden Anspruch auf einen effektiven Rechtsschutz […]. Eröffnet die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG dem Betroffenen den Weg zu einem staatlichen Gericht, das den Grundsätzen des Art. 92 und 97 GG genügen muss, so bedeutet der grundrechtliche Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, dass die Gerichte im jeweiligen Verfahren der normativen Geltung der Grundrechte tatsächliche Wirksamkeit verschaffen müssen. Sie haben nicht nur die negative Verpflichtung, mit der Verfassung nicht in Einklang stehende Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche zu unterlassen, sondern auch die positive Verpflichtung, die Grundrechte durchzusetzen. Dem Verfahrensrecht kommt hierbei eine wesentliche Rolle zu. Es dient nicht nur dem Ziel, einen geordneten Verfahrensgang zu sichern, sondern ist im grundrechtlich relevanten Bereich auch das Mittel, im konkreten Fall dem Grundrechtsträger zu seinem verfassungsmäßigen Recht zu verhelfen.“ Kritisch zum Bedarf an Rechtsschutzansprüchen aus materiellen Grundrechten Papier, § 154 Rn. 15 ff. 102 BVerfGE 51, 324, 345 f. (Verhandlungsunfähigkeit); deutlich mit Bezug auf die Werteordnung BVerfGE 52, 214, 219 f. (Räumungsschutz). Im Rahmen der Zwangsvollstreckung müssten die Vollstreckungsgerichte beim Vollstreckungsschutz „auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte berücksichtigen“. Bei der Prüfung, ob eine den Vollstreckungsschutz begründende mit den guten Sitten unvereinbare Härte vorliege, seien die Interessen von Schuldner und Gläubiger gegeneinander abzuwägen. Dabei müsse der Schutz des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG beachtet werden. 99

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In der Mülheim-Kärlich-Entscheidung betont das BVerfG nicht nur die verfahrensrechtlichen Grundrechtswirkungen auf die Auslegung und Anwendung der verfahrensrechtlichen Atomvorschriften,103 sondern stellt auch den Zusammenhang zwischen Grundrechten und gesetzgeberischer Verfahrensgestaltung heraus. Es erläutert die objektiv-rechtlichen Dimensionen von Art. 2 Abs. 2 GG und den daraus abzuleitenden staatlichen Schutzpflichten,104 die der Gesetzgeber u. a. durch Schaffung der atomrechtlichen Verfahrensvorschriften erfüllt habe: „Dieser Schutzpflicht ist der Staat in der Weise nachgekommen, dass er die wirtschaftliche Nutzung der Atomenergie von einer vorherigen staatlichen Genehmigung und die Erteilung solcher Genehmigungen von näher geregelten materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen abhängig gemacht hat.“105 Danach wirkt die verfahrensrechtliche Dimension der Grundrechte, d. h. das Ziel effektiven Grundrechtsschutzes durch Verfahren, auch auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ein und verpflichtet ihn zur Schaffung entsprechender verfahrensrechtlicher Voraussetzungen.106 5. Grundrechte als Schutzpflichten Verwoben mit den bisher dargestellten Grundrechtsdimensionen ist die Schutzpflichtdimension. Man könnte die grundrechtliche Schutzdimension auch als Oberbegriff für alle Grundrechtsdimensionen ansehen, die über die Abwehr staatlicher Eingriffe hinaus ein positives staatliches Handeln fordern, wie den Erlass organisations- oder verfahrensrechtlicher Vorschriften, eine verfassungsorientierte Auslegung des einfachen Rechts, die Anerkennung grundrechtlicher Leistungs- bzw. Teilhaberechte oder den Erlass von Vorschriften, die vor Beeinträchtigungen durch Dritte schützen.107 Schon im Hochschulurteil spricht das BVerfG von einer Pflicht 103

BVerfGE 53, 30, 62 ff. (Mülheim-Kärlich). Zu den grundrechtlichen Schutzpflichten sogleich unter A. III. 5. 105 BVerfGE 53, 30, 57 (Mülheim-Kärlich). 106 Vgl. auch BVerfGE 63, 131, 143: „Um seine Wirkungen entfalten zu können, bedarf das Gegendarstellungsrecht einer den sachlichen Erfordernissen entsprechenden Ausgestaltung durch Verfahrensrecht. Ebenso wie es selbst der Sicherung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dient, ist auch das Verfahrensrecht für einen effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung; es muss deshalb den Geboten eines solchen Schutzes entsprechen […]. Erfüllt das vom Gesetzgeber geschaffene Verfahrensrecht seine Aufgabe nicht oder setzt es der Rechtsausübung so hohe Hindernisse entgegen, dass die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition entsteht, dann ist es mit dem Grundrecht, dessen Schutz es bewirken soll, unvereinbar.“; BVerfGE 65, 1, 44 (Volkszählung): „Angesichts der bereits dargelegten Gefährdungen durch die Nutzung der automatischen Datenverarbeitung hat der Gesetzgeber mehr als früher auch organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen zu treffen, welche der Gefahr einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegenwirken (…).“ 107 Dazu Jarass, Grundrechte, S. 50 f. m.w.N. Siehe aber auch BVerfGE 39, 1, 42 (Schwangerschaftsabbruch I) mit der Schutzpflichtdimension als Oberbegriff für den Schutz vor staatlichen Eingriffen und Eingriffen Dritter: „Die Schutzpflicht des Staates ist umfassend. Sie verbietet nicht nur – selbstverständlich – unmittelbar staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses 104

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

des Staates, sein Handeln positiv an der Verwirklichung der Wissenschaftsfreiheit auszurichten, d. h. „schützend und fördernd einer Aushöhlung dieser Freiheitsgarantie vorzubeugen“.108 Die Sprengkraft der Schutzpflichtdogmatik dürfte aber erst durch das erste Verfassungsurteil zum Schwangerschaftsabbruch wirklich deutlich geworden sein.109 Das BVerfG war sich bewusst, dass das „Phänomen“ des Schwangerschaftsabbruchs vielfältige Probleme aufwirft, und zwar biologischer, humangenetischer, anthropologischer, medizinischer, psychologischer, sozialer, gesellschaftspolitischer, ethischer und moraltheologischer Art, die die Grundfragen menschlicher Existenz überhaupt berühren.110 Aufgabe des Gesetzgebers sei es, die aus diesen verschiedenen Sichtweisen entwickelten Argumente zu würdigen, sie durch spezifische rechtspolitische Überlegungen sowie durch praktische Erfahrungen des Rechtslebens zu ergänzen und auf dieser Grundlage die Entscheidungen zu gewinnen, in welcher Weise die Rechtsordnung auf diesen sozialen Vorgang reagieren soll.111 Das BVerfG könne die nach außergewöhnlich umfangreichen Vorarbeiten getroffene Entscheidung des Gesetzgebers nur daraufhin überprüfen, ob sie mit dem Grundgesetz vereinbar sei; die Entscheidung über Maßstäbe und Grenzen gesetzgeberischer Entscheidungsfreiheit erfordere eine Gesamtschau des verfassungsrechtlichen Normenbestandes und der in ihm beschlossenen Wertordnung.112 Die Auseinandersetzungen im Parlament und vor dem BVerfG betrafen nicht die Frage, ob das werdende Leben staatlichem Schutz unterliegt, sondern wie dieser Schutz wirksam zu gewährleisten ist, durch Strafandrohung oder durch fristbezogene Straffreiheit verbunden mit Beratungsregelungen.113 Kann der Staat verfassungsrechtlich verpflichtet sein, zum Schutz des ungeborenen Lebens das Mittel des Strafrechts einzusetzen? Kann ein Verfassungsgericht beurteilen, dass Schwangerschaftsabbrüche wirksam nur durch Strafandrohungen verhindert werden können? Das Bestehen einer staatlichen Schutzpflicht auch gegenüber dem ungeborenen Leben leitet das BVerfG aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ab, verweist daneben aber auch

Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren.“ 108 BVerfGE 35, 79, 114 (Hochschulurteil), Herv. d. Verf. 109 BVerfGE 39, 1. Zum Schutzgedanken siehe bereits BVerfGE 1, 97, 104 (Hinterbliebenenrente): „Wenn Art. 1 Abs. 1 GG sagt: ,Die Würde des Menschen ist unantastbar‘, so will er sie nur negativ gegen Angriffe abschirmen. Der zweite Satz: ,… Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt‘ verpflichtet den Staat zwar zu dem positiven Tun des ,Schützens‘, doch ist dabei nicht Schutz vor materieller Not, sondern Schutz gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. gemeint.“ 110 BVerfGE 39, 1, 35 f. (Schwangerschaftsabbruch I). 111 BVerfGE 39, 1, 36 (Schwangerschaftsabbruch I). 112 BVerfGE 39, 1, 36 (Schwangerschaftsabbruch I). 113 Sondervotum zu BVerfGE 39, 1, 68 f. (Schwangerschaftsabbruch I).

A. Grundzüge der Werteordnung

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auf den Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG.114 Unabhängig von der Frage, ob der nasciturus selbst Grundrechtsträger ist, könne die Frage, ob und ggf. in welchem Umfang der Staat zu rechtlichem Schutz des werdenden Lebens verpflichtet sei, schon aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der grundrechtlichen Normen erschlossen werden. Die Schutzverpflichtung des Staates müsse umso ernster genommen werden, je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes anzusetzen ist. Innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung stelle das menschliche Leben als Voraussetzung aller anderen Grundrechte einen Höchstwert dar, dem Vorrang gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren zukomme. Der Staat müsse den Schwangerschaftsabbruch daher grundsätzlich als Unrecht ansehen und die Missbilligung in der Rechtsordnung klar zum Ausdruck bringen.115 Obwohl das BVerfG die konkreten Maßnahmen für einen wirksamen Lebensschutz dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers überantwortet, sieht es hier – abgesehen von den Indikationsfällen – eine Strafdrohung mangels anderweitiger effektiver Mittel zum Schutz des ungeborenen Lebens als notwendig und verfassungsrechtlich geboten an: „In allen anderen Fällen [erg.: außer bei Indikationen] bleibt der Schwangerschaftsabbruch strafwürdiges Unrecht; denn hier steht die Vernichtung eines Rechtsgutes von höchstem Rang im freien – nicht durch eine Notlage motivierten – Belieben eines anderen.“116 An diesem Punkt setzt die Kritik ein. In ihrem Sondervotum sehen die Richter Rupp-v. Brünneck und Simon in der verfassungsgerichtlich geforderten Strafdrohung eine folgenschwere Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf das BVerfG: „Die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, Entscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers zu annullieren, erfordert einen sparsamen Gebrauch, wenn eine Verschiebung der Gewichte zwischen den Verfassungsorganen vermieden werden soll. Das Gebot richterlicher Selbstbeschränkung (judicial self-restraint), das als das ,Lebenselixier‘ der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezeichnet worden ist, gilt vor allem, wenn es sich nicht um die Abwehr von Übergriffen der staatlichen Gewalt handelt, sondern wenn dem vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgeber im Wege der 114

BVerfGE 39, 1, 41 (Schwangerschaftsabbruch I): „Die Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen, lässt sich deshalb bereits aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ableiten. Sie ergibt sich darüber hinaus auch aus der ausdrücklichen Vorschrift des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG; […].“ Art. 1 Abs. 1 GG in den Vordergrund stellend BVerfGE 49, 89, 142 (Kalkar): „[…] dies wird am deutlichsten in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ausgesprochen, wonach es Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Daraus können sich verfassungsrechtliche Schutzpflichten ergeben, die es gebieten, rechtliche Regelungen so auszugestalten, dass auch die Gefahr von Grundrechtsverletzungen eingedämmt bleibt.“ Später differenziert das BVerfG zwischen dem Grund der Schutzpflicht nach Art. 1 Abs. 1 GG und ihrem Gegenstand aus dem jeweiligen Grundrecht, BVerfGE 88, 203, 251 (Schwangerschaftsabbruch II): „Ihren Grund hat diese Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet; ihr Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt.“ 115 BVerfGE 39, 1, 42 ff. (Schwangerschaftsabbruch I). 116 BVerfGE 39, 1, 50 (Schwangerschaftsabbruch I).

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

verfassungsgerichtlichen Kontrolle Vorschriften für die positive Gestaltung der Sozialordnung gemacht werden sollen. Hier darf das Bundesverfassungsgericht nicht der Versuchung erliegen, selbst die Funktion des zu kontrollierenden Organs zu übernehmen, soll nicht auf lange Sicht die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit gefährdet werden.“117 Sie bezweifeln zwar nicht die Annahme objektiv-rechtlicher auf die Freiheitssicherung gerichteter Grundrechtswirkungen, sehen aber die positive Gestaltung der Rechtsordnung in der Verantwortung und Kompetenz des Gesetzgebers, dem das BVerfG nur dann entgegentreten könne, wenn Wertentscheidungen ganz außer Acht gelassen wurden oder ihre Realisierung offensichtlich fehlsam ist.118 Als offensichtlich fehlsam könne man die Rücknahme von Strafdrohungen bei einer verbesserten Beratungsregelung jedenfalls nicht ansehen.119 Darüber hinaus verweisen die dissentierenden Richter auf die freiheitsgefährdende Auswirkung der so weitgehenden Auslegung objektiv-rechtlicher Schutzwirkungen: „Wenn die in einer Grundrechtsnorm enthaltene objektive Wertentscheidung zum Schutz eines bestimmten Rechtsguts genügen soll, um daraus die Pflicht zum Strafen herzuleiten, so könnten die Grundrechte unter der Hand aus einem Hort der Freiheitssicherung zur Grundlage einer Fülle von freiheitsbeschränkenden Reglementierungen werden.“120 Dass die grundgesetzliche Werteordnung eine Fristenlösung verbietet bzw. die Strafbewährung von Schwangerschaftsabbrüchen fordert, begründet das BVerfG vor dem Hintergrund „liberaler“ Regelungen in anderen westlichen Demokratien mit den besonderen geschichtlichen Erfahrungen und der geistig-sittlichen Auseinandersetzung mit dem vorangegangenen System des Nationalsozialismus. Gegenüber der Allmacht des totalitären Staates, der schrankenlose Herrschaft über alle Bereiche des sozialen Lebens für sich beanspruchte und dem bei der Verfolgung seiner Staatsziele die Rücksicht auch auf das Leben des Einzelnen grundsätzlich nichts bedeutete, habe das Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet, die den einzelnen Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt aller seiner Regelungen stelle.121 Fraglich ist aber, ob dieses Verständnis das BVerfG dazu ermächtigt, seine Auffassung von der Gewährleistung eines wirksamen Lebensschutzes über die des Gesetzgebers zu stellen. In seinem zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch erkennt das BVerfG die Einschätzungen des Gesetzgebers zur Unwirksamkeit des Strafrechts als Mittel des Lebensschutzes an und billigt den Übergang zu einem umfassenden Beratungskonzept, soweit dieses zugleich Rahmenbedingungen enthalte, die die positiven Voraussetzungen für ein Handeln der Frau zugunsten des ungeborenen Lebens schaffen und soweit dieses die rechtliche Missbilligung des Schwangerschaftsab117 Sondervotum zu BVerfGE 39, 1, 68, 69 f. (Schwangerschaftsabbruch I) mit Verweis auf Leibholz. 118 Sondervotum zu BVerfGE 39, 1, 68, 71 ff. (Schwangerschaftsabbruch I). 119 Sondervotum zu BVerfGE 39, 1, 68, 88 f. (Schwangerschaftsabbruch I). 120 Sondervotum zu BVerfGE 39, 1, 68, 73 (Schwangerschaftsabbruch I). 121 BVerfGE 39, 1, 67 (Schwangerschaftsabbruch I).

A. Grundzüge der Werteordnung

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bruchs (Rechtswidrigkeit) nicht aufhebt.122 Das für die verfassungsgerichtliche Kontrolle insoweit herangezogene „Untermaßverbot“ setze dabei voraus, dass die gesetzgeberischen Maßnahmen angemessen und wirksam sind.123 Angesichts der Ungewissheiten über die bessere Wirksamkeit des Beratungskonzepts gegenüber der Indikationenregelung sei der Gesetzgeber verfassungsrechtlich zwar nicht daran gehindert, die Beratungsregelung einzuführen. Zur Sicherung des dem Untermaßverbot genügenden Lebensschutzes obliege ihm jedoch eine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht.124 Das BVerfG führt die Schutzpflichtdimension der Grundrechte in seiner weiteren Rechtsprechung fort125 und bewegt sich damit weiter in schwierigen Abgrenzungsfragen zwischen gesetzgeberischem Gestaltungsspielraum und verfassungsgerichtlicher Prüfungskompetenz.126 Wie die Rechtsprechung zum Schwangerschaftsabbruch gezeigt hat, besteht die Gefahr, dass das BVerfG den Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers nicht ausreichend berücksichtigt, sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle also nicht beschränkt „auf die Nachprüfung der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung […], sondern diese durch eine andere, vom Gericht für besser gehaltene ersetzt“127 wird mit der Folge,

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BVerfGE 88, 203, 262 ff. (Schwangerschaftsabbruch II). BVerfGE 88, 203, 254 (Schwangerschaftsabbruch II): „Die Vorkehrungen, die der Gesetzgeber trifft, müssen für einen angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend sein und zudem auf sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen.“ Zur Prüfung des Untermaßverbotes vgl. Calliess, S. 329. 124 BVerfGE 88, 203, 269, 309 f. (Schwangerschaftsabbruch II). 125 BVerfGE 46, 160 (Schleyer); E 49, 24 (Kontaktsperregesetz); E 49, 89 (Kalkar); E 53, 30 (Mülheim-Kärlich); E 56, 54 (Fluglärm). Den subjektiven Anspruch auf Schutz anerkennend BVerfGE 77, 170, 214 f. (C-Waffen); E 79, 174, 201 f. (Straßenverkehrslärm). 126 In BVerfGE 88, 204, 262 f. (Schwangerschaftsabbruch II) lässt das BVerfG die Frage unterschiedlicher verfassungsgerichtlicher Kontrollmaßstäbe (Evidenzkontrolle, Vertretbarkeitskontrolle, intensivierte inhaltliche Kontrolle) offen, macht aber deutlich, dass seine Ausführungen zur Evidenzkontrolle in BVerfGE 77, 179, 214 f. (C-Waffen) nicht dahin missverstanden werden dürften, zum Schutz des Lebens reichten schon nicht gänzlich ungeeignete oder völlig unzulängliche Maßnahmen aus. Zum Maßstab der Evidenzkontrolle siehe auch BVerfGE 56, 54, 81 (Fluglärm): „Schon vorher hatte das Bundesverfassungsgericht in anderen Entscheidungen als maßgeblich darauf abgestellt, ob den staatlichen Organen eine evidente Verletzung der in den Grundrechte verkörperten Grundentscheidungen zur Last zu legen sei (…). Diese Begrenzung der verfassungsrechtlichen Nachprüfung erscheint deshalb geboten, weil es regelmäßig eine höchst komplexe Frage ist, wie eine positive staatliche Schutzund Handlungspflicht, die erst im Wege der Verfassungsinterpretation aus den in den Grundrechten verkörperten Grundentscheidungen hergeleitet wird, durch aktive gesetzgeberische Maßnahmen zu verwirklichen ist. […] Die Entscheidung, die häufig Kompromisse erfordert, gehört nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung und dem demokratischen Prinzip in die Verantwortung des vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgebers und kann vom Bundesverfassungsgericht in der Regel nur begrenzt nachgeprüft werden, sofern nicht Rechtsgüter von höchster Bedeutung auf dem Spiele stehen.“ 127 Sondervotum BVerfGE 39, 1, 68 ff. (Schwangerschaftsabbruch I). 123

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

dass das BVerfG quasi als Ersatzgesetzgeber nicht nur seine rechtlichen Auffassungen, sondern auch seine Moralvorstellungen verbindlich machen könnte.

IV. Ergebnis In das Zentrum des Verständnisses der Verfassung als wertgebundener Ordnung stellt das BVerfG den Menschen, seine Würde, Freiheit und Gleichheit. Die Entfaltung der Werteordnung bezieht sich daher primär auf das Verständnis der Grundrechte als einer objektiven Werteordnung. Dabei verfolgt das BVerfG das Ziel, die Geltungs- und Wirkkraft der Grundrechte zu (ver)stärken, d. h. zum einen, sie in ihrer abwehrrechtlichen Dimension vor einer Aushöhlung und Relativierung durch den Gesetzgeber zu schützen und zum anderen, durch eine objektive Grundsatzwirkung in allen Bereichen des Rechts gegenüber jeder staatlichen Gewalt für eine tatsächliche und effektive Grundrechtsverwirklichung zu sorgen. Die objektivrechtliche Wirkung der Grundrechte ist dabei Ausgangspunkt für die Entwicklung weiterer, über die Abwehr staatlicher Eingriffe hinausgehender Grundrechtsdimensionen. So konkretisiert das BVerfG teilhabe- und leistungsrechtliche, verfahrens- und organisationsrechtliche sowie schutzrechtliche Grundrechtsgehalte. Diese Grundrechtsgehalte wirken nicht nur auf bestehendes Recht ein (Ausstrahlungswirkung). Sie werfen auch Fragen nach gesetzgeberischen Handlungspflichten auf und verschärfen somit den Konflikt zwischen gesetzgeberischem Ermessen einerseits und verfassungsrechtlicher Bindung und verfassungsgerichtlicher Kontrolle andererseits. Dieses Grundrechtsverständnis beruht juristisch auf Art. 1 und Art. 79 Abs. 3 GG und bedarf der vieldeutigen Wertterminologie eigentlich nicht. Das Konzept der grundrechtlichen Werteordnung zeigt vielmehr, dass anstelle einer Öffnung des Rechts für transzendente Wertungen gerade eine Verrechtlichung des Rechts beabsichtigt ist, und zwar durch eine Konstitutionalisierung der Rechtsordnung (z. B. Konstitutionalisierung der „guten Sitten“) und durch eine Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, auch der Gesetzgebung, auf die effektive Verwirklichung der Grundrechte. Gleichwohl schließt das BVerfG eine über das gesetzte Recht hinausweisende Deutung der Werteordnung nicht aus, sondern behält sich eine Prüfung – auch des Verfassungsrechts selbst – an übergeordneten Gerechtigkeitspostulaten vor. Unabhängig davon hängt die Rationalität eines solchen das gesamte Recht umfassenden Werteordnungskonzepts von seiner Umsetzung ab. Schon in den ersten Entscheidungen zu den positiven Grundrechtsgehalten ist insbesondere die Gefahr deutlich geworden, dass sich das BVerfG unter dem Mantel der Verfassungsinterpretation Kompetenzen des Gesetzgebers aneignet und so nicht nur das verfassungsrechtlich Zulässige, sondern auch seine Auffassung vom Guten und Richtigen durchsetzen könnte. Im Folgenden sollen daher diese und weitere Probleme der Werteordnungsrechtsprechung näher beleuchtet werden.

B. Probleme der Werteordnung

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B. Probleme der Werteordnung Vor dem Hintergrund möglicher Gefährdungen durch Macht und Moral sind die Probleme der Kompetenzabgrenzung (I.) sowie der Rationalität (II.) und Grenzen der Werteordnung (III.) besonders relevant. Je weiter die Verfassungsbindungen reichen, desto mehr könnten sie die Spielräume der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt verengen. Dieser Begrenzung von staatlicher Macht durch Konstitutionalisierung stünde aber ein Kompetenzzuwachs des BVerfG als letztinstanzlichem verfassungsrechtlichem Kontrollorgan gegenüber. Ließe sich dieser Kompetenzzuwachs durch eine werteordnungsrechtliche Verfassungsinterpretation rechtfertigen oder unterliegt diese ihrerseits mangels Begrenzung und Rationalität der Gefahr, das Recht für außerjuristische und moralische Erwägungen zu öffnen?

I. Kompetenzabgrenzungen Entsprechend der normativen Wirkungen der Werteordnung – einerseits auf die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts und andererseits auf die Gestaltung der Rechtsordnung – entstehen Probleme bei der Kompetenzabgrenzung zwischen BVerfG und Fachgerichtsbarkeit sowie zwischen BVerfG und Gesetzgeber. Die Frage nach der Kompetenzabgrenzung zwischen BVerfG und Gesetzgeber lässt sich als Problem der verfassungsrechtlichen Gewaltengliederung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) formulieren. Dahinter steht die allgemeine Frage nach der Abgrenzung zwischen Recht und Politik, soweit Politik nicht auf bloßen Verfassungsvollzug beschränkt sein soll.128 1. Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers a) Gesetzeszwecke Von Verfassungsvollzug könnte man wohl sprechen, wenn dem Gesetzgeber schon die eigene Zwecksetzung verwehrt wäre, er also lediglich die verfassungsrechtlich vorgegebenen Zwecke verwirklichen könnte. Das BVerfG hingegen erkennt den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei seiner Zwecksetzung an. In einer frühen Entscheidung zur Berufsfreiheit führt es insoweit aus: „Der Gesetzgeber kann auch Gemeinschaftsinteressen zum Anlass von Berufsregelungen nehmen, die ihm nicht in diesem Sinne ,vorgegeben‘ sind, die sich vielmehr erst aus seinen besonderen wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen und Zielen 128

Vgl. Grimm, Verfassung, S. 17: „Als gesetztes Recht ist es [erg.: das positive Recht] änderbar und änderungsbedürftig, und Politik hat die Aufgabe, es auf wechselnde Lagen und Anforderungen einzustellen. Dazu sind Gestaltungsspielräume nötig, die eine Verfassung eröffnen muss. Demgegenüber würde eine lückenlos gedachte Verfassung die Politik auf Verfassungsvollzug festlegen und damit letztlich in Verwaltung auflösen.“

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

ergeben, die er also erst selbst in den Rang wichtiger Gemeinschaftsinteressen erhebt. […] Den Anschauungen des Gesetzgebers hierüber darf es [erg.: das BVerfG] die Anerkennung nur versagen, wenn sie offensichtlich fehlsam oder mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind.“129 Der Gesetzgeber ist damit bei der Definition von Gemeinschaftsinteressen zum Zwecke der Gestaltung berufsregelender Vorschriften frei, soweit diese mit der Werteordnung vereinbar sind.130 Die insoweit verfolgten Zwecke müssen also nicht selbst Bestandteil der grundgesetzlichen Werteordnung sein.131 Nicht nur der eingreifende, auch der leistende Staat muss die verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen berücksichtigen. Anlässlich einer Entscheidung zur Ausgestaltung der beamtenrechtlichen Bezüge untersagt das BVerfG dem Gesetzgeber – trotz Anerkennung seiner Gestaltungsfreiheit hinsichtlich familien- und kinderbezogener Gehaltsteile –, kinderreiche Beamtenfamilien im Ergebnis wirtschaftlich wesentlich schlechter zu stellen als eine Beamtenkleinfamilie. Art. 33 Abs. 5 GG müsse im Zusammenhang mit den in Art. 6 GG und im Sozialstaatsprinzip enthaltenen Wertentscheidungen gesehen werden mit der Folge, dass sich Beamte – ohne Rücksicht auf die Größe ihrer Familie – annähernd das gleiche leisten können müssten.132 Bereits im Hochschulurteil führte das BVerfG allgemein dazu aus: „Auch dort, wo der Gesetzgeber – wie im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit – größere Gestaltungsfreiheit besitzt, schränken die besonderen Wertent129

BVerfGE 13, 97, 107. Allerdings kommt es auf der Rechtfertigungsebene darauf an, ob es „nur“ um den Schutz von „relativen Gemeinschaftsinteressen“ geht oder um Verfassungsgüter als wichtige Gemeinschaftsgüter, vgl. BVerfGE 7, 377, 414 (Apothekenurteil). 131 Siehe auch BVerfGE 50, 290, 338 (Mitbestimmung): „Dem entspricht es, wenn das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen hat, dass das Grundgesetz wirtschaftspolitisch neutral sei; der Gesetzgeber darf jede ihm sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz, insbesondere die Grundrechte beachtet (…).“; BVerfGE 14, 263 LS Nr. 1: „In Ausübung der durch Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG erteilten Ermächtigung, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen, muss der Gesetzgeber sowohl die Wertentscheidung des Grundgesetzes zugunsten des Privateigentums beachten als auch alle übrigen Verfassungsnormen, insbesondere den Gleichheitssatz, das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit und das Prinzip der Rechts- und Sozialstaatlichkeit.“ Zur Bedeutung verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen bei der Beachtung des Gleichheitssatzes, BVerfGE 13, 290, 198; E 17, 210, 217; E 36, 321, 331. Auch die mittelbar verfolgten Zwecke dürfen der grundgesetzlichen Werteordnung nicht widersprechen, vgl. dazu BVerfGE 6, 55, 81 f. (Haushaltsbesteuerung von Ehegatten) zu dem Versuch, „die erwerbstätige Ehefrau ,ins Haus zurückzuführen‘.“ 132 BVerfGE 44, 249, 267 ff., S. 273 f.: „Die Verfassung stellt sich dar als ein auf innere Widerspruchsfreiheit angelegtes Sinnganzes (…). Sowohl das Sozialstaatsprinzip als auch Art. 6 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Gebot zur Förderung der Familie (…) schließen es aus, das Prinzip der Unterprivilegierung der kinderreichen Beamtenfamilien im Verhältnis zu Kleinfamilien als gewissermaßen schicksalshaft auferlegt und unabänderlich anzunehmen und hierauf gestützt auch heute noch zur Maxime der Besoldungsgesetzgebung zu machen. Insoweit ist bei der Auslegung und Anwendung des Art. 33 Abs. 5 GG heute Wertentscheidungen, die aus anderen Bestimmungen der Verfassung zu entnehmen sind, Rechnung zu tragen.“ 130

B. Probleme der Werteordnung

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scheidungen des Grundgesetzes diese Freiheit ein, indem sie z. B. ,Unterscheidungen verbieten, die dem in der Wertentscheidung ausgedrückten Willen des Verfassunggebers zuwiderlaufen würden, einem bestimmten Lebensbereich oder Lebensverhältnis seinen besonderen Schutz angedeihen zu lassen‘ (BVerfGE 17, 210 [217] – Wohnungsbauprämie).“133 b) Gesetzgebungsaufträge Der Gesetzgeber ist aber nicht nur ermächtigt – innerhalb der Grenzen der Werteordnung – Zwecke zu setzen, sondern auch verpflichtet, verfassungsrechtlich gebotene Gesetzgebungsaufträge umzusetzen. Der Konflikt zum BVerfG entsteht dann, wenn es die Nicht- oder Falschumsetzung von Gesetzgebungsaufträgen sanktioniert oder wenn es – über die ausdrücklich in der Verfassung enthaltenen Gesetzgebungsaufträge hinaus –, aus Verfassungsbestimmungen, insbesondere Staatszielen und Grundrechten, konkrete Gesetzgebungsaufträge ableitet.134 Im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Auftrag nach Art. 6 Abs. 5 GG, den unehelichen Kindern durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen zu schaffen wie den ehelichen, stellte sich die Frage, ob die Gleichbehandlungspflicht bei Nichterfüllung des Gesetzgebungsauftrages von den Gerichten unmittelbar angewendet werden kann bzw. muss, oder ob dem die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers sowie der Grundsatz der Rechtssicherheit entgegenstünden.135 Zum vergleichbaren Auftrag, das mit der Gleichbehandlung von Männern und Frauen unvereinbare Recht zu ändern, urteilte das BVerfG nach Ablauf der Anpassungsfrist zugunsten einer unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 3 Abs. 2 GG.136 Mangels Fristbestimmung in Art. 6 Abs. 5 GG war jedoch zweifelhaft, ob ein „Durchentscheiden“ der Gerichte am Gesetzgeber vorbei zulässig wäre. Das BVerfG bejahte diese Frage mit Verweis auf die Bedeutung des Art. 6 Abs. 5 GG innerhalb der grundgesetzlichen Werteordnung nach Ablauf einer angemessenen Umsetzungsfrist: „Dennoch ist auch hier der Wille der Verfassung nicht dahin zu verstehen, der Gesetzgeber könne sich dem ihm erteilten Auftrag beliebig lange Zeit entziehen mit der Folge, dass der vom Verfassunggeber abgelehnte und als dringend reformbedürftig angesehene Rechtszustand bei Inkrafttreten des Grundgesetzes auf unbestimmte Zeit bestehen bliebe. Hierfür bedarf es keiner generellen Entscheidung über 133

BVerfGE 35, 79, 114 (Hochschulurteil). Entscheidend für den Begriff des Gesetzgebungsauftrags ist hier, dass dem Gesetzgeber aus der Verfassung relativ konkrete Handlungsvorgaben erwachsen, vgl. Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge“, Bericht, S. 21, 49 f. Man kann den Begriff des Gesetzgebungsauftrages freilich enger verstehen und in Abgrenzung zur Staatszielbestimmung als einen Normtyp verstehen, der nur den Gesetzgeber verpflichtet und nicht wie Staatszielbestimmungen die gesamte öffentliche Gewalt, vgl. insoweit Sommermann, S. 262 ff. Sommermann räumt insoweit allerdings ein, dass die Grenzen der Unterscheidbarkeit bei grundgesetzlichen Wertentscheidungen fließend sind, ders., S. 364. 135 BVerfGE 25, 167, 172 ff., 188. (Nichtehelichkeit). 136 BVerfGE 3, 225 ff. (Gleichbehandlung). 134

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

die Rechtsfolgen einer Nichterfüllung von Verfassungsaufträgen; denn Art. 6 Abs. 5 GG unterscheidet sich von anderen bisher nicht vollzogenen Anweisungen an den Gesetzgeber dadurch, dass er zu dem Normenbereich der Verfassung gehört, der die innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltende menschliche Persönlichkeit und ihre Würde in den Mittelpunkt des Wertsystems der Verfassung und des gesamten Rechts stellt (…).“137 Das Werteordnungsverständnis führt also nicht nur zur Kontrolle, sondern ggf. auch zur Sanktionierung der Untätigkeit des Gesetzgebers, und zwar in Form der unmittelbaren Anwendung der betroffenen Verfassungsbestimmung durch die Fachgerichte.138 137

BVerfGE 25, 167, 179 (Nichtehelichkeit) und ebda, S. 188. Nicht nur bei Untätigkeit des Gesetzgebers wird eine unmittelbare Anwendbarkeit relevant. In der Soraya-Entscheidung des BVerfG, BVerfGE 34, 269 (Soraya) – ausführlich dazu unten S. 72 f. – stellte sich die Frage, ob die Fachgerichte „trotz Fehlens einer eindeutigen Grundlage im geschriebenen Recht“ (S. 285) Schadensersatz in Geld wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts ausurteilen durften. Das BVerfG billigte die richterliche Rechtsfortbildung im Hinblick auf die Durchsetzung und den wirksamen Schutz eines Rechtsguts, das die Verfassung selbst als Mittelpunkt ihres Wertsystems ansieht (ebda, S. 291). Angesichts des Enumerationsprinzips in § 253 BGB a.F. und den bis dahin gescheiterten Gesetzesreformen zur Regelung des Schadensersatzes für Persönlichkeitsschutz ist allerdings zweifelhaft, ob von einer gesetzlichen Lücke ausgegangen werden konnte oder ob insofern vielmehr contra legem entschieden worden ist, vgl. dazu die kritische Urteilsanmerkung von Menger, S. 198 ff. m.w.N. Bedenkenswert dürften in diesem Zusammenhang die Äußerungen von Benda sein, die darauf schließen lassen, das BVerfG habe nicht aus juristischer Überzeugung entschieden, vgl. Benda, S. 637 f.: „Da gebe ich eine Fußnote, die mich an den Rand des Zulässigen, möglicherweise darüber hinaus, bringt, aber mit Andeutungen darf man es wagen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die die Rechtsprechung des BGH eingesegnet hat zum § 253 – das war so in den ersten Jahren meiner Tätigkeit beim Gericht –, wäre, so ist meine Spekulation, anders ausgefallen, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht aufgrund von Umständen, die ich nicht näher erörtern will, etwa zehn Jahre über dieser Sache gebrütet hätte, ohne zu einer Entscheidung zu gelangen. In der Zwischenzeit war natürlich etwas geschehen. Es war nicht nur der bloße Zeitablauf, sondern es war der Umstand, dass mittlerweile die Literatur diese Rechtsprechung für vernünftig angesehen hat und dass so eine Art Rechtskonsens entstanden ist, in der Theorie und in der Praxis, der in sich eine Veränderung wohl der Situation, jedenfalls nach der damaligen internen Einschätzung des Ersten Senats bewirkte. Ich wage also diese Behauptung, und es ist ja immer leicht, Behauptungen zu wagen, die man nicht beweisen muss. Dies ist eine reine Spekulation, aber ich bin in meiner subjektiven Auffassung darüber ziemlich sicher. […] Meine Spekulation ist also: Wäre die Entscheidung sechs oder sieben oder auch nur fünf Jahre früher ergangen, so wäre sie anders ausgefallen, als sie damals ausgefallen ist.“ Auch die nachfolgende Rechtsprechung spricht dafür, dass es sich bei Soraya um eine Ausnahmeentscheidung gehandelt hat, vgl. BVerfGE 65, 182, 194 f. (Sozialplan) zur Bevorzugung von Sozialplanabfindungen im Konkurs: „Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes enthält infolge seiner Weite und Unbestimmtheit regelmäßig keine unmittelbaren Handlungsanweisungen, die durch die Gerichte ohne gesetzliche Grundlage in einfaches Recht umgesetzt werden könnten. […] So ist es im Wege richterlicher Rechtsfortbildung aus dem Sozialstaatsgedanken kaum zu erschließen, warum den Sozialansprüchen, obwohl sie nur auf eine soziale Zusatzleistung des Arbeitgebers abzielen, ein besserer Konkursrang zukommen soll als den rückständigen Bezügen der Arbeitnehmer aus einem Arbeitsverhältnis mit dem Gemeinschuldner gemäß § 61 Abs. 1 Nr. 1 a KO. […] Vor diesem Hintergrund bleibt hier für eine richterliche Fortbildung des Rechts durch das Bundesarbeitsgericht kein Raum. Es hat die Grenzen, die einer schöpferischen Rechtsfindung mit Rücksicht auf den Verfassungsgrundsatz 138

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Besonders weit geht die Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG, wenn sich die Grundrechte, ggf. in Verbindung mit verfassungsrechtlichen Staatszielbestimmungen, zu individuell einklagbaren Ansprüchen auf Leistung oder Schutz verdichten, das BVerfG also eine konkrete gesetzgeberische Umsetzung objektiver Verfassungsaufträge vorschreibt. Die Vorbehalte dagegen sind besonders in den Sondervoten der Richterin Rupp-v. Brünneck und des Richters Simon hervorgetreten, nämlich als es konkret um die Fragen ging, ob die Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG ein Recht beinhalte, die universitäre Selbstverwaltung in bestimmter Weise auszugestalten oder ob der Gesetzgeber verpflichtet sei, den Schwangerschaftsabbruch strafrechtlich zu ahnden.139 Die Richter mahnten dazu, die Zurückhaltung zu wahren, die das BVerfG bis zum Hochschulurteil geübt habe. Insbesondere in der numerus clausus-Entscheidung hatte es einen einklagbaren Individualanspruch auf Schaffung von Studienplätzen grundsätzlich verneint; denn „verfassungsrechtliche Konsequenzen kämen erst bei evidenter Verletzung jenes Verfassungsauftrages [erg.: des objektiven sozialstaatlichen Verfassungsauftrages zur Bereitstellung ausreichender Ausbildungskapazitäten] in Betracht“.140 Das BVerfG dürfe dem Gesetzgeber nur dann entgegentreten, wenn er eine Wertentscheidung ganz außer Acht gelassen habe oder die Art und Weise ihrer Realisierung offensichtlich fehlsam sei.141 Soweit positive Verfassungs- und insbesondere Grundrechtsgehalte gesetzgeberisches Handeln fordern, kommt es also darauf an, die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte in Abgrenzung zum gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum zu bestimmen. Soll das BVerfG eine intensive inhaltliche Kontrolle übernehmen oder nur bei offensichtlicher Fehlsamkeit einschreiten? In der Entscheidung zum Mitbestimmungsgesetz führt das BVerfG zum insoweit relevanten Einschätzungs-, bzw. Prognosespielraum des Gesetzgebers aus: „Im einzelnen hängt die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers von Faktoren verschiedener Art ab, im besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter. Demgemäß hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wenn auch im Zusammenhang anderer Fragestellungen, bei der Beurteilung von Prognosen des Gesetzgebers differenzierte Maßstäbe zugrunde gelegt, die von einer Evidenzkontrolle (etwa BVerfGE 36, 1 [17] – Grundvertrag; 37, 1 [20] – Stabilisierungsfonds; 40, 196 [223] – Güterkraftverkehrsgesetz) über eine Vertretbarkeitskontrolle (etwa BVerfGE 25, 1 [12 f. 17] – Mühlengesetz; 30, 250 [263] – Absicherungsgesetz; 39, 210 [225 f.] Mühlender Rechts- und Gesetzesbindung gezogen sind, erkennbar überschritten. Anders als im sogenannten Soraya-Fall (…) geht es nicht um den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, das mit Blick auf Art. 1 und 2 Abs. 1 GG im Mittelpunkt des Wertsystems der Grundrechte steht (…).“ 139 Siehe dazu die Sondervoten BVerfGE 35, 79, 148 ff. (Hochschulurteil); E 39, 1, 68 ff. (Schwangerschaftsabbruch I). 140 BVerfGE, 33, 303, 333 (numerus clausus). 141 Sondervotum BVerfGE 39, 1, 68, 72 f. (Schwangerschaftsabbruch I).

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

strukturgesetz) bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen (etwa BVerfGE 7, 377 [415] – Apotheken; 11, 30 [45] – Kassenärzte; 17, 269 [276 ff.] – Arzneimittelgesetz; 39, 1 [46, 51 ff.] § 218 StGB; 45, 187 [238] – Lebenslange Freiheitsstrafe).“142 Die Umsetzung dieser allgemeinen Kriterien bleibt jedoch außerordentlich schwierig. Dabei kann es nicht nur vorkommen, dass dem gesetzgeberischen Spielraum zu wenig Gewicht beigemessen wird.143 Zuweilen wird auch kritisiert, dass das BVerfG die Spielräume zu großzügig bemisst und sich der verfassungsgerichtlichen Kontrollaufgabe entzieht.144 Man würde jedoch der Problematik der grundrechtlich abgeleiteten Gesetzgebungsaufträge nicht gerecht, würde man in ihnen lediglich eine Beschränkung gesetzgeberischer Freiheit sehen. Sie können auch als Ermächtigung wirken, um in den Freiheitsbereich anderer Grundrechtsträger einzugreifen. Der Freiheitsschutz kann damit auch Freiheitsbeschränkungen nach sich ziehen.145 Die Ermächtigung zu Freiheitsbeschränkungen durch objektiv-rechtliche Grundrechtswirkungen mildert das BVerfG allerdings insoweit ab, als es einer Verselbständigung der objektivrechtlichen Gehalte zu Lasten der Freiheit eine ausdrückliche Absage erteilt. In der Entscheidung zum Mitbestimmungsgesetz heißt es anlässlich der Frage nach einer verfassungsrechtlich gebotenen Wirtschaftsordnung dazu: „Das Grundgesetz, das sich in seinem ersten Abschnitt im wesentlichen auf die klassischen Grundrechte beschränkt hat, enthält keine unmittelbare Festlegung und Gewährleistung einer 142 BVerfGE 50, 290, 332 f. (Mitbestimmung). Vgl. auch BVerfGE 88, 203, 262 (Schwangerschaftsabbruch II) m.w.N., die Frage nach drei voneinander abweichenden Kontrollmaßstäben aber offenlassend. Speziell zu den Schutzpflichten vgl. oben 1. Teil, A. III. 5., Fn. 126. 143 Vgl. dazu die oben ausgeführten Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch, also BVerfGE 39, 1 (Schwangerschaftsabbruch I) und E 88, 203 (Schwangerschaftsabbruch II). 144 Kritisch zur Erfüllung der Evidenzkontrolle Mahrenholz in seinem Sondervotum zu BVerfGE 77, 179, 234 f. (C-Waffen). Kritisch zur Erfüllung der Vertretbarkeitskontrolle Limbach und Böckenförde in ihren Sondervoten zu BVerfGE 94, 115 (sichere Herkunftsstaaten), 157 (Limbach), 163 (Böckenförde). Zur Einschätzungsprärogative der Exekutive vgl. BVerfGE 94, 12, 35 (Bodenreform II): „Die Einschätzung, ob die Wiedervereinigung in der Tat von der Zustimmung zum Restitutionsausschluss abhing, war Sache der Bundesregierung. Dieser steht im Bereich der Außenpolitik – Gleiches galt für die Deutschlandpolitik im Verhältnis zur Deutschen Demokratischen Republik (36, 1, 17) – ein breiter Raum politischen Ermessens zu. Das wirkt sich gerade beim Abschluss von Staatsverträgen aus, deren Inhalt nicht einseitig bestimmt werden kann, sondern von der Übereinstimmung der Verhandlungspartner abhängt. Die Ausübung dieses Ermessens bei der Einschätzung der Verhandlungsposition ist zwar nicht völlig unbegrenzt. Die Grenzen verlaufen aber erst dort, wo die Einschätzung der Bundesregierung nicht mehr als pflichtgemäß anzusehen ist (84, 90, 127). Davon kann indes nur dann die Rede sein, wenn sich der Bundesregierung bei den Verhandlungen aufdrängen muss, dass sie von falschen Voraussetzungen ausgeht. Nur in diesem Umfang kann das Vorgehen der Bundesregierung bei Verhandlungen über Staatsverträge vom Bundesverfassungsgericht nachgeprüft werden.“ Nach Ansicht von Paffrath hätte sich der „Irrtum“ der Bundesregierung über die Abhängigkeit der Wiedervereinigung vom Restitutionsausschluss jedoch aufdrängen müssen, vgl. die historische Aufbereitung von Paffrath, S. 260 ff. 145 Sondervotum BVerfGE 39, 1, 68, 73 (Schwangerschaftsabbruch I). Vgl. auch BVerfGE 97, 169, 175 ff. (Kleinbetriebsklausel) zum Kündigungsschutz in Kleinbetrieben.

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bestimmten Wirtschaftsordnung. […] Nach ihrer Geschichte und ihrem heutigen Inhalt sind sie [erg.: die Einzelgrundrechte] in erster Linie individuelle Rechte, Menschen- und Bürgerrechte, die den Schutz konkreter, besonders gefährdeter Bereiche menschlicher Freiheit zum Gegenstand haben. Die Funktion der Grundrechte als objektiver Prinzipien besteht in der prinzipiellen Verstärkung ihrer Geltungskraft (BVerfGE 7, 198 [205] – Lüth), hat jedoch ihre Wurzel in dieser primären Bedeutung (…). Sie lässt sich deshalb nicht von dem eigentlichen Kern lösen und zu einem Gefüge objektiver Normen verselbständigen, in dem der ursprüngliche und bleibende Sinn der Grundrechte zurücktritt. Der unaufhebbare Zusammenhang, der sich daraus ergibt, ist für die Frage der Verfassungsmäßigkeit wirtschaftsordnender Gesetze von wesentlicher Bedeutung: Diese ist unter dem Gesichtspunkt der Grundrechte primär eine solche der Wahrung der Freiheit des einzelnen Bürgers, die der Gesetzgeber auch bei der Ordnung der Wirtschaft zu respektieren hat. Nicht ist sie Frage eines ,institutionellen Zusammenhangs der Wirtschaftsverfassung‘, der durch verselbständigte, den individualrechtlichen Gehalt der Grundrechte überhöhende Objektivierungen begründet wird, oder eines mehr als seine grundgesetzlichen Elemente gewährleistenden ,Ordnungs- und Schutzzusammenhangs der Grundrechte‘.“146 Auch wenn die objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte Freiheitsbeschränkungen rechtfertigen könnten, dürften sie nicht von der individuellen Freiheitsabwehr gelöst werden. Vielmehr bestehe die primäre Bedeutung der Grundrechte in ihrer Abwehrfunktion.147 2. Das BVerfG als Superrevisionsgericht Die Frage nach dem verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstab stellt sich nicht nur im Verhältnis zum Gesetzgeber, sondern auch soweit die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts durch die Exekutive und Fachgerichtsbarkeit betroffen ist. Durch die umfassende Ausstrahlungswirkung der Grundrechte in alle Bereiche des Rechts stellt sich nahezu jeder Fall als potentieller, auch der verfassungsgerichtlichen Kontrolle grundsätzlich unterliegender Grundrechtsfall dar. Das BVerfG distanziert sich im Lüth-Urteil zwar ausdrücklich von einer Rolle als Superrevisionsinstanz.148 Gleichwohl steckt es in dem Dilemma, einerseits einen ef146

BVerfGE 50, 290, 336 ff. (Mitbestimmung). BVerfGE 7, 198, 204 (Lüth). 148 BVerfGE 7, 198, 207 (Lüth): „Das Verfassungsgericht hat zu prüfen, ob das ordentliche Gericht die Reichweite und Wirkkraft der Grundrechte im Gebiet des bürgerlichen Rechts zutreffend beurteilt hat. Daraus ergibt sich aber zugleich die Begrenzung der Nachprüfung: es ist nicht Sache des Verfassungsgerichts, Urteile des Zivilrichters in vollem Umfange auf Rechtsfehler zu prüfen; das Verfassungsgericht hat lediglich die bezeichnete ,Ausstrahlungswirkung‘ der Grundrechte auf das bürgerliche Recht zu beurteilen und den Wertgehalt des Verfassungsrechtssatzes auch hier zur Geltung zu bringen. Sinn des Instituts der Verfassungsbeschwerde ist es, dass alle Akte der gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Gewalt auf ihre ,Grundrechtsmäßigkeit‘ nachprüfbar sein sollen (§ 90 BVerfGG). Sowenig das Bundesverfassungsgericht berufen ist, als Revisions- oder gar ,Superrevisions‘-Instanz ge147

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

fektiven Grundrechtsschutz zu gewährleisten und andererseits eine angemessene Funktionenteilung zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit zu erreichen.149 Zudem würde das BVerfG seine eigene Arbeitsfähigkeit riskieren, wenn es als Superrevisionsinstanz fungierte. Das BVerfG beschränkt seine Nachprüfungskontrolle daher grundsätzlich auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts. Es komme nicht darauf an, dass eine unrichtige gerichtliche Entscheidung möglicherweise Grundrechte des unterlegenen Teils berühre. Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall seien allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung des BVerfG entzogen. Die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts durch die Fachgerichte werde für das BVerfG nicht schon relevant bei nach einfachem Recht objektiv fehlerhaften Entscheidungen, sondern erst bei Fehlern, die gerade auf der Nichtbeachtung von Grundrechten beruhen, d. h. wenn „Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind.“150 Die Umsetzung dieses Prüfungsmaßstabes erfährt allerdings schon in der Mephisto-Entscheidung des BVerfG Kritik. Die Senatsmehrheit beschränkt die Prüfung auf die Frage, ob die Zivilgerichte den Einfluss der Grundrechte überhaupt erkannt, ihn berücksichtigt und das allgemeine Willkürverbot nicht verletzt haben.151 In ihrem dazu verfassten Sondervotum hebt die Richterin Rupp-v. Brünneck hingegen hervor, eine eingeschränkte Prüfungszuständigkeit diene der angemessenen Funktionsteilung im Verhältnis zur Fachgerichtsbarkeit und beuge einer Arbeitsüberlastung des BVerfG vor. Die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten des BVerfG seien dabei aber nicht immer klar festzustellen. Innerhalb des dabei bestehenden verfassungsgerichtlichen Spielraums müsse berücksichtigt werden, „wieweit das betreffende Grundrecht wesentliche Voraussetzungen der freiheitlichen Existenz und Betätigung des Einzelnen schützt, die das

genüber den Zivilgerichten tätig zu werden, sowenig darf es von der Nachprüfung solcher Urteile allgemein absehen und an einer in ihnen etwa zutage tretenden Verkennung grundrechtlicher Normen und Maßstäbe vorübergehen.“ 149 Vgl. das Sondervotum der Richterin Rupp-v. Brünneck zu BVerfGE 24, 143, 154. 150 BVerfGE 18, 85, 93 (sog. Hecksche Formel). Zu weiteren Begrenzungsmodellen Alleweldt, S. 141 ff. 151 BVerfGE 30, 173, 199 (Mephisto): „Demgemäß kann das Bundesverfassungsgericht das durch die angefochtenen Urteile ausgesprochene Veröffentlichungsverbot nur daraufhin nachprüfen, ob Art. 3 Abs. 1 GG beachtet ist.“ Siehe auch BVerfGE 34, 370, 379: „Die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen, soweit nicht Willkür vorliegt oder spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist (18, 85, 92).“

B. Probleme der Werteordnung

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Essentiale des Menschenbildes der Verfassung und ihrer darauf ausgerichteten Staatsordnung ausmachen (…).“152 Zwar übernimmt das BVerfG diesen flexibleren, auch auf die Intensität des Eingriffs abstellenden Maßstab,153 allerdings zunächst – wie die Richterin Ruppv. Brünneck in einem späteren Urteil kritisiert – ohne dabei die über den konkreten Einzelfall hinausgehenden Wirkungen von Grundrechtseingriffen auf die generelle Grundrechtsausübung zu berücksichtigen. Nach Rupp-v. Brünneck sollte die Prüfungskompetenz nicht starren Regeln folgen, sondern je nach Intensität des Grundrechtseingriffs und seiner Bedeutung für die allgemeine Grundrechtsausübung ausgeweitet werden können.154 Das BVerfG greift diesen Ansatz schließlich auf und schafft damit die Möglichkeit, seine Prüfungskompetenz auch auf einzelne Auslegungsfragen zu erstrecken.155 Die intensive Kontrolle nimmt das BVerfG insbesondere in Fällen wahr, die die Meinungs- und Kunstfreiheit betreffen, um zu verhindern, dass restriktive Urteile eine abschreckende Wirkung entfalten und damit die freie geistige Auseinandersetzung und die freiheitliche Demokratie gefährden. Insofern behält es sich vor, tatsächliche Fragen, wie den Zweck von Äußerungen und deren Wirkungen zu überprüfen: „Ebenso wie die Meinungsäußerung lebt die künstlerische Tätigkeit von der Resonanz der Öffentlichkeit. Dass bei diesen Kommunikationsgrundrechten Kollisionen mit anderen Verfassungswerten, insbesondere den Grundrechten Dritter auftreten, liegt auf der Hand. Hier den richtigen 152 BVerfGE 30, 173, 218, 220; siehe auch das Sondervotum von Richter Stein in BVerfGE 30, 173, 200, 202. 153 BVerfGE 42, 143, 149 (Deutschlandmagazin): „Je nachhaltiger ferner ein zivilgerichtliches Urteil im Ergebnis die Grundrechtssphäre des Unterlegenen trifft, desto strengere Anforderungen sind an die Begründung dieses Eingriffs zu stellen und desto weiterreichender sind folglich die Nachprüfungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts; in Fällen höchster Eingriffsintensität (vgl. etwa BVerfGE 35, 202 – Lebach – ) ist es durchaus befugt, die von den Zivilgerichten vorgenommene Wertung durch seine eigene zu ersetzen.“ Siehe auch BVerfGE 61, 1, 6, die Formulierung von Rupp-v. Brünneck aufgreifend: „Hierbei lassen sich die Grenzen seiner [erg.: des BVerfG] Eingriffsmöglichkeiten nicht starr und gleichbleibend ziehen. Sie hängen namentlich von der Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung ab: Je mehr eine zivilgerichtliche Entscheidung grundrechtsgeschützte Voraussetzungen freiheitlicher Existenz und Betätigung verkürzt, desto eingehender muss die verfassungsgerichtliche Prüfung sein, ob eine solche Verkürzung verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist (…).“ 154 Sondervotum der Richterin Rupp-v. Brünneck BVerfGE 42, 143, 154 (Deutschlandmagazin): „Dabei halte ich nicht nur für legitim, sondern für unerlässlich, dass bei einem Grundrecht, das von so fundamentaler Bedeutung für den einzelnen Bürger und für das Gemeinwesen schlechthin ist wie die Freiheit der Meinungsäußerung, die ,in gewissem Sinne die Grundlage jeder Freiheit überhaupt‘ darstellt (BVerfGE 7, 198 [208] – Lüth –), die Eingriffsschwelle relativ niedriger angesetzt wird.“ 155 Auf die Intensität einer strafrechtlichen Verurteilung und deren abschreckende Wirkung abstellend BVerfGE 43, 130, 135 f.; BVerfGE 67, 312, 222 f. (Anachronistischer Zug); BVerfGE 83, 130, 145 f. (Josefine Mutzenbacher); BVerfGE 77, 240, 250 f. (Herrnburger Bericht): „Wegen der Intensität, mit der eine solche Sanktion in die Sphäre des Verurteilten eingreift, ist eine strengere verfassungsgerichtliche Kontrolle erforderlich. Diese erstreckt sich auch darauf, ob die Auslegung des einfachen Rechts in ihren Einzelheiten grundrechtskonform ist (…).“

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

Ausgleich der widerstreitenden Schutzgüter unter Anwendung der dafür geschaffenen Normen des einfachen Rechts zu finden, ist zwar in erster Linie Aufgabe der Fachgerichte. Die Anwendung des einfachen Rechts hat hier jedoch nicht unerhebliche Rückwirkungen auf die verfassungsrechtlich geschützten Positionen. Schon einzelne Fehler bei der Auslegung des einfachen Rechts und der Deutung der Äußerung oder des Kunstwerks können zu einer Fehlgewichtung des Grundrechts führen. Wegen der schwerwiegenden Folgen, die solche Fehler im Strafverfahren nach sich ziehen können, ist zumindest dort eine intensivere Kontrolle unausweichlich (…). […] Angesichts der einschüchternden Wirkung, die staatliche Eingriffe hier haben können, muss eine besonders wirksame verfassungsrechtliche Kontrolle Platz greifen, soll die Freiheit dieser Lebensäußerungen nicht in ihrer Substanz getroffen werden (…).“156 Das BVerfG betont zwar immer wieder seine Absicht, die Ausstrahlungswirkung nur eingeschränkt überprüfen zu wollen, behält sich aber durch den dargestellten flexiblen Maßstab eine intensive, auch einzelne Auslegungsfragen betreffende Kontrolle vor.157 Die spezifische Bindung an die grundrechtliche Werteordnung führt somit zu einer starken Kontrolle der Fachgerichtsbarkeit. Zumindest mittelbar betrifft diese Kontrolle auch den Gesetzgeber. Denn auch dem Konflikt zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit liegt letztlich eine bestimmte Vorstellung über die Bedeutung des einfachen Rechts und über den Gesetzgeber zugrunde. Je stärker die Fachgerichtsbarkeit den Grundrechten verpflichtet ist, desto weniger vermögen sich davon unabhängige gesetzliche Wertungen durchzusetzen.

II. Strukturierung der Abwägung Mit der werteordnungsrechtlichen Bindungswirkung auf die Gestaltung, Auslegung und Anwendung der Rechtsordnung gewinnt die Abwägung als Form der Rechtsanwendung an Bedeutung. Schon in der Lüth-Entscheidung hat das BVerfG deutlich gemacht, dass die grundrechtsbeschränkenden Gesetze im Lichte der Bedeutung des Grundrechts gesehen und interpretiert werden müssen und forderte

156 BVerfGE 81, 278, 289 f. (Bundesflagge); siehe auch schon vorher BVerfGE 42, 163, 169 (Echternach), hier verkenne das OLG zwar nicht die grundsätzliche Bedeutung von Meinungsfreiheit und Ehrschutz, setze aber an die Zulässigkeit von Meinungsäußerungen zu hohe Anforderungen, wenn es fordere, dass den Lesern mit der Meinungskundgabe zugleich Tatsachen mitgeteilt werden müssten, die ihnen eine kritische Beurteilung ermöglichten; BVerfGE 54, 129, 137 (Kunstkritik): „Damit hat das Gericht den Zweck der Beiträge verkannt: Auch wenn sich mit diesen übersteigerte Polemik unterschiedlichen Gehalts und Niveaus verband und die Äußerungen des Klägers von der Kritik mitumfasst wurden, ging es nicht in erster Linie um die Wirkung auf dessen Rechtskreis und damit die private oder zumindest persönliche Herabsetzung des Klägers, sondern um die öffentliche Kritik der ,Römerberg-Gespräche‘ und die Auseinandersetzung über eine bestimmte geistige Richtung.“ 157 BVerfGE 93, 266, 292 ff. (Soldaten sind Mörder).

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insofern eine „Güterabwägung“ zwischen den betroffenen Rechtsgütern.158 Man könnte befürchten, dass mit der Aufwertung der Abwägung der Raum rationaler Rechtsanwendung verlassen und der Bereich beliebigen Dafürhaltens betreten wird. Jedenfalls dürfte die Abwägung im Vergleich zur Subsumtion unter Tatbestandsdefinitionen, die nach klassischen Auslegungskriterien gefunden wurden, ergebnisoffener erscheinen. Führt die Werteordnung damit zur Wahrung der Verfassung oder zu einem unbeschränkten Werten? 1. Wertrangordnung Das Problem beliebiger Einzelabwägungen bestünde nicht, wenn die Werte der Werteordnung in einer abstrakten Rangordnung aufgehen und die Abwägungsentscheidungen vorgeben würden. Es käme dann lediglich darauf an festzustellen, in welchem abstrakten Rangverhältnis die betroffenen Rechtsgüter stehen. Die Vorstellung von einer Wertrangordnung deutet das BVerfG in der Lüth-Entscheidung an, allerdings ohne daraus konkrete Konsequenzen im Sinne einer bloßen Feststellung des abstrakt vorrangigen Rechtsgutes zu ziehen.159 Dort heißt es: „Innerhalb dieser Wertordnung, die zugleich eine Wertrangordnung ist, muss auch die hier erforderliche Abwägung zwischen dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG und den seine Ausübung beschränkenden Rechten und Rechtsgütern vorgenommen werden.“160 Auch verweist das BVerfG vielfach auf die obersten Werte oder Höchstwerte der Verfassung. Dazu zählen die Menschenwürde,161 die freie menschliche Persönlichkeit162 und das menschliche Leben.163

158

BVerfGE 7, 198, 208 ff. (Lüth) und oben S. 27. Zur ausführlichen Güterabwägung BVerfGE 7, 198, 212 ff. (Lüth). 160 BVerfGE 7, 198, 215 (Lüth), Herv. d. Verf. 161 BVerfGE 6, 32, 41 (Elfes): „Vor allem dürfen die Gesetze daher die Würde des Menschen nicht verletzen, die im Grundgesetz der oberste Wert ist, […].“ Siehe auch BVerfGE 27, 1, 6 (Mikrozensus); E 30, 173, 193 (Mephisto); BVerfGE 32, 98, 108 (Gesundbeter); E 45, 187, 227 (Lebenslange Freiheitsstrafe); E 72, 105, 115 (Lebenslange Freiheitsstrafe); E 109, 279, 311. Zur Menschenwürde als Mittelpunkt des Wertsystems der Verfassung vgl. BVerfGE 7, 198, 205 (Lüth); E 35, 202, 225 (Lebach); E 39, 1, 43 (Schwangerschaftsabbruch I). 162 BVerfGE 7, 377, 405 (Apothekenurteil): „Wird dabei festgehalten, dass nach der Gesamtauffassung des Grundgesetzes die freie menschliche Persönlichkeit der oberste Wert ist, […].“ Siehe auch BVerfGE 12, 45, 53 f. (Kriegsdienstverweigerung): „Das Grundgesetz sieht die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde als höchsten Rechtswert an. So hat es folgerichtig in Art. 4 Abs. 1 die Freiheit des Gewissens und seiner Entscheidungen, in denen sich die autonome sittliche Persönlichkeit unmittelbar ausspricht, als ,unverletzlich‘ anerkannt.“ Ferner BVerfGE 33, 1, 10 (Strafgefangene): „Das Grundgesetz ist eine wertgebundene Ordnung, die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts erkennt; […].“ 163 BVerfGE 39, 1, 42 (Schwangerschaftsabbruch I): „Das menschliche Leben stellt, wie nicht näher begründet werden muss, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen 159

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

Angesichts der genannten Beispiele kann man von einer Wertrangordnung sprechen, die zumindest zwischen einfachen und Höchstwerten unterscheidet. Diese führt aber nicht zu einer sich quasi selbst vollziehenden Werteordnung, in der eine weitere Güterabwägung verzichtbar wäre. Die abstrakte Wertigkeit der betroffenen Rechtsgüter bildet vielmehr nur den ersten Teil der Abwägung. So stellte das BVerfG in seiner ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch heraus, dass der Schutz des ungeborenen Lebens dem Recht der Mutter auf freie Entfaltung der Persönlichkeit vorgeht.164 Dies entspricht der Wertung des Lebens als Höchstwert gegenüber einem niederrangigen Rechtsgut. Allerdings gilt dies nur für den „Normalfall“ einer Schwangerschaft. Unter besonderen Umständen könne sich die Frage der Zumutbarkeit stellen und eine Pflicht zur Fortsetzung der Schwangerschaft ausschließen. Insofern komme nicht nur die Lebensgefährdung der Mutter als gleichrangigem Rechtsgut in Betracht. Auch eine allgemeine Notlage könne so schwerwiegend sein, dass ein strafrechtlicher Schutz des ungeborenen Lebens nicht zumutbar sei.165 Diese Erwägungen zeigen, dass die abstrakte Betroffenheit eines Höchstwertes die Berücksichtigung der konkreten Betroffenheit nicht entbehrlich macht. Etwas anderes könnte allerdings für die Menschenwürde als obersten Wert gelten, dem das BVerfG die Abwägungsfähigkeit abspricht.166 Ein daraus folgender genereller Vorrang der Menschenwürde gegenüber den Einzelgrundrechten würde gleichwohl nicht ohne Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls erfolgen. Denn abwägungsunfähig wird die Menschenwürde erst bei ihrer Verletzung. Die Feststellung einer Würdeverletzung setzt ihrerseits aber einen Konkretisierungsvorgang voraus, der die konkreten Einzelfallumstände berücksichtigt. In der AbhörEntscheidung des BVerfG heißt es dazu: „Was den in Art. 1 GG genannten Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde anlangt, […], so hängt alles von der Festlegung ab, unter welchen Umständen die Menschenwürde verletzt sein kann. Offenbar lässt sich das nicht generell sagen, sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falles.“167

Grundrechte.“ Siehe auch BVerfGE 49, 24, 53 (Kontaktsperre): „Das menschliche Leben stellt innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar.“ 164 BVerfGE 39, 1, 43 f. (Schwangerschaftsabbruch I). 165 BVerfGE 39, 1, 49 f. (Schwangerschaftsabbruch I). 166 BVerfGE 75, 369, 380 (Strauß-Karikatur): „Soweit das allgemeine Persönlichkeitsrecht allerdings unmittelbar Ausfluss der Menschenwürde ist, wirkt diese Schranke absolut ohne die Möglichkeit eines Güterausgleichs (…).“; E 93, 266, 293 (Soldaten sind Mörder); E 107, 275, 284 (Schockwerbung). 167 BVerfGE 30, 1, 25 (Abhörurteil); siehe auch BVerfGE 96, 375, 399 f. (Kind als Schaden): „Was die Achtung der Menschenwürde im einzelnen erfordert, kann von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht völlig gelöst werden.“ BVerfGE 107, 275, 284 (Schockwerbung); BVerfGE 109, 279, 312 (Großer Lauschangriff). Deutlich auch BVerfGE 115, 118, 153 (Luftsicherheitsgesetz): „Was diese Verpflichtung für das staatliche Handeln konkret bedeutet, lässt sich nicht ein für allemal abschließend bestimmen.“

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Das BVerfG geht damit von einer gewissen abstrakten Rangordnung der Verfassungswerte aus.168 Die Frage nach dem abstrakten Rangverhältnis der betroffenen Verfassungswerte ist also berechtigt. Ihr Ergebnis vermag jedoch noch nicht den konkreten Fall zu lösen. Nicht nur bei Gleichrangigkeit, auch bei der Annahme verschiedener Ränge muss die konkrete Betroffenheit der Rechtsgüter berücksichtigt werden, aus der sich eine Widerlegung des abstrakten Rangverhältnisses ergeben kann.169 Nichtsdestotrotz stellt die abstrakte Wertigkeit der Rechtsgüter den ersten Zugang zur Abwägung dar. 2. Vorgang der Abwägung Als übergreifende Leitregel allen staatlichen Handelns gelten nach der Rechtsprechung des BVerfG die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes.170 Zur verfassungsrechtlichen Verortung führt das BVerfG aus: „In der Bundesrepublik Deutschland hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlichen Rang. Er ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, im Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur so weit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich ist.“171 Bereits im Apothekenurteil hatte das BVerfG den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für die Prüfung von Grundrechtsbeschränkungen nutzbar gemacht. Dort heißt es: „Hier gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit in dem Sinne, dass die vorgeschriebenen subjektiven Voraussetzungen zu dem angestrebten Zweck der ordnungsgemäßen Erfüllung der Berufstätigkeit nicht außer Verhältnis

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A. A. H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 22; Goerlich, Wertordnung, S. 137 f.; Sachs, in: Sachs, GG, vor Art. 1, Rn. 123 m.w.N.; für eine „grobmaschige Wertrangordnung“ Selk, S. 130 ff. 169 Anschaulich insoweit die Lebach-Entscheidung des BVerfG, in der ein genereller Vorrang des öffentlichen Informationsinteresses gegenüber dem Persönlichkeitsschutz konstatiert, im konkreten Einzelfall aber ein überwiegendes Resozialisierungsinteresse angenommen wird, BVerfGE 35, 202, 231 ff. (Lebach): „Wägt man das umschriebene Informationsinteresse an einer entsprechenden Berichterstattung im Fernsehen generell gegen den damit zwangsläufig verbundenen Einbruch in den Persönlichkeitsbereich des Täters ab, so verdient für die aktuelle Berichterstattung über Straftaten das Informationsinteresse im allgemeinen den Vorrang. […] [S. 233] Wo danach konkret die Grenze für das grundsätzlich vorgehende Informationsinteresse an der aktuellen Berichterstattung zu ziehen ist, lässt sich nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalles entscheiden.“ 170 BVerfGE 23, 127, 133 (Zeugen Jehovas): „Schließlich liegt auch in den Erwägungen, die die Strafgerichte der Strafzumessung zugrunde gelegt haben, kein Verstoß gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes, die sich als übergreifende Leitregeln allen staatlichen Handelns zwingend aus dem Rechtsstaatsprinzip ergeben und deshalb Verfassungsrang haben (…).“ Ausführlich und m.w.N. Stern, Staatsrecht III/2, S. 761 ff. 171 BVerfGE 19, 342, 348 f. Zu den Ansätzen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Verwaltungsrecht und seiner Anhebung auf die verfassungsrechtliche Ebene Stern, Übermaßverbot, S. 165 ff.

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stehen dürfen.“172 Das BVerfG setzte damit den in der Lüth-Entscheidung entwickelten Gedanken der Wechselwirkung, also die Einschränkung der Grundrechtsschranken im Lichte der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts, fort.173 Wie die Prüfung der Verhältnismäßigkeit zu strukturieren ist, nämlich anhand der Kriterien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit, deutete sich bereits in der Spiegel-Entscheidung des BVerfG an und prägte fortan die Prüfung von Grundrechtsbeeinträchtigungen.174 Die Grenze zulässiger Grundrechtsbeeinträchtigungen wird dabei nicht erst dann erreicht, wenn es um den Schutz eines bestimmten unabdingbaren Kernbereichs geht, sondern schon dann, wenn sich die Beeinträchtigung als unverhältnismäßig im Vergleich zum angestrebten Zweck erweist. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zielt damit nicht auf den Schutz eines grundrechtlichen Minimums, sondern auf den geringst möglichen Eingriff.175 Anders gewendet steigt der Rechtfertigungsdruck für staatliche Beeinträchtigungen umso mehr, je schwerwiegender die Beeinträchtigung ist.176 172 BVerfGE 7, 377, 407, LS 6. c) (Apothekenurteil). Ebda, S. 405: „Wird dabei festgehalten, dass nach der Gesamtauffassung des Grundgesetzes die freie menschliche Persönlichkeit der oberste Wert ist, dass ihr somit auch bei der Berufswahl die größtmögliche Freiheit gewahrt bleiben muss, so ergibt sich, dass diese Freiheit nur so weit eingeschränkt werden darf, als es zum gemeinen Wohl unerlässlich ist.“ 173 Zur Wechselwirkung sowie zur Drei-Stufen-Theorie als besondere Ausprägungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes BVerfGE 13, 97, 104 (Handwerksordnung); E 67, 157, 172 f. Siehe auch Stern, Staatsrecht III/2, S. 814 f., wonach die Vorstellung von einem angemessenen Ausgleich von Rechtsgütern in vielfältigen Begriffen (Güterabwägung, schonendster Ausgleich, Wechselwirkung, praktische Konkordanz, Verhältnismäßigkeit) zum Ausdruck komme. Zum Begriff der Konkordanz BVerfGE 41, 29, 50 f.: „Das im Bereich des Schulwesens unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit zu lösen, obliegt dem demokratischen Landesgesetzgeber, der im öffentlichen Willensbildungsprozess unter Berücksichtigung der verschiedenen Auffassungen einen für alle zumutbaren Kompromiss zu suchen hat. […] Beide Vorschriften sind zusammen zu sehen und in der Interpretation aufeinander abzustimmen, weil erst die ,Konkordanz‘ der in den beiden Artikeln geschützten Rechtsgüter der Entscheidung des Grundgesetzes gerecht wird.“; grundlegend insoweit Hesse, Grundzüge, Rn. 72. 174 BVerfGE 20, 162, 186 f. (Spiegel): „Ihre Anwendung [erg.: von Zwangsmaßnahmen] steht daher von vornherein unter dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit (…). Der jeweilige Eingriff muss in angemessenem Verhältnis zur Schwere der Straftat und der Stärke des bestehenden Tatverdachts stehen; ferner muss gerade diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein; dies ist nicht der Fall, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen. Schließlich muss die Durchsuchung den Erfolg versprechen, geeignete Beweismittel zu erbringen.“ Zur Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG Stern, Staatsrecht III/2, S. 775 ff., der die Strukturierung der Verhältnismäßigkeitsprüfung durch das BVerfG allerdings später datiert, nämlich in BVerfGE 30, 292, 313 ff. (Erdölbevorratung). Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als „wichtigster Bastion des Freiheitsschutzes“ Rensmann, S. 133 m.w.N. 175 Der Grundrechtsschutz besteht also schon weit im Vorfeld einer absolut verstandenen Wesensgehaltsgarantie, vgl. Rensmann, S. 133. 176 Siehe dazu BVerfGE 16, 194, 202 (Liquorentnahme): „Wenn auch das öffentliche Interesse an der Aufklärung von Verbrechen, das in dem rechtsstaatlich besonders wichtigen Legalitätsprinzip (§ 152 Abs. 2 StPO) wurzelt, im allgemeinen selbst Eingriffe in die Freiheit

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Die eigentliche Abwägung der betroffenen Rechtsgüter findet im Rahmen der Angemessenheitsprüfung (Verhältnismäßigkeit i. e.S.) statt. Insofern bedarf es einer Gewichtung der kollidierenden Rechtsgüter in ihrer konkreten Betroffenheit. Man muss entscheiden, welche Belange schützenswerter sind, seien es kollidierende Gemeinwohlbelange und/oder kollidierende Grundrechte Dritter. Hinter dieser einfach klingenden Frage verbirgt sich ein komplexer Wertungsvorgang, für den das BVerfG keine weiteren Vorgaben macht. Fraglich ist nicht nur, welche konkreten Umstände für die Beurteilung der Schutzbedürftigkeit oder Zumutbarkeit herangezogen werden dürfen und nach welchem Maßstab diese zu gewichten wären. Fraglich ist auch, inwieweit dem Gesetzgeber bei den erforderlichen Wertungen und Einschätzungen, z. B. hinsichtlich der Bedeutung und Wirkung einer staatlichen Maßnahme, der Vorrang eingeräumt werden muss.177 Die Schwierigkeiten des eigentlichen Abwägungsvorgangs räumt das BVerfG ein: „Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinne verlangt eine Abwägung zwischen Gemeinwohlbelangen, zu deren Wahrnehmung es erforderlich ist, in Grundrechte einzugreifen, und den Auswirkungen auf die Rechtsgüter der davon Betroffenen. Die Gewichtung der miteinander in Verbindung zu setzenden und abzuwägenden widerstreitenden Interessen macht es erforderlich, die für das jeweilige Interesse erheblichen Bedingungen und Auswirkungen der Eingriffsregelung in ihrem Zusammenwirken zu würdigen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne enthält als solcher aber keine inhaltlichen Aussagen darüber, welche Auswirkungen und Bedingungen eines staatlichen Eingriffs in die Abwägung einzubeziehen sind und wann ein Mittel unverhältnismäßig ist und wann nicht (…). Insoweit bedarf es einer wertenden verfassungsrechtlichen Entscheidung im jeweiligen Einzelfall.“178 Damit stößt die Rationalität von Abwägungen letztlich an gewisse Grenzen. Diese Grenzen betreffen Abwägungsentscheidungen in abwehrrechtlichen und in objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimensionen. Sie sind also kein spezifisches Problem der objekdes Beschuldigten rechtfertigt, so genügt dieses allgemeine Interesse um so weniger, je schwerer in die Freiheitssphäre eingegriffen wird. Für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit zwischen Zweck und Maßnahme muss daher auch in Betracht gezogen werden, welches Gewicht die zu ahndende Tat hat. Das gilt besonders für die in den §§ 81 und 81 a StPO zugelassenen schwerwiegenden Maßnahmen, die zur Feststellung der Zurechnungsfähigkeit des Beschuldigten dienen; hier fordert eine dem Sinn der Grundrechte Rechnung tragende Gesetzesanwendung, dass der beabsichtigte Eingriff in angemessenem Verhältnis zur der Schwere der Tat steht, damit nicht die mit der Aufklärung der Tat verbundenen Folgen den Täter stärker belasten als die zu erwartende Strafe.“ 177 Vgl. dazu oben S. 51 f. sowie das Sondervotum zu BVerfGE 39, 1, 68, 71 f. (Schwangerschaftsabbruch I): „Als Abwehrrechte haben die Grundrechte einen verhältnismäßig deutlich erkennbaren Inhalt; in ihrer Auslegung und Anwendung hat die Rechtsprechung praktikable, allgemein anerkannte Kriterien zur Kontrolle staatlicher Eingriffe – etwa den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – entwickelt. Demgegenüber ist es regelmäßig eine höchst komplexe Frage, wie eine Wertentscheidung durch aktive Maßnahmen des Gesetzgebers zu verwirklichen ist. […] Je nach Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse, der konkreten Zielsetzungen und ihrer Priorität, der Eignung der denkbaren Mittel und Wege sind sehr verschiedene Lösungen möglich.“ 178 BVerfGE 92, 277, 327 (DDR-Spione).

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tiven Grundrechtsgehalte. Gleichwohl führen die objektiven Grundrechtsgehalte durch die umfassende Geltung der Grundrechte in allen Bereichen des Rechts zur Allgegenwart von Grundrechtskollisionen und Abwägungsentscheidungen179 und damit zu einer Verschärfung des Problems.

III. Grenzen der Werteordnung Angesichts der bisher dargestellten Probleme stellt sich die Frage, ob das BVerfG um eine Begrenzung der Werteordnung bemüht ist. Beschränkt es die Werteordnung durch Abwägungsgrenzen, durch eine Eingrenzung der abwägungsfähigen Rechtsgüter oder behält es sich eine transzendente Lesart der grundgesetzlichen Werteordnung durch zumindest gelegentlichen Rückgriff auf allgemeine Gerechtigkeitserwägungen vor? 1. Abwägungsgrenzen Das BVerfG zieht eine Abwägungsgrenze bei der Menschenwürde. Wie schon oben ausgeführt, erklärt es den Schutz der Menschenwürde für nicht abwägungsfähig.180 Insofern ist es folgerichtig, dass das BVerfG auch einen bestimmten Gehalt der Einzelgrundrechte, nämlich denjenigen, der die Menschenwürde berührt, unter absoluten Schutz stellt und keinerlei Einschränkungen oder Abwägungen öffnet.181 Was im Rahmen einzelner Grundrechte zum Gewährleistungsinhalt des Art. 1 Abs. 1 GG gehört, sei durch Auslegung der jeweiligen Grundrechtsnorm zu bestimmen;182 gemeint sind damit die sog. grundrechtlichen Kernbereiche. In engem Zusammenhang damit steht die Wesensgehaltsgarantie der Grundrechte nach Art. 19 Abs. 2 GG, deren Anwendungsbereich sich mit dem grundrechtlichen Menschenwürdegehalt überschneiden kann, aber nicht muss.183 179 Bezeichnend der Titel eines Aufsatzes von Leisner, „Abwägung überall“ – Gefahr für den Rechtsstaat. 180 Siehe oben S. 58. 181 BVerfGE 84, 90, 120 f. (Enteignungen vor 1949): „Art. 79 Abs. 3 GG verbietet Verfassungsänderungen, durch welche die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden. Dazu gehört nicht nur der in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Grundsatz der Menschenwürde. Auch das in Art. 1 Abs. 2 GG enthaltene Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage der menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit erlangt insoweit Bedeutung; in Verbindung mit der in Art. 1 Abs. 3 GG enthaltenen Verweisung auf die nachfolgenden Grundrechte sind deren Verbürgungen insoweit einer Einschränkung grundsätzlich entzogen, als sie zur Aufrechterhaltung einer dem Art. 1 Abs. 1 und 2 GG entsprechenden Ordnung unverzichtbar sind.“ Ebenso BVerfGE 109, 279, 310 (Großer Lauschangriff). 182 BVerfGE 109, 279, 310 (Großer Lauschangriff). 183 BVerfGE 109, 279, 310 f. (Großer Lauschangriff): „Verfassungsänderungen sind nicht an der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG zu messen. Diese Garantie bindet den einfachen, nicht aber den verfassungsändernden Gesetzgeber. Eine Antastung des Wesensgehalts im Sinne von Art. 19 Abs. 2 GG kann zwar im Einzelfall zugleich den von Art. 79 Abs. 3

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Schon früh spricht das BVerfG von einem letzten unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit, der der Einwirkung der gesamten öffentlichen Gewalt entzogen sei. In der Elfes-Entscheidung heißt es insoweit: „Hieraus [erg.: aus der Menschenwürde und der Wesensgehaltsgarantie] ergibt sich, dass dem einzelnen Bürger eine Sphäre privater Lebensgestaltung verfassungskräftig vorbehalten ist, also ein letzter unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit besteht, der der Einwirkung der gesamten öffentlichen Gewalt entzogen ist. Ein Gesetz, das in ihn eingreifen würde, könnte nie Bestandteil der ,verfassungsmäßigen Ordnung‘ sein; es müsste durch das Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt werden.“184 Selbst schwerwiegende Interessen der Allgemeinheit könnten Eingriffe in diesen Bereich nicht rechtfertigen. Eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes finde nicht statt.185 Doch wie lassen sich die unantastbaren Kernbereiche ermitteln? Handelt es sich um feststehende Bereiche oder resultieren sie – wie auch die Bestimmung des Menschenwürdegehalts – aus der „Ansehung des konkreten Falles“?186 Im Hinblick auf die Persönlichkeitsentfaltung unterscheidet das BVerfG zwischen verschiedenen Sphären.187 Während die innerste, die Intimsphäre, absolut vor staatlicher Einwirkung geschützt wird, unterfallen die weiteren Sphären, die Privatund Sozialsphäre, den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit.188 Das BVerfG grenzt die verschiedenen Sphären allerdings nicht rein formal, z. B. nach bestimmten Handlungsformen, wie dem Willen des Betroffenen auf Geheimhaltung, ab. Vielmehr komme es bei der Konkretisierung des absolut geschützten Bereichs auch GG geschützten Menschenwürdegehalt eines Grundrechts beeinträchtigen. Der Wesensgehalt ist aber nicht mit dem Menschenwürdegehalt eines Grundrechts gleichzusetzen.“ Danach kann der den Gesetzgeber bindende Wesensgehalt schon vor der Berührung des jedem staatlichen Eingriff entzogenen Menschenwürdegehalts liegen. Insofern stellt das BVerfG Abwägungen an, ohne allerdings die Wesensgehaltsgarantie mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gleichzusetzen, vgl. dazu BVerfGE 22, 180, 219 f. (Jugendhilfe): „Worin der unantastbare Wesensgehalt eines Grundrechts besteht, muss für jedes Grundrecht aus seiner besonderen Bedeutung im Gesamtsystem der Grundrechte ermittelt werden. […] Da der Zweck der Besserung eines Erwachsenen als gewichtiger Grund für die Entziehung der persönlichen Freiheit nicht ausreichen kann, tastet § 73 Abs. 2 und 3 BSHG das Grundrecht der persönlichen Freiheit in seinem Wesensgehalt an. Davon abgesehen ist auch der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt.“ Siehe auch BVerfGE 115, 118, 165 (Luftsicherheitsgesetz): „Die Wesensgehaltssperre des Art. 19 Abs. 2 GG schließt eine solche Maßnahme gegenüber diesem Personenkreis ebenfalls nicht aus. Im Hinblick auf die außergewöhnliche Ausnahmesituation, von der § 14 Abs. 3 LuftSiG ausgeht, bleibt der Wesensgehalt des Grundrechts auf Leben im hier vorausgesetzten Fall durch den mit dieser Vorschrift verbundenen Grundrechtseingriff so lange unangetastet, wie gewichtige Schutzinteressen Dritter den Eingriff legitimieren und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist (…).“ 184 BVerfGE 6, 32, 41 (Elfes). 185 BVerfGE 80, 367, 373 (Tagebuch). 186 BVerfGE 30, 1, 25 (Abhörurteil); zur Konkretisierung der Menschenwürde oben S. 58. 187 BVerfGE 32, 373, 379 (Ärztliche Schweigepflicht). 188 BVerfGE 109, 279, 315 (Großer Lauschangriff).

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

darauf an, ob der betroffene Sachverhalt seinem Inhalt nach höchstpersönlichen Charakter aufweise und „in welcher Art und Intensität er aus sich heraus die Sphäre anderer oder die Belange der Gemeinschaft“ berühre.189 So ordnete das BVerfG Tagebuchaufzeichnungen nicht dem absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung zu, da sie – obwohl die Planung oder Schilderung einer begangenen Straftat nicht Gegenstand der Aufzeichnungen war – über die Rechtssphäre des Betroffenen hinaus Belange der Allgemeinheit nachhaltig berührten. Denn der Betroffene war einer Straftat verdächtig, die erst vor dem Hintergrund seiner aus den Tagebuchaufzeichnungen ableitbaren Persönlichkeitsstruktur begriffen werden konnte. Die enge Verknüpfung zwischen dem Inhalt der Aufzeichnungen und dem Verdacht einer außerordentlich schwerwiegenden Straftat verbiete ihre Zuordnung zu dem absolut geschützten Kernbereich.190 Der Kernbereich privater Lebensgestaltung wird demnach nicht als abstrakt feststehender Lebensbereich oder Raum definiert,191 sondern unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und der „Art und Intensität“ der betroffenen Belange Dritter oder der Gemeinschaft.192 Die absolut formulierte Abwägungsgrenze grundrechtlicher Kernbereiche erweist sich damit als doch nicht so strikt. Zwar findet nach Zuordnung zum Kernbereich keine Abwägung mehr statt, aber auf dem Weg dorthin, also bei der Konkretisierung des absolut geschützten Bereichs, kommt das BVerfG ohne die Be-

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BVerfGE 80, 367, 374 (Tagebuch). BVerfGE 80, 367, 367 f. (Tagebuch), siehe aber auch die gegenteilige Auffassung der vier abweichenden, das Urteil nicht tragenden Richter, ebda, S. 380 ff. 191 BVerfGE 34, 238, 248 (Tonbandaufnahmen): „Wann eine heimliche Tonbandaufnahme den schlechthin unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung berührt und wann sie lediglich den unter bestimmten Voraussetzungen dem staatlichen Zugriff offenstehenden Bereich des privaten Lebens betrifft, lässt sich nur schwer abstrakt umschreiben. Diese Frage kann befriedigend nur von Fall zu Fall unter Berücksichtigung seiner Besonderheiten beantwortet werden.“ 192 Vgl. zu den schwierigen Abgrenzungsfragen den unantastbaren Kernbereich von Art. 13 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG BVerfGE 109, 279, 313 ff. (Großer Lauschangriff); problematisch ist auch die Verwendung von Daten, dazu einerseits BVerfGE 27, 1, 7 (Mikrozensus): „Eine statistische Befragung zur Person kann deshalb dort als entwürdigend und als Bedrohung des Selbstbestimmungsrechtes empfunden werden, wo sie den Bereich menschlichen Eigenlebens erfasst, der von Natur aus Geheimnischarakter hat, und damit auch diesen inneren Bezirk zu statistisch erschließbarem und erschließungsbedürftigem Material erklärt. Insoweit gibt es auch für den Staat der modernen Industriegesellschaft Sperren vor der verwaltungstechnischen ,Entpersönlichung‘. Wo dagegen die statistische Erhebung nur an das Verhalten des Menschen in der Außenwelt anknüpft, wird die menschliche Persönlichkeit von ihr in aller Regel noch nicht in ihrem unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung ,erfasst‘.“ Und andererseits BVerfGE 65, 1, 45 (Volkszählung): „Entscheidend sind ihre [erg.: der Daten] Nutzbarkeit und Verwendungsmöglichkeit. Diese hängen einerseits von dem Zweck, dem die Erhebung dient, und andererseits von den der Informationstechnologie eigenen Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten ab. Dadurch kann ein für sich gesehen belangloses Datum einen neuen Stellenwert bekommen; insoweit gibt es unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung kein ,belangloses‘ Datum.“ 190

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rücksichtigung der betroffenen Rechtsgüter im konkreten Fall und damit ohne Abwägungen nicht aus.193 2. Katalog der Verfassungswerte Konkrete Grenzen der Werteordnung könnten sich aber möglicherweise aus einem überschaubaren Katalog der abwägungsfähigen Verfassungsgüter ergeben. Obwohl das grundrechtliche Wertsystem in der Rechtsprechung des BVerfG eine besondere Stellung einnimmt,194 basiert die Werteordnung nicht nur auf Grundrechten. Das BVerfG bezieht auch objektive Verfassungsgüter mit ein, wie schon die Entscheidungen zum SRP- und KPD-Verbot durch die Betonung der freiheitlich demokratischen Grundordnung als Ausdruck einer wertgebundenen Ordnung zeigen.195 In einer allgemein gehaltenen Formulierung des BVerfG heißt es dementsprechend: „Die Entscheidung über Maßstäbe und Grenzen der gesetzgeberischen Entscheidungsfreiheit erfordert eine Gesamtschau des verfassungsrechtlichen Normenbestandes und der in ihm beschlossenen Wertordnung.“196 Versucht man den Bestand der Verfassungswerte zu erfassen,197 könnte man zunächst begrifflich vorgehen und alle ausdrücklich als Verfassungswert bzw. mit einer ähnlichen Formulierung bezeichneten Rechtsgüter sammeln.198 Das BVerfG hat einzelne Grundrechte vielfach als Werte bezeichnet, z. B. die Meinungsfreiheit,199 die Freiheit der Person,200 die Berufsfreiheit,201 den Schutz nichtehelicher Kinder,202 193

Ebenso Baldus, S. 224 (m.w.N.). Siehe zusammenfassend oben S. 46. 195 Dazu oben S. 21 f.; vgl. auch Geiger, S. 298; H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 13, Fn. 15. 196 BVerfGE 39, 1, 36 (Schwangerschaftsabbruch I). 197 Zu unterscheiden sind die Verfassungswerte von den einfachgesetzlich gesetzten Zwecken wie z. B. der Erhaltung und Förderung des Handwerks (BVerfGE 13, 97, 110). Zu diesen sogenannten „relativen“ Gemeinwohlinteressen Stern, Staatsrecht III/2, S. 826 f. 198 Für die Grundrechte würde – wegen der Gleichsetzung der Grundrechte als wertsetzende und objektive Normen (BVerfGE 7, 198, 205 – Lüth) – auch ein Verweis auf den objektivrechtlichen Gehalt ausreichen. 199 BVerfGE 7, 198, 209 (Lüth): „Es muss zu seiner [erg.: des BVerfG] Kompetenz gehören, den spezifischen Wert, der sich in diesem Grundrecht für die freiheitliche Demokratie verkörpert, allen Organen der öffentlichen Gewalt […] gegenüber zur Geltung zu bringen […].“ 200 BVerfGE 10, 302, 322: „Mag auch aufgrund eines Gesetzes in die körperliche Freiheit eingegriffen werden können, so weist doch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG: ,Die Freiheit der Person ist unverletzlich‘ gerade in dem Pathos der Formulierung deutlich auf die grundsätzliche Tendenz, die Wertentscheidung der Verfassung hin. Eine solche verfassungsrechtliche Grundsatznorm enthält, wie das Bundesverfassungsgericht bereits ausgesprochen hat (…), eine objektive Wertentscheidung, die für alle Bereiche des Rechts gilt.“ 201 BVerfGE 7, 377, 404 (Apothekenurteil): „Auch in Art. 12 Abs. 1 GG liegt eine klare materielle Wertentscheidung des Grundgesetzes für einen konkreten wichtigen Lebensbereich vor; […].“ 202 BVerfGE 8, 210, 217 (Vaterschaft): „Denn auch wenn man Art. 6 Abs. 5 GG lediglich als Gesetzgebungsauftrag versteht, ist er Ausdruck einer verfassungsrechtlichen Wertent194

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das Eigentum,203 die Pressefreiheit,204 die Gewissensfreiheit,205 die Garantie von Privatschulen,206 die Kunstfreiheit,207 die Wissenschaftsfreiheit,208 die Gleichberechtigung von Männern und Frauen,209 das Elternrecht210 sowie den allgemeine Gleichheitsgrundsatz.211, 212 Das BVerfG hat aber nicht nur einzelne Grundrechte als Verfassungswerte, Wertentscheidungen oder objektiv-rechtliche Normen benannt, sondern in der Lüth-Entscheidung allgemein auf die im Grundrechtsabschnitt aufgerichtete objektive Wertordnung verwiesen,213 so dass der gesamte Grundrechtskatalog Wertentscheidungen enthält.214 Dabei ist zu berücksichtigen, dass das BVerfG auch „neue“ Grundrechte entdeckt bzw. freilegt, z. B. das Recht auf infor-

scheidung, die Gerichte und Verwaltung im Rahmen der geltenden Gesetze bei der Ausübung des Ermessens bindet.“ 203 BVerfGE 14, 263, LS 1: „In Ausübung der durch Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG erteilten Ermächtigung, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen, muss der Gesetzgeber sowohl die Wertentscheidung des Grundgesetzes zugunsten des Privateigentums beachten als auch alle übrigen Verfassungsnormen, […].“ 204 BVerfGE 20, 162, 177 (Spiegel): „[…] die Auslegung der allgemeinen Gesetze stets an dem Grundwert der Pressefreiheit zu orientieren, […].“ 205 BVerfGE 23, 127, 134 (Zeugen Jehovas): „Das Grundrecht der Gewissensfreiheit gewährt nicht nur subjektive Rechte, sondern ist zugleich eine wertentscheidende Grundsatznorm (…), und zwar höchsten verfassungsrechtlichen Ranges, die bei Staatstätigkeit jeder Art […] Wertmaßstäbe setzende Kraft entfaltet und Beachtung verlangt.“ 206 BVerfGE 27, 195, 201: „Diese Gewährleistung [erg.: der Privatschulfreiheit] bedeutet die Absage an ein staatliches Schulmonopol und ist zugleich eine Wertentscheidung, die eine Benachteiligung gleichwertiger Ersatzschulen gegenüber den entsprechenden staatlichen Schulen […] verbietet.“ 207 BVerfGE 30, 173 ff. (Mephisto), LS Nr. 1: „Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ist eine das Verhältnis des Bereiches der Kunst zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm.“ 208 BVerfGE 35, 79, 114 (Hochschulurteil): „Eine solche Wertentscheidung enthält auch Art. 5 Abs. 3 GG. Sie beruht auf der Schlüsselfunktion, die einer freien Wissenschaft sowohl für die Selbstverwirklichung des Einzelnen als auch für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung zukommt.“ 209 BVerfGE 37, 217, 240 (Staatsangehörigkeit von Abkömmlingen): „Als solche Wertentscheidungen sind im vorliegenden Zusammenhang namentlich der Grundsatz der Gleichberechtigung von Männern und Frauen nach Art. 3 Abs. 2 GG und das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 GG maßgebend.“ 210 BVerfGE 37, 217, 240 (Staatsangehörigkeit von Abkömmlingen). 211 BVerfGE 38, 241, 253 (Ehelichkeitsanfechtung): „Als solche Wertentscheidungen kommen vor allem das in Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeitsrecht des Mannes und des Kindes (…), die Verfassungsgebote zum Schutz von Ehe und Familie und zum Schutz der nichtehelichen Kinder (…) in Betracht; auch ist der Grundsatz der Gleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) zu beachten.“ 212 Weitere Beispiele bei Jarass, Wertentscheidungen, S. 369 ff.; ders., Grundrechte, S. 37 ff. 213 BVerfGE 7, 198, 205 (Lüth). 214 Jarass, Wertentscheidungen, S. 371 f. m.w.N.

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mationelle Selbstbestimmung,215 den Anspruch auf Resozialisierung216 sowie jüngst das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme.217 Wegen der Möglichkeit der Entfaltung neuer Grundrechtswerte, nicht zuletzt mit dem Ziel der Anpassung an neuartige Gefährdungen,218 kann die Aufstellung eines abschließenden Katalogs von Grundrechtswerten allerdings nicht gelingen. Ebenso erfolglos wäre der Versuch, die objektiven Verfassungswerte in einem abschließenden Katalog zusammenzufassen. Zunächst könnte man auch hier die vom BVerfG ausdrücklich als Werte bezeichneten Rechtsgüter sammeln. Dazu gehören u. a. die Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Unabhängigkeit der Gerichte, Mehrparteienprinzip und Chancengleichheit für alle politischen Parteien,219 das Rechts- und Sozialstaatsprinzip,220 das Gebot staatlicher Toleranz in Fragen des Glaubens und der

215 BVerfGE 65, 1, 43 (Volkszählung): „Freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. Dieser Schutz ist daher von dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG umfasst. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.“ 216 BVerfGE 35, 202, 236 (Lebach): „Vom Täter aus gesehen erwächst dieses Interesse an der Resozialisierung aus seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Von der Gemeinschaft aus betrachtet verlangt das Sozialstaatsprinzip staatliche Vor- und Fürsorge für Gruppen der Gesellschaft, die auf Grund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind; dazu gehören auch die Gefangenen und Entlassenen.“ 217 BVerfGE 120, 274, LS 1 (Grundrecht auf Computerschutz): „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme.“ 218 BVerfGE 119, 1, 24 (Esra): „Der Inhalt dieses Rechts [erg.: des Persönlichkeitsrechts] ist nicht allgemein und abschließend umschrieben. Zu den anerkannten Inhalten gehören das Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person, die soziale Anerkennung sowie die persönliche Ehre (…).“; BVerfGE 120, 274, 303 (Grundrecht auf Computerschutz): „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet Elemente der Persönlichkeit, die nicht Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes sind, diesen aber in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen (…). Einer solchen lückenschließenden Gewährleistung bedarf es insbesondere, um neuartigen Gefährdungen zu begegnen, zu denen es im Zuge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und gewandelter Lebensverhältnisse kommen kann (…).“ 219 BVerfGE 2, 1, 13 (SRP) und oben S. 21. 220 BVerfGE 6, 32, 41 (Elfes): „Gesetze sind nicht schon dann ,verfassungsmäßig‘, wenn sie formell ordnungsmäßig ergangen sind. Sie müssen auch materiell in Einklang mit den obersten Grundwerten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als der verfassungsrechtlichen Wertordnung stehen, aber auch den ungeschriebenen elementaren Verfassungsgrundsätzen und den Grundentscheidungen des Grundgesetzes entsprechen, vornehmlich dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und dem Sozialstaatsprinzip.“

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

Weltanschauung,221 das Interesse der Gemeinschaft an einer funktionstüchtigen Rechtspflege222 sowie die Sicherheit des Staates und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung.223 Als objektive Verfassungswerte fungieren darüber hinaus aber alle Rechtsgüter, die das BVerfG als Schranken vorbehaltlos gewährter Grundrechte in Betracht zieht. Auch diese „Rechtsgüter mit Verfassungsrang“224 sind Bestandteil der grundgesetzlichen Werteordnung. Die Schwierigkeit, alle objektiven Verfassungswerte auszumachen, erschließt sich aus der Rechtsprechung des BVerfG zur Kriegsdienstverweigerung.225 Das BVerfG hatte zu entscheiden, ob vorbehaltlos gewährte Grundrechte, hier das Grundrecht der Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 3 GG, einschränkbar sind. Dem Wortlaut nach komme eine Beschränkung der vorbehaltlos gewährleisteten Gewissensfreiheit nicht in Betracht. Der enge Zusammenhang zwischen Gewissensfreiheit und Menschenwürde spreche für „die besondere Bedeutung eines unabdingbaren, nicht einschränkbaren Grundrechts, mit dem dem Schutz des Einzelgewissens Vorrang selbst gegenüber der Pflicht zur Beteiligung an der bewaffneten Landesverteidigung und damit an der Sicherung der staatlichen Existenz eingeräumt wird (…).“226 Dies gelte aber nur für einfachgesetzliche Normen. Verfassungsrechtliche Bestimmungen hingegen lieferten die Grundlagen und den Rahmen, „an den die übrigen Rechtsäußerungen und -erscheinungen sich anzupassen haben“.227 Unter Berufung auf die Einheit der Verfassung und die grundgesetzliche Wertordnung heißt es: „Nur kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte sind mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung ausnahmsweise imstande, auch uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen zu begrenzen.“228 Das 221

BVerfGE 33, 23, 32 (Eidesverweigerung aus Glaubensgründen): „Damit wird der vor allem in Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1, 3 Abs. 3 und 4 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Wertentscheidung der Verfassung für Toleranz als einem tragenden Prinzip der freiheitlichen Demokratie entsprochen.“ 222 BVerfGE 33, 23, 32 (Eidesverweigerung aus Glaubensgründen): „Das Interesse der staatlichen Gemeinschaft an einer funktionstüchtigen Rechtspflege, das im Wertsystem des Grundgesetzes seinen Platz hat (vgl. Art. 92 GG) und das, da jede Rechtsprechung letztlich der Wahrung der Grundrechte dient, nicht gering zu bewerten ist, wird durch die Hinnahme einer gegen die Zulässigkeit des Eides gerichteten Glaubensentscheidung im Einzelfall nicht beeinträchtigt.“ Zu den einzelnen Ausprägungen wie wirksame Strafverfolgung, Wahrheitsermittlung etc. vgl. BVerfGE 33, 367, 383 (Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeiter). 223 BVerfGE 49, 24, 56 f. (Kontaktsperre): „Die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet (…).“ 224 BVerfGE 28, 243, 261 (Dienstpflichtverweigerung). 225 Insbesondere BVerfGE 28, 243 (Dienstpflichtverweigerung); E 69, 1, 57, 58 (Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetz). 226 BVerfGE 28, 243, 260 (Dienstpflichtverweigerung). 227 BVerfGE 28, 243, 260 f. (Dienstpflichtverweigerung). 228 BVerfGE 28, 243, 261 (Dienstpflichtverweigerung).

B. Probleme der Werteordnung

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BVerfG hält damit auch vorbehaltlos gewährte Grundrechte für beschränkbar.229 Entscheidend für diesen Zusammenhang ist jedoch die Frage, wann ein auch vorbehaltlose Grundrechte einschränkender Rechtswert mit Verfassungsrang anzunehmen ist. Das BVerfG betrachtet in dieser Entscheidung die Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr als Verfassungswert und wägt diesen mit der Gewissensfreiheit ab. Zur Begründung des „neuen“ Verfassungswertes heißt es: „Die Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr haben für diese Abwägung verfassungsrechtlichen Rang, da Art. 12 a Abs. 1, Art. 73 Nr. 1 und Art. 87 a Abs. 1 Satz 1 GG die Wehrpflicht zu einer verfassungsrechtlichen Pflicht gemacht und eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung für die militärische Verteidigung getroffen haben.“230 Die Richter Böckenförde und Mahrenholz kritisieren in ihrem Sondervotum zu einer späteren Entscheidung betreffend die Kriegsdienstverweigerung, dass das BVerfG den Einzelnormen eine über ihren unmittelbaren Inhalt hinausgehende normative Wirkung verliehen habe. Dieser „verfassungstheoretisch-dogmatische Ansatz“ gefährde die Integrität der Grundrechtsgeltung und das Grundgefüge einer demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung.231 Zwar sei die Frage nach verfassungsimmanenten Schranken auch zulasten von vorbehaltlosen Grundrechten zulässig, eine unzulässige interpretative Umdeutung stelle es jedoch dar, diese aus Kompetenzvorschriften (Art. 73 Nr. 1, 87 a GG), bloßen Ermächtigungsnormen (Art. 12 a GG) oder Organisationsregelungen (Art. 115 b GG)232 herzuleiten. Zwar seien durch diese Normen die Voraussetzungen für eine wirksame Landesverteidigung getroffen worden, doch fehle es gerade an einer eigenen normativen Grundentscheidung.233 Auf diese Weise könnten beliebige Grundrechtsschranken mit weitreichenden Folgen für die Grundrechtsgeltung in die Verfassung hineingelesen werden: „Werden einer Grundrechtsgewährleistung ranggleich andere verfas229 Zur Kunstfreiheit vgl. BVerfGE 30, 173, 193 (Mephisto): „Vielmehr ist ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch Verfassungsauslegung zu lösen“; ähnlich auch BVerfGE 32, 98, 108 (Gesundbeter); zur Religionsfreiheit BVerfGE 41, 29, 50 f.: „Das im Bereich des Schulwesens unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit zu lösen, obliegt dem demokratischen Landesgesetzgeber, der im öffentlichen Willensbildungsprozess unter Berücksichtigung der verschiedenen Auffassungen einen für alle zumutbaren Kompromiss zu suchen hat. […] Beide Vorschriften sind zusammen zu sehen und in der Interpretation aufeinander abzustimmen, weil erst die ,Konkordanz‘ der in den beiden Artikeln geschützten Rechtsgüter der Entscheidung des Grundgesetzes gerecht wird.“ 230 BVerfGE 28, 243, 261 (Dienstpflichtverweigerung); ebenso BVerfGE 32, 40, 46; E 48, 127, 159 (Wehrpflichtnovelle); E 69, 1, 21 f. (Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetz). 231 Sondervotum zu BVerfGE 69, 1, 57, 58 (Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetz). 232 Eingefügt durch das 17. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes, 24. 6. 1968, BGBl. 1968 I, S. 712. 233 Sondervotum zu BVerfGE 69, 1, 57, 60 (Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetz).

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

sungsgeschützte Rechtswerte oder Grundrechtsentscheidungen in der Form von Kompetenzbestimmungen, Ermächtigungsnormen und Organisationsregelungen gegenübergestellt, so werden in die Verfassung Spannungsverhältnisse hineinverlegt, für deren Auflösung sie keine Maßstäbe enthält.“234 Weiter heißt es: „Diese Relativierung der Grundrechtsgeltung spitzt sich zu, wenn als das Grundrecht beschränkender Verfassungswert gerade diejenige staatliche Aufgabe oder Funktion herangezogen wird, gegen die sich das Grundrecht in seiner staatliches Handeln begrenzenden Freiheitsverbürgung richtet. So ist es hier. Art. 4 Abs. 3 GG entfaltet seine normative Begrenzungswirkung gerade gegenüber der staatlichen Aufgabe der Herstellung einer funktionsfähigen Landesverteidigung. Wird nun dieses ,Gegeninteresse‘ seinerseits als gleichrangige Gegenposition oder Begrenzung des Grundrechts eingeführt, verliert das Grundrecht entgegen seinem normativen Gehalt den Charakter einer verfassungsrechtlich eindeutigen Entscheidung; es wird zum bloßen Abwägungsgesichtspunkt.“235 Darüber hinaus bestehe die Gefahr, dass die Verfassung ihre inhaltliche Bestimmtheit verliere.236 Mit ihrer Warnung vor einer Beliebigkeit der Verfassungswerte treffen die dissentierenden Richter einen überaus heiklen Punkt. Unabhängig von der Frage, ob der Verfassung tatsächlich eine Grundentscheidung für die militärische Verteidigung zu entnehmen ist, zeigt sich hier, dass das BVerfG die Werteordnung für weitere Verfassungswerte und Grundrechtsschranken öffnet, die unter Einbeziehung der verfassungsrechtlichen Kompetenz-, Ermächtigungs- und Organisationsnormen ein großes Ausmaß annehmen können.237 Zugleich wirft das BVerfG aber auch die grundsätzliche Frage auf, welche Kriterien überhaupt an die Entstehung von Verfassungswerten zu stellen sind. Angesichts der verfassungsgerichtlichen Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung der Werteordnung anhand der Rechtsprechung des BVerfG kann jedenfalls kein abschließender Katalog der Verfassungswerte, seien es Grundrechte oder Rechtswerte mit Verfassungsrang, aufgestellt werden.

234

setz). 235

setz). 236

setz).

Sondervotum zu BVerfGE 69, 1, 57, 62 (Kriegsdienstverweigerungs-NeuordnungsgeSondervotum zu BVerfGE 69, 1, 57, 64 (Kriegsdienstverweigerungs-NeuordnungsgeSondervotum zu BVerfGE 69, 1, 57, 63 (Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsge-

237 Kritisch zu einem solchen „materiellen Kompetenzdenken“ Selk, S. 106 ff. und 113, Fn. 135 m.w.N. Siehe auch Stern, Staatsrecht III/2, S. 825 f. Rensmann, S. 122, spricht insoweit sogar vom „eigentlichen Sündenfall der Wertordnungsjudikatur“. Ausführlich zu den vom BVerfG anerkannten Rechtswerten von Verfassungsrang zur Beschränkung vorbehaltloser Grundrechte Misera-Lang, S. 192 ff., mit dem Hinweis darauf (dies., S. 205), dass am häufigsten auf Bestand und Funktionsfähigkeit von staatlichen Einrichtungen abgestellt werde.

B. Probleme der Werteordnung

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3. Rückgriff auf allgemeine Gerechtigkeitserwägungen Das Problem der Unbestimmtheit oder gar Beliebigkeit der Verfassung setzt sich fort bei der Frage, ob und inwieweit die verfassungsrechtliche Werteordnung einen Rückgriff auf allgemeine Gerechtigkeitserwägungen zulässt oder gebietet, also ob das BVerfG auch einer transzendenten Lesart der Werteordnung folgt. Dass überhaupt auf die materielle Gerechtigkeit oder die Idee der Gerechtigkeit rekurriert wird,238 ist in dieser Hinsicht noch nicht aussagekräftig, denn insoweit kann es sich auch um in der Verfassung positivierte Gerechtigkeitsgehalte handeln. Fraglich ist vielmehr, ob das BVerfG die Gerechtigkeit als einen selbständigen Verfassungswert ansieht, der das Recht über die konkreten Entscheidungen des Verfassungsgesetzgebers hinaus für transzendente Erwägungen öffnet. Die Rechtsprechung des BVerfG dazu ist ambivalent. Auf der einen Seite distanziert sich das BVerfG ausdrücklich von transzendenten, die Auslegung der Verfassung bestimmenden Erwägungen. Zur Bedeutung des Naturrechts führt es aus: „Die verfassungsrechtliche Prüfung an diesen [erg.: naturrechtlichen] Vorstellungen zu orientieren, verbietet sich jedoch schon durch die Vielfalt der Naturrechtslehren, die zutage tritt, sobald der Bereich fundamentaler Rechtsgrundsätze verlassen wird, und die sich vor allem bei der Erörterung der innerhalb der naturrechtlichen Diskussion selbst sehr bestrittenen Fragen des Verhältnisses ,Naturrecht und Geschichtlichkeit‘, ,Naturrecht und positives Recht‘ zeigt. Für die hier vorzunehmende Prüfung kommt daher als Maßstab nur das Grundgesetz in Betracht.“239 Oder es betont, dass die Gerechtigkeitspostulate nur insoweit einen normativen Maßstab bilden, als sie zu den Grundentscheidungen der Verfassung selbst gehören.240 Damit würden die Gerechtigkeitspostulate, auch wenn ihnen ein überpositiver Charakter zukäme, nur in Verbindung mit den Normen des Verfassungsrechts wirken.241 238

So z. B. BVerfGE 33, 367, 383 (Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeiter): „Zwar ist es dem Gesetzgeber nicht freigestellt, den Kreis der aus Berufsgründen zeugnisverweigerungsberechtigten Personen nach Belieben zu erweitern. Vielmehr zieht ihm das Rechtsstaatsprinzip Grenzen. Soweit der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit die Idee der Gerechtigkeit als wesentlichen Bestandteil enthält (…), verlangt er auch die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann.“ Siehe auch BVerfGE 80, 367, 375 (Tagebuch): „Das Grundgesetz weist den Erfordernissen einer an rechtsstaatlichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege im Hinblick auf die Idee der Gerechtigkeit einen hohen Rang zu.“ Allgemein zur Gerechtigkeit Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip. 239 BVerfGE 10, 59, 81 (Elterliche Gewalt). 240 BVerfGE 3, 225 LS 1 (Gleichberechtigung): „Die Norm kann dann nichtig sein, wenn sie grundlegende Gerechtigkeitspostulate, die zu den Grundentscheidungen dieser Verfassung selbst gehören, in schlechthin unerträglichem Maße missachtet.“; ebda, S. 237: „Rechtssicherheit ist ein wesentliches Element des rechtsstaatlichen Prinzips (vgl. BVerfGE 2, 380 [403]). Dieses Prinzip seinerseits gehört zu den im Grundgesetz getroffenen Grundentscheidungen, die echte Gerechtigkeitspostulate verwirklichen wollen.“ 241 Für ein solches immanentes Verständnis BVerfGE 42, 64, 72 f. Dort heißt es: „Der Maßstab dafür, was im konkreten Fall als in diesem Sinne willkürlich zu qualifizieren ist, ergibt

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

Auf der anderen Seite zeigt das BVerfG die Tendenz zu einem selbständigen, überpositiven Gerechtigkeitsbegriff. Diese zeigt sich, wenn das BVerfG zur Wahrung der äußersten Grenzen der Gerechtigkeit auf die Anwendung der Radbruchschen Formel verweist,242 wie insbesondere in zahlreichen Fällen hinsichtlich der Bewertung nationalsozialistischen (Un-)Rechts.243 Besonders verwirrend wird die Argumentation, wenn in derselben Entscheidung – wie oben zum Gleichberechtigungs-Urteil bereits ausgeführt – sowohl auf einen transzendenten als auch auf einen immanenten Gerechtigkeitsbegriff Bezug genommen wird.244 Ähnlich zwiespältige Ausführungen enthält die Soraya-Entscheidung.245 Hintergrund der Entscheidung war die Veröffentlichung eines frei erfundenen Interviews durch die Beschwerdeführer, worin die Zivilgerichte eine schwere Persönlichkeitsverletzung sahen und der Beschwerdegegnerin gemäß § 823 Abs. 1 BGB Schadensersatz in Geld zusprachen.246 In ihrer Verfassungsbeschwerde machten die Beschwerdeführer u. a. geltend, die Richter hätten gegen die Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG verstoßen, da nach der gesetzlichen Regelung des § 253 BGB in

sich nicht aus den subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen des gerade zur Rechtsanwendung Berufenen, sondern zunächst und vor allem aus den in den Grundrechten konkretisierten Wertentscheidungen und den fundamentalen Ordnungsprinzipien des Grundgesetzes.“ 242 BVerfGE 3, 225, 232 f. (Gleichberechtigung) und oben S. 24 f. 243 BVerfGE 3, 58, 119 (Beamtenverhältnisse); E 6, 132. 198 f. (Gestapo); E 23, 98, 106 (Ausbürgerung); E 28, 191, 197; siehe auch Robbers, Gerechtigkeit, S. 31 f.; Hoffmann, S. 61 ff. m.w.N. 244 Siehe dazu oben S. 24. Ähnlich auch BVerfGE 23, 98, 106 f. (Ausbürgerung). In dieser Entscheidung stützt sich das BVerfG nicht nur auf den Verstoß des NS-Rechts gegen überpositives Recht, sondern sieht in der Anerkennung von NS-Ausbürgerungen auch einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 und 3 GG. Dort heißt es (S. 106): „Recht und Gerechtigkeit stehen nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Die Vorstellung, dass ein ,Verfassunggeber alles nach seinem Willen ordnen kann, würde einen Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus bedeuten, wie sie in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit längerem überwunden ist. Gerade die Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland hat gelehrt, dass auch der Gesetzgeber Unrecht setzen kann‘ (BVerfGE 3, 225 [232]). Daher hat das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit bejaht, nationalsozialistischen ,Rechts‘-Vorschriften die Geltung als Recht abzuerkennen, weil sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, dass der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde (…). Die 11. Verordnung verstieß gegen diese fundamentalen Prinzipien. In ihr hat der Widerspruch zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass sie von Anfang an als nichtig erachtet werden muss (…).“ Und sodann auf S. 107: „Die Anerkennung der Rechtswirksamkeit von Ausbürgerungen durch die 11. Verordnung würde daher gegen Art. 3 Abs. 1 und 3 GG verstoßen.“ Vgl. dazu auch Hoffmann, S. 71 f. Diese Schwäche des Gerechtigkeitsarguments betont besonders Robbers, Gerechtigkeit, S. 36. 245 BVerfGE 34, 269 (Soraya). 246 Erstmals sprach der BGH Geldentschädigung bei Persönlichkeitsverletzung im sog. Herrenreiter-Fall, BGHZ 26, 349 ff., zu. Zur zivilgerichtlichen Rechtsprechung auch BVerfGE 34, 269, 273 ff. (Soraya).

B. Probleme der Werteordnung

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der damaligen Fassung247 eine Geldentschädigung für Nichtvermögensschäden nur in den vom Gesetz bestimmten Fällen, die hier nicht einschlägig seien, gewährt werden könnte. Auch wenn die Zuerkennung von Entschädigung im Ergebnis den Wertvorstellungen der Verfassung entsprechen könnte, seien die verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfindung überschritten worden. Die Zivilgerichte hätten sich Rechtsetzungsfunktionen angemaßt.248 Das BVerfG billigte die zivilgerichtliche Rechtsprechung und sah in der Zuerkennung von Geldentschädigung weder eine Verletzung von Grundrechten der Beschwerdeführer noch einen Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG.249 Zur Bindung der Gerichte an Gesetz und Recht argumentierte das BVerfG zunächst mit einer verfassungsimmanenten Lesart des Art. 20 Abs. 3 GG: „Die Formel hält das Bewusstsein aufrecht, dass sich Gesetz und Recht zwar faktisch im allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken. Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag; es zu finden und in den Entscheidungen zu verwirklichen, ist Aufgabe der Rechtsprechung. […] Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muss sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muss auf rationaler Argumentation beruhen.“250 Das BVerfG spricht insoweit zwar von einem „Mehr an Recht“, das aus dem „Sinnganzen“ der Verfassung folge, bezieht diese „Mehr“ aber letztlich auf die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanenten Wertvorstellungen, so dass der Bezug zur positiven Rechtsordnung erhalten bleibt. Sodann heißt es aber: „Es muss einsichtig gemacht werden können, dass das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den ,fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft‘ (BVerfGE 9, 338 [349]).“251 Damit wirft das BVerfG die Frage auf, ob schon „der Konflikt einer Norm mit den materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen einer gewandelten Gesellschaft“252 ausreicht, um sich der gesetzlichen Regelung zu entziehen oder vermeintliche ge247 § 253 BGB a.F.: „Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann Entschädigung in Geld nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden.“ 248 BVerfGE 34, 269, 280, 284 (Soraya). 249 BVerfGE 34, 269, 285 ff. (Soraya). 250 BVerfGE 34, 269, 287 (Soraya). 251 BVerfGE 34, 269, 287 (Soraya). 252 BVerfGE 34, 269, 289 (Soraya).

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

setzliche Lücken zu schließen. In seiner konkreten Entscheidung stellte das BVerfG nicht auf irgendwelche Maßgaben der praktischen Vernunft ab, sondern rechtfertigte die richterliche Rechtsfortbildung als ein methodisch vertretbares Ergebnis, das gerade der Durchsetzung und dem Schutz eines Rechtsguts dient, das die Verfassung selbst als den Mittelpunkt ihres Wertsystems ansieht.253 Trotz dieser Bezugnahme zur Verfassung bleibt eine transzendente Lesart des Art. 20 Abs. 3 GG durch das BVerfG für die richterliche Rechtsfortbildung nicht ausgeschlossen.254 Eine Öffnung der Rechtsfortbildung für verfassungsungebundene Gerechtigkeitserwägungen würde aber die Gefahr, dass Gerichte die Grenze zur Gesetzgebung überschreiten, erheblich verschärfen. Nun könnte man meinen, die ambivalente Gerechtigkeitsargumentation sei kaum relevant oder zugunsten eines immanenten Gerechtigkeitsbegriffs aufzulösen, da das BVerfG letztlich auf die positivierten Gerechtigkeitsgehalte abstellt. In diesem Sinne meint Robbers, das BVerfG habe die Entscheidungen des Verfassunggebers immer zum wesentlichen Vermittlungsfaktor für die Gerechtigkeit gemacht; positivrechtliche Relevanz hätten letzte Gerechtigkeitswerte erst durch seine Entscheidung.255 Dann stellt sich aber die Frage, welche Funktion die – die Entscheidung nicht tragenden – überpositiven Gerechtigkeitserwägungen haben könnten. Durch die Bezugnahme zu immanenten und überpositiven Gerechtigkeitserwägungen kann man nicht ausschließen, dass überpositiven Gerechtigkeitserwägungen zumindest bei Bedarf auch eine selbständige Bedeutung eingeräumt wird. Einen Anhaltspunkt dafür bietet die Mauerschützen-Entscheidung, in der das BVerfG maßgeblich auf den Vorrang der materiellen Gerechtigkeit verweist.256 In diesem Fall war eine verfassungsimmanente Argumentation nach seiner Auffassung nicht ausreichend. Vielmehr bedurfte es eines Rückgriffs auf „überpositive Rechtsgrundsätze“.257 Das BVerfG hatte zu entscheiden, ob das strafrechtliche Rückwirkungsverbot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG einer Verurteilung der Mauerschützen entgegensteht, die Beschwerdeführer sich also auf den nach den Vorschriften und der Staatspraxis der DDR für Tötungen an der innerdeutschen Grenzen ergebenden Rechtfertigungsgrund berufen konnten. Im Ergebnis verneinte das BVerfG einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot. Die Schwierigkeit der Begründung bestand darin, einerseits die absolute Geltung des Rückwirkungsverbotes nicht in Frage zu stellen, also seinen strikten und unbedingten Charakter aufrechtzuerhalten und andererseits eine Ausnahme für den besonderen Fall der Mauerschützen darzulegen. Das BVerfG betont daher zunächst: „Dieses Rückwirkungsverbot des Strafrechts ist absolut (…). Es 253

BVerfGE 34, 269, 291 (Soraya). Auf die Frage der „praktischen Vernunft“ abstellend Alexy, Juristische Argumentation, S. 15 und S. 44 f. 255 Robbers, Wertorientierung, S. 165; ders., Gerechtigkeit, S. 36 ff. 256 BVerfGE 95, 96, 134 f. (Mauerschützen). Eingehend zur Mauerschützenjudikatur des BVerfG Hoffmann, S. 166 ff.; zur Entscheidung des EGMR Starck, Todesschüsse, S. 1102 ff. 257 BVerfGE 95, 96, 137 (Mauerschützen). 254

B. Probleme der Werteordnung

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erfüllt seine rechtsstaatliche und grundrechtliche Gewährleistungsfunktion durch eine strikte Formalisierung. Das ist ein Spezifikum unter den Garantien der Rechtsstaatlichkeit (…).“258 Sodann begrenzt es die strikte Geltung des Rückwirkungsverbots auf den „Normalfall“, der sich auf die Begehung und Aburteilung von Straftaten im Anwendungsbereich des vom Grundgesetz geprägten materiellen Strafrechts der Bundesrepublik Deutschland beziehe. Anknüpfungspunkt für die absolute und strikte Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG sei insofern das unter den Bedingungen des Grundgesetzes zustande gekommene und daher den Forderungen der materiellen Gerechtigkeit genügende Strafrecht.259 Sofern das Strafrecht eines anderen Staates, hier der DDR, angewendet werden muss, der weder die Demokratie noch die Gewaltenteilung noch die Grundrechte verwirklichte, könne dies zu „einem Konflikt zwischen den unverzichtbaren rechtsstaatlichen Geboten des Grundgesetzes und dem absoluten Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG führen“.260 Die besondere Vertrauensgrundlage für die absolute Geltung des Rückwirkungsverbotes bestehe aber nur unter den Bedingungen des „Normalfalls“: „Diese besondere Vertrauensgrundlage entfällt, wenn der andere Staat für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts zwar Straftatbestände normiert, aber die Strafbarkeit gleichwohl durch Rechtfertigungsgründe für Teilbereiche ausgeschlossen hat, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht aufforderte, es begünstigte und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannte Menschenrechte in schwerwiegender Weise missachtete. Hierdurch setzte der Träger der Staatsmacht extremes staatliches Unrecht, das sich nur solange behaupten kann, wie die dafür verantwortliche Staatsmacht faktisch besteht. In dieser ganz besonderen Situation untersagt das Gebot materieller Gerechtigkeit, das auch die Achtung der völkerrechtlich anerkannten Menschenrechte aufnimmt, die Anwendung eines solchen Rechtfertigungsgrundes. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 Abs. 2 GG muss dann zurücktreten.“261 Aus Gründen der materiellen Gerechtigkeit kann man sich einer Einschränkung des Rückwirkungsverbotes für diesen Fall kaum entziehen. Doch öffnet der methodische Kunstgriff über die Vertrauensgrundlage des „Normalfalls“ viel Argumentationspotential für weitere Ausnahmefälle, die eine Relativierung von Verfassungsnormen durch Berufung auf die materielle Gerechtigkeit rechtfertigen könnten. Hinzu kommt, dass der Verfassungsgesetzgeber in diesem vermeintlichen „Ausnahmefall“ handlungsfähig war und den Umgang mit DDR-Straftaten ohne weiteres zugunsten der materiellen Gerechtigkeit hätte regeln können. Das BVerfG bindet seine Bezüge zur materiellen Gerechtigkeit in der Regel an konkrete verfassungsrechtliche Entscheidungen. Einen Rückgriff auf allgemeine Gerechtigkeitserwägungen, die über die positivierten Gerechtigkeitsgehalte hin258 259 260 261

BVerfGE 95, 96, 131 (Mauerschützen). BVerfGE 95, 96, 132 (Mauerschützen). BVerfGE 95, 96, 133 (Mauerschützen). BVerfGE 95, 96, 133 (Mauerschützen).

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1. Teil: Zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG

ausgehen, schließt es aber nicht aus. Auch sie können Gegenstand einer verfassungsrechtlichen Abwägung sein und Verfassungsbestimmungen relativieren. Die grundgesetzliche Werteordnung wird damit nicht strikt auf die Abwägung positivierter Verfassungswerte begrenzt.

IV. Ergebnis Durch ihre umfassende Bindungswirkung steht die grundgesetzliche Werteordnung im Zentrum des Rechts. Die Ausgestaltung sowie die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts sind an der grundgesetzlichen Werteordnung und damit insbesondere an den Grundrechten auszurichten. Das damit begründete Verhältnis von Verfassungsrecht und einfachem Recht setzt sich jeweils fort in dem Verhältnis zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit sowie zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber. Denn im Fall der verfassungsgerichtlichen Überprüfung stellen sich die Fragen der Verfassungsauslegung zugleich als Fragen nach der verfassungsgerichtlichen Kompetenz dar. Zwar sieht das BVerfG den Gesetzgeber nicht als bloßes Vollzugsorgan der Verfassung, sondern erkennt seinen Gestaltungsspielraum z. B. bei der Setzung von Gesetzeszwecken, soweit diese mit der Werteordnung vereinbar sind, an. In die Nähe eines Vollzugsorgans gerät der Gesetzgeber allerdings, wenn aus der Verfassung, insbesondere aus den objektivrechtlichen Grundrechtsgehalten, konkrete Handlungsaufträge abgeleitet werden, die bei einer intensiven verfassungsgerichtlichen Kontrolle den Spielraum des Gesetzgebers erheblich einschränken können. Die Folgen der Ausstrahlungswirkung der grundgesetzlichen Werteordnung auf die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts scheinen demgegenüber als bloßes Problem der Funktionenteilung zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit, das das BVerfG durch eine grundsätzliche, aber Ausnahmen zulassende Beschränkung seiner Prüfungsdichte auf spezifisches Verfassungsrecht zu lösen versucht. Aber auch in diesem Verhältnis spiegelt sich letztlich die Frage wider, welche Bedeutung dem einfachen Recht und damit dem Gesetzgeber zukommen soll. Vor diesem Hintergrund hat sich als bedenklich erwiesen, dass Rationalität und Grenzen der Werteordnung in vielerlei Hinsicht nicht gewiss sind. Die Wirkungsweise der für die Werteordnung zentralen Abwägung hat zwar durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine gewisse Struktur erhalten, die Funktionsweise der eigentlichen Abwägung der betroffenen Rechtsgüter im Rahmen der Angemessenheitsprüfung, also den Vorgang ihrer Gewichtung, konnte das BVerfG aber nicht weiter klären. Diese Offenheit könnte man als Einfallstor für beliebige subjektive Wertungen ansehen, deren Ausmaß mit der Abwägungsbedürftigkeit der Werteordnung steigt. Das Bedürfnis nach Abwägungsgrenzen konnte das BVerfG allerdings weder durch Aussagen zu abstrakten Rangverhältnissen von Verfassungswerten erfüllen, noch durch die Festlegung bestimmter Abwägungsgrenzen zugunsten der Menschenwürde oder grundrechtlicher Kernbereiche. Denn auch diese

B. Probleme der Werteordnung

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haben sich letztlich nicht als abwägungsfrei erwiesen. Darüber hinaus werden die abwägungsfähigen Verfassungswerte stets erweitert, so dass man sich nicht auf einen begrenzten Wertekatalog verlassen könnte. Nun könnte man meinen, die Offenheit des Abwägungsvorgangs und der abwägungsfähigen Verfassungswerte sei durch eine transzendente Lesart der Werteordnung und damit durch einen Rückgriff auf allgemeine Gerechtigkeitserwägungen zu füllen. Die Rechtsprechung des BVerfG schließt diese Lesart jedenfalls nicht aus. Zwar zeigt es die Tendenz, nur auf positivierte Gerechtigkeitsgehalte der Verfassung rekurrieren zu wollen. Zugleich hält es aber die Tür zur Moral offen und scheut sich nicht – zumindest im Ausnahmefall –, die materielle Gerechtigkeit als überpositiven Rechtsgrundsatz in die Abwägung einzubeziehen. Durch die Öffnung des Rechts für solche Erwägungen aber könnte die Werteordnung umschlagen in eine Befugnis zu freier richterlicher Rechtsschöpfung, und zwar zugunsten der Fachgerichte bei der Auslegung einfachen Rechts und zugunsten des Verfassungsgerichts bei der Auslegung des Verfassung. Gegen die Plausibilität der Werteordnungskonzeption können also kompetenzrechtliche Gründe sowie die Gefährdung des Verfassungsrechts durch außerrechtliche, moralische Einflüsse angeführt werden. Lassen sich diese Einwände durch eine prinzipientheoretische Konzeption der Grundrechte, wie sie von Alexy vertreten wird, entkräften?

Zweiter Teil

Die Verfassung als Werteordnung am Beispiel Robert Alexys Prinzipientheorie A. Das Werteordnungsdenken als Prinzipiendenken Mit der Prinzipientheorie von Alexy liegt ein rechtstheoretisches Modell zur Rekonstruktion der verfassungsgerichtlichen Werteordnungsrechtsprechung vor. Möglicherweise trägt das Verständnis des Werteordnungsdenkens als Ausdruck eines spezifischen Prinzipiendenkens dazu bei, die Probleme der Werteordnung zu lösen oder einer Lösung zumindest näher zu kommen. In seiner Schrift „Theorie der Grundrechte“ konzipiert Alexy die Prinzipientheorie als Grundrechtstheorie.1

I. Die Prinzipientheorie 1. Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien Wesentlich für die Prinzipientheorie von Alexy ist – in Anlehnung an Dworkin – die rechtstheoretische Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien.2 Ausgangspunkt ist die Annahme, dass sich Regeln und Prinzipien in ihrer Normstruktur unterscheiden, wobei alle Normen entweder Regeln oder Prinzipien sind.3 Unterschieden wird aber nicht danach, wie generell oder speziell eine Norm ist (graduelle Unterscheidung), sondern nach ihrer Erfüllbarkeit bzw. Optimierbarkeit (qualitative 1

Alexy, Grundrechte. Zur nationalen und internationalen Rezeption der Prinzipientheorie Alexys vgl. Jestaedt, Abwägungslehre, S. 253 f., der insofern von einem „Erfolgsschlager“ und „Exportschlager“ spricht. 2 Alexy, Grundrechte, S. 71. Alexy führt die Prinzipientheorie in zahlreichen Beiträgen aus, zuerst in: Rechtsprinzip, S. 177 ff. Da die „Theorie der Grundrechte“ die kompakteste Darstellung enthält, wird im Folgenden – soweit sich keine Änderungen oder Erweiterungen aus anderen Beiträgen ergeben – in erster Linie auf dieses Werk verwiesen. Die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien ist wesentlich von Dworkin geprägt worden. Sie dient ihm vor allem als Angriff auf den von H. L. A. Hart vertretenen (gemäßigten) Positivismus, der zwar eine strikte Bindung an Regeln vorsieht, letztlich aber in den sogenannten „hard cases“, also in ungeregelten Fällen, zu einem freien Ermessen der Richter führt, das jegliche moralische Wertung ermöglicht, Dworkin, S. 54, 68 ff. Dworkin will zeigen, dass die Rechtsprechung auch in diesen „hard cases“ gebunden ist, und zwar an Prinzipien. Prinzipien gehörten ebenso wie Regeln zum Recht. Zur unterschiedlichen Struktur von Regeln und Prinzipien ders., S. 58 ff. 3 Alexy, Grundrechte, S. 72, 77.

A. Das Werteordnungsdenken als Prinzipiendenken

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Unterscheidung).4 Prinzipien sind Normen, „die gebieten, dass etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird“.5 Als Optimierungsgebote können Prinzipien damit in unterschiedlichen Graden erfüllt werden, je nach den tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten.6 Sie enthalten keine definitiven, sondern nur prima-facie Gebote.7 Regeln hingegen sind Normen, „die stets nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können.“8 Im Gegensatz zu Prinzipien als Optimierungsgeboten enthalten sie „Festsetzungen im Raum des tatsächlich und rechtlich Möglichen“.9 2. Regel- und Prinzipienkollisionen Die unterschiedliche Normstruktur von Regeln und Prinzipien verdeutlicht Alexy anhand von Normkollisionen. Zwei Regeln, die miteinander in Konflikt geraten, könnten nicht beide gelten. Entweder sei eine Regel mit einer Ausnahmeklausel zu versehen, um die Vereinbarkeit beider Regeln herbeizuführen, oder eine Regel müsste ungültig sein.10 Bei Prinzipienkollisionen hingegen sei nicht die Geltung der Norm, sondern ihr Gewicht entscheidend. Das Prinzip mit dem größeren Gewicht könne sich im konkreten Fall durchsetzen, ohne dass die Geltung des zurücktre4

Alexy, Grundrechte, S. 75 ff. Alexy, Grundrechte, S. 75 (schon vorher ders., Rechtsprinzip, S. 203 ff.); Dworkin bezeichnet Prinzipien nicht als Optimierungsgebote. Im Gegensatz zu Regeln folgten sie keinem „Alles-oder-Nichts“-Muster und gäben keine Konsequenzen vor, vielmehr seien sie Gründe bzw. Argumente in eine bestimmte Richtung, siehe Dworkin, S. 58 ff. 6 Die zum Begriff des Optimierungsgebots von Sieckmann, Regelmodelle, S. 65 ff., vorgebrachte Kritik, Prinzipien seien streng genommen keine Optimierungsgebote, sondern zu optimierende Gebote, räumt Alexy ein, plädiert aber trotzdem für die Beibehaltung des Begriffs, da dieser den Umgang mit Prinzipien sinnvoll beschreibe, Alexy, Zur Struktur der Rechtsprinzipien, S. 38 f. Kritisch zum Begriff des Optimierungsgebotes auch Weinberger, S. 63 f. Zur logischen Erfassung der Beschaffenheit und des Wesens von Optimierungsgeboten als „reiterierte Geltungsgebote“ siehe Sieckmann, Begriff und Struktur, S. 70 ff. sowie die kritischen Anmerkungen zum Modell der „reiterierten Geltungsgebote“ Alexy, Zur Struktur der Rechtsprinzipien, S. 39 ff. 7 Alexy, Grundrechte, S. 87 f.: „Daraus, dass ein Prinzip in einem Fall einschlägig ist, folgt nicht, dass das, was das Prinzip in diesem Fall verlangt, im Ergebnis gilt. Prinzipien stellen Gründe dar, die durch gegenläufige Gründe ausgeräumt werden können. Wie das Verhältnis zwischen Grund und Gegengrund festzusetzen ist, wird durch das Prinzip nicht entschieden. Prinzipien entbehren deshalb eines Festsetzungsgehalts im Blick auf gegenläufige Prinzipien und tatsächliche Möglichkeiten.“ 8 Alexy, Grundrechte, S. 76 mit Verweis auf das Linksüberholgebot, das als Regel nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden könne; vgl. aber auch die Abgrenzung Alexys zu Dworkin, der als Unterscheidungskriterium zwischen Regeln und Prinzipien den sog. „Allesoder-Nichts“-Charakter von Regeln annimmt, Alexy, Rechtsprinzip, S. 188 ff. 9 Alexy, Grundrechte, S. 76. 10 Alexy, Grundrechte, S. 77 f. Beispiel: Der Konflikt zwischen dem Verbot, vor dem Klingelzeichen den Raum zu verlassen und dem Gebot, bei Feueralarm den Raum zu verlassen, wird durch eine Ausnahmeklausel für die erste Regel gelöst. 5

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

tenden Prinzips in Frage gestellt sei.11 Ausdruck von Prinzipienkollisionen seien die zahlreichen Güterabwägungen in der Rechtsprechung des BVerfG bei Grundrechtskollisionen.12 In ihnen komme der Anspruch zum Ausdruck, jedes Grundrecht möglichst weitgehend zu erfüllen, wobei das Grundrecht mit dem höheren Gewicht den Vorrang erhalte.13 3. Prima-facie-Charakter von Regeln Das unterschiedliche Kollisionsverhalten von Regeln und Prinzipien lässt sich aber nicht auf die Formel bringen, Regeln hätten gegenüber dem prima-facie-Charakter von Prinzipien einen eindeutig definitiven Charakter. Auch Regeln haben nach Alexy in gewisser Weise bloß prima-facie-Charakter. Denn durch die Wirkung der hinter den Regeln stehenden Prinzipien kann die Einschränkung einer Regel durch Einfügung einer Ausnahmeklausel erforderlich sein. Dann verliert die Regel ihren definitiven Charakter. Allerdings kommt nach Alexy eine Einschränkung nicht schon in Betracht, wenn überhaupt ein gegenläufiges materielles Prinzip einen Grund für die Regeleinschränkung bietet. Beachtet werden muss vielmehr auch die Autorität des Gesetzgebers in Form eines formellen Prinzips: „Überspielt werden müssen darüber hinaus Prinzipien wie die, dass Regeln, die durch eine dazu legitimierte Autorität gesetzt sind, befolgt werden müssen und dass von einer tradierten Praxis nicht ohne Grund abzuweichen ist.“14 Der prima-facie-Charakter von Regeln ist damit stärker als der von Prinzipien.15 4. Regel-Prinzipien-Modell der Grundrechtsbestimmungen Für die Übertragung der Regel-Prinzipien-Unterscheidung auf die Grundrechte bieten sich nach Alexy mehrere Möglichkeiten an. Man könnte zunächst – in einem „reinen Prinzipienmodell“ – den aus den Grundrechtsbestimmungen ableitbaren Prinzipiennormen Vorrang vor den grundrechtlichen Regeln einräumen mit der Folge, dass die grundrechtlichen Regeln vollständig von den grundrechtlichen Prinzipien abhängen und relativiert werden können.16 Das „reine Prinzipienmodell“ wird von Alexy aber verworfen, da es den Wortlaut der Verfassung nicht ernst nehme, insbesondere das differenzierte Schrankenmodell der Grundrechte dadurch unterlaufe, dass grundrechtliche Prinzipien unabhängig von den jeweiligen Schrankenregelungen abgewogen werden könnten.17 Um die Verfassungsbindung zu erhöhen, 11 12 13 14 15 16 17

Alexy, Grundrechte, S. 78 f. Alexy, Grundrechte, S. 78 f. Alexy, Grundrechte, S. 79 ff. Alexy, Grundrechte, S. 89, 120. Alexy, Grundrechte, S. 90. Alexy, Grundrechte, S. 104 ff. Alexy, Grundrechte, S. 105 f.

A. Das Werteordnungsdenken als Prinzipiendenken

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könnte man deshalb von einem „reinen Regelmodell“ der Grundrechte ausgehen, in dem die Grundrechte als stets abwägungsfreie Normen anzusehen sind.18 Aber auch dieses Modell ziehe durchgreifende Bedenken nach sich, wenn es um die Umsetzung der Grundrechtsschranken geht. Für die vorbehaltlos gewährten Grundrechte könnte man rein vom Verfassungswortlaut her annehmen, diese könnten in keinem Fall beschränkt werden. Oder man müsste, da ein grenzenloser Freiheitsschutz nicht möglich ist, ungeschriebene Schrankenklauseln, wie die Rechte Dritter, bereits in den Grundrechtstatbestand hineinlesen. Solche immanenten Grundrechtsschranken lassen sich nach Alexy aber kaum abwägungsfrei konstruieren, so dass das reine Regelmodell insoweit an seine Grenzen stoßen würde.19 Besonders deutlich werde die Schwäche des reinen Regelmodells aber bei Grundrechten mit einfachem Gesetzesvorbehalt. Allein vom Wortlaut ausgehend könnte man meinen, die Grundrechte könnten bis zur Schranke des Wesensgehalts beliebig eingeschränkt werden. Dies hätte aber zur Folge, dass sie jenseits der Wesensgehaltsgarantie leer laufen würden.20 Dass dies nicht richtig sein könne, ergebe sich bereits aus Art. 1 Abs. 3 GG: „Soweit ein Gesetzgeber ein Grundrecht beliebig einschränken kann, ist er an dieses nicht gebunden.“21 Alexy kommt daher zu einem kombinierten „Regel-Prinzipien-Modell“, in dem sowohl der Prinzipien- als auch der Regelcharakter der Grundrechtsbestimmungen zu beachten ist. Die Grundrechtsbestimmungen könnten nämlich nicht nur als Entscheidungen für Prinzipien angesehen werden, sondern auch als Ausdruck eines Versuchs, Festsetzungen angesichts der Anforderungen gegenläufiger Prinzipien zu treffen (z. B. Schrankenklauseln).22 Die insoweit getroffenen Festsetzungen und damit der Wortlaut der Verfassung müssten als Ausdruck der Verfassungsbindung ernst genommen werden. Da mit den verfassungsrechtlichen Festsetzungen mehr entschieden worden ist als mit verfassungsrechtlichen Prinzipien, komme der Regelebene der Verfassung grundsätzlich ein Vorrang gegenüber der Prinzipienebene der Verfassung zu.23 Alexy geht gleichwohl nicht von einem strikten Vorrang von Verfassungsregeln aus, sondern lässt Relativierungen zu, wenn „die Gründe für andere Festsetzungen als die auf der Regelebene getroffenen […] so stark [erg.: sind], dass sie auch das Prinzip der Bindung an den Wortlaut der Verfassung zurückdrängen.“24

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Alexy, Grundrechte, S. 106 ff. Alexy, Grundrechte, S. 108 ff. 20 Alexy, Grundrechte, S. 112 f. 21 Alexy, Grundrechte S. 113. 22 Alexy, Grundrechte, S. 117 ff.; Alexy spricht insofern vom Doppelcharakter der Grundrechtsnormen, ebda, S. 122 ff. 23 Alexy, Grundrechte, S. 121 f. 24 Alexy, Grundrechte, S. 121 f. 19

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

Anschaulich wird das Regel-Prinzipien-Modell am Beispiel des Apothekenurteils des BVerfG.25 Nach dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 GG – ausgehend von einem reinen Regelverständnis – wäre das Grundrecht der Berufswahl im Gegensatz zur Berufsausübung nicht einschränkbar. Das BVerfG geht aber angesichts der Unmöglichkeit, die Begriffe Berufswahl und Berufsausübung sinnvoll voneinander zu unterscheiden, von einem einheitlichen Grundrecht der Berufsfreiheit aus und berücksichtigt die unterschiedlichen Anforderungen an die Einschränkbarkeit der Berufswahl und Berufsausübung erst im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (Drei-Stufen-Theorie).26 Im Hinblick auf den Regelungsvorbehalt in Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG verlässt es die reine Regelebene und man kann das Abweichen vom Wortlaut der Verfassung so deuten, dass – unter Berücksichtigung der begrifflichen Problematik – gegenläufige Prinzipien der Berufsfreiheit auch Einschränkungen der Berufswahl erforderlich machen. Der Vorrang der Regelebene ist damit kein absoluter,27 vielmehr ergänzen sich Regel- und Prinzipienebene. Die Prinzipientheorie zeichnet sich damit nicht nur durch den Optimierungscharakter von Prinzipien aus, sondern auch durch ein differenziertes Zusammenspiel zwischen Regeln und Prinzipien.

II. Verfassungstheoretischer Erklärungswert Die Prinzipientheorie zeigt schon durch den Begriff der Optimierung eine gewisse Nähe zur Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG, in der der Gedanke der Grundrechtseffektivität explizit und implizit zum Ausdruck gekommen ist.28 Mitunter verwendet das BVerfG ausdrücklich den Begriff der Optimierung.29 Nach Alexy ist die Werttheorie des BVerfG strukturgleich mit der Prinzipientheorie.30 Der Unterschied beider Theorien bestehe nur in ihrem Charakter. Während die Werttheorie – axiologisch – darauf Bezug nehme, was gut ist, beziehe sich die Prinzipientheorie – deontologisch – darauf, was gesollt ist: „Was im Wertemodell prima facie das Beste ist, ist im Prinzipienmodell prima facie gesollt, und was im Wertemodell definitiv das Beste ist, ist im Prinzipienmodell definitiv gesollt.“31 Die strukturelle Gleichsetzung von Wert- und Prinzipientheorie könnte – soweit sie trägt – dazu beitragen, die juristische Wirkungsweise der Werteordnung deutlich zu machen und ihre Probleme auf einer abstrakten Ebene zu klären. 25

BVerfGE 7, 377 (Apothekenurteil). BVerfGE 7, 377, 401 ff. (Apothekenurteil). 27 Alexy, Grundrechte, S. 122. 28 Siehe dazu oben zusammenfassend, S. 46. 29 BVerfGE 81, 278, 292 (Bundesflagge); E 83, 130, 143 (Josephine Mutzenbacher); E 83, 238, 321 (6. Rundfunkentscheidung). Siehe auch Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Rechts, S. 25, Fn. 95. 30 Alexy, Grundrechte, S. 134. 31 Alexy, Grundrechte, S. 133. 26

A. Das Werteordnungsdenken als Prinzipiendenken

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1. Die Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG im Lichte der Prinzipientheorie a) Optimierung und Abwägung Im Zentrum der Werteordnung steht die Abwägung. Wie oben bereits ausgeführt, geht das BVerfG von einer gewissen, die Abwägung im konkreten Fall allerdings nicht ausschließenden, abstrakten Wertrangordnung aus.32 Alexy sieht darüber hinaus die Möglichkeit, anhand der Präjudizien des BVerfG eine „weiche“ Wertrangordnung zu konstruieren. Deren Aussage bestünde nicht in feststehenden Vorrangrelationen, sondern lediglich in prima facie-Präferenzen, die im Einzelfall bestätigt oder auch widerlegt werden könnten.33 Entscheidend für die Auflösung von Prinzipienkollisionen bleibt aber die Abwägung der Prinzipien im konkreten Einzelfall. Dies gilt nach Alexy auch für die Menschenwürde. Man könnte erwägen, ob der vielfach als Höchstwert bezeichneten Menschenwürde ein absoluter Charakter zukommt, mit der Folge, dass die Menschenwürde anderen Prinzipien immer vorgeht, insoweit also keine Abwägung stattfindet.34 Dafür spricht schon die keine Ausnahmen zulassende Formulierung der Unverletzlichkeit der Menschenwürde. Alexy lehnt jedoch einen absoluten Charakter der Menschenwürde mit Verweis darauf ab, dass Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG nicht nur eine Regel, sondern auch ein Prinzip der Menschenwürde enthalte. Im Rahmen der Festlegung des Tatbestandes der Regel, der zu einer Verletzung der Menschenwürde führe, sei Raum für Abwägungen: „Der Regelcharakter der Menschenwürde-Norm zeigt sich daran, dass in Fällen, in denen diese Norm einschlägig ist, nicht gefragt wird, ob sie anderen Normen vorgeht oder nicht, sondern nur, ob sie verletzt ist oder nicht. Angesichts der Offenheit der Menschenwürde-Norm besteht bei der Beantwortung dieser Frage freilich ein weiter Spielraum.“35 Bei der Ausfüllung dieses Spielraums bestehe die Möglichkeit der Abwägung, so dass sich die Konkretisierung der Verletzungsregel als Ergebnis eines Abwägungsvorganges darstellen könne: „Wenn auf der Prinzipienebene die Menschwürde vorgeht, dann ist auf der Regelebene die Menschenwürde verletzt.“36 Mit dieser Konstruktion gelingt es, die absolut formulierte Menschenwürde-Norm als abwägungsfähig darzustellen und den Widerspruch des BVerfG zwischen Unabwägbarkeit einerseits und Abwägungen bei der Konkretisierung der Menschenwürde andererseits aufzulösen.37 Gleiches gilt für die Kernbereichsrechtsprechung 32

Siehe dazu oben S. 57 ff. Die Wirkung der prima-facie-Vorränge komme damit einer Argumentationslastverteilung gleich, siehe Alexy, Grundrechte, S. 142 f. 34 Siehe oben S. 58 und S. 62. 35 Alexy, Grundrechte, S. 95 f. 36 Alexy, Grundrechte, S. 96. 37 Zur Konkretisierung der Menschenwürde siehe oben S. 58; kritisch zur Unabwägbarkeitsthese des BVerfG auch Hain, Menschenwürde, S. 199 ff. 33

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

des BVerfG. Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass die vom BVerfG angeführten grundrechtlichen Kernbereiche auf den ersten Blick zwar absolut wirken, die genauere Begründung der Kernbereiche aber wiederum Abwägungsgesichtspunkte erkennen lässt.38 Es kommt also darauf an, wie man die Ermittlung der Kernbereiche wertet, als abstrakte Definition oder als Ergebnis einer Abwägung. Nimmt man Letzteres an, so lässt sich auch die Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG als Ausdruck einer Prinzipienabwägung verstehen.39 Dies hätte dann aber zur Folge, dass der Schutz von Grundrechtskernbereichen nicht absolut wäre, sondern nur eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für den Schutz bestünde.40 Die Abwägung der Prinzipien wird nach Alexy bestimmt durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: „Der Prinzipiencharakter impliziert den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dieser impliziert jenen.“41 Wenn die Optimierungsthese verlangt, die Prinzipien je nach den tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten möglichst weitgehend zu realisieren,42 so soll diese Forderung der Prüfung der Geeignetheit und Erforderlichkeit einerseits und der Angemessenheit i. e.S. andererseits entsprechen. Die Realisierung eines Prinzips nach den tatsächlichen Möglichkeiten verlange die Prüfung, ob das Mittel geeignet ist und den geringstmöglichen Eingriff darstellt, während sich die Optimierung nach dem rechtlich Möglichen in der Abwägung mit anderen Verfassungswerten als Prüfung der Verhältnismäßigkeit i. e.S. erweise.43 Die Optimierungsthese verweist damit zunächst nur auf ein ideales Sollen. Erst nach Berücksichtigung der tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ergibt sich das reale Sollen. Mit dem idealen Sollen wird aber das Ziel einer möglichst weitgehenden Verwirklichung zum Ausdruck gebracht mit der Folge, dass nur die geringstmöglichen Grundrechtseingriffe zulässig sind, die sich aus einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im konkreten Einzelfall ergeben. Grundrechtskollisionen lassen sich damit als Prinzipienkollisionen verstehen, die durch Abwägung bzw. Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aufgelöst werden.

38 Siehe oben S. 64 f. Eine versteckte Abwägung des BVerfG in seiner Entscheidung über die Sicherungsverwahrung (BVerfGE 109, 133 ff.) konstatieren Elsner/Schobert, S. 278 ff. 39 Siehe dazu Alexy, Grundrechte, S. 267 ff., 327 ff. 40 Alexy, Grundrechte, S. 95, 272: „Die Absolutheit seines Schutzes [erg.: des Kernbereichs privater Lebensgestaltung] bleibt freilich eine Sache der Prinzipienrelationen. Eine Konstellation, in der gegenläufige Prinzipien doch vorgehen, kann nicht ausgeschlossen werden. Dennoch ist die Sicherheit des Schutzes so hoch, dass unter Bezug auf normale Umstände von einem absoluten Schutz gesprochen werden kann. Die relative Fundierung dieses Schutzes darf allerdings nicht aus dem Auge verloren werden.“ 41 Alexy, Grundrechte, S. 100. 42 Dazu oben S. 79. 43 Alexy, Grundrechte, S. 100 ff.

A. Das Werteordnungsdenken als Prinzipiendenken

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b) Optimierung und Grundrechte als objektiv-rechtliche Normen Fraglich ist, ob die Prinzipientheorie darüber hinaus auch eine Begründung für weitere normative Ableitungen aus den Grundrechten bietet, wie sie nach der Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG aus den Grundrechten als objektivrechtliche Normen folgen. Man könnte meinen, die Prinzipientheorie stelle nur eine Strukturtheorie dar und verhalte sich gegenüber der Frage der Ausweitung der Grundrechtsfunktionen neutral. Man könnte sie folglich auch mit einer Beschränkung der Grundrechte auf ihre Funktion als Abwehrrechte in Einklang bringen und davon ausgehen, die Prinzipientheorie fordere lediglich die Optimierung der grundrechtlichen Abwehrdimension. In diese Richtungen gehen Alexys Ausführungen zur Unterscheidung von materiellen Grundrechtstheorien einerseits und der Prinzipientheorie als Strukturtheorie andererseits. Danach würde die Prinzipientheorie selbst noch keine normativen Gehalte vorgeben, sondern wäre kompatibel mit verschiedenen materiellen Zwecksetzungen. Man könnte eine materielle, also eine liberale, eine demokratische oder eine sozialstaatliche Grundrechtstheorie nur als Prinzipientheorie konstruieren.44 In diesem Sinne könnte die Prinzipientheorie die Ausweitung der Grundrechtsgehalte durch die Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG zwar beschreiben, sie würde selbst aber kein Argument für ihre Berechtigung liefern.45 Diese Qualifizierung der Prinzipientheorie als Strukturtheorie ist aus zwei Gründen zweifelhaft. Zum einen ist nicht einsichtig, warum eine materielle Grundrechtstheorie nur als Prinzipientheorie strukturiert werden könnte. Würde man eine Grundrechtstheorie konzipieren, die nur nach einem einzigen Wert auszurichten bzw. diesem unterzuordnen ist, so wären Abwägungen mit gegenläufigen Werten entbehrlich und eine solche Grundrechtstheorie wäre gerade nicht Ausdruck einer auf Abwägung gerichteten Prinzipientheorie. Zum anderen erschließt sich nicht, warum der Gedanke der Optimierung keine materielle Aussage einbegreifen sollte. Geht man von Alexys Beschreibung des Optimierungsgebots aus als einer Norm, die gebietet, etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße zu realisieren,46 so wird damit auf ein ideales Sollen verwiesen, das erst im zweiten Schritt, also aufgrund der rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten, beschränkt wird. Das ideale Sollen, also die überschießende Tendenz 44 Alexy, Grundrechte, S. 508 ff., auf S. 512 heißt es: „Die oben angestellten Überlegungen haben gezeigt, dass eine Prinzipientheorie und damit auch eine ihr korrespondierende Werttheorie der Grundrechte unerlässlich ist. Diese allgemeine strukturtheoretische These impliziert, dass man, ganz gleich welche inhaltlichen Theorien man zu den Grundrechten vertritt, eine Werttheorie voraussetzen muss. So ist etwa die liberale Grundrechtstheorie kein Konkurrent der Werttheorie, sondern Ausdruck einer Werttheorie mit bestimmtem Inhalt. Sie kann daher nicht mit Wert- oder Prinzipien- oder Zwecktheorien als solchen konkurrieren, sondern nur mit derartigen Theorien anderen Inhalts.“ 45 Nach Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 227, kann die Prinzipientheorie daher auch keinen „substanziellen Beitrag zu einer grundrechtlichen Funktionenvielfalt“ leisten. 46 Alexy, Grundrechte, S. 75.

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

des Optimierungsgebotes, enthält selbst noch keine Beschränkungen. Eine Prinzipientheorie als bloße Strukturtheorie müsste das Optimierungsgebot aber von vornherein auf einen bestimmten rechtlichen Gehalt beschränken. Dann müsste man fragen, in welcher Hinsicht der Optimierungsgedanke überhaupt von Bedeutung sein sollte. Eine aussagekräftige Prinzipientheorie hingegen, die auf dem Gedanken der Optimierung beruht, schließt eine materielle Aussage im Sinne einer möglichst weitgehenden Verwirklichung ein. Sie lässt sich nicht von vornherein restriktiv verstehen, denn dann wären die Einschränkungen „nach den rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten“ überflüssig oder ihre Anwendbarkeit so stark eingeschränkt, dass das Konzept einer Optimierung kaum nachvollziehbar wäre. Die obigen Ausführungen haben gezeigt, dass das BVerfG das Ziel einer „verstärkten Geltungskraft“ der Grundrechte sowie ihre effektive Verwirklichung in den Vordergrund gestellt hat.47 Daraus folgerte es über die Abwehrdimension hinausgehende, für die Grundrechtsverwirklichung notwendige Grundrechtsfunktionen, wie den Grundrechtsschutz durch Leistung, Teilhabe, Organisation, Verfahren und die Annahme staatlicher Schutzpflichten. Die Vorstellung von grundrechtlichen Optimierungsgeboten fängt genau diese Wirkkraftverstärkung ein. Dasselbe gilt für die Ausstrahlungsthese des BVerfG. Geht man von einem Gebot zur Optimierung der Verfassungswerte aus, so erfordert dieses eine möglichst weitgehende Verwirklichung der Verfassungswerte auch bei der Anwendung des einfachen Rechts. Die Anwendung des einfachen Rechts ist für die Grundrechtsverwirklichung nicht weniger bedeutend als die Gesetzgebung. Deswegen ist es plausibel, die Wirkung der Verfassungswerte durch die Ausstrahlungswirkung in das einfache Recht zu verstärken und damit eine besondere Verfassungsbindung der Judikative zu erreichen. Dieser Gedanke kommt in der Auslegungsregel des BVerfG zum Ausdruck, wonach in Zweifelsfällen diejenige Auslegung zu wählen ist, welche die juristische Wirkungskraft der Grundrechtsnorm am stärksten entfaltet.48 Der Gedanke der Optimierung entfaltet sich am besten in einer extensiven Grundrechtstheorie. Auch Alexy scheint die vermeintliche strukturtheoretische Neutralität der Prinzipientheorie nicht konsequent durchzuhalten. Jedenfalls stellt er die Ausweitung der Grundrechtsgehalte nicht in Frage,49 sondern begründet mit Hilfe 47 Siehe oben S. 46. Siehe dazu auch Ossenbühl, Grundrechtsinterpretation, § 15 Rn. 20 ff., der in dem Argument der Effektivität der Grundrechte aber keine Interpretationsrichtlinie sieht, sondern – dem effet utile des EuGH vergleichbar – nur eine Scheinbegründung für die Durchsetzbarkeit erwünschter Entwicklungen. 48 BVerfGE 6, 55, 72 (Haushaltsbesteuerung von Ehegatten); E 32, 54, 71 (Betriebsbetretungsrecht); 39, 1, 38 (Schwangerschaftsabbruch I); E 51, 97, 110 (Zwangsvollstreckung). 49 Zum Prinzipiencharakter von Schutzpflichten Alexy, Grundrechte, S. 422, zum Prinzipiencharakter von Verfahrensrechten, ebda, S. 446, zum Prinzipiencharakter von Leistungsrechten, ebda, S. 460 f.: „Das Bundesverfassungsgericht hat den Grundrechtskatalog als Ausdruck eines Wertsystems gedeutet, ,das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet‘. Dies ist im Lichte der Prinzipientheorie so zu deuten, dass der Grundrechtskatalog u. a. Prinzipien ausdrückt, die fordern, dass der einzelne sich in der sozialen Gemeinschaft seiner Würde gemäß

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der Prinzipientheorie vielmehr, dass die weiteren Grundrechtsgehalte auch subjektive Rechte gewähren können.50 c) Ergebnis Die Prinzipientheorie stellt damit eine plausible Rekonstruktion der oben ausgeführten Charakteristika der Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG dar. Der Erklärungswert der Prinzipientheorie geht dabei über die von Alexy angenommene Strukturgleichheit von Wert- und Prinzipientheorie hinaus. Der Optimierungsgedanke lässt sich nicht nur heranziehen, um die Wirkungsweise der Grundrechte als Prinzipien zu beschreiben. Darüber hinaus vermag die Prinzipientheorie die erweiterten materiellen Wirkungen der Grundrechte als Ausdruck ihrer überschießenden, auf ein ideales Sollen gerichteten Tendenz zu begründen. 2. Weite grundrechtliche Schutzbereiche Für die Begründung enger oder weiter grundrechtlicher Schutzbereiche beruft sich das BVerfG nicht auf den Werteordnungsbegriff. Die Annahme weiter grundrechtlicher Schutzbereiche wird aber mitunter in den Zusammenhang der Verwirklichung der Grundrechte gestellt: „Nur die weite Auslegung [erg.: des Begriffs der Wohnung, Art. 13 GG] wird auch dem Grundsatz gerecht, wonach in Zweifelsfällen diejenige Auslegung zu wählen ist, welche die juristische Wirkungskraft der Grundrechtsnorm am stärksten entfaltet (…).“51 Es liegt daher nahe, die Frage frei entfalten kann, was ein gewisses Maß an faktischer Freiheit voraussetzt. Es drängt sich der Schluss auf, dass die Grundrechte, wenn die sich frei entfaltende menschliche Persönlichkeit ihr Zweck ist, auch auf faktische Freiheit gerichtet sind, also auch Voraussetzungen der Wahrnehmung rechtlicher Freiheiten sichern sollen, und damit ,Normierungen nicht nur rechtlichen Dürfens, sondern auch tatsächlichen Handeln-Könnens‘ sind.“ (mit Verweis auf BVerfGE 7, 198, 205 – Lüth). 50 Zu den Schutzpflichten führt Alexy, Grundrechte, S. 414, aus: „Man kann Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG das Prinzip des Schutzes des Lebens zuordnen. Dies Prinzip verlangt wie jedes Prinzip, dass es relativ auf die tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten in möglichst hohem Maße realisiert wird. Es gilt ganz allgemein, dass die Zuerkennung subjektiver Rechte ein höheres Maß an Realisierung bedeutet als die Statuierung bloß objektiver Gebote.“ Zu den Verfahrens- und Organisationsrechten siehe ebda, S. 433 und 452. Im Hinblick auf die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte konstruiert Alexy die vom BVerfG angenommenen objektiven Gehalte der Grundrechte als objektive Prinzipien höchster Abstraktionsstufe, die insbesondere von der Rechtsprechung in „gebotenem Maße“ zu berücksichtigen seien. Wenn dieses Recht verletzt sei, dann sei auch das Grundrecht verletzt, zu dem das jeweils einschlägige grundrechtliche Prinzip gehöre (Subjektivierung), vgl. ders., Grundrechte, S. 477 ff., 488. Allgemein zur sog. Subjektivierungsthese, wonach bei Bestehen eines objektiven Rechts die Vermutung zugunsten eines subjektiven Rechts bestehe, ders., Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, S. 277, 280. 51 BVerfGE 32, 54, 71 (Betriebsbetretungsrecht). Siehe auch BVerfGE 24, 236, 246 (Rumpelkammer): „Da die ,Religionsausübung‘ zentrale Bedeutung für jeden Glauben und jedes Bekenntnis hat, muss dieser Begriff gegenüber seinem historischen Inhalt extensiv ausgelegt werden.“; BVerfGE 30, 173, 189 (Mephisto): „Die Kunstfreiheitsgarantie betrifft in

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nach weiten oder engen Schutzbereichen unter Berücksichtigung der Prinzipientheorie zu beleuchten. a) Weites und enges Schutzbereichsverständnis des BVerfG Ein weites Schutzbereichsverständnis des BVerfG zeigt sich insbesondere in dem Verständnis des Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeine Handlungsfreiheit.52 Aber auch viele andere Beispiele belegen ein weites Schutzbereichsverständnis des BVerfG, wobei das Ziel erkennbar ist, die Freiheitsbetätigung nicht von vornherein durch inhaltliche Wertungen einzuschränken. So sollen das Taubenfüttern ebenso wie das Reiten im Walde unabhängig von einem Werturteil über die Bedeutung der Tätigkeiten für die freie Entfaltung der Persönlichkeit unter den Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG fallen.53 Zum Schutz der Freiheit heißt es: „Der umfassende Schutz menschlicher Handlungsfreiheit erfüllt neben den benannten Freiheitsrechten auch eine wertvolle Funktion in der Freiheitssicherung, denn trotz der weiten Beschränkungsmöglichkeiten gewährleistet das Grundrecht nach den dargelegten Maßstäben einen Schutz von substanziellem Gewicht. Jeder Versuch einer wertenden Einschränkung des Schutzbereichs würde danach zu einem Verlust des Freiheitsraums für den Bürger führen, der nicht schon deshalb geboten sein kann, weil andere Grundrechte einen engeren und qualitativ abgehobenen Schutzbereich haben, und für den auch sonst gleicher Weise den ,Werkbereich‘ und den ,Wirkbereich‘ des künstlerischen Schaffens. Beide Bereiche bilden eine unlösbare Einheit. Nicht nur die künstlerische Betätigung (Werkbereich), sondern darüber hinaus auch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks sind sachnotwendig für die Begegnung mit dem Werk als eines ebenfalls kunstspezifischen Vorganges; dieser ,Wirkbereich‘, in dem der Öffentlichkeit Zugang zu dem Kunstwerk verschafft wird, ist der Boden, auf dem die Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG vor allem erwachsen ist.“; BVerfGE 66, 116, 137 (Wallraff): „Demgegenüber fällt die Verbreitung rechtswidrig erlangter Informationen in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG. […] Zum anderen könnte die Kontrollaufgabe der Presse leiden, zu deren Funktion es gehört, auf Missstände von öffentlicher Bedeutung hinzuweisen (…). Das gleiche gilt für die Freiheit des Informationsflusses, die gerade durch die Pressefreiheit erhalten und gesichert werden soll. Unter diesem Gesichtspunkt, aber auch unter dem des Schutzes der Presse und ihrer Tätigkeit würde ein gänzlicher Ausschluss der Verbreitung rechtswidrig beschaffter Informationen aus dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG dazu führen, dass der Grundrechtsschutz von vornherein auch in Fällen entfiele, in denen es seiner bedarf.“ 52 BVerfGE 6, 32, 36 (Elfes): „Das Grundgesetz kann mit der ,freien Entfaltung der Persönlichkeit‘ nicht nur die Entfaltung innerhalb jenes Kernbereichs der Persönlichkeit gemeint haben, der das Wesen des Menschen als geistig-sittliche Person ausmacht; denn es wäre nicht verständlich, wie die Entfaltung innerhalb dieses Kernbereichs gegen das Sittengesetz, die Rechte anderer oder sogar gegen die verfassungsmäßige Ordnung einer freiheitlichen Demokratie sollte verstoßen können. Gerade diese, dem Individuum als Mitglied der Gemeinschaft auferlegten Beschränkungen zeigen vielmehr, dass das Grundgesetz in Art. 2 Abs. 1 GG die Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne meint.“ 53 BVerfGE54, 143, 146 (Taubenfüttern); BVerfGE 80, 137, 152 f. (Reiten im Walde): „Geschützt ist damit nicht nur eine begrenzter Bereich der Persönlichkeitsentfaltung, sondern jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt (…).“

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keine zwingenden Gründe ersichtlich sind. Eine Einschränkung etwa auf die Gewährleistung einer engeren, persönlichen, wenn auch nicht auf rein geistige und sittliche Entfaltung beschränkten, Lebenssphäre oder nach ähnlichen Kriterien würde überdies schwierige, in der Praxis kaum befriedigende Abgrenzungsprobleme mit sich bringen.“54 Weitere Beispiele für ein weites Schutzbereichsverständnis liefern die Berufsfreiheit, die nicht auf ein bestimmtes Berufsbild beschränkt werden dürfe,55 die Kunstfreiheit, der ein weiter Kunstbegriff zugrunde zu legen sei,56 die Presse- und Rundfunkfreiheit, deren Schutzbereich nicht von der Qualität der Tätigkeiten abhänge,57 sowie die Versammlungsfreiheit, die nicht die Verfolgung eines bestimmten Zwecks verlange.58 54

BVerfGE 80, 137, 154 (Reiten im Walde). BVerfGE 7, 377, 397 (Apothekenurteil): „Aus dieser Sicht des Grundrechts ist der Begriff ,Beruf‘ weit auszulegen. Er umfasst nicht nur alle Berufe, die sich in bestimmten, traditionell oder sogar rechtlich fixierten ,Berufsbildern‘ darstellen, sondern auch die vom Einzelnen frei gewählten untypischen (erlaubten) Betätigungen, aus denen sich dann wieder neue, feste Berufsbilder ergeben mögen (…).“ 56 BVerfGE 30, 173, 191 (Mephisto): „Die Kunst ist in ihrer Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorbehaltlos gewährleistet. Versuche, die Kunstfreiheitsgarantie durch wertende Einengung des Kunstbegriffs, […] einzuschränken, müssen angesichts der klaren Vorschrift des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG erfolglos bleiben.“ Zur Definition des Kunstbegriffs sowie zum umfassenden Schutz des Werk- und Wirkbereichs siehe ebda, S. 188 ff. 57 Für die Pressefreiheit siehe BVerfGE 34, 269, 283 (Soraya): „Der Begriff der Presse ist weit und formal auszulegen; er kann nicht von einer – an welchen Maßstäben auch immer ausgerichteten – Bewertung des einzelnen Druckerzeugnisses abhängig gemacht werden. Die Pressefreiheit ist nicht auf die ,seriöse‘ Presse beschränkt (…).“ Bei der Abwägung kann der Inhalt gleichwohl von Bedeutung sein, siehe ebda: „Daraus folgt jedoch nicht, dass der Schutz des Grundrechts jedem Pressorgan in jedem rechtlichen Zusammenhang und für jeden Inhalt seiner Äußerungen in gleicher Weise zuteil werden müsste. Bei der Abwägung zwischen der Pressefreiheit und anderen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern kann berücksichtigt werden, ob die Presse im konkreten Fall eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse ernsthaft und sachbezogen erörtert, damit den Informationsanspruch des Publikums erfüllt und zur Bildung der öffentlichen Meinung beiträgt oder ob sie lediglich das Bedürfnis einer mehr oder minder breiten Leserschicht nach oberflächlicher Unterhaltung befriedigt.“ Zur Rundfunkfreiheit siehe BVerfGE 35, 202, 222 f. (Lebach): „Trotz der engeren Fassung des Wortlauts (,Berichterstattung‘) unterscheidet sich die Rundfunkfreiheit wesensmäßig nicht von der Pressefreiheit; sie gilt in gleicher Weise für rein berichtende Sendungen wie für Sendungen anderer Art. Information und Meinung können ebenso wohl durch ein Fernsehspiel oder eine Musiksendung vermittelt werden wie durch Nachrichten oder politische Kommentare; jedes Rundfunkprogramm hat schon durch die getroffene Auswahl und die Gestaltung der Sendung eine bestimmte meinungsbildende Wirkung (…). Ebenso wenig lässt die Rundfunkfreiheit von vornherein eine Unterscheidung der Sendungen nach dem jeweils verfolgten Interesse oder der Qualität der Darbietung zu; eine Beschränkung auf ,seriöse‘, einem anerkennenswerten privaten oder öffentlichen Interesse dienende Produktion liefe am Ende auf eine Bewertung und Lenkung durch staatliche Stellen hinaus, die dem Wesen dieses Grundrechts gerade widersprechen würde (…). Demgemäß kann eine Rundfunk- oder Fernsehanstalt sich grundsätzlich für jede Sendung zunächst auf den Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG berufen, gleichgültig, ob es sich um politische Sendungen, kritische Auseinandersetzungen mit anderen die Allge55

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Die Rechtsprechung des BVerfG geht aber auch in Richtung enge grundrechtliche Schutzbereiche, insbesondere wenn es um den Ausschluss rechtswidriger Handlungen geht. So beschränkt das BVerfG die Berufsfreiheit auf erlaubte Tätigkeiten59 und sieht die rechtswidrige Beschaffung von Informationen als nicht von der Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit umfasst an.60 In eine ähnliche Richtung geht die Beschränkung der Meinungsfreiheit im Hinblick auf die Äußerung unwahrer Tatsachen. Dazu heißt es in der Böll-Entscheidung: „Unrichtige Zitate sind durch Art. 5 Abs. 1 GG nicht geschützt. Es ist nicht ersichtlich, dass die verfassungsrechtlich gewährleistete Meinungsfreiheit einen solchen Schutz fordert. […] Unrichtige Information ist unter dem Blickwinkel der Meinungsfreiheit kein schützenswertes Gut, weil sie der verfassungsrechtlich vorausgesetzten Aufgabe zutreffender Meinungsbildung nicht dienen kann (…).“61 Um den Schutzbereich der Meinungsfreiheit dennoch nicht zu stark einzuschränken, relativiert das BVerfG seine Einschränkung im Hinblick auf die Wahrheitspflicht: „[…]; es kann nur darum gehen, dass die Anforderungen an die Wahrheitspflicht nicht so bemessen werden, dass dadurch die Funktion der Meinungsfreiheit in Gefahr gerät oder leidet: Eine Übersteigerung der Wahrheitspflicht und die daran anknüpfenden, unter Umständen schwerwiegenden Sanktionen könnten zu einer Einschränkung oder Lähmung namentlich der Medien führen; diese könnten ihre Aufgaben, insbesondere diejenige öffentlicher Kontrolle, nicht mehr erfüllen, wenn ihnen ein unverhältnismäßiges Risiko auferlegt würde (…).“62 Gerade in jüngerer Zeit hat das BVerfG in einigen prominenten Entscheidungen weitere Schutzbereichsbegrenzungen vorgenommen.63 meinheit interessierenden Fragen oder um Hörspiele, kabarettistische Programme oder andere Unterhaltungssendungen handelt.“ 58 BVerfGE 69, 315, 342 f. (Brokdorf): „Diese Freiheit ist in Art. 8 GG gewährleistet, der Versammlungen und Aufzüge – im Unterschied zu bloßen Ansammlungen oder Volksbelustigungen – als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung schützt. Dieser Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen.“ Siehe aber auch BVerfGE 84, 203, 209 f., wo sich diejenigen, die eine Versammlung lediglich stören wollen, auch als Gruppe nicht auf die Versammlungsfreiheit berufen können. 59 BVerfGE 7, 377, 397 (Apothekenurteil). 60 BVerfGE 66, 116, 137 (Wallraff): „Weder das Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung noch die Pressefreiheit schützen die rechtswidrige Beschaffung von Informationen. […] Ebenso wenig schützt das Grundrecht der Informationsfreiheit (…) eine solche Beschaffung.“ Kahl, Gewährleistungsgehalt, S. 175, Fn. 46 spricht bei diesen normgeprägten, d. h. durch das einfache Recht geprägten Schutzbereichen von mittelbaren Schutzbereichsverkürzungen. 61 BVerfGE 54, 208, 219 (Böll). 62 BVerfGE 54, 208, 219 f. (Böll). Ebenfalls auf der Ebene des Schutzbereichs und nicht erst auf der Ebene der Rechtfertigung liegt die Beschränkung in der Blinkfüer-Entscheidung, BVerfGE 25, 256, 264 f.: „Ein Boykottaufruf, dem eine bestimmte Meinungskundgabe zugrunde liegt, ist durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG insbesondere dann geschützt, wenn er als Mittel des geistigen Meinungskampfes in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage eingesetzt wird, wenn ihm also keine private Auseinandersetzung, sondern die Sorge um po-

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b) Schutzbereiche und Prinzipientheorie Die Optimierungsthese verlangt die möglichst weitgehende Verwirklichung von Prinzipien nach den tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten. Fasst man den Schutzbereich eng und schließt damit von vornherein in den Sachbereich des Grundrechts fallende Handlungen aus dem Schutzbereich aus, so scheitert die Verwirklichung des Grundrechts schon auf der ersten Stufe. Es kommt erst gar nicht zur Prüfung der Schranken und der konkurrierenden Prinzipien. Die Chance zur Verwirklichung der Grundrechte wird demgegenüber erhöht, wenn man den Schutzbereich möglichst weit fasst.64 Nach der Optimierungsthese kommt daher nur ein weites Schutzbereichsverständnis in Betracht.65 Die Annahme weiter Schutzbereiche wird auch insoweit der Prinzipientheorie gerecht, als dadurch der Schwerpunkt der Rechtsanwendung auf der Abwägung liegt. Freiheitsbetätigungen werden nicht definitorisch ausgeschlossen, sondern mit den gegenläufigen Prinzipien abgewogen. Man könnte jedoch, ähnlich wie bei der Bestimmung absolut geschützter Kernbereiche, die enge Fassung eines Schutzbereichs auch als Ergebnis einer Abwägung verstehen. Für den Ausschluss bewusst unwahrer litische, wirtschaftlich, soziale oder kulturelle Belange der Allgemeinheit zugrunde liegt (…). Die Aufforderung zu einem Boykott kann selbst dann im Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG liegen, wenn der Verrufer zu dem Boykottierten in einem beruflichen, gewerblichen oder sonstigen geschäftlichen Konkurrenzverhältnis steht, weil diese Situation eine geistige Auseinandersetzung an sich noch nicht ausschließt. […] Ein Boykottaufruf wird durch das Grundrecht der freien Meinungsäußerung dann nicht geschützt, wenn er nicht nur auf geistige Argumente gestützt wird, sich also auf die Überzeugungskraft von Darlegungen, Erklärungen und Erwägungen beschränkt, sondern darüber hinaus sich solcher Mittel bedient, die den Angesprochenen die Möglichkeit nehmen, ihre Entscheidung in voller Freiheit und ohne wirtschaftlichen Druck zu treffen. Dazu gehören insbesondere die Androhung oder Ankündigung schwerer Nachteile und Ausnutzung sozialer oder wirtschaftlicher Abhängigkeit (…).“ 63 Vgl. BVerfG, NJW 1984, S. 1293 ff. (Sprayer); BVerfGE 105, 252, 268 (Glykol); E 105, 279, 295 ff. (Osho), soweit es um staatliches Informationshandeln zur Kennzeichnung einer Religionsgemeinschaft als Sekte geht; zum nunmehr engen Versammlungsbegriff BVerfG, NJW 2001, 2459 (Love Parade); BVerfGE 104, 92, 104 (Sitzblockaden): „Für die Eröffnung des Schutzbereichs reicht es wegen seines Bezugs auf den Prozess öffentlicher Meinungsbildung nicht aus, dass die Teilnehmer bei ihrer gemeinschaftlichen kommunikativen Entfaltung durch einen beliebigen Zweck verbunden sind. Vorausgesetzt ist vielmehr zusätzlich, dass die Zusammenkunft auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet ist. Versammlung im Sinne des Art. 8 GG sind demnach örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung.“ Allgemein zu dieser Entwicklung und m.w.N. Möllers, Grundrechtsjudikatur, S. 1974 ff.; Kahl, Gewährleistungsgehalt, S. 170 ff.; Zuck, S. 291, sieht hier vor allem einen Paradigmenwechsel durch den Ersten Senat, eingeleitet durch die Glykol-Entscheidung des BVerfG. Nicht als Ausgangspunkt einer neuen Gewährleistungslehre sieht Murswieck allerdings die seiner Ansicht nach völlig missglückten Entscheidungen des BVerfG Osho und Glykol an, vgl. Murswieck, S. 490 ff. 64 Alexy spricht insoweit von einem höheren prima-facie-Schutz, Alexy, Grundrechte, S. 294. 65 Alexy, Grundrechtsnorm und Grundrecht, S. 112 f.; ders., Grundrechte, S. 290 ff.

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Tatsachen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ließe sich anführen, dass keine Fälle denkbar sind, in denen die gegenläufigen Prinzipien nicht überwiegen, so dass ein Ausschluss aus dem Schutzbereich als vorweggenommene Abwägung gerechtfertigt ist. Diese Auffassung mag enge Schutzbereichsdefinitionen zumindest in eindeutigen Fällen rechtfertigen. Problematisch ist dabei aber, dass enge Schutzbereiche, auch wenn sie das Ergebnis einer Abwägung sein mögen, nicht als ein solches erscheinen, sondern – zumindest nach außen – definitorischen Charakter haben. Sie entsprechen damit nicht einer Prinzipientheorie, die die Abwägung der Prinzipien und Gegenprinzipien in den Vordergrund stellt. Die Frage enger oder weiter grundrechtlicher Schutzbereiche steht darüber hinaus in engem Zusammenhang mit der Frage nach den Anforderungen an Grundrechtseingriffe. Alexy spricht insofern vom „Schutzgut/Eingriffs-Tatbestand“ bzw. vom Schutzbereich im weiteren Sinne. Frage man nach dem prima-facie-Schutz eines Grundrechts, so komme es nicht nur auf die Definition des Schutzgutbegriffs an, sondern auch auf die Weite des Begriffs des Eingriffs.66 Insofern stellt sich das Problem, ob als Grundrechtseingriffe auch solche staatliche Maßnahmen angesehen werden können, die das grundrechtlich geschützte Verhalten nur faktisch-mittelbar beeinträchtigen. Das BVerfG führt dazu aus: „Unter der Geltung des Grundgesetzes ist der Grundrechtsschutz nicht auf Eingriffe im herkömmlichen Sinne begrenzt, sondern auf faktische und mittelbare Beeinträchtigungen ausgedehnt worden. Damit reagierte die Rechtsordnung auf geänderte Gefährdungslagen.“67 Dieses weite Eingriffsverständnis deckt sich mit dem Konzept grundrechtlicher Optimierung.68 Ein möglichst umfassender Grundrechtsschutz ist nur möglich, wenn möglichst alle die Grundrechte gefährdenden staatlichen Maßnahmen erfasst werden. Insgesamt wird mit einem weiten Schutzbereichs- und Eingriffsverständnis die Rechtfertigungslast staatlichen Handelns erhöht. Die Rechtfertigungslast wird aber verringert, wenn man die Beeinträchtigung eines Schutzbereichs (Eingriff in den Schutzbereich) an weitere Bedingungen knüpft, die u. U. schon Elemente der Rechtfertigung und Abwägung enthalten. Prominentes Beispiel dafür ist die Glykol-Entscheidung des BVerfG. Durch eine Vermischung von Schutzbereichs-, Eingriffs- und Rechtferti66

Alexy, Grundrechte, S. 276, 292. BVerfGE 105, 279, 303 (Osho). Siehe auch BVerfGE 13, 181, 185 f. (Schankerlaubnissteuer): „Der besondere Freiheitsraum, den Art. 12 Abs. 1 GG sichern will, kann auch durch Vorschriften berührt werden, die infolge ihrer tatsächlichen Auswirkungen geeignet sind, die Freiheit der Berufswahl mittelbar zu beeinträchtigen, obwohl sie keinen unmittelbar berufsregelnden Charakter tragen. Auch steuerliche Vorschriften können solche Wirkungen nach sich ziehen. Sie sind an Art. 12 Abs. 1 GG zu messen, wenn sie infolge ihrer Gestaltung in einem engen Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufes stehen und – objektiv – eine berufsregelnde Tendenz deutlich erkennen lassen.“ BVerfGE 46, 120, 137 f. (Direktruf): „Davon abgesehen ist es im ,Leistungsstaat‘ der Gegenwart eine zunehmend zu beobachtende Erscheinung, dass staatliche Einwirkungen in den Bereich der wirtschaftlichen Betätigung nicht im Wege eines unmittelbar ,gezielten‘ Eingriffs erfolgen, sondern durch staatliche Planung, Subventionierung oder – wie im vorliegenden Fall – als Folge einer bestimmten Wahrnehmung von Aufgaben der staatlichen Leistungsverwaltung.“ 68 Siehe auch Alexy, Grundrechte, S. 292. 67

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gungselementen konnte ein Leitsatz formuliert werden, der staatliches Informationshandeln von dem Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage freistellt.69 c) Ergebnis Versteht man die Prinzipientheorie nicht nur als Strukturtheorie, sondern nimmt man ihren materiellen Gehalt des Optimierungsgedankens ernst, so spricht sie über die der Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG zugeordneten grundrechtstheoretischen Elemente hinaus für die Annahme weiter grundrechtlicher Schutzbereiche.70 In ihrem kritischen Gehalt liefert die Prinzipientheorie darüber hinaus das Fundament für die Überprüfung einzelner Entscheidungen, und zwar mit der Aufgabenstellung, ob mit dem Abweichen vom prinzipientheoretischen Vorgehen, also mit der Annahme enger grundrechtlicher Schutzbereiche, nur eine gedankliche Abkürzung vorliegt, die Plausibilität der Abwägung also nur sichtbar gemacht werden muss oder ob das Abwägungsdefizit auf die Entscheidung durchschlägt und die mangelnde Plausibilität durch die Prinzipientheorie aufgedeckt werden kann. 3. Zu den Grenzen der Prinzipientheorie a) Der strikte Gegensatz zwischen Regeln und Prinzipien Das Konzept der Prinzipientheorie stützt sich auf einen strikten Gegensatz zwischen Regeln und Prinzipien. Durch das Abstellen auf einen qualitativen oder strukturtheoretischen Unterschied werden Normen entweder der Kategorie der Regeln oder der Kategorie der Prinzipien zugeordnet. Zwischenformen oder graduelle Unterschiede sind nach der Prinzipientheorie nicht denkbar. Dieser Ansatz stößt zum Teil auf Bedenken. Vor einer Auseinandersetzung mit den Einwänden gegen einen strukturellen Unterschied zwischen Regeln und Prinzipien soll jedoch klargestellt werden, dass es viele weitere Ansätze zur Unterscheidung von Regeln und Prinzipien gibt, die sich teils von der strukturtheoretischen abgrenzen, sich teils aber auch mit ihr überschneiden und für die ebenfalls gute Gründe sprechen mögen.71 69 BVerfGE 105, 252 (LS) (Glykol): „Marktbezogene Informationen des Staates beeinträchtigen den grundrechtlichen Gewährleistungsbereich der betroffenen Wettbewerber aus Art. 12 Abs. 1 GG nicht, sofern der Einfluss auf wettbewerbserhebliche Faktoren ohne Verzerrung der Marktverhältnisse nach Maßgabe der rechtlichen Vorgaben für staatliches Informationshandeln erfolgt. Verfassungsrechtlich von Bedeutung sind dabei das Vorliegen einer staatlichen Aufgabe und die Einhaltung der Zuständigkeitsordnung sowie die Beachtung der Anforderungen an die Richtigkeit und Sachlichkeit von Informationen.“ Kritisch und m.w.N. Hellmann, S. 163 ff. Siehe auch Bumke, S. 3 ff. 70 Im Ergebnis ähnlich Borowski, S. 86 f., 98 f. m.w.N. 71 Zu weiteren Unterscheidungskriterien zwischen Regeln und Prinzipien siehe schon Alexy, Grundrechte, S. 72 ff.; Penski, S. 106 ff.; Buchwald, S. 88 ff.; Schilcher, S. 165 ff; K. Günther, S. 270 ff., der darauf abstellt, „ob wir eine Norm als Regel behandeln, indem wie sie ohne Rücksicht auf die ungleichen Merkmale der Situation anwenden, oder ob wir eine Norm

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Besonders hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Ansätze von Esser,72 Larenz73 und Bydlinski,74 die über ihr jeweiliges Verständnis von Prinzipien im Gegensatz zu Regeln eine Verbindung des Rechts zur Moral herstellen. Hier geht es aber nicht um die Ermittlung des einen richtigen Unterscheidungsmerkmals,75 sondern um die Klärung der Frage, ob mit der strukturtheoretischen Unterscheidung überhaupt eine plausible Differenzierung vorgenommen wird, die es ermöglicht, die Prinzipientheorie als Grundlage für die Konzeption verfassungsrechtlicher Denktypen in Betracht zu ziehen. Gegen die Kriterien der Erfüllbarkeit (von Regeln) und Optimierbarkeit (von Prinzipien) könnte man zunächst einwenden, auch Regeln seien nicht nur entweder oder, sondern auch graduell erfüllbar. Beispielsweise könne man das straßenverkehrsrechtliche Linksüberholgebot dadurch mehr oder weniger erfüllen, dass man das Gebot nur manchmal einhalte oder – vom Abstand her gesehen – mehr oder als Prinzip behandeln, indem wir sie unter Berücksichtigung aller (tatsächlichen und rechtlichen) Umstände einer Situation anwenden.“ Den Aspekt der Anwendung betont auch Ávila, S. 30 ff. Dagegen Alexy, Zur Struktur der Rechtsprinzipien, S. 37; Hain, Grundsätze, S. 126 ff. 72 Nach Esser, S. 51 f., handelt es sich bei Prinzipien im Gegensatz zu Regeln um noch nicht anwendbare Leitgedanken. Prinzipien fehle eine konkrete Rechtsfolge, sie seien „nicht selbst ,Weisung‘, sondern Grund, Kriterium und Rechtfertigung der Weisung.“ Als noch nicht konkretisierte Normen lägen sie dem positiven Recht voraus. Erst durch die Konkretisierung – insbesondere der Rechtsprechung – würden Prinzipien ins positive Recht transformiert. Danach sei die Anwendung von Prinzipien keine Rechtsanwendung, sondern stelle einen Akt der Rechtsschöpfung dar, durch den die Richter ihre moralischen Vorstellungen in das Recht integrieren könnten. Esser sieht in diesem Transformationsvorgang die Verschmelzung von Recht und Moral, ders., S. 61. 73 Nach Larenz sind Rechtsprinzipien „Leitgedanken einer (möglichen oder bestehenden) rechtlichen Regelung, die selbst noch keine der ,Anwendung‘ fähigen Regeln sind, aber in solche umgesetzt werden können“, sie entbehrten noch des rechtssatzförmigen Charakters, vgl. Larenz, Richtiges Recht, S. 23; ders., Methodenlehre, S. 139, 421. Über die fehlende Anwendbarkeit bzw. den fehlende Rechtssatzcharakter hinaus wird betont, dass Prinzipien einen Bezug zur Rechtsidee, d. h. zu den Werten der Gerechtigkeit und des Rechtsfriedens aufweisen, Larenz, Richtiges Recht, S. 33 ff. Insgesamt ist das Prinzipienverständnis von Larenz aber durch tiefgreifende Widersprüchlichkeiten geprägt, vgl. Hüpers, S. 473 ff. Der entscheidenden Frage nach der normativen Wirkung von rechtsethischen Prinzipien weicht Larenz aus, Hüpers, S. 244 ff. Nur in einer entlegenen Fußnote zum Vorsatzbegriff des § 17 StGB bezieht Larenz Stellung, indem er klarstellt, dass Prinzipien richtigen Rechts juristische Geltung nur beanspruchen können, wenn sie auch Prinzipien des positiven Verfassungsrechts sind, Hüpers, S. 267. 74 Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, S. 121 ff., sieht die charakteristische Eigenschaft von Prinzipien in ihrer Allgemeinheit und ihrer Bedeutung. Die Besonderheit seiner Prinzipientheorie besteht darin, dass er – ähnlich wie Larenz – den Bezug der Prinzipien zur Rechtsidee herausstellt und damit die Rechtsordnung für moralische Wertungen öffnet, ebda, S. 156: „Die Prinzipien der Rechtsidee (Gerechtigkeit, Rechtssicherheit, Zweckmäßigkeit) bezeichnen die ,technische‘ Voraussetzung für rationale Rechtsanwendung und zugleich den relativ universalsten ethischen Mindestgehalt des Rechts.“ Siehe dazu auch Luf, S. 131 ff. 75 Zum Versuch einer umfassenden Charakterisierung des Normtyps Verfassungsprinzip vgl. Reimer, S. 249 ff.

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weniger weit links überhole.76 Folgt man dieser Argumentation, wäre das Kriterium der Erfüllbarkeit kein geeignetes Kriterium. Diese Argumentation überzeugt jedoch nicht. Selbst wenn man die Möglichkeit einer graduellen Erfüllung in der Anzahl der Befolgungsfälle sehen will, so ist dies nur möglich, wenn man in den Einzelfällen zuordnen kann, ob die Norm erfüllt oder nicht erfüllt worden ist.77 Das Kriterium der Erfüllbarkeit ist damit hinsichtlich des einzelnen Anwendungsfalles kein unsicheres Kriterium. Auch Auslegungsschwierigkeiten bezüglich einzelner Tatbestandsmerkmale vermögen die grundsätzliche Erfüllbarkeit einer Norm nicht in Frage zu stellen. Durch welche Verhaltensweisen das Linksüberholgebot konkret erfüllt wird, muss durch Auslegung ermittelt werden. Die anschließende Subsumtion zeigt dann, ob die Norm erfüllt oder nicht erfüllt worden ist bzw. ob ein Verstoß gegen das Linksüberholgebot festgestellt oder nicht festgestellt werden kann. Das Ergebnis eines graduellen Verstoßes lässt die Norm jedoch nicht zu.78 Nach anderer Auffassung geht die Unterscheidung nach dem Kriterium der Erfüllbarkeit insofern fehl, als sie von der veränderlichen sprachlichen Form des Rechtssatzes abhängt. Somit würde sich – je nach Formulierung – eine Regel in ein Prinzip und ein Prinzip in eine Regel umformulieren lassen.79 Dabei wird aber verkannt, dass das Kriterium der Erfüllbarkeit gerade nicht an einer bestimmten Normformulierung anknüpft. Ziel der Prinzipientheorie von Alexy ist es zu zeigen, dass sich hinter den als Regeln formulierten Grundrechten Prinzipien verbergen können. Eine regelhafte Formulierung eines Prinzips erweckt zwar den Anschein einer Regel, mithilfe der Kriterien der Erfüllbarkeit und Optimierbarkeit kann man aber analysieren, ob bzw. in welchem Umfang es sich bei der Norm tatsächlich um eine Regel oder um ein Prinzip handelt.80 76 Vgl. Schilcher, S. 162 f. Zum Linksüberholgebot als Beispiel für eine Regel siehe Alexy, Grundrechte, S. 76, Fn. 25. Kritisch zur strikten Unterscheidbarkeit von Regeln und Prinzipien und für eine „gleitende Skala“ auch Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, S. 123; ders., „Elemente“ des beweglichen Systems, S. 28. 77 Vgl. auch Koch, Abwägung, S. 18. 78 Die Interpretationsbedürftigkeit von Regeln ändert daran nichts. Dies verkennt Ávila, S. 37 f., wenn er meint, die Vagheit von Tatbestandsmerkmalen, die u. U. auch eine Berücksichtigung von Prinzipien und Abwägungen erfordere, spreche gegen deren Regelcharakter. Der mögliche und notwendige Einfluss von Prinzipien auf Regeln spricht aber gerade nicht gegen deren Unterscheidung. Vielmehr stützt der Befund von Ávila die Konzeption Alexys, wonach Prinzipien auf die Auslegung von Regeln einwirken. Mit seinem Vorschlag, Normtexten sowohl Regeln als auch Prinzipien zu entnehmen (ebda, S. 59 ff.), unterscheidet sich Ávila von Alexy gerade nicht. 79 Vgl. Sobota, S. 415. Sobota geht dabei aber zu Unrecht davon aus, Alexy unterscheide zwischen Optimierungsgeboten als Prinzipien und Regeln als Normen, die einem „Wenn-DannSchema“ folgten. Nicht das „Wenn-Dann-Schema“ einer Norm, sondern das Kriterium der Erfüllbarkeit ist für die Qualifikation als Regel entscheidend. 80 Als Beispiel führt Sobota, S. 414 f., Fn. 50, folgende Norm an: „Wenn hoheitliche Gewalt … ausgeübt wird, dann ist … [z.B. das Demokratieprinzip/der Bestimmtheitsgrundsatz usw.] zu berücksichtigen.“ Die in dieser Norm enthaltene Rechtsbindung hat Regelcharakter, denn die Bindung an Gesetz und Recht ist erfüllbar. Die regelhafte Einkleidung berührt aber

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Gleichwohl kann man der strukturellen Unterscheidung vorwerfen, sie sei zwar theoretisch möglich, führe im Einzelfall aber zu erheblichen Auslegungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten.81 Eine umfassende Auswertung des Grundgesetzes auf die in ihm enthaltenen Normen nach ihrem Regel- und Prinzipiengehalt hat Alexy nicht vorgenommen.82 Über die konkrete Zuordnung – gerade wenn sie dem bisherigen Sprachgebrauch zuwiderlaufen sollte –83 wird man auch nach der Prinzipientheorie im Einzelfall zu verschiedenen Auffassungen kommen können. Die Chance der strukturellen Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien liegt aber nicht in einer mathematisch-eindeutigen Kategorisierung von Normen, sondern darin, über die Fragen nach dem Regel- oder Prinzipiencharakter den Blick für die Prinzipien bzw. den hinter Regeln verborgenen Gründen zu schärfen.84 Als Beispiel mag die Norm „nulla poene sine lege“ dienen, die als erfüllbare Norm als Regel zu qualifizieren wäre.85 Ein tieferes Verständnis dieser Norm ergibt sich jedoch erst, wenn man sich über die dahinter stehenden Prinzipien klar zu werden versucht und die Norm als Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers über die widerstreitenden Rechtsstaatsgesichtspunkte des Vertrauensschutzes einerseits und der wirksamen Strafverfolgung andererseits begreift.86 Das Entscheidende wäre damit die durch das Regel-Prinzipien-Verständnis ausgelöste Fragestellung.87 Dieser analytische Gewinn schließt es freilich nicht aus, über weitere Normtypen jenseits von Regeln und Prinzipien nachzudenken.88 Um die Wirkungsweise von Grundrechten zu verstehen, ist das Konzept der Prinzipien als abwägungsbedürftige Optimierungsgebote sinnvoll. Es lässt sich heuristisch sehr gut von Konzepten der Subsumtion unter Regeln unterscheiden. Das äußere Erscheinungsbild indiziert dabei aber noch nicht das eine oder das andere nicht den Charakter des Tatbestandsmerkmals „Demokratieprinzip“. Bei diesem Merkmal könnte es sich auch um ein Optimierungsgebot und damit um ein Prinzip handeln. (Die Frage, welchen Charakter das Demokratieprinzip oder der hier ebenfalls angeführte Bestimmtheitsgrundsatz aufweisen, bedarf einer eingehenden Untersuchung. Die Bezeichnung als Prinzip kann aber nicht schon mit dem Charakter als Optimierungsgebot gleichgesetzt werden.) Erweist sich das Demokratieprinzip als Optimierungsgebot, so wäre die Rechtsbindung durch das Berücksichtigen des Demokratieprinzips als Optimierungsgebot zu erfüllen. 81 Vgl. Jestaedt, Abwägungslehre, S. 263 ff. 82 Soweit ersichtlich ist auch von anderer Seite keine entsprechende umfassende Untersuchung vorgenommen worden. 83 Z.B. würde sich nach der Prinzipientheorie das Republikprinzip als erfüllbare Norm und damit als Regel erweisen. 84 Zu Prinzipien als Gründe Alexy, Grundrechte, S. 90 ff. 85 Alexy, Grundrechte, S. 92 f.; Buchwald, S. 93. 86 Vgl. auch Hoffmann, S. 206. Zur wirksamen Strafverfolgung siehe BVerfGE 33, 367, 383 (Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeiter). 87 Für die Anwendung der Regel-Prinzipien-Unterscheidung im Sinne Alexys im Bereich des Staatsorganisationsrechts daher auch Mehde, S. 98 ff. 88 Siehe dazu die von Ávila, S. 89 ff., entwickelte, die Ebene der Regeln und Prinzipien ergänzende Kategorie der Postulate als anwendungsbezogene Normen (z. B. Verhältnismäßigkeit). Kritisch zur „Zweiteilung der Welt in Regeln und Prinzipien“ auch Poscher, S. 78.

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Konzept. Beide werden regelmäßig gemeinsam auftreten und der Rechtsanwendung zugrunde zu legen sein.89 b) Der allgemeine Gleichheitssatz Ein typischer Fall einer phänomenologischen Regel ist der allgemeine Gleichheitssatz. Spannend wird die juristische Analyse des allgemeinen Gleichheitssatzes freilich erst, wenn die impliziten Prinzipien sichtbar gemacht werden. Instruktiv ist insofern die Rechtsprechung des BVerfG, das den Maßstab bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolle des allgemeinen Gleichheitssatzes für bestimmte Fallgruppen verschärft hat, und zwar von einer reinen Willkürkontrolle zu einer Verhältnismäßigkeitskontrolle. Das BVerfG bezeichnet den allgemeinen Gleichheitssatz als wertentscheidende Grundsatznorm.90 Kommt dem Gleichbehandlungsgrundsatz entsprechend der Gleichsetzung von Wert- und Prinzipientheorie damit auch Prinzipiencharakter zu? Alexy ordnet dem allgemeinen Gleichheitssatz zwei Prinzipien und damit zwei Optimierungsgebote zu. Zum einen das Prinzip der rechtlichen Gleichheit, das nur auf die gleiche Behandlung abstelle (aktbezogen), und zum anderen das Prinzip der faktischen Gleichheit, das sich auf die Konsequenzen der Behandlung beziehe (folgenbezogen).91 Die Nichtgewährung von Armenrecht sei im Verhältnis zwischen Bemittelten und Unbemittelten Ausdruck einer rechtlichen Gleichbehandlung, angesichts der unterschiedlichen Folgen aber eine faktische Ungleichbehandlung. Als gegensätzliche Prinzipien würden sich die rechtliche und faktische Gleichheit gegenüberstehen und müssten durch Abwägung in Ausgleich gebracht werden.92 Die Annahme eines rechtlichen und eines gegenläufigen faktischen Gleichheitsprinzips ist jedoch problematisch. Sie setzt voraus, dass ein Gleich- oder Ungleichbehandlungsgebot das Ergebnis einer Abwägung ist zwischen der Forderung, die betroffenen Sachverhalte einerseits möglichst gleich zu behandeln und andererseits möglichst gleiche tatsächliche Folgen zu erzielen. Die Herstellung von faktischer Gleichheit könnte man zwar als Optimierungsgebot verstehen, da das Ziel tatsächlicher Gleichheit nur graduell erfüllbar ist. Eine Gleichbehandlung in handlungsbezogenem Sinne lässt sich hingegen nur schwer als Optimierungsgebot deuten. Entweder finden auf zwei Sachverhalte dieselben Rechtsfolgen Anwendung oder nicht. So würde man Arme und Reiche durch Nichtgewährung des Armenrechts gleich behandeln (aktbezogen), so dass die Forderung der rechtlichen Gleichheit, so wie sie Alexy versteht, nicht optimierbar, sondern vielmehr erfüllbar und damit als Regel zu werten wäre. 89 In diesem Sinne beschreibt Alexy die Grundrechtsbestimmungen auch in ihrem Doppelcharakter, also in ihren Regel- und Prinzipiengehalten, vgl. Alexy, Grundrechte, S. 122 ff. 90 BVerfGE 38, 241 (Ehelichkeitsanfechtung), siehe oben 1. Teil, B. III. 2., Fn. 211. 91 Alexy, Grundrechte, S. 377 ff. 92 Alexy, Grundrechte, S. 383 f.

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

Aber auch die Annahme der faktischen Gleichheit als Optimierungsgebot wirft Fragen auf. Zumindest eine abstrakte, d. h. von der Verwirklichung von bestimmten Freiheitsrechten unabhängige Forderung, faktische Gleichheit herzustellen, ist dem Einwand ausgesetzt, man würde dem allgemeinen Gleichheitssatz damit ein bestimmtes (sozial-)politisches Konzept entnehmen.93 Etwas anderes ergibt sich jedoch, wenn man die Bezüge des allgemeinen Gleichheitssatzes zur Verwirklichung von Freiheitsrechten berücksichtigt, wie sie insbesondere vom BVerfG herausgestellt worden sind. Zunächst stellt das BVerfG klar, dass die Wertentscheidungen des Grundgesetzes die Gestaltungsfreiheit bei der Bestimmung dessen, was gleich oder ungleich sein soll, beschränken. Sie verbieten Unterscheidungen, „die dem in der Wertentscheidung ausgedrückten Willen des Verfassungsgebers zuwiderlaufen würden, einem bestimmten Lebensbereich oder Lebensverhältnis seinen besonderen Schutz angedeihen zu lassen.“94 Darüber hinaus kommt es nach der Rechtsprechung des BVerfG beim Differenzierungskriterium nicht allein darauf an, dass überhaupt ein nachvollziehbarer Grund für eine Gleich- oder Ungleichbehandlung vorliegt (Willkürverbot). Vielmehr hat das BVerfG durch seine „Art- und Gewicht“- Formel die Anforderungen an den Differenzierungsgrund erhöht. Danach liegt eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes vor, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (…).“95 Die Ungleichbehandlung muss danach in einem angemessen Verhältnis zum Differenzierungsgrund stehen, d. h. sie muss verhältnismäßig sein.96 Dies führt zu einer sorgfältigen Prüfung des Differenzierungsgrundes im Hinblick auf das Ziel und die Folgen der Ungleichbehandlung. Damit werden aber zugleich diejenigen Freiheitspositionen, die hinter der Gleich- oder Ungleichbehandlung stehen bzw. die durch die Gleich- oder Ungleichbehandlung verkürzt werden, verstärkt geschützt.97 93 Alexy räumt diesen Einwand ein, sieht ihn aber dadurch als entkräftet an, dass auch die gegenläufigen Prinzipien, insbesondere der gesetzgeberische Spielraum zur Sozialgestaltung zu beachten sei, siehe Alexy, Grundrechte, S. 385 ff. Fraglich bleibt aber, welchen Inhalt ein Optimierungsgebot auf faktische Gleichheit haben sollte. Die Ansicht, das Prinzip der faktischen Gleichheit zeige sich bei der Gewährung von Armenrecht, überzeugt insoweit nicht. Die Gewährung von Armenrecht stellt sich nicht als Ausdruck einer „freischwebenden“ faktischen Gleichheit dar, sondern bezieht sich direkt auf die Geltendmachung von Freiheitsrechten. Erst durch diese Verknüpfung verdichtet sich ein Anspruch auf chancengleiche Geltendmachung der Freiheitsrechte. 94 BVerfGE 17, 210, 217, zur Beachtung der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG. Siehe auch BVerfGE 13, 290, 298 (Ehegatten-Arbeitsverhältnisse); E 36, 321, 330 f. (Schallplatten); E 61, 319, 343 (Ehegattensplitting); E 81, 108, 118. 95 BVerfGE 55, 72, 88. 96 So ausdrücklich der Richter Katzenstein im Sondervotum zu BVerfGE 74, 9, 28, 29 (Arbeitsförderungsgesetz). 97 BVerfGE 82, 126, 146 (Kündigungsfristen für Arbeiter): „Ungleichbehandlung und rechtfertigender Grund müssen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen (…). Dabei fällt insbesondere ins Gewicht, ob eine Ungleichbehandlung Auswirkungen auf

A. Das Werteordnungsdenken als Prinzipiendenken

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Die erhöhte Prüfungsdichte verstärkt den Schutz der Freiheitsrechte damit auch auf der Gleichheitsebene. Dieser Schutz wirkt umso stärker, als das BVerfG den höheren Prüfungsmaßstab nicht nur bei personenbezogenen Ungleichbehandlungen, sondern auch bei sachverhaltsbezogenen Differenzierungen anwendet, die sich mittelbar auch auf Personengruppen auswirken.98 Darüber hinaus vermag – wie die numerusclausus-Entscheidung des BVerfG gezeigt hat – der allgemeine Gleichheitssatz den Schutz der Freiheitsrechte über die Begründung von Teilhaberechte zu verstärken.99 Der allgemeine Gleichheitssatz zeigt somit Regel- und Prinzipienelemente. Soweit man auf das rechtliche Gleichbehandlungsgebot im Sinne Alexys abstellt, überwiegt der Regelcharakter. Die entscheidenden Fragen beim allgemeinen Gleichheitssatz liegen jedoch nicht bei der Rechtsfolge, sondern bei der Frage, ob zwei Sachverhalte so gleich oder so unterschiedlich sind, dass man sie gleich oder ungleich behandeln muss. Bei der Prüfung von Differenzierungskriterium und Differenzierungsgrund wirken die Freiheitsrechte als Optimierungsgebote ein und machen Abwägungen erforderlich.100 Man könnte daher vertreten, dass erst die Verbindung zu den Freiheitsrechten den Prinzipiencharakter des allgemeinen Gleichheitssatzes begründet, sei es im Hinblick auf die Abwehr- oder auch auf die Leistungsdimension. Das Verständnis des allgemeinen Gleichheitssatzes als Ausdruck widerstreitender Prinzipien der rechtlichen und faktischen Gleichheit erscheint damit zwar zweifelhaft, aber die vertiefende Lesart auch des allgemeinen Gleichheitssatzes im Lichte der Prinzipientheorie wird damit nicht widerlegt, sondern kann anderen – eben dargelegten – Gründen bestätigt werden. c) Spielraum des Gesetzgebers als formelles Prinzip? Mag man über die Einordnung mancher Normen als Regeln oder Prinzipien auch streiten können, so dürfte doch die Qualifizierung des Gesetzgebungsspielraums für die Plausibilität der Prinzipientheorie von Alexy von besonderer Bedeutung sein. Alexy betont den Prinzipiencharakter des Gesetzgebungsspielraums als formelles Prinzip und bindet damit die angreifbaren kompetenziellen Folgen grundrechtlicher

grundrechtlich gesicherte Freiheiten hat.“ Siehe auch BVerfGE 60, 123, 134 (Transsexuelle I); E 62, 256, 274; E 88, 87, 96 (Transsexuelle II). 98 BVerfGE 89, 15, 22: „Da der Grundsatz, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, in erster Linie eine ungerechtfertigte Verschiedenbehandlung von Personen verhindern soll, unterliegt der Gesetzgeber bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen regelmäßig einer strengen Bindung (…). Das gilt auch, wenn eine Ungleichbehandlung von Sachverhalten mittelbar eine Ungleichbehandlung von Personengruppen bewirkt.“ 99 Siehe oben S. 35 ff. 100 Weiterführend Michael, S. 136 ff., der eine den Gleichheitssätzen angemessene, eigene Struktur der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorschlägt, so dass im Rahmen der Gleichheitsprüfung die Freiheitsprüfung nicht nur wiederholt wird. Dabei soll im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung i. e.S. danach gefragt werden, ob in den Vergleichsfällen in gleicher Weise (verhältnismäßig i.S.v. gleichmäßig) abgewogen wurde.

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

Prinzipien von vornherein in seine Theorie ein.101 Das Abgrenzungsproblem zwischen verfassungsgerichtlicher und gesetzgeberischer Entscheidung stellt sich damit nicht als Einwand gegen das Prinzipienverständnis dar, sondern ist vielmehr Ausdruck desselben. Indem der gesetzgeberische Spielraum selbst zum Abwägungsgegenstand erhoben wird, bedarf es der Rechtfertigung einer möglichen Kompetenzverschiebung zugunsten des BVerfG nicht mehr. Das Kompetenzproblem erscheint nicht als negative Folge des Prinzipientheorie, sondern ist gerade mit ihr zu lösen. Die Verbindung von materiellen und formellen Prinzipien würde der Prinzipientheorie einen umfassenden Erklärungswert geben und hätte große Chancen, die Grundlage für eine umfassende Verfassungstheorie zu bilden. Doch reicht die Zuweisung des formellen Prinzipiencharakters schon aus, um materielle Grundrechtspositionen mit Normen der formellen Staatsorganisation in Einklang zu bringen? Es müsste gezeigt werden, dass auch bei der Beurteilung des gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums das Konzept der Optimierung verfolgt wird. Geht man von der Optimierungsthese Alexys aus, so müsste sich das formelle Prinzip gesetzgeberischen Spielraums als Rechtsgut darstellen lassen, das darauf gerichtet ist, in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert zu werden.102 Zunächst hat man einige Schwierigkeiten, den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers als mehr oder weniger, also als graduell erfüllbar anzusehen. Man könnte zwar abstrakt davon sprechen, dass der Spielraum des Gesetzgebers variiert, insbesondere in Abhängigkeit zu den jeweiligen Grundrechtsfunktionen, und in diesem Sinne unterschiedliche Grade aufweist.103 In einem konkreten Fall stellt sich aber die Frage, ob der Gesetzgeber in einer bestimmten Hinsicht einen Einschätzungs- oder Entscheidungsspielraum hat oder nicht hat und nicht danach, ob er ihn mehr oder weniger hat. Gerade Zuständigkeitsnormen dürften nach der Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien eher Regelcharakter aufweisen, denn die Zuständigkeit ist nicht mehr oder weniger erfüllbar, sondern stellt eine erfüllbare Norm durch das eben zuständige Organ dar. Möglicherweise verhält es sich jedoch beim Gesetzgebungsspielraum anders. Der Spielraum des Gesetzgebers verweist als Ausdruck auch des Demokratieprinzips104 möglicherweise selbst wieder auf Prinzipien der politischen Mitwirkung, die es zu optimieren gilt.105 Wenn man also den Optimierungsgedanken für die Frage des 101

Alexy, Grundrechte, S. 89, 119 f., 426 f.; ders., Postscript, S. 388 ff., ders., Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 7 ff., 27; vgl. auch Sieckmann, Regelmodelle, S. 147 f. 102 Alexy, Grundrechte, S. 75. 103 In diese abstrakte Richtung geht wohl die Definition des formellen Prinzips im Nachwort zu englischen Ausgabe der Theorie der Grundrechte, vgl. Alexy, Postscript, S. 417: „As a procedural principle it requires that the democratically legitimated legislature should take as many important decisions for society als possible.“ 104 Zur Grundlage der politischen Gestaltungsfreiheit in der Gewaltenteilung und dem Demokratieprinzip Kaufmann, S. 173 ff. 105 Vgl. dazu die Untersuchung von Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie.

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gesetzgeberischen Spielraums nicht für völlig abwegig hält, so müsste man weiter fragen, wie eine solche Abwägung stattfinden könnte. Nach der Prinzipientheorie ist eine Abwägung zwischen den kollidierenden Rechtsgütern erforderlich. Legt man als Beispiel ein Gesetz zum Reitverbot in Wäldern zugrunde, so ist leicht zu erkennen, dass jedenfalls die Grundrechte der Reiter mit dem Allgemeininteresse an der Erhaltung der Waldwege und des Waldes in Konflikt geraten können. Wie verhält sich dazu der Spielraum des Gesetzgebers als formelles Prinzip? Dazu heißt es bei Alexy: „Ein formelles oder prozedurales Prinzip ist das Prinzip, das sagt, dass der demokratische Gesetzgeber die für die Gemeinschaft wichtigen Entscheidungen treffen soll. Dies formelle Prinzip kann zusammen mit einem nur relativen Gemeinschaftsinteressen dienenden inhaltlichen Prinzip gegen ein individuelle Rechte gewährendes grundrechtliches Prinzip abgewogen werden.“106 Danach würde also das Allgemeininteresse an der Erhaltung der Waldwege und des Waldes zusammen mit dem Spielraum des Gesetzgebers in Ausgleich zu bringen sein mit der allgemeinen Handlungsfreiheit der Reiter. Verstärkt das formelle Prinzip damit das zu schützende Allgemeininteresse? Oder stellt der Spielraum des Gesetzgebers bei der Abwägung ein zusätzliches Argument dar, um die Grundrechtsbeeinträchtigung auf Seiten der Reiter zu rechtfertigen? Die Konstruktion bereitet Schwierigkeiten, weil die Annahme eines formellen Prinzips die miteinander kollidierenden Rechtsgüter durcheinander bringt. Der Spielraum des Gesetzgebers erscheint in obigem Beispiel als Rechtsgut, das mit den Grundrechten der Reiter kollidiert. Dabei bleibt aber unberücksichtigt, dass der Gesetzgeber keine eigene Rechtsposition gegen das Reiten in Stellung bringt. Vielmehr beruft er sich auf seine Kompetenz, Grundrechtskollisionen durch Gesetze auszugleichen. Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers steht damit auf einer ganz anderen Stufe als die in Konflikt geratenen Grundrechte.107 Dies wird besonders deutlich, wenn man sich den eigentlichen Konflikt vergegenwärtigt. Der Gesetzgeber gerät nämlich nicht in Konflikt mit den durch Gesetze beeinträchtigten Grundrechtsträgern, sondern mit dem BVerfG, soweit es darum geht, den Ausgleich der Grundrechtskollisionen letztinstanzlich zu entscheiden.108 Da formelle und materielle Prinzipien nicht auf derselben Ebene kollidieren, ist auch nicht nachvollziehbar, wie eine Abwägung zwischen ihnen erfolgen soll.109 Dies zeigt auch der von Alexy erörterte besondere Bereich des gesetzgeberischen Prognosespielraums. Dazu heißt 106

Alexy, Grundrechte, S. 120. Daran ändert auch der Hinweis Alexys nichts, dass formelle Prinzipien nicht isoliert gegen materielle Prinzipien abgewogen werden können, vgl. Alexy, Postscript, S. 422 ff., in Auseinandersetzung mit der Kritik, formelle Prinzipien könnten materielle Prinzipien und damit die Rechtsbindung insgesamt aushebeln. 108 Ähnlich Kaufmann, S. 176 ff. mit Verweis auf das Modell konkurrierender Rechtsauffassungen. 109 Siehe auch Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 226, Fn. 84: „Die Abwägung von formellem und materiellem Prinzip fordert den Vergleich von Unvergleichbarem und läuft auf eine – nahezu determinationsfreie – Dezision hinaus.“ Kritisch auch Hain, Grundsätze, S. 135 ff. 107

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

es: „Prognosespielräume unterscheiden sich im Ergebnis nicht von Schrankensetzungskompetenzen. Dies macht deutlich, dass ihr Umfang nur unter Bezugnahme auf das jeweils betroffene grundrechtliche Prinzip bestimmt werden kann und entscheidend von dessen Gewicht im jeweils zu entscheidenden Fall abhängt. Ganz in diesem Sinne heißt es im Mitfahrzentralen-Beschluss: ,Je mehr dabei der gesetzliche Eingriff elementare Äußerungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit berührt, um so sorgfältiger müssen die zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Gründe gegen den grundsätzlichen Freiheitsanspruch des Bürgers abgewogen werden‘. Das Prognoseproblem wird damit zu einem Problem der Abwägung zwischen dem jeweils betroffenen materiellen grundrechtlichen Prinzip und dem formellen Prinzip der demokratisch legitimierten Entscheidungskompetenz des Gesetzgebers.“110 Die Schlussfolgerung aus der verfassungsgerichtlichen Entscheidung überzeugt jedoch nicht. Das BVerfG spricht nicht von einer Gegenüberstellung und Abwägung des gesetzgeberischen Spielraums mit den beeinträchtigten Grundrechten. Vielmehr gibt es zunächst nur eine Arbeitsanweisung, wonach der Sorgfaltsmaßstab der verfassungsrechtlichen Prüfung steigt, je schwerwiegender die Grundrechtsbeeinträchtigung ist. Doch stehen der Prüfungsmaßstab und die jeweilige Grundrechtsbetroffenheit nur in einem mittelbaren Zusammenhang. Wenn man von der plausiblen Annahme ausgeht, dass bei schweren Grundrechtsbeeinträchtigungen größere Gewissheit über den tatsächlichen Nutzen der gesetzgeberischen Maßnahme bestehen muss, so stellt der Prognosespielraum des Gesetzgebers gleichwohl kein Abwägungsergebnis zwischen den betroffenen materiellen Rechtsgütern und der Entscheidungskompetenz des Gesetzgebers dar, sondern trägt der Unsicherheit über die tatsächlichen Wirkungen der Maßnahme Rechnung. Je nach Erkenntnisfortschritt kann die Abwägung der betroffenen materiellen Rechtsgüter auch anders ausfallen. Darüber hinaus berücksichtigt das BVerfG bei der Frage des Prognosespielraums des Gesetzgebers nicht nur die Schwere des Grundrechtseingriffs, sondern auch „die Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs“ sowie die „Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden“.111 Die Einbeziehung des gesetzgeberischen Spielraums als formelles Prinzip ist zwar im Hinblick auf das Ziel einer umfassenden Grundrechts- und Verfassungs110 Alexy, Grundrechte, S. 427 unter Zitierung von BVerfGE 17, 306, 314. In der Folge entwickelt Alexy mit Bezug auf die im Mitbestimmungsurteil des BVerfG herausgestellten verfassungsgerichtlichen Kontrollintensitäten (Evidenzkontrolle, Vertretbarkeitskontrolle, intensivierte inhaltliche Kontrolle, BVerfGE 50, 290, 323 f., siehe oben S. 51 f.) das sog. epistemische Abwägungsgesetz, vgl. Alexy, Die Gewichtsformel, S. 789. Dieses Gesetz lautet: „Je schwerer ein Eingriff in ein Grundrecht wiegt, desto größer muss die Gewissheit der den Eingriff tragenden Prämissen sein.“ Danach würde der Spielraum des Gesetzgebers – hier der Prognosespielraum – sinken, je schwerer der Grundrechtseingriff wiegt. Diese Annahme steht jedoch in einem gewissen Widerspruch zur Formulierung des formellen Prinzips, wonach der demokratische Gesetzgeber die für die Gemeinschaft wichtigen Entscheidungen treffen soll (Alexy, Grundrechte, S. 120). 111 BVerfGE 50, 290, 333 (Mitbestimmung), siehe oben S. 51 f. Dazu auch Kaufmann, S. 173.

A. Das Werteordnungsdenken als Prinzipiendenken

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theorie nachvollziehbar, doch vermag die Gleichsetzung von formellen und materiellen Prinzipien nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Frage über den materiellen Grundrechtsausgleich nicht identisch ist mit der Frage, wem die Entscheidungskompetenz darüber zukommt.112 Insofern stellt sich die Frage, ob die Annahme eines formellen Prinzips überhaupt erforderlich ist. Würde allein die Zuweisung eines formellen Prinzips dazu führen, dass der Spielraum des Gesetzgebers durch das BVerfG möglichst berücksichtigt wird? Bedarf es eines Optimierungsgebotes, um dem Einwand zu begegnen, die Prinzipientheorie überspiele die Kompetenzen des Gesetzgebers? Man könnte auch versuchen, im Hinblick auf den Spielraum des Gesetzgebers in eine andere Richtung zu denken und eine Verfassungsregel zu formulieren, wonach dem Gesetzgeber grundsätzlich die Befugnis zu Grundrechtseinschränkungen zukommt. Möglicherweise wäre es sinnvoll, den Konflikt zwischen Gesetzgeber und BVerfG als Regelkonflikt zu verstehen. Danach würde die Befugnis des Gesetzgebers zu Grundrechtsbeeinträchtigungen mit der Kompetenz des BVerfG kollidieren, die Verfassungswidrigkeit von Grundrechtseinschränkungen zu rügen. Für den Regelkonflikt wäre maßgeblich, ob ein Grundrechtsverstoß festgestellt werden kann und damit justitiabel ist. Die Konstruktion eines Regelkonflikts würde dabei nicht ausschließen, dass bei der Abgrenzung zwischen Gesetzgeber und BVerfG bzw. bei der Frage nach der Justiziabilität des geltend gemachten Grundrechtsverstoßes auch die betroffenen grundrechtlichen Prinzipien (Schwere des Grundrechtsverstoßes) Berücksichtigung finden. Die Frage, ob der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers sinnvoller als Verfassungsregel in die Prinzipientheorie einzubinden wäre, kann an dieser Stelle jedoch nicht weiter vertieft werden. Entscheidend für die weiteren Überlegungen ist jedenfalls, dass die Kompetenzabgrenzung zwischen Gesetzgeber und BVerfG nicht ohne weiteres als Abwägungsproblem mit den betroffenen materiellen Grundrechten formuliert und gelöst werden kann. Die Annahme eines formellen Prinzips bleibt dem Einwand ausgesetzt, dass der eigentliche Konflikt zwischen Gesetzgeber und BVerfG damit nicht zutreffend erfasst und gelöst wird.113 Will man die Prinzipien112

Die verschiedenen Ebenen sieht auch Sieckmann, doch konstruiert er das Kompetenzproblem zwischen Gesetzgeber und BVerfG gleichwohl als Prinzipienkollision und verkennt dabei, dass eine Entscheidungskompetenz nicht mehr oder weniger erfüllt werden kann, vgl. Sieckmann, Regelmodelle, S. 163: „Es ist andererseits denkbar, dass Gesetzgeber und Gericht voneinander abweichende, aber mögliche Rechtskonzeptionen vertreten. Dann ist fraglich, welcher Konzeption das Gericht bei seiner Entscheidung folgen soll. Einerseits ist dem Gericht prinzipiell geboten, der eigenen Rechtsauffassung zu folgen. Andererseits lässt sich mit den formellen Prinzipien, die die Bindung an Entscheidungen des Gesetzgebers begründen, auch die prinzipielle Bindung an dessen Rechtsauffassung begründen. Es besteht also eine Prinzipienkollision, die, je nach dem Gewicht, das dem Gebot, der eigenen Rechtsauffassung zu folgen, sowie dem Gebot der Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gesetzgebers beigemessen wird, mehr zugunsten des Gerichts oder mehr zugunsten des Gesetzgebers aufgelöst werden kann.“ Vgl. ders., Abwägung, S. 397 ff., unter dem Stichwort der Abwägung konkurrierender Verfassungsinterpretationen. 113 Im Ergebnis ebenso Hwang, S. 624, die die formellen Prinzipien als Leerformeln bezeichnet; Hain, Grundsätze, S. 137.

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theorie gleichwohl aufrechterhalten, darf über dieses Problem nicht hinweggegangen werden. 4. Regeln und Prinzipien im Rechtssystem Wie schon gezeigt wurde, ist die Prinzipientheorie nicht nur eine Strukturtheorie, sondern wird besser verstanden als rechtstheoretische Basis für eine extensive Grundrechtstheorie.114 In einer allgemeineren Sichtweise dient die Regel-PrinzipienUnterscheidung darüber hinaus dazu, verschiedene Konzeptionen von der Bedeutung der Verfassung und ihrer Prinzipien im Rechtssystem sichtbar zu machen, insbesondere das Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht. Alexy und R. Dreier unterscheiden insofern zwischen Konstitutionalismus und Legalismus. a) Konstitutionalismus Nach R. Dreier betont der Konstitutionalismus den Wertgehalt der Verfassung und versucht, ihn mit Hilfe der Judikative gegebenenfalls auch gegen die Legislative und die Exekutive zur Geltung zu bringen. Der Legalismus hingegen zielt auf die Eigenständigkeit des parlamentarischen Gesetzgebers und ist darauf gerichtet, die Kompetenzausweitung der Judikative zurückzudrängen.115 Ähnlich beschreibt Alexy die Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG als konstitutionalistische Position, die die Verfassung mit der Ausstrahlungsthese zur inhaltlichen Mitte des Rechtssystems mache und der Abwägung bei der Rechtsanwendung eine besondere Bedeutung zuschreibe. Als legalistisch sei diejenige – wenn auch nicht geschlossene – Gegenposition zu bezeichnen, die Werte, Abwägungen und die Allgegenwart der Verfassung ablehne und stattdessen Normen, Subsumtionen und die Eigenständigkeit des einfachen Rechts sowie die Autonomie des parlamentarischen Gesetzgebers favorisiere.116 Konstitutionalismus und Legalismus unterscheiden sich danach also in der Bedeutung, die der Verfassung innerhalb der Rechtsordnung gegeben wird und den jeweils unterschiedlichen Folgen für die Rechtsanwendung und Kompetenzabgrenzung zwischen Legislative und Judikative. Nach Alexy sind diese verschiedenen Sichtweisen auf unterschiedliche Grundkonzeptionen des Rechtssystems zurückzuführen, die man mit Hilfe der strukturellen Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien beschreiben kann. Einer strikt legalistischen Auffassung liege eine Vorstellung vom Rechtssystem zugrunde, das ausschließlich Regeln enthalte. Die Anwendung nur von Regeln sichere zwar ein hohes Maß an Rechtssicherheit, unklar sei aber die Behandlung von nicht durch Regeln festgelegter oder zweifelhafter Fälle (sog. „Offenheitslücken“). Ohne Rückgriff auf Prinzipien bliebe allein das freie Ermessen des Richters.117 Ein reines 114 115 116 117

Siehe oben S. 85 ff. R. Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, S. 88. Alexy, Rechtssystem, S. 213 f. Alexy, Rechtssystem, S. 220 f.

A. Das Werteordnungsdenken als Prinzipiendenken

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Regelverständnis sei auch im Hinblick auf den Grundrechtsschutz problematisch. Grundrechte könnten leerlaufen, verstünde man Grundrechtsvorbehalte allein als Regeln, die die Grundrechte nahezu vollständig zur Disposition des Gesetzgebers stellten.118 Demgegenüber sei auch ein reines Prinzipienmodell nicht vorzugswürdig. Ein rein aus Prinzipien bestehendes Rechtssystem würde den Anforderungen an die Rechtssicherheit nicht gerecht.119 Vorzuziehen sei daher ein Regel-Prinzipien-Modell des Rechtssystems, das die Regelebene ernst nehme, Lücken aber durch eine prinzipiengeleitete Auslegung schließe. Füge man diesem Modell eine rationalitätssichernde Prozedur hinzu, ergebe sich ein vollständiges Bild vom Rechtssystem. Alexy sieht in diesem „Regel-Prinzipien-Prozedur“-Modell einen gemäßigten Konstitutionalismus.120 Legalismus und (gemäßigter) Konstitutionalismus spiegeln danach den Gegensatz zwischen einem reinen Regelmodell und einem Regel-Prinzipien-Modell wider. Fraglich ist aber, ob die Abgrenzung zu einem reinen Regelmodell sinnvoll ist. Die extreme Position des reinen, abwägungsfreien Regelmodells vermag zwar die mit dem Regeldenken verbundenen Probleme deutlich hervorzuheben. Dass solch ein reines, abwägungsfreies Regelmodell in der verfassungsrechtlichen Diskussion strikt vertreten wird, dürfte jedoch – wenn überhaupt – die Ausnahme bilden.Die Abgrenzung zu einem solchen extremen Legalismus wäre dann nur von begrenztem Ertrag. Aussagekräftiger könnte hingegen eine Unterscheidung innerhalb des RegelPrinzipien-Modells sein, und zwar eine Unterscheidung danach, welcher Ebene innerhalb des Regel-Prinzipien-Modells ein größeres Gewicht zukommen soll. Darauf wird sogleich zurückzukommen sein. R. Dreier legt seiner Unterscheidung zwischen Konstitutionalismus und Legalismus ebenfalls die Prinzipientheorie zugrunde, setzt dabei aber einen anderen Schwerpunkt. Ihm kommt es darauf an zu zeigen, dass sich im Konstitutionalismus und Legalismus verschiedene Arten juristischen Denkens widerspiegeln, wobei die Art des juristischen Denkens Ausdruck eines bestimmten Rechtsbegriffs sein soll.121 Die Begriffe des Konstitutionalismus und Legalismus dienen damit der Unterscheidung zwischen naturrechtlichen und positivistischen Auffassungen.122 Als 118

Alexy, Rechtssystem, S. 221, siehe auch oben S. 80 f. Alexy, Rechtssystem, S. 222 f. 120 Alexy, Rechtssystem, S. 228 ff., wobei Alexy hinsichtlich der prozeduralen Ebene auf die Diskurstheorie verweist. Dazu sogleich auf S. 119 ff. 121 R. Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, S. 94 mit Hinweis auf Schmitt, Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 366: „Jeder Jurist, der seiner Arbeit, bewusst oder unbewusst, einen Begriff von ,Recht‘ zugrundelegt, fasst dieses Recht entweder als eine Regel, oder als eine Entscheidung, oder als eine konkrete Ordnung und Gestaltung auf.“ 122 Den Begriff des Naturrechts versteht R. Dreier, Rechtsstaat, S. 355, in einem weiten Sinne: „Dabei will der Begriff des Naturrechts, unter Einschluss des Vernunftrechts, in einem weiten Sinne verstanden sein, dessen Hauptmerkmal ist, dass er das Recht nicht durch seine ordnungsgemäße Gesetztheit oder durch seine soziale Wirksamkeit oder durch eine Kombination von Gesetztheit und Wirksamkeit, sondern durch seine materiale bzw. moralische 119

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

konstitutionalistisch bewertet R. Dreier die Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG, der insofern ein rechtsethisch angereicherter Rechtsbegriff zugrunde liege, als das BVerfG die Prinzipienebene beachte und die Prinzipienebene wiederum einen Gerechtigkeitsbezug aufweise.123 Kennzeichnend für diesen Gerechtigkeitsbezug sei der überschießende Gehalt der als Optimierungsgebote verstandenen Prinzipien, der eine „utopische Dimension“ mit einschließe und damit den positivistischen Rechtsbegriff sprenge.124 Indem Verfassungen die Prinzipien der Menschenwürde, der Freiheit und Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit sowie der Demokratie und Sozialstaatlichkeit, die zugleich Hauptprinzipien der neuzeitlichen Rechts- und Staatsethik seien, in ihre Rechtsordnung aufnähmen, „haben sie, so lautet das Argument, eine notwendige Verbindung von Recht und Moral hergestellt, weil damit von Rechts wegen geboten ist, das Recht, wie es ist, dem Recht, wie es sein sollte, im Falle von Vagheiten und Normenkollisionen soweit als möglich anzunähern.“125 Der Legalismus hingegen beruhe auf einem positivistischen Rechtsbegriff.126 R. Dreier versteht die Unterscheidung zwischen Konstitutionalismus und Legalismus als „Neuauflage der klassischen Kontroverse zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus“.127 Damit bekommt die Unterscheidung zwischen Konstitutionalismus und Legalismus eine über die Frage nach der Bedeutung der Verfassung innerhalb des Rechtssystems hinausgehende Dimension. Fraglich ist, ob die Frage nach der Bedeutung der Verfassung zwangsläufig in eine Diskussion über den Rechtsbegriff führen muss. Möglicherweise lassen sich die unterschiedlichen Auffassungen zur Bedeutung der Verfassung auch unabhängig von einem naturrechtlichen oder positivistischen Rechtsverständnis diskutieren. Die Begriffe des Konstitutionalismus und Legalismus scheinen zwar auf den ersten Blick geeignet, um die unterschiedliche Gewichtung von Verfassung und einfachem Recht zu erfassen. Doch geht ihre Bedeutung noch darüber hinaus. Entweder wird – wie bei R. Dreier – ein rechtsethischer Rechtsbegriff mitgedacht oder – wie bei Alexy – die Sicht auf drei Modelle des Rechtssystems verengt, dem reinen Regel-, dem reinen Prinzipien- und dem Regel-Prinzipien-Modell. Ersteres, Richtigkeit, d. h. durch seine Gerechtigkeit definiert.“; siehe dazu auch ders., Der Begriff des Rechts, S. 890 ff. 123 R. Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, S. 98. Ein rechtsethisch angereicherter Begriff des Rechts meine einen solchen, „der das rechtlich geltende Recht – aus der Perspektive des Richters – durch eine abgestufte Kombination von Elementen der autoritativen Gesetztheit, der sozialen Wirksamkeit und der materialen Richtigkeit, d. h. der Gerechtigkeit definiert.“ 124 R. Dreier, Rechtsstaat, S. 356 f.; ders., Der Begriff des Rechts, S. 892. 125 R. Dreier, Der Begriff des Rechts, S. 892 f. Dreier spricht insoweit auch von der strukturtheoretischen Version des Prinzipienarguments und grenzt sich damit von Dworkin ab, der die Prinzipienebene darüber hinaus in einem geltungstheoretischen Sinne versteht. Danach würden Prinzipien den positiven Rechtsbegriff auch insoweit sprengen, als ihre Geltung nicht durch einen „test of pedigree“, d. h. nicht durch ein objektives Geltungskriterium feststellbar seien, siehe dazu R. Dreier, Der Begriff des Rechts, S. 893. 126 R. Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, S. 98. 127 R. Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, S. 107.

A. Das Werteordnungsdenken als Prinzipiendenken

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also die (ggf. notwendige) Verbindung von Recht und Moral im Rahmen des Konstitutionalismus, ist gerade Gegenstand dieser Untersuchung. Eine begriffliche Vorwegnahme durch die Verwendung des Konstitutionalismusbegriffs im Sinne R. Dreiers kommt daher nicht in Betracht. Aber auch der Konstitutionalismusbegriff von Alexy enthält Voraussetzungen, die man nicht teilen muss und weist Unklarheiten auf, die sogleich weiter zu erörtern sind. Es wird daher im Folgenden versucht, das Erklärungsmodell der Regel-Prinzipien-Unterscheidung für die Vorstellung vom Rechtssystem zu vereinfachen und zu präzisieren. b) Denken von den (Verfassungs-)Prinzipien her Wie bereits ausgeführt, basiert der Konstitutionalismusbegriff von Alexy auf einem Regel-Prinzipien-Modell, das gegenüber einem reinen Regel- und einem reinen Prinzipien-Modell des Rechtssystems vorzugswürdig ist. Damit wird der Konstitutionalismus abgegrenzt von zwei Extrempositionen, zum einen von der Vorstellung, dass nur Prinzipien das Recht beherrschen und die Regeln des einfachen und des Verfassungsgesetzgebers relativieren können und zum anderen von der Vorstellung, das Rechtssystem bestehe nur aus definitiven und abwägungsfreien Regeln. Da beide Extremformen nicht überzeugen können, kommt nur ein RegelPrinzipien-Modell des Rechts in Betracht, das sowohl die Regel-Ebene des Rechts und damit den Gesetzgeber ernst nimmt, als auch die Notwendigkeit anerkennt, die Offenheiten der Regeln mit Hilfe der Prinzipien-Ebene zu schließen oder diese durch überwiegende Prinzipiengründe zu relativieren (gemäßigter Konstitutionalismus). In Abgrenzung zu diesen Extremformen erscheint das Regel-Prinzipien-Modell als einzig überzeugende Alternative. Doch bildet dieses Modell die Probleme der Prinzipien und Regeln im Rechtssystem umfassend ab? Anders gefragt: Lassen sich die wesentlichen verfassungsrechtlichen Diskussionen auf die Modelle des reinen Prinzipien-, des reinen Regel- und des Regel-Prinzipien-Modells reduzieren? Insbesondere Vertreter eines reinen, also abwägungsfreien Regel-Modells dürften schwer zu identifizieren sein.128 Unabhängig davon liegt es jedoch nahe, dass die unterschiedlichen Auffassungen über das grundsätzliche Verhältnis von Regel- und Prinzipien-Ebene sowie von einfachem Recht und Verfassungsrecht auch in weniger extremem Formen vorkommen, also nicht unter völligem Ausschluss der Regel- oder der Prinzipien-Ebene, sondern innerhalb eines Regel-Prinzipien-Modells. Die Kritiker der Werteordnung und der Prinzipientheorie müssen also weder ein reines 128 Alexy selbst hat für die Grundrechte überzeugend dargelegt, dass ein abwägungsfreies, reines Regelmodell kaum vertretbar ist, Alexy, Grundrechte, S. 106 ff. und oben S. 80 f. Siehe auch die Kritik von Uerpmann, Das öffentliche Interesse, S. 274 f., an Schlinks Versuch, verfassungsrechtliche Abwägungen zu vermeiden und im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nur auf die Eignung und Erforderlichkeit abzustellen, vgl. Schlink, Eingriffsabwehr, S. 461 f. Eine Kritik an verfassungsrechtlichen Abwägungen muss darüber hinaus nicht notwendig in ein abwägungsfreies Regelmodell führen. Die abwägungskritische Haltung Forsthoffs z. B. bezieht sich lediglich auf das Verfassungsrecht, nicht aber auf das Verwaltungsrecht, vgl. dazu später S. 144 f.

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

Regel-Modell vertreten noch ein reines Prinzipien-Modell. Von daher wäre es sinnvoll, nicht nur eine Abgrenzung von Extremformen vorzunehmen, sondern auch innerhalb des Regel-Prinzipien-Modells zu unterscheiden. Problematisch wäre allerdings eine Differenzierung nach dem jeweiligen Vorrang der Regel- oder der Prinzipien-Ebene innerhalb eines Regel-Prinzipien-Modells. Dies wird am Regel-Prinzipien-Modell von Alexy deutlich. Alexy konzipiert das Regel-Prinzipien-Modell (bzw. den gemäßigten Konstitutionalismus) nämlich als ein Modell, in dem der Regel-Ebene der Vorrang zukommt.129 Doch ist dieser Vorrang gerade nicht unumstößlich. Im Hinblick auf die einfachrechtliche Ebene führt schon der Vorrang der Verfassung zu einem Vorrang der Verfassungsprinzipien. Und auch im Verhältnis zu den Verfassungsregeln lässt Alexy Relativierungen durch Verfassungsprinzipien zu.130 Bei diesem Vorrang handelt es sich also lediglich um einen prima-facie-Vorrang, der durch überwiegende Prinzipiengründe relativiert werden kann.131 Nun fragt sich, ob es sinnvoll ist, einen prima-facie-Vorrang als Vorrang zu bezeichnen. Denn die stärkere Kraft geht offensichtlich von den Prinzipien aus, die sich über den prima-facie-Vorrang der Regeln hinwegsetzen können. Somit wäre der prima-facie-Vorrang allenfalls Ausdruck einer Argumentationslast, die – ausgehend von der prima-facie-Geltung der Regeln – der Prinzipien-Ebene obliegt. Dann wäre der Unterschied zum reinen Prinzipien-Modell aber nicht mehr so groß. Vielmehr verschwimmen die Grenzen, wenn man auf den Vorrang oder prima-facie-Vorrang abstellt. Ein prima-facie-Vorrang der Regel-Ebene würde sich durch einen endgültigen Vorrang der Prinzipien-Ebene einem reinen Prinzipien-Modell annähern und ein definitiver Vorrang der Regel-Ebene einem reinen Regelmodell. Die zunächst plausible Unterscheidung der drei Modelle erweist sich in ihrer Aussagekraft und in ihren Grenzen damit als weniger klar. Für die weitere Untersuchung soll die Regel-Prinzipien-Unterscheidung daher in einem schlichteren, die Probleme aber deutlicher hervorhebenden Sinn für die Vorstellung vom Rechtssystem im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht verwendet werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass in einem Rechtssystem sowohl die Regelebene, also die Regeln des einfachen und des Verfassungsrechts, als auch die Prinzipien-Ebene, also die Verfassungsprinzipien ernst genommen werden. Die Frage des Vorrangs der einen oder anderen Ebene würde jedoch Gefahr laufen, nur die extremen Formen des reinen Regel- oder reinen Prinzipien-Modells widerzuspiegeln. Man muss aber wohl davon ausgehen, dass die Vorstellungen differenzierter sind und die groben Modelle nur einen beschränkten Aussagegehalt aufweisen. Um auch differenzierte Antworten auf die Frage des Vorrangs geben zu können, soll es bei der hier vorgeschlagenen Unterscheidung nicht primär um den Geltungs-Vorrang der einen oder anderen Ebene gehen, sondern zunächst um den jeweiligen Vorrang der Prinzipien- oder Regel-Ebene beim Ver129 130 131

Alexy, Grundrechte, S. 121 f. Alexy, Grundrechte, S. 122. Siehe dazu oben S. 80.

A. Das Werteordnungsdenken als Prinzipiendenken

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stehen der Normen des Rechtssystems. Maßgeblich wäre danach die Frage, in welchem Maß die jeweilige Ebene das juristische Denken bestimmt. Man könnte danach unterscheiden, ob das juristische Denken eher darauf angelegt ist, die Normen des Rechtssystems von der Regelebene des Rechts her zu verstehen und demzufolge die Regelebene des einfachen und des Verfassungsrechts zur Geltung zu bringen – Denken von den Regeln her – oder ob es eher darauf ausgerichtet ist, die Normen des Rechtssystems von der Prinzipienebene des Verfassungsrechts her zu verstehen und demzufolge diese zur Geltung zu bringen – Denken von den (Verfassungs-) Prinzipien her. Die Unterscheidung dieser Denkweisen schließt nicht aus, dass auch bei einem Regeldenken Abwägungsgesichtspunkte zur Geltung kommen und bei einem Prinzipiendenken strikte Regeln anerkannt werden. Die Unterscheidung zeigt aber eine unterschiedliche Herangehensweise an Normen und an die Regel- und Prinzipien-Ebenen des Rechts. Ein Denken von den Prinzipien her muss sich also nicht auf ein reines Prinzipiendenken beschränken. Ihm kann auch ein Modell aus Regeln und Prinzipien zugrunde liegen, wobei aber das juristische Denken durch die Prinzipien geprägt und darauf ausgerichtet ist, diese im Rechtssystem zur Geltung zu bringen. Kennzeichnend für ein solches Prinzipiendenken wäre ein Verständnis von (Verfassungs)Prinzipien als Optimierungsgebote, die auf zweierlei Weise wirken: zum einen beeinflussen und beherrschen sie über den Vorrang der Verfassung bzw. die Ausstrahlungswirkung die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts. Darüber hinaus beeinflussen sie einfachrechtliche und verfassungsrechtliche Festsetzungen (Regeln des einfachen Rechts und Verfassungsregeln) und können sie ggf. relativieren. Die (Verfassungs-)Prinzipien stünden damit im Zentrum des Rechtssystems und im Zentrum des juristischen Denkens. Die Grenzen des Prinzipiendenkens sind damit allerdings noch nicht festgelegt.

III. Ergebnis Die Prinzipientheorie ist geeignet, die Besonderheiten der Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG bezüglich der Bedeutung von Abwägungen, der objektivrechtlichen Grundrechtsgehalte sowie der Ausstrahlungswirkung von Verfassungswerten nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu erklären. Sie geht damit über eine bloße Strukturtheorie hinaus. Der Optimierungsgedanke steht darüber hinaus in Einklang mit der – allerdings nicht einheitlichen – Rechtsprechung des BVerfG zu weiten grundrechtlichen Schutzbereichen. Wenn auch die normtheoretische bzw. normstrukturelle Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien im Einzelnen zu schwierigen Abgrenzungsfragen führen kann, oder sich im Hinblick auf die Erfassung der Vielfalt verfassungsrechtlicher Normtypen als nicht ausreichend erweisen mag, so stellt sie doch eine bemerkenswert einfache Grundstruktur von Normen auf, die durch die Frage nach dem jeweiligen Regel- oder Prinzipiencharakter von Normen die Aufmerksamkeit auf die Zwecke und Gründe von Normen lenkt. Nicht

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

zu überzeugen vermag hingegen die Charakterisierung des Gesetzgebungsspielraums als formelles Prinzip, so dass eine prinzipientheoretische Lösung der am Beispiel der Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG ausgeführten kompetenzrechtlichen Probleme der Werteordnung bisher nicht gelungen ist. Für die vorliegende Fragestellung ist die Möglichkeit bedeutsam, mit Hilfe der Regel-Prinzipien-Unterscheidung eine bestimmte Vorstellung von der Bedeutung der Verfassung und ihrer Prinzipien im Rechtssystem zu beschreiben. Ein Denken, das wesentlich von (Verfassungs-)Prinzipien geprägt und darauf angelegt ist, diese im Rechtssystem gegenüber den Regeln des einfachen Rechts und ggf. auch gegenüber den Regeln des Verfassungsrechts zur Geltung zu bringen, kann man als Denken von den Prinzipien her bzw. als Prinzipiendenken bezeichnen. Eine solche Charakterisierung beruht zwar auf der vor allem von Alexy entfalteten Grundrechtstheorie, sie folgt aber nicht den Begrifflichkeiten und Differenzierungen, die er und R. Dreier im Zusammenhang mit der Gegenüberstellung von Konstitutionalismus und Legalismus getroffen haben. Denn die diesen Begriffen unterlegten Vorannahmen sind zu problematisch. Vor allem die Vorstellung von einem rechtsethisch angereicherten Konstitutionalismus soll im Rahmen dieser Untersuchung nicht schon vorausgesetzt, sondern vielmehr in Frage gestellt werden: Schließt also das Denken von den Prinzipien her eine Verbindung zwischen Recht und Moral schon ein? Führt das Prinzipiendenken zu einem Denken von der Moral her?

B. Das Prinzipiendenken als Denken von der Moral her Die obige Auswertung der Werteordnungsrechtsprechung hat gezeigt, dass das BVerfG selbständige materielle Gerechtigkeitserwägungen nicht ausschließt, auch wenn es davon nur gelegentlich Gebrauch macht.132 Die Frage nach moralischen Durchbrechungen des Rechts stellt sich allerdings zunächst unabhängig von einem extensiven oder restriktiven Verfassungsverständnis, und zwar als Frage nach dem Rechtsbegriff, die jeder Rechtsanwendung vorausliegt. Das Prinzipiendenken rückt die Frage nach dem Rechtsbegriff bzw. den möglichen oder notwendigen moralischen Einflüssen auf das Recht in besonderer Weise in den Mittelpunkt. Der Begriff des Prinzips wird nämlich seinerseits nicht notwendig in einem strikt juristischen Sinne verwendet, sondern gerade als Brücke zwischen Recht und Moral angesehen.133

132

Siehe oben S. 74 ff. Vgl. insofern das Prinzipienverständnis von Esser (oben 2. Teil, A. II. 3. a), Fn. 72), Larenz (oben 2. Teil, A. II. 3. a), Fn. 73) und Bydlinski (oben 2. Teil, A. II. 3. a), Fn. 74). 133

B. Das Prinzipiendenken als Denken von der Moral her

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I. Zur Verbindung von Prinzipien- und Rechtsbegriffsdiskussion Die allgemeine Diskussion um Prinzipien ist in besonderer Weise mit der Diskussion um den Begriff des Rechts verknüpft. Unter Rechtsbegriffsdiskussion wird hier die Frage nach der Verbindung zwischen Recht und Moral verstanden. Ohne die vielfältigen Dimensionen dieser Diskussion hier auch nur ansatzweise darstellen zu können, sei zumindest auf die entscheidende Fragestellung, wie sie von Hoffmann zusammengefasst worden ist, verwiesen: „Zentrale These der rechtspositivistischen Theorien des Rechtsbegriffs ist, dass es keinen begrifflich notwendigen Zusammenhang zwischen Recht und Moral, zwischen dem Recht, wie es ist und dem Recht, wie es sein soll, gibt. Die Behauptung, dass der Rechtsbegriff unter Ausschluss moralischer Elemente zu definieren ist, wird im Grundlagenstreit um Naturrecht und Rechtspositivismus als Trennungsthese bzw. Neutralitätsthese bezeichnet. Da sich die positivistischen Rechtstheorien auf das positiv gegebene Recht beschränken und die Frage nach seiner Richtigkeit ausklammern, kann – wie Kelsen es formuliert hat – jeder beliebige Inhalt Recht sein. […] Inhaltliche Kriterien scheiden als Definitionsmerkmale des Rechtsbegriffs aus, so dass den Positivisten als Hauptelemente die ordnungsgemäße oder autoritative Gesetztheit und die soziale Wirksamkeit der Normen zur Verfügung stehen. Diese Merkmale können wiederum in verschiedener Weise interpretiert und kombiniert werden, woraus sich die zahlreichen Varianten der positivistischen Rechtsbegriffe erklären.“134 Das Verständnis vom Rechtsbegriff liegt dabei der Prinzipiendiskussion nicht bloß wie allen Fragen des Rechts als Vorfrage zugrunde. Die Frage nach den Prinzipien, ihren Wirkungen und ihrer Zugehörigkeit zum Recht ist selbst Gegenstand der Rechtsbegriffsdiskussion. Dies wird besonders deutlich bei Esser und bei Dworkin, der die Grundlage der hier diskutierten Prinzipientheorie geliefert hat.135 1. Dworkin und Esser Dworkin136 zeigt auf, dass Rechtsfälle nicht nur anhand von Regeln, d. h. anhand von Normen, die nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können,137 entschieden werden, sondern – insbesondere in schwierigen Fällen („hard cases“) – auch Prinzipien zur Anwendung kommen.138 Wenn aber andere Maßstäbe zur Anwendung kommen als Regeln, dann stehe der auf Regeln basierende Rechtspositivismus in 134 Hoffmann, S. 230. Siehe auch Alexy, Recht und Moral, S. 83 ff.; Engländer, Diskurs, S. 2 ff. Ausführlich Mahlmann, S. 27 ff. 135 Siehe oben 1. Teil, A. I. 1., Fn. 2. 136 Ausführlich zu den Thesen von Dworkin Ott, S. 179 ff.; Alexy, Rechtsprinzip, S. 177 ff.; Koch, Methodenlehre, S. 152 ff.; Pawlik, S. 289 ff. 137 Dworkin, S. 58 f., wonach Regeln in der Weise des Alles-Oder-Nichts anzuwenden seien. Und oben 1. Teil, A. I. 1., Fn. 8. 138 Dworkin, S. 54 ff.

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

Frage.139 Man müsse klären, ob die Anwendung von Prinzipien Ausdruck einer Rechtsbindung sei oder das Ergebnis freien richterlichen Ermessens.140 Letzteres kennzeichne den Positivismus: „Die Menge dieser gültigen Rechtsregeln stellt ,das Recht‘ erschöpfend dar; wenn daher ein Fall nicht eindeutig von einer solchen Regel abgedeckt wird (weil es keine Regel gibt, die angemessen erscheint, oder weil diejenigen Regeln, die angemessen erscheinen, vage sind, oder aus irgendeinem anderen Grund), dann kann dieser Fall nicht durch ,Anwendung des Rechts‘ entschieden werden. Er muss dann von einem Beamten, also zum Beispiel einem Richter, entschieden werden, indem er ,sein Ermessen (discretion) betätigt‘, was bedeutet, dass er über das Recht hinausgeht und nach einem anderen Maßstab greift, der ihn bei der Bildung einer neuen Rechtsregel oder der Ergänzung einer alten Regel leiten kann.“141 Diesem freien Ermessen könne nur durch eine über die Regelbindung hinausgehende Rechtsbindung, nämlich durch eine Bindung an Prinzipien begegnet werden. Damit wären die Richter nicht frei; ihre Entscheidung müsste sich vielmehr auch in nicht geregelten Fällen an rechtlichen Maßstäben in Form von Prinzipien orientieren.142 Dass die Bindung an Prinzipien Folgen für den Rechtsbegriff haben sollen, erschließt sich auf den ersten Blick nicht. Im Gegenteil würde man in einer zusätzlichen Prinzipienbindung eher eine erhöhte Rechtsbindung sehen, die die Vorstellung von einer Trennung von Recht und Moral stärkt. Das Konzept der Prinzipienbindung ist nach Dworkin aber nicht darauf angelegt, im Rahmen eines positivistischen Rechtsverständnisses eine Verrechtlichung zu bewirken. Vielmehr soll die Prinzipienbindung eine Gegenkonzeption zum Rechtspositivismus darstellen und den Rechtsbegriff öffnen. Die Überwindung der strikten Trennung zwischen Recht und Moral erfolgt dabei über die Geltung der zu berücksichtigenden Prinzipien. Für die Geltung von Prinzipien sei nämlich nicht nur die positivierte Rechtsordnung entscheidend, als Quelle von Prinzipien komme auch der „Sinn für Angemessenheit“ in Betracht, „der sich im juristischen Berufsstand und in der Öffentlichkeit über Zeiten hinweg entwickelt“ habe.143 Zwar könne man für die Geltung von Prinzipien Gründe anführen, wie z. B. Bezüge zu Gesetzen, Präjudizien oder Rechtsgewohnheiten („institutional support“), doch reiche eine solche Stützung regelmäßig nicht aus, um Prinzipien eindeutig als geltendes Recht zu identifizieren.144 Die Begründung von Prinzipien gehe vielmehr über die „positivistische Konzeption“ hinaus und erfordere eine Abstützung durch die „politischen oder moralischen Anliegen und Traditionen 139 Dworkin, S. 54 f., mit dem erklärten Ziel, einen allgemeinen Angriff auf den Positivismus (unter besonderer Berücksichtigung des Positivismus nach H. L. A. Hart) unternehmen zu wollen. Zum analytischen Rechtspositivismus vgl. auch Hoffmann, S. 233 ff. 140 Dworkin, S. 65. 141 Dworkin, S. 47. Siehe auch ders., S. 68 ff., S. 74. 142 Dworkin, S. 74 ff. 143 Dworkin, S. 82. 144 Dworkin, S. 82 ff., S. 119 ff.

B. Das Prinzipiendenken als Denken von der Moral her

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der Gemeinschaft“.145 Dworkin vertritt insoweit einen rechtsethischen Prinzipienbegriff; freilich in einem anderen, nämlich noch zu großen Teilen dem case-law verhafteten Rechtskreis.146 Die Prinzipienbindung hebt nach Dworkin die positivistische Trennungsthese auf und führt zu einer Verbindung von Recht und Moral. Schon vor Dworkin hat Esser – ebenfalls mit dem Ziel, die strikte Trennung zwischen Recht und Moral aufzuheben – die Bindung an Prinzipien (bzw. Grundsätze) betont. Eine Autonomie des Rechts von jeglichen rechtsethischen Grundsätzen lehnt Esser insbesondere angesichts der Begrenztheit von Kodifikationen ab: „In dem Maße, in welchem Text und Aufbau eines kodifizierten Rechts nicht mehr als Wahrzeichen gesetzgeberischer Weisheit einleuchten und als Garantie für vorbedachte Lösungen erscheinen, muss sich das bis dahin streng ,aus dem Gesetz‘ argumentierende Denken daran wagen, von Prinzipien als Argumentationsbasis auszugehen, die man nur mit Mühe noch aus dem Gesetz nachweisen kann, die aber nach der communis opinio doctorum zum Rechtsganzen gehören.“147 Nach Esser gehören Prinzipien regelmäßig nicht zum positiven Recht, sondern bedürfen als vorpositive Normen zunächst der Positivierung.148 Erforderlich sei insofern ein richterlicher Transformationsakt.149 Das richterliche In-Geltung-Setzen von Prinzipien ist jedoch nicht unproblematisch. Es kollidiert mit der Vorstellung von einer Bindung an vorpositive Prinzipien; denn wenn die Geltung von Prinzipien im Ermessen der Richter liegt, kann dies nicht zugleich Ausdruck einer Bindung an (moralische) Prinzipien sein. Aus Rechtsbindung würde die Befugnis zu freier richterlicher Rechtsschöpfung.150 Ob dieser Vorwurf berechtigt ist, erscheint aber 145 Dworkin, S. 124 f. Gegen das Erfordernis moralischer Geltungskriterien für Rechtsprinzipien im Sinne Dworkins Koch, Methodenlehre, S. 160 f. 146 Dworkin, S. 91. Dworkin bestreitet die positivistische Annahme, in jedem Rechtssystem könnten mit einem allgemeinen Test die Maßstäbe, die zum Recht gehörten, festgestellt werden. Vgl. ders., S. 91: „Ich sagte, dass sich in komplizierten Rechtssystemen wie denjenigen, die in den Vereinigten Staaten und Großbritannien in Kraft sind, kein solcher grundlegender Test finden lässt und dass sich in diesen Ländern nicht letztlich zwischen rechtlichen und moralischen Maßstäben unterscheiden lässt, während der Positivismus auf einer solchen Unterscheidung insistiert.“ In Rechtssystemen, in denen die grundlegenden moralischen Prinzipien positiviert sind, muss die These Dworkins von der fehlenden Erkenntnisregel für Prinzipien nicht gleichermaßen gelten. Kritisch – mit Hinweis auf das Grundgesetz – daher R. Dreier, Der Begriff des Rechts, S. 893, der insoweit von der geltungstheoretischen Version des Prinzipienarguments spricht, siehe dazu auch unten S. 127. 147 Esser, S. 24 f. 148 Anderes gilt lediglich für diejenigen Verfassungsprinzipien, die – quasi als „Elementarwahrheiten“ – schon institutionalisiert und konkretisiert sind. Esser ordnet insofern das Prinzip der Gewaltenteilung von vornherein dem positiven Recht zu. Grund sei aber nicht die gesetzliche Verankerung oder das Naturrecht, sondern die Sachgesetzlichkeit. Wann eine solche „institutionelle Verkörperung“ vorliegt und wie man solche dem positiven Recht zugehörige Prinzipien erkennen kann, beantwortet Esser allerdings nicht, vgl. Esser, S. 70 ff. 149 Siehe dazu bereits oben, Fn. 72. Zur hervorgehobenen Stellung der Richter siehe auch Schäfer, S. 210 ff. und 216 ff. 150 In seiner Gegenüberstellung von Dworkin und Esser betont Pascua daher ihre Gegensätzlichkeit. Während Esser letztlich für ein freies richterliche Ermessen plädiere, komme er

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

zweifelhaft. Esser geht es möglicherweise weniger um die Rechtfertigung freien richterlichen Ermessens als um die Offenlegung eines – seiner Ansicht nach – unvermeidlichen Vorgangs bei der Rechtsanwendung, nämlich der Integration moralischer Vorstellungen der Richter in das Recht. Dieser Transformationsakt müsse aufgedeckt werden: „Es handelt sich nicht darum, die principles als bloße ,guides‘ zu entwerten, sondern darum, den eigentlichen Positivierungsvorgang ans Licht zu bringen, der für die reale Gestaltungswirkung maßgebend ist.“151 Unabhängig von ihrer jeweiligen Umsetzung beruhen beide Ansätze auf der Vorstellung, dass Prinzipien, deren Anwendung notwendig oder unvermeidbar ist, außerhalb des positiven Rechts liegen und daher die These von der Trennung zwischen Recht und Moral widerlegen. Die Zusammenschau von Prinzipien- und Rechtsbegriffsdiskussion entspricht dem oben behandelten Verständnis der Unterscheidung zwischen Konstitutionalismus und Legalismus als Fortsetzung des Positivismus-Streits.152 Führt also die Prinzipienbindung zwangsläufig zu einer Verbindung zwischen Recht und Moral? 2. Die Prinzipientheorie als eine „von unhaltbaren Annahmen gereinigte Werttheorie“ Die Prinzipientheorie von Alexy erscheint in der „Theorie der Grundrechte“ zunächst als eine rein juristische Theorie, die nicht darauf angelegt ist, eine Verbindung zwischen Recht und Moral zu begründen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Alexy eine Verbindung zwischen der Wert- bzw. Prinzipientheorie und der materialen Wertethik von Scheler ausdrücklich ablehnt. Das Wertdenken Schelers beruhe auf unhaltbaren Annahmen, nämlich dem Sein von Werten und deren unmittelbarer Erkenntnis durch eine Wertschau.153 Die Prinzipientheorie könne zwar als Werttheorie bezeichnet werden, sei aber von unhaltbaren Annahmen, wie die einer intuitiven Wertschau, zu „reinigen“.154 Die Abgrenzung zu Scheler reicht Alexy zunächst aus, um sich mit möglichen „philosophischen Einwänden“ gegen die Prinzipientheorie auseinanderzusetzen.155

dem Rechtspositivismus im Sinne Harts nahe, den Dworkin durch die Bindung an (moralische) Prinzipien gerade habe bekämpfen wollen, vgl. Pascua, S. 22 ff. 151 Esser, S. 25, Fn. 73. Siehe auch ders., S. 40, 53 f., 63. 152 Siehe oben S. 106. 153 Alexy, Grundrechte, S. 136 f., mit Verweis auf Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Zur materialen Wertethik vgl. auch Hartmann, S. 149: „Sie [erg.: die Werte] sind Gegenstände möglicher Wertschau, aber sie entstehen nicht erst im Schauen, sind keine Anschauungen – so wenig als Gedanken oder Vorstellungen.“ Vgl. auch Böckenförde, Kritik, S. 73 f. Zur Weiterentwicklung durch Coing siehe Hoffmann, S. 40 ff. 154 Alexy, Grundrechte, S. 136 f. 155 Alexy, Grundrechte, S. 136.

B. Das Prinzipiendenken als Denken von der Moral her

115

Der eilige Leser wird auch im Folgenden eher die Rationalitätsbemühungen zur Stützung der Prinzipientheorie wahrnehmen, z. B. im Hinblick auf Abwägungen,156 als ein rechtsethisch angereichertes Prinzipienverständnis vermuten. Die prinzipientheoretischen Erwägungen dürften vor allem deswegen als juristische einleuchten, da sie gegenüber einem Regelverständnis geeignet sind, in ungeregelten Fällen an die Stelle freien richterlichen Ermessens eine Prinzipien- und damit eine Rechtsbindung zu setzen. Das Rechtssystem erscheint durch diese Prinzipienbindung als ein geschlossenes, das ausschließlich rechtliche Bindungen enthält und keine Freiräume für rein subjektive Entscheidungen lässt.157 Durch den Bezug auf die Grundrechte als positivierte Prinzipien liegt ein rechtsethisches Rechts- und Prinzipienverständnis jedenfalls nicht auf der Hand. Der eilige Leser, der auf den letzten Seiten der „Theorie der Grundrechte“ keine grundlegende Wende vermutet, sie vielleicht getrost beiseite lässt und auch sonst nicht mit den Schriften Alexys vertraut ist, dürfte jedoch sehr überrascht darüber sein, dass die Prinzipientheorie eingebettet ist in eine prozedurale Moralphilosophie und einen nichtpositivistischen Rechtsbegriff, dass sie also hinausläuft auf eine Verbindung zwischen Recht und Moral.

II. Offenheits- oder Geschlossenheitsthese Ein Ansatzpunkt für die Öffnung des Rechts für die Moral ist das „mit so vielen Unsicherheiten behaftete Verfahren der Abwägung“.158 Die Prinzipienbindung in Form des Denkens von den Prinzipien her führt zu einer Konstitutionalisierung des einfachen Rechts. Man könnte darin zunächst einen Verrechtlichungs- und Rationalitätsgewinn sehen, da die Offenheiten des einfachen Rechts, z. B. die Auslegung der „guten Sitten“, nicht nach außerrechtlichen, sondern nach verfassungsrechtlichen Maßstäben zu erfolgen hat und damit eine Geschlossenheit des Rechts erreicht wird.159 Gegen einen Verrechtlichungs- und Rationalitätsgewinn könnte aber die mit dem Prinzipiendenken verbundene Allgegenwart von Abwägungen sprechen. Wenn Abwägungen letztlich in einen Bereich von (Gerechtigkeits)Überlegungen münden, in dem alles oder zumindest vieles vertretbar ist, wäre durch die Prinzipienbindung nichts gewonnen. 1. Zur Rationalität von Abwägungen Der Ausgleich zwischen kollidierenden Optimierungsgeboten erfolgt nach der Prinzipientheorie nicht völlig unstrukturiert, sondern im Rahmen einer Verhältnis156

Alexy, Grundrechte, S. 143 ff. Vgl. R. Dreier, Rechtsbegriff und Rechtsidee, S. 31, 34 f. 158 Alexy, Grundrechte, S. 106. Abwägungsskeptisch insbesondere Schlink, Abwägung, S. 127 ff.; ders., Eingriffsabwehr, S. 457 ff., 461 f.; K.-H. Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik; Leisner, S. 636 ff.; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 49 ff. 159 Zur „Konstitutionalisierung der ,guten Sitten‘“ durch die Lüth-Entscheidung des BVerfG siehe oben S. 30. 157

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

mäßigkeitsprüfung. Durch die Kriterien der Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit soll der Gedanke der bestmöglichen Verwirklichung der Prinzipien unter Berücksichtigung der tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten erfolgen. Die Prinzipientheorie folgt insofern der Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG.160 Die Prinzipientheorie geht über die Rekonstruktion der Verhältnismäßigkeitsprüfung hinaus und versucht, die Rationalität der Abwägung zu zeigen. Dabei geht es um die Abwägung im Rahmen der Angemessenheitsprüfung. Alexy bildet insoweit zwei Gesetze, das Kollisions- und das Abwägungsgesetz. Das Kollisionsgesetz besagt, dass im Rahmen der Abwägung keine absolute, sondern eine bedingte Vorrangrelation festgesetzt wird. Es lautet: „Die Bedingungen, unter denen das eine Prinzip dem anderen vorgeht, bilden den Tatbestand einer Regel, die die Rechtsfolge des vorgehenden Prinzips ausspricht.“161 Hinsichtlich der Begründung der Vorrangbedingungen soll folgendes Abwägungsgesetz gelten: „Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist, um so größer muss die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein.“162 Fraglich ist, inwieweit durch diese beiden Gesetze eine Rationalisierung des Abwägungsvorganges erfolgt. Alexy sieht den Rationalitätsgewinn darin, dass, wenn die Gesetze auch keinen konkreten Maßstab für die Abwägung lieferten, jedenfalls klar werde, was begründet werden müsse, nämlich die Wichtigkeitsgrade einerseits und die Beeinträchtigungsgrade der betroffenen Rechtsgüter andererseits.163 Dieser Argumentation ist zuzugeben, dass der Abwägungsvorgang durch das Abwägungsgesetz bzw. durch die „je-desto-Struktur“164 nicht völlig in der Luft hängt, sondern durch Fragen nach der Bedeutung und Schwere von Rechtsgutsbeeinträchtigungen sowie nach der Wichtigkeit und Dringlichkeit des Rechtsgüterschutzes geleitet wird. Es wird damit klar, was ins Verhältnis zu setzen ist. Maßstäbe für die Beurteilung der Kriterien der Wichtigkeit und der Bedeutung enthält das 160

Siehe oben S. 83 ff. Alexy, Grundrechte, S. 84 mit Hinweis auf den Verhandlungsunfähigkeitsbeschluss, BVerfGE 51, 324, 346: „Besteht die nahe liegende, konkrete Gefahr, dass der Beschuldigte bei Durchführung der Hauptverhandlung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde, so verletzt ihn die Fortsetzung des Verfahrens in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.“ 162 Alexy, Grundrechte, S. 146; siehe auch Sieckmann, Regelmodelle, S. 229 ff. Ergänzt wird dieses Abwägungsgesetz durch ein so genanntes epistemisches Abwägungsgesetz, das sich auf die Möglichkeiten bezieht, empirische Angaben über die Realsierung oder Nichtrealisierung eines Prinzips zu machen, siehe dazu Alexy, Die Gewichtsformel, S. 789: „Je schwerer der Eingriff in ein Grundrecht wiegt, desto größer muss die Gewissheit der den Eingriff tragenden Prämissen sein.“ Siehe dazu bereits oben 2. Teil, A. II. 3. c), Fn. 110. 163 Alexy, Grundrechte, S. 149 ff. 164 Z.B. BVerfGE 16, 194, 202 (Liquorentnahme): „Wenn auch das öffentliche Interesse an der Aufklärung von Verbrechen, das in dem rechtsstaatlich besonders wichtigen Legalitätsprinzip (§ 152 Abs. 2 StPO) wurzelt, im allgemeinen selbst Eingriffe in die Freiheit des Beschuldigten rechtfertigt, so genügt dieses allgemeine Interesse um so weniger, je schwerer in die Freiheitssphäre eingegriffen wird.“ Zu weiteren Entscheidungen des BVerfG siehe Alexy, Grundrechte, S. 145 f. 161

B. Das Prinzipiendenken als Denken von der Moral her

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Abwägungsgesetz hingegen nicht. Diese liefert auch das Kollisionsgesetz nicht. Letzteres beschreibt lediglich das Ergebnis der Abwägung, indem es dieses als einen Satz über eine bedingte Vorrangrelation formuliert. Während sich das Abwägungsgesetz also auf die Fragen der Abwägung und das Kollisionsgesetz sich auf das Ergebnis der Abwägung bezieht, wird der dazwischen liegende eigentliche Abwägungsvorgang, nämlich die konkrete Bewertung der Wichtigkeits- und Beeinträchtigungsgrade, nicht erfasst. In einem neueren Beitrag versucht Alexy die Rationalität des Abwägungsvorgangs durch eine triadische Skalierung nachzuweisen. Beeinträchtigungs- und Wichtigkeitsgrade ließen sich mit den Stufen „leicht“, „mittel“ und „schwer“ bestimmen. Gegenüber einem vollständigen Verbot aller Tabakprodukte als einem schweren Eingriff stelle z. B. die Pflicht zur Anbringung von Warnhinweisen auf Zigarettenschachteln eine nur leichte Beeinträchtigung dar.165 Das Problem der Abwägungen wird man allerdings nicht an dem Punkt ansiedeln können, an dem die Urteile über die Schwere der Beeinträchtigung oder Wichtigkeit des Rechtsgüterschutzes bereits vorliegen. Hat man die Fragen über die Betroffenheit und Wichtigkeit entschieden, so kann auch die logische Folgerung daraus („schwer“ setzt sich gegenüber „mittel“ oder „leicht“ durch) zugunsten eines bestimmten Rechtsgutes kaum noch Einwänden unterliegen. Angreifbarer ist hingegen der Vorgang der Bewertung selbst, d. h. die Gewichtung der einzelnen Rechtsgüter. Dafür gibt der Ansatz zwar keine neuen Kriterien,166 gleichwohl verdeutlicht die triadische Skalierung wiederum, was zu begründen ist, so dass man die Bewertungen nicht ohne weiteres als willkürlich bezeichnen kann.167 Darüber hinaus kann das Problem der Rationalität von Abwägungen nicht ohne Berücksichtigung der Alternativen gesehen werden. Denn auch die abwägungsfreie, auf Definitionen und Subsumtionen beruhende Rechtsanwendung ist nicht wertungsfrei möglich,168 so dass die Wertungsbedürftigkeit von Abwägungen noch 165

Alexy, Die Gewichtsformel, S. 773; ders., Grundrechte auf Schutz, S. 110 ff. Kritisch insofern auch Jestaedt, Abwägungslehre, S. 265 ff. Vgl. insoweit auch die bereits von Alexy selbst aufgezeigten Grenzen der Skalierung von Werten, ders., Grundrechte, S. 141 f.; dazu auch Hain, Grundsätze, S. 140. 167 Alexy, Die Gewichtsformel, S. 776. Vgl. weitere Annäherungen an Rationalitätskriterien bei Sieckmann, Abwägung, S. 392 ff., der u. a. auf objektive Rationalitätskriterien der Argumentation verweist wie Konsistenz und Verallgemeinerbarkeit der Abwägungsergebnisse sowie – ähnlich der verwaltungsrechtlichen Ermessensfehlerlehre – nach der Berücksichtigung der relevanten Belange, der Zugrundelegung fehlerhafter Prämissen oder willkürlicher Gewichtungen fragt. Vgl. auch Uerpmann, Das öffentliche Interesse, S. 286 ff., der in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit des Gesetzgebers verweist, Abwägungsvorgänge zu steuern, wie z. B. durch das planungsrechtliche Abwägungsgebot; dazu auch Koch, Abwägung, S. 20. 168 Prägnant Larenz, Methodenlehre (3. Auflage), S. 154: „Eine Rückkehr zur ,Begriffsjurisprudenz‘ steht sowohl die Erfahrung der Rechtspraxis wie eine hermeneutische Grunderkenntnis entgegen, die mittlerweile kaum noch bestritten wird. Die Erfahrung besagt, dass es unmöglich ist, ein Gesetzbuch zu schaffen, das auf alle auftauchenden Rechtsfragen eine Antwort bereithielte – dass Gesetze nicht nur unvermeidbar ,lückenhaft‘ sind, sondern dass auch da, wo sie ,greifen‘, dies nur aufgrund mannigfacher Erwägungen und mittels sehr unter166

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

keinen durchgreifenden Einwand gegen Abwägungen darstellt. Alexy führt dazu aus: „Ein derartiges, Wertungen einschließendes Gefüge von Gründen ist für juristische Begründungen ganz allgemein kennzeichnend. Es ist etwa auch dort erforderlich, wo es um Festsetzungen im Spielraum vager Begriffe geht, also im Bereich der klassischen Auslegung. Allein das Argument, dass bei der Abwägung Wertungen eine Rolle spielen, begründet deshalb noch keinen Einwand gegen die Möglichkeit der rationalen Begründung von Abwägungsentscheidungen, es sei denn, man sagt, dass das juristische Argumentieren stets nicht-rational oder irrational wird, sobald man den Bereich nicht autoritativ zwingend vorgegebener Wertungen betrifft.“169 Wenn schon eine wertungsfreie Jurisprudenz nicht möglich ist, so weist jedenfalls die Abwägung im Rahmen des juristischen Begründens einen besonderen (Rationalitäts-)Vorteil auf, nämlich die Transparenz der Begründung. Gründe und Gegengründe, Beeinträchtigungs- und Wichtigkeitsgrade werden im Rahmen der Abwägung offengelegt. Ob sie im Ergebnis überzeugen, mag dahinstehen. Jedenfalls kann der Wertungsvorgang nachvollzogen und kritisiert, ggf. können auch sachfremde Kriterien identifiziert werden.170 Dieser Vorteil lässt sich auch nicht durch das Argument entkräften, die Begründung der Abwägung könne auch eine bloße Scheinbegründung darstellen für ein Ergebnis, das nicht durch verfassungsrechtliche Argumentation, sondern durch Intuition gewonnen wurde. Der Einwand möglicher Scheinbegründungen erscheint zunächst nicht abwegig, denn gerade das Erfordernis gradueller Einschätzungen (Beeinträchtigungs- und Wichtigkeitsgrade) mag persönliche Empfindlichkeiten berühren und nicht auf rationalen Erwägungen beruhen. Entscheidend dürfte aber schiedlicher Urteile, untern denen sich auch ,Werturteile‘ befinden, festgestellt werden kann. Dass die Anwendung der Gesetzesregeln nichts anderes als eine logische Subsumtion unter begrifflich geformte Obersätze sei, kann danach im Ernst niemand mehr behaupten.“ Weniger deutlich ders., Methodenlehre, S. 214 ff. zum wertorientierten Denken in der Jurisprudenz. Vgl. auch Coing, S. 22; Alexy, Juristische Argumentation, S. 17 ff.; Jestaedt, Rechtsprechung, S. 56: „[…], so wird man dem Richter in der heute allgemeinen Erkenntnis, dass Rechtsanwendung sich nicht im logisch-deduktiven Begründungsmodell des Subsumtionsautomatismus vollzieht, nicht absprechen können, dass sein Gesetzesanwendungsakt – der Richterspruch – unvermeidlich auch rechtspoltische Ingredienzen beinhaltet. Dass es Wertsetzungen gebe, die unpolitisch, da allein ,das Produkt rechtlicher Überlegung‘ seien, ist nichts als ein frommer Selbstbetrug, der unter Juristen freilich weite Verbreitung genießt.“; Uerpmann, Das öffentliche Interesse, S. 278 ff., 283; Reimer, S. 131. Zur Bedeutung von Wertungen für Abwägungen und Subsumtionen vgl. Mahlmann, S. 13 f. mit umfangreichen Nachweisen. 169 Alexy, Grundrechte, S. 151. 170 Vgl. Kahl, Gewährleistungsgehalt, S. 190 ff., der in definitorischen, schlicht behauptenden Schutzbereichsverengungen der Grundrechte gerade eine Quelle von mehr Irrationalität sieht. Im Hinblick auf die Auffassung Grimms, die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen hänge nicht von der Möglichkeit ab, im Wald zu reiten, führt Kahl (ebda, S. 191 f.) aus: „Alle diese Aussagen sind bei Lichte besehen nicht fundierte Postulate, anders formuliert, blanker Dezisionismus. […] Abstrakt-genereller Interpretations-Dezisionismus auf der Schutzbereichsebene ist das noch größere Übel als konkret-individueller Abwägungs-Dezisionismus auf der Rechtfertigungsebene.“ Zum Rationalitätsgewinn durch Aufgabe der Unabwägbarkeitsthese der Menschenwürde Hain, Menschenwürde, S. 212 f.

B. Das Prinzipiendenken als Denken von der Moral her

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nicht sein, ob das Ergebnis der Abwägung rational gefunden wurde, sondern ob es rational begründet werden kann. Auch eine Scheinbegründung mag als Begründung ausreichen, wenn sie überzeugt.171 Abwägungen erfordern zwar Wertungen, deren Rationalisierung an Grenzen stoßen mag, einen Raum für subjektive Beliebigkeit öffnen sie – beachtet man die zu begründenden Beeinträchtigungs- und Wichtigkeitsgrade – aber nicht. Demnach wird die Geschlossenheitsthese des Rechts durch das Prinzipiendenken nicht schon durch die Allgegenwart von Abwägungen widerlegt. 2. Zur Verbindung von Prinzipien- und Diskurstheorie Umso überraschender ist die schrittweise Aufweichung der Geschlossenheitsthese am Ende der „Theorie der Grundrechte“. Dort heißt es: „Die inhaltliche Determination [erg.: des Rechtssystems durch Grundrechte] wäre eine recht unproblematische Sache, wenn stets feststünde, was aufgrund der Grundrechtsnormen gesollt ist. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Grund hierfür liegt nicht nur in der semantischen und strukturellen Offenheit der Grundrechtsbestimmungen, sondern wesentlich auch im Prinzipiencharakter der Grundrechtsnormen. Ihr Prinzipiencharakter impliziert die Notwendigkeit von Abwägungen. Das Verfahren der Abwägung ist zwar, wie dargelegt, ein rationales Verfahren, es ist aber kein Verfahren, das in jedem Fall zu genau einer Lösung führt. Welche Lösung nach einer Abwägung für richtig gehalten wird, hängt von Wertungen ab, die durch das Verfahren der Abwägung selbst nicht kontrollierbar sind. In diesem Sinne ist die Abwägung ein offenes Verfahren. Die Offenheit der Abwägung aber führt zu einer Offenheit des inhaltlich durch Grundrechtsnormen determinierten Rechtssystems. Das Rechtssystem hat somit aufgrund der Geltung der Grundrechtsnormen den Charakter eines

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So auch Hwang, S. 611 ff., die insoweit die Unterscheidung zwischen Motivation und Argumentation hervorhebt, S. 614: „Während sich die Erkenntnis der Motive oder Gründe einer Entscheidung darauf bezieht, was der Richter denkt, ist die Kontrolle dieser Entscheidung jedenfalls darauf zurückzuführen, was der Richter tut. Daher besteht die Grenze der richterlichen Rechtsanwendung nicht darin, dass der Richter nicht von einer irrationalen oder willkürlichen Motivation ausgehen dürfe, sondern vielmehr darin, dass die Argumentation seiner Entscheidung rational begründbar sein muss. Insgesamt also zeigt sich deutlich, dass das Rationalisierungsgebot für die Rechtsprechung sich nicht auf die Denk-, sondern nur auf die Argumentationsvorgänge der richterlichen Entscheidung richtet.“ (Problematisch ist allerdings die Schlussfolgerung von Hwang, damit sei der Vorwurf mangelnder Rationalität und infolgedessen fehlender Kompetenz des BVerfG schon zu entkräften. Der Vorwurf mangelnder Rationalität dürfte sich gerade auch auf die gegebenen Begründungen von Abwägungen beziehen.) Siehe auch Langenbucher, Das Dezisionismusargument, S. 404 ff., die betont, dass es letztlich nicht darauf ankomme zu beweisen, dass eine rechtliche Entscheidung gänzlich frei von dezisionistischen Elementen ist. Auch wenn man das „schwache Dezisionismusargument“ (rechtliche Entscheidungen erforderten zumindest auch eine individuelle, nicht weiter ableitbare Dezision des Entscheiders) nicht widerlegen könne, bleibe die Begründbarkeit einer Entscheidung maßgeblich.

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

– in welchem Maß auch immer – offenen Rechtssystems.“172 Die Offenheit soll zu einer Offenheit gegenüber der Moral führen. Dabei scheint mit Moral aber zunächst die grundgesetzlich positivierte Moral gemeint zu sein: „Die Geltung der Grundrechtsnormen bedeutet, dass das Rechtssystem ein gegenüber der Moral offenes System ist. Am deutlichsten wird dies bei den materialen grundrechtlichen Grundbegriffen, den Begriffen der Würde, der Freiheit und der Gleichheit. Diese Begriffe sind zugleich Grundbegriffe der praktischen Philosophie. Mit ihnen sind die wichtigsten Prinzipien des neuzeitlichen Vernunftrechts in die Verfassung und damit ins positive Recht inkorporiert.“173 Im weiteren Gedankengang wird aber deutlich, dass der moralische Diskurs nicht nur Ausdruck der grundrechtlichen Argumentation sein soll, sondern darüber hinaus, d. h. jenseits des juristischen Diskurses stattfinden soll. Die juristische Argumentation unterliege zwar einer Reihe von Bindungen (Gesetz, Präjudiz, Dogmatik), doch seien in problematischen Fällen jenseits von diesen Bindungen Wertungen erforderlich, deren Rationalität nach anderen Maßstäben zu beurteilen sei.174 Für diese Fälle der verbleibenden Ergebnisunsicherheit sei die Anwendung einer prozeduralen Moraltheorie notwendig und gegenüber materialen Moraltheorien vorzuziehen, und zwar die Anwendung der Theorie des rationalen praktischen Diskurses.175 Der Vorteil der Diskurstheorie bestünde darin, dass ihre Regeln als Regeln rationalen praktischen Argumentierens wesentlich leichter zu begründen sind als materiale moralische Regeln.176 Die Diskursregeln könne man danach unterscheiden, ob sie sich auf die Argumente beziehen, wie z. B. die Regeln der Widerspruchsfreiheit, des konsistenten Gebrauch der verwendeten Prädikate, der sprachlich-begrifflichen Klarheit, oder auf die Prozedur des Diskurses, wie die Regeln, dass jeder, der sprechen kann, am Diskurs teilnehmen darf, dass jeder eine Behauptung in Frage stellen darf oder dass jeder jede Behauptung in den Diskurs einführen darf.177 Dass der allgemein praktische, also der moralische Diskurs178 nicht 172

Alexy, Grundrechte, S. 494 (Herv. d. Verf.), unter Hinweis auf ebda, S. 143 ff. Alexy, Grundrechte, S. 494. 174 Alexy, Grundrechte, S. 498 f. 175 Vgl. auch Alexy, Prozedurale Theorie, S. 95: „Paradigma einer solchen Theorie ist die Theorie des rationalen Diskurses. Nach dieser Theorie ist eine normative Aussage richtig oder – unter der Voraussetzung einer liberalen Wahrheitstheorie – wahr, wenn sie das Ergebnis einer bestimmten Prozedur, der des rationalen Diskurses, sein kann. Dies Verhältnis von Richtigkeit und Prozedur ist für alle prozeduralen Theorien kennzeichnend.“ Zur allgemeinen Diskurstheorie und der Diskurstheorie des Rechts siehe auch Engländer, Diskurs, S. 15 ff. 176 Alexy, Grundrechte, S. 498 f. 177 Eingehend zu den Diskursregeln Alexy, Juristische Argumentation, S. 234 ff.; zusammenfassend ders., Rationaler Diskurs, S. 118 f.; ders., Praktische Vernunft, S. 14 ff. 178 Zum Begriffsverständnis des allgemein praktischen Diskurses in Abgrenzung zu Habermas Alexy, Rationaler Diskurs, S. 117, Fn. 16: „Hier wird unter dem ,allgemein praktischen Diskurs‘ ein praktischer Diskurs verstanden, in dem moralische, ethische und pragmatische Fragen und Gründe miteinander verbunden sind. Die Bildung eines solchen umfassenden Begriffs des praktischen Diskurses ist sinnvoll und erforderlich, weil zwischen den drei Arten von Fragen und Gründen nicht nur ein Verhältnis der Ergänzung, sondern auch eines der Durchdringung besteht.“ Siehe auch ders., Doppelnatur des Rechts, S. 164. 173

B. Das Prinzipiendenken als Denken von der Moral her

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nur Teil des Gesetzgebungsverfahrens ist,179 also die rechtspolitische Diskussion prägt, sondern auch Bestandteil der Rechtsanwendung sein soll, wird schließlich ausdrücklich hervorgehoben. Dabei wandelt sich die Vorstellung von einem durch die Verfassung und ihren Prinzipien geschlossenen Rechtssystem zu einem mit erheblichen Rationalitätslücken behafteten und für die Moral offenen Rechtssystem: „Das Ergebnis ist, dass die grundrechtliche Argumentation durch ihre Basis zwar ein Stück weit auf rationale Weise determiniert und strukturiert wird, dass das Maß und die Kraft der hierdurch bewirkten Kontrolle aber begrenzt ist. Es bleibt eine beträchtliche Rationalitätslücke. In diese Rationalitätslücke tritt der Prozess der grundrechtlichen Argumentation: der grundrechtliche Diskurs. Der grundrechtliche Diskurs ist eine argumentative Prozedur, bei der es darum geht, auf der dargelegten Basis zu richtigen grundrechtlichen Ergebnissen zu gelangen. Da die grundrechtliche Argumentation durch ihre Basis nur unvollständig determiniert wird, ist allgemeines praktisches Argumentieren ein notwendiger Bestandteil des grundrechtlichen Diskurses. Dies bedeutet, dass der grundrechtliche Diskurs, wie der juristische Diskurs überhaupt, an der Ergebnisunsicherheit des allgemeinen praktischen Diskurses teilhat. Die durch die Grundrechte bewirkte Offenheit des Rechtssystems ist also unausweichlich.“180 Noch deutlicher wird der Gegensatz zwischen Lückenschließung durch Prinzipienbindung einerseits und Lückenentstehung durch Prinzipienbindung andererseits im Rahmen des von Alexy an anderer Stelle ausgeführten Regel-Prinzipien-Prozedur-Modells.181 Die Regel- und Prinzipienebenen des Rechtssystems ergeben sich aus dem Regel-Prinzipien-Modell der Prinzipientheorie. Die Hinzufügung einer weiteren Ebene – der Ebene der Prozedur – sei notwendig, da auch nach der Beseitigung von Offenheitslücken der Regelebene weitere Lücken, nämlich sog. Unbestimmtheitslücken der Prinzipienebene entstünden.182 Um diese Lücken zu schließen, sei – auf der Prozedurebene – die Anwendung der Diskurstheorie notwendig.183 Sie diene der Rationalitätssicherung, indem sie durch Diskursregeln die noch offenen Wertungsfragen im Rahmen eines rationalen Diskurses lenke. Erst die Annahme eines Regel-Prinzipien- und Prozedur-Modells soll ein vollständiges Bild des Rechtssystems liefern.184

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Vgl. Alexy, Grundrechte, S. 500. Alexy, Grundrechte, S. 520 f. 181 Siehe dazu oben S. 105. 182 Alexy, Rechtssystem, S. 227 f. 183 Alexy sieht den juristischen Diskurs als Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses an, da der juristische Diskurs besonderen Bindungen (Gesetz, Präjudiz, Dogmatik) unterliege, siehe Alexy, Juristische Argumentation, S. 32 f., 261 ff.; vgl. auch Hain, Grundsätze, S. 142 ff. 184 Alexy, Rechtssystem, S. 228 ff. 180

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

Gegen die Anwendung der Diskurstheorie bestehen jedoch Bedenken.185 Man könnte zunächst einwenden, sie sei inhaltsleer und bloß formal, die Diskursregeln seien nicht begründbar oder sie seien praktisch nicht umsetzbar.186 Vorliegend geht es aber nicht primär um die Plausibilität der Diskurstheorie an sich. Vielmehr stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten die Diskurstheorie im Rahmen eines Regel-Prinzipien-Prozedur-Modells bietet, das Rechtssystem für außerjuristische bzw. moralische Wertungen zu öffnen. Wegen ihres bloß formalen Charakters könnte man darauf schließen, dass diskurstheoretisch – zumindest bei Einhaltung der Diskursregeln – alles begründbar ist. Selbst wenn man aber davon ausgeht, die Diskursregeln selbst setzten bestimmte Inhalte voraus, wie z. B. das Verbot der Sklaverei wegen Verhinderung der Mitwirkung am Diskurs,187 so dass diskurstheoretisch doch nicht alles begründbar wäre, so bleibt gleichwohl festzuhalten, dass die möglichen Argumente des praktischen Diskurses über die Möglichkeiten der Grundrechtsargumentation weit hinausgehen und ja auch darüber hinausgehen sollen. Die Möglichkeit, zu verschiedenen moralischen Inhalten zu kommen, ist gerade Inhalt der prozeduralen Theorie. Damit würde aber das Recht geöffnet für eine unüberschaubare Vielzahl von diskurstheoretisch begründeten Moralvorstellungen.188 Angesichts der durch das allgemein praktische Argumentieren wieder aufkeimenden Unsicherheiten ist auf die Grundannahmen Alexys zurückzukommen, wonach sich der Bedarf des allgemein praktischen Diskurses aus den Grenzen des juristischen Diskurses ergibt. Die Prinzipienbindung und -abwägung – obgleich 185 Vgl. insbesondere die eingehende Kritik an einer Diskurstheorie des Rechts von Engländer, Diskurs, S. 88 ff. 186 Zur Kritik vgl. die Auseinandersetzung Alexys mit seinen Kritikern, Alexy, Probleme der Diskurstheorie, S. 109 ff.; ders., Rechtssystem, S. 230; ders., Rationaler Diskurs, S. 119: „Ein Kernproblem der Diskurstheorie besteht darin, dass ihr Regelsystem kein Verfahren bietet, das erlaubt, in einer endlichen Zahl von Operationen stets zu genau einem Ergebnis zu gelangen. Das hat drei Gründe: Diskursregeln enthalten erstens keine Festlegungen hinsichtlich der Ausgangspunkte der Prozedur. Ausgangspunkte sind die jeweils vorhandenen normativen Überzeugungen und Interesseninterpretationen der Teilnehmer. Zweitens legen die Diskursregeln nicht alle Argumentationsschritte fest. Drittens hat eine Reihe von Diskursregeln idealen Charakter und ist deshalb nur approximativ erfüllbar. Die Diskurstheorie ist insofern eine nicht entscheidungsdefinite Theorie.“ Siehe auch Hoffmann, S. 272 f. m.w.N. 187 Alexy, Juristische Argumentation, S. 256. Siehe auch den Versuch, die Grund- und Menschenrechte sowie den demokratischen Verfassungsstaat diskurstheoretisch zu begründen, Alexy, Diskurstheorie und Menschenrechte, S. 127 ff. 188 Im Ergebnis so auch Hoffmann, S. 272 f. Vgl. auch die Kritik von Hain, Grundsätze, S. 147 f., 152 f. an der Verschränkung von juristischem und allgemein praktischem Diskurs. Danach sei nicht erkennbar, wie der allgemein praktische Diskurs, dessen Entscheidungsinfinitheit ja gerade zur Notwendigkeit rechtlicher Bindungen führe, einen Rationalitätsgewinn bringen soll in dem Bereich, in dem die Entscheidungssicherheit des juristischen Diskurses ausgeschöpft ist. Im Hinblick auf die Prinzipientheorie wirke sich die Entscheidungsunsicherheit des allgemein praktischen Argumentierens um so mehr aus, vgl. ebda, S. 151: „Gerade die entscheidenden Probleme der Auflösung von Spannungsverhältnissen zwischen Prinzipien enthalten einen außerordentlich großen Spielraum für allgemeine praktische Argumentation mit der ihr eigenen hohen Ergebnisunsicherheit.“

B. Das Prinzipiendenken als Denken von der Moral her

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rational – soll in dem letzten Bereich der Ergebnisunsicherheit durch einen allgemein praktischen Diskurs geleitet werden. Fraglich ist aber, warum letzte Unsicherheiten über die richtige Abwägung und Entscheidung in einen wiederum völlig offenen moralischen Diskurs münden sollen. Soweit die juristischen Argumente keine sicheren Ergebnisse ermöglichen, gleichwohl aber eine autoritative Entscheidung notwendig ist, wäre zu überlegen, ob die materiell offene Frage nicht als Kompetenzfrage aufzulösen ist, ob also die Rechtsprechung insoweit gesetzgeberisches oder exekutivisches Ermessen anerkennen muss.189 Folgt man dieser Auflösung ins Kompetenzielle, so wird die letzte „Rationalitätslücke“ nicht durch einen freischwebenden moralischen Diskurs entschieden, sondern durch die zuständigen Organe. In diese Richtung und ohne den Gedanken der Optimierung zu opfern, geht der Verfassungsrechtler Alexy mit seiner sogleich zu erörternden Spielraumdogmatik. Doch für den Rechtsphilosophen Alexy – dies sei an dieser Stelle schon erwähnt – erledigt sich die Offenheit des Rechts für die Moral damit nicht. 3. Spielraumdogmatik Um den Einwand zu entkräften, die Prinzipientheorie unterwandere den Spielraum des Gesetzgebers, hat Alexy stets die Bedeutung des Gesetzgebungsspielraums als formelles Prinzip betont, das bei der Abwägung materieller Prinzipien zu berücksichtigen sei.190 Nach seiner neueren Spielraumdogmatik sollen die formellen Prinzipien aber nur dann von Bedeutung sein, wenn es um sog. epistemische Spielräume, d. h. Erkenntnisspielräume geht. Die strukturellen Spielräume hingegen markierten die Grenzen der materiellen Normativität der Verfassung, so dass in diesen Bereichen eine verfassungsgerichtliche Kontrolle sowieso nicht in Betracht komme. Die von Alexy herausgearbeiteten Spielraumarten sind zum einen interessant, um das Verhältnis von Verfassungsgericht und Gesetzgeber im Rahmen der Prinzipientheorie genauer abzustecken. Im vorliegenden Zusammenhang soll jedoch die Frage im Vordergrund stehen, inwieweit die Spielraumdogmatik die Anwendung der Diskurstheorie auf letzte Rationalitätslücken entbehrlich macht. Zunächst zur Unterscheidung zwischen strukturellem und epistemischem Spielraum. Dazu heißt es bei Alexy: „Der strukturelle Spielraum ist durch nichts anderes definiert als durch die Abwesenheit von definitiven Geboten und Verboten. Was die Verfassung weder gebietet noch verbietet, stellt sie frei. In den strukturellen Spielraum fällt somit alles, was die Verfassung definitiv freistellt oder frei lässt. Strukturelle Spielräume beginnen also genau dort, wo die definitive materielle Normativität der Verfassung endet.“191 Ein epistemischer Spielraum hingegen soll sich aus den Grenzen der Möglichkeit ergeben, die definitiven Ge- und Verbote zu 189

So Hain, Grundsätze, S. 154 ff. Siehe dazu oben S. 99 ff. Zum Begriff des Spielraums in der Rechtsprechung des BVerfG vgl. Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 15 f. 191 Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 16; ders., Postscript, S. 394 f. 190

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

erkennen: „Der epistemische oder Erkenntnisspielraum ist gänzlich anderer Art. Er entsteht nicht aus den Grenzen dessen, was die Verfassung gebietet und verbietet, sondern aus den Grenzen der Fähigkeit zu erkennen, was die Verfassung einerseits gebietet und verbietet und andererseits weder gebietet noch verbietet, also freistellt.“192 Der strukturelle Spielraum zeige sich vor allem als Abwägungsspielraum im Rahmen der Angemessenheitsprüfung bei der Verhältnismäßigkeitskontrolle. Kennzeichen der Abwägung sei die Beurteilung der Beeinträchtigungs- und der Wichtigkeitsgrade der betroffenen Rechtsgüter. Zum Abwägungsspielraum komme es, wenn ein Überwiegen bestimmter Beeinträchtigungs- oder Wichtigkeitsgrade nicht feststellbar sei. Stünden sich also Rechtsgüter gegenüber, deren Beeinträchtigung oder Wichtigkeit als gleichwertig zu beurteilen sind, entstünde eine Pattsituation. Die Auflösung dieses Abwägungspatts soll aber nicht über einen weiteren allgemein praktischen Diskurs erfolgen. Die Ergebnisunsicherheit bzw. Unentscheidbarkeit wird vielmehr als Abwägungsspielraum des Gesetzgebers bzw. als Freigabe durch die Verfassung gedeutet: „Hier [erg.: im Falle des Patts] entscheidet die Verfassung die Kollision nicht. Was aber die Verfassung nicht entscheidet, ist durch sie freigestellt. Im Falle des Abwägungspatts existiert damit ein struktureller Abwägungsspielraum.“193 Gewisse Ergebnisunsicherheiten der Abwägung löst Alexy damit kompetenzrechtlich und ohne Diskurstheorie auf: „Wenn die Verfassung etwas nicht entscheidet und damit freistellt, ist die einzig richtige Antwort auf die Frage, was von Verfassungs wegen gilt, dass die Verfassung die Sache freistellt, also einen Spielraum lässt. Wollte man dies zuspitzen, könnte man sagen, dass die einzig richtige Antwort lautet, dass es keine einzig richtige Antwort gibt. Der Spielraum kann seitens des Gesetzgebers durch politische und seitens der Fachgerichtsbarkeit durch einfachrechtliche Erwägungen gefüllt werden.“194 Doch dürften die größeren Unsicherheiten der Abwägung bei der Frage liegen, wie man die Wichtigkeits- und Beeinträchtigungsgrade erkennt. Bei den sog. epistemischen, also bei den Erkenntnisspielräumen differenziert Alexy nochmals zwischen empirischen und normativen Erkenntnisspielräumen des Gesetzgebers. Unsicherheiten im Tatsächlichen (empirischer Erkenntnisspielraum), z. B. hinsichtlich der Eignung einer gesetzlichen Maßnahme, könnten – will man die Handlungsfähigkeit des Gesetzgebers nicht vollständig einstellen – nicht schon zur Rechtswidrigkeit einer Maßnahme führen. Deshalb forderten das Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzip als formelle Prinzipien einen empirischen Gesetzgebungsspielraum.195 Insofern sei aber das sog. epistemische Abwägungsgesetz zu beachten, das 192

Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 16. Zur weiteren Unterscheidung zwischen empirischen epistemischen Spielräumen und normativen epistemischen Spielräumen siehe Alexy, Postscript, S. 414 f. 193 Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 22. 194 Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 22, Fn. 88. 195 Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 27.

B. Das Prinzipiendenken als Denken von der Moral her

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dem Gesetzgeber keine völlig freie Einschätzung gestatte, sondern folgende Abwägung erfordere: „Je schwerer ein Eingriff in ein Grundrecht wiegt, desto größer muss die Gewissheit der den Eingriff tragenden Prämissen sein.“196 Darüber hinaus geht Alexy auch von der Möglichkeit normativer Erkenntnisspielräume aus. Insoweit geht es um Unsicherheiten bezüglich der Erkenntnis normativer Prämissen, also um Unsicherheiten über das normativ Gebotene, Verbotene oder Freigestellte. Die begrenzte Einräumung von normativen Erkenntnisspielräumen des Gesetzgebers und die damit verbundene Zurücknahme verfassungsgerichtlicher Kontrolle seien hinnehmbar, obwohl die Einräumung normativer Erkenntnisspielräume in der Tat bedeute, „dass Gebundene über ihre Bindung entscheiden“.197 Im Einzelnen bleibt das Verhältnis zwischen den normativen Erkenntnisspielräumen einerseits und den empirischen Erkenntnis- und strukturellen Abwägungsspielräumen andererseits allerdings unklar. Denn man wird wohl davon ausgehen müssen, dass die Beurteilung von Beeinträchtigungs- und Wichtigkeitsgraden (strukturelle Spielräume) oder von Gewissheitsgraden (empirische Erkenntnisspielräume) nicht von den normativen Erkenntnisfragen zu trennen sind, denn ihr Ziel ist es ja gerade, das normativ Gebotene gegenüber dem Freigestellten zu ermitteln. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist aber nicht die Frage, ob die Einteilung der Spielräume in jeder Hinsicht plausibel ist. Entscheidend ist vielmehr, dass Alexy Unsicherheiten bei der Abwägung oder Unsicherheiten empirischer Prämissen über die Spielraumdogmatik als Kompetenzfrage erfasst. Wenn es aber in bestimmten Bereichen keiner Ermittlung des Richtigen bedarf, Unsicherheiten vielmehr kompetenzrechtlich aufgelöst werden, so dürfte auch das Bedürfnis entfallen, Ergebnisunsicherheiten des grundrechtlichen Diskurses über einen allgemeinen praktischen Diskurs zu lösen.198 Für welche letzten Ergebnisunsicherheiten und Rationalitätslücken sollte dann noch die Diskurstheorie zur Anwendung kommen? Und könnte die Diskursprozedur an diesem Punkt nicht auch nur die Vertretbarkeit der verschiedenen Standpunkte konstatieren und das Eingeständnis der Ergebnisvarietät bekräftigen? Die Notwendigkeit einer Prozedurebene, also der Anwendung der Diskurstheorie, leuchtet angesichts der Spielraumdogmatik nicht ein oder wird doch zumindest erheblich in Frage gestellt. Man wird aber festhalten müssen, dass Alexy seine Spielraumdogmatik nicht zum Anlass genommen hat, das Verhältnis von Prinzipienund Diskurstheorie im Hinblick auf moralische Einflüsse neu zu bestimmen.

196

110. 197 198

Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 28; sowie oben 2. Teil, A. II. 3. c), Fn. Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 29. So aber Alexy, Grundrechte, S. 521 und oben S. 120 ff.

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

III. Grenzen des Prinzipiendenkens Eine Öffnung für moralische Erwägungen kann aber nicht nur über die vermeintliche Offenheit des Rechtssystems durch das Erfordernis von Abwägungen und dessen Schließung durch die Anwendung der Diskurstheorie erfolgen, sondern auch über den Begriff des Rechts und den des Prinzips. Alexy stützt insofern eine notwendige Verbindung zwischen Recht und Moral auf das sog. Prinzipienargument und das Unrechtsargument. Mit diesen Argumenten werden die Fragen nach den Grenzen des Prinzipiendenkens aufgeworfen, wie sie auch schon oben bei der Erörterung der Grenzen der Werteordnung relevant geworden sind.199 Wird das Prinzipiendenken begrenzt durch die Geltungsbedingungen von Prinzipien oder durch bestimmte verfassungsrechtliche Abwägungsgrenzen? 1. Das Prinzipienargument Für die Vorhersehbarkeit und die Rationalität einer auf Prinzipien und Abwägungen beruhenden Verfassungstheorie ist entscheidend, welche Prinzipien überhaupt gelten und als verfassungsrechtliche Argumente in die Abwägung einfließen können.200 Zu unterscheiden sind dabei die vom einfachen Gesetzgeber gesetzten Werte und die Verfassungswerte.201 Entscheidend für unseren Zusammenhang sind die Verfassungswerte bzw. die Frage, inwieweit diese die vom Gesetzgeber gesetzten Werte relativieren können. Wann also kann man von der Geltung verfassungsrechtlicher Prinzipien sprechen? Insoweit wird das Prinzipienargument relevant. a) Strukturtheoretische Version des Prinzipienarguments Das Prinzipienargument besagt nach R. Dreier, dass „allen entwickelten Rechtssystemen Prinzipien immanent sind, die kraft ihrer Struktur und/oder Geltungsbegründung den positivistischen Rechtsbegriff sprengen.“202 Für die strukturtheoretische Version des Prinzipienarguments sei der Optimierungscharakter der Prinzipien entscheidend. Dieser Optimierungscharakter fordere die approximative Erfüllung rechtsethischer Ideale und weise damit einen besonderen Gerechtigkeitsbezug auf, der den positivistischen Rechtsbegriff sprenge.203 Die geltungstheoretische Version des Prinzipienarguments lehnt R. Dreier hingegen ab. Das 199

Siehe oben S. 62 ff. Vgl. dazu auch Ossenbühl, Abwägung, S. 32, der die Gefahren schon im Vorfeld der Abwägung, nämlich bei der Annahme einer Spannungslage sieht. 201 Erstere bezeichnet Alexy als Prinzipien zweiten Ranges, da sie nicht vom Standpunkt der Verfassung aus nach Verwirklichung drängen, sondern erst aus dem Einschränkungsvorbehalt zugunsten des Gesetzgebers (z. B. Erhaltung und Förderung des Handwerks), Alexy, Grundrechte, S. 118 f. 202 R. Dreier, Der Begriff des Rechts, S. 892. 203 R. Dreier, Der Begriff des Rechts, S. 892 f.; siehe auch ders., Naturrecht, S. 379. 200

B. Das Prinzipiendenken als Denken von der Moral her

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Grundgesetz habe praktisch alle relevanten moralisch-politischen Basisprinzipien als Verfassungsprinzipien dem positiven Recht inkorporiert, so dass Prinzipien, die nicht in einem Ableitungs- oder Zuordnungsverhältnis zu geltenden Verfassungsprinzipien stünden, keine Frage des Rechtsbegriffs seien.204 Nach diesem Verständnis des Prinzipienarguments sind die normativen Wirkungen der Moral auf das Recht begrenzt. Die moralische Dimension folgt allein aus dem überschießenden Gehalt der Optimierungsgebote, dem Anstreben eines Ideals. Geltungstheoretisch wird die Moral aber nicht nutzbar gemacht, d. h. für die Frage, welche Argumente in den juristischen Diskurs einfließen dürfen, bleibt es bei den positivierten Verfassungsprinzipien und der in ihnen positivierten Moral,205 ohne Reserve auf nicht positivierte moralische Prinzipien. b) Geltungstheoretische Version des Prinzipienarguments Die Lesart des Prinzipienarguments durch Alexy geht aber darüber hinaus und hängt zusammen mit seinem Rechtsbegriff. Alexy geht von einem begrifflich notwendigen Zusammenhang zwischen Recht und Moral aus. Ein solcher Zusammenhang könne nicht bestritten werden, ohne dass man einen Widerspruch begeht.206 Die These lautet: Ein Positivist müsste nachweisen, dass es keinen begrifflichen Zusammenhang gibt, um den Positivismus zu begründen. Wenn dies scheitere, sei der Positivismus widerlegt.207 Die Zuspitzung der Frage auf einen begrifflich notwen-

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R. Dreier, Der Begriff des Rechts, S. 893. Sieckmann hingegen bestreitet die Möglichkeit, bloß von den inkorporierten und die mit ihnen in einem Ableitungszusammenhang stehenden Prinzipien auszugehen. Das Verfassungsrecht verlasse schon dadurch die positivistischen Theorien, dass für die Interpretation der vagen Begriffe wie die der Menschenwürde oder des Gewissens der Aspekt der materiellen Richtigkeit maßgebend sei. Jedenfalls könne eine Interpretation, die aus einem Abwehrrecht ein Leistungsrecht mache (wie z. B. bei der Wissenschaftsfreiheit) nicht mehr als logische Ableitung und damit nicht mehr als positivistisch betrachtet werden, Sieckmann, Regelmodelle, S. 195 f.; ders., Prinzipien, S. 29 ff. Dass die beschriebene Verfassungsinterpretation notwendig Ausdruck moralischer Wertungen sein soll, überzeugt nicht. Die Auslegung vager Rechtsbegriffe ist im positiven Verfassungstext selbst angelegt. Auch eine über den Wortlaut hinausgehende Interpretation der Grundrechte auch als Leistungsrechte – unabhängig davon, ob die Auslegung im Einzelfall zutreffend sein mag – kann nicht per se als Ausdruck moralischen Wertens angesehen werden. Sie kann sich vielmehr als Ausdruck einer teleologischen Interpretation darstellen. Will sie aber den Gesetzeszweck erfassen, ist sie auf die rechtliche Richtigkeit und nicht auf eine – völlig freischwebende – moralische Richtigkeit angelegt. 205 Vgl. dazu auch Koch, Methodenlehre, S. 161. 206 Alexy, Zur Kritik des Rechtspositivismus, S. 10, Fn. 6. Siehe auch ders., Begriff und Geltung des Rechts, S. 41, Fn. 19: „Die Geltung eines Gebotes aber kann man bestreiten, ohne einen Widerspruch zu begehen, die Existenz einer begrifflichen Notwendigkeit nicht.“ 207 Alexy, Zur Kritik des Rechtspositivismus, S. 11. Siehe auch ders., Begriff und Geltung des Rechts, S. 41: „Der Nichtpositivist ist demgegenüber auf der Ebene der analytischen Argumente frei. […] Wenn es ihm gelingt, einen begrifflich notwendigen Zusammenhang darzutun, hat er den Streit bereits für sich entschieden.“

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

digen Zusammenhang zwischen Recht und Moral erscheint aber sehr fraglich.208 Schließlich könnte man irgendeinen notwendigen begrifflichen Zusammenhang zwischen Recht und Moral herstellen, ohne dass man daraus normative Folgerungen zöge.209 Entscheidend dürfte vielmehr sein, ob und ggf. welche normativen Folgen eine begrifflich notwendige Verbindung zwischen Recht und Moral haben soll. Um von dem Prinzipienargument auf einen begrifflich notwendigen Zusammenhang zwischen Recht und Moral zu schließen, bedarf es nach Alexy dreier Schritte, die allesamt auf einer Grundthese, dem Richtigkeitsargument beruhen, das den Anspruch des Rechts auf Richtigkeit widerspiegelt. Der Anspruch auf Richtigkeit sei ein notwendiges Element des Begriffs des Rechts. Normensysteme, die diesen Anspruch nicht explizit oder implizit erheben, seien keine Rechtssysteme.210 Im ersten Schritt führe die Inkorporationsthese zu der Annahme, dass in jedem zumindest minimal entwickelten Rechtssystem überhaupt Prinzipien gelten.211 Aus der Moralthese folge dann, dass die geltenden Prinzipien – wenn auch nicht die richtige – so doch zumindest überhaupt irgendeine Moral zum Ausdruck brächten.212 Diese Moral müsse sich, so der dritte Schritt in Form der Kohärenzthese, innerhalb des Rechtssystems als kohärent erweisen.213 Ziehe man nun den grundsätzlichen Anspruch des Rechts auf Richtigkeit hinzu, so folge daraus, dass sich in den Prinzipien auch die richtige Moral verwirklichen solle.214 Folgt man einem solchen begrifflichen Zusammenhang zwischen Recht und Moral, so stellt sich die Frage, wie sich der Anspruch auf Richtigkeit konkret auf das Recht auswirken soll. Zunächst könnte man meinen, der Anspruch auf Richtigkeit soll nur eine kritische Funktion haben und sich nicht auf die Geltung von Normen auswirken. Denn Alexy betont, der aus dem Prinzipienargument folgende Zusam208 Vgl. auch Ott, S. 173 f. Widersprüchlich Alexy, der in späteren Beiträgen – allerdings ohne Abgrenzung zu vorher vertretenen Positionen – die Bedeutung der begrifflichen Argumente nicht mehr als entscheidend ansieht, siehe Alexy, Bulygins Kritik, S. 236 f.; ders., Recht und Moral, S. 88. 209 Im einfachsten Fall würde man in dem positivierten Recht – schon begrifflich – die Moral des Gesetzgebers verorten, siehe Hoerster, S. 28. Vgl. auch Engländer, Diskurs, S. 139; Jestaedt, Abwägungslehre, S. 262. 210 Alexy, Begriff und Geltung, S. 62, 64 ff., ein Rechtssystem, das nicht auf Richtigkeit angelegt ist, sei ein performativer Widerspruch. Siehe auch ders., Recht und Richtigkeit, S. 7 ff. Vgl. dazu auch Mahlmann, S. 18, der für die Grundrechte konstatiert: „Ein Grundrechtskatalog aber, den ein Verfassungsgeber konstituiert, ohne den Anspruch zu erheben, die verfassten Rechte moralisch mit Rückgriff auf einen Begriff des Guten und Gerechten verteidigen zu können, ist kein wirklicher Grundrechtskatalog. Ein Grundrechtskatalog erwirbt seinen spezifischen Status nur, wenn in ihm der Anspruch moralischer Legitimität verkörpert ist.“ 211 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 121; ders., Zur Kritik des Rechtspositivismus, S. 21 ff. 212 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 126 ff.; ders., Zur Kritik des Rechtspositivismus, S. 23 f. 213 Alexy, Zur Kritik des Rechtspositivismus, S. 24 f. 214 Daran schließt sich der Verweis auf die Diskurstheorie als prozedurale Gerechtigkeitstheorie an, Alexy, Zur Kritik des Rechtspositivismus, S. 25 f.

B. Das Prinzipiendenken als Denken von der Moral her

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menhang zwischen Recht und Moral sei von qualifizierender Natur, d. h., ein Verstoß einer Rechtsvorschrift gegen die Moral führe nicht zum Verlust des Rechtscharakters, sondern nur dazu, dass sie eine rechtlich fehlerhafte Norm darstelle.215 Eine normative Folge soll sich daran in den Fällen „normaler“ Ungerechtigkeit aber nicht anschließen. Vielmehr sei die moralisch begründete rechtliche Fehlerhaftigkeit der Ausgangspunkt von Kritik, die – und das wäre die Folge der Verbindung von Recht und Moral – nicht mehr von außen, sondern aus dem Recht selbst komme.216 Damit hätte die moralische begründete Fehlerhaftigkeit des Rechts keine unmittelbaren normativen Folgen für die Rechtsanwendung. Die Frage nach moralischen Einflüssen auf das Recht stellt sich aber nicht nur im Hinblick auf die rechtliche Fehlerhaftigkeit von Normen. Sieht man Prinzipien als Optimierungsgebote an, die auf das gesamte Recht wirken und bei der Auslegung zu berücksichtigen sind, so sind gerade die Wirkungen von Prinzipien vor der Schwelle der Fehlerhaftigkeit von Normen relevant. Sollen also schon wegen des Anspruchs des Rechts auf Richtigkeit Prinzipien mit moralischem Gehalt wirken, die sich ggf. gegenüber positivierten Prinzipien durchsetzen können? Die Frage ist also, ob Alexy die von R. Dreier abgelehnte geltungstheoretische Version des Prinzipienarguments vertritt. Zu den Geltungsbedingungen von Prinzipien erfährt man allerdings wenig.217 In der „Theorie der Grundrechte“ heißt es dazu tautologisch: „Zur Prinzipienebene gehören alle für das grundrechtliche Entscheiden unter dem Grundgesetz relevanten Prinzipien. Ein Prinzip ist für das grundrechtliche Entscheiden relevant, wenn es zu Recht für oder gegen eine grundrechtliche Entscheidung angeführt werden kann. Kann es zu Recht angeführt werden, so gilt es. Darüber, welche Prinzipien in diesem Sinne gelten, ist Streit möglich. Von der Möglichkeit eines solchen Streits über die Geltung wird aus nahe liegenden Gründen weitaus weniger Gebrauch gemacht als von der Möglichkeit eines Streits über die abstrakten oder konkreten Gewichte von Prinzipien.“218 Welche Prinzipien gehören also zu Recht zum Recht? Auch wenn die Geltungsbedingungen von Prinzipien nicht weiter konkretisiert werden, liegt die Geltung moralischer Prinzipien nahe. Aus dem Richtigkeitsanspruch des Rechts folgert Alexy die Zulässigkeit moralischer Argumente im Rahmen 215 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 133; ders., Recht und Moral, S. 87 f.; ders., Bulygins Kritik, S. 235 f. 216 Alexy, Recht und Richtigkeit, S. 18: „Der Anspruch auf Richtigkeit hat hier zwar keine Auswirkungen auf den Rechtscharakter und die Rechtsgeltung, denn vor jener Schwelle bleibt ungerechtes Recht Recht, wenn es nur ordnungsgemäß gesetzt und sozial wirksam ist. Er taucht aber alles in ein anderes Licht. Ungerechte Urteile können nicht mehr als zwar leider moralisch bedenklich, aber doch rechtlich perfekt oder meisterlich bezeichnet werden. Sie sind auch rechtlich fehlerhaft. Damit ist das Recht nicht nur von außen her moralischer Kritik zugänglich. Die kritische Dimension wird vielmehr in das Recht selbst verlegt.“ 217 Kritisch insoweit auch Jestaedt, Abwägungslehre, S. 261 ff. 218 Alexy, Grundrechte, S. 117; ähnlich ders., Rechtsprinzip, S. 197 f.; ders., Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, S. 21 f.

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

der juristischen Argumentation. Ausgangspunkt dafür ist wiederum die Offenheit des Rechts: „Im Offenheitsbereich des positiven Rechts kann definitionsgemäß nicht aufgrund des positiven Rechts entschieden werden, denn wenn aufgrund des positiven Rechts entscheiden werden könnte, befände man sich nicht im Offenheitsbereich.“219 In diesem Bereich bleibe nur der Rückgriff auf nichtrechtliche Maßstäbe: „In Frage kommen allgemeine Zweckmäßigkeitserwägungen, tradierte und verbreitete Vorstellungen des Guten und Bösen und Gerechtigkeitserwägungen, kurz: Zweckmäßigkeit, Sitte und Moral.“220 Die Rechtspflicht ihrer Beachtung folge aber nur aus ihrer inhaltlichen Richtigkeit: „Die Richtigkeit und sonst nichts holt sie ins Recht. Ihre argumentative Kraft ist ausschließlich nichtinstitutioneller Art.“221 Die moralischen Argumente – unter Vorbehalt ihrer Richtigkeit – erfüllen aber nicht nur eine Lückenschließungsfunktion. Alexy unterscheidet zwischen Argumenten, die unmittelbar oder mittelbar auf das positive Recht gestützt werden können (institutionelle Argumente), und allgemein praktischen Argumenten, die ihre Kraft allein aus ihrer inhaltlichen Richtigkeit ziehen (substantielle Argumente). Zum Rangverhältnis von institutionellen und substantiellen Argumenten heißt es: „Die Diskurstheorie des Rechts führt, wie dargelegt, zur Notwendigkeit der Institutionalisierung eines Rechtssystems. Das impliziert die Autorität des positiven Rechts. Eine nach den Kriterien der Diskurstheorie gelungene Institutionalisierung schließt die Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates ein, u. a. die der Demokratie, der Gewaltenteilung und des Rechtsstaates. Das durch diese Prinzipien gestützte Prinzip der Autorität des positiven Rechts fordert einen Vorrang der institutionellen vor den substantiellen Gründen. Dieser Vorrang ist allerdings nur ein prima facie-Vorrang. Substantielle Gründe können in einzelnen Fällen ein so großes Gewicht haben, dass sie institutionellen vorgehen. Das entspricht nicht nur der überwiegenden Praxis und einer verbreiteten Meinung. Es lässt sich auch systematisch rechtfertigen. Wenn das Rechtssystem als Ganzes den Versuch darstellt, praktische Vernunft zu realisieren, dann bleibt die Spannung zwischen Autorität und inhaltlicher Richtigkeit in allen seinen Verästelungen erhalten. Die Tatsache, dass institutionelle Argumente nur einen prima facie-Vorrang genießen, bedeutet, dass die juristische Argumentation auch dann, wenn institutionelle Argumente zu einem bestimmten Ergebnis führen, von substantieller oder allgemeiner praktischer Argumentation abhängig bleibt.“222 Mit dieser Gewichtung wird deutlich, dass substantielle, also moralische Argumente einen Geltungsvorrang gegenüber dem positivierten Recht und damit auch gegenüber positivierten Prinzipien einnehmen können. Die oben ausgeführte zurückhaltende Formulierung, der Richtigkeitsanspruch bewirke – in kritischer Funktion – nur 219

Alexy, Recht und Richtigkeit, S. 13. Alexy, Recht und Richtigkeit, S. 14. 221 Alexy, Recht und Richtigkeit, S. 16. Kritisch Engländer, Rechtspositivismus, S. 474: „Zu beachten ist allerdings, dass die Tatsache, dass das positive Recht überhaupt Prinzipien enthält, nicht gleichbedeutend damit ist, dass alle zur Entscheidung herangezogenen Prinzipien – wie Alexy anscheinend meint – dem positiven Recht inkorporiert sind.“ 222 Alexy, Rationaler Diskurs, S. 121. 220

B. Das Prinzipiendenken als Denken von der Moral her

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eine rechtliche Fehlerhaftigkeit, wird damit aufgegeben. Daraus kann nur gefolgert werden, dass das Prinzipiendenken im Sinne Alexys die Geltung moralischer Prinzipien einschließt. Das Prinzipiendenken wird damit geöffnet für eine Vielzahl moralischer Erwägungen. Grund für die Öffnung gegenüber der Moral ist aber nicht schon der Normtyp der Prinzipien, sondern der Richtigkeitsanspruch des Rechts. Diesen Richtigkeitsanspruch des Rechts muss man jedoch nicht teilen, zumindest nicht, soweit er über einen positiv-rechtlichen Richtigkeitsanspruch hinausgeht.223 2. Das Unrechtsargument Die bisher beschriebenen moralischen Einflüsse betreffen den „juristischen Alltag“, d. h. sie beziehen sich auf diejenigen vermeintlichen moralischen Einbruchstellen, die jedem positiven Rechtssystem wegen seiner offenen Struktur immanent sein sollen.224 Folgt man der hier vertretenen Skepsis an der Notwendigkeit und Schlüssigkeit, letzte Unbestimmtheiten der Rechtsanwendung durch moralische Erwägungen zu schließen, so wäre damit aber noch nicht über eine andere Fallgruppe entschieden, nämlich die des extremen Unrechts. Diese Fallgruppe bezieht sich zugleich auf die Frage nach den Grenzen der Abwägung. Die Auswertung des Werteordnungs- und Prinzipiendenkens hat gezeigt, dass die Grenzen der Abwägung nicht schon durch die Betroffenheit der Menschenwürde erreicht sind.225 Grenzen der Abwägung könnten sich aber aus der Regelebene des Rechts ergeben, insbesondere aus Verfassungsregeln. Ohne Grenzen auf der Regelebene würde sich das Prinzipiendenken einem reinen Prinzipienmodell annähern.226 Führt nun das Unrechtsargument zu einer Überwindung von Abwägungsgrenzen? a) Relativierung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes Nach dem Unrechtsargument soll eine Trennung zwischen Recht und Moral in denjenigen Fällen versagen, in denen das positive Recht extremes Unrecht vorsieht.227 Das Unrechtsargument, wie es in Form der Radbruchschen Formel vertreten

223 Engländer, Rechtspositivismus, S. 444 ff., der herausstellt, dass Alexy einen moralischen Richtigkeitsanspruch voraussetzt, ohne diesen von einem positiv-rechtlichen Richtigkeitsanspruch, der sich auf das normtextkonforme Entscheiden bezieht, abzugrenzen; ders., Diskurs, S. 89 ff., 136 ff. 224 Alexy, Recht und Richtigkeit, S. 13 f. und oben S. 130. 225 Siehe oben S. 58 und S. 83. 226 Siehe oben S. 108. 227 Das Unrechtsargument kann sich auf einzelne Normen eines Rechtssystems beziehen mit der Folge, dass Normen bei Überschreiten einer bestimmten Schwelle des Unrechts ihren Rechtscharakter verlieren oder auf ein Rechtssystem als Ganzem, siehe Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 70 ff. Siehe auch R. Dreier, Der Begriff des Rechts, S. 891 f.

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

wird,228 hebt demnach eine strikte Trennung zwischen Recht und Moral auf. Dies sei notwendig, um einem minimalen Gerechtigkeitsanspruch des Rechts zu genügen.229 Alexy beruft sich insofern wiederum auf das Richtigkeitsargument, wonach sowohl einzelne Rechtsnormen und einzelne rechtliche Entscheidungen als auch Rechtssysteme im Ganzen notwendig einen Anspruch auf Richtigkeit erheben.230 Die gegen das Unrechtsargument erhobenen Einwände sind vielfältig.231 An dieser Stelle soll jedoch keine allgemeine Diskussion des Unrechtsarguments erfolgen.232 Für die vorliegende Untersuchung kommt es lediglich darauf an, ob die Anwendung des Unrechtsarguments im Rahmen des Prinzipiendenkens überzeugen kann. Die im Hinblick auf das Unrechtsargument problematischen Fallkonstellationen betreffen das strafrechtliche Rückwirkungsverbot (Unrechtsregime).233 Die Norm des Art. 103 Abs. 2 GG, wonach eine Strafbarkeit nur erfolgen kann, wenn zur Zeit der Begehung ein Gesetz bestand, ist nicht graduell, sondern nur entweder erfüllbar oder nicht erfüllbar, so dass nach der strukturellen Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien insofern von einer Regel, genauer einer Verfassungsregel auszugehen ist.234 Nach der Prinzipientheorie kommt den Regeln der Verfassung zwar ein Vorrang vor den Prinzipien der Verfassung zu, doch handelt es sich insofern nur um einen 228

Radbruch, S. 345 f.: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“ Zur Radbruchschen Formel siehe auch Hoffmann, S. 32 ff., 260 ff., zur Rezeption der Radbruchschen Formel in der Rechtsprechung siehe dies., S. 46 ff., 67 ff., 84 ff., 171 ff. 229 R. Dreier, Der Begriff des Rechts, S. 891 und S. 896: „Recht ist die Gesamtheit der Normen, die zur Verfassung eines staatlich organisierten oder zwischenstaatlichen Normensystems gehören, sofern dieses im großen und ganzen sozial wirksam ist und ein Minimum an ethischer Rechtfertigung oder Rechtfertigungsfähigkeit aufweist, und der Normen, die gemäß dieser Verfassung gesetzt sind, sofern sie, für sich genommen, ein Minimum an sozialer Wirksamkeit oder Wirksamkeitschance und ein Minimum an ethischer Rechtfertigung oder Rechtfertigungsfähigkeit aufweisen.“ 230 Siehe oben S. 128. 231 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 72 ff. unterscheidet zwischen Sprach-, Klarheits-, Effektivitäts-, Rechtssicherheits-, Relativismus-, Demokratie-, Unnötigkeits- und dem Redlichkeitsargument, siehe dazu auch ders., Zur Verteidigung des nichtpositivistischen Rechtsbegriffs, S. 92 ff.; Engländer, Zur begrifflichen Möglichkeit des Rechtspositivismus, S. 455 ff. 232 Siehe dazu Ott, S. 193 ff.; Hoffmann, S. 260 ff. 233 Ebenfalls kommen rückwirkende Gesetze außerhalb des Strafrechts in Betracht, um mit gesetzlichem Unrecht umzugehen, vgl. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 100 f.; Engländer, Rechtspositivismus, S. 459 ff. 234 Alexy, Grundrechte, S. 92 f. und oben 2. Teil, A. II. 3. a), Fn. 85.

B. Das Prinzipiendenken als Denken von der Moral her

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prima-facie-Vorrang. Regeln, wie z. B. die Schrankenregelung des Art. 12 Abs. 1 GG, können unter Zugrundelegung des Prinzips der Berufsfreiheit relativiert werden.235 Fraglich ist, ob auch eine Verfassungsregel wie die des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes auf diese Weise einschränkbar ist. Alexy bejaht diese Frage hinsichtlich der Verurteilung der Mauerschützen der DDR und stimmt damit (im Ergebnis) mit der Entscheidung des BVerfG236 überein.237 Zwar handele es sich bei der Norm des Art. 103 Abs. 2 GG um eine absolute oder strikte Norm, doch könne man unterscheiden zwischen unbedingten und bedingten absoluten Normen.238 Um eine bedingte absolute Norm handele es sich bei Art. 103 Abs. 2 GG, wenn es um die Behandlung von extremen Unrecht gehe. In diesem Fall sei die Einfügung einer Ausnahmeklausel notwendig.239 Bei der Abwägung zwischen Vertrauensschutz und materieller Gerechtigkeit überwiege zwar in der Regel der Vertrauensschutz, doch in Fällen, in denen – wie hier – Rechtfertigungsgründe eines Unrechtsstaates extremes Unrecht deckten, falle die Abwägung zugunsten der materiellen Gerechtigkeit aus. Dadurch sei der strikte Charakter nicht aufgehoben, vielmehr sei die Norm durch eine Ausnahmeklausel eingeschränkt worden.240 Einen Verstoß gegen den Wortlaut der Verfassung bzw. gegen Art. 79 Abs. 1 GG lehnt Alexy mit der Begründung ab, dass auch uneinschränkbare Grundrechte nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eingeschränkt werden könnten. Dies sei Ausdruck der systematischen Interpretation unter Berücksichtigung der Einheit der Verfassung. Der gegenläufige Verfassungswert des Art. 103 Abs. 2 GG sei der Wert der materiellen Gerechtigkeit. Dieser sei zwar in erster Linie durch den Gesetzgeber auszufüllen, könne aber unter extremen Umständen – wie hier – auch unabhängig davon eine einschränkende Wirkung entfalten und rechtfertige die Außerachtlassung der nach dem DDR-Recht bestehenden Rechtfertigungsgründe.241 Solch eine Relativierung von Verfassungsregeln ist aber problematisch. Sie birgt die Gefahr, den eigenen Willen über den des Verfassungsgesetzgebers zu stellen. Nach der Vorrangregel für Verfassungsregeln sind letztlich alle Verfassungsregeln – wiegen die Prinzipiengründe nur schwer genug – einschränkbar. Die Plausibilität der Regeleinschränkung, wie sie im Apothekenurteil des BVerfG sichtbar geworden ist, 235

Alexy, Grundrechte, S. 122 mit Verweis auf BVerfGE 7, 377, 401 (Apothekenurteil), dazu bereits oben S. 82 f. 236 BVerfGE 95, 96, 133 (Mauerschützen) und oben S. 74 ff. 237 Alexy, Beschluss des BVerfG. Vgl. aber auch schon vorher ders., Mauerschützen (1993), das Mauerschützenurteil des BGH v. 3. 11. 1992 (NJW 1993, S. 141 ff.) im Ergebnis bestätigend. 238 Alexy, Beschluss des BVerfG, S. 23. 239 Alexy, Beschluss des BVerfG, S. 23: „Es lässt Art. 103 Abs. 2 GG als Regel bestehen und fügt in diese Regel eine klar definierte Ausnahmeklausel ein: die des speziellen Rechtfertigungsgrundes eines Unrechtsstaates, der extremes Unrecht deckt.“ 240 Alexy, Beschluss des BVerfG, S. 24. 241 Alexy, Beschluss des BVerfG, S. 25.

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

muss aber nicht gleichermaßen für den Fall des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes gelten. Im Apothekenurteil hat das BVerfG überzeugend dargelegt, dass es „der Lebenswirklichkeit nicht entsprechen und deshalb auch rechtlich nicht zu einleuchtenden Ergebnissen führen“ würde, wenn man „dem Gesetzgeber jeden Eingriff in die Freiheit der Berufswahl schlechthin verwehren wollte“.242 Danach wäre die Regel über die Einschränkung der Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG mit ihrem Ausschluss der Berufswahlfreiheit nicht unter Berücksichtigung aller relevanten tatsächlichen und rechtlichen Umstände festgelegt worden. Dieser Fall ist aber nicht ohne weiteres mit der Verfassungsregel des Art. 103 Abs. 2 GG vergleichbar. Die Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers, die Strafbarkeit auszuschließen, wenn sie zum Zeitpunkt der Tatbegehung nicht gesetzlich bestimmt war, dürfte demgegenüber auf einer bewussten Abwägung der betroffenen Prinzipien beruhen.243 Dass damit eine strikte Geltung verfolgt wurde, zeigt der Vorbehalt der Bundesrepublik Deutschland zur EMRK, den Art. 7 mit seiner Ausnahme zugunsten einer Strafbarkeit nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der zivilisierten Völker nur im Rahmen des Art. 103 Abs. 2 GG anzuwenden.244 Und auch im Zuge der Wiedervereinigung hat der Verfassungsgesetzgeber keine abweichende Regelung für den Umgang mit DDR-Straftaten getroffen.245 Wenn man also davon ausgehen muss, dass sich der Verfassungsgesetzgeber für eine strikte Norm ohne Ausnahmeklausel entschieden hat, so ist nicht nachvollziehbar, warum Prinzipien auch in solch einem Fall eine relativierende Kraft zukommen sollte.246 242

BVerfGE 7, 377, 401 (Apothekenurteil). Ähnlich Engländer, Rechtspositivismus, S. 468; H. Dreier, Mauerschützen, S. 432; ebenso Hoffmann, S. 206, die eine Einschränkung zugunsten der materiellen Gerechtigkeit aber trotzdem nicht ausschließt. 244 Siehe dazu im Vergleich die Regelung des Art. 7 EMRK: „(1) Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. […] (2) Dieser Artikel schließt nicht aus, dass jemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war.“ Zum Vorbehalt der Bundesrepublik Deutschland zu Art. 7 EMRK siehe die Bekanntmachung über das Inkrafttreten der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 15. 12. 1953, BGBl. 1954 II, S. 14. 245 Siehe oben S. 75. 246 Kritisch auch Engländer, Rechtspositivismus, S. 468: „Wenn der Verfassungsgeber sich klar für eine absolute Geltung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes entschieden hat […], ist für eine richterliche Abwägung gegenläufiger Prinzipien eben kein Raum mehr. […] Wenn Alexy hingegen auf der Ebene der Rechtsprechung eine Prinzipienabwägung zur Einschränkung der Geltung von Art. 103 Abs. 2 GG heranzieht, zeigt sich ein Problem seines später noch zu erörternden Prinzipienmodells. Damit instrumentalisiert er nämlich dieses Modell für eine naturrechtlich inspirierte und methodisch gerade nicht mehr rational kontrollierbare Überspielung des Normtextes dieses Grundrechts.“ Zur Vorzugswürdigkeit einer Verfassungsänderung gegenüber der richterlichen Aufweichung des Rückwirkungsverbotes Schlink, Rechtsstaat, S. 437; Pieroth, S. 104; H. Dreier, Mauerschützen, S. 433; Ott, S. 206, der aber in nicht strafrechtlichen Fällen die Anwendung der Radbruchschen Formel bejaht, ebda, S. 198 f. 243

B. Das Prinzipiendenken als Denken von der Moral her

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Die Relativierung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes lässt sich jedenfalls nicht schon begrifflich rechtfertigen. Der Verweis Alexys auf die Möglichkeit einer unbedingten und einer bedingten absoluten Geltung von Normen kann nicht überzeugen. Diese Konstruktion entspricht zwar dem Versuch des BVerfG, die strikte Geltung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes trotz Einfügung einer Ausnahme aufrecht zu erhalten.247 Durch die Einfügung einer Bedingung wird die strikte Geltung einer Norm aber gerade aufgehoben, sie gilt dann für bestimmte Fälle eben nicht. So ändert die Rede von einer bedingten absoluten Geltung nichts daran, dass der Vorbehalt des extremen Unrechts die strikte Geltung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes aufhebt. Somit bleibt lediglich die Berufung auf ein selbständiges Prinzip der materiellen Gerechtigkeit. Das Argument der materiellen Gerechtigkeit folgt aber nicht schon aus dem Prinzipiendenken, sondern aus dem Unrechtsargument selbst, das für den Fall des extremen Unrechts eine Durchbrechung des Rechts für überpositive Gerechtigkeitserwägungen fordert. Die Verbindung zwischen Prinzipiendenken und Unrechtsargument ist hingegen nicht zwingend. Im Gegenteil könnte man vertreten, dass ein Prinzipiendenken, das die (Verfassungs-)Regelebene des Rechts ernst nimmt bzw. diese – wie nach Alexy – sogar durch ein formelles Prinzip zu optimieren und sichern versucht, die Anwendung des Unrechtsarguments ausschließt, um zu verhindern, dass die Regelebene durch allgemeine Gerechtigkeitserwägungen ausgehöhlt wird. b) Relativierung weiterer Verfassungsregeln Lässt man den Verweis auf die materielle Gerechtigkeit als einem selbständigen Prinzip – wie hier über das Unrechtsargument – zu, so steht die Geltung der Verfassungsregeln stets unter dem Vorbehalt der Moral. Dabei ist nicht ersichtlich, wie der Umfang der moralischen Argumente beschränkt werden sollte, denn die Vorstellungen über das Vorliegen extremen Unrechts dürften je nach Moral- und Gerechtigkeitsvorstellung sehr unterschiedlich ausfallen. Darüber hilft auch nicht die Erkenntnisregel Alexys, „je extremer die Ungerechtigkeit, desto sicherer ihre Erkenntnis“248 hinweg.249 Vielmehr nähert sich die Prinzipientheorie einem reinen Prinzipienmodell des Rechtssystems an, in dem die Regelebene nur den Ausgangspunkt der Argumentation darstellt, im Übrigen aber durch überwiegende Prinzipiengründe jeglichen Relativierungen unterliegt.

247

Siehe oben S. 74 f. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 91. Ähnlich Hoffmann, S. 242, wonach der Einsatz der Radbruchschen Formel wegen der unsicheren Feststellung extremen Unrechts zwar eine Gratwanderung bedeutet, die Radbruchsche Formel die Vagheit jedoch mit jeder anderen Generalklausel teilt. 249 Zu der damit verbundenen Frage, ob es einen objektiv vorgegebenen und erkennbaren normativen Bezugspunkt bzw. eine kognitivistische Moralbegründung überhaupt geben kann, Engländer, Rechtspositivismus, S. 469 ff. 248

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

Vom Unrechtsargument ist es dann nicht mehr weit zum Argument der „juristischen Ausnahmesituation“. Die Art und Weise dieser Argumentation zeigt die Mauerschützen-Entscheidung des BVerfG.250 Dort wurde die absolute Geltung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes unter die Bedingung des „Normalfalls“ gestellt und für den Ausnahmefall der Anwendung von DDR-Strafrecht abgelehnt.251 Insofern ist nicht nur bedenklich, ob man in dieser vorhersehbaren Situation mit handlungsfähigem Verfassungsgesetzgeber überhaupt von einer Ausnahmesituation ausgehen kann. Die Argumentation eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit, jede Verfassungsnorm unter den Vorbehalt des Normalen zu stellen.252 Von der Ausnahmesituation her gedacht dürfte so manche Verfassungsregel ins Wanken geraten können, sei es das Verbot der Todesstrafe, Art. 102 GG, oder das Folterverbot, Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG.253 Für deren Relativierungen ließen sich neben dem Schutz anderer Grundrechtsträger vor allem auch moralische Erwägungen ins Feld führen. Die Möglichkeit einer Relativierung von Verfassungsregeln wird dabei nicht – wie Borowski meint – praktisch dadurch ausgeschlossen, dass die besonders hohen Rechtfertigungsanforderungen der Prinzipientheorie beispielsweise für die Zulässigkeit der Rettungsfolter kaum erfüllbar wären.254 Ausgehend von dem Grundsatz Alexys, je schwerer ein Eingriff in ein Grundrecht wiegt, desto 250

BVerfGE 95, 96 (Mauerschützen) und oben S. 74 ff. Siehe oben S. 75. 252 Bedenklich ist insoweit auch die Relativierung, die das BVerfG jüngst im Hinblick auf den Schrankenvorbehalt der allgemeinen Gesetze gemäß Art. 5 Abs. 2 GG vorgenommen hat, vgl. BVerfG NJW 2010, S. 47 ff. (Wunsiedel). Der Senat erkennt an, dass es sich bei § 130 Abs. 4 StGB, der die Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft unter besonderen Umständen unter Strafe stellt, nicht um ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG handelt, da die Vorschrift allein auf Meinungsäußerungen gerichtet sei, die eine bestimmte Haltung zum Nationalsozialismus ausdrücken. Zugleich hält es aber eine Ausnahme vom Schrankenvorbehalt der allgemeinen Gesetze für geboten, soweit es um Gesetze geht, die gegen die propagandistische Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft gerichtet sind, vgl. ebda, S 51: „Vor diesem Hintergrund entfaltet die propagandistische Gutheißung der historischen nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft mit all dem schrecklichen tatsächlich Geschehenen, das sie zu verantworten hat, Wirkungen, die über die allgemeinen Spannungslagen des öffentlichen Meinungskampfes weit hinausgehen und allein auf der Grundlage der allgemeinen Regeln zu den Grenzen der Meinungsfreiheit nicht erfasst werden können. Die Befürwortung dieser Herrschaft ist in Deutschland ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens nach innen mit friedensbedrohendem Potential. […] Dieser geschichtlich begründeten Sonderkonstellation durch besondere Vorschriften Rechnung zu tragen, will Art. 5 Abs. 2 GG nicht ausschließen.“ Das BVerfG beruft sich ausdrücklich nicht auf ein „antinationalsozialistisches Grundprinzip“ der Verfassung, sondern nimmt insoweit eine „einzigartige Konstellation“ an, für die das Allgemeinheitserfordernis des Art. 5 Abs. 2 GG keine Geltung beanspruchen könne. 253 In die Richtung des Denkens vom Ausnahmezustand argumentieren Elsner/Schober, S. 284 f., allerdings mit der Einschränkung, den Ausnahmefall nicht im Schmittschen Sinne zum Maß aller Dinge machen zu wollen. Die Grenzen dürften aber fließend sein, wenn mit dem Ausnahmeargument Verfassungsregeln in Frage gestellt werden. 254 Zur Diskussion von Relativierungen des Folterverbote vgl. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 47, 51 (m.w.N.), 95 zu Art. 1, Stand 2009. 251

B. Das Prinzipiendenken als Denken von der Moral her

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größer muss die Gewissheit der den Eingriff tragenden Prämissen sein,255 schlussfolgert Borowski: „Bei intensiven Eingriffen werden die Anforderungen an die Sicherheit der Erkenntnis der empirischen und normativen Prämissen auf der Schrankenseite derart hoch, dass sie praktisch nicht zu erfüllen sind.“256 Dass der Eintritt dieser Gewissheitsbedingungen praktisch ausgeschlossen sein soll, überzeugt jedoch nicht. Bei entsprechendem Verhalten des Täters könnten die Gewissheitsanforderungen an die Voraussetzungen der Rettungsfolter (das Opfer lebt noch, wird aber unversorgt demnächst sterben; ohne Auskunft der Täters kann Opfer nicht gefunden werden; Täter könnte Opfer retten) ohne weiteres erfüllt sein. Es muss daher vielmehr befürchtet werden, dass die verfassungstheoretische Relativierbarkeit von Verfassungsregeln auch praktisch relevant werden kann. Das Unrechtsargument bereitet den Weg für die Argumentation vom Ausnahmefall her und bietet durch die Öffnung für moralische Argumente vielfältige Möglichkeiten, die Regeln der Verfassung zu relativieren. Solch ein Prinzipiendenken schützt nicht davor, in den Dienst jeglicher, z. B. auch einer utilitaristischen Moral, genommen zu werden. In diese Richtung weist z. B. die Auffassung von Depenheuer, im Falle terroristischer Bedrohungen von einer Grundpflicht des Bürgeropfers bzw. von einem Bürgeropfer als Ausdruck der Menschenwürde auszugehen.257

IV. Ergebnis Die Ungewissheiten über Rationalität und Grenzen der Werteordnung konnten mithilfe der Prinzipientheorie in der rechtsphilosophischen Einbettung von Alexy nicht beseitigt werden. Der zunächst vorherrschende Eindruck, der Offenheit des Rechts werde durch Prinzipienbindung rechtlich begegnet, im Gegensatz zu positivistischen Auffassungen, die insofern freies richterliches Ermessen vorsehen, hat sich nicht bestätigt. Dies ist vor allem deswegen überraschend, als Alexy die Rationalität der Prinzipientheorie zunächst in vielerlei Hinsicht überzeugend dargelegt hat. So konnten die Abwägungsvorgänge durch die Strukturierung der Verhältnismäßigkeitsprüfung und der Begründungsanforderungen im Rahmen der Angemessenheitsprüfung nachvollziehbar gemacht werden. Dass dabei Wertungen erforderlich sind – wie etwa auch bei juristischen Subsumtionen – rechtfertigt nicht schon den Vorwurf des Irrationalen. Insbesondere mit der Spielraumdogmatik hat Alexy einen Weg gewiesen, wie Ergebnisunsicherheiten – etwa in einer Abwägungspattsituation oder bei Erkenntnisunsicherheiten hinsichtlich tatsächlicher Auswirkungen eines Gesetzes – aufgelöst werden können, nämlich kompetenziell, z. B. durch Zuweisung eines Entscheidungsspielraums an den Gesetzgeber. Doch wird dieser Ansatz nicht konsequent weiterverfolgt. Der Verrechtlichungsgewinn durch die 255 256 257

Siehe dazu oben 2. Teil, A. II. 3. c), Fn. 110. Borowski, S. 99 ff. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaats, S. 96 ff.

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2. Teil: Die Verfassung als Werteordnung

Bindung an Prinzipien wird dadurch zunichte gemacht, dass Alexy zugleich eine durch Prinzipienabwägungen begründete Offenheit des Rechts betont. Die Ergebnisunsicherheit der Prinzipienbindung soll notwendig in einen allgemein praktischen Diskurs führen, der die Anwendung der Diskurstheorie des Rechts notwendig macht. Darüber hinaus stellt Alexy das Recht durch das Prinzipien- und das Unrechtsargument unter den Vorbehalt der Moral. Ausgehend vom Richtigkeitsanspruch des Rechts besteht die Möglichkeit, dass sich moralische (substantielle) Argumente über (institutionelle) Argumente des positivierten Rechts hinwegsetzen können. Dies schließt eine geltungstheoretische Version des Prinzipienarguments ein, wonach auch überpositive moralische Prinzipien notwendig zum Recht gehören. Während über das Prinzipienargument moralische Prinzipien im juristischen Alltag zur Anwendung kommen, betrifft das Unrechtsargument den besonderen Fall des extremen Unrechts. Auch dieses verzahnt Alexy mit der Prinzipientheorie und verschafft damit dem Argument der überpositiven materiellen Gerechtigkeit eine Geltung, die die Verfassungsregel des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes relativieren kann. Mit dieser Argumentation stehen aber auch weitere Verfassungsregeln in Frage, je nach Stärke der Gerechtigkeitsgründe im Extrem- oder Ausnahmefall. Der juristische Diskurs wird damit unter den Vorbehalt des moralischen Diskurses gestellt, dessen Grenzen nicht absehbar sind. Solange man sich moralischer Erkenntnis aber nicht gewiss sein kann, gefährdet der Moralvorbehalt gegenüber der Verfassung – unter dem Anschein des Richtigen – die Rationalität von Entscheidungen. Wer die Entscheidungskompetenz hat, kann mithilfe des Moralvorbehalts an die Stelle einer (verfassungs-)rechtlich rückgebundenen Moral die eigene Moral setzen. Die damit verbundenen Gefahren für die Normativität der Verfassung legen es nahe zu prüfen, ob mit dem Verständnis der Verfassung als Rahmenordnung eine überzeugende Alternative zum Werteordnungs- und Prinzipiendenken vorliegt.

Dritter Teil

Die Verfassung als Rahmenordnung am Beispiel Ernst-Wolfgang Böckenfördes Rahmenordnungstheorie Im Gegensatz zum Werteordnungsverständnis als extensiver Verfassungstheorie kommt das Rahmenordnungsverständnis als ein restriktives Verfassungsverständnis in Betracht. Der Begriff der Rahmenordnung ist geeignet, eine zurückgenommene und begrenzte Bedeutung der Verfassung zu bezeichnen. So wird der Begriff der Rahmenordnung ganz allgemein dazu verwendet, die Bedeutung des politischen Gestaltungsspielraums zu betonen. Grimm führt insoweit aus: „Als gesetztes Recht ist es [erg.: das positive Recht] änderbar und änderungsbedürftig, und Politik hat die Aufgabe, es auf wechselnde Lagen und Anforderungen einzustellen. Dazu sind Gestaltungsspielräume nötig, die eine Verfassung eröffnen muss. Demgegenüber würde eine lückenlos gedachte Verfassung die Politik auf Verfassungsvollzug festlegen und damit letztlich in Verwaltung auflösen. Aus diesem Grund kann die Verfassung von vornherein nur eine Rahmenordnung bilden, die politische Entscheidungen ermöglichen, nicht erübrigen soll. Verfassungen, die die Verrechtlichung der Politik zu weit treiben, legen selbst den Grund ihrer Umgehung oder Missachtung. Verfassungsperfektionismus schlägt in Verfassungsirrelevanz um.“1 Namentlich gegen ein extensives, auf Optimierung von Verfassungsprinzipien angelegtes Verfassungsverständnis bringt z. B. Wahl das Rahmenordnungsverständnis in Stellung: „Beim Verständnis der Verfassung als Rahmenordnung wird der Prozess des Auffüllens der Verfassungsnormen durch die fortschreitende Judikatur dagegen früher gestoppt. […] Ein Rahmenverständnis heißt, bewusst Gestaltungsspielräume aufzudecken und zu formulieren; was innerhalb des Rahmens liegt, ist als eine Alternative von mehreren möglichen zu verstehen. Eine als Rahmen verstandene Verfassungsnorm als Maßstab für ein Gesetz einzusetzen, richtet das Urteil nicht darauf, ob der Mittel-, der Höhe- oder Optimalpunkt getroffen ist, sondern ob das konkrete Gesetz ebenso ,innerhalb des Rahmens‘ liegt, wie es andere Ausgestaltungen auch könnten. […] Folgenreich ist also der unterschiedliche Denkstil der beiden Konzepte, der unlösbar mit unterschiedlichen Verständnissen der Verfassung verbunden ist.“2 Welche konkreten inhaltlichen Folgen und Gefahren mit dem 1

Grimm, Verfassung, S. 17. Wahl, Vorrang, S. 507. Auf eine durch Optimierung gefährdete Rahmenverfassung verweisen insbesondere auch Starck, Verfassungsauslegung, § 164 Rn. 5 ff.; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1038 f.; Badura, § 159 Rn. 33; Hain, Grundsätze, S. 182 ff.; Roth, 2

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

Verständnis der Verfassung als Rahmenordnung verbunden sind oder verbunden sein können, soll hier anhand der Rahmenordnungstheorie von Böckenförde expliziert werden. Böckenförde wird als prominentester Verfechter des Rahmenordnungsverständnisses bezeichnet,3 einer der wichtigsten diskursiven Vertreter ist er aufgrund seiner „Doppelrolle“ als wissenschaftlicher Begründer der Rahmenordnungstheorie4 und als praktizierender Verfassungsrichter in jedem Fall.

A. Annäherungen an die Rahmenordnungstheorie Die Forderung nach einer restriktiven Verfassungstheorie steht jedoch nicht für sich allein. Sie erklärt sich zunächst aus einer kritischen Auseinandersetzung mit einer extensiven Verfassungstheorie und Verfassungsauslegung, wie sie vom BVerfG entwickelt worden ist. Ein früher Gegner der Werteordnungsrechtsprechung ist Ernst Forsthoff, der seine Kritik an der „Umbildung des Verfassungsgesetzes“ besonders prägnant formuliert und den Weg für ein Rahmenordnungsverständnis der Verfassung bereitet hat.5

I. Die Methodenkritik von Forsthoff 1. „Die Umbildung des Verfassungsgesetzes“ – 1959 Forsthoff wendet sich gegen die geisteswissenschaftlich-werthierarchische Methode im Verfassungsrecht. In ihr sieht er einen Angriff auf die Verfassung in ihrer Form als Gesetz. Die Verfassung werde als Gesetz nicht ernst genommen, sondern sei vielmehr in Auflösung begriffen.6 Darin liege zugleich eine Gefährdung der S. 570 ff.; Reimer, S. 106 ff., der allerdings die Frage nach der Verfassung als Prinzipienmodell offenlässt. 3 Ehlers, S. 5 f.; H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 51; Breuer, S. 51; auch Manterfeld behandelt schwerpunktmäßig Böckenförde als einen Vertreter limitierender Verfassungstheorie. 4 So Böckenförde, Schutzbereich, S. 186, Fn. 86, selbst. 5 Forsthoff, Umbildung, S. 35 ff. Vgl. dazu auch die Selbsteinschätzung Forsthoffs zu seinem Aufsatz in einem Brief an Carl Schmitt v. 5. 6. 1958, Forsthoff, Briefwechsel, S. 136: „Ich habe zu dem Buch eine Analyse der heutigen Verfassungsinterpretation, vor allem durch das BVerfG, beigesteuert, von der ich aus guten Gründen vermute, dass sie auf Seiten der Betroffenen erbitterte Reaktionen auslösen wird, vor allem mit der These, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit, wie wir sie haben, das Verfassungsrecht systematisch verunsichert. […] Es gibt zwei Dinge, von denen mich eindeutig zu distanzieren ich ein unabweisliches Bedürfnis habe: den Sozialstaat und die heutige Verfassungsinterpretation, wie sie insbesondere das Bundesverfassungsgericht praktiziert.“ Seine methodische Kritik bekräftigt Forsthoff u. a. in: Introvertierter Rechtsstaat, S. 178 ff.; Verfassungsauslegung, S. 27 ff.; Industriegesellschaft, S. 67 ff., 140 ff., 148 ff. 6 Forsthoff, Umbildung, S. 41 f., 59.

A. Annäherungen an die Rahmenordnungstheorie

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Rechtsstaatlichkeit, denn die Rechtsstaatlichkeit zeige sich gerade in der Formalisierung der Verfassung als Gesetz.7 Die Hauptursache für die „moderne“ Verfassungsauslegung sieht Forsthoff in der Anwendung der Verfassungsmethode von Rudolf Smend. Smend habe mit seiner geisteswissenschaflich-werthierarchischen Auslegungsmethode die Grenzen der Gesetzauslegung überschritten.8 Zwar sei einer Abkehr von einem unkritischen Positivismus zuzustimmen,9 die Auslegung der Verfassung am Maßstab eines außerhalb der Verfassung liegenden Sinnsystems im Sinne Smends aber sei unjuristisch.10 Sie orientiere sich an Werten und Rangordnungen und zwinge der Verfassung damit eine völlig neue Dimension auf, denn: „Der Wert hat seine eigene Logik.“11 Werte könnten sich in Auslegungsergebnissen zeigen. Wenn man sie jedoch zum Inhalt der Normanwendung mache, gebe man die Rechtskunst auf und betreibe Philosophie.12 Die moderne Grundrechtsauslegung sei durch die geisteswissenschaftliche Methode geprägt, indem sie „unter Beiseitelassung der formalen Elemente, wie sie sich in einem durchnormierten rechtsstaatlichen Gesetz anfinden, ihre Intention auf die Sinnerfassung durch Einordnung in weitere geistige Zusammenhänge“ richte.13 Die geisteswissenschaftliche Methode bzw. Charakterisierung der Grundrechte als Werte führe zu einer mit herkömmlicher Interpretation nicht zu rechtfertigenden Drittwirkung der Grundrechte und schließlich zur Auflösung des Verfassungsgesetzes.14 Das Verfassungsrecht verliere damit seine Rationalität und Evidenz.15 Die Folge sei reine Kasuistik und eine Wandlung des Verfassungsstaates zum Justizstaat.16 Der 7

Forsthoff, Umbildung, S. 36. Forsthoff, Umbildung, S. 37 f. Insbesondere lehnt Forsthoff die Auffassung Smends ab, die Grundrechte als Ausdruck eines Kultur-, Wert- und Gütersystems zu verstehen, ebda, S. 40. 9 Forsthoff, Umbildung, S. 37. Vgl. aber ders., Verfassungsauslegung, S. 35: „Gleichwohl könne schlechterdings nicht bestritten werden, dass das praktische Rechtswesen in Gericht und Verwaltung in der positivistischen Epoche ein Niveau erreicht und gehalten hat, auf das wir nur mit Gefühlen des Neides zurückblicken können.“ 10 Forsthoff, Umbildung, S. 37 f. 11 Forsthoff, Umbildung, S. 45. 12 Forsthoff, Umbildung, S. 41: „Verlegt man aber den Wert in die Norm selbst und macht damit die Normanwendung zur Wertverwirklichung, so verwandelt man den Vorgang der Erfassung des Normgehalts aus der Interpretation in Verstehen und in die Prozeduren der Wertverwirklichung durch Wertanalyse und Wertabwägung. Die Sinnerfassung ist dann keine Rechtskunst mehr, sondern philosophisch.“ 13 Forsthoff, Umbildung, S. 44. Zur geisteswissenschaftlichen Methode siehe auch Koch, Juristische Methode, S. 95 ff.; Rennert, S. 214 ff., 299 ff. 14 Forsthoff, Umbildung, S. 47. 15 Forsthoff, Umbildung, S. 55. 16 Forsthoff, Umbildung, S. 47. Zum Stil der Entscheidungen des BVerfG bemerkt Forsthoff, S. 60: „Das Heraustreten aus der formalen Gesetzesgebundenheit im Rahmen der klassischen Auslegungsregeln bestimmt, wenn auch gewiss nicht allein, den Stil der Entscheidungen. Denn in dem Maße, in dem die Formalqualität des Verfassungsgesetzes aufgelöst wird, 8

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

Gesetzgeber sei zwar an die Verfassung gebunden, nicht aber zu ihrem bloßen Vollzug verpflichtet. Letzteres wäre eine „Verfassung als juristisches Weltenei, aus dem alles hervorgeht vom Strafgesetzbuch bis zum Gesetz über die Herstellung von Fieberthermometern“.17 Für Forsthoff steht danach nicht die Verwirklichung verfassungsrechtlicher Werte im Vordergrund, sondern die Wahrung formaler Rechtsstaatlichkeit.18 Der methodische Vorwurf von Forsthoff, mit der Orientierung der Verfassungsauslegung an Werten Philosophie und nicht Rechtskunst zu betreiben, ist angesichts der möglichen transzendenten Lesart der Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG nicht von der Hand zu weisen und wird durch das Denken von der Moral her im Sinne Alexys geradezu bestätigt.19 Angesichts der Einflüsse auch von Smend auf die Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG20 lag es nicht fern, die Verfassungsauslegung mit der Verfassungsmethode Smends in Verbindung zu bringen. Nach Smend folgte aus dem Verständnis des Staates als Teil der geistigen Wirklichkeit, der als „Kulturerrungenschaft“ immer wieder neu errungen – integriert – werden müsse, dreierlei: „Einmal dies, dass alle staatsrechtlichen Einzelheiten nicht an sich und isoliert zu verstehen sind, sondern nur als Momente des durch sie zu verwirklichenden Sinnzusammenhanges, der funktionellen Totalität der Integration. […] Eine weitere Folgerung aus der Einordnung der einzelnen staatsrechtlichen Normen in das Sinnsystem des staatlichen Integrationszusammenhanges ist die ihres sich daraus ergebenden verschiedenen Werts für dieses System, ihrer Rangverschiedenheit. […] Endlich ist die Veränderlichkeit der Verfassung, die Möglichkeit der ,Verfassungswandlung‘, eine mit der Totalität des Verfassungsrechts gegebene Eigentümlichkeit dieses Rechtsgebiets.“21 Die Verfassungsauslegung im Sinne der Integration des Staates wird danach zur „fließenden Geltungsfortbildung“ des Verfassungsrechts: „Es [erg.: die Notwendigkeit der Verfassungswandlung] erklärt sich aus dem Charakter der Verfassung, die ein dauernd seinen Sinn erfüllendes Integrationssystem normiert: diese Sinnerfüllung ist das regulative Prinzip nicht nur für den Verfaskann es nicht mehr genügen, eine Entscheidung damit zu begründen, das heißt als rechtsrichtig zu erweisen, dass ihre Übereinstimmung mit den Verfassungsnormen dargetan wird. Deshalb nehmen allgemeine geisteswissenschaftliche und politische Erwägungen wie auch ausführlichere Darstellungen zeitgeschichtlicher Art in den Urteilen des Gerichts einen bisher unbekannten Umfang ein.“ 17 Forsthoff, Industriegesellschaft, S. 144. 18 Vgl. Forsthoff, Industriegesellschaft, S. 67 ff.; ders., Verfassungsauslegung, S. 22. Das Entscheidende an der Rechtsstaatlichkeit ist danach die Technizität, da damit die Staatsgewalt gemäßigt und die Freiheit gesichert werde, ohne dass bestimmte ideelle Verhaltensanforderungen erfüllt sein müssen. Zum formalen Rechtsstaatsdenken siehe auch Hollerbach, S. 247 ff.; Böckenförde, Rechtsstaatsbegriff, S. 150 ff.; Schuppert, S. 49. 19 Siehe oben S. 110 ff. 20 Siehe oben S. 31; H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 15 m.w.N. und mit Verweis auf die Selbsteinschätzung Smends, wesentlich zur Neujustierung der Grundrechtsinterpretation beigetragen zu haben. 21 Smend, Verfassung, S. 239 ff.

A. Annäherungen an die Rahmenordnungstheorie

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sungsgesetzgeber, sondern sogar für die fließende Geltungsfortbildung des gesetzten Verfassungsrechts.“22 Auch wenn mit der Wertorientierung eine solche, primär am Wert der Integration des Staates ausgerichtete Verfassungsauslegung in Betracht kommt, geht es jedoch zu weit, diese Möglichkeit als notwendige bzw. logische Folge des Wertdenkens anzusehen. Eine automatische Gleichsetzung von Wertdenken und geisteswissenschaftlicher Methode im Sinne Smends widerlegt das BVerfG selbst, indem es die Deutung der Grundrechte als objektive Werteordnung nicht primär an einem einzigen Wert ausgelegt. Ruppert kommt zu dem Ergebnis: „Ein semantischer Vergleich zeigt deutlich Nähe und Distanz zur Grundrechtstheorie Rudolf Smends. Nähe in der Orientierung an den Grundrechten als Werten, Distanz in der Umkehrung der Rangfolge der Grundrechtsfunktionen. Wie bereits ausgeführt, hatten die Grundrechte für Smend, wenn überhaupt, erst in zweiter Linie Abwehrfunktion gegen den Staat. Vorrangig war ihre Integrationswirkung, die in der Konzeption den Staat als gegebenes Faktum jenseits der Verfassung stärken sollte. […] Die Relativierung des Grundrechts der Meinungsfreiheit als liberales Abwehrrecht bei Smend nimmt das Bundesverfassungsgericht dann auch nicht auf und betont statt dessen die komplementäre Vorstellung Smends, es könne keinen grundrechtsfreien Raum geben, weil die Grundrechte in alle Bereiche des Rechts ausstrahlten. […], es bleibt nur festzuhalten, dass bei aller Bedeutung in begrifflicher und materieller Hinsicht, die Smends Grundrechtstheorien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zukommt, es sich bei dieser Rezeption nur um einen Ausschnitt der Lehre Smends handelt. Bei der Annahme, Smends Grundrechtskonzeption habe sich im Lüth-Urteil inhaltlich durchgesetzt, wird die Hauptbedeutung der Grundrechte im Sinne Smends, die sachliche Integration notfalls auch gegen die individuellen Freiheitsrechte des Einzelnen oder zumindest im Einklang beider durchzusetzen, ausgeblendet.“23 Durch die pauschale Gleichsetzung mit der geisteswissenschaftlichen Methode Smends zieht Forsthoff eine nicht transzendente Lesart der Werteordnung nicht in Betracht, z. B. die Deutung der wertbezogenen Auslegung als eine Form der systematisch-teleologischen Auslegung, die damit sehr wohl Teil der klassisch juristischen Auslegungsmethode wäre, jedenfalls nach dem Inkrafttreten des Grundgeseztes.24 22

Smend, Verfassung, S. 242. Ruppert, S. 345 ff. In diese Richtung auch H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 17, Fn. 37 mit der Betonung, Smend könne u. a. wegen seines latenten Etatismus nicht als hauptsächlicher theoretischer Wegbereiter des Bonner Grundgesetzes gelten; ders., Integration durch Verfassung?, S. 76 ff., 85 ff.; Schenke, S. 655; a.A. Staff, S. 318 f. Henne, S. 143, 148, spricht vorsichtig von eine „Neurezeption“ von Smend und konstatiert: „Die genuin antiliberale, antiparlamentarische Position Smends der 1920er Jahre mutierte bei dieser Neurezeption zur Grundlegung einer liberalen, parlamentarischen Demokratie.“ 24 In diesem Sinne entgegnet Hollerbach, S. 255: „Die Rede vom ,Wertsystem‘, wie allgemein vom ,Sinnsystem‘ oder von der ,Sinnmitte‘ hat auch zunächst einmal die Bedeutung: Überwindung der punktualistischen Vereinzelung, Intendieren und Sehen des Zusammenhangs und der Bezogenheiten, die zwischen den vielen Einzelnormen einer Verfassung und Rechtsordnung obwalten.“ 23

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

Anstelle einer extensiven, wertorientierten Auslegung fordert Forsthoff eine schlichte Gesetzesauslegung der Verfassung und verweist insoweit auf Savigny.25 Doch wie eine solche Gesetzesauslegung genau aussehen soll, erläutert Forsthoff nicht.26 Böckenförde weist insoweit zu Recht darauf hin, Savigny selbst habe seine Auslegungskanones gerade nicht auf das Öffentliche Recht übertragen wollen.27 Die methodische Kritik sowie die Forderung nach schlichter Gesetzesauslegung können aber vor allem deswegen nicht überzeugen, als Forsthoff für die Auslegung des Verfassungs- und des Verwaltungsrechts jeweils unterschiedliche Maßstäbe ansetzt, seiner Kritik damit keine einheitliche Methodologie zugrunde liegt.28 Das Verwaltungsrecht sieht Forsthoff – im Gegensatz zum Verfassungsrecht – als einen Raum für Wertverwirklichung an und demzufolge sollen im Rahmen des Verwaltungsermessens Wertabwägungen stattfinden.29 Besonders deutlich wird der Widerspruch zur Verfassungsauslegung in der von Forsthoff für das Verwaltungsrecht vertretenen institutionellen Methode.30 Mit ihr versucht Forsthoff, die Strenge des positivistischen Ansatzes mit geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen unter Hervorhebung der Institution zu verbinden: „Einen Rechtssatz auslegen heißt also, ihn wörtlich interpretieren und aus dem immanenten Sinnzusammenhang der Institution und der Stellung der Institution im Ganzen der Rechtsordnung verstehen.“31 Damit werde nicht nur eine Beziehung zu den tragenden Grundgedanken des Rechts, sondern auch zur Wirklichkeit (zur Seinssphäre) hergestellt.32 Wie die Rechtsanwendung nach der institutionellen Methode konkret aussehen soll bzw. welchen Argumenten der Seinssphäre Forsthoff die Auslegung öffnen will, bleibt jedoch unklar.33 Durch den Bezug zu immanenten Sinnzusammenhängen existierender Institutionen entfernt sich Forsthoff jedenfalls deutlich von seiner im Verfassungsrecht vertretenen strengen Auslegungsmethode. Storost sieht in dieser Verwaltungsrechtslehre ein dem Grundgesetz zuwiderlaufendes verfassungspolitisches Mittel, „die Verwaltung ge25

Forsthoff, Umbildung, S. 36. Kritisch insofern Ehmke, Wirtschaft, S. 51 f.; vgl. auch Hollerbach, S. 258 f., 260: „Wenn die juristische Methode […] nicht eine geisteswissenschaftliche ist, was ist sie dann? Wenn sie nicht ,verstehen‘ will, was tut sie dann?“. 27 Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2091; Ehmke, Wirtschaft, S. 49 f.: „Forsthoff hätte sich besser auf Laband berufen, der ja als Altmeister des staatsrechtlichen Positivismus die Vorbildlichkeit des Privatrechts für das Staatsrecht ebenso vertreten hat wie die Gleichsetzung von Verfassung und Gesetz.“ Zudem ist die Methodenlehre Savignys wegen dessen ambivalenten Verhältnisses zum legislativen Gesetzgeber für moderne Gesetzgebungswerke in historischer Hinsicht (vgl. dazu Pawlowski, Rn. 3) und teleologischer Hinsicht nur bedingt einsetzbar (Hüpers, S. 424 ff.). 28 Siehe Häberle, Lebende Verwaltung, S. 686; Paust, S. 61 f.; Hollerbach, S. 256 ff. 29 Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 87: „Ermessen ist somit wählendes Verhalten im Rahmen einer Wertverwirklichung.“ 30 Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 165 ff.; siehe auch Paust. 31 Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 165. 32 Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 166. 33 Siehe auch Storost, Verwaltungsrechtslehre E. Forsthoffs, S. 182. 26

A. Annäherungen an die Rahmenordnungstheorie

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genüber der parlamentarisch-normativen Sphäre so weit wie möglich zu verselbständigen und unmittelbar zum Instrument einer parlamentsunabhängigen Staatsführung zu machen, deren geistig-politische Ordnungsentscheidung sie unter den jeweiligen empirischen Bedingungen zu verwirklichen hat.“34 Die Widersprüchlichkeit der Methoden löst Forsthoff nicht auf.35 Damit können aber weder seine Verwaltungs- noch seine Verfassungsmethode überzeugen. Dass Forsthoff gleichwohl auf den verschiedenen Auslegungsmethoden beharrt, lässt vermuten, dass es ihm nicht auf die Methode, sondern auf das Ergebnis – hier die Aufwertung und Verselbständigung des Verwaltungsrechts gegenüber dem Verfassungsrecht – ankommt. Zugleich entfernt sich die institutionelle Methode vom Gesetz, so dass die Zurückdrängung des Verfassungsrechts mit einer Zurückdrängung des einfachen Gesetzgebers einhergeht. 2. Der entideologisierte Staat Einen großen Raum im Werk von Forsthoff nimmt die Vorstellung von einem autoritären Staat ein.36 In seinen staatstheoretischen Überlegungen bedauert er vielfach die Schwächung und sogar den Verlust von Staatlichkeit im Sinne autoritärer Herrschaftsausübung. Gefährdet werde die Staatlichkeit unter anderem durch die mit der Industrialisierung einhergehenden Zunahme wirtschaftlicher Macht.37 Aber auch das moderne Grundrechtsverständnis führe mit seinem Wertsystem, das nicht nur gegenüber dem Staat Geltung beansprucht, zu einer Auflösung des klassischen Dualismus von Staat und Gesellschaft und zu einem Verlust von Staatlichkeit.38 Forsthoff spricht insofern von einer staatsideologischen Unterbilanz.39 Zudem sei die verfassungsrechtliche Verankerung des Widerstandsrechts Ausdruck mangelnden Vertrauens in die Staatlichkeit.40 Ein starker Staat manifestiert sich nach Forsthoff 34

Storost, Verwaltungsrechtslehre E. Forsthoffs, S. 188. Das Eingeständnis von Forsthoff, er hätte den Begriff des Werts für das Verwaltungsrecht besser vermieden und stattdessen von Rechtsgut gesprochen, Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 87, Fn. 1, löst den Widerspruch zwischen Verfassungs- und Verwaltungsauslegung nicht auf. Siehe auch Häberle, Lebende Verwaltung, S. 686. 36 So schon zu Beginn des Nationalsozialismus. Forsthoff habe den Verlust staatlicher Autorität während der Weimarer Republik bedauert und den „autoritären Staat“ der Zukunft angestrebt. Dem liberalen, inhaltsleeren und nihilistischem Staat habe er in seiner Schrift „Der totale Staat“ einen totalen Staat gegenübergestellt, in dem die staatliche Autorität zurückerlangt werde, H. Klein, „Der totale Staat“, S. 27 ff.; siehe auch Doehring, S. 439 ff.; zum Staatsverständnis von Forsthoff Storost, Staat und Verfassung bei Ernst Forsthoff; Doehring, S. 447 ff., S. 453 ff.; Frey, S. XI ff.; Herdegen, S. 42 ff.; Häberle, Retrospektive Staats(rechts) lehre, S. 426 ff. 37 Forsthoff, Industriegesellschaft, S. 17 ff. 38 Forsthoff, Introvertierter Rechtsstaat, S. 180 ff. 39 Forsthoff, Verfassungsauslegung, S. 11 ff. 40 Forsthoff, Industriegesellschaft, S. 64. 35

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

hingegen in einer starken, möglichst freien Verwaltung.41 Der Ermessenspielraum der Verwaltung sollte möglichst auch nicht durch den Gesetzgeber beschränkt werden. Ein Verständnis des Gesetzesvorbehaltes, wonach der Gesetzgeber verpflichtet ist, die Einschränkungen der Grundrechte festzulegen und sichtbar zu machen, lehnt Forsthoff ab. Die dadurch eintretende Abhängigkeit der Verwaltung von der Gesetzgebung vermindere die autoritäre Staatlichkeit: „Die Ermessensbetätigung bringt die Staatshoheit rein, und nicht durch einen Gesetzesbefehl vermittelt, zur Geltung. Die Einengung des Ermessens durch das gewandelte Verständnis des Gesetzesvorbehaltes reduziert deshalb mit der Eigenständigkeit der Verwaltung auch die Staatlichkeit in ihrer hoheitlichen Ausprägung.“42 Besonders deutlich wird Forsthoffs Vorstellung vom autoritären Staat in der Ablehnung eines verfassungsrechtlich verankerten Sozialstaatsgebotes.43 Dabei geht es ihm keinesfalls um die Negation staatlicher Fürsorge. Vielmehr ist es gerade das Verdienst von Forsthoff, die staatliche Fürsorge bzw. die Daseinsvorsorge als existenzielle staatliche Aufgabe ins Bewusstsein gerückt zu haben.44 Strikt wendet er sich aber gegen eine verfassungsrechtliche Verankerung des Sozialstaates. Im Verhältnis zur Rechtsstaatlichkeit sei die Sozialstaatlichkeit nachrangig. Die Verklammerung von Rechtsstaat und Sozialstaat sei schon unter der Weimarer Reichsverfassung missglückt, was der Verfassungsgesetzgeber berücksichtigt habe.45 Nur auf verwaltungsrechtlicher Ebene sei die Sozialstaatlichkeit verwirklicht worden.46 Eine verfassungsrechtliche Verankerung der Sozialstaatlichkeit widerspreche der Logik der rechtsstaatlichen Verfassung, die auf den Schutz individueller Freiheit ausge-

41

Kritisch dazu Häberle, Lebende Verwaltung, S. 698; vgl. auch Storost, Verwaltungsrechtslehre E. Forsthoffs, S. 168 ff. Anders Ronellenfitsch, S. 66, der Forsthoff – allerdings ohne weitere Begründung – nicht als Vertreter eines autoritären Verwaltungsstaates ansieht. 42 Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 81; zum Verlust der führenden Stellung der Verwaltung gegenüber der Gesellschaft siehe ders., Industriegesellschaft, S. 105 ff. 43 Forsthoff kritisiert insofern die Ableitung eines verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzips mit seinen weitreichenden Folgen aus einem bloßen Adjektiv („sozialer Rechtsstaat“), Forsthoff, Umbildung, S. 48 f.; ders., Sozialer Rechtsstaat, S. 78 f. Ein „sozialer Schub“ habe auf die Verfassungsinterpretation eingewirkt und zur Annahme sozialstaatlicher Verfassungselemente geführt, Forsthoff, Umbildung, S. 48; ders., Verfassungsauslegung, S. 29; ders., Sozialer Rechtsstaat, S. 67. 44 Siehe Forsthoff, Industriegesellschaft, S. 76 ff., zur Entwicklung des Begriffs der Daseinsvorsorge siehe auch Ronellenfitsch, S. 67 ff. 45 Forsthoff, Sozialer Rechtsstaat, S. 68 f.; siehe auch ders., Verfassungsauslegung, S. 14, 29 f., 32 f. 46 Forsthoff, Sozialer Rechtsstaat, S. 69: „Nahezu alle Institute unseres öffentlichen Rechts, die den Staat zum Sozialstaat geprägt haben, sind das Werk der Gesetzgebung und Verwaltung. Sie sind entstanden, existieren seit Jahren und Jahrzehnten, ohne dass die Verfassungen von ihnen Notiz genommen hätten. Nicht im Bereich der Verfassung, sondern der Verwaltung hat der Sozialstaat Eingang in die Wissenschaft vom öffentlichen Recht gefunden.“ Siehe auch ders., Verfassungsauslegung, S. 14, 29 f., 32 f.

A. Annäherungen an die Rahmenordnungstheorie

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richtet sei.47 Sie führe zudem zu einer Entpolitisierung. Nicht mehr der politische Wille entscheide über staatliche Leistungen, sondern zunehmend die Verfassungsrechtsprechung, und zwar über den Gleichheitssatz, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und durch die Bestimmung des gesetzgeberischen Ermessens.48 Eine Kompromisslösung zwischen Rechts- und Sozialstaat sei ausgeschlossen: „[…] ein halber Rechtsstaat und ein halber Sozialstaat [erg: ergeben] keinen sozialen Rechtsstaat“.49 Die Daseinsvorsorge sei vielmehr eine Verwaltungsaufgabe, die keinen verfassungsrechtlichen Anspruch begründe,50 aber den autoritären Staat stärke: „Was dem Sozialstaat an verfassungsrechtlicher Ausformung und Absicherung fehlt, ersetzt er durch Dynamik, die ihm eine starke Durchschlagskraft verleiht.“51 Vor dem Hintergrund dieses Staatsverständnisses ist die Ablehnung einer grundgesetzlichen Werteordnung mit ihren weitreichen Bindungen verständlich. Die Ausweitung verfassungsrechtlicher Bindungen, sei es durch die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte, die Erweiterung grundrechtlicher Gehalte oder durch ein verfassungsrechtliches Sozialstaatsgebot, stellt eine Gefahr für die von Forsthoff favorisierte autoritäre Staatlichkeit, insbesondere in Form der Verwaltung, dar. Je bedeutender die Verfassung, desto schwächer die Verwaltung – zumindest im Sinne autoritärer Herrschaftsausübung. Forsthoffs Streben ging deshalb dahin, die Unabhängigkeit der Verwaltung gegenüber der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit zu stärken. Diesem Ziel dienen einerseits eine restriktive Verfassungsmethode und andererseits eine Verwaltungsmethode, die darauf gerichtet ist, einen möglichst großen Ermessensspielraum der Verwaltung zu sichern.

II. Die Methodenkritik von Böckenförde Ausgangspunkt für das Rahmenordnungsverständnis von Böckenförde ist seine Kritik an einer extensiven Verfassungsauslegung, insbesondere an der Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG. Die Entwicklung der Kritik soll anhand von vier ausgewählten Aufsätzen nachgezeichnet werden. In ihrer Zielrichtung wenden sie sich alle gegen eine extensive Verfassungsauslegung, weisen aber jeweils eine spezifische Blickrichtung auf, nämlich eine grundrechtstheoretische (1.), eine ver-

47 Die Schutzfunktion der Grundrechte bestehe lediglich in ihrem Charakter als Abwehrrechte. Dieser werde durch zusätzliche Gehalte gefährdet, Forsthoff, Industriegesellschaft, S. 152 ff. 48 Forsthoff, Industriegesellschaft, S. 145 f. 49 Forsthoff, Sozialer Rechtsstaat, S. 71; ders., Industriegesellschaft, S. 77 f. 50 Als Teilhabrechte hätten soziale Rechte kein normierbares Maß, sondern müssten der Gesetzgebung und vor allem der gesetzesvollziehenden Verwaltung überlassen werden, Forsthoff, Sozialer Rechtsstaat, S. 75. 51 Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 4.

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

fassungstheoretische (2.) sowie eine rechtsphilosophische (3.) und eine kompetenzrechtliche (4.). 1. „Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation“ – 1974 Die Notwendigkeit einer Grundrechtstheorie sieht Böckenförde in der Normgestalt der Grundrechtsbestimmungen begründet. Sie seien „ihrer Wortfassung und Sprachgestalt nach Lapidarformeln und Grundsatzbestimmungen, die aus sich selbst inhaltlicher Eindeutigkeit weithin entbehren“.52 Die Ausdeutung der Bestimmungen habe daher ihren Bezugspunkt in einer Grundrechtstheorie im Sinne einer systematisch orientierten Auffassung über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Grundrechte.53 Zu ermitteln ist mit der Grundrechtstheorie also der normative Bezugspunkt der Auslegung. Im Gegensatz zu Forsthoff hebt Böckenförde nicht den Gesetzescharakter von Verfassungs- und Grundrechtsbestimmungen hervor, sondern ihren gegenüber einfachen Gesetzen bloß fragmentarischen Charakter. Damit muss kein verminderter normativer Geltungsanspruch einhergehen. Mit der Unterscheidung zwischen Grundrechtsbestimmung und Gesetz bekräftigt Böckenförde zunächst die Notwendigkeit einer Grundrechtstheorie, an die eine teleologische und systematische Auslegung auszurichten ist.54 Die extensive Grundrechtsauslegung, insbesondere auch durch das BVerfG, sieht Böckenförde in verschiedenen Grundrechtstheorien begründet, die nicht nur alternativ, sondern auch kumulativ angewendet würden. Als hauptsächlich vertretene Theorien behandelt er die liberale (bürgerlich-rechtsstaatliche), die institutionelle, die demokratisch-funktionale, die sozialstaatliche Grundrechtstheorie sowie die Werttheorie der Grundrechte.55 Der Präferenz Böckenfördes für die liberale 52 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1529; siehe dazu auch schon ders., Gewissensfreiheit, S. 216; später ders., Organisationsgewalt, S. 17 f.: „Jede Verfassung enthält neben detaillierten Normierungen zahlreiche unbestimmte, diffuse oder ideologisch geprägte Begriffe, die aus sich selbst, d. h. aus ihrem Wortsinn oder einem klar fixierten Sprachgebrauch keinen auch nur annähernd eindeutigen Sinngehalt ergeben, Lapidarsätze, die für grundlegende politische Entscheidungen stehen, sorgsam ausgehandelte Kompromissformeln, die einer inhaltlichen Eindeutigkeit gerade ausweichen wollen […]. Vielmehr sind diese Begriffe, Sätze und Formeln der Verfassung durchaus Ausdruck eines bestimmten Entscheidungs- und Normierungswillens (der u. U. auf einen unklaren Kompromiss geht), nur findet dessen Inhalt in ihnen selbst keinen annähernd zureichenden, etwa aus Wortsinn, klar fixierten Sprachgebrauch oder systematischem Zusammenhang zu erhebenden Ausdruck. Ihre Interpretation erfordert daher eine eigene, diesen Gegebenheiten angemessene Methodik.“ Auf die lapidare Sprachgestalt abstellend auch BVerfGE 79, 127, 143 f. (Rastede). 53 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1529. 54 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1529, insbesondere Fn. 7, in der Böckenförde die von Forsthoff geforderte Beschränkung auf die traditionelle juristische Hermeneutik ablehnt. 55 Diese Einteilung behält Böckenförde bei, ders., Interpretation, S. 600 f. Kritisch zum Theoriegehalt Ossenbühl, Grundrechtsinterpretation, § 15 Rn. 41.

A. Annäherungen an die Rahmenordnungstheorie

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Grundrechtstheorie liegt ein bestimmtes Freiheitsverständnis zugrunde, das von den anderen Grundrechtstheorien missachtet werde. Die grundrechtliche Freiheit werde nicht erst durch die Verfassung konstituiert, sondern liege ihr voraus. Böckenförde spricht insofern von vorstaatlicher, liberaler und von rechtsstaatlicher Freiheit.56 Falsch sei es vor diesem Hintergrund, die Freiheit nicht als ausgrenzende Freiheit zu verstehen, sondern diese mit bestimmten Inhalten zu füllen: „Die durch die einzelnen Grundrechte gewährleistete Freiheit ist, als Folge des Ausgrenzungscharakters der Grundrechte, Freiheit schlechthin, nicht Freiheit zu bestimmten Zielen oder Zwecken (Förderung des demokratisch-politischen Prozesses, Werteverwirklichung, Integration des politischen Gemeinwesens u. ä.).“57 Der Inhalt der grundrechtlichen Freiheit sei vielmehr undefiniert. Eine Inhaltsbestimmung der Grundrechte erfolge aber, wenn man sie mit sozialen, demokratischen, institutionellen oder wertorientierten Gehalten auflade. Die Freiheit bestehe dann nicht mehr schlechthin, sondern werde zur Realisierung bestimmter Zwecke eingesetzt, sie werde zu einer „Freiheit um zu“.58 Besonders weitreichend seien die Folgen der sozialstaatlichen Grundrechtstheorie, die darauf gerichtet ist, die ausgrenzende rechtliche Freiheit auch als eine reale Freiheit zu sichern. Aus ihr folgten sogar Leistungsansprüche, was der liberalen Grundrechtsfunktion widerspreche. Den Staat treffe aber keine Garantieoder Gewährleistungspflicht für die Realisierung der grundrechtlichen Freiheit: „Die tatsächliche Realisierung der rechtlichen Freiheit bleibt der individuellen und gesellschaftlichen Initiative überlassen. Das ist eine logische Folge aus dem Abwehrund Ausgrenzungscharakter der Grundrechte: die schützen einen Bereich individueller und gesellschaftlicher Freiheit vor staatlicher Beeinträchtigung und Eingriffs-Reglementierung, erhalten ihn als einen vorstaatlichen; die Aktualisierungskompetenz liegt bei den einzelnen und der Gesellschaft selbst.“59 Die vorstaatliche, liberal-rechtsstaatliche Freiheit erscheint damit als die reine Freiheit, deren Inhalt durch den Träger der Freiheit bestimmt wird (subjektive Freiheit) im Gegensatz zu einer materialen Freiheit, deren Inhalte bzw. deren Zwecke vorgegeben werden (objektive Freiheit). Auf dieser Abstraktionsebene erscheint die Vorzugswürdigkeit der liberal-rechtsstaatlichen Freiheit zwingend, denn wer wollte sich seinen Freiheitsgebrauch schon staatlich vorschreiben und definieren lassen? Insofern mag das von Böckenförde herangezogene Schmitt-Zitat zutreffen: „Was Freiheit ist, kann nämlich in letzter Instanz nur derjenige entscheiden, der frei sein soll. Sonst ist es nach allen menschlichen Erfahrungen mit der Freiheit schnell zu 56

Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1530 mit Bezugnahme auf das Verteilungsprinzip bei Schmitt, Verfassungslehre, S. 126: „[…]; die Freiheitssphäre des Einzelnen wird als etwas vor dem Staat Gegebenes vorausgesetzt, und zwar ist die Freiheit des Einzelnen prinzipiell unbegrenzt, während die Befugnis des Staates zu Eingriffen in die Sphäre prinzipiell begrenzt ist.“ 57 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1530. 58 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1535, wobei der Zweck der Freiheit je nach Grundrechtstheorie variiere. 59 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1531.

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

Ende.“60 Doch selbst ein formales Freiheitsverständnis kann letztlich nicht inhaltsleer sein. Es ist notwendig bezogen auf die jeweils bestehenden Möglichkeiten der Grundrechtsträger zur Freiheitsausübung. Geschützt wird nämlich die Freiheit derjenigen, die diese verwirklichen können, da sie z. B. über Eigentum und Bildung verfügen. Darauf verweist auch Böckenförde.61 Doch weist er die Realisierung von grundrechtlicher Freiheit nicht den Grundrechten, sondern der Politik – hier dem Sozialstaatsauftrag – zu.62 Dadurch werde die liberale Grundrechtstheorie modifiziert,63 allerdings ohne einklagbare grundrechtliche Ansprüche zu begründen. Neben der Qualifizierung der grundrechtlichen Freiheit als „Freiheit schlechthin“ erscheint auch die Explikation der „Freiheit um zu“ zweifelhaft. Hervorgehoben sei hier die vermeintliche inhaltliche Aufladung der Grundrechte durch die Werttheorie des BVerfG. Nach Böckenförde besteht diese – Smend folgend – in der Ausrichtung der Grundrechtsauslegung auf den jeweiligen Wertekonsens der Zeit, der nicht mehr juristisch, sondern nur durch die geisteswissenschaftliche Methode zu ermitteln sei: „Stellen sich die Grundrechte als Werte und Ausdruck von Wertentscheidungen dar, so liegt es in der Konsequenz, dass ihre Interpretationen, wie es R. Smend gefordert und praktiziert und E. Forsthoff kritisch gewürdigt hat, in erster Linie eine Sache rein geisteswissenschaftlicher Bearbeitung wird und sich von der herkömmlichen juristischen Methode emanzipiert. Die Bestimmung des Grundrechtsinhalts wird eine Frage der Sinnermittlung des darin ausgedrückten Wertes, was nur geisteswissenschaftlich intuitiv erreichbar erscheint, sowie der Einfügung dieses Wertes in das zugrunde liegende Wertsystem, was nur durch Korrelation mit dem geistig-kulturellen Wertbewusstsein der Zeit ermittelbar ist. Dem Einströmen zeitgebundener und ggf. rasch wechselnder Wertauffassungen und Werturteile in die Grundrechtsinterpretation ist damit – bewusst – die Tür geöffnet.“64 Böckenförde konkretisiert hier die Kritik Forsthoffs an der vermeintlich automatischen Anwendung der geisteswissenschaftlichen Methode und nimmt eine Ausrichtung der Grundrechtsauslegung – über die Verfassung hinaus – auf die herrschenden (gesellschaftlichen) sittlichen Auffassungen an.65 60

Schmitt, Freiheitsrechte, S. 167. Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1531 f.: „Im Ausgangspunkt dieser Grundrechtstheorie ist die Abhängigkeit der Realisierungsmöglichkeit grundrechtlicher Freiheit von gegebenen sozialen Voraussetzungen nicht mitbedacht und folglich in ihr selbst nicht mitreflektiert. […]; die Grundrechte gewähren den Schutz des sozial bereits vorhandenen oder sich bildenden realen Freiheitsbestandes.“ 62 Will man über die Positivierung des Sozialstaatsprinzips hinausgehen, könnten soziale Grundrechte im Rahmen einer demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassungsordnung nur in Form sozialer Verfassungsaufträge verankert werden, Böckenförde, Soziale Grundrechte, S. 155 ff. 63 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1538; ähnlich schon vorher ders., Gewissensfreiheit, S. 228 ff. 64 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1534. 65 Bereits in diese Richtung argumentierend Böckenförde, Gewissensfreiheit, S. 231: „Gewissensfreiheit, im Rahmen der Wertordnung des Grundgesetzes garantiert, würde gerade 61

A. Annäherungen an die Rahmenordnungstheorie

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Der Nachweis, dass nach der Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG nur die Angepassten geschützt werden sollen, gelingt jedoch nicht. Die von Böckenförde insoweit herangezogene Entscheidung des BVerfG zur Glaubensabwerbung66 lässt keinen eindeutigen Schluss zu. Zwar sprach sich das BVerfG gegen einen Missbrauch der Glaubensabwerbung – hier mittels Zigaretten unter Strafgefangenen – aus, aber gerade nicht für eine werthafte Definition von Glauben und Bekenntnis. Dort heißt es nämlich: „Kann und darf der weltanschaulich neutrale Staat den Inhalt dieser Freiheit nicht näher bestimmen, weil er den Glauben oder Unglauben seiner Bürger nicht bewerten darf, so soll jedenfalls der Missbrauch dieser Freiheit verhindert werden. Aus dem Aufbau der grundrechtlichen Wertordnung, insbesondere der Würde der Person, ergibt sich, dass Missbrauch namentlich dann vorliegt, wenn die Würde der Person anderer verletzt wird. Die an sich erlaubte Glaubenswerbung und Glaubensabwerbung wird dann Missbrauch des Grundrechts, wenn jemand unmittelbar oder mittelbar den Versuch macht, mit Hilfe unlauterer Methoden oder sittlich verwerflicher Mittel, andere ihrem Glauben abspenstig zu machen oder zum Austritt aus der Kirche zu bewegen.“67 Dass der Bezug zur Werteordnung für das BVerfG nicht zu einer Beschränkung auf gesellschaftlich konforme Freiheitsausübung führt, sondern – im Gegenteil – gerade dem Schutz der Außenseiter dienen soll, zeigt die Auslegung der Meinungsfreiheit des BVerfG in der Strafgefangenen-Entscheidung: „Diesen Meinungsäußerungen kann der Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG nicht schon aus der Erwägung abgesprochen werden, dieses Grundrecht schütze nur ,wertvolle‘ Meinungen, d. h. Meinungen, die eine gewisse ethische Qualität besitzen. Eine derartige Einschränkung enthält Art. 5 Abs. 1 GG schon seinem Wortlaut nach nicht. Sie würde auch seinem Sinn widersprechen. Das in ihm gewährleistete Recht der freien Meinungsäußerung ist für die freiheitliche Demokratie schlechthin konstituierend (…). Daraus folgt der umfassende Charakter dieses Rechts. Es soll jede Meinung erfassen. Eine Differenzierung nach der sittlichen Qualität der Meinungen würde diesen umfassenden Schutz weitgehend relativieren.“68 Das BVerfG stellt den (objektiven) Wertbezug der Grundrechte darüber hinaus auch nicht – wie der Vorwurf von Böckenförde suggeriert – in das Zentrum der Grundrechtsfunktionen. Vielmehr jenen schützen, der dieses Schutzes nicht bedarf, weil er ohnehin mit den herrschenden Auffassungen konform geht, nicht aber den Außenseiter, den Dissidenten im wörtlichen Sinn, für den sie vorzugsweise relevant wird.“ Sowie ders., Rechtsstaatsbegriff, S. 165. 66 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1534. 67 BVerfGE 12, 1, 4 f. (Glaubensabwerbung), Herv. d. Verf. Kritisch zu dieser Entscheidung auch Lübbe-Wolff, Eingriffsabwehrrechte, S. 285 f., die allerdings hervorhebt, dass solche wertenden „präformierten Schutzbereichsauffassungen“ trotz einiger insoweit missverständlicher Formulierungen vom BVerfG nicht wirklich vertreten werden. Auch Misera-Lang, S. 161, sieht insofern keine entscheidungserhebliche Berufung auf Kulturadäquanz oder Tradition, sondern vielmehr eine Begrenzung der Religionsfreiheit durch den Missbrauchsvorbehalt. Die Haltung des BVerfG sei die der Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen. 68 BVerfGE 33, 1, 14 f. (Strafgefangene).

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

betont es in der Lüth-Entscheidung die primäre Bedeutung der Grundrechte als Abwehrrechte.69 Auch spricht sich das BVerfG explizit gegen eine Verselbständigung objektiver Grundrechtsfunktionen aus.70 Die Gefahr einer inhaltlichen Zweckbestimmung der Grundrechte darf gleichwohl nicht unterschätzt werden. Sie realisiert sich jedoch nicht schon automatisch durch einen Bezug zu Werten. Eine pauschale Gleichsetzung von Wertorientierung, geisteswissenschaftlicher Methode und einer „Freiheit um zu“ überzeugt damit nicht.71 2. „Die Methoden der Verfassungsinterpretation“ – 1976 Die Vorstellung vom lapidaren Charakter der Grundrechtsbestimmungen weitet Böckenförde auf die materiellen Verfassungsbestimmungen aus.72 Er wendet sich in erster Linie dagegen, dass der lapidare und fragmentarische Charakter materieller Verfassungsbestimmungen verkannt oder ignoriert werde. Die Schlussfolgerung aus dem lapidaren Charakter ist aber nicht mehr nur – wie noch im Aufsatz zur Grundrechtsinterpretation und Grundrechtstheorie – die Forderung nach einer Grundrechts- und jetzt auch Verfassungstheorie. Der fragmentarische Charakter materieller Verfassungsnormen bildet nun selbst den Grundstein der Verfassungstheorie, und zwar als Ausdruck eines verminderten normativen Geltungsanspruchs der Verfassung: „Sie ist, von dieser Struktur her gesehen, eine Rahmenordnung, […].“73 Böckenförde stellt diesen verminderten Geltungsanspruch den von ihm analysierten Methoden der Verfassungsinterpretation gegenüber: Allen Auslegungsmethoden, der klassisch-hermeneutischen,74 der topisch-problemorientier69

BVerfGE 7, 198, 204 (Lüth). BVerfGE 50, 290, 337 (Mitbestimmungsgesetz) und oben S. 52 f. 71 Vgl. dazu auch die Ausführungen zu Forsthoff, oben S. 142 f. Siehe auch Robbers, Wertorientierung, S. 166: „Der Vorwurf, durch die Berufung auf objektive Werte werde Grundrechtsfreiheit nicht mehr als rechtliche Form einzelpersönlicher, individueller Lebensgestaltung in Schutz genommen, sondern bewertet als Beitrag zur Wertverwirklichung, zur Erhaltung und Stärkung der objektiven Wertordnung, trifft einzelne problematische Entscheidungen, nicht die Gesamttendenz der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In ihr zielt die Formel auf Verstärkung gerade des individuellen Freiheitsgehaltes – der auch ein Wert ist – gegenüber dem Staat, besonders gegenüber dem Gesetzgebers und darüber hinaus gegenüber gesellschaftlicher Machtentfaltung.“ 72 Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2091: „Dieser Eigenart des Gesetzes gegenüber ist die Verfassung nach ihrer normativ-inhaltlichen Durchbildung fragmentarisch und bruchstückhaft. Ihre Bestimmungen enthalten – neben den vergleichsweise detaillierten Regelungen im Kompetenzbereich und bei einigen Organisationsfragen – im wesentlichen Prinzipien, die erst der Ausfüllung und Konkretisierung bedürfen, um im Sinne einer Rechtsanwendung vollziehbar zu sein; […].“ 73 Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2091. 74 Nach der klassisch-hermeneutischen Methode sei die Gesetzesinterpretation gebunden an die Interpretationsregeln der normbezogenen klassisch-juristischen Hermeneutik nach Savigny. Zu diesen Regeln gehörten die grammatische, die logische, die historische und die systematische Auslegung, Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2090. 70

A. Annäherungen an die Rahmenordnungstheorie

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ten,75 der wirklichkeits-wissenschaftlichen76 und der hermeneutisch-konkretisierenden77 liegt danach eine Fehlvorstellung über den normativen Charakter der Verfassung zugrunde, nämlich die Gleichsetzung von Verfassungsnorm und Gesetz.78 Der Verfassung fehle damit die normativ-inhaltliche Struktur von Gesetzen. Dieses werde in der Verfassungsinterpretation aber regelmäßig verkannt mit der Folge, dass der Verfassung Gesetzesfunktion unterstellt werde: „Die Verfassung wird als Inbegriff von Rechtsregeln bzw. als normatives Programm von solcher inhaltlicher Bestimmtheit vorausgesetzt, dass daraus die Entscheidung konkreter Rechtsfälle erfolgen kann.“79 Gehe man aber – explizit oder implizit – von einer Gesetzesfunktion der Verfassung aus, müsse man die strukturell vorgegebenen Freiräume durch Interpretation schließen. Mit solch einer rechtsschöpferischen, konkretisierenden Interpretation überschreite man aber die Grenzen der Auslegung und stelle sich außerhalb der Verfassung.80 Sogar Forsthoff überschreite mit seiner klassischhermeneutischen Verfassungsauslegung diese Grenze, da er es versäume, die klassischen Auslegungskriterien, die für eine Verfassungsauslegung nicht ausreichten, an eine Verfassungstheorie rückzubinden. Die zusätzlichen Auslegungsmittel, die dann eingesetzt werden müssten, blieben unreflektiert und unberücksichtigt und stellten damit „eine Einbruchstelle für (verdeckte) interpretatorische Beliebigkeit“ dar.81 Offen bleibt, wie man die Normen der Verfassung verstehen soll, wenn nicht als Gesetz, dem wegen der Normenhierarchie sogar noch eine besondere Bedeutung zukommt? Eine gewisse Nähe deutet sich zur Schmittschen Unterscheidung zwischen Verfassung und Gesetz an. Nach Schmitt muss unterschieden werden zwischen der Verfassung und der in ihr enthaltenen Verfassungsgesetze. Die Verfassung selbst ist mehr als die in ihr enthaltenen Gesetze und Normierungen. Sie ist Ausdruck konkreter politischer Entscheidungen, welche die politische Daseinsform des deutschen Volkes angeben und die grundlegende Voraussetzung für alle weiteren Normierun75 Die Topik gehe nicht von der Norm, sondern vom Problem aus und wandle die juristische Methode in einen offenen Argumentationsprozess, in dem die Verfassungsnormen nur noch als Verfassungsrechtsmaterial in einem relativ freien Argumentationsprozess erschienen, Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2092 mit Hinweis auf Ehmke, Scheuner und Häberle. 76 Als wirklichkeitswissenschaftliche Methode behandelt Böckenförde die Verfassungsmethode von Smend, die an dem Zweck der Integration ausgelegt ist und durch ihren außerverfassungsrechtlichen Bezug die Differenz zwischen Norm und Wirklichkeit unterlaufe, Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2094 f. Die Bedeutung dieser Methode für das Grundgesetz arbeitet Böckenförde hier nicht weiter heraus. 77 Als Vertreter einer solchen Interpretationsmethode werden Hesse und F. Müller genannt, Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2095 ff. 78 Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2097. Die Kritik bezieht sich zugleich auf das BVerfG, dem Böckenförde Methodenpluralismus vorwirft, ebda, S. 2090. 79 Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2097. 80 Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2097. 81 Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2091.

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

gen (Verfassungsgesetze) darstellen.82 Diese politischen Grundentscheidungen (z. B. „das deutsche Volk hat sich diese Verfassung gegeben“, „die Staatsgewalt geht vom Volke aus“, „das Deutsche Reich ist eine Republik“) machten die Substanz der Verfassung aus. Verfassungsgesetze hingegen seien abänderbare Einzelbestimmungen, Ausdruck irgendwelcher Kompromisse.83 In einem Brief an Schmitt (v. 14. 8. 1963) rechtfertigt sich Forsthoff für seine Forderung, die Verfassung als Gesetz auszulegen: „Dass ich ihren Verfassungsbegriff nicht teilen soll, ist ein törichtes Missverständnis, dem zunächst Ehmke und dann andere triumphierend zum Opfer gefallen sind. Meine Auffassung ist: natürlich ist die Verfassung primär ein politisches und existenzielles Phänomen. […] Nur reduziert sich in normalen Zeiten die Verfassungsanwendung auf die Verfassungsgesetzesanwendung. Das ergibt sich aus dem auch von Ihnen gerade immer wieder betonten Zusammenhang von Norm und Normalität. Aus diesem Grunde kommt es heute, im Sinne der Aktualität, auf den politischen, existentiellen Verfassungsbegriff nicht an […].“84 Aber auch bei der Auslegung der Verfassungsgesetze hätten nach Schmitt die herkömmlichen Auslegungsmethoden nicht ausgereicht. Verfassungsgesetze könnten sich nämlich – und diese Qualifizierung dürfte für Böckenförde relevant gewesen sein – gerade dadurch auszeichnen, dass konkrete Entscheidungen umgangen und vertagt würden (Scheinkompromisse, dilatorische Formelkompromisse), also überhaupt keine Entscheidung enthielten. Dies müsse bei der Verfassungsinterpretation beachtet werden: „Wenn der ,Wille des Gesetzes‘ bestimmt werden soll und in Wahrheit kein anderer Wille vorhanden ist als der, in dieser Angelegenheit vorläufig keinen Willen zu haben, sondern zu vertagen, so können alle Buchstabenkunststücke, alle Durchsuchungen der Entstehungsgeschichte, auch alle privaten Enunziationen der beteiligten Abgeordneten, immer nur zu dem Ergebnis führen, dass ein Wort des Gesetzestextes gegen das andere, ein Satz gegen den anderen betont und ausgespielt wird, ohne dass, solange es intellektuell ehrlich zugeht, eine überzeugende Beweisführung möglich wäre.“85 Auf ähnliche Weise deutet Böckenförde den fragmentarischen Charakter von materiellen Verfassungsnormen. Sie seien „Zielbestimmungen, die nur das – zuweilen in sich nicht eindeutige – Ziel festlegen, aber Wege, Mittel und Intensität der Verwirklichung offen lassen; Lapidarformeln, die – oft aus der Verfassungstradition überkommen – für etwas stehen, das in ihrer Wortfassung keinen annähernden Ausdruck findet; Formelkompromisse, die gerade Ausdruck der Nichteinigung sind und die Entscheidung vertagen“.86 Folglich kann man ihnen – als Rahmenordnung – nur einen Auftrag an die Politik entnehmen: 82

Schmitt, Verfassungslehre, S. 23 f. Schmitt, Verfassungslehre, S. 24; ders., Hüter, S. 69 f., 74, 80 ff. 84 Forsthoff, Briefwechsel, S. 194 f. Zur Kritik von Ehmke, Wirtschaft, S. 48, wonach die Betonung des Verfassungsgesetzes die Aufgabe der Schmittschen Verfassungskonzeption darstelle und den „Rückweg zu dem – u. a. von Carl Schmitt mit Recht bekämpften – formalistischen Verfassungsbegriff des staatsrechtlichen Positivismus“. 85 Schmitt, Verfassungslehre, S. 34. 86 Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2091. 83

A. Annäherungen an die Rahmenordnungstheorie

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„Dieser in mehrfacher Hinsicht fragmentarische Charakter der Verfassung hat zur Konsequenz, dass ihr die normativ-inhaltliche Struktur des Gesetzes notwendigerweise abgeht. Sie ist, von dieser Struktur her gesehen, eine Rahmenordnung, d. h. sie legt typischerweise nur Rahmenbedingungen und Verfahrensregeln für den politischen Handlungs- und Entscheidungsprozess fest und trifft Grund(satz)entscheidungen für das Verhältnis einzelner, Gesellschaft und Staat, enthält aber keine in einem judiziellen oder verwaltungsmäßigen Sinne schon vollzugsfähigen Einzelregelungen.“87 Weiter heißt es: „Die Verfassung wäre dann, auch und gerade in ihren materiellrechtlichen Regelungen, einerseits als verbindliche Grenzfestlegung der politischen Entscheidungsgewalt – die klassische Ausgrenzungsfunktion – zu begreifen, andererseits als verbindliche Richtungsbestimmung für die politische Handlungs- und Entscheidungsgewalt durch Festlegung bestimmter Handlungsziele und Gestaltungsprinzipien, die in die gesetzliche Rechtsordnung und das Verwaltungshandeln einzugehen und es zu prägen haben (ohne freilich dafür schon ein hinreichendes Normprogramm zu enthalten).“88 Diese allgemeine Beschreibung der Verfassung als Rahmenordnung ist allerdings wenig aussagekräftig. Man könnte sie sogar als Ausdruck des Prinzipien- und Werteordnungsdenkens verstehen, insbesondere, wenn man auf die Wendung „verbindliche Richtungsbestimmung für die politische Handlungs- und Entscheidungsgewalt durch Festlegung bestimmter Handlungsziele und Gestaltungsprinzipien, die in die gesetzliche Rechtsordnung und das Verwaltungshandeln einzugehen und es zu prägen haben“ abstellt. Eine genaue Explikation der Rahmenordnungsthese behält Böckenförde weiteren Untersuchungen vor. Hier steht zunächst die kritische Auseinandersetzung mit den Verfassungsmethoden im Vordergrund mit dem Ziel nachzuweisen, dass die Verfassung wegen ihres überwiegend fragmentarischen Charakters weniger Antworten bereithält als angenommen. Aber auch ohne weitere Explikation der Rahmenordnungsthese im Sinne einer genauen Bestimmung des normativen Geltungsanspruchs der Verfassung wird die Perspektive des Rahmenordnungsdenkens deutlich. Im Gegensatz zu der Kritik an der Grundrechtsinterpretation argumentiert Böckenförde hier nicht materiellrechtlich (Stichwort: „Freiheit schlechthin“ und „Freiheit um zu“), sondern in erster Linie kompetenzrechtlich.89 Dort, wo vollzugsfähige Regelungen fehlen oder Bereiche offen sind, fängt nicht der Bereich der Interpretation an, sondern dort endet die normative Wirkung der Verfassung und es beginnt der Kompetenzbereich von Gesetzgebung und Verwaltung. Es soll eine Verlagerung stattfinden von der vorgeblich interpretierenden, in Wahrheit aber normbildenden Auslegung auf die Gesetzgebung: „Für den materiell-rechtlichen Teil (Grundrechte, Strukturprinzipien, Zielbestimmungen) würde die Zuständigkeit zu rechtsschöpferischer Konkretisierung nicht eine kon87

Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2091. Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2099. 89 Lediglich im Hinblick auf die sozialstaatliche Grundrechtstheorie hatte Böckenförde zuvor auch auf das Problem der Kompetenzverteilung hingewiesen, Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1536. 88

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

kurrierende von Gesetzgeber und Rechtsprechung sein, sondern (wieder) dem Gesetzgeber zufallen; […].“90 Damit legt Böckenförde den Finger in die Wunde extensiver Verfassungsauslegung. Denn die Frage nach der Grenze zwischen Interpretation und rechtsschöpferischer Normbildung ist berechtigt. Unterliegen alle Rechtsfragen auch der Verfassung und damit letztlich der Entscheidung des BVerfG oder ist es gerade Sinn der Verfassung, die Entscheidungsfreiheit der staatlichen Organe möglichst zu sichern und nur äußerste Grenzen zu setzen? Ausgehend von diesem Kompetenz- und Gewaltenteilungsproblem erscheint es sinnvoll, den normativen Geltungsanspruch der Verfassung kritisch zu hinterfragen bzw. ihn in seiner Reichweite begrenzen zu wollen. Insofern deutet Böckenförde schon an, u. a. die Gewaltengliederung und das Prinzip der demokratischen Staatsorganisation für die Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Verfassungsinterpretation heranzuziehen: „Eine so gewonnene Funktionsbestimmung der Verfassungsgerichtsbarkeit, zugleich als verbindlicher Orientierungs- und Bezugspunkt der (verfassungsgerichtlichen) Verfassungsinterpretation anerkannt, könnte der Verfassungsinterpretation mit zu jener Konsolidierung verhelfen, deren sie gerade um der normativen Geltung der Verfassung willen bedarf.“91 Die Rahmenordnungsthese wäre damit nicht von den einzelnen (materiellen) Verfassungsnormen her gedacht, sondern von der Vorstellung über die Stellung des BVerfG im Gewaltengefüge. Fraglich ist allerdings, ob diese nicht unberechtigte Perspektive ausreicht, um auch den materiellen Gehalten der Verfassung gerecht zu werden.

3. „Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts“ – 1988/1990 In dem 1988 gehaltenen und 1990 veröffentlichten Vortrag kritisiert Böckenförde das Wertdenken im Verfassungsrecht aus philosophischer Sicht. Ansatzpunkt ist die Logik des Wertdenkens.92 Die Logik des Wertdenkens veranschaulicht Böckenförde anhand von drei Ausprägungen philosophischen Wertdenkens: das subjektive Wertdenken im Sinne Max Webers, wonach Werte auf Setzungen beruhen,93 das objektive Wertdenken nach Max Scheler und Nicolai Hartmann, wonach Werte objektiv, an sich seiend sind94 sowie das in gewisser Weise zwischen diesen Ansichten verortbare lebensweltlich orientierte Wertdenken nach Theodor Litt und Eduard Spranger.95 Trotz der Unterschiede seien den o.g. Richtungen zwei Dinge gemeinsam: 1. Werte sind nicht, sondern sie gelten. Der Verpflichtungscharakter von 90 91 92 93 94 95

Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2099. Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2099. Zur entsprechenden Redewendung bei Forsthoff siehe oben S. 141. Böckenförde, Kritik, S. 72 f. Böckenförde, Kritik, S. 73 f. Böckenförde, Kritik, S. 74 f.

A. Annäherungen an die Rahmenordnungstheorie

157

Werten beruhe nicht auf einem Willen oder einem Sein, sondern sei dem Wert immanent. Damit würden Werte den Anspruch auf Verwirklichung erheben, sie hätten einen fordernden, antreibenden und sogar aggressiven Charakter.96 2. Die jeweils nach Verwirklichung strebenden Werte müssten in eine Rang- und Stufenordnung gebracht werden. Die Bestimmung des Stellenwerts eines Werts und die Abwägung zwischen Werten bleibe letztlich kriterienlos, „sie bleibt dem intentionalen Wertfühlen überlassen, das mit dem Wert auch seine Stufenhöhe empfindet, konkret dem Einschätzen und Dafürhalten“.97 Die eigentümliche Logik des Wertdenkens zeige sich in der vom BVerfG vorgenommenen Geltungserstreckung der Grundrechte auf alle Bereiche des Rechts: „Indem den Grundrechten die Wertqualität zuerkannt wird, legitimiert diese – unabhängig von der konkreten juristisch-normativen Gestalt der Grundrechte – eben die Eigenschaften, die für Werte als solche kennzeichnend sind, vor allem die abstrakte und universale Geltung.“98 Es kommt also nicht darauf an, dass auf ein bestimmtes philosophisches Wertdenken abgestellt wird. In der Logik jeden Wertdenkens liegen Aggressivität und Irrationalität. Auf ähnliche Weise hat auch Schmitt seine Kritik am Wertdenken unter Berufung auf eine Wendung Nicolai Hartmanns als „Tyrannei der Werte“99 formuliert. Die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland hätten sich bei der Auslegung des Bonner Grundgesetzes ohne große Bedenken der Logik des Wertes anvertraut und den Verfassungsvollzug in einen Wert-Vollzug verwandelt mit der Folge der Umdeutung der Grundrechte und der Verfassung in ein Wertsystem sowie der Drittwirkung der Grundrechte.100 In der Bezugnahme zu Werten sieht Schmitt das Bemühen, den Positivismus mithilfe einer wertphilosophischen Legitimierung der Rechtswissenschaft zu überwinden, ohne auf das Naturrecht zurückgreifen zu müssen.101 Eine Wertbegründung des Rechts aber sei abzulehnen, da die den Werten innewohnende Logik eine zerstörerische Kraft entfalten könne. Der Wert selbst impliziere nämlich zugleich den Unwert und verlange nach einer Rangordnung durch Auf-, Ab- und Umwerten. Wertlogisch müsse dann immer gelten, dass für den höchsten Wert der höchste Preis nicht zu hoch sei und gezahlt werden müsse.102 Im Namen des Wertes könnten somit jegliche Unwerte vernichtet werden. Der „Terror“ der Werte steige in einem Rechtssystem dabei um so mehr, je mehr der Wertvollzug unmittelbar durch 96

Böckenförde, Kritik, S. 75 f. Böckenförde, Kritik, S. 76 ff.; ders., Geschichtliche Entwicklung, S. 51 f.; ders., Rechtsstaatsbegriff, S. 167. 98 Böckenförde, Kritik, S. 88. An anderer Stelle spricht Böckenförde von der „ideologischen Überhöhung“ des Geltungsanspruchs der Werteordnung, ders., Geschichtliche Entwicklung, S. 50. Die stetige Berufung auf die Wertordnung des Grundgesetzes sei ein Einlasstor für einen „Wertordnungsfundamentalismus“ mit Bekenntniszwang, ders., Der säkularisierte Staat, S. 29. Ähnlich auch ders., Rechtsstaatsbegriff, S. 164 f. 99 Hartmann, S. 576. 100 Schmitt, Tyrannei, S. 38 und 45. 101 Schmitt, Tyrannei, S. 44. 102 Schmitt, Tyrannei, S. 60. 97

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

die Richter ausgeübt anstatt durch den dafür berufenen Gesetzgeber vermittelt werde.103 Die Folgerungen aus dem Geltungsanspruch der Werte überzeugen jedoch nicht. Mag man Werten – philosophisch und in der Rechtswissenschaft – auch ein Drängen nach Verwirklichung zuweisen, so wäre dies – wie Böckenförde selbst anerkennt104 – wohl kein Problem für das subjektive Wertdenken, da Werte Wertentscheidungen eines Subjekts oder einer Mehrheit von Subjekten sind, der Verpflichtungscharakter damit also nicht absolut gilt, sondern – z. B. durch einen Gesetzgeber – gesteuert werden kann. Eine Aggressivität oder gar Tyrannei könnte man zudem erst annehmen, wenn einzelne Werte oder ein Wert verabsolutiert werden.105 Diese Gefahr hat sich – wie oben ausgeführt – für das Werteordnungsdenken des BVerfG nicht verwirklicht.106 Robbers kommt zu dem Schluss, Schmitt habe dem Wertdenken die Ideologie des Kampfes aufoktroyiert: „Es ist das Schema des Freund-Feind-Denkens, das dem Denken in Werten unterlegt wird.“107 Die Rationalitätsprobleme des philosophischen Wertdenkens im Hinblick auf Erkenntnis und Rangfolge von Werten können auch ein juristisches Wertdenken erfassen. Eine vermeintliche Logik des Wertdenkens beschreibt die Gefahren allerdings zu pauschal. 4. „Grundrechte als Grundsatznormen“ – 1990 In „Grundrechte als Grundsatznormen“ wird die Kritik an der Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG am greifbarsten. Am Beispiel der Lüth-Entscheidung und einigen Entscheidungen zu grundrechtlichen Schutzpflichten zeigt Böckenförde die konkreten grundrechtsdogmatischen Folgeprobleme einer extensiven Grundrechtsauslegung auf. Dabei geht er davon aus, dass die wertbezogene Grundrechtsauslegung durch das BVerfG normtheoretisch als Prinzipiendenken i.S.v. Alexy nachvollzogen werden kann.108 Dies vereinfacht die Diskussion, da sich damit nicht die verschiedensten Grundrechtstheorien (sozialstaatliche, demokratischfunktionale, institutionelle etc.)109 oder Methoden der Verfassungsinterpretation (Topik, topisch-hermeneutisch etc.)110 gegenüberstehen, sondern schlicht ein weites Prinzipienverständnis der Grundrechte gegenüber einem engen, auf die Eingriffsabwehr beschränkten Grundrechtsverständnis. In grundrechtsdogmatischer Hinsicht läuft die Kritik auf zwei wesentliche Punkte hinaus. 1. Die Offenheit und Unbe103 104 105 106 107 108 109 110

Schmitt, Tyrannei, S. 62. Böckenförde, Kritik, S. 75. Robbers, Wertorientierung, S. 167 f. Vgl. dazu die Ausführungen zur „Freiheit um zu“, oben S. 150 ff. Robbers, Wertorientierung, S. 167 f. Böckenförde, Grundsatznormen, S. 21. Siehe oben S. 148. Siehe oben S. 152 f.

A. Annäherungen an die Rahmenordnungstheorie

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stimmtheit der Prinzipienwirkung: Weder die Ausstrahlungswirkung enthalte einen nachvollziehbaren Maßstab oder eine Begrenzung, noch seien grundrechtliche Schutzpflichten in ihrem Inhalt und Umfang absehbar.111 2. Die freiheitsbeschränkende Wirkung einer Objektivierung der Grundrechte: Der Zuwachs an objektivrechtlicher Geltungskraft sei – noch dazu, wenn sie subjektiv-rechtlich einklagbar sei – nicht umsonst zu haben, sondern könne nur auf Kosten grundrechtlicher Freiheit von Dritten gehen.112 Welche Frage schließt Böckenförde an diesen Befund an? Nach seinen vorherigen grundrechts- und verfassungstheoretischen Überlegungen sollte man meinen, dass nun die Frage nach der verfassungsmäßigen Grundrechts- und Verfassungstheorie gestellt wird: Auf welchem Freiheitsverständnis basiert das Grundgesetz? Welches Verfassungsverständnis ist verfassungsgemäß? In diese Richtung fragt Böckenförde allerdings nicht. Vielmehr wird der Leser aufgefordert, sich zu entscheiden, und zwar zwischen einem verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat einerseits oder einem parlamentarischen Gesetzgebungsstaat anderseits.113 Wie Böckenförde die Probleme der Grundrechte als objektive Grundsatznormen auf diese Frage zuspitzt, sei kurz skizziert: Die Grundrechte als Prinzipiennormen verstanden hätten aus sich heraus keinen Maßstab und keine Begrenzung. Sie führten schließlich dazu, dass auch über das Staat-Bürger-Verhältnis hinaus Abwägungen stattfinden müssten. Dabei sei die Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht mehr auf die Angemessenheit eines bestimmten Gesetzeszwecks bezogen, sondern erfordere darüber hinausgehende „Gerechtigkeits-“ Abwägungen.114 Die Ausfüllung der grundrechtsdogmatischen Offenheit sei aber keine Interpretation mehr, sondern falle in den Bereich konkretisierender Rechtsschöpfung. Das BVerfG, das letztlich über diese Fragen zu entscheiden habe, werde zum Verfassungsgesetzgeber.115 Nicht der parlamentarische Gesetzgebungsstaat werde damit erhalten, sondern solch eine Grundrechtsdogmatik führe vielmehr zu einem verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat: „Werden demgegenüber die Grundrechte als (objektive) Grundsatznormen festgehalten und weiter entfaltet, ist das stete Fortschreiten zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat nicht aufzuhalten. Zwar mag die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung versuchen, dem Gesetzgeber fallbezogen einen weiten Gestaltungsspielraum offenzuhalten, strukturell besteht für sie eine umfassende 111

Böckenförde, Grundsatznormen, S. 8 ff. Böckenförde, Grundsatznormen, S. 18 ff.; ders., Geschichtliche Entwicklung, S. 51 („Verflüssigung der Freiheitsgewähr“). Böckenförde sieht in der Doppelqualifizierung der Grundrechte als Abwehrrechte und objektive Grundsatznormen daher eine verfassungsändernde Neuinterpretation und Verfassungswandel, siehe Böckenförde, Verfassungswandel, S. 10 f. 113 Böckenförde, Grundsatznormen, S. 31. Vgl. auch Forsthoff, der ebenfalls eine Wandlung zum Justizstaat kritisiert hat, oben S. 141. 114 Böckenförde, Grundsatznormen, S. 19 f.; mehr zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sogleich auf S. 166 ff. 115 Böckenförde, Grundsatznormen, S. 21 f. 112

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

Zugriffsmöglichkeit. Wenn nämlich die Grundrechte Prinzipiennormen mit Optimierungstendenz darstellen, ist das Verfassungsgericht gehalten, dem darin liegenden normativen Gehalt auch Geltung zu verschaffen. […] So wird das Netz verfassungsrechtlicher Vorgaben für den Gesetzgeber sowohl ausgreifender und fortschreitend auch enger geknüpft; der Gesetzgeber gerät – bezogen auf seine Rechtsgestaltungsmacht – je länger je mehr in die Rolle eines Verordnungsgebers.“116 Die Frage des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats oder verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaats hängt also unmittelbar zusammen mit dem jeweiligen Verfassungs- und Grundrechtsverständnis: „Entweder ist die Verfassung, indem sie das staatlich-politische Leben organisiert und das Grundverhältnis Bürger-Staat regelt, eine Rahmenordnung; dann enthält sie in sich nicht schon das Material, das zu einer Harmonisierung der verschiedenen Rechtspositionen untereinander führt, sondern schlägt nur Pflöcke ein, insbesondere Abwehrpositionen und spezifische Richtpunkte in Reaktion auf erfahrenes Unrecht. Eine Grundlegung der Rechtsordnung insgesamt ist sie dann nicht. Dem entspricht das Verständnis der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat. Oder die Verfassung ist die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens insgesamt. Dann ist es folgerichtig, ja notwendig, dass alle Rechtsprinzipien und Ausgleichsmöglichkeiten für die Gestaltung der Rechtsordnung in nuce schon in ihr enthalten sind. Sie ist dann eine dirigierende Verfassung, die auf Verwirklichung der in ihr enthaltenen Grundsätze drängt. Dem entspricht das Verständnis der Grundrechte als objektive Grundsatznormen, die in alle Bereiche des Rechts hineinwirken.“117 Folgt man dem weiten Grundrechts- und Verfassungsverständnis, mache man das BVerfG zum Herrn der Verfassung: „Ist die Verfassung rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens, hat sie allseitig dirigierende Funktion, ist auch die Ausermittlung der einzelnen Rechtspositionen, soweit es um substantielle Rechtsgehalte geht, Aufgabe des Verfassungsgerichts; da die verfassungsrechtlichen Vorgaben insoweit unbestimmt sind, wird das Verfassungsgericht bei seiner Konkretisierungsarbeit in deren Umfang in spezifischer Weise zum Herrn der Verfassung.“118 Die fast dramatische Zuspitzung des Grundrechts- und Verfassungsverständnisses auf die Frage nach der Kompetenz des BVerfG ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen – das wurde schon oben angedeutet – scheint Böckenförde seine ursprüngliche Fragestellung nach der verfassungsmäßigen Verfassungstheorie verlassen zu haben. Die objektiv-rechtliche Auslegung der Grundrechte wäre ein geeigneter Ausgangspunkt, um die Fragen des verfassungsrechtlichen Freiheitsverständnisses („Freiheit schlechthin“, „Freiheit um zu“) oder die Unterschiede zwischen Verfassungs- und Gesetzesauslegung zu vertiefen. Doch die Perspektive ist – und das ist die zweite Besonderheit – eine rein kompetenzrechtliche. Die weite 116 117 118

Böckenförde, Grundsatznormen, S. 29 f. Böckenförde, Grundsatznormen, S. 30 f Böckenförde, Grundsatznormen, S. 31.

A. Annäherungen an die Rahmenordnungstheorie

161

Grundrechtsauslegung ist nicht falsch, weil sie von den materiellen Grundrechtsgehalten nicht gedeckt ist, sondern weil deren Konkretisierung letztlich durch das BVerfG die Verfassungsstruktur angreift und eine unzulässige Machtverschiebung zugunsten des BVerfG bedeutet. Die Frage nach Inhalt und Reichweite von Grundrechten (und Verfassungsnormen) ist damit gleichbedeutend – und nicht nur eng verbunden – mit der Frage, wer über Inhalt und Reichweite von Grundrechten entscheidet. Dass diese Fragen nicht zu trennen sind, begründet Böckenförde mit den von ihm als eher hilflos und als gescheitert angesehenen Versuchen, die Macht des BVerfG durch judicial self-restraint, funktionell-rechtliche Begrenzungen oder einer Unterscheidung von Bindungs- und Kontrollnorm einzuhegen.119 Die Antwort auf die Frage nach dem Grundrechts- und Verfassungsverständnis wird – entgegen dem vorher erhobenen Anspruch nach einer verfassungsmäßigen Verfassungstheorie – nicht in der Verfassung gesucht, sondern den Grundrechtsinterpreten als eine Frage der Entscheidung überantwortet: „Die Alternativen sind damit hinreichend entfaltet. Die Entscheidungsfrage, um die es geht, liegt letztlich darin, wem es unter Gesichtspunkten der Demokratie und des Rechtsstaats, der politischen und der bürgerlichen Freiheit zukommen soll, die Rechtsordnung, soweit es um ihre substanziellen Gehalte geht, zu gestalten. Vertraut sich der Bürger hierfür dem gewählten parlamentarischen Gesetzgeber oder vertraut er sich dem Verfassungsgericht an? Die Grundrechtsdogmatik entscheidet, je nach dem Weg, den sie geht, über diese Frage. Sie sollte sich das auch bewusst machen.“120 5. Zwischenergebnis und weiterführende Fragen Die Kritik Böckenfördes an der Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG ist vielgestaltig: Ausgehend von der Struktur von Verfassungsnormen (Lapidarformeln, fragmentarischer Charakter) treten mal materiell-rechtliche Fragen in den Vordergrund (Freiheitsbegriff), mal methodische und rechtsphilosophische (Logik des Wertdenkens). Der Gedanke der Kompetenzverteilung, insbesondere zwischen Gesetzgeber und BVerfG tritt dabei zunehmend hervor und wird zum Schwerpunkt der Argumentation. Die Frage nach Inhalt und Reichweite von (fragmentarischen) Verfassungsnormen wandelt sich zur Frage, wie die Macht des BVerfG einzugrenzen und die Entstehung eines verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaats zu verhindern ist. In diesem Zusammenhang stellt die Rahmenordnungsthese in erster Linie eine Kritik am Kompetenzzuwachs des BVerfG dar. Fraglich ist aber, ob die Rahmenordnungsthese darüber hinausgeht und eine schlüssige Verfassungstheorie für die materiellen Verfassungsgehalte, insbesondere für die Grundrechte, liefert. Auch ein Rahmenordnungsverständnis der Verfassung versteht sich nicht von selbst, sondern bedarf konkreter Aussagen darüber, wo der Geltungsanspruch der Verfassung an-

119 120

Böckenförde, Grundsatznormen, S. 26 f. Böckenförde, Grundsatznormen S. 31.

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

fängt und wo er aufhört: kurz, wo liegt und wer bestimmt den Rahmen der Verfassung? Eine gewisse Ratlosigkeit über den Inhalt des Verfassungskonzepts von Böckenförde bringt Mehring zum Ausdruck: „Böckenförde ist ein scharfer Kritiker der Auflösung der Normativität der Verfassung; weniger deutlich ist hingegen die Tragweite seiner positiven Begründung. Der Bejahung des Grundgesetzes korrespondiert die Polemik gegen den permanenten und allgemeinen Abfall von dessen Gründungskonzept – oder dem, was Böckenförde darin entdecken will. Welche Normativität will er eigentlich bewahren? Welche Gründe hat er hierfür und inwieweit tragen diese? Ist sein Konzept für die verfassungstheoretische Durchdringung des gegenwärtigen Verfassungsrechts geeignet? Beschreibt es beispielsweise das gegenwärtige Verhältnis von Staat und Verfassung angemessen?“121 Die von Mehring aufgeworfenen Fragen sind auch für die vorliegende Aufgabenstellung bedeutsam und werden in ähnlicher Form die weitere Untersuchung leiten. Zunächst geht es um die von Böckenförde angestrebte Normativität der Verfassung, also den konzeptionellen Gehalt der Rahmenordnungstheorie (B.). Sodann stellt sich die Frage, wie weit der verfassungstheoretische Erklärungswert der Rahmenordnungstheorie reicht. Stellt sie eine plausible Erklärung der formellen und materiellen Verfassungsgehalte dar und lässt sich ihr Erklärungswert in der Form der Regel- und Prinzipiendenkens fassen? (C.)? Oder liegt der Rahmenordnungstheorie (auch) ein Denken zugrunde, das sich – losgelöst von der Verfassung – als Denken vom Staat her entfaltet (D.)?122

B. Der konzeptionelle Gehalt der Rahmenordnungstheorie Eine ausführliche Ausarbeitung der Rahmenordnungstheorie von Böckenförde – vergleichbar der Prinzipientheorie in der „Theorie der Grundrechte“ – liegt nicht vor. Auf den konzeptionellen Gehalt der Rahmenordnungsthese kann daher nur durch eine Mosaikschau der einschlägigen Werke Böckenfördes rückgeschlossen werden. Das Hauptaugenmerk soll dabei – auch im Hinblick auf die spätere Gegenüberstellung von Rahmen- und Werteordnung – auf diejenigen Bereiche gerichtet werden, für die das Werteordnungsdenken Antworten anbietet. Im Vordergrund stehen daher Fragen des Grundrechtsverständnisses bzw. der Grundrechtsauslegung: Wie steht das Rahmenordnungsverständnis zur Ausstrahlungswirkung der Grundrechte 121

Mehring, Böckenförde, S. 472. Mit der Untersuchung von Manterfeld liegt bereits eine Rekonstruktion der Rahmenordnungstheorie von Böckenförde vor. Deren Ergebnisse tragen zu den hier gestellten Fragen allerdings wenig bei, da Manterfeld keinen explizit kritischen Ansatz wählt. Dies liegt nicht zuletzt an seiner Fragestellung, die weniger von der von Böckenförde hervorgehobenen Frage nach einer verfassungsmäßigen Verfassungstheorie geleitet als vielmehr darauf gerichtet ist, die Möglichkeiten limitierender Verfassungstheorie, insbesondere am Beispiel Böckenfördes, aufzuzeigen. 122

B. Der konzeptionelle Gehalt der Rahmenordnungstheorie

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und zur Erweiterung der Grundrechtsfunktionen (I.)? Welche Bedeutung kommt der Abwägung bzw. dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu (II.)? Hält das Rahmenordnungsverständnis gar eine neue Grundrechtsdogmatik bereit (III.)?

I. Grundrechte als Abwehrrechte Böckenförde hat sich mit der Ausweitung der Grundrechtsfunktionen über die Abwehrdimension hinaus nicht nur kritisch auseinandergesetzt. Die Schlussfolgerung der Kritik ist vielmehr die explizite Ablehnung jeglicher über die Abwehrdimension hinaus gehender Grundrechtswirkungen. Das betrifft nicht nur Leistungsund Schutzdimensionen der Grundrechte,123 sondern auch die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte in alle Bereiche des Rechts.124 Dem Verständnis der Grundrechte als Prinzipiennormen wird ein rein abwehrrechtliches Grundrechtsverständnis entgegengesetzt: „Wer die maßgebliche Funktion des vom Volk gewählten Parlaments für die Rechtsbildung festhalten, einen fortschreitenden Umbau des Verfassungsgefüges zugunsten eines verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates vermeiden will, muss auch daran festhalten, dass die – gerichtlich einforderbaren – Grundrechte ,nur‘ subjektive Freiheitsrechte gegenüber der staatlichen Gewalt und nicht zugleich (verbindliche) objektive Grundsatznormen für alle Bereiche des Rechts sind.“125 Die Begrenzung der Grundrechte auf ihre Abwehrfunktion ist nach Böckenförde Ausdruck eines Rahmenordnungsverständnisses der Verfassung: „Entweder ist die Verfassung, indem sie das staatlich-politische Leben organisiert und das Grundverhältnis Bürger-Staat regelt, eine Rahmenordnung; dann enthält sie in sich nicht schon das Material, das zu einer Harmonisierung der verschiedenen Rechtspositionen untereinander führt, sondern schlägt nur Pflöcke ein, insbesondere Abwehrpositionen und spezifische Richtpunkte in Reaktion auf erfahrenes Unrecht. […] Dem entspricht das Verständnis der Grundrechte als subjektive Freiheitsrechte in Abwehrrichtung gegen den Staat.“126 Ziel der strikten Beschränkung der Grundrechte auf die Abwehrdimension ist entsprechend der oben ausgeführten Kompetenzkritik der Schutz der Autonomie des Gesetzes und des Gesetzgebers: „Werden die Grundrechte auf subjektive Freiheitsrechte im unmittelbaren Verhältnis Bürger/Staat zurückgenommen, verlieren ihre sog. objektiv-rechtlichen Gehalte nicht global jede Orientierungswirkung für den Gesetzgeber, aber sie bleiben ohne gerichtliche Einforderbarkeit und konkretisierende Festlegung durch das Verfassungsgericht mit bindender Wirkung für ihn. Die Gesetzgebung behält insoweit die Aufgabe der originären Umsetzung ethischer 123

28 ff. 124

Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1535 ff., 1538; ders., Grundsatznormen, S. 12 ff.,

Böckenförde, Grundsatznormen, S. 8 ff., 28 ff. Böckenförde, Grundsatznormen, S. 28. 126 Böckenförde, Grundsatznormen, S. 30 f. und unter dem Aspekt „parlamentarischer Gesetzgebungsstaat oder verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat“ bereits oben S. 160. 125

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

und politischer Prinzipien (Rechtsgrundsätze i.S. Hermann Hellers) in vollzugsfähiges Recht, die recht-schaffende Kraft des Gesetzes (Otto Mayer) erhält ihre frühere Bedeutung zurück.“127 Die Grundrechtsfunktionen werden danach nicht aus der Perspektive der Grundrechtsträger verstanden, sondern vom Gesetzgeber her: Alles, was die gesetzgeberische Freiheit unterlaufen oder durchwirken könnte (Ausstrahlungswirkung) und alles, was dem Gesetzgeber nicht nur unverbindliche Orientierung,128 sondern verbindliche Zwecke auferlegen könnte (Grundrechte als Leistungsrechte), sprengt eine als Rahmenordnung verstandene Verfassung. Die Beschränkung auf die Abwehrdimension bedarf allerdings noch einer Präzisierung. Der Deutung der Grundrechte als Abwehrrechte liegt keine strikte liberale Grundrechtsauffassung zugrunde; nicht alle Grundrechtsnormen weisen als „Freiheit schlechthin“ mindestens oder nur eine Abwehrdimension auf. Neben ausdrücklichen Schutzgewährleistungen wie in Art. 6 Abs. 1 GG können die Normen des Grundrechtsteils auch einen bloß institutionellen Charakter aufweisen.129 So deutet Böckenförde die Rundfunkfreiheit – aus historischen Gründen – nicht als subjektives Abwehrrecht, sondern nur als „institutionelle Rahmen- oder Strukturgarantie“.130 Auf der anderen Seite betont Böckenförde die Möglichkeiten des Gesetzgebers, aufgrund des Sozialstaatsprinzips die tatsächlichen Voraussetzungen für die Grundrechtsverwirklichung zu schaffen.131 Die fehlende grundrechtliche Einklagbarkeit der Grundrechtsvoraussetzungen dient dabei einer möglichst umfassenden Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Zur Begründung seiner liberalen Grundrechtstheorie führt Böckenförde ein historisch-genetisches Argument an. Die normative Grundintention des Grundrechtsteils sei der Rückgriff auf die klassischen Freiheitsrechte und das Freiheitsprinzip des liberalen Rechtsstaats gewesen, und zwar als Antwort auf die elementaren Freiheitsverletzungen der NS-Zeit.132 Der Bericht von v. Mangoldt an das Plenum des 127

Böckenförde, Grundsatznormen, S. 28 f. Eine Orientierungsfunktion soll nicht nur den Grundrechten, sondern insbesondere auch dem Achtungsgebot der Menschenwürde zukommen, Böckenförde, Grundsatznormen, S. 28 f. Eine Erweiterung der Grundrechtsgehalte in Richtung objektiver Grundrechtswirkungen ist damit aber nicht verbunden, vgl. auch Manterfeld, S. 86. 129 Böckenförde, Die „Rundfunkfreiheit“ – ein Grundrecht?, S. 78. 130 Böckenförde, Die „Rundfunkfreiheit“ – ein Grundrecht?, S. 80; dazu auch Manterfeld, S. 94 ff. Zum auch subjektiv-rechtlichen Charakter der Rundfunkfreiheit und der insoweit ambivalenten Rechtsprechung des BVerfG siehe aber Schütz, S. 152 ff., m.w.N. 131 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1538: „Das Grundgesetz ist jedoch hierbei nicht stehengeblieben. Es hat vielmehr das zentrale Problem der liberalen Grundrechtstheorie und der hinter ihr stehenden liberalen Staatsauffassung: die relative Blindheit gegenüber den sozialen Voraussetzungen der Realisierung grundrechtlicher Freiheit, aufgenommen und durch die Festlegung des Sozialstaatsauftrags als eines verbindlichen, dem Rechtsstaat nebengeordneten Verfassungsprinzips einer positiven Lösung zugeführt.“ In diesem Zusammenhang soll auch die Eigentumsgarantie – bis zur Grenze des Wesensgehalts des Grundrechts – primär der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber obliegen, siehe dazu Manterfeld, S. 98 ff. 132 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1537. 128

B. Der konzeptionelle Gehalt der Rahmenordnungstheorie

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Parlamentarischen Rates scheint diese Sicht zu bestätigen. Im Gegensatz zu dem Versuch der Weimarer Verfassung, durch die Grundrechte und Grundpflichten auch die Grundsätze für eine kulturelle und soziale Lebensordnung aufzustellen, sollte angesichts der ungewissen Zukunft „in diesem Grundgesetz der Rahmen nicht so weit gespannt werden“, vielmehr hätten die Beteiligten ihre Aufgabe darin gesehen, „die Grundrechte im Sinne der alten klassischen Grundrechte zu gestalten“.133 Doch muss der klassische Gehalt der Grundrechte aus historischer Sicht gerade nicht nur ein abwehrrechtlicher sein.134 In seiner Kommentierung des Art. 1 GG von 1953 hebt v. Mangoldt darüber hinaus die Bedeutung der Menschenwürde hervor, die die Auslegung der Grundrechte in wesentlich andere Bahnen lenken sollte als unter der Weimarer Reichsverfassung: „Jedenfalls war aber der Wille des Gesetzgebers, dass in den Grundrechten nicht mehr die Einzelperson im alten liberalen Sinne im Mittelpunkt stehen sollte.“135 Die Achtung der Menschenwürde gelte insofern auch zwischen Privaten: „Das Gebot bezieht sich aber nicht nur, wie vielleicht aus Satz 2 des Abs. 1 geschlossen werden könnte, auf das Verhältnis des einzelnen zum Staat, sondern ergreift auch die Beziehungen der einzelnen oder Gruppen von ihnen zueinander. Nach einer Zeit schwerster Bedrückung durch den Staat hat erklärlicherweise eine Sicherung ihm gegenüber das vordringliche Interesse beansprucht. Wie sollte aber ein Staatswesen, das für das Verhältnis des einzelnen zum Staat diesen obersten Grundsatz aufstellt, es zulassen können, dass er im Verhältnis der einzelnen untereinander von dem Mächtigeren mit Füßen getreten wird.“136 So überrascht es auch nicht, dass – entgegen der Annahme Böckenfördes137 – die Vorstellung vom Grundgesetz als Ausdruck eines Wertsystems und der Menschenwürde als zentralem Wert im Parlamentarischen Rat durchaus von Bedeutung gewesen ist. In seinem Bericht an das Plenum des Parlamentarischen Rates führt v. Brentano dementsprechend aus: „Die rechtliche Bedeutung und Tragweite der zu Bestandteilen diese Grundgesetzes erklärten Artikel der Weimarer Verfassung ist nicht richtig zu ermessen, wenn ihre Auslegung primär aus dem Blickpunkt der früheren Reichsverfassung erfolgen oder ihre Betrachtung isoliert vorgenommen würde. Sinn und Zweck, wie sie den Bestimmungen heute richtigerweise zukommen, ergeben sich vielmehr nur aus der Tatsache ihrer Einbettung in das gesamte Wertsystem des Grundgesetzes, ihres Einbezogenseins in den Rahmen der Gesamtentscheidung, 133

v. Mangoldt, in: Parlamentarischer Rat, Schriftlicher Bericht, S. 5. H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 27 ff.; ebenso Jarass, Wertentscheidungen, S. 372 ff. 135 v. Mangoldt, GG, Anm. 1 zu Art. 1, S. 43. Besonders deutlich gegen die Rückkehr zum reinen Liberalismus v. Mangoldt/Klein, GG, Vorbem. B VI, S. 101: „Die Abkehr des Grundgesetzes vom reinen Liberalismus ergibt sich insbesondere aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 Halbs. 2; aus diesen beiden Vorschriften folgt, ,dass – trotz des nachfolgenden Katalogs der wesentlichen negativen Rechte – das Grundgesetz nur im Phänotypus zur Verfassungsform des alten liberalen Rechtsstaats zurückgekehrt ist (…)‘.“ 136 v. Mangoldt, GG, Anm. 2 zu Art. 1, S. 44. 137 So Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1537 und Fn. 94: „[…] von Werten oder einer Wertordnung spricht das GG und sprach man in den Beratungen mit keinem Wort, […].“ 134

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

dessen Ausdruck das Grundgesetz ist. Besonders klar ist aus dem Grundrechtsteil zu ersehen wie sehr das Grundgesetz mitten aus dem Geist unserer Zeit heraus bestimmt und gestaltet ist. Er beweist – vor allem in der Unbedingtheit der Herausstellung des Wertes der Menschenwürde – eindeutig die Anerkennung rechtlich relevanter Gegebenheiten, die dem Staat gegenüber präexistent sind, unabhängig von jeder staatlichen Rechtssetzung.“138

II. „Polizeirechtliche Verhältnismäßigkeit“ Nach der von Böckenförde befürchteten Logik des Wertdenkens bleibt die Abwägung zwischen Werten letztlich kriterienlos, dem intentionalen Wertfühlen überlassen und damit eine Frage des bloßen Einschätzens und Dafürhaltens.139 Man könnte daher vermuten, dass Abwägungen als irrationale Form der Rechtsanwendung und damit auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz überhaupt nicht zur Anwendung kommen sollen. Diese Konsequenz zieht Böckenförde jedoch nicht.140 Grundsätzlich sei die klassische Verhältnismäßigkeitsprüfung die Konsequenz rechtsstaatlich-liberaler Freiheitsgewähr.141 Mit ihr werde der Gedanke des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips nach Schmitt, wonach die Freiheit des einzelnen, rechtlich gesehen, prinzipiell unbegrenzt ist, die Befugnis des Staates zu Eingriffen hingegen prinzipiell begrenzt,142 konsequent weitergeführt. Diese Ratio habe auch das BVerfG aufgegriffen: „Das BVerfG hat sie [erg.: die ratio] aufgenommen und ihr einen neuen Akzent verliehen, indem jede Grundrechtseinschränkung den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips unterstellt hat.“143 Allerdings dürfe die Verhältnismäßigkeitsprüfung ihre Konturen nicht verlieren und in ein „kriterienloses Abwägen“ auseinander fließen.144 Welche Abwägungen nun zulässig und welche als Ausdruck kriterienlosen Abwägens unzulässig sein sollen, lässt sich nicht eindeutig rekonstruieren, da Böckenförde dazu – soweit ersichtlich – nur skizzenhafte Ausführungen macht.145 In den Bereich unzulässigen Abwägens – und insoweit stimmig zur Beschränkung der Grundrechte auf die Eingriffsabwehr – fällt jedenfalls die Anwendung des Ver138

v. Brentano, in: Parlamentarischer Rat, Schriftlicher Bericht, S. 73 (Herv. d. Verf.). Böckenförde, Kritik, S. 76 ff.; ders., Geschichtliche Entwicklung, S. 51 f. und oben S. 157 f. 140 Anders als Forsthoff, der zumindest für die Auslegung des Verfassungsrechts nur auf die klassischen Auslegungsregeln nach Savigny verweist, siehe oben S. 144. 141 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1531. 142 Zum Verteilungsprinzip Schmitt, Verfassungslehre, S. 175. 143 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1531. 144 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1531. 145 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1531.; ders., Gesetz und gesetzgebende Gewalt (Nachwort), S. 402; ders., Grundsatznormen, S. 20 f., 29, Fn. 110, ders., Schutzbereich, S. 190; ders., Interpretation, S. 603, Fn. 45. 139

B. Der konzeptionelle Gehalt der Rahmenordnungstheorie

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hältnismäßigkeitsgrundsatzes außerhalb des abwehrrechtlichen Staat-Bürger-Verhältnisses. Bei der Abwägung objektiver Grundrechtsgehalte, also im Bereich der Ausstrahlungswirkung oder sonstiger Leistungs- und Schutzfunktionen der Grundrechte, finde nicht die klassische Verhältnismäßigkeitsprüfung statt, sondern die Prüfung einer „Angemessenheits-Verhältnismäßigkeit“, die – ohne Maßstab – letztlich in allgemeine Gerechtigkeitserwägungen münde. Denn im Gegensatz zur klassischen Verhältnismäßigkeit fehle der feste Bezugspunkt zu einem bestimmten Gesetzeszweck.146 Bei der „Angemessenheits-Verhältnismäßigkeit“ gehe es darum, Vereinbarkeit, Ausgleich, angemessene Zuordnung mehrerer, auch gegenläufiger normativer Prinzipien zu erreichen: „Dies zu verwirklichen, ist freilich eher Aufgabe der Gestaltung als der (interpretativen) Anwendung einer Rechtsordnung.“147 Danach könnte man meinen, die klassische Verhältnismäßigkeitsprüfung innerhalb des Staat-Bürger-Verhältnisses soll uneingeschränkt zur Anwendung kommen. Aber auch insoweit stellt Böckenförde kritische Überlegungen an, insbesondere im Hinblick auf die „Hochzonung“ der Verhältnismäßigkeit von einem verwaltungsrechtlichen zu einem verfassungsrechtlichen Grundsatz.148 An eher entlegener Stelle, im Nachwort zur Zweitauflage seiner Dissertation „Gesetz und gesetzgebende Gewalt“, heißt es: „Für den verwaltungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist das Gesetz Ausgangs- und Bezugspunkt. Seinen Geboten ist Geltung zu verschaffen, der gesetzliche Rechtszustand ist herzustellen und zu wahren, aber das soll mit verhältnismäßigen Mitteln bzw. Eingriffen geschehen. Daran hat sich das Handeln der Verwaltung auszurichten. Wird hingegen die Verfassung der Ausgangsund Bezugspunkt des Verhältnismäßigkeitsprinzips und erhält es selbst Verfassungsrang, so gerät nicht nur das Handeln der Verwaltung, sondern notwendig auch das Gesetz selbst in Mittelfunktion. Es ist nicht mehr aus sich Recht schaffend und zwecksetzend, sondern hat ihm vorausliegende Zwecke, insb. die Zwecke der Verfassung, wie Grundrechtsgewährleistung oder Staatszielbestimmungen, zu realisieren und sich dafür als verhältnismäßig zu erweisen. Seine Geltung hat es nicht mehr aus sich, sondern aus der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit im Hinblick auf die vorausliegenden Zwecke. Das Gesetz erhält damit Vollziehungscharakter, es nimmt im System der rechtsetzenden Staatsakte (nurmehr) den Platz der Verordnung ein. Die (alte) Funktion des Gesetzes, aus sich, gewissermaßen selbsttragend, Recht zu schaffen, geht über auf die Verfassung und wird, vom Ansatz her, auf sie begrenzt. Die Verfassung erscheint nicht mehr als ausgrenzend-konstituierende Rahmenordnung, innerhalb deren der Gesetzgeber das Recht autonom festlegt, sondern als die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens selbst, die – selbst fragmentarisch und in Grundsätzen formuliert – des Gesetzes zu ihrer Konkretisierung und vollziehenden Verwirklichung bedarf.“149 146

Böckenförde, Grundsatznormen, S. 20. Böckenförde, Grundsatznormen, S. 20 f. 148 Zu den Ursprüngen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes siehe oben 1. Teil, B. II. 2., Fn. 171. 149 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt (Nachwort), S. 402. 147

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

Kernpunkt der Kritik ist die Wirkung eines verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf das Gesetz und den Gesetzgeber. Die Umbildung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes von einem verwaltungsrechtlichen zu einem verfassungsrechtlichen habe zu einer „Entthronung“ des Gesetzes geführt: „Das Gesetz verliert zunehmend seinen Charakter als selbsttragende, von sich aus zwecksetzende und in diesem Sinn Recht schaffende Regelung. Wenn Otto Mayer seinerzeit von der ,rechtssatzschaffenden Kraft‘ des Gesetzes sprach, verstand er das keineswegs nur formal als Hervorbringung einer abstrakt-generellen Regelung. Es bedeutete auch, dass das Gesetz aus sich Rechtsnormen begründet und festlegt, als ein Stück Verwirklichung der Rechtsidee und auf die Lebenswirklichkeit angewandter Rechtsgedanken. Von daher kam dem Gesetz die ,Unverbrüchlichkeit‘ der Geltung zu. Sie hatte ihre Legitimation in sich, musste sich nicht an höheren Zwecken oder Zielen, denen sie als Mittel dient, legitimieren. Diese Unverbrüchlichkeit und Geltung aus sich selbst hat das Gesetz heute nicht mehr. Es sind nicht primär der Vorrang der Verfassung, an die der Gesetzgeber gebunden ist, und die verfassungsgerichtliche Gesetzeskontrolle als Mittel zu Durchsetzung dieses Vorrangs, die diese ,Entthronung‘ des Gesetzes heraufgeführt haben. Beides sind notwendige, aber nicht schon hinreichende Bedingungen dafür. Der entscheidende Ansatzpunkt liegt in der Umbildung des Verhältnismäßigkeitsprinzips aus einem verwaltungsrechtlichen Grundsatz zu einem allgemeinen, dem Rechtsstaatsbegriff innewohnenden Verfassungsprinzip mit Verfassungsrang, die das BVerfG, von der Staatsrechtslehre unterstützt, in seiner Rechtsprechung vollzogen hat.“150 In eine ähnliche Richtung, aber nicht auf den Gesetzesbegriff abstellend, geht die Kritik von Forsthoff an einem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die Frage, ob ein Gesetz vernünftig oder sachlich einleuchtend sei, könne ein Gericht nur mit einer eigenen Wertung entscheiden, „die mit Subsumtion nichts zu tun“ habe.151 Die Überführung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – eines verwaltungsrechtlichen Begriffes – in das Verfassungsrecht bedeute, dass „Verwaltungsbeamte wie Richter sich unter Berufung auf diesen Grundsatz von der Anwendung zwingenden Rechts dispensieren können“.152 Lehnt man einen verfassungsrechtlich verankerten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ab, so kommen Verhältnismäßigkeitserwägungen nur im Rahmen der Gesetze in Betracht, zur Bindung der rechtsanwendenden Organe, nicht aber zur Kontrolle des Gesetzgebers selbst. Im Zusammenhang mit der sogleich zu behandelnden neuen Lehre zum Gewährleistungsinhalt der Grundrechte fordert Böckenförde dementsprechend die Anwendung der Verhältnismäßigkeit „wie sie im Polizeirecht entwickelt worden ist“.153 Kennzeichen dieser „polizeirechtlichen Verhältnismäßigkeit“ ist, dass nur die verhältnismäßige Anwendung des Gesetzes im konkreten Einzelfall geprüft wird: 150 151 152 153

Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt (Nachwort), S. 401 f. Forsthoff, Industriegesellschaft, S. 136. Forsthoff, Industriegesellschaft, S. 139. Böckenförde, Schutzbereich, S. 190.

B. Der konzeptionelle Gehalt der Rahmenordnungstheorie

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„Die polizeirechtliche Verhältnismäßigkeit deckt alle Regelungen, die im Hinblick auf einen selbstgesetzten gemeinwohlverträglichen Gesetzeszweck geeignet und erforderlich erscheinen und in der individuellen (nicht der generellen Regelung) nicht in einem offenbaren Missverhältnis zum erstrebten Zweck stehen.“154 Das dritte Glied der Verhältnismäßigkeit, also die Angemessenheit, sei nach der klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung auf den individuellen Fall beschränkt und beziehe sich nicht auf den Inhalt einer generellen Regelung.155 Die Schlussfolgerung aus der Beschränkung der Verhältnismäßigkeit auf die „polizeirechtliche Verhältnismäßigkeit“ ist aber wiederum nicht, dass der Gesetzgeber völlig frei wäre. Ausgeschlossen werden soll nur die Angemessenheitskontrolle. Im Übrigen gilt: „Die Überprüfung von Gesetzen beschränkt sich daher auf die Geeignetheit und Erforderlichkeit im Hinblick auf den gemeinwohlverträglichen Zweck.“156 Mangels weiterer Explikation bleiben wesentliche Fragen offen. Zunächst verwirren die verschiedenen Verhältnismäßigkeitsbegriffe. Einerseits wird unterschieden zwischen verfassungsrechtlicher und verwaltungsrechtlicher Verhältnismäßigkeit, anderseits zwischen klassischer (bzw. polizeirechtlicher) Verhältnismäßigkeit und Angemessenheits-Verhältnismäßigkeit. Die Ausführungen zur ersten Unterscheidung sprechen dafür, dass der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der zur „Entthronung“ des Gesetzgebers führe, gänzlich aufgegeben werden soll. Die Ausführungen zur klassischen und zur Angemessenheits-Verhältnismäßigkeit sprechen dafür, dass der Gesetzgeber zumindest keiner Angemessenheitskontrolle unterliegen soll. Angemessenheitsprüfungen sollen nur im individuellen Fall als „polizeirechtliche Verhältnismäßigkeit“ zur Anwendung kommen. Aber auch insoweit bleibt unklar, ob der Ausschluss der Angemessenheitskontrolle gegenüber dem Gesetzgeber stets gelten soll. Die in diesem Zusammenhang einschlägige kurze Passage könnte man auch so deuten – und das wäre im Ergebnis freilich noch komplizierter –, dass sich die beschränkte Kontrolle von Gesetzen nur auf den von Böckenförde erörterten Kontext der allgemeinen Handlungsfreiheit bezieht.157 154

Böckenförde, Schutzbereich, S. 190, Fn. 94. Zur Unterscheidung, nicht aber weitergehend zum Anwendungsbereich von Angemessenheits-Verhältnismäßigkeit und der klassischen polizeirechtlichen Verhältnismäßigkeit Böckenförde, Interpretation, S. 603, Fn. 45. 155 Böckenförde, Grundsatznormen, S. 20, Fn. 81. Auf diese Stelle verweisend Böckenförde, Schutzbereich, S. 190, Fn. 94. 156 Böckenförde, Schutzbereich, S. 190, Fn. 94. Zum Verzicht auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne vgl. auch Schlink, Eingriffsabwehr, S. 461 f. Kritisch dazu Uerpmann, Das öffentliche Interesse, S. 274 f. 157 Böckenförde, Schutzbereich, S. 190: „Er [erg.: der weite Schrankenvorbehalt des Art. 2 Abs. 1 GG] kann und soll richtigerweise den Schutz grundsätzlich auf das Maß der Verhältnismäßigkeit beschränken, wie sie im Polizeirecht entwickelt worden ist […].“ Grundsätzlich (ebda, Fn. 93), weil Art. 2 Abs. 1 GG auch ein engeres allgemeines Persönlichkeitsrecht enthält. Daraus könnte man schließen, die „polizeirechtliche Verhältnismäßigkeit“ solle nur im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit zur Anwendung kommen. In diese Richtung auch vorher Böckenförde, Grundsatznormen, S. 29, Fn. 110, wonach bei einer Beschränkung der Verhältnismäßigkeit auf das Staat-Bürger-Verhältnis die Angemessenheit wohl zumindest in

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

Unabhängig davon wird man aber zweierlei festhalten können. Zum einen führt die Rationalitätskritik Böckenfördes bezüglich Abwägungen nicht dazu, Abwägungsvorgänge aus der Rechtsanwendung auszuschließen. Zumindest bei der Anwendung von Gesetzen – allerdings beschränkt auf das Staat-Bürger-Verhältnis – kommen Abwägungen im Rahmen der Angemessenheitsprüfung als drittes Glied der klassischen Verhältnismäßigkeit in Betracht. Soweit es allerdings – und das wäre der zweite Punkt – um die Verhältnismäßigkeit von Gesetzen geht, zieht Böckenförde Einschränkungen der Kontrolle in Erwägung. Denn die Angemessenheits-Verhältnismäßigkeit ist ihm nicht nur im Bereich objektiv-rechtlicher Grundrechtswirkungen, sondern grundsätzlich ein Dorn im Auge. Eine Beschränkung der Verhältnismäßigkeitskontrolle auf die Prüfung der Eignung und Erforderlichkeit von Gesetzen – und sei es nur im Anwendungsbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit – würde die Autonomie des Gesetzgebers erheblich steigern.158 Und um diese geht es. Dies zeigt die scharfe Kritik an der vermeintlichen „Entthronung“ des Gesetzes und des Gesetzgebers deutlich.159

III. Die Lehre vom Gewährleistungsinhalt der Grundrechte Nach den bisherigen Ergebnissen zur Beschränkung der Grundrechtswirkung auf die Abwehrdimension und zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz steht das Rahmenordnungskonzept für eine Zurückdrängung der Verfassungsbindung und -kontrolle. Mit ganz konkreten Festlegungen des verbleibenden verfassungsrechtlichen Rahmens ist Böckenförde hingegen zurückhaltend geblieben. Aufschlussreich ist allerdings seine neue Lehre vom Gewährleistungsinhalt der Grundrechte, die auf eine Beschränkung grundrechtlicher Schutzbereiche hinausläuft.160 Die Idee zur Beschränkung grundrechtlicher Schutzbereiche ist – wie schon die obigen Beispiele aus der Rechtsprechung des BVerfG gezeigt haben161 – nicht neu. Auch in der Literatur werden enge Tatbestandstheorien, Immanenzlehren und Innentheorien diskutiert,162 Form eines offenbaren Missverhältnisses geprüft werden soll: „[…]; ihre dritte Stufe wäre, abgesehen vom Fall des offenbaren Missverhältnisses, kein Ansatzpunkt mehr, die Regelung als solche in Frage zu stellen.“ 158 Etwas untertrieben dürfte demgegenüber die Formulierung von Böckenförde, Schutzbereich, S. 190, sein: „Das wirkt sich nicht zuletzt zugunsten der Gestaltungsfreiheit des demokratischen Gesetzgebers aus.“ 159 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt (Nachwort), S. 401 f. 160 Böckenförde, Schutzbereich, S. 174 ff. Inspirierend hätten die etwas länger zurückliegenden Überlegungen Wahls zur Wissenschaftsfreiheit gewirkt, vgl. Kahl, Gewährleistungsgehalt, S. 178. 161 Siehe oben S. 90 f. 162 Vgl. Kahl, Gewährleistungsgehalt, S. 168 mit umfangreichen Nachweisen zum Streitstand. Kritisch zur Begrenzung vorbehaltloser Grundrechte durch formale oder materiale Immanenzlehren (Schrankenübertragung, Rechtsordnung als Grenze, Gemeinschaftsvorbehalt,

B. Der konzeptionelle Gehalt der Rahmenordnungstheorie

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in jüngerer Zeit ist von grundrechtlichen Gewährleistungsgehalten, -inhalten und -bereichen die Rede.163 Eine Beschränkung der grundrechtlichen Schutzbereiche auf einen engen Gewährleistungsgehalt muss aber – wie das Beispiel von HoffmannRiem zeigt – nicht mit einem restriktiven Grundrechtsverständnis im Übrigen einhergehen.164 1. Problemanalyse Ausgangspunkt der Gewährleistungslehre im Sinne Böckenfördes ist die Annahme einer unzureichenden Schutzbereichs-, Eingriffs- und Schrankendogmatik165 bei der Grundrechtsauslegung.166 Ein weites Schutzbereichs- und Eingriffsverständnis führe notwendig zu einer Ausweitung der Schranken. Dies mache den Grundrechtsschutz nicht nur unübersichtlicher, sondern gefährde ihn auch.167 Der Grundrechtsschutz werde vor allem durch die mittlerweile flächendeckende Anwendung verfassungsimmanenter Schranken relativiert. Durch sie könnten Grundrechte, deren Beschränkbarkeit begrenzt oder sogar ausgeschlossen ist (vorbehaltlose Grundrechte), in kaum noch nachvollziehbarer Weise begrenzt werden.168 Verfassungsimmanente Schranken seien dabei nicht nur insofern zu kritisieren, als ihre Herleitung – z. B. aus bundesstaatlichen Kompetenzbestimmungen – fragwürdig sei: „wie viele Bestimmungen des Grundgesetzes lassen sich unschwer zu Verfassungswerten oder -gütern stilisieren, Sicherheit zumal“.169 Darüber hinaus würde die Berufung auf verfassungsimmanente Schranken auch die Kompetenz des GesetzGemeinwohlvorbehalt, Vorbehalt der „streitbaren Demokratie“, Missbrauchsvorbehalt, Friedlichkeitsvorbehalt) Misera-Lang, S. 77 ff. 163 Soweit ersichtlich wird überwiegend vom Gewährleistungsgehalt gesprochen, was in der Sache aber keinen Unterschied macht, vgl. Hoffmann-Riem, Gewährleistungsgehalte, S. 53 ff.; Murswieck, S. 481 f.; Kahl, Gewährleistungsgehalt, S. 167 ff.; vgl. aber auch BVerfGE 105, 252, wo von Gewährleistungsbereich die Rede ist. Die Begriffe Gewährleistungsgehalt, Gewährleistungsbereich und Gewährleistungsinhalt werden im Folgenden synonym verwendet. 164 Hoffmann-Riem, Grundrechtsanwendung, S. 226 ff., wonach die engen Gewährleistungsgehalte in eine ansonsten weite Grundrechtstheorie eingebettet sind. In diese Gewährleistungsgehalte seien neben der Abwehrfunktion auch die Dimensionen der Schutzaufträge und Ausstrahlungswirkungen auf andere Normen einzubeziehen. Hoffmann-Riem grenzt sich eindeutig ab, ders., Gewährleistungsgehalte, S. 55: „Meine Skepsis gegenüber dem Anhalten des Trends zur Schutzgehaltsausweitung ordne ich ausdrücklich nicht in den Chor der Grundrechtsskeptiker, denen die ganze Richtung nicht passt und die eine Hypertrophie der Grundrechte geißeln.“ 165 Zum Begriff Dogmatik als einem System von Sätzen, mit denen das geltende Recht begrifflich-systematisch durchdrungen und auf abstrakte Institute zurückgeführt wird, Volkmann, S. 262. 166 Kritisch zur Ausweitung der grundrechtlichen Schutzbereiche sowie des Eingriffsverständnisses auch Hoffmann-Riem, Gewährleistungsgehalte, S. 62 ff.; Murswieck, S. 474 ff. 167 Böckenförde, Schutzbereich, S. 167 ff. 168 Böckenförde, Schutzbereich, S. 168. 169 Böckenförde, Schutzbereich, S. 168 f.

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

gebers untergraben. Denn für die Anwendung verfassungsunmittelbarer Schranken, seien es Grundrechte Dritter oder sonstige mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte, würde es auf eine vorherige gesetzgeberische Ausgestaltung nicht ankommen. Vielmehr würden die verfassungsunmittelbaren Schranken unmittelbar angewendet werden und führten durch den damit einher gehenden Machtzuwachs des BVerfG zu einer Verschiebung im Gewaltengefüge.170 Die Gefahren für den Grundrechtsschutz und das grundgesetzliche Kompetenzgefüge fasst Böckenförde wie folgt zusammen: „Auf der Grundlage gegenwärtiger Grundrechtsdogmatik sind die Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt, deren Freiheitsgehalt die Verfassung besonders stark gewährleisten wollte, mindestens ebenso leicht, wenn nicht gar leichter zu handhaben und mit Einschränkungen zu versehen, als die Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt. Das Ensemble verfassungsimmanenter Schranken kann bei ihnen voll zur Geltung gebracht werden; für eine Rücksichtnahme für den Vorantritt des Gesetzgebers, der rechtsstaatlich gesehen eigentlich zur Einschränkung der Grundrechte berufen ist, besteht keine Notwendigkeit.“171 2. Schutzbereich und Gewährleistungsinhalt Die weite Schutzbereichstheorie hat nach Böckenförde ein inhaltliches Defizit. Sie begreife Freiheitsgrundrechte in erster Linie als eine „Ausfaltung abstrakter Beliebigkeits-Freiheit (Tun-und-Lassen-Können, was man will) auf den vom Grundrecht benannten Sach- und Lebensbereich“.172 Dabei ginge aber verloren, dass die Grundrechte aus konkreter Unrechtsabwehr oder der Erkämpfung bestimmter Rechte entstanden seien und von daher ihre inhaltliche Zielrichtung erfahren hätten. Die weite Schutzbereichstheorie erspare sich die Ermittlung des historisch-genetisch geprägten Grundrechtsgehalts und löse die zunehmende Schrankenproblematik dann durch verfassungsimmanente Schranken.173 „Von solch wohlfeiler juristischer Scholastik gilt es Abschied zu nehmen; sieht man genauer hin, veranstaltet sie nur geistig und geschichtlich leer gewordene Puzzle-Spiele auf dem Feld von Schutzbereich und Eingriff.“174

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Böckenförde, Schutzbereich, S. 169 f. Ebda, S. 170. Ähnlich die Einschätzung von Murswieck, S. 474 ff., S. 477: „Die Gesamtbilanz der Ausdehnung der Anwendungsvoraussetzungen der speziellen Freiheitsrechte ist somit keineswegs positiv. Und der Preis, der für die Ausdehnung bezahlt wird, ist hoch: Er besteht in der Nivellierung der speziellen Freiheitsgewährleistungen. Er besteht in erheblichem Verlust an Präzision, Klarheit und Voraussehbarkeit bei der Grundrechtsanwendung. […] Damit verlagern sich die politischen Gewichte tendenziell vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber zum BVerfG, das mangels präziser verfassungsrechtlicher Maßstäbe anhand weitgehend subjektiver Abwägungsgesichtspunkte entscheidet.“ 172 Böckenförde, Schutzbereich, S. 175. 173 Böckenförde, Schutzbereich, S. 174 f. 174 Böckenförde, Schutzbereich, S. 175. 171

B. Der konzeptionelle Gehalt der Rahmenordnungstheorie

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Böckenförde schlägt vor, zwischen die Schutzbereichsebene einerseits und die Eingriffs- und Schrankenebene andererseits eine weitere Ebene einzufügen, und zwar die des grundrechtlichen Gewährleistungsinhalts. Während der Schutzbereich den Sach- und Lebensbereich eines Grundrechts beschreibe, soll auf der Gewährleistungsebene sein normativer Gehalt ermittelt werden: „Was bisher im Schutzbereichsdenken unreflektiert zusammenfließt, das beschreibende und normative Moment im Grundrechtsbegriff, muss streng auseinandergehalten werden. Der Sachund Lebensbereich bezeichnet lediglich den gegenständlichen Einzugsbereich des Grundrechts, d. h. für welchen Sach- oder Lebensbereich – Ehe und Familie, Vereinsbildung, Berufswahl und -ausübung – es überhaupt in Betracht kommt, worauf es sich bezieht. Der Gewährleistungsinhalt sagt dann normativ aus, was und in welchem Umfang, bezogen auf diesen Einzugsbereich, an Schutz, Freiheit, Teilhabe o. ä. gewährleistet wird. Dieser Gewährleistungsinhalt ist für jedes Grundrecht eigenständig zu ermitteln, er kann nicht abstrakt und einheitlich unter semantischem Rückgriff auf ,Freiheit‘ im Sinne einer abstrakt-umfassenden Freiheitsvorstellung bestimmt werden.“175 Die Eingriffs- und Schrankenprüfung wird damit insofern entlastet, als schon auf der Ebene des Gewährleistungsinhaltes bestimmte Tätigkeiten den normativen Schutz definitiv nicht erhalten. Zu einer Eingriffs- und Schrankenprüfung kommt es also schon gar nicht mehr, wenn das fragliche Handeln nicht vom Gewährleistungsinhalt des Grundrechts erfasst wird. Die Gewährleistungsebene erweist sich damit als ein Filter, der – ausgehend von einem bestimmten normativen Inhalt des Grundrechts – Eingriffs- und Rechtfertigungsfragen nur bei Passieren des Filters aufwirft.176 Solch ein Filter scheint die Schrankenproblematik – insbesondere durch die nicht mehr notwendigen verfassungsimmanenten Schranken – zu entschärfen und die Grundrechtsdogmatik damit insgesamt zu vereinfachen. Die dogmatische Figur des Gewährleistungsinhalts der Grundrechte erfüllt damit dieselbe Funktion wie die Annahme enger Schutzbereiche. Sie ist aber insofern präziser, als sie die Unterscheidung zwischen Einschlägigkeit des grundrechtlichen Sach- und Lebensbereich einerseits und normativer Gewährleistung andererseits durch einen eigenständigen Prüfungspunkt ausweist. 3. Ermittlung des Gewährleistungsinhalts Doch wie sind die grundrechtlichen Gewährleistungsinhalte zu ermitteln? Man könnte im Rahmen des Gewährleistungsinhalts diejenigen Verhaltensweisen ausschließen, die offensichtlich keiner Rechtfertigung zugänglich sind, die quasi durch vorweggenommene Abwägung generell vom grundrechtlichen Schutz ausgenom-

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Ebda, S. 174. Zur damit verbundenen Begrenzung des Gesetzesvorbehalts – insbesondere bei faktischmittelbaren Eingriffen – Kahl, Gewährleistungsgehalt, S. 180. 176

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

men werden können.177 Für eine solche Herangehensweise spricht die Bezugnahme Böckenfördes auf einige insoweit einschlägige Entscheidungen des BVerfG, wie die Sprayer-Entscheidung, in der die Gewährleistung der Kunstfreiheit von vornherein im Hinblick auf entgegenstehende Rechte Dritter beschränkt wurde: „[…]; ihre Reichweite erstreckt sich aber von vornherein nicht auf die eigenmächtige Inanspruchnahme oder Beeinträchtigung fremden Eigentums zum Zwecke der künstlerischen Entfaltung (sei es im Werk- oder Wirkbereich der Kunst).“178 Die Besonderheit der Gewährleistungslehre liegt aber – wie insbesondere die später auszuführenden Beispiele Böckenfördes zeigen werden179 – woanders. Kahl führt dazu aus: „Sie [erg.: die neue Lehre] zielt, vereinfacht gesagt, darauf ab, Schutzbereiche zwar nicht generell durch Großformeln wie Friedlichkeit, (Straf-)Rechtswidrigkeit, neminem laedere, Missbrauch, Sozialschädlichkeit etc., dafür aber punktuell durch interpretatorisch oder konkretisierend gewonnene Kleinformeln zu verengen und damit die Grundrechtsprüfung im Rahmen des methodisch Möglichen bereits auf der ersten Prüfungsstufe zu beenden.“180 a) Historisch-genetische Auslegung Im Vordergrund bei der Ermittlung der Gewährleistungsinhalte stehen nicht Abwägungsgesichtspunkte, sondern historisch-genetische Begriffsbestimmungen.181 Danach können sich die Gewährleistungsinhalte ergeben aus „den gebrauchten Begriffen, deren Zielrichtung und geistig-geschichtlichem Kontext“.182 An die Stelle der „Abwägungseuphorie“ soll die Grundrechtsdogmatik eingebettet werden in die „historisch-genetische, auch verfassungsgeschichtliche Betrachtung“.183 Im Gegensatz zur verfassungsmethodischen Kritik von 1976 bekennt sich Böckenförde hier also zu einer bestimmten Verfassungsmethode, nämlich zur his-

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Z.B. in Form des Missbrauchs- oder Friedlichkeitsvorbehalts, vgl. Fn. 162. Böckenförde, Schutzbereich, S. 175 f. mit Verweis auf BVerfG, NJW 1984, S. 1293 ff. (Sprayer). Die Maastricht-Entscheidung des BVerfG gebe ein weiteres Beispiel dafür ab, dass grundrechtliche Gewährleistungsgehalte von vornherein durch andere Regelungen der Verfassung, hier Art. 38 GG durch Art. 23 Abs. 1 GG, mitbestimmt und mitbegrenzt werden, ebda, S. 177 mit Verweis auf BVerfGE 89, 155, 172 (Maastricht). 179 Dazu sogleich unter 3. b) – d). 180 Kahl, Gewährleistungsgehalt, S. 169. 181 Zur historischen und genetischen Auslegung Ossenbühl, Grundrechtsinterpretation, § 15 Rn. 6 ff., Rn. 7: „Die historische Interpretation, die den Inhalt einer Norm aus deren entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhängen zu erschließen sucht. – Die genetische Interpretation, die nach Auslegungshilfen aus der Entstehungsgeschichte der Norm (Gesetzesmaterialien) forscht.“ Siehe auch Schneider, S. 905. 182 Böckenförde, Schutzbereich, S. 177. 183 Böckenförde, Schutzbereich, S. 190 f. 178

B. Der konzeptionelle Gehalt der Rahmenordnungstheorie

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torisch-genetischen Auslegung.184 Der Vorrang der historisch-genetischen Auslegung folge dabei nicht aus einer abstrakten Bewertung der klassischen Auslegungskanones, sondern aus dem Charakter und der Eigenart der Verfassung als Rahmenordnung: „Es soll bewusst eine Offenheit für die Rechtsgestaltung durch den Gesetzgeber erhalten bleiben und dieser nicht durch ein stets wachsendes Geflecht von Verfassungskonkretisierungen an die Kandarre gelegt werden. Die Verfassung ist deshalb, zumal ihr aus gutem Grund Vorrang vor den Gesetzen zukommt, nicht extensiv zu interpretieren, vielmehr erscheint es strukturell angemessen, ihre Vorgaben nicht umfassend oder gar flächendeckend zu verstehen. Dem fügt sich eine historisch-genetische Interpretation dieser Vorgaben durchaus ein, die das Ziel hat, sie in ihrer normativen Stoßrichtung präzise zu erfassen und auch zu begrenzen, nicht aber bestehende Festlegungen ausufernd zur Quelle neuer Festlegungen zu machen.“185 Böckenförde schließt damit das Forsthoff vorgeworfene methodische und verfassungstheoretische Defizit.186 Die Verfassungsmethode wird rückgebunden an ein Verfassungsverständnis, das wegen seines restriktiven Charakters mit einer historisch-genetischen Auslegung besonders gut harmoniert.187 Spätestens beim Vorrang der historisch-genetischen Auslegung wird die suggerierte Nähe zwischen der Gewährleistungslehre und der Rechtsprechung des BVerfG allerdings dünn. Denn historische Auslegungsargumente dienen dem BVerfG – zumindest in der Regel – nur zur Bekräftigung eines anderweitig gefundenen Auslegungsergebnisses: „Während die ,subjektive‘ Theorie auf den historischen Willen des ,Gesetzgebers‘ = Gesetzesverfassers, auf dessen Motive in ihrem geschichtlichen Zusammenhang abstellt, ist nach der ,objektiven‘ Theorie, die in 184 Böckenförde, Schutzbereich, S. 186 f. An anderer (früherer) Stelle war bereits von der notwendigen Beachtung der „geistigen und geschichtlichen Kontinuität“ bei der Grundrechtsauslegung die Rede bzw. – in Anlehnung an Scheuner – von der Berücksichtigung der „historisch-verfassungsrechtlichen Sinngebung“, ders., Gewissensfreiheit, S. 203, Fn. 7. 185 Böckenförde, Schutzbereich, S. 187. 186 Siehe oben S. 153. 187 Nicht nachvollziehbar ist allerdings die Einschätzung von Manterfeld, Böckenförde vertrete eine historisch-politische Hermeneutik, siehe Manterfeld, S. 69 ff. In methodischer Hinsicht ordnet Manterfeld Böckenförde einen sog. „interpretativen Positivismus“ zu, der – vereinfacht ausgedrückt – auf einer Unterscheidung zwischen hinreichend bestimmten und auslegungsbedürftigen Normen beruht (S. 60 ff.). Wegen der höheren Regelungsdichte komme Gesetzen eine höhere Steuerungsfähigkeit und damit auch größere normative Wirkung zu. Die entscheidende Frage aber, wie der verbleibende normative Verfassungsrahmen der Rahmenordnungstheorie zu ermitteln ist, führt Manterfeld in eine eher vage „historisch-politische Hermeneutik“. Die Interpretation der Verfassung dürfe nur so weit gehen, wie die Verfassungsnormen „von sich aus“ etwas sagen, im übrigen müsse das Schweigen der Verfassung ernst genommen werden (S. 69 ff.). Was aber sagen die Normen „von sich aus“? Das Besondere an der Methode Böckenfördes sei, dass er die historische Auslegung nicht als historische Psychologie betreibe, sondern einen umfassenden historisch-politischen Ansatz verfolge, der darauf abziele, den „Geist der Verfassung“ zu ermitteln (S. 70 ff.). Auf derartige „Geist“-Interpretationen rekurriert Böckenförde allerdings – soweit ersichtlich – nicht. Vielmehr stellt er – wie folgende Beispiele zur Grundrechtsauslegung zeigen werden – ganz konkret auf historische Entwicklungen oder den Willen des Verfassunggebers ab.

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

Rechtsprechung und Lehre immer stärkere Anerkennung gefunden hat, Gegenstand der Auslegung das Gesetz selbst, der im Gesetz objektivierte Wille des Gesetzgebers. ,Der Staat spricht nicht in den persönlichen Äußerungen der an der Entstehung des Gesetzes Beteiligten, sondern nur im Gesetz selbst. Der Wille des Gesetzgebers fällt zusammen mit dem Willen des Gesetzes‘ (Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1950, S. 210 f.). Diesem Auslegungsziel dienen die Auslegung aus dem Wortlaut der Norm (grammatische Auslegung), aus ihrem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) und aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung). Um den objektiven Willen des Gesetzgebers zu erfassen, sind alle diese Auslegungsmethoden erlaubt. Sie schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig. Das gilt auch für die Heranziehung der Gesetzesmaterialien, soweit sie auf den objektiven Gesetzesinhalt schließen lassen. Freilich sind die ,Vorarbeiten eines Gesetzes für dessen Auslegung immer nur mit einer gewissen Zurückhaltung, in der Regel bloß unterstützend, zu verwerten‘ (RGZ 128, 111). Sie dürfen nicht dazu verleiten, die Vorstellung der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen (…).“188 Wie eine grundrechtliche Gewährleistungslehre konkret aussehen könnte, hat Böckenförde anhand der vorbehaltlos gewährten Grundrechte der Forschungsfreiheit sowie der Religions- und Gewissensfreiheit ausgeführt. Die leitende Fragestellung bei der Bestimmung der Gewährleistungsinhalte ist dabei folgende: Gewähren die genannten Grundrechte über den Schutz der gedanklichen Freiheit und bestimmter grundrechtsspezifischer Tätigkeiten hinaus eine allgemeine Betätigungsfreiheit nach Glauben, Gewissen oder wissenschaftlicher Überzeugung? b) Gewährleistungsinhalt der Forschungsfreiheit Nach Böckenförde ist die Forschungsfreiheit von ihrer Entstehungsgeschichte her verstanden darauf gerichtet, nur die Freiheit der Fragestellung und der Methodenwahl zu gewährleisten.189 Zur Begründung wird auf die wechselvollen politischen Auseinandersetzungen um die Freiheit der Wissenschaft verwiesen. Dabei sei es immer wieder, schon im 18. Jahrhundert, darum gegangen, die Freiheit der Fragestellung und der Methodenwahl zu verteidigen.190 Die verfassungsrechtlichen Verankerungen von Wissenschaft und Lehre hätten sich gerade darauf bezogen. Dazu heißt es: „Die Erfahrungen der Restaurationszeit nach 1815, des ,Systems Metter188 BVerfGE 11, 126, 129; E 105, 135, 157; E 110, 226, 248. Zur „Wiederentdeckung“ der subjektiven Auslegung siehe aber Reimer, S. 132 ff. 189 Böckenförde, Schutzbereich, S. 183 ff. Ebenso Wahl, Gentechnik, S. 33 f. Solch eine Beschränkung erwägt auch Hoffmann-Riem, Gewährleistungsgehalte, S. 64 f. Gegen ein Forschungsprivileg im Verhältnis zur allgemeinen Rechtsordnung auch Lerche, Gentechnologie, S. 90 ff. 190 Böckenförde, Schutzbereich, S. 184 mit Verweis auf die Darstellung von Kitzinger, in: Nipperdey, S. 450 – 455.

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nich‘, führten mit eben dieser Intention zur Proklamation der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre in der Paulskirchenverfassung und parallel in der preußischen Verfassung – einige der Göttinger Sieben und nicht wenige andere Professoren waren Mitglieder der deutschen Nationalversammlung von 1848. Von der Weimarer Verfassung wurde – mit gleicher Zielrichtung – dieses Grundrecht übernommen, der Parlamentarische Rat hat es, wiederum aufgrund der schlimmen Erfahrungen der NS-Zeit, bekräftigt.“191 Das spezifisch zu schützende Element, das keinerlei Schranken unterliegen soll, sei damit die Freiheit der Fragestellung und der Methodenwahl. Eine universale Freiheit der Forschung, die auch die Inanspruchnahme von forschungsbezogenen Gegenständen und Rechtsgütern umfasse, sei hingegen nicht von Art. 5 Abs. 3 GG geschützt, insoweit sei der Gewährleistungsgehalt der allgemeinen Handlungsfreiheit einschlägig, Art. 2 Abs. 1 GG. Bezogen auf die Durchführung von Forschungsvorhaben haben Forscher danach keine Privilegien, sondern unterliegen der allgemeinen Rechtsordnung. Das gelte insbesondere bei experimentellen Versuchen.192 Da dieser Ausschluss letztlich aber auch die Freiheit der Fragestellung und Methodenwahl selbst in Frage stellen könne, wenn nämlich die Unverfügbarkeit der notwendigen Gegenstände oder Rechtsgüter die Forschung gänzlich ausschließen würde, plädiert Böckenförde für eine Pflicht des Gesetzgebers, die Belange der Forschung bei seiner Gesetzgebung im Sinne der Wechselwirkungslehre zu berücksichtigen: „Die Rechtsordnung muss die Belange der Forschungsfreiheit in sich aufnehmen und allfällige Konfliktlösungen, die nicht vermeidbar sind, im Wege sachgerechter Begrenzungsentscheidungen vornehmen. Dabei können sich en detail, wie die aktuelle Stammzellendiskussion zeigt, auch sehr prinzipielle Fragen stellen.“193 Die historisch-genetische Definition der Forschungsfreiheit führt damit zu einer „echten“ Schutzbereichsverengung. Sie ist nicht nur Ausdruck einer vorweggenommenen generellen Abwägung, z. B. in Form eines Ausschlusses bestimmter Forschungstätigkeiten, die die Rechte Dritter verletzen,194 sondern schließt die Inanspruchnahme von Gegenständen und Rechtsgütern zur Durchführung von Forschungsvorhaben bzw. Experimenten definitiv und vollständig aus dem Gewährleistungsinhalt der Forschungsfreiheit aus. Ein gewichtiges Argument gegen diese restriktive Auslegung bringt Böckenförde selbst ins Spiel, nämlich das Problem, die Forschungsfreiheit könnte bei Unverfügbarkeit der forschungsbezogenen Gegenstände und Rechtsgüter leerlaufen. Ob diese Gefahr durch eine „forschungsfreundliche“ Auslegung der als Auffanggrundrecht fungierenden allgemeinen Handlungsfreiheit kompensiert werden kann, sei an dieser Stelle dahingestellt. Zweifelhaft ist zunächst die historisch-genetische Argumentation selbst. Folgt aus 191

Böckenförde, Schutzbereich, S. 184. Böckenförde, Schutzbereich, S. 184. 193 Böckenförde, Schutzbereich, S. 185. Wahl, Gentechnik, S. 35, hingegen sieht insofern eine Rückwirkung auf die Fragestellung, so dass der Gewährleistungsbereich der Forschungsfreiheit betroffen ist. 194 Etwa vergleichbar dem Sprayer-Fall des BVerfG, dazu oben S. 174. 192

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der Geschichte der Wissenschaftsfreiheit der Wille des Parlamentarischen Rates, die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit nur als wissenschaftliche Fragestellung und Methodenwahl zu schützen? Die Vorstellung von einer in zwei Bereiche getrennten Wissenschaft überrascht, denn ebenso wie die Wissenschaft durch Manipulation von Fragestellung und Methode gefährdet sein kann,195 wird sie auch durch die Verhinderung von Experimenten gefährdet. Eine Trennung von Frage und Methode einerseits und Experiment andererseits widerspricht dem modernen Wissenschaftsbegriff, der nach Francis Bacon sowohl die theoretische Durchdringung als auch die experimentelle Beweisbarkeit umfasst.196 Aber selbst wenn die frühe Geschichte der Wissenschaftsfreiheit den Schutz der geistigen Wissenschaft in den Vordergrund gestellt hat, wird man dies angesichts der stark ausgeweiteten Möglichkeiten experimenteller Forschung nicht ohne weiteres auch für die Zeit des 20. Jahrhunderts annehmen können. Für die Verankerung einer nur geistigen Wissenschaftsfreiheit in der Weimarer Verfassung werden keine Belege angeführt. Die Kommentarliteratur zur Weimarer Verfassung deutet eher in eine andere Richtung. Bei Giese heißt es: „Die Gewährleistung dieses Grundrechts als Staatseinrichtung (Schmitt, Anschütz) und als Individualrecht bedeutet negativ das Verbot besonderer Einschränkungen, positiv das Erlaubtsein freier Betätigung; […]. Gegenstand der Freiheit sowie des Schutzes und der Pflege sind das künstlerische Schaffen, das private wie das amtliche (namentlich akademische) wissenschaftliche Forschen und die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse, endlich die zu Lehr-, Erbauungs- und Aufklärungszwecken erfolgende private oder öffentliche (namentlich akademische) Veröffentlichung und Verbreitung künstlerischer und wissenschaftlicher Arbeitsweisen und Arbeitsergebnisse.“197 Die getrennte Aufzählung von wissenschaftlicher Forschung, wissenschaftlicher Forschungsergebnisse und Veröffentlichung wissenschaftlicher Arbeitsweisen und Arbeitsergebnisse lässt sich kaum mit einer die gegenständliche Forschung ausschließenden Wissenschaftsfreiheit vereinbaren. Noch deutlicher und mit Hinweis auf die grundsätzliche Zulässigkeit von Tierversuchen argumentiert Smend: „[…] So kann der Gegenstand des Art. 142 auch nur inhaltlich durch das Kriterium der Intention der wissenschaftlichen Arbeit bestimmt werden. Was sich als ernsthafter 195

Böckenförde, Schutzbereich, S. 184. Anschaulich Smend, Meinungsäußerung, S. 65 f. Bacon (1561 – 1626), S. 211: „Die, welche die Wissenschaften betrieben haben, sind Empiriker oder Dogmatiker gewesen. Die Empiriker, gleich den Ameisen, sammeln und verbrauchen nur, die aber, die die Vernunft überbetonen, gleich den Spinnen, schaffen die Netze aus sich selbst. Das Verfahren der Biene aber liegt in der Mitte; sie zieht den Saft aus den Blüten der Gärten und Felder, behandelt und verdaut ihn aber aus eigener Kraft. Dem nicht unähnlich ist nun das Werk der Philosophie; es stützt sich nicht ausschließlich oder hauptsächlich auf die Kräfte des Geistes, und es nimmt den von der Naturlehre und den mechanischen Experimenten dargebotenen Stoff nicht unverändert in das Gedächtnis auf, sondern verändert und verbreitet ihn im Geiste. Daher könne man bei einem engeren und festeren Bündnisse dieser Fähigkeiten, der experimentellen nämlich und der rationalen, welches bis jetzt noch nicht bestand, bester Hoffnung sein.“ 197 Giese, S. 299. 196

B. Der konzeptionelle Gehalt der Rahmenordnungstheorie

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Versuch zur Ermittlung oder zur Lehre der Wahrheit darstellt, ist Forschung und Lehre im Sinne des Art. 142.“198 Die Schrankenproblematik um Art. 142 WRV könnte allerdings zu der Annahme verleiten, der grundrechtliche Schutz habe sich primär auf Fragestellung und Methodenwahl bezogen. Im Ergebnis bestanden nämlich keine Bedenken, bestimmte Forschungstätigkeiten, als Beispiel werden die Herstellung von Sprengstoffen und das Experimentieren mit ihnen genannt, einzuschränken.199 Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, mussten jedoch einige Hürden überwunden werden, denn die Wissenschaftsfreiheit wurde schrankenlos gewährleistet200 und es war unklar, ob die vorbehaltlose Gewährung eine Vermutung gegen den Gesetzgeber (keine Beschränkbarkeit) oder für den Gesetzgeber (Vorbehalt der allgemeinen Rechtsordnung) bedeuten sollte.201 Anschütz überzeugte weder die Unbeschränkbarkeit noch die Aushöhlung der Wissenschaftsfreiheit durch jedwedes Gesetz und sprach sich – unter Hinweis auf eine entsprechende herrschende Meinung und in Anlehnung an die Meinungs-, Bekenntnis- und Kultusfreiheit als den „nächsten Geistesverwandten“ – für einen Vorbehalt der allgemeinen Gesetze aus.202 Die einschränkenden Gesetze dürften sich nicht gegen die Wissenschaft als solche richten, also kein Sonderrecht gegen die Wissenschaft darstellen, was nach seiner Auffassung bei Polizeigesetzen und Verordnungen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit nicht der Fall war.203 Man könnte aus der Beschränkbarkeit von Forschungstätigkeiten schlussfolgern, diese stünden unter keinem grundrechtlichen Schutz. Diese Schlussfolgerung wäre aber voreilig. Denn immerhin bedurfte es überhaupt einer Rechtfertigung im Rahmen des Art. 142 WRV, um bestimmte Forschungstätigkeiten zu untersagen. Wenn Gesetze, die die Durchführung wissenschaftlicher Experimente betreffen (z. B. mit Krankheitserregern), die Wissenschaftsfreiheit nicht berühren, wäre die Frage, ob es sich insofern um allgemeine Gesetze handelt, überflüssig.204 Die Schrankendiskussion 198

Smend, Meinungsäußerung, S. 67, zur Zulässigkeit von Tierversuchen, ebda, S. 69 f. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl., S. 659 ff. mit Verweis auf die insoweit herrschende Meinung. 200 Art. 142 WRV: Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil. 201 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl., S. 659 ff. 202 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl., S. 659 ff. mit Verweis auf Art. 118 WRV („Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. […].“) und Art. 135 WRV („Alle Bewohner des Reichs genießen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. […] Die allgemeinen Staatsgesetze bleiben hiervon unberührt.“). Vgl. auch Poetzsch-Hefter, S. 459. 203 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., S. 660 f.: „Sondergesetze sind Gesetze, die sich gegen Künste oder gegen einzelne Kunst- und Wissenschaftsrichtungen als solche wenden.“ 204 Beschränkungen zulassend, allerdings ohne auf den Begriff der Wissenschaft weiter einzugehen Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., S. 661; Kitzinger, in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, S. 461. 199

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spricht vielmehr dafür, dass von einem weiten, die experimentelle Forschungstätigkeit einschließenden Wissenschaftsbegriff ausgegangen wurde. Mit welcher Intention wurde nun die Wissenschaftsfreiheit in das Grundgesetz aufgenommen? Die Verfassungsmaterialien geben – soweit ersichtlich – zu dieser Frage nichts her. Auch Böckenförde kann den vermeintlichen Willen des Verfassunggebers, ein enges Verständnis der Wissenschaftsfreiheit fortführen zu wollen, nicht belegen. Die bloße Behauptung eines solchen Willens widerspricht aber dem Maßstab, den Böckenförde an anderer, freilich nicht die Auslegung von Grundrechten betreffender Stelle, an die historisch-genetische Auslegung stellt. Danach könne der Vorstellungsinhalt des Parlamentarischen Rates nur dann eine zu berücksichtigende Aussagekraft haben, wenn er in den Verfassungsberatungen einen erkennbaren Ausdruck gefunden habe.205 Der Wille des Parlamentarischen Rates lässt sich aber auch nicht zweifelsfrei mithilfe textlicher oder systematischer Argumente rekonstruieren. Man könnte argumentieren, dass mit der Einfügung des Begriffs der Forschung in Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG gegenüber der Fassung des Art. 142 S. 1 WRV der experimentelle Forschungsbezug eingeführt oder zumindest klargestellt werden sollte.206 Der Begriff der Forschung muss aber gegenüber dem der Wissenschaft keinen experimentellen Bezug aufweisen. Möglich ist auch eine Lesart, wonach der Begriff der Wissenschaft als Oberbegriff zur wissenschaftlichen Forschung und wissenschaftlichen Lehre fungiert und der Forschung damit kein weiterer normativer Gehalt zukommt.207 Wenig aussagekräftig ist auch die Verankerung der Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 GG. Damit hat der Parlamentarische Rat die oben dargestellte Nähe zur nächsten Geistesverwandten der Meinungsfreiheit hergestellt.208 Doch folgt daraus keine Verengung des Schutzgehalts auf eine wissenschaftliche Frage- und Meinungsfreiheit. Vielmehr könnte in der Zuordnung zu Art. 5 GG lediglich die Klarstellung und Betonung des Kommunikationscharakters der Wissenschaftsfreiheit liegen, der der Wissenschaftsfreiheit auch innewohnt.209 205 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 18, Fn. 14. Vorsichtig auch im Hinblick auf die Möglichkeit einer Verfassungstradition, ebda, S. 86 (zur Frage, welche Bedeutung dem Umstand zukommt, dass die Organisationsgewalt traditionell in den Zuständigkeitsbereich der Exekutive fällt): „Zwar hat die Organisationsgewalt in der deutschen Verfassungsentwicklung immer grundsätzlich bei der Exekutive gelegen. Aber eine Berufung allein darauf wäre gerade im Hinblick auf das Verfassungssystem des Grundgesetzes von zweifelhaftem Wert, da die Absicht der Verfassungsschöpfer des Grundgesetzes gerade gegen die bestehende Verfassungstradition, insbesondere die der Weimarer Zeit, gerichtet war.“ 206 In diese Richtung möglicherweise v. Mangoldt, GG, Anm. 8 zu Art. 5, S. 68: „Gegenüber Weimar ist neu die Einfügung des Wortes ,Forschung‘. Freie Forschungsmöglichkeit ist eine Voraussetzung für freie Fortentwicklung der Wissenschaft und Freiheit der Lehre. Die vorgenommene Ergänzung soll also die geschützten Rechte in ihrer Grundlage sichern.“ 207 Vgl. Scholz, Maunz/Dürig, GG, Rn. 9 zu Art. 5 III, Stand 1977. 208 Im Gegensatz zur systematischen Trennung von Art. 118 WRV und Art. 142 WRV. Der Schutz der Meinungsfreiheit (Art. 118 WRV) war im Abschnitt „Die Einzelperson“ geregelt, die Wissenschaftsfreiheit (Art. 142 WRV) im Abschnitt „Bildung und Schule“. 209 Zum Kommunikationscharakter der Wissenschaftsfreiheit Scholz, Maunz/Dürig, GG, Rn. 10 zu Art. 5 III, Stand 1977.

B. Der konzeptionelle Gehalt der Rahmenordnungstheorie

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Schließlich wurde die engere Verknüpfung zur Kunstfreiheit in Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG beibehalten, die ebenso wenig wie die Wissenschaft nur als Idee und Methode vorstellbar wäre. Insgesamt scheint es sehr schwierig, den Willen des Parlamentarischen Rates zu rekonstruieren. Er dürfte aber die Weimarer Diskussion zur Wissenschaftsfreiheit vor Augen gehabt haben, so dass die Annahme eines weiten Verständnisses der Wissenschaftsfreiheit nicht fern lag. Dass der Parlamentarische Rat an die Paulskirchenverfassung oder die preußische Verfassung anknüpfen wollte, erschließt sich nicht. Das BVerfG jedenfalls schlussfolgert aus der Geschichte der Wissenschaftsfreiheit nur, dass „die Freiheit der Forschung insbesondere die Fragestellung und die Grundsätze der Methodik sowie die Bewertung des Forschungsergebnisses und seine Verbreitung“ umfasst. Ohne dabei in das andere Extrem zu fallen, die Wissenschaftsfreiheit durch Ausschluss der experimentellen Ebene auszuhöhlen, erstreckt es die Freiheitsgarantie vielmehr auf „jede wissenschaftliche Tätigkeit, d. h. auf alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist“.210 c) Gewährleistungsinhalt der Religionsfreiheit Der Gewährleistungsinhalt der Religionsfreiheit schließt nach Böckenförde eine allgemeine Handlungsfreiheit nach der religiösen Überzeugung, eine Freiheit zu „jedwedem weltlichen, von religiösen Überzeugungen motivierten Verhalten“, aus.211 Der Gewährleistungsinhalt der Religionsfreiheit umfasst nach historischgenetischer Auslegung vielmehr nur „die Freiheit, einen Glauben zu haben oder nicht zu haben, den Glauben oder die Weltanschauung durch Wort, Rede, Schrift, Erziehung zu bekennen und zu verbreiten oder dies nicht zu tun, die Religion i.S. ihres exercitiums, d. h. in Form von Kulten, Feiern und Gebräuchen privat oder öffentlich auszuüben oder nicht auszuüben.“212 Nach dem weiten Verständnis des BVerfG gehört demgegenüber zur Religionsfreiheit auch das Recht, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seinen inneren Glaubensüberzeugungen gemäß zu handeln.213 Böckenförde kritisiert daran die Konturlosigkeit 210 BVerfGE 35, 79, 113 (Hochschulurteil); vgl. auch BVerfGE 90, 1, 11 f. (Jugendgefährdende Schriften): „Gegenstand dieser Freiheit sind vor allem die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen bei der Suche nach Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe.“ Für ein weites Verständnis der Forschungsfreiheit auch Paul, S. 37 ff., m.w.N. Differenzierend Misera-Lang, S. 261 f., die zwischen den Art. 12 Abs. 1 GG unterfallenden Arbeitsmitteln und den der Forschungsfreiheit unterfallenden Forschungsgegenständen unterscheidet. Die Forschungsgegenstände könne man hingegen nicht von der Fragestellung trennen. 211 Böckenförde, Schutzbereich, S. 182. 212 Böckenförde, Schutzbereich, S. 182. 213 BVerfGE 24, 236, 246 (Rumpelkammer): „Zur Religionsausübung gehören danach nicht nur kultische Handlungen und Ausübung sowie Beachtung religiöser Gebräuche wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozession, Zeigen

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

des Schutzbereichs, insbesondere auch durch die Berücksichtigung des Selbstverständnisses von Glaubensgemeinschaften oder vereinzelt auftretender Glaubensüberzeugungen.214 „Bei solcher Bestimmung des Schutzbereichs, die durchaus dazu führen kann, die Kompetenz-Kompetenz für die Rechtsgebote vom Staat auf die einzelnen und religiös-weltanschaulichen Gruppen zu verlagern, erhält die Frage der Einschränkbarkeit dieses Grundrechts angesichts des Fehlens eines Gesetzesvorbehalts besondere Brisanz.“215 Konkrete Verhaltensweisen, die nicht mehr vom Gewährleistungsgehalt der Religionsfreiheit erfasst werden sollen, werden nicht genannt. Soll aber nicht mehr jedwedes religiös motivierte Verhalten umfasst sein, bietet es sich entsprechend der Gewährleistungsdefinition an, die Begriffe Kulte, Feiern und Gebräuche eng auszulegen. Insbesondere könnte man dabei darauf verzichten, das Selbstverständnis einer Glaubensgemeinschaft oder eines Gläubigen zu berücksichtigen. Das religiös motivierte Verhalten wäre nur dann schützenswert, wenn es sich von einem objektiven Standpunkt aus als ein religiöses darstellt. Es läge nahe, die Religionsausübung in erster Linie auf die herkömmlichen Religionsgemeinschaften und deren anerkannte Riten und Gebräuche zu beziehen. Ergibt sich solch ein restriktives Verständnis aus historisch-genetischer Auslegung? Böckenförde führt dazu aus: „Den Gegenstand der Gewährleistung zu erweitern, lag, abgesehen von der Ausdehnung der Bekenntnisfreiheit auch auf das weltanschauliche Bekenntnis, nicht in der Absicht des Parlamentarischen Rates, […]. So gesehen schließt der Gewährleistungsinhalt an das historisch-genetisch geprägte Verständnis an: […].“216 Gegenstand dieses historisch-genetischen Verständnisses ist die obige Gewährleistungsdefinition. Böckenförde beruft sich insoweit (nur) auf eine Kommentierung von Anschütz.217 Diese Auslegung überrascht zunächst insoweit, als auch Böckenförde konstatieren muss, dass der Parlamentarische Rat den Schutz der Religionsfreiheit durch den Wegfall des allgemeinen Einschränkungsvorbehalts zugunsten einer vorbehaltlosen Gewährung gerade hat verstärken wollen.218 Zweifel von Kirchenfahnen, Glockengeläute, sondern auch religiöse Erziehung, freireligiöse und atheistische Feiern sowie andere Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens.“ Noch deutlicher BVerfGE 93, 1, 15 (Kruzifix): „Zur Glaubensfreiheit gehört aber nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach der eigenen Glaubensüberzeugung zu leben und zu handeln (…).“ Enger die Entscheidung BVerfGE 104, 337, 345 ff. (Schächtverbot), in der das beruflich ausgeübte Schächten eines Ausländers nur an Art. 2 Abs. 1 GG gemessen wurde, allerdings unter Berücksichtigung einer grundrechtsverstärkenden Wirkung aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. 214 Böckenförde, Schutzbereich, S. 181. 215 Böckenförde, Schutzbereich, S. 181. 216 Böckenförde, Schutzbereich, S. 182. 217 Böckenförde, Schutzbereich, S. 182, Fn. 72. 218 Böckenförde, Schutzbereich, S. 182 mit Verweis auf v. Mangoldt, in: Parlamentarischer Rat, Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (Anlage zum stenographischen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 6. Mai 1949, S. 5 ff.) und v. Brentano, ebda, S. 74 ff. Dort heißt es (S. 74 f.): „Dagegen hat der jetzige

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an einem engen Verständnis der Religionsfreiheit ergeben sich insbesondere aus einer anderen historischen Aufbereitung der Glaubens- und Gewissensfreiheit von Böckenförde aus dem Jahr 1970, auf die im Rahmen der Entfaltung der Gewährleistungslehre auch Bezug genommenen wird. In dem Aufsatz „Das Grundrecht der Gewissensfreiheit“ macht Böckenförde nämlich selbst auf das von Anschütz später, und zwar im Handbuch des Staatsrechts, vertretene weite Verständnis der Religionsfreiheit aufmerksam.219 Dazu heißt es bei Böckenförde: „Anschütz umschreibt im Handbuch des Deutschen Staatsrechts die Religionsfreiheit als die rechtliche Möglichkeit, ,seinen religiösen, irreligiösen, antireligiösen Überzeugungen gemäß leben zu dürfen, alles tun zu dürfen, was diese Überzeugungen fordern, alles unterlassen zu dürfen, was sie verbieten…‘.“220 Angesichts des von Anschütz vertretenen engen und weiten Verständnisses der Religionsfreiheit hätte es einer weiteren Diskussion des historisch-genetischen Verständnisses bedurft. Jedenfalls dürfte Anschütz als Gewährsmann für ein restriktives Verständnis der Religionsfreiheit ausscheiden. Unzutreffend ist danach auch der Vorwurf Böckenfördes gegenüber dem BVerfG, die Freiheit zu jedwedem weltlichen, von religiösen Überzeugungen motivierten Verhalten sei „erst durch das BVerfG in Art. 4 Abs. 1 und 2 hineingelesen worden, wodurch dieses Grundrecht entgegen der Intention des Verfassunggebers zu einem Parallelrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit, nämlich der allgemeinen Handlungsfreiheit aus religiöser (oder weltanschaulicher) Überzeugung, und dies ohne jede gesetzliche Einschränkungsmöglichkeit, erweitert worden ist.“221 Gegenüber dem nicht differenzierten Verweis auf einen historisch geprägten engen Gewährleistungsgehalt ist das BVerfG in der Rumpelkammer-Entscheidung gerade auch unter Berücksichtigung historisch-genetischer Argumente zu einem weiten Verständnis der Religionsfreiheit gelangt: „Da die ,Religionsausübung‘ zentrale Bedeutung für jeden Glauben und für jedes Bekenntnis hat, muss dieser Verfassungsgesetzgeber die Unverletzlichkeit der Religionsfreiheit und die Gewährleistung der ungestörten Religionsausübung in Artikel 4 Absatz 2 des Grundgesetzes in unbedingter Form ohne Statuierung irgendeiner dem Artikel 135 Satz 3 der W.V. entsprechenden Einschränkung ausgesprochen. Das deckt sich mit der allgemeinen Tendenz des Grundrechtsabschnitts nach einer wirklich wirksamen Verbürgung der Persönlichkeits- und Freiheitsrechte.“; ausdrücklich auch v. Mangoldt, GG, Vorbem., S. 36 f. 219 Böckenförde, Gewissensfreiheit, S. 213, Fn. 31: „Im Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung hat Anschütz die Glaubens- und Gewissensfreiheit noch im Sinne der Beschränkung auf das Haben- und Bekennen- bzw. Nichtbekennendürfens eines Glaubens oder einer weltanschaulichen Überzeugung bestimmt, (…).“ (Mit Verweis auf Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 13. Aufl., Anm. 1 zu Art. 135). 220 Böckenförde, Gewissensfreiheit, S. 213. Das vollständige Zitat von Anschütz, Die Religionsfreiheit, S. 681, lautet: „Religionsfreiheit ist die dem Individuum staatlich gewährleistete rechtliche Möglichkeit, sein Verhältnis zu allen religiösen Fragen nach Belieben gestalten, seinen religiösen, irreligiösen, antireligiösen Überzeugungen gemäß leben zu dürfen, alles tun zu dürfen, was diese Überzeugungen fordern, alles unterlassen zu dürfen, was sie verbieten, in allen diesen Beziehungen frei zu sein von staatlichem Zwang, aber unter dem Vorbehalt des Gehorsams gegen die allgemeinen Staatsgesetze.“ 221 Böckenförde, Schutzbereich, S. 182 f.

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Begriff gegenüber seinem historischen Inhalt extensiv ausgelegt werden. Dafür spricht, dass die Religionsfreiheit nicht mehr wie in Art. 135 WRV durch einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt eingeschränkt ist, nicht mehr im Zusammenhang mit den anderen Bestimmungen über das Verhältnis von Staat und Kirche steht (…), nicht nach Art. 18 GG verwirkt werden kann und darüber hinaus durch verfassungsrechtliche Sonderregelungen (vgl. Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG, Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 3 Satz 1 WRV; Art. 136 Abs. 4 WRV, Art. 7 Abs. 3 Satz 3 GG; Art. 7 Abs. 2 GG). […] Es ist deshalb nicht gerechtfertigt, die Kultusfreiheit enger auszulegen als die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit. Zur Religionsausübung gehören danach nicht nur kultische Handlungen und Ausübung […], sondern auch religiöse Erziehung, freireligiöse und atheistische Feiern sowie andere Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens.“222 d) Gewährleistungsinhalt der Gewissensfreiheit Ziel der engen Gewährleistungsdefinition der Gewissensfreiheit ist wiederum der Ausschluss einer allgemeinen Handlungsfreiheit nach dem Gewissen.223 Diese Intention würde man dem folgenden Gewährleistungsinhalt allerdings nicht ohne weiteres zuschreiben: „Gewissen und Gewissensbetätigung sollen dadurch frei und unverletzlich sein, dass sich die Bildung von Gewissensüberzeugungen frei, d. h. ohne Eingriff durch Maßnahmen der öffentlichen Gewalt vollziehen kann, und dass niemand – alleräußerste, sehr enge Grenzen vorbehalten – von der öffentlichen Gewalt zu einem eigenhändigen Tun oder Unterlassen gezwungen werden darf, das dem Gebot des eigenen Gewissens widerspricht.“224 Danach soll nicht nur das gewissenswidrige Tun, sondern auch das gewissenswidrige Unterlassen umfasst werden. Wenn aber niemand zu einem Unterlassen gezwungen werden darf, das dem Gebot des eigenen Gewissens widerspricht, darf er sich nicht dann – was einer allgemeinen Handlungsfreiheit nach dem Gewissen wohl entsprechen würde – seinen Gewissensgeboten gemäß verhalten? In dem in Bezug genommenen Aufsatz „Das Grundrecht der Gewissensfreiheit“ wird ein engeres Verständnis der Gewissensfreiheit von Böckenförde hingegen deutlich. Dort wird als Schutzumfang der Gewissensfreiheit nämlich besonders die staatliche Gewährung von Toleranzen und Entpflichtungen betont.225 Danach stünde nicht das aktive Element der Gewissensbetätigung – als allgemeine Handlungsfreiheit nach dem Gewissen – im Vordergrund der Gewissensfreiheit, sondern das passive, d. h. geschützt wird der Ausschluss von staatlichem Zwang zu bestimmten Handlungspflichten, die den eigenen Gewis-

222 223 224 225

BVerfGE 24, 236, 246 (Rumpelkammer). Böckenförde, Schutzbereich, S. 181 f. Böckenförde, Schutzbereich, S. 180; ähnlich Böckenförde, Gewissensfreiheit, S. 237. Böckenförde, Gewissensfreiheit, S. 233 ff.

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sensgeboten widersprechen, wie z. B. der Wehrpflicht.226 Dies könnte auch die Intention der aktuellen Gewährleistungsdefinition von Böckenförde sein. Wie zur Religionsfreiheit betont Böckenförde auch im Hinblick auf die Gewissensfreiheit den Willen des Parlamentarischen Rates, den Grundrechtsschutz zu verstärken: „Die Gewährleistung sollte angesichts erfahrener totalitärer Unterdrückung, soweit möglich, eine Unbedingtheit und Unantastbarkeit aufweisen.“227 Wie aber soll aus einer beabsichtigten Verstärkung des Grundrechtsschutzes eine restriktive Auslegung der Gewissensfreiheit folgen? Das Verdienst von Böckenförde dürfte es zweifellos sein, den Zusammenhang zwischen Gewissen und Gewissensbetätigungsfreiheit – auch durch historische Bezugnahmen – herausgestellt zu haben. Er kommt zu dem Schluss: „Aber man kann Gewissen und Sich-dem-Gewissengemäß-Verhaltenkönnen nicht trennen, wenn die Gewissensfreiheit des Art. 4 I einen realen und den gemeinten Sinn behalten und nicht auf ein Maß reduziert werden soll, das auch jeder Diktator gewähren kann, sofern er sich nur Orwellscher Methoden enthält.“228 In diesem Zusammenhang hat sich Böckenförde ausdrücklich von Versuchen distanziert, die Gewissensbetätigungsfreiheit wegen der Schrankenproblematik aus der Gewissensfreiheit herauszudefinieren. Es sei zu einfach, „das in Art. 4 GG vom Verfassunggeber bewusst gestellte Schrankenproblem durch eine Interpretation [erg.: Ausschluss der Gewissensbetätigung] zu lösen, die es von vornherein als Problem beiseiteschafft.“229 Um gleichwohl zu einer Einschränkung der Gewissensfreiheit zu gelangen – im Zusammenhang mit der Gewährleistungslehre freilich, um das Schrankenproblem zu lösen –, stellt Böckenförde verschiedene historische Überlegungen an, die aber im Ergebnis eher für ein weites Verständnis der Gewissensfreiheit sprechen. So wird auf die Weimarer Diskussion verwiesen, in der die Gewissensfreiheit auf die Freiheit gedrängt habe, „gemäß der eigenen Gewissensüberzeugung leben und handeln zu können“.230 Dieses Verständnis einer allgemeinen Handlungsfreiheit nach dem Gewissen schwächt Böckenförde dadurch ab, ein dogmatisches Problem habe sich daraus wegen des Vorbehalts der allgemeinen Gesetze nicht ergeben.231 Auch wenn dies sicher zutrifft, so leuchtet doch nicht ein, dass der Parlamentarische Rat den Vorbehalt der allgemeinen Gesetze zugunsten einer vorbehaltlosen Gewährung ei226 Diese Unterscheidung aufgreifend und aktive Gewissensgebote teilweise berücksichtigend Misera-Lang, S. 275 f. 227 Böckenförde, Schutzbereich, S. 180. Zur Grundrechtsverstärkung der Gewissensfreiheit durch die Aufgabe eines einheitlichen Begriffs von Glaubens- und Gewissensfreiheit, Böckenförde, Gewissensfreiheit, S. 220. 228 Böckenförde, Gewissensfreiheit, S. 221 f. 229 Böckenförde, Gewissensfreiheit, S. 222. 230 Böckenförde, Schutzbereich, S. 179 mit Verweis auf ders., Gewissensfreiheit, S. 212 ff. (S. 213 f.: „Stier-Somlo, Giese, und G. J. Ebers unterscheiden die Gewissens- von der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit und definieren sie als die Freiheit, ,dem sittlichen Gewissen gemäß zu handeln‘ bzw. als Grundrecht sittlicher Handlungsfreiheit.“). 231 Böckenförde, Schutzbereich, S. 179 f.

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

nerseits aufgeben, das Grundrecht der Gewissensfreiheit also verstärken und zugleich die Gewissensbetätigungsfreiheit beschränken wollte. Folgende Schlussfolgerung Böckenfördes aus der Weimarer Diskussion und der Aufwertung der Gewissensfreiheit durch das Grundgesetzes überzeugt daher nicht: „Legt man dies zugrunde, so ergibt sich, dass Gegenstand und Schutzgut der Gewissensfreiheit und damit ihr Gewährleistungsinhalt nicht eine Handlungsfreiheit gemäß dem Gewissen, sondern die Unverletzlichkeit des Gewissens ist.“232 Im Gegenteil konnte sich die Stärkung der Gewissensfreiheit durch das Grundgesetz gerade auch auf die Gewissensfreiheit als allgemeine Gewissensbetätigungsfreiheit beziehen.233 Freilich wäre damit das eigentliche – über die Schrankenfrage hinausgehende – Problem der Gewissensfreiheit noch nicht gelöst, nämlich die Möglichkeit, sich auf die Gewissensfreiheit für jedwedes Verhalten mit einer beliebigen Behauptung einer Gewissensentscheidung zu berufen, z. B. aus Gewissensgründen keine Steuern zu zahlen. Wie lässt sich also das spezifische Element des Gewissens erkennen? Dies ist umso schwieriger, als es die Gewissensfreiheit gerade ausschließt, die Gewissensentscheidung von einem objektiven Standpunkt aus zu bestimmen. Hilfreich ist aber die Überlegung, dass die Gewissensfreiheit nicht für den Normalfall da ist, sondern für einen persönlichen Konfliktfall. So hebt das BVerfG die Situationsbezogenheit einer Gewissensentscheidung hervor und spricht von eintretender Gewissensnot: „Als eine Gewissensentscheidung ist somit jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien ,Gut‘ und ,Böse‘ orientierte Entscheidung anzusehen, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte.“234 Erst im Konfliktfall zeigen sich damit die Ernsthaftigkeit des Gewissens und die Bereitschaft, für seine Gewissensgebote einzustehen, dafür evtl. auch Nachteile in Kauf zu nehmen. In der Praxis dürfte es einigen Begründungsaufwand für den Grundrechtsträger bedeuten, seinen Gewissenskonflikt glaubhaft zu machen.235 e) Methodisch gesicherte Erkenntnis? Unabhängig von der Plausibilität des einen oder anderen konkreten Gewährleistungsinhalts dürfte deutlich geworden sein, dass die Komplexität der historischgenetischen Auslegung der Komplexität einer Abwägungsentscheidung in nichts 232

Böckenförde, Schutzbereich, S. 180. In diesem Sinne könnte man auch die Ausführungen von v. Mangoldt, GG, Anm. 2 zu Art. 4, verstehen: „Freiheit des Glaubens und Gewissens bedeutet Freiheit der inneren Überzeugung, Gedankenfreiheit in Fragen des Glaubens und des sittlichen Gewissens. Rechtlicher Regelung zugängig ist aber nur äußeres Verhalten. Rechtlich bedeutsam wird Art. 4 Abs. 1 also erst für die Betätigung der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Verfassungsmäßig gesichert werden soll das Recht, sich zu einem religiösen Glauben zu bekennen und seinem sittlichen Gewissen gemäß zu handeln.“ 234 BVerfGE 12, 45, 55 (Kriegsdienstverweigerung). 235 Vgl. Misera-Lang, S. 156 f., 270 f. 233

B. Der konzeptionelle Gehalt der Rahmenordnungstheorie

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nachsteht. Die ohnehin schon außerordentlich schwierige, vielleicht sogar unmögliche Aufgabe, den Willen eines Gesetzgebers zu rekonstruieren, wird, je nachdem, wie weit man in der Verfassungsgeschichte zurückgeht, umso schwieriger.236 Man könnte argumentieren, das Auftreten von Auslegungsschwierigkeiten und die Möglichkeit unterschiedlicher Auslegungsergebnisse widerlege noch nicht die Rationalität dieser Auslegungsmethode. Dies ist sicherlich zutreffend.237 Böckenförde tritt jedoch mit dem Anspruch auf, durch die historisch-genetische Auslegung eine „methodisch gesicherte Ermittlung“ der grundrechtlichen Gewährleistungsinhalte bieten zu können. Dazu heißt es: „Die methodisch gesicherte Ermittlung des Gewährleistungsinhalts der einzelnen Grundrechte gibt der Grundrechtsdogmatik wieder ihre Tiefendimension und die Einbettung in die historisch-genetische, auch verfassungsgeschichtliche Betrachtung zurück. Sie erlaubt es zudem – als Folge der präzisen Bestimmung und Umgrenzung des Gewährleistungsinhalts – bei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt die Anwendung verfassungsunmittelbarer immanenter Schranken auszuschließen. Der Gesetzesvorbehalt kann wieder voll in sein freiheitsverbürgendes und demokratisches Recht eingesetzt, der Weg zum Richtervorbehalt wieder eingeschränkt werden.“238 Der Anspruch einer methodisch gesicherten Ermittlung der Gewährleistungsinhalte wird jedoch – wie die Unklarheiten und Widersprüche zu den Beispielen der Forschungs-, Religions- und Gewissensfreiheit gezeigt haben – nicht erfüllt. Er kann auch nicht erfüllt werden, wenn man die rahmenordnungsrechtliche Einbindung der historisch-genetischen Auslegung betrachtet. Denn nach Böckenförde soll die historisch-genetische Auslegung erklärtermaßen einer restriktiven Verfassungsauslegung dienen.239 Damit wird aber den historisch-genetischen Argumenten von vornherein eine bestimmte Richtung vorgebeben. Abgesehen von der kaum zu bewältigenden Aufgabe, den wirklichen Willen des Verfassungs(gesetz)gebers zu ermitteln, überzeugt jedenfalls eine Vereinnahmung historisch-genetischer Argumente für bloß restriktive Auslegungsergebnisse nicht. Sie lässt sich auch nicht vereinbaren mit dem Willen des Verfassunggebers, eine gewisse Anpassungsfähigkeit der Grundrechte an veränderte Lebensverhältnisse zu gewährleisten. Der aus dem Entwurf zu Art. 1 Abs. 3 GG gestrichene Zusatz, dass die Grundrechte „für unser Volk aus unserer Zeit geformt“ seien, habe an dem damit verfolgten Sinn und Inhalt der Grundrechte nichts verändert: „Das festzustellen, dürfte für die spätere Auslegung von Bedeutung sein. Denn bei einem solchen Charakter ist für die Grundrechte die gerade für sie so wichtige Anpassungsfähigkeit an fortschreitende Entwicklungen in besonderem Maße gesichert.“240 Die historische 236

Vgl. dazu Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 84 ff. Zur Bedeutung genetischer und historischer Argumente für die Verfassungsinterpretation siehe daher Schneider, S. 903 ff. 238 Böckenförde, Schutzbereich, S. 191. 239 Siehe oben S. 174 f. 240 v. Mangoldt, in: Parlamentarischer Rat, Schriftlicher Bericht, S. 5. Siehe auch die Diskussion im Grundsatzausschuss, Der Parlamentarische Rat, Ausschuss für Grundsatzfra237

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

Auslegung zeigt damit, dass die historische Auslegung als Kanon der juristischen Interpretation nicht bestimmend, die Verfassung also nicht starr, sondern in die Zukunft hinein flexibel sein sollte.241 4. Elementare Nichtstörungsschranken Nach Böckenförde kann mit der Gewährleistungslehre die Heranziehung von verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken im Sinne des Grundrechtsschutzes wesentlich zurückgedrängt werden.242 Für die Grundrechte mit einfachem oder qualifiziertem Gesetzesvorbehalt folgt die Vereinfachung der Schrankendogmatik daraus, dass wegen der engen Gewährleistungsinhalte auf weitere verfassungsimmanente Schranken verzichtet werden kann.243 Dies gilt aber nicht für vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte. Trotz der engen Gewährleistungsinhalte könnten die vorbehaltlosen Grundrechte keineswegs schrankenlos gewährleistet werden.244 Zur Anwendung kommen sollen aber nicht die allgemeinen verfassungsimmanenten Schranken, sondern nur die elementaren Nichtstörungsschranken: „Was allein bleiben muss, sind die elementaren Nichtstörungsschranken, die Bestandteil jeder funktionsfähigen Rechtsordnung sind. Diese Schranken sind allerdings zumeist in der gesetzlichen Rechtsordnung, nicht selten in Orientierung an Grundrechten anderer, ausgeformt; ein unmittelbarer Rückgriff auf die Grundrechte anderer wird so nur vereinzelt notwendig und dann nach Maßgabe von deren Gewährleistungsgehalt, nicht von weitgezogenen Schutzbereichen. Hinzu tritt der Kernbereich der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne von Art. 79 Abs. 3, Art. 1 und 20 GG.“245 Vereinfacht der Rückgriff auf elementare Nichtstörungsschranken die Schrankendogmatik? Nach der obigen Definition gehören zu den elementaren Nichtstörungsschranken zunächst solche, die auch als allgemeine verfassungsimmanente Schranken anzusehen wären, nämlich die Grundrechte anderer sowie die Rechte aus Art. 79 Abs. 3, Art. 1 und 20 GG. Mit den elementaren Nichtstörungsschranken knüpft Böckenförde gen, S. 603: v. Mangoldt: „Ich darf noch einmal kurz auf Art. 1 zurückkommen, in der Fassung, die wir ihm in der letzten Sitzung gegeben haben. Dazu hat Herr Dr. Eberhard vorgeschlagen zu sagen: (3) In den nachstehenden Artikeln für unser Volk aus unserer Zeit geformt und niedergelegt, binden diese Grundrechte … usw.“ – Dr. Bergsträsser: „Das wäre die Festlegung der Wandelbarkeit, der Elastizität.“ – v. Mangoldt: „Das ist richtig. […].“ 241 A.A. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, Rn. 24, Fn. 33 mit Hinweis darauf, die Auffassung von v. Mangoldt könne, da sie keinen Widerhall gefunden habe, nicht ohne weiteres als Ansicht des Parlamentarischen Rates angesehen werden. Allerdings bleibt Hillgruber die Begründung dafür, dass es sich insofern um eine bloße Einzelstimme gehandelt hat, schuldig. Schließlich ist die Aussage von v. Mangoldt ohne Widerspruch geblieben. 242 Böckenförde, Schutzbereich, S. 190. 243 Böckenförde, Schutzbereich, S. 191. 244 Böckenförde, Schutzbereich, S. 190. 245 Böckenförde, Schutzbereich, S. 190.

B. Der konzeptionelle Gehalt der Rahmenordnungstheorie

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darüber hinaus an die Dogmatik der Nichtstörungsschranken von Dürig an,246 die darauf abzielt, die aus der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG selbstverständlichen, für alle Grundrechte geltenden Schranken abzuleiten.247 Dürigs Nichtstörungsschranken umfassen aber auch die ethische und öffentliche Ordnung.248 Zur ethischen Nichtstörungsschranke heißt es: „Die rechtlich relevante Kraft der Ethik gründet im letzten in der durch Art. 1 I geschützten Selbstbestimmung der Persönlichkeit, die sich einer rechtlichen Heteronomie gerade entzieht. Das Recht trägt daher das Sittengesetz nicht ,von außen her‘ an den Menschen heran […], sondern verdeutlicht deklaratorisch lediglich die ,inneren‘ ethischen Grenzen jeglicher Freiheit. […] Diese allen Grundrechten innewohnende ethische Nichtstörungsschranke bewirkt beispielsweise, dass es trotz des unbeschränkten Art. 4 II nicht zur Freiheit der Religionsausübung gehört, eine Sekte mit Nacktkultur aus Glaubensüberzeugung zu bilden, dass trotz des unbeschränkten Rechts zur Eingehung einer Ehe (Art. 6 I) die Polygamie unzulässig ist; dass es trotz des unbeschränkten Art. 12 I Satz 1 nicht zur Freiheit der Berufswahl gehört, den ,Beruf‘ einer Dirne zu wählen; […].“249 Zudem setze die Verfassung eine gesellschaftliche Nichtstörungsschranke voraus, die jede Grundrechtsausübung insoweit unzulässig mache, als sie zu einer Störung und Gefährdung der für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen unerlässlichen Gemeinwohlwerte anwachse.250 Mit diesen auf die öffentliche und sittliche Ordnung bezogenen Schranken ergäben sich allerdings – je nach Auslegung – erhebliche Einschränkungsmöglichkeiten. Es ist nicht ersichtlich, dass mit ihnen die Reichweite möglicher Schranken im Vergleich zu der von Böckenförde kritisierten „Stilisierung von Verfassungswerten“ 251 spürbar begrenzt werden könnte. Problematisch dürfte aber nicht nur die Reichweite, sondern vor allem die Wirkungsweise der elementaren Nichtstörungsschranken sein. Der Unterschied zwischen der Wirkungsweise der verfassungsimmanenten Schranken und der elementaren Nichtstörungsschranken liegt nach Böckenförde darin, dass letztere nicht verfassungsunmittelbar zur Anwendung kommen, sondern – zumindest grundsätzlich – nur durch Vermittlung des Gesetzgebers. Insoweit heißt es bei Böckenförde: „Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt unterliegen nur den elementaren Nichtstörungsschranken, die der Gesetzgeber ausformen kann, aber auch gesetzlich ausformen muss, so dass der unmittelbare Schrankenrückgriff auf die Verfassung durch

246 Böckenförde, Schutzbereich, S. 190 und S. 172 mit Verweis auf Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 69 ff. zu Art. 2 Abs. 1, Stand 1958. Siehe auch Rensmann, S. 144 ff., der zwar Schutzbereichsverengungen ablehnt, sich aber für eine Übertragung der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG auch auf vorbehaltlos gewährte Grundrechte ausspricht. 247 Zur Annäherung der Nichtstörungsschranken im Sinne Dürigs an die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG Misera-Lang, S. 91 f. 248 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 73 ff. zu Art. 2 Abs. 1, Stand 1958. 249 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 74 zu Art. 2 Abs. 1, Stand 1958. 250 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 75 zu Art. 2 Abs. 1, Stand 1958. 251 Zu Böckenfördes Kritik siehe oben S. 171 f.

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

den Richter entbehrlich wird.“252 Das Problem der verfassungsimmanenten Schranken liegt nach Auffassung von Böckenförde in einer Umgehung des Gesetzgebers: „Nach ihrem Begriff und der dogmatischen Konstruktion gelten sie gerade unmittelbar, sind von einer notwendigen legislatoris interpositio nicht abhängig. Deshalb ist es auch Sache der rechtsanwendenden Organe, vorab der Gerichte, diese Schranken zur Anwendung zu bringen, ohne dass sie dazu einer Ermächtigung durch den Gesetzgeber bedürfen. Verfassungsimmanente Schranken begründen so in dem Umfang, in dem sie bestehen, auch einen Richtervorbehalt, letztlich des BVerfG, und eine entsprechende Verschiebung im Gewaltengefüge.“253 Diese Kritik an unmittelbaren Verfassungswirkungen hat auch Schmitt deutlich zum Ausdruck gebracht. Insoweit heißt es: „Unmittelbarer, automatischer Verfassungsvollzug ist ein Problem ersten Ranges. […] Wenn Exekutive und Justiz aufgrund höherer als der gesetzlichen Normen unmittelbar tätig werden, ist der Gesetzgeber um eine Stufe degradiert. Das letzte Wort in einem solchen Gemeinwesen hat dann nicht mehr der Gesetzgeber, sondern der die Verfassung unmittelbar anwendende Richter oder Vollzugsbeamte […].“254 Der Zweck der elementaren Nichtstörungsschranken läge also darin, den „Vorantritt“ des Gesetzgebers gegenüber einem unmittelbaren Verfassungsvollzug zu sichern. Wie diese Dogmatik konkret umzusetzen ist, bleibt mangels weiterer Explikation offen. Folgerichtig wäre aber eine Berücksichtigung der Nichtstörungsschranken bzw. der entsprechenden gesetzlichen Ausformung bereits auf der Tatbestandsebene der Grundrechte, so dass die grundrechtlichen Gewährleistungsinhalte insofern durch die einfache Rechtsordnung geprägt würden. Man könnte danach diejenigen Verhaltensweisen aus dem grundrechtlichen Tatbestand ausschließen, die vom einfachen Recht missbilligt werden. Ausgangspunkt für die Beschränkung vorbehaltloser Grundrechte wäre dann nicht das Verfassungsrecht, sondern das einfache Recht. Nach alledem ist nicht ersichtlich, wie aus der Gewährleistungslehre – zumindest im Hinblick auf vorbehaltlos gewährte Grundrechte – eine Verbesserung des Grundrechtsschutzes folgen soll. Der Verzicht auf verfassungsimmenente Schranken führt zu elementaren Nichtstörungsschranken, die in ihrer Reichweite und ihrer über den Gesetzgeber vermittelten Anwendung die Grundrechte nicht weniger beschränken oder „bequem machen“255 können wie verfassungsimmanente Schranken. Dann aber stellt sich die Frage, ob mit der Gewährleistungslehre und ihren engen grundrechtlichen Gewährleistungsinhalten überhaupt das Ziel verfolgt wird, den grundrechtlichen Schutz zu verbessern.256 252

Böckenförde, Schutzbereich, S. 191. Böckenförde, Schutzbereich, S. 169. 254 Schmitt, Rechtsstaatlicher Verfassungsvollzug, S. 487; siehe auch ders., Grundrechte und Grundpflichten, S. 217 ff., 224. 255 Böckenförde, Schutzbereich, S. 190. 256 Siehe dazu sogleich unter C. II. 1. 253

B. Der konzeptionelle Gehalt der Rahmenordnungstheorie

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IV. Ergebnis Ein vollständiges Bild der Rahmenordnungstheorie Böckenfördes konnte nicht gezeichnet werden, der konkrete Verlauf des verfassungsrechtlich bindenden Rahmens ist in vielerlei Hinsicht offen geblieben. Gegenüber der noch ganz allgemein gehaltenen Skizze der Rahmenordnung in der verfassungsmethodischen Kritik257 haben sich jedoch in jüngerer Zeit, insbesondere durch die Lehre vom Gewährleistungsinhalt der Grundrechte, einige deutliche Anhaltspunkte für das Rahmenordnungskonzept herausgebildet. Zu den Grundrechtsfunktionen könnte man im Duktus der Lüth-Entscheidung wie folgt formulieren: Die Grundrechte sind dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Diesen Sinn haben auch die Grundrechte des Grundgesetzes. Das Grundgesetz, das keine werthafte Ordnung sein will, hat in seinem Grundrechtsabschnitt keine objektive Wertordnung aufgerichtet, die eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck bringen und als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten würde. Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von den Grundrechten keine verbindlichen, d. h. einklagbaren Richtlinien und Impulse. Im Rahmen des Staat-Bürger-Verhältnisses kommt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich zur Anwendung. Da ein verfassungsrechtlich verankerter Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach Böckenförde aber die Möglichkeit in sich birgt, den Gesetzgeber zum bloßen Verordnungsgeber herunterzustufen, wird seine restriktive Anwendung in Betracht gezogen, zumindest für den weiten Schrankenvorbehalt des als allgemeine Handlungsfreiheit verstandenen Art. 2 Abs. 1 GG ausdrücklich vorgeschlagen. Die Verhältnismäßigkeitskontrolle von Gesetzen beschränkt sich insoweit auf die Prüfung der Eignung und Erforderlichkeit. Angemessenheitserwägungen sollen sich als Bestandteil der „polizeirechtlichen Verhältnismäßigkeit“ auf die Anwendung der Gesetze im Einzelfall beschränken. Mit der Gewährleistungslehre schlägt Böckenförde eine normative Beschränkung der Grundrechte bereits auf der Tatbestandsebene vor. Gegenüber dem als Lebensbereich verstandenen weiten Schutzbereich soll auf der Ebene der grundrechtlichen Gewährleistung der engere normative Gehalt eines Grundrechts ermittelt werden. In das Zentrum der Ermittlung grundrechtlicher Gewährleistungsinhalte stellt Böckenförde die historisch-genetische Auslegung und expliziert anhand dieser die Gewährleistungsinhalte der Forschungs-, Religions- und Gewissensfreiheit. Im Ergebnis sollen diese Grundrechte keine allgemeine Handlungsfreiheit nach dem Gewissen, der religiösen oder wissenschaftlichen Überzeugung gewähren. Im Einzelnen haben sich aber erhebliche Zweifel an den herangezogenen historisch-genetischen Argumenten ergeben, die nicht nur die jeweiligen Auslegungsergebnisse betreffen, sondern auch die historisch-genetische Auslegung an sich in Frage stellen, 257

Siehe oben S. 155 f.

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

zumindest soweit sie – wie hier – als maßgebliches Auslegungskriterium herangezogen wird. Böckenförde verteidigt die historisch-genetische Auslegung auch nicht methodologisch als überlegene Auslegungsmethode, sondern ordnet sie dem Rahmenordnungskonzept zu, da sie sich in die insoweit gebotene restriktive Verfassungsinterpretation einfüge. Insgesamt spiegelt sich die zunehmend auf den Kompetenzverlust des Gesetzgebers abstellende Kritik Böckenfördes in dem konzeptionellen Gehalt der Rahmenordnungstheorie wider. Gegenüber dem Konzept der Werteordnung wird die Autonomie des Gesetzgebers gestärkt durch die Beschränkung der Grundrechte auf ihre Abwehrfunktion, durch enge grundrechtliche Gewährleistungsinhalte, durch eine restriktive Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie durch eine Zurückdrängung verfassungsunmittelbarer Wirkungen zugunsten normgeprägter Nichtstörungsschranken.

C. Das Rahmenordnungsdenken als Regeldenken Ausgehend von der Kritik und den konzeptionellen Vorschlägen Böckenfördes könnte man die Rahmenordnungstheorie auf verschiedene Weise einordnen, und zwar primär als Grundrechtstheorie zum Schutz liberaler Freiheit („Freiheit schlechthin“) oder primär als Demokratietheorie zum Schutz gesetzgeberischer Autonomie oder als dem Grundrechtsschutz und der Demokratie gleichermaßen verpflichtete Verfassungstheorie. Die Einordnung hängt ab von den Gründen der Rahmenordnungstheorie und von ihrer Plausibilität. Möglicherweise lässt sie sich rechtstheoretisch als Ausdruck des Regeldenkens beschreiben. Zu beachten ist allerdings, dass die Rahmenordnungstheorie ihren Ausgangspunkt nicht in der RegelPrinzipien-Unterscheidung im Sinne Alexys hat. Maßgeblich ist vielmehr die Vorstellung von Verfassungsnormen als Lapidarformeln, die der gesetzgeberischen Ausgestaltung bedürfen.258

I. Verfassungsnormen als „Lapidarformeln“ Im Jahr 1973, kurz vor seiner verfassungsmethodischen Kritik, hat Böckenförde das Verhältnis zwischen Recht und Politik im Hinblick auf die Bindungen des kirchlichen Naturrechts erörtert.259 In diesem Zusammenhang hat er das kirchliche Naturrecht mit seinen „Lapidarsätzen und -forderungen“260 als viel zu abstrakt und allgemein angesehen, als dass es ein verbindliches Richtmaß für politisches Handeln 258

152. 259 260

Zur Charakterisierung von Verfassungsnormen als Lapidarformeln siehe oben S. 148, Böckenförde, Kirchliches Naturrecht, S. 161 ff. Böckenförde, Kirchliches Naturrecht, S. 164.

C. Das Rahmenordnungsdenken als Regeldenken

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darstellen könnte.261 Die kirchlichen Konkretisierungen gingen zu weit und schränkten das politische Handeln zu stark ein.262 Auf ähnliche Weise argumentiert Böckenförde im Hinblick auf das Verhältnis von Verfassungsrecht und Politik. Als Lapidarformeln hätten Verfassungsnormen meist nur fragmentarischen Charakter. Böckenförde schlussfolgert daraus, dass ihr normativer Geltungsanspruch von vornherein auf ein näher zu definierendes Minimum (Rahmenordnung) beschränkt ist und die offen gebliebenen Bereiche der politischen Ausgestaltung obliegen. Solche fragmentarischen Normen bedürfen also nicht der interpretatorischen, sondern der gesetzlichen Konkretisierung.263 Diese Deutung ist möglich, aber – wie die gegenteilige Lesart von Verfassungsnormen als Prinzipiennormen gezeigt hat – nicht zwingend.264 Der Schluss vom fragmentarischen Charakter auf einen verminderten normativen Geltungsanspruch bedarf daher einer Begründung. Davon geht auch Böckenförde aus, allerdings behandelt er den Rahmencharakter der Verfassung zugleich als normstrukturell gebotene Vorgabe. In ein und demselben Aufsatz heißt es dazu: „Dieser in mehrfacher Hinsicht fragmentarische Charakter der Verfassung hat zur Konsequenz, dass ihr die normativ-inhaltliche Struktur des Gesetzes notwendigerweise abgeht. Sie ist,265 von dieser Struktur her gesehen, eine Rahmenordnung, d. h. sie legt typischerweise nur Rahmenbedingungen und Verfahrensregeln für den politischen Handlungs- und Entscheidungsprozess fest und trifft Grund(satz)entscheidungen für das Verhältnis einzelner, Gesellschaft und Staat, enthält aber keine in einem judiziellen oder verwaltungsmäßigen Sinne schon vollzugsfähigen Einzelregelungen.“266 Als Frage formuliert heißt es kurz darauf: „Muss nicht die Verfassung – wegen ihres fragmentarischen, weithin unvollständigen und prinzipienhaften Charakters – als Rahmenordnung qualifiziert werden, Rahmenordnung für den politischen Handlungsund Entscheidungsprozess und die Ausübung der politischen Entscheidungs-, insbesondere des Rechtsetzungsgewalt?“267 Ambivalent ist auch die Argumentation zur Beschränkung der Grundrechte auf ihre Abwehrfunktion. Das Argument, Art. 1 Abs. 1 GG proklamiere die Grundrechte als vorstaatliche Menschenrechte und gewährleiste sie daher nur als Freiheitsab261

Böckenförde, Kirchliches Naturrecht, S. 190. Z.B. durch Hirtenbriefe, die die Wahl von Abtreibungsbefürwortern verbieten, Böckenförde, Kirchliches Naturrecht, S. 169 ff. 263 Siehe dazu oben S. 152 ff. 264 Vgl. Ossenbühl, Grundrechtsinterpretation, § 15 Rn. 4: „Grundrechtsverbürgungen sind bewusst unvollständig gelassene, offene Normen, die erhebliche Ergänzungsspielräume enthalten und für ihre Anwendung auch erfordern. Inwieweit diese Ergänzungen der unvollständigen Grundrechtsverbürgungen zu anwendbaren Normen dem Gesetzgeber obliegen oder dem Bundesverfassungsgericht, ist eine ewige und nicht generell zu beantwortende Frage der Gewaltenteilung.“ 265 Herv. d. Verf. 266 Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2091. 267 Ebda, S. 2099; später Böckenförde, Grundsatznormen, S. 30 f. 262

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

wehrrechte,268 relativiert Böckenförde später selbst. Die Frage nach dem Charakter der Grundrechte als Abwehrrechte oder als objektive Grundsatznormen werde nicht schon durch „Art. 1 GG in seinen einzelnen Absätzen vorentschieden“.269 Insbesondere zur unmittelbaren Geltung der Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG heißt es: „Wenn die Grundrechte subjektive Freiheitsrechte darstellen, sind sie als solche unmittelbar geltendes Recht und binden alle drei Staatsfunktionen; wenn sie objektive Grundsatznormen sind, gelten und binden sie als diese.“270 Die Normstruktur entscheidet damit nicht schon eindeutig über die normative Reichweite, sondern die Offenheit von Verfassungsnormen lässt beide Deutungen zu: Die Verfassung schweigt zugunsten weiterer politischer Gestaltung oder sie redet und leitet die politische Gestaltung und Rechtsanwendung durch Prinzipienbindung. Böckenförde hingegen geht schließlich im Rahmen der Erörterung der Gewährleistungslehre ohne weitere Begründung bzw. ohne Verweis auf eine solche davon aus, die Verfassung sei eine Rahmenordnung: „Eine Verfassung ist ihrer Art nach kein umfassendes und lückenloses System von Gewährleistungen, auch nicht von Freiheitsgewährleistungen. Ebenso enthält sie nicht schon die Kernsubstanz (in Prinzipienform) der Rechtsordnung insgesamt, wiewohl die Grundrechtsjudikatur und -theorie zuweilen von dieser Prämisse getragen wird. Die Verfassung stellt vielmehr eine Rahmenordnung dar, die bestimmte grundlegende Verbürgungen sowie normative Regelungen für die Konstituierung, Legitimation, Zielausrichtung und Begrenzung des politischen Prozesses enthält.“271 Möglicherweise zeigt sich hierin, dass Böckenförde eine Begründung mittlerweile für verzichtbar hält. Immerhin hat er die Frage zwischen Werte- und Rahmenordnung zwischenzeitlich auf eine bloße Entscheidung zwischen den Alternativen des verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates und des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates reduziert.272 Ausgehend von dem früher vertretenen Anspruch nach einer verfassungsmäßigen Verfassungstheorie kann eine bloße Entscheidung für die Rahmenordnung jedoch nicht überzeugen. Im Folgenden sollen daher die an verschiedenen Stellen deutlich gewordenen Gründe für das Rahmenordnungsverständnis erörtert werden.

II. Verfassungstheoretischer Erklärungswert Gleichsam als Obersatz für die Ziele der Rahmenordnungstheorie mag eine Formulierung Böckenfördes im Vorwort zu dem Sammelband „Staat, Verfassung, Demokratie“ dienen. Dort heißt es: „Ziel dieser Beiträge ist es, die Integrität rechtsstaatlicher Freiheitsgewähr – gegenüber welchen Infragestellungen auch 268 269 270 271 272

Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1537. Böckenförde, Grundsatznormen, S. 2. Böckenförde, Grundsatznormen, S. 2 f. Böckenförde, Schutzbereich, S. 186. Siehe oben S. 161.

C. Das Rahmenordnungsdenken als Regeldenken

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immer – zu behaupten und zu bewahren und die Bedeutung des parlamentarischen Gesetzes (und damit des Gesetzgebers) als eine Achse dieser Freiheitsgewähr nicht kampflos preiszugeben – auch nicht zugunsten einer ausufernden Anreicherung der Verfassung durch deren vorgebliche Interpretation.“273 Welchen Beitrag leistet die Rahmenordnungstheorie zum Schutz rechtsstaatlicher Freiheit und zum Schutz des Gesetzes und des Gesetzgebers? Tragen bzw. erklären diese Gründe die Rahmenordnungstheorie? 1. Schutz der rechtsstaatlichen Freiheitsgewähr Mit dem Schutz der rechtsstaatlichen Freiheit ist der Schutz der liberalen Freiheit, der „Freiheit schlechthin“ gemeint.274 Böckenförde geht davon aus, für die objektivrechtlichen Grundrechtswirkungen sei ein Preis zu zahlen, und zwar der Verlust an liberaler Freiheit.275 Ob diese These zutrifft, soll hier nicht weiter vertieft werden. Eine gewisse Plausibilität kann man ihr nicht absprechen, da die subjektiv-rechtlichen Abwehrpositionen nicht der Konkurrenz objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte ausgesetzt wären.276 Auf der anderen Seite hängt die Frage nach dem Maß liberaler Freiheit nicht nur von den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten ab. Denn Einschränkungen liberaler Freiheit können ebenso durch Gemeinwohlerwägungen gerechtfertigt werden, insbesondere durch das Sozialstaatsgebot.277 Eine 273 Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, Vorwort, S. 7. Vgl. auch eine ähnliche Formulierung zur Gewährleistungslehre, ders., Schutzbereich, S. 191: „Dieser Ansatz leistet einen Beitrag dazu, jedem sein Recht zu geben, dem einzelnen Träger grundrechtlicher Freiheit, den Belangen und Interessen der Allgemeinheit, dem demokratischen Gesetzgeber wie auch der Exekutive, und ebenso dem diese Gewalten kontrollierenden Richter.“ 274 Siehe oben S. 149. 275 Siehe dazu oben S. 159. 276 Böckenförde, Rechtsstaatsbegriff, S. 160 f.: „Der Rechtsstaat ist in seiner freiheitssichernden Struktur an unmittelbare und unverbrüchliche verfassungsrechtliche Gewährleistungen gebunden, insbesondere die Trias von Rechtsgleichheit, Erwerbsfreiheit und Eigentum. Gleich unmittelbare, unverbrüchliche und aus sich vollziehbare verfassungsrechtliche Verbürgungen, die auf soziale Leistungen und Anteilsrechte abzielen, sind nicht möglich, ohne diese rechtsstaatlichen Verbürgungen abzubauen.“ In diesem Sinne auch H. Klein, Grundrechte, S. 72: „Jede andere Konzeption [erg. als die abwehrrechtliche] überfordert die Grundrechte und beraubt sie zugleich ihrer Effektivität.“ Zu den objektiven Grundrechtsgehalten als Eingriffsermächtigung siehe oben S. 52. 277 Siehe dazu die sozialstaatlich modifizierte liberale Grundrechtstheorie von Böckenförde, oben S. 150 und Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1538: „Für die Grundrechtsgewährleistung bedeutet dies, dass dem Staat insoweit entsprechende Regelungs- und Eingriffsbefugnisse zuwachsen. Der Sozialstaatsauftrag erweist sich damit als Rechtstitel, um die grundrechtliche Freiheit des einen nicht nur mit der gleichen rechtlichen Freiheit des anderen, sondern auch mit deren Realisierungsmöglichkeit kompatibel zu halten und ihrer Ausdehnung von daher Maß und Grenzen zu setzen. Darin liegt keine Außerkraftsetzung der liberalrechtsstaatlichen Grundrechtstheorie, wohl aber ihre soziale Einbindung – und damit eine deutliche Modifikation.“ Vgl. auch ders., Freiheitssicherung, S. 264 ff.; ders., Soziale Grundrechte, S. 146 ff.

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

immerhin mögliche Anhebung des liberalen Schutzniveaus durch den Verzicht auf objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte wird aber auf andere Weise konterkariert. a) Inhaltsbestimmung Der Schutz rechtsstaatlicher Freiheit als „Freiheit schlechthin“ bezieht sich nach Böckenförde auf eine vorstaatliche, ausgrenzende Freiheit, die keiner Inhalts- und Zweckbestimmung von außen unterliegt: „Die grundrechtliche Freiheit wird durch den Staat nicht konstituiert, sondern liegt ihm, rechtlich gesehen, voraus. Der Staat hat die Voraussetzungen und Institutionen für ihre rechtliche Gewährleistung zu schaffen, er hat ferner durch rechtliche Grenzziehungen die rechtliche Freiheit des einen mit der der anderen unter wechselnden Verhältnissen kompatibel zu halten; die ,Substanz‘, der Inhalt der Freiheit und damit die Bestimmung der Art des Freiheitsgebrauchs liegen hingegen von vornherein außerhalb seiner Regelungskompetenz. […] Nicht das einschränkende oder einen Gewährleistungsvorbehalt ausfüllende Gesetz kann dem Grundrecht Maß und Inhalt setzen, sondern umgekehrt muss ein solches Gesetz Maß und Inhalt von der grundrechtlichen Freiheitsgewährleistung empfangen.“278 Mit der Gewährleistungslehre geht Böckenförde hingegen in die entgegengesetzte Richtung, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen wird die grundrechtliche Freiheit durch die engen grundrechtlichen Gewährleistungsgehalte inhaltlich bestimmt. Mit Hilfe der historisch-genetischen Auslegung und der Berücksichtigung von entgegenstehenden Rechtsgütern auf der Tatbestandsebene der Grundrechte werden bestimmte grundrechtliche Betätigungsformen aus der grundrechtlichen Freiheit von vornherein ausgeschlossen, so dass die Art des Freiheitsgebrauchs gerade inhaltlich vorgegeben wird.279 Dem Selbstverständnis des Grundrechtsträgers, z. B. über religiös verbindliche Gebote, käme allenfalls eine untergeordnete Rolle zu. Darüber hinaus bricht die Gewährleistungslehre mit dem von Böckenförde hervorgehobenen Gebot, nicht das einschränkende oder einen Gewährleistungsvorbehalt ausfüllendes Gesetz gäbe dem Grundrecht Maß und Inhalt. Denn Maßstab für den Gewährleistungsinhalt vorbehaltloser Grundrechte sollen die elementaren Nichtstörungsschranken in ihrer einfachgesetzlichen Ausprägung sein.280 Enge grundrechtliche Gewährleistungsinhalte gefährden damit die „Freiheit schlechthin“.281 278

Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1530 f. Siehe dazu auch oben S. 148 f. Siehe dazu die oben ausgeführten Beispiele der Forschungs-, Religions- und Gewissensfreiheit, S. 176 ff. 280 Siehe oben S. 189 f. 281 Kritisch auch Kahl, Gewährleistungsgehalt, S. 184 f., der insoweit eine Gefährdung von Menschenwürde und Autonomie annimmt. Der Grundrechtsträger müsse in erster Linie selbst bestimmen können, welches Verhalten z. B. für seine Persönlichkeitsentfaltung notwendig sei. Dieses offene Menschenbild des Grundgesetzes dürfe nicht durch enge sachliche Schutzbereiche gefährdet werden.; Möllers, Grundrechtsjudikatur, S. 1976 f., der auf die Funktions279

C. Das Rahmenordnungsdenken als Regeldenken

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b) Verlagerungsargument Man könnte argumentieren, die grundrechtliche Freiheit würde durch die Gewährleistungslehre zumindest im Ergebnis nicht weitergehend eingeschränkt als bei der Annahme weiter grundrechtlicher Schutzbereiche, da die Gewährleistungsinhalte nur die sonst auf der Schrankenebene erforderliche Argumentation im Rahmen des grundrechtlichen Tatbestandes vorwegnähmen. Grundrechtlich würde damit nicht erst etwas – ggf. Abwegiges – versprochen und dann wieder genommen.282 Böckenförde selbst sieht in der Gewährleistungslehre keine bloße Verlagerung der grundrechtlichen Argumentation. Diese sei auf der Tatbestandsebene durchaus in gewisser Weise eingeschränkt, da sie dort weniger flexibel angewendet werden könne. Eine gewisse Einschränkung der Flexibilität der Argumentation erscheine aber von der gegebenen Verfassungsstruktur eher gefordert als diese zu gefährden.283 Doch welche Konsequenzen hat die Verlagerung der grundrechtlichen Argumentation für den Schutz rechtsstaatlicher Freiheit? Hinter dem Verweis auf die Flexibilität steht das Argument der Einzelfallgerechtigkeit. Tatbestandliche Einschränkungen wie die der Gewährleistungsinhalte beziehen sich nicht auf den Einzelfall. Sie sind Ausdruck genereller Abwägungen oder genereller Aussagen über die historisch-genetische Grundrechtsgewährleistung.284 Die Verlagerung der Grundrechtsargumentation von der Schranken- auf die Tatbestandsebene schließt die Berücksichtigung der Einzelfallumstände aus,285 was bezogenheit der Schutzbereichsbestimmung verweist (S. 1977): „In allen Fällen wurde die Prüfung des Schutzbereichs der individuellen Perspektive entzogen und in einen gesamtgesellschaftlichen Horizont verlegt, ohne dass geklärt war, warum eine Einschränkung angezeigt war. Ist es für die Demokratie besser, wenn politische Versammlungen privilegiert werden, als wenn alle Versammlungen gleich stark geschützt sind? Ist es nützlich für den Markt, eine staatlich gesteuerte Informationsordnung zu unterstellen? Schützt ein materieller Begriff von Privatheit die Menschenwürde? […] Nach dem Vorbild der Rundfunkfreiheit wird Freiheit allgemein nur noch in öffentlich-rechtlicher Form gewährleistet.“ Dazu auch Misera-Lang, S. 269: „Definitorische Eingrenzungen des Art. 4 II GG auf der Basis inhaltlicher Kriterien sind jedoch nicht zulässig. Innerhalb einer Religion sind auch die von der überwiegenden Lehre abweichenden Auffassungen, seien sie nun besonders strenggläubiger oder besonders liberaler Natur, geschützt.“ 282 Hoffmann-Riem, Gewährleistungsgehalte, S. 64, spricht insofern von überschießenden Grundrechtsverheißungen. Vgl. auch Volkmann, S. 257, der in den eher abstrakt-generellen Schutzbereichsabwägungen einen Rationalitätsgewinn sieht; ebenso Murswieck, S. 487 f. Beispiele abwegig erscheinender grundrechtlicher Schutzbereiche, wie den echten Mord im Rahmen eines Theaterstücks oder die Einbetonierung eines fremden Autos als Kunstwerk bei Misera-Lang, S. 239 ff. 283 Böckenförde, Schutzbereich, S. 185 f. 284 Siehe dazu die Beispiele zur Gewährleistungslehre Böckenfördes, S. 176 ff. sowie die Rechtsprechung des BVerfG zu engen grundrechtlichen Schutzbereichen, oben S. 90 f. 285 Vgl. dazu Kahl, Gewährleistungsgehalt, S. 193 f.; Misera-Lang, S. 137 m.w.N. Kritisch zur Einzelfallgerechtigkeit, die zu einer Entleerung und Entwertung des Gesetzesrechts zugunsten eines grundrechtlichen „Einzelfallvorbehalts“ führe, Jestaedt, Abwägungslehre, S. 267 f.

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wiederum zu schwierigen begrifflichen Abgrenzungsfragen führen kann. So mag der Ausschluss des Musizierens zur Nachtzeit aus der Kunstfreiheit einleuchten. Doch besteht auch Einigkeit über Beginn und Ende der Nachtzeit? Der Ausschluss von Grundrechtsbetätigungen, die mit Gewaltanwendung gegen Dritte verbunden sind, mag ebenfalls einleuchten. Doch welche Art und welches Ausmaß von Gewalt wären gemeint?286 Enge grundrechtliche Schutzbereiche oder Gewährleistungsinhalte erfassen weder atypische noch neuartige Fallgruppen.287 Die mangelnde Flexibilität der Gewährleistungslehre kann damit durchaus Grundrechtseinbußen zur Folge haben. Enge grundrechtliche Schutzbereiche oder Gewährleistungsinhalte wirken sich auch auf die Argumentationslastverteilung zwischen Staat und Bürger aus. Was schon nicht in den grundrechtlichen Gewährleistungsinhalt fällt, kann ohne weitere Begründung, insbesondere auch ohne Gesetz, eingeschränkt werden.288 Damit nimmt die Rechtfertigungslast auf Seiten des Staates ab. Zugleich steigen die Begründungslasten auf Seiten der Grundrechtsträger. Sie müssen zur Begründung der grundrechtlichen Betroffenheit darlegen und substantiieren, dass ein bestimmtes Verhalten vom normativen Gewährleistungsinhalt eines Grundrechts umfasst wird und Einschränkungen des Staates daher rechtfertigungsbedürftig sind.289 Das Schmittsche Verteilungsprinzip, wonach die Freiheit des Einzelnen prinzipiell unbegrenzt und die Befugnis des Staates zu Eingriffen prinzipiell begrenzt sein soll,290 würde damit eingeschränkt. Denn die prinzipiell unbegrenzte (liberale) Freiheit des Einzelnen stünde unter dem Vorbehalt des Gewährleistungsinhalts. Ist also mit den Versuchen, die Grundrechte tatbestandlich einzuschränken, das Wesentliche aus dem Blickfeld geraten? Möllers‘ Verweis auf das Wortlautargument erscheint demgegenüber verblüffend widerständig: „Allen methodischen Anfechtungen zum Trotz ist dagegen festzuhalten, dass ein schlichtes, dogmatisch starkes Argument für eine ,weite‘ Auslegung der Schutzbereiche lautet: Versammlung bezeichnet jede Versammlung, Beruf jeden Beruf, Wohnung alles, was sich in ihr abspielt.“291

286

Misera-Lang, S. 245, 248 f. Zur Bedeutung der Flexibilität auch Kaufmann, S. 172: „Kontrastiert man den vom Geschlossenheitsanspruch vorausgesetzten Entscheidungszwang des Rechtssystems mit zunehmender gesellschaftlicher Komplexität, beschleunigten Strukturveränderungen in allen Gesellschaftsbereichen und der hierdurch bedingten Überproduktion an Rechtsnormen, dann erscheint die im Prinzipienmodell zum Ausdruck kommende Materialisierung und Flexibilisierung als geradezu unumkehrbare Anpassungsleistung.“Allgemein zum Spannungsverhältnis zwischen „Starrheit“ und „Beweglichkeit“ der Verfassung Hesse, Grundzüge, Rn. 36 ff. 288 Siehe oben zur Glykol-Entscheidung des BVerfG S. 92 f. 289 Zur damit verbundenen prozessrechtlichen Schwächung Kahl, Gewährleistungsgehalt, S. 187. 290 Siehe oben S. 166. 291 Möllers, Grundrechtsjudikatur, S. 1977. 287

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c) Schranken Freiheitsbereiche und -betätigungen, die nicht (mehr) in die engen Gewährleistungsinhalte spezieller Freiheitsrechte fallen, müssen nicht schutzlos sein. Sie können aufgefangen werden von Art. 2 Abs. 1 GG, soweit man dieses Grundrecht – wie Böckenförde – als allgemeine Handlungsfreiheit und als Auffanggrundrecht versteht.292 Für den Grundrechtsschutz ist es aber nicht ohne Belang, von welchem Grundrecht ein Verhalten erfasst wird. Das differenzierte Schrankensystem zeigt, dass der spezifische Grundrechtsschutz mit unterschiedlichen grundrechtlichen Schutzniveaus einhergeht.293 Das BVerfG führt dazu in der Elfes-Entscheidung aus: „Neben der allgemeinen Handlungsfreiheit, die Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet, hat das Grundgesetz die Freiheit menschlicher Betätigung für bestimmte Lebensbereiche, die nach den geschichtlichen Erfahrungen dem Zugriff der öffentlichen Gewalt besonders ausgesetzt sind, durch besondere Grundrechtsbestimmungen geschützt; bei ihnen hat die Verfassung durch abgestufte Gesetzesvorbehalte abgegrenzt, in welchem Umfang in den jeweiligen Grundrechtsbereich eingegriffen werden kann.“294 Die Zuordnung beispielsweise der Forschungsbetätigung nur zur allgemeinen Handlungsfreiheit würde ihre Beschränkbarkeit erhöhen, da insoweit nur der einfache Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 1 GG zur Anwendung käme. Es ist nicht ersichtlich, inwieweit die von Böckenförde vorgeschlagene „forschungsfreundliche“ Auslegung in der Art der Wechselwirkungslehre diese Freiheitseinbuße kompensieren könnte. Zwar könnte man an eine Grundrechtsverstärkung durch Art. 5 Abs. 3 GG im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit denken.295 Doch nach der Dogmatik von Böckenförde sollen Gesetze, die die allgemeine Handlungsfreiheit einschränken, gerade keiner Angemessenheitskontrolle unterliegen, so dass kaum Raum bestünde, die besondere Bedeutung der forschungsbezogenen Tätigkeiten in der Art der Wechselwirkungslehre zu berücksichtigen. Der spezifische Grundrechtsschutz des speziellen Grundrechts, hier des Art. 5 Abs. 3 GG, ginge verloren. 292 Böckenförde, Schutzbereich, S. 188 f. Kritisch aber Kahl, Gewährleistungsgehalt, S. 186 ff. Danach seien Freiheitseinbußen zu befürchten, wenn neben den Spezialgrundrechten auch die allgemeine Handlungsfreiheit eng ausgelegt (moderne Persönlichkeitskerntheorien) oder sogar ihre Auffangfunktion abgelehnt würde. In diese Richtung aber Volkmann, S. 268 und Hoffmann-Riem, Grundrechtsanwendung, S. 214 f. Kritisch dazu wiederum Murswieck, S. 484 ff. 293 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 86 zu Art. 1, Stand 1958; Stern, Staatsrecht III/2, S. 812. Zum Ziel des Parlamentarischen Rates, durch das differenzierte Schrankenregime einen besseren Grundrechtsschutz zu erreichen Rensmann, S. 122 ff. 294 BVerfGE 6, 32, 37 (Elfes). 295 Zur Grundrechtsverstärkung siehe BVerfGE 104, 337, 346 (Schächtverbot): „Dem ist, auch wenn das Schächten selbst nicht als Akt der Religionsausübung verstanden wird, dadurch Rechnung zu tragen, dass der Schutz der Berufsfreiheit des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG durch den speziellen Freiheitsgehalt des Grundrechts der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verstärkt wird.“

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d) Ergebnis Die restriktive Grundrechtsauslegung von Böckenförde lässt sich insgesamt nicht als Stärkung liberaler Freiheit verstehen. Zwar könnte die Beschränkung der Grundrechte auf ihre Abwehrfunktion der rechtsstaatlichen Freiheitsgewähr dienen. Doch die restriktive Grundrechrechtsauslegung von Böckenförde geht über einen Verzicht auf objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte hinaus. Zu berücksichtigen ist zunächst die vorgeschlagene restriktive Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Gesetzen. Sie vergrößert den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, was sich – wenn eine Angemessenheitsprüfung entfällt – zu Lasten liberaler Freiheitspositionen auswirken kann.296 Darüber hinaus wird der Schutz liberaler Freiheit durch die Gewährleistungslehre gefährdet, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Enge grundrechtliche Gewährleistungsgehalte schließen bestimmte liberale Grundrechtsbetätigungen von vornherein vom grundrechtlichen Schutz spezieller Freiheitssgrundrechte, wie z. B. der Forschungsfreiheit, aus. Diese normativen Einschränkungen können – schon wegen der Schrankendivergenz – nicht im Rahmen des Auffanggrundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit kompensiert werden.297 Aber auch die nach der Gewährleistungslehre durch vorbehaltlose Grundrechte gewährleisteten Freiheitspositionen lassen keinen stärkeren Schutz liberaler Freiheit erwarten: sie unterliegen vielmehr den sog. elementaren Nichtstörungsschranken, die je nach Auslegung und Wirkungsweise erhebliche Einschränkungen ermöglichen. Schließlich ist die mit der Gewährleistungslehre verbundene Verlagerung der grundrechtlichen Argumentation von der Rechtfertigungs- auf die Tatbstandsebene zu beachten: zum einen verändert sie die Argumentationslastverteilung zwischen Bürger und Staat zu Lasten der Bürger, die die Betroffenheit normativer Gewährleistungsgehalte begründen müssen. Darüber hinaus schränken enge Gewährleistungsgehalte die Möglichkeit flexibler, d. h. einzelfallbezogener und einzelfallgerechter Grundrechtsanwendung ein. Diese Einbußen haben keinen spezifischen Bezug zu den verschiedenen Grundrechtsdimensionen. Sie gefährden unmittelbar den Schutz liberaler Freiheit. 2. Schutz des parlamentarischen Gesetzes und des Gesetzgebers Die Rahmenordnungstheorie erschließt sich weniger von der liberalen Freiheit her als mehr vom Schutz des parlamentarischen Gesetzes und des Gesetzgebers. Dies zeigt zum einen die zunehmende auf die Kompetenzabgrenzung zwischen Gesetz296 Zur Frage aber, ob sich die restriktive Verhältnismäßigkeitsprüfung nur auf die allgemeine Handlungsfreiheit oder auf alle Grundrechte beziehen soll, siehe oben S. 169. 297 Kahl, Gewährleistungsgehalt, S. 201, denkt die Gewährleistungslehre weiter und befürchtet, dass immer mehr – auch scheinbar banale – Betätigungen aus den Grundrechten ausgeklammert werden und damit der freiheitliche Rechtsstaat als solcher auf eine „abschüssige Bahn“ geraten könnte. Die Gefahr willkürlicher Differenzierungen betont auch Misera-Lang, S. 138.

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geber und BVerfG gerichtete Kritik Böckenfördes.298 Darüber hinaus stärkt der rahmenordnungsrechtlich vorgesehene Verlust an verfassungsrechtlicher Bindung in erster Linie den Gesetzgeber. a) „Legislatoris interpositio“ Böckenförde sichert die „legislatoris interpositio“,299 also das Dazwischentreten des Gesetzgebers durch eine restriktive Grundrechtsauslegung. Entscheidend ist dabei aber nicht, dass überhaupt ein zwischen Verfassung und Bürger tretendes Gesetz geschaffen wird. Vielmehr geht es – in Abgrenzung zum bloßen Verfassungsvollzug – um die Autonomie des Gesetzgebers und um die Autorität des Gesetzes bzw. um die „recht-schaffende Kraft des Gesetzes“300. Die Verwirklichungsbedingungen der grundrechtlichen Freiheit sind daher nicht nach Maßgabe positiver, ggf. einklagbarer Grundrechtsgehalte auszugestalten, sondern unter Beachtung des Sozialstaatsgebots auf der Ebene des Gesetzes zu schaffen.301 Die Autonomie des Gesetzgebers wird unmittelbar gestärkt durch eine restriktive Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie durch enge grundrechtliche Gewährleistungsinhalte, die die Beachtung spezieller Freiheitsgrundrechte und ihrer Schranken zurückdrängt. Mittelbar gestärkt wird der Gesetzgeber durch die Zurückdrängung verfassungsunmittelbarer Wirkungen bei der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts.302 Einzelne Versuche, die Bereiche zwischen Recht und Politik und damit die Kompetenzen zwischen BVerfG und Gesetzgeber im Rahmen einer weiten Grundrechtsauslegung abzugrenzen,303 würden das strukturelle Problem nicht lösen. Denn wenn der normative Gehalt der Grundrechte die Optimierungsfunktion umfasse, sei das BVerfG gehalten, diesem normativen Gehalt auch Geltung zu verschaffen,304 letztlich mit dem Ergebnis, dass das „Netz verfassungsrechtlicher Vorgaben für den Gesetzgeber sowohl ausgreifender und fortschreitend auch enger geknüpft“ wird.305 Da die Ausdehnung der Grundrechtsgeltung bei Bestehen einer Verfassungsgerichtsbarkeit nicht zu haben sei ohne Veränderungen im Verfassungsgefüge, bedürfe es einer restriktiven Grundrechtsauslegung.306 Funktionell-rechtliche Argumente 298

Siehe oben S. 161. Böckenförde, Rechtsstaatsbegriff, S. 162; ders., Schutzbereich, S. 169. 300 Böckenförde, Grundsatznormen, S. 28 f. und oben S. 163. 301 Siehe oben S. 149. 302 Zum Vorrang der gesetzlich ausgeformten Nichtstörungsschranken siehe oben S. 190. 303 Die Forderungen nach judicial self-restraint, funktionell-rechtlicher Begrenzung oder einer Unterscheidung zwischen Bindungs- und Kontrollnorm verwerfend Böckenförde, Grundsatznormen, S. 26 ff. 304 Böckenförde, Grundsatznormen, S. 27. 305 Böckenförde, Grundsatznormen, S. 30. 306 Böckenförde, Grundsatznormen, S. 28. 299

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werden damit nicht bloß in die materielle Verfassungsauslegung – quasi als Grenze der Verfassungsauslegung – eingebunden,307 sondern selbst zum Ausgangspunkt der Grundrechtsauslegung gemacht. Die Rahmenordnungsthese verbindet die Frage nach der Reichweite der Verfassungsbindung mit der Frage nach der Reichweite verfassungsgerichtlicher Kompetenzen und macht letztere zum Ausgangs- und Zielpunkt der Grundrechtsauslegung.308 b) Entschärfung des Kompetenzkonflikts Die Deutung der Grundrechte vom Kompetenzgefüge her dürfte nicht weniger Probleme aufwerfen als die Deutung der Grundrechte als Prinzipiennormen. Als verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte kommen das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip in Betracht in den Ausprägungen der Gewaltenteilung, Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, und der Selbstbestimmung des Volkes, Art. 20 Abs. 1, 2 GG. Der allgemeine Verweis Böckenfördes auf das rechtsstaatlich und demokratisch geforderte Verfassungsgefüge stellt aber noch keine schlüssige Begründung des Rahmenordnungsverständnisses dar. Denn fraglich ist, ob das grundgesetzliche Verfassungsgefüge eine unabhängige Größe darstellt, von der aus die Reichweite der Verfassungsbindung abgeleitet werden könnte, oder ob sich umgekehrt das grundgesetzliche Verfassungsgefüge erst aus der Verfassungsauslegung und der Reichweite der Verfassungsbindung, vor allem der Grundrechte, ergibt. Der pauschale Hinweis auf eine „Verflüssigung der rechtsstaatlichen Verfassungsstruktur“309 beantwortet diese Fragen nicht. Doch inwieweit trägt die Rahmenordnungstheorie zur Lösung des nicht zu leugnenden Kompetenzproblems zwischen BVerfG und Gesetzgeber bei? Bei Ablehnung objektiver Grundrechtsfunktionen stellen sich bestimmte Abgrenzungsfragen zwischen BVerfG und Gesetzgeber, wie sie beispielsweise in den Entscheidungen des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch deutlich geworden sind,310 von vornherein nicht. Damit wäre das Kompetenzproblem wesentlich entschärft. Auch im Verhältnis zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit würde das Konfliktpotential gesenkt, denn ohne Allgegenwart des Verfassungsrechts be307

Zur Berücksichtigung funktionell-rechtlicher Aspekte zumindest in Zweifelsfällen Ossenbühl, Grundrechtsinterpretation, § 15 Rn. 34: „Die funktionellrechtliche Betrachtungsweise will eine Entscheidungshilfe insofern bieten, als in Zweifelsfällen (auch) danach gefragt wird, welches Organ resp. welcher hoheitliche Entscheidungsträger nach seiner Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügt, um die in Betracht stehende Entscheidung richtig zu treffen. Mit diesen Erwägungen wird die Auslegung von Grundrechten nicht von ihrer inhaltlichen Seite, sondern vom Kontrollaspekt her gesehen.“ Kritisch zur „funktionsgerechten Organstruktur“ Lerche, Gewaltenteilung, S. 79 ff.; Möllers, Gewaltengliederung, S. 198, der darauf verweist, mit dem Hinweis auf die Bedingungen „richtiger“ Entscheidung durch Funktionsangemessenheit werde das Problem der grundgesetzlichen Gewaltengliederung lediglich bezeichnet, aber nicht gelöst. 308 Siehe dazu auch schon oben S. 160 f. 309 Böckenförde, Rechtsstaatsbegriff, S. 165. 310 Siehe oben S. 42 ff.

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stünde keine potentielle „Allzuständigkeit“ des BVerfG. Der unbestreitbare Vorteil dieses Ansatzes, kompetenzrechtliche Abgrenzungsprobleme durch eine restriktive Verfassungs- und Grundrechtstheorie von vornherein zu vermeiden, würde aber nur dann restlos aufgehen, wenn man die Verfassungsgerichtsbarkeit abschaffte, ansonsten werden die Probleme nur verschoben. Dass die Gefahr einer ausgreifenden Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur im Anwendungsbereich der objektiven Grundrechtsfunktionen besteht, zeigt Böckenfördes eindrucksvolles Sondervotum gegen eine unzulässige Kompetenzanmaßung des BVerfG in der EinheitswerteEntscheidung.311 Die Kritik richtete sich dagegen, dass das BVerfG eine Vorlagefrage zur Gleichheitswidrigkeit der Vermögenssteuer zum Anlass genommen hat, zur verfassungsrechtlich notwendigen Begrenzung der Vermögenssteuer Stellung zu nehmen. Böckenförde führt zur Stellung des BVerfG aus: „Alles was der Senat zu Grund, Ausmaß, Bemessungsgrundlagen und rechtlicher Eigenart der Vermögensbesteuerung sagt […], ist durch die Vorlagefrage nicht veranlasst. Entgegen den Ausführungen des Senats wirken die hierbei entwickelten Maßstäbe auch bei der Subsumtion in keiner Weise sachlich in die Prüfung des Gleichheitssatzes hinein und sind insoweit auch als Vorfrage im vorliegenden Verfahren entbehrlich. Die Prüfung der Vermögenssteuer am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG und die hieraus gewonnenen Maßgaben dienen vielmehr speziell dazu, die dem Gesetzgeber nunmehr obliegenden Entscheidungen zur Korrektur der Vermögensbesteuerung durch vermögensschützende Vorgaben begrenzend vorzuprägen und teilweise vorwegzunehmen. […] Vor allem greift der Senat mit seinen breit ausgeführten, durch die Vorlage nicht veranlassten Darlegungen in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers über; er lässt den gebotenen judicial self-restraint außer Acht, der dem Verfassungsgericht gegenüber dem Gesetzgeber obliegt und leistet der Veränderung des vom Grundgesetz festgelegten gewaltenteiligen Verhältnisses zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht weiter Vorschub. […] Dem Bundesverfassungsgericht steht hierbei [erg.: bei Gesetzesvorhaben] weder ein Initiativrecht zu noch eine Befugnis begleitender Verfassungskontrolle gesetzgeberischen Handelns. Es ist allein dazu berufen, abgeschlossene und politisch verantwortete Entscheidungen des Gesetzgebers, […], auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Das Grundgesetz hat, wie Art. 93, 94 GG und in deren Ausführung das Bundesverfassungsgerichtsgesetz ausweisen, die Gewähr der Verfassung durch das Bundesverfassungsgericht bewusst an Gerichtsförmigkeit und Richterlichkeit gebunden, ihr dadurch eine bestimmte Struktur gegeben und sie auch begrenzt. […] Wird die Entscheidungszuständigkeit dabei auf nicht veranlasste maßstäbliche Fragen erstreckt, wird der gebotene judicial self-restraint verletzt. Das Gericht begrenzt und bindet dann Entscheidungen des Gesetzgebers im Vorhinein in abstrakt ausgreifender Weise, ohne die Anschauung eines konkreten Falls und die Begrenzung auf diesen Fall. Es etabliert sich gegenüber dem Gesetzgeber als autoritativer Preaceptor.“312 311 312

BVerfGE 93, 121 (Einheitswerte). Sondervotum zu BVerfGE 93, 121, 149, 150 ff. (Einheitswerte).

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Ein Ausgreifen der Verfassungsgerichtsbarkeit in die Kompetenz des Gesetzgebers ist demnach auch im Rahmen einer auf die Eingriffsabwehr beschränkten Grundrechtstheorie möglich. Das strukturelle Problem der Kompetenzabgrenzung zwischen BVerfG und Gesetzgeber hat seine Ursache nicht im Umfang der verfassungsrechtlichen Bindung, sondern in der Institution des Verfassungsgerichts selbst.313 Insoweit führt auch die Sichtweise, die Schmitt gegen eine Verfassungsgerichtsbarkeit in Stellung bringt, nicht weiter. Danach sei Verfassungsgerichtsbarkeit, soweit sie über den Inhalt von Gesetzen befinde, ihrem Wesen nach nicht mehr Gerichtsbarkeit, sondern justizförmige Gesetzgebung.314 Dies sei vor allem angesichts der zahlreichen Normen der Weimarer Reichsverfassung problematisch, die vielfach überhaupt keine Entscheidung enthielten oder nur Ausdruck einer Kompromissentscheidung seien (dilatorische Formelkompromisse). Wenn hier ein Gerichtshof entscheide, sei er offenbar Gesetzgeber in hochpolitischer Funktion.315 Doch eignet sich diese schematische Abgrenzung nicht für die Fragen des Grundgesetzes. Denn selbst wenn man eine Entscheidung über „Zweifel und Meinungsverschiedenheiten“ einer Norm nicht als Rechtsprechung, sondern als justizförmige Gesetzgebung ansehen mag, so hält das Grundgesetz gleichwohl diese Möglichkeit bereit.316 Die Folgen für die Gewaltenteilung bringt Di Fabio auf den Punkt: „[…] wer Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem eigentlichen Sinne will, nimmt immer auch in Kauf, dass damit das traditionelle Bild der Rechtsprechung in einer qualitativ bedeutungsvollen Weise variiert wird. […] Eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die unter Berufung auf allgemeine Gewährleistungen wie den Gleichheitssatz Gesetze für verfassungswidrig erklärt, setzt zwar rechtliche, setzt verfassungsrechtliche Rationalität der demokratischen Herrschaft entgegen und scheint somit auf den ersten Blick ein Hindernis bei der Entfaltung der Volksherrschaft zu sein. Bei tiefergehender Betrachtung ist ein solcher Gegensatz aber nur vordergründig. Die Gewichtsverteilung ist nicht gedacht als Blockade, sondern als ein besonderer Verwirklichungsmodus der Herrschaft. Eine Verfassungskontrolle, die dem Gesetzgeber den nötigen Respekt zollt und ihm seine weit bemessene Gestaltungsfreiheit nicht nur formelhaft, sondern auch praktisch lässt, die aber im anders nicht lösbaren Konfliktfall die freiheits-, gleichheits- und strukturwahrende Rationalität der Ver313 Möllers, Gewaltengliederung, S. 531: „Das grundsätzliche Legitimationsproblem von Verfassungsgerichten, die in einem exklusiven, auf Prozessparteien beschränkten Verfahren demokratische Entscheidungen des Gesetzgebers aufheben, kann damit innerhalb des Grundgesetzes nicht gelöst werden: De constitutione lata hat sich das deutsche Recht für eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit entschieden, die sich dem verfassungstheoretischen Ideal demokratischer Selbstherrschaft nicht bruchlos fügt.“ 314 Schmitt, Hüter, S. 77: „Denn hier wird der Inhalt eines Gesetzes maßgebend festgestellt. Das ist Gesetzgebung, während die richterliche Entscheidung in ihrem Inhalt durch den Inhalt der tatbestandmäßigen, vorher bestimmten Regelung eines Gesetzes bestimmt wird.“ 315 Schmitt, Hüter, S. 82. 316 Instruktiv insoweit die Ausführungen des BVerfG zur verfassungsgerichtlichen Prüfungskompetenz im Hinblick auf verfassungswidriges Verfassungsrecht, BVerfGE 3, 225, 235 f., 248 (Gleichberechtigung).

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fassung wohlbegründet gegen den Mehrheitswillen zur Geltung bringt, verwirklicht damit im Sinne der Gewaltenteilungsidee verfassungsstaatlich gebundene Volksherrschaft.“317 Die kompetenzrechtlichen Probleme zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgerichtsbarkeit würden durch eine restriktive Grundrechtsauslegung deutlich entschärft. Die auf Vermeidung von Kompetenzkonflikten angelegte Rahmenordnungstheorie trägt aber nicht zur strukturellen Lösung der kompetenzrechtlichen Abgrenzungsprobleme, insbesondere zwischen Gesetzgeber und BVerfG, bei.318 3. Ergebnis Die Deutung von Verfassungsnormen, insbesondere der Grundrechte, als fragmentarische Lapidarformeln bedarf der Begründung. Das Ziel der rechtsstaatlichen Freiheitsgewähr überzeugt insofern allerdings nicht. Insbesondere die durch die Gewährleistungslehre angestrebten Restriktionen, also enge Gewährleistungsinhalte, normgeprägte Nichtstörungsschranken und restriktive Verhältnismäßigkeitskontrollen schwächen auch liberale Freiheitspositionen. Ausgangs- und Zielpunkt der Rahmenordnungstheorie scheinen daher nicht die (liberalen) Grundrechte zu sein, sondern der Schutz des Gesetzes und des Gesetzgebers. Böckenförde kritisiert insofern nicht nur die funktionell-rechtlichen Folgen extensiver Grundrechts- und Verfassungsauslegung, sondern macht die Wahrung der Verfassungsstruktur selbst zur Grundlage der Rahmenordnungstheorie. Die vorgeschlagene restriktive Grundrechtsauslegung stärkt in erster Linie die Autonomie des Gesetzes und des Gesetzgebers. Der verfassungstheoretische Erklärungswert der Rahmenordnungstheorie bleibt damit begrenzt. Der Grundrechtsschutz wird der Autonomie des Gesetzgebers untergeordnet, so dass materielle und formelle Verfassungsgehalte nicht gleichermaßen erklärt und zur Geltung gebracht werden. Vielmehr steht der Schutz formeller Verfassungsgehalte, hier die Eigenständigkeit des Gesetzgebers gegenüber dem BVerfG, im Vordergrund, allerdings ohne dass das strukturelle Abgrenzungsproblem zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht gelöst wäre.

317

Di Fabio, Gewaltenteilung, Rn. 29. H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 60 ff. Vgl. auch Kaufmann, S. 170. Siehe auch Rensmann, S. 262 f., mit Hinweis auf die Rechtsprechung des Supreme Court, die – auch ohne Anerkennung objektiver Grundrechtsgehalte – den Gesetzgebungsprozess mit gleicher Intensität beeinträchtigen könne („judicial activism“) wie die Schutzpflichtenjudikatur des BVerfG. 318

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III. Regeln und Prinzipien im Rechtssystem Um die Rahmenordnungstheorie rechtstheoretisch abzubilden, könnte man die Regel-Prinzipien-Unterscheidung heranziehen. Eine deutliche Nähe besteht zum bereits oben erwähnten Verfassungsverständnis des Legalismus.319 1. Legalismus Nach Alexy liegt dem Legalismus eine Vorstellung vom Rechtssystem als einem reinen Regelmodell zugrunde. Legalismus bedeutet danach: „(1) Norm statt Wert; (2) Subsumtion statt Abwägung; (3) Eigenständigkeit einfachen Gesetzesrechts statt Allgegenwart der Verfassung; (4) Autonomie des demokratischen Gesetzgebers im Rahmen der Verfassung statt verfassungsgestützter Omnipotenz der Gerichte, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts.“320 Diese Voraussetzungen findet man in der Rahmenordnungstheorie von Böckenförde wieder: In ihrem kritischen Gehalt ist die Rahmenordnungstheorie auf die Ablehnung von Werten und einer Werteordnung gerichtet (1.), nach ihrem konzeptionellen Gehalt zielt die Rahmenordnungstheorie vor allem auf Sicherung und Wiederherstellung gesetzgeberischer Autonomie unter Zurückdrängung verfassungsgerichtlich nachprüfbarer grundrechtlicher und verfassungsunmittelbarer Wirkungen (3. und 4). Auch könnte man eine Präferenz der Subsumtion vor der Abwägung (2.) annehmen. Denn die Beschränkung der Grundrechtsfunktionen auf die Abwehrdimension führt zu einer Reduktion von Abwägungsfragen. In dieselbe Richtung geht die Dogmatik der grundrechtlichen Gewährleistungsinhalte: Der grundrechtliche Schutz ist keine Frage der Abwägung widerstreitender Grundrechte im Einzelfall, sondern wird schon auf der Gewährleistungsebene – insbesondere durch Anwendung der historisch-genetischen Auslegung – definiert und subsumiert. Gleichwohl beschreibt der Legalismus-Begriff nach Alexy die Rahmenordnungsthese von Böckenförde nicht zutreffend, denn diese basiert nicht auf einem reinen, abwägungsfreien Regelmodell.321 Die Grundrechte sollen zwar nicht als objektive Grundsatznormen mit Optimierungscharakter umfassend wirken, doch werden sie auch nicht als erfüllbare Normen und „bloße Regeln“ verstanden. Als Abwehrrechte lösen die Grundrechte vielmehr eine – wenn auch mitunter restriktive – Verhältnismäßigkeitskontrolle aus, in deren Rahmen Abwägungen stattfinden.322 Trotz der Abwägungskritik schließt die Rahmenordnungsthese Abwägungen

319

Siehe oben S. 104 ff. Alexy, Rechtssystem, S. 214. 321 Zum Legalismus-Begriff von Alexy siehe oben S. 104 f. 322 Zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nach Böckenförde siehe oben S. 166 ff. 320

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damit nicht strikt aus. Als reines Regelmodell beschreibt der Legalismus eine Extremposition, auf die die Rahmenordnungsthese von Böckenförde nicht passt.323 Auch der Legalismus-Begriff von R. Dreier könnte zu kurz greifen. Zwar stimmt das allgemeine Begriffsverständnis des Legalismus insofern mit der Rahmenordnungstheorie überein, als damit eine Verfassungstheorie beschrieben wird, die auf die Eigenständigkeit des parlamentarischen Gesetzgebers und auf eine Zurückdrängung der Verfassungsgerichtsbarkeit zielt.324 Soweit aber der Legalismus im Gegensatz zum Konstitutionalismus als Ausdruck des Rechtspositivismus verstanden wird,325 gilt die oben schon für die Qualifizierung des Konstitutionalismus vorgesehene Zurückhaltung.326 Denn ob die hier untersuchten Verfassungstheorien positivistisch oder nicht-positivistisch ausgerichtet sind oder sein müssen, soll nicht schon begrifflich vorgegeben, sondern gerade untersucht werden. Möglicherweise eröffnet die Rahmenordnungstheorie – auch wenn sie keine spezifische Nähe zur Moral aufweist – Spielräume für andere außerrechtliche Einflüsse. 2. Denken von den Regeln her Spiegelbildlich zum Werteordnungsdenken als Prinzipiendenken könnte man das Rahmenordnungsdenken jedoch schlicht als Regeldenken beschreiben. Kennzeichnend für das Regeldenken ist nicht der strikte Ausschluss von Abwägungen und Prinzipien oder ein strikter Vorrang der Regel- vor der Prinzipienebene, sondern – wie oben bereits ausgeführt – der jeweilige Vorrang der Prinzipien- oder RegelEbene beim Verstehen der Normen des Rechtssystems. Abgestellt wird beim Regeldenken also darauf, ob das juristische Denken maßgeblich von der Regelebene des Rechts bestimmt wird und darauf gerichtet ist, die Regelebene des Rechts zur Geltung zu bringen. Diese Charakterisierung schließt nicht aus, dass auch Abwägungsgesichtspunkte zur Geltung kommen. Gedacht wird also von den Regeln her, d. h. von (Verfassungs-)Normen als Regeln und von den Normen des einfachen Rechts.327 323

Im Ergebnis grenzt auch Manterfeld, S. 61 ff., die Rahmenordnungstheorie Böckenfördes von der bloßen Gesetzesauslegung Forsthoffs einerseits und expansiver Verfassungstheorie andererseits ab. Manterfeld spricht von einem interpretationsmethodischen Mittelweg Böckenfördes und ordnet der Rahmenordnungstheorie ein Regel-Prinzipien-Modell der Verfassung zu, ders., S. 62 ff. Dieses Modell ist für unseren Zusammenhang allerdings nicht weiterführend, da Manterfeld einen anderen, nicht auf Optimierung bezogenen Prinzipienbegriff verwendet. Das Regel-Prinzipien-Modell von Manterfeld gibt lediglich wieder, wo „relativ spezifische Anordnungen vorliegen“ (Regeln), die unmittelbar anwendbar sind und wo die „Verfassung ,offen‘ ist“ (Prinzipien) und der Konkretisierung durch den Gesetzgeber bedarf. Die Beschreibung als Regel-Prinzipien-Modell ist zwar zulässig, für eine Gegenüberstellung von Rahmen- und Werteordnung eignet sie sich jedoch nicht. 324 R. Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, S. 88 und oben S. 104. 325 R. Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, S. 98 und oben S. 106. 326 Siehe oben S. 107. 327 Siehe dazu oben S. 108 f.

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

Das Rahmenordnungsdenken von Böckenförde lässt sich danach als Regeldenken beschreiben. Es schließt verfassungsrechtliche Bindungen und Abwägungen nicht aus, drängt sie aber zurück. Die Beschränkung der Grundrechte auf ihre Abwehrfunktion, die Definition enger grundrechtlicher Gewährleistungsinhalte, die Ablehnung verfassungsunmittelbarer Wirkungen im einfachen Recht und die (teilweise) restriktive Verhältnismäßigkeitsprüfung lassen sich deuten als Ausdruck eines Denkens, das die Regelebene, insbesondere die des einfachen Rechts, in das Zentrum des juristischen Denkens stellt.

IV. Denken von der Demokratie her? Gegen die Charakterisierung des Rahmenordnungsdenkens als Regeldenken könnte man einwenden, es reflektiere nicht ausreichend den mit der Aufwertung von Gesetz und Gesetzgeber verfolgten Zweck, nämlich die Stärkung der Demokratie. Versteht man das Regeldenken als Denken von der Demokratie her, so könnte man es auch als ein Prinzipiendenken ansehen, das auf die Optimierung des Demokratieprinzips gerichtet ist. In diese Richtung geht die Deutung von Manterfeld, der – freilich ohne in diesem Zusammenhang von Optimierung zu sprechen – nach der Auswertung der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes von der Notwendigkeit ausgeht, die „Verfassungstheorie wesentlich als Demokratietheorie zu konzipieren“.328 Böckenförde selbst stellt eine enge Verbindung zwischen Rahmenordnung und Demokratieprinzip her: „Die demokratische Verfassung ist darüber hinaus in besonderer Weise darauf gerichtet, eine demokratische, vom Volk ausgehende und auf es zurückverweisende politische Willensbildung und eine entsprechende Gestaltung des Rechts vorzusehen. Deshalb werden die maßgeblichen Entscheidungen, sofern nicht das Volk selbst daran beteiligt ist, den von den Bürgerinnen und Bürgern in periodischen Abständen je neu zu wählenden Repräsentanten anvertraut. Auch das impliziert, den Rahmencharakter der Verfassung ernst zu nehmen und ihre Vorgaben nicht als umfassend, sondern eher als begrenzt zu verstehen.“329 Die Plausibilität eines solchen Denkens von der Demokratie her wird jedoch durch zwei Einwände gestört, und zwar durch die Frage nach dem Minderheitenschutz und die Frage nach dem Verfassungsgesetzgeber. Die Frage nach dem Minderheitenschutz stellt sich, wenn das Demokratieprinzip primär als Geltung des Mehrheitswillens verstanden wird. Je mehr die Grundrechte zurücktreten und je weniger sie gegen die gesetzgeberische Mehrheit ausrichten können, desto weniger vermag das Demokratieprinzip Ausdruck sowohl des Mehrheitswillens als auch des Minderheitenschutzes zu sein. Stellt sich das Rahmenordnungsdenken, indem es den Grundrechtsschutz der Wahrung der gesetzgeberischen Autonomie unterordnet, als 328 329

Manterfeld, S. 138. Böckenförde, Schutzbereich, S. 187.

C. Das Rahmenordnungsdenken als Regeldenken

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Ausdruck eines Denkens von der verfassungsrechtlich gebotenen Demokratie her dar? Oder werden der rechtsstaatliche Grundrechtsschutz und die Demokratie in einen unzulässigen Gegensatz zueinander gebracht? Die Frage nach dem Verfassungsgesetzgeber stellt sich, soweit die Rahmenordnungstheorie darauf gerichtet ist, primär den Willen der einfachen Mehrheit zur Geltung zu bringen. Nach den bisherigen Ausführungen könnte man meinen, der Wille des Verfassunggebers werde besonders durch die Rahmenordnungstheorie gewürdigt, schließlich soll der historisch-genetischen Verfassungsauslegung maßgebliche Bedeutung zukommen. Der Wille des Verfassunggebers ist aber vor allem deswegen für das Rahmenordnungsdenken relevant, als er mit einer restriktiven Grundrechts- und Verfassungsauslegung leichter zu vereinbaren scheint.330 Ansonsten besteht eine gewisse Konkurrenz zwischen einfachem und verfassungsänderndem Gesetzgeber. Das Ziel einer restriktiven Verfassungsauslegung zugunsten des einfachen Gesetzgebers muss letztlich auch den verfassungsändernden Gesetzgeber schwächen. In der Spion-Entscheidung sah sich Böckenförde jedenfalls nicht verpflichtet, den drei dissentierenden Richtern beizupflichten und den im Rahmen des Einigungsvertrages erkennbar gewordenen Willen des Verfassungsgesetzgebers gegen eine Amnestie der DDR-Spione vor einer richterlichen Umgehung zu schützen. Stattdessen nahm er mit der tragenden Mehrheit ein verfassungsrechtliches Strafverfolgungshindernis für DDR-Spione, die Straftaten vom Boden der DDR aus begangen haben, an.331

V. Ergebnis Das Rahmenordnungsdenken kann man als Regeldenken verstehen, das primär darauf gerichtet ist, die Regelebene des Rechts, insbesondere des einfachen Rechts zu verwirklichen. Ob solch ein Regeldenken als Denken von der Demokratie her gerechtfertigt ist, erscheint aber, soweit es einen Gegensatz zur Verfassung und dem Verfassungsgesetzgeber sowie zu den Grundrechten provoziert, zweifelhaft. Möglicherweise vermag das Kernargument Böckenfördes vom Schutz des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats vor einer Wandlung zum verfassungsgerichtlichen 330 Böckenförde, Schutzbereich, S. 187 und oben S. 174 f. Dass die historisch-genetische Auslegung auch Argumente für eine extensive Grundrechtsauslegung liefert, wird dabei allerdings ausgeblendet, vgl. dazu die Beispiele zu den Gewährleistungsinhalten der Forschungs-, Religions- und Gewissensfreiheit, oben S. 176 ff. 331 BVerfGE 92, 277 (DDR-Spione). Vgl. das Sondervotum der Richter Klein, Kirchhof und Winter, BVerfGE 92, 277, 342 (DDR-Spione): „Dieses allgemeine Verfolgungshindernis kommt in seinen Wirkungen einer Amnestie und für die anhängigen Verfahren deren Niederschlagung (Abolition) gleich, was von den Partnern des Einigungsvertrages – der demokratisch gewählten Volkskammer unmittelbar vor der Wiedervereinigung und dem Deutschen Bundestag – als eine Voraussetzung der Einigung erwogen, aber ausdrücklich abgelehnt worden ist. Insoweit verfehlt der Beschluss die Grenzen zwischen gestaltender Gesetzgebung und kontrollierender Rechtsprechung.“

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

Jurisdiktionsstaat die Grundlage des Rahmenordnungsdenkens zu erhellen. Verweist Böckenförde insofern auf die Verfassung oder auf eine vorverfassungsrechtliche Vorstellung vom Staat?

D. Das Regeldenken als Denken vom Staat her Die Beschreibung der Rahmenordnungstheorie als Regeldenken zeigt, auf welche Weise die Rahmenordnung funktioniert. Sie bildet jedoch nicht ab, warum die Regelebene insbesondere des einfachen Rechts in das Zentrum des juristischen Denkens gestellt wird. Welches Verhältnis von Recht und Macht bzw. Recht und Staat impliziert das Rahmenordnungs- und Regeldenken? Soll das Rahmenordnungs- und Regeldenken dazu dienen, den Staat nicht nur als rechtlich verfassten Herrschaftsträger, sondern darüber hinaus als faktische Macht- und Wirkeinheit neben der Verfassung zur Geltung zu bringen? Kommt dem Staat dementsprechend ein tatsächliches Sein zu, das normative Kraft zu entfalten vermag?332 Zeigt sich in dem Rahmenordnungs- und Regeldenken von Böckenförde möglicherweise auch ein Denken vom Staat her?

I. Das „Denken vom Staat her“ in der Analyse von F. Günther In seiner Arbeit „Denken vom Staat her“ untersucht Günther die „Denkkollektive“ und „Denkstile“ der deutschen Staatsrechtslehre der Bundesrepublik bis 1970. Grundlage der Fragestellung ist die Wissenschaftstheorie von Fleck, wonach sich Erkenntnisse nur in homogenen Gemeinschaften von Wissenschaftlern („Denkkollektive“) herausbilden und diese nur erfasst werden können, wenn man auch die personellen Netzwerke in diesen Kollektiven betrachtet.333 In diesem Sinne hat Günther die staatstheoretischen Unterschiede der Schmitt- und der Smend-Schule herausgearbeitet. Die Gegenüberstellung von Schmitt und Smend ergibt bei Günther – zusammenfassend – folgendes Bild: „Hier [erg.: bei Schmitt] ging es um Dezisionismus, dort [erg.: bei Smend] um Harmonismus als fundamentale Lebenshaltung. Wo Schmitt versuchte, seine wissenschaftlichen Theoreme durch polemische Zuspit332 Die Berufung auf den Staat als Faktizität geht über einen bloßen Disziplinen-Streit zwischen Verfassungs- und Staatstheorie bzw. -lehre hinaus. In welche Richtungen eine solche Argumentation gehen kann, kann man bei Isensee, Staatlichkeit, § 6 Rn. 85, 97 ff. sehen, z. B. im Bezug auf eine „Staatlichkeit der Grundrechte“, die das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers bei der Tatbestandsdefinition ausschließt oder beim verfassungsrechtlich nicht normierten Ausnahmefall, der den Staat neben der Verfassung fordern kann. 333 F. Günther, S. 15 ff. unter Bezugnahme auf Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache.

D. Das Regeldenken als Denken vom Staat her

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zung auf politische Extremsiuationen – speziell auf den Bürgerkrieg und den Ausnahmezustand – zu gewinnen, hatte Smends Denken die Vision eines friedlichen und von allgemeiner Harmonie geprägten Normalzustandes zum Ausgangspunkt, welche er scharf vom polarisierenden politischen Meinungskampf der Weimarer Zeit abgrenzte. Überspitzt könnte man formulieren, dass es Schmitt grundsätzlich um die Verschärfung von Konflikten ging, wohingegen Smend deren Auflösung anstrebte.“334 Zu den Charakteristika der Schmitt-Schule, zu deren zweiten Generation auch Ernst-Wolfgang Böckenförde gerechnet wird,335 gehören nach Günther u. a.: die persönliche Bindung an Carl Schmitt, Kritik an der neuen Verfassungsordnung, aber auch Anpassung an die neue Ordnung, antiwestliche Einstellung, „Der Staat“ als eigene Zeitschrift des Denkkollektivs sowie das Bekenntnis zur Verfassungslehre von Carl Schmitt als Grundlagenwerk.336 Der Denkstil dieses Kollektivs sei geprägt (gewesen) durch den Dezisionismus, Etatismus und das Repräsentationsverständnis von Schmitt. Demgegenüber zählt Günther zu den Charakteristika der SmendSchule337 u. a.: die Bindung an Rudolf Smend, die besondere von ihm geschaffene Atmosphäre von Liberalität, Toleranz und literarischer Gelehrsamkeit, die Nähe zur liberal-demokratischen Tradition der „Züricher Schule“ (Schindler, Kägi) und – u. a. über Ehmke – zur US-amerikanischen Demokratie- und Rechtstheorie, die Nähe zur Politikwissenschaft sowie die „Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland“ von Konrad Hesse als Grundlagenwerk des Denkkollektivs.338 Prägend für den Denkstil sei der Harmonismus Smends, eine pluralistische Grundhaltung und ein Denken von der Verfassung her, das sich deutlich abgrenzt von Smends Weimarer Verfassungsverständnis. Die Smend-Schule habe ihr Denken an die Rahmenbedingungen des bundesdeutschen Verfassungssystems angepasst und an die Stelle der „fließenden Geltungsfortbildung des gesetzten Verfassungsrechts“ die strikte Legalität als „dringendes Gebot der Verfassungsmoral“ im Sinne von Berechenbarkeit und Rechtssicherheit gesetzt.339 334

F. Günther, S. 35. Zu den Mitgliedern der Schmitt-Schule rechnet F. Günther u. a.: Ernst Forsthoff, Werner Weber, Helmut Rumpf (erste Generation); Joseph H. Kaiser, Roman Schnur, Ernst-Wolfgang Böckenförde (zweite Generation), wobei er der zweiten Generation eine große Anpassungsfähigkeit attestiert, F. Günther, S. 135 ff. 336 F. Günther, S. 112 ff. 337 Zu den Vertretern der Smend-Schule rechnet F. Günther, S. 159 ff., 175 ff. u. a.: Ullrich Scheuner, Konrad Hesse, Horst Ehmke, Peter von Oertzen, Wilhelm Hennis, Henning Zwirner und Gerhard Leibholz. 338 F. Günther, S. 159 ff. 339 F. Günther, S. 159, 163, 166 ff. Im Einzelnen zeigen sich jedoch Schwierigkeiten, die Vertreter der Smend-Schule auf bestimmte inhaltliche Positionen zu vereinen. Gerade im Hinblick auf das Verhältnis von Norm und Wirklichkeit scheinen die Ausrichtungen sehr viel differenzierter zu sein. So betont F. Günther einerseits, die Smend-Schule, und auch Smend selbst, habe die Integrationslehre, in der die Grenzen zwischen Sein und Sollen verschwimmen, in der Bundesrepublik normativ umgedeutet, ders., S. 166 f. Zum anderen sieht F. Günther das Streben der Smend-Schule, unter Abgrenzung zum Positivismus die Entgegensetzung von 335

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

Die von Günther vorgenommene Charakterisierung der Denkkollektive und ihrer Denkstile ist vielschichtig. Für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand reicht es jedoch aus, einen Aspekt herauszugreifen und auf die Formen des Rahmen- und Werteordnungsdenkens anzuwenden, und zwar die Unterscheidung zwischen dem Denken vom Staat her und dem Denken von der Verfassung her. Günther liefert insofern Kategorien, die das Rahmen- und Werteordnungsdenken über ihre rechtstheoretische Dimension hinaus in staatstheoretischer Hinsicht beschreiben könnten. Das Denken vom Staat oder von der Verfassung her soll hier also nicht schon für eine Zuordnung des Rahmen- und Werteordnungsdenkens zur Schmitt- und SmendSchule stehen oder gar den Gegensatz zwischen Rahmen- und Werteordnungsdenken auf einen Schulenstreit reduzieren.340 Das Denken vom Staat oder der Verfassung her wird im Folgenden in einem schlichteren, aber auch konkreteren Sinn verstanden, indem es auf die Frage bezogen wird, ob die verfassungsrechtliche – hier zunächst die rahmenordnungsrechtliche – Argumentation ihren Ausgangspunkt in einem bestimmten Staatsverständnis (Denken vom Staat her) oder in der Verfassung (Denken von der Verfassung her) hat. Diese Unterscheidung entspricht dem Ansatz von Möllers, Staatstheorie und Staatsrecht voneinander abzugrenzen. Um die rechtliche Relevanz des Staatsbegriffs zu klären, differenziert Möllers zwischen dem „Staat als Argument“ als außerrechtlichem Begriff und den Argumenten aus dem Staatsrecht.341 Man könnte daher auch diese Formel verwenden, um der Frage nachzugehen, ob bzw. inwieweit staatstheoretische als außerrechtliche Einflüsse Eingang in die verfassungsrechtliche Argumentation finden. Für die vorliegende Untersuchung ist der Ausdruck „Denken vom Staat her“ jedoch besonders geeignet, da darin bereits mögliche Alternativen, wie das Denken von der Verfassung her und damit die Unterscheidung zwischen faktischem Staat (Sein) und normativer Ordnung (Sollen), mitgedacht sind.

Norm und Wirklichkeit zu überwinden, ebda, S. 171 ff., was allerdings für Hesse wieder relativiert wird, ders., S. 183. 340 Dies würde inhaltlich auch nicht funktionieren, da sich – wie F. Günther herausgestellt hat – die Smend-Schule eher von der Wertordnung des BVerfG distanziert hat, F. Günther, S. 171, 246. 341 Möllers, Staat als Argument, S. 3. Möllers arbeitet anhand verschiedener staatstheoretischer Topoi und Themen (Staatsbegriff, Staat als Rechtsperson, Staat als Einheit etc.) die Schwierigkeiten heraus, die sich bei der normativen Einbindung staatstheoretischer Argumente ergeben. Vor allem wird deutlich, wie wenig fassbar und konkretisierbar schon die staatstheoretischen Topoi sind, so dass eine juristische Umsetzung kaum mehr möglich erscheint. Vehemente Kritik dagegen (auch ad personam) Isensee, Staatlichkeit, § 6 Rn. 51. Kritisch zur Überbetonung des Staates insbesondere im Handbuch des Staatsrechts Schulze-Fielitz, S. 250 ff.

D. Das Regeldenken als Denken vom Staat her

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II. Staat und Verfassung Ist das Rahmenordnungsdenken darauf angelegt, die Wirklichkeit des Staates neben der Verfassung zur Geltung zu bringen? Böckenförde deutet die Ausrichtung der Staatsrechtslehre auf die Wirklichkeit des Staates bereits in seiner Dissertation „Gesetz und gesetzgebende Gewalt“ an.342 Später greift er die Kritik Forsthoffs an einem „introvertierten rechtsstaatlichen Denken“ auf und wendet sich dagegen, den Staat nur vom Recht und nicht von seiner Wirklichkeit her zu verstehen: „Ungeachtet der verschiedenen inhaltlichen Ausprägungen des Rechtsstaatsbegriffs, die die Betrachtung seiner geschichtlichen Entwicklung zeigt, ist er stets durch ein Merkmal gekennzeichnet, das noch der Hervorhebung bedarf: die Verlegenheit gegenüber dem Phänomen politischer Herrschaft. Der Rechtsstaat zielt stets auf die Begrenzung und Eingrenzung staatlicher Macht und Herrschaft von Menschen zugunsten der ,Herrschaft der Gesetze‘; der Primat des Rechts gegenüber der Politik erscheint als immer wiederkehrendes Postulat rechtsstaatlichen Denkens. Der Rechtsstaat fragt jedoch nicht nach den Voraussetzungen, die die rechtsstaatliche Freiheitsordnung allererst möglich machen, nämlich dem Bestehen des Staates als politischer Machteinheit, seiner Kompetenz zur verbindlichen Letztentscheidung über die Legalität und der dadurch hergestellten und garantierten innerstaatlichen Friedensordnung. Rechtstaatliches Denken hat die Tendenz, den modernen Staat allein vom Recht her zu begründen und zu erklären, nicht aber ihn zugleich als den maßgeblichen Träger der Rechtsbildung zu begreifen, der durch die Herstellung der Normallage – des innerstaatlichen Friedenszustandes – erst die Bedingung für die 342 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 335: „Es ist ihre Aufgabe [erg.: der Staatsrechtslehre], die Rechtserscheinungen und Rechtsbildungen des staatlichen Lebens inhaltlich zu erfassen und zur Aussage zu bringen, vom positiven Recht vorausgesetzte Begriffe und Institutionen zu erklären und überhaupt zur Lösung der sich stets neu stellenden staatlichen Ordnungsprobleme von juristischer Warte aus schöpferisch beizutragen. Sie kann das Recht nicht begreifen und die rechtlichen Probleme nicht lösen ohne Rücksicht auf die sozialen Verhältnisse und Interessen, die eben dieses Recht normiert. Das bedeutet, dass sie sich an der Wirklichkeit des Staates als einem Gebilde des sozialen Lebens orientieren muss, dass ihre Argumentationen und Konstruktionen auf einer Vorstellung von Wesen, Zweck und Aufgaben des Staates, d. h. auf der Grundlage staatstheoretischer, historisch-soziologischer und auch philosophischer Überlegungen erwachsen müssen.“ (Herv. d. Verf.) Die Überbetonung der Wirklichkeit des Staates wird kritisiert von Jesch, S. 477 ff. Im Nachwort zu „Gesetz und gesetzgebende Gewalt“ erscheint der Einfluss allgemeiner staatstheoretischer Begriffe und politischer Inhalte auf das Verfassungsrecht etwas abgemildert. Böckenförde führt aus, dass es der Zweck verfassungsgestaltender Grundentscheidungen sei, politisch-rechtliche oder ethischrechtliche Ordnungsideen in das Verfassungsrecht einzuschleusen. Zu den Grenzen heißt es dann (S. 388 f.): „Allerdings vermag diese rechtliche Bedeutung [erg.: der Schleusenbegriffe] nicht Entscheidungen und Zuordnungen, die in der Verfassung explizit getroffen sind, aufzuheben oder umzuändern; wäre dies der Fall, würde die Verfassung ihre positiven Regelungen und Entscheidungen zur Disposition einer in ihre selbst angelegten Prinzipienargumentation stellen und damit in ihrem normativen Geltungsanspruch aufheben. Diese positiven Regelungen und Entscheidungen müssen vielmehr aufgenommen und einbezogen werden, sollen verfassungspolitisch orientierte Postulate, die sich auf Verfassungsprinzipien begründen, auch verfassungsrechtlich standhalten.“

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

Normgeltung des gesetzlichen Rechts schafft. Die Dialektik von Recht und Macht ebenso wie die von Recht und Staat ist im Rechtsstaatsbegriff nicht reflektiert. Wird daher der Rechtsstaat nicht (nur) als ein Teil, sondern als das Ganze staatlicher Ordnung genommen, so entsteht ein ,introvertiertes‘ rechtsstaatliches Denken, das die Bedingungen der Möglichkeit des Rechtsstaates außer Acht lässt.“343 Danach soll der Staat also nicht im Recht aufgehen. Was folgt daraus für das Verhältnis von Staat und Verfassung? Bleibt das Sein des Staates neben dem Sollen der Verfassung bestehen? Ein Aufgehen des Staates im Recht hätte zur Folge, dass auch die Souveränität im Recht und damit in der Verfassung liegen würde, es also keine Souveränität außerhalb der Verfassung gäbe. Die Vorstellung von einer souveränen Verfassung wurde von Schmitt abgelehnt.344 Die Souveränität zeige sich in der Überlegenheit des Existenziellen gegenüber der bloßen Normierung, die Notwendigkeit von Souveränitätsakten entstehe aus unvorhergesehenen Situationen.345 Mit der Verdrängung der konkret existierenden Souveränität zugunsten einer „Souveränität des Gesetzes“ werde die Frage der Souveränität in Wahrheit offen gelassen und durch jeden ernsthaften Konfliktfall wieder von neuem gestellt.346 Auf ähnliche Weise argumentiert Böckenförde in seiner Kritik am materiellen Verfassungsstaat. Kennzeichen des materiellen Verfassungsstaates sei die Vorstellung von einer souveränen Verfassung. Die Verfassung sei nicht Ausdruck einer politischen Einheit des Staates, sondern durch sie werde der Staat als politische Einheit und Handlungseinheit erst hervorgebracht: „Die Verfassung ist danach nicht nur formendes und begrenzendes Moment staatlicher Herrschaft, vielmehr schafft sie allererst die Voraussetzung für die Ausübung staatlicher Gewalt überhaupt. Sie gilt als ,oberstes Gesetz‘, das den Staat und jede Art von staatlicher Herrschafts- und Entscheidungsgewalt erst konstituiert.“347 Problematisch an diesem Konzept des materiellen Verfassungsstaates ist nach Böckenförde, dass die Frage nach der Souveränität – letztlich durch die Fiktion einer souveränen Verfassung – zum Verschwinden gebracht wird: „Ist die Verfassung aber einmal in Geltung, soll die Souveränität gewissermaßen auf die Verfassung selbst übergehen. Der Souverän – Monarch oder Volk – hat sich in der Verfassunggebung entäußert und stirbt ab. Einheit und Ordnung des Staates ergeben sich fortan allein aus dem kompetenzgemäßen Zusammenwirken der einzelnen staatlichen Organe, das heißt aus der Beobachtung und Vollziehung der Verfassung. Die Verfassung wird gewissermaßen selbsttragend, wird Grundlage und Voraussetzung 343 Böckenförde, Rechtsstaatsbegriff, S. 168 f. Vgl. auch Forsthoff, Introvertierter Rechtsstaat, S. 175 ff.; ähnlich Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 7 ff., der von einer „gestörten Wahrnehmung des Staates“ spricht, von der „normativen Verdrängung des Staates“ und von einer „introvertierten Verfassungsjurisprudenz. 344 Schmitt, Verfassungslehre, S. 7 ff. 345 Schmitt, Verfassungslehre, S. 107 f. Vgl. ders., Politische Theologie, S. 13: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Dazu Schliesky, S. 108 ff. 346 Schmitt, Verfassungslehre, S. 146 f. 347 Böckenförde, Verfassungsstaat, S. 129.

D. Das Regeldenken als Denken vom Staat her

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des Staates selbst. Der Staat erscheint nur in den verfassungsrechtlich festgelegten Kompetenzen und Befugnissen, nicht aber in einem Träger der Staatsgewalt als Inhaber höchster Machtvollkommenheit. Seine Vollendung findet dieses Konzept, wenn in die Verfassung Unabänderlichkeitsklauseln aufgenommen werden, wie es in Art. 79 Abs. 3 GG geschehen ist. Nicht mehr ein Träger der Staatsgewalt legitimiert dann die Verfassung und entscheidet daher über ihre grundlegende Änderung oder evtl. Aufhebung, sondern die in ihrem Kern rechtlich unantastbare Verfassung ihrerseits bestimmt, welche politischen Zielsetzungen des ,Souveräns‘ legitim sind.“348 Die Annahme einer souveränen Verfassung tauge aber nur solange, bis ein ernsthafter Konflikt innerhalb des Staates entstehe. Ein wirklicher Konflikt im Verfassungsbereich werfe die Frage auf, wer das ,letzte Wort‘ über den Inhalt und die Anwendung der Verfassung habe und wer in der Lage sei, diesem Wort Geltung zu verschaffen. Die Frage nach der höchsten Autorität oder Macht im Staat werde nicht durch die Annahme einer souveränen Verfassung beantwortet. Da sich Normen nicht selbst vollziehen könnten, komme es darauf an, wer oder welche Instanz den Konfliktfall entscheide und damit nicht nur Diener sei, sondern auch zum Herrn der Verfassung werde.349 In einem materiellen Verfassungsstaat kommen nun zwei Herren der Verfassung in Betracht: „In der Demokratie ist diese Frage [erg.: die Frage nach der höchsten Autorität oder Macht im Staat], prinzipiell gesehen, zugunsten des Volkes bzw. der unmittelbaren Volksrepräsentation entschieden. Das Prinzip des Verfassungsstaates bringt sie indessen wieder in die Schwebe, insbesondere wenn die Verfassung eine ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit vorsieht, die über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und die Grenzen zulässiger Verfassungsänderungen letztverbindlich zu entscheiden hat. Hier ist dann ein weiterer möglicher Prätendent vorhanden, und zwar nicht außerhalb, sondern auf dem Boden der Verfassung.“350 Die Kritik an einer Verrechtlichung der Souveränität und des Staates wird abgestützt durch eine ontologische Sichtweise auf die Entstehung von Verfassungen. Anschaulich wird diese wiederum bei Schmitt, der betont, dass die tatsächliche politische Einheit des Staates der Verfassunggebung vorausliegt: „Die Verfassung im positiven Sinne entsteht durch einen Akt der verfassunggebenden Gewalt. Der Akt der Verfassunggebung enthält als solcher nicht irgendwelche einzelne Normierungen, sondern bestimmt durch einmalige Entscheidung das Ganze der politischen Einheit hinsichtlich ihrer besonderen Existenzform. Dieser Akt konstituiert Form und Art der Politischen Einheit, deren Bestehen vorausgesetzt wird. Es ist nicht so, dass eine politische Einheit erst dadurch entsteht, dass eine ,Verfassung‘ gegeben wird. Die Verfassung im positiven Sinne enthält nur die bewusste Bestimmung der besonderen Gesamtgestalt, für welche die politische Einheit sich entscheidet.“351 Mit 348

Böckenförde, Verfassungsstaat, S. 133; ders., Verfassunggebende Gewalt, S. 99. Böckenförde, Verfassungsstaat, S. 134. 350 Böckenförde, Verfassungsstaat, S. 135. 351 Schmitt, Verfassungslehre, 21 f. Zum Verhältnis von Staat und Recht bei Schmitt vgl. Möllers, Staat als Argument, S. 64 ff.; Böckenförde, Begriff des Politischen, S. 351 f. Zu beachten ist aber die noch an die Trennung von Sein und Sollen anknüpfende frühere von Schmitt 349

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

dieser Wirklichkeitssicht stimmt Böckenförde überein. Den Staat nur vom Recht bzw. von einer Verfassung her zu denken, entspreche zwar einer demokratischen Legitimationstheorie von Staat und Verfassung, indem sie die Ausübung von Herrschafts- und Entscheidungsgewalt an deren organisatorische Verteilung knüpfe, um damit der Gleichheit aller und der ursprünglichen Herrschaftslosigkeit gerecht zu werden.352 Solch eine Sichtweise verkenne aber die politisch-soziale Wirklichkeit der Staatswerdung: „Sie [erg.: die Einheit von Staat und Verfassung] wird aber unzutreffend, wenn sie als Erklärung der Wirklichkeit und der realen Bedingungen für das Entstehen und den Bestand von Staat und Verfassung auftritt. Sie verkennt dann nämlich, dass in der politisch-sozialen Wirklichkeit ein realer zwischenmenschlicher Lebens- und Ordnungszusammenhang niemals ohne tatsächliche Machtverhältnisse und ohne Beziehungen der Über- und Unterordnung existiert, schon vor aller rechtlicher Sichtweise.“353 Daraus folgt: „Es gilt für jeden, auch einen demokratisch organisierten Staat, dass der Staat als Macht-, Entscheidungs- und Friedenseinheit nicht erst durch die rechtliche Verfassung hervorgebracht und konstituiert wird, ihr vielmehr vorausgeht. […] Von einer Identität von Staat und Verfassung kann nicht nur staatstheoretisch, sondern auch juristisch nicht ausgegangen werden. Die Behauptung, dass es Staat oder staatliche Einheit vor, neben oder auch außerhalb der rechtlichen Verfassung gar nicht geben könne, ist unzutreffend.“354 Die ontologische Sichtweise ist grundsätzlich nicht unplausibel. Nicht einsichtig ist jedoch, warum der faktische Staat auch nach dem Akt der Verfassunggebung neben der Verfassung bestehen bleiben soll. Gerade im Hinblick auf die Legitimation staatlicher Herrschaft könnte man zumindest nach der Staats- und Verfassungsbildung von einer Einheit von Staat und Verfassung ausgehen.355 Und folgt diese Sichtweise nicht schon aus dem Grundgesetz? An anderer Stelle, und zwar in einem den Richtern und Richterinnen des Zweiten Senats des BVerfG gewidmeten Aufsatz, erläutert Böckenförde die Bedingungen für den Vorrang der Volks- oder den Vorrang in seiner Habilitationsschrift vertretene Auffassung, siehe dazu ausführlich Möllers, Staat als Argument, S. 59 ff. Ausführlich zum Staat als Verfassungsvoraussetzung, Möllers, ebda, S. 260 ff. 352 Böckenförde, Verfassungsstaat, S. 136. 353 Böckenförde, Verfassungsstaat S. 136; siehe auch ders., Verfassunggebende Gewalt, S. 99 f. 354 Böckenförde, Verfassungsstaat, S. 136, 139. 355 Auf den vorläufigen Charakter des Staates als Voraussetzung der Verfassunggebung weist Möllers, Staat als Argument, S. 262, hin: „Nach Ablauf der Verfassunggebung hat sich dieser Lesart zufolge das Voraussetzungsverhältnis erledigt. Staatlichkeit erweist sich nicht als Verfassungs-, sondern als Verfassunggebungsvoraussetzung. Der Voraussetzungszusammenhang gerät dabei zum Zirkel, da sich die Staatlichkeit nur in der Verfassunggebung manifestiert.“ Die Existenz eines vorrechtlichen Staates folge auch nicht aus der staatlichen Kontinuität bei Verfassungsumbrüchen. Vielmehr sei die staatliche Kontinuität selbst Ausdruck einer rechtlichen Zuordnung, und zwar einer völkerrechtlichen oder der neuen innerstaatlichen Rechtsordnung, vgl. ebda, S. 163 ff., 169 f.

D. Das Regeldenken als Denken vom Staat her

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der Verfassungssouveränität. Mit Blick auf die polnische Übergangsverfassung, nach der Gesetze, die das polnische Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt hat, mit verfassungsändernder Mehrheit des Sejm in Geltung bleiben konnten, die also Verfassungsdurchbrechungen erlaubte und – im Gegensatz zum Grundgesetz – keine Grenzen für Verfassungsänderungen vorsah, führt Böckenförde aus: „Im Hintergrund stehen zwei unterschiedliche Konzeptionen von Verfassung: zum einen die Verfassung als, wenn einmal beschlossen, in ihrem Grundgehalt vorgegebene Ordnung, auf dauerhafte generelle Geltung angelegt und dem verfassungsändernden Gesetzgeber nur begrenzt verfügbar (Verfassung als Einschränkung der Volkssouveränität); zum andern die Verfassung als ganz vom Volk beschlossene und getragene, nicht irgendwie vorgegebene, ihm daher auch zur Disposition stehende Ordnung, über die niemand anders das ,letzte‘ Wort haben darf (Verfassung als Ausdruck der Volkssouveränität). Es ist deutlich, dass das Grundgesetz stärker der ersten Konzeption folgt, und die Interpretation der Verfassung als ,Wertordnung‘ durch das Bundesverfassungsgericht hat diese Tendenz bekräftigt.“356 Versteht man die Verfassung aber – wie Böckenförde selbst einräumt – als Einschränkung der Volkssouveränität, bleibt für den faktischen Staat neben der Verfassung kein Raum. Dieses Verständnis von Volkssouveränität ist nicht darauf angelegt, die Verfassung gegen den Gesetzgeber und seine politischen Entscheidungen auszuspielen, sondern Volkssouveränität und Verfassungssouveränität als Einheit anzusehen.357 Wie verhält sich dazu die Forderung Böckenfördes nach einem parlamentarischen Gesetzgebungsstaat?

III. Der Parlamentarische Gesetzgebungsstaat Die von Böckenförde vorgegebene Wahl zwischen parlamentarischem Gesetzgebungs- und verfassungsgerichtlichem Jurisdiktionsstaat wird – soweit ersichtlich – begrifflich nicht weiter konkretisiert. Aus dem Zusammenhang wird jedoch deutlich, dass es um die Frage der Abgrenzung zwischen Gesetzgeber und BVerfG geht.358 Auf die Wahl zwischen Gesetzgeber und BVerfG gebracht, dürfte die Zustimmung eher 356

Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 181 f. Vgl. dazu auch Schliesky, S. 140 ff., der das Souveränitätsverständnis des Grundgesetzes als Volkssouveränität mit verfassungsrechtlicher Konturierung, d. h. mit rechtlicher Gebundenheit, beschreibt, ders., S. 128: „Souveränität kann heute keine absolute, rechtlich ungebundene Machtfülle mehr sein, sondern nur eine im Rahmen der Verfassung begründete, rechtlich gebundene und legitimierte Herrschaftsgewalt.“ Zur Entwicklungsgeschichte der verschiedenen Souveränitätskonzeptionen ders., S. 57 ff. 358 Böckenförde, Grundsatznormen, S. 31: „Die Alternativen sind hinreichend entfaltet. Die Entscheidungsfrage, um die es geht, liegt letztlich darin, wem es unter Gesichtspunkten der Demokratie und des Rechtsstaats, der politischen und der bürgerlichen Freiheit zukommen soll, die Rechtsordnung, soweit es um ihre substantiellen Gehalte geht, zu gestalten. Vertraut sich der Bürger hierfür dem gewählten parlamentarischen Gesetzgeber oder vertraut er sich dem Verfassungsgericht an?“ 357

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

zugunsten des parlamentarischen Gesetzgebers mit seiner höheren Legitimität ausgehen. Jedenfalls erscheint es nicht ohne weiteres einsichtig, dass mühsam errungene parlamentarische Entscheidungen durch ein Verfassungsgericht wieder aufgehoben werden können.359 Böckenförde kann damit auch ohne weitere Konkretisierung der staatstheoretischen Begriffe darauf bauen, dass von der Notwendigkeit eines parlamentarischen Gesetzgebungs- gegenüber einem verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat eine selbstverständliche Überzeugungskraft ausgeht. 1. Die Staatsarten nach Schmitt Klarheit über das zugrunde liegende Begriffsverständnis erhält man über eine eher entlegene Fundstelle im Nachwort zu Böckenfördes Dissertation. Zur Funktion des Gesetzes heißt es: „Die (alte) Funktion des Gesetzes, aus sich, gewissermaßen selbsttragend, Recht zu schaffen, geht über auf die Verfassung und wird, vom Ansatz her, auf sie begrenzt. Die Verfassung erscheint nicht mehr als ausgrenzend-konstituierende Rahmenordnung, innerhalb deren der Gesetzgeber das geltende Recht autonom festlegt, sondern als die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens selbst, die – selbst fragmentarisch und in Grundsätzen formuliert – des Gesetzes zu ihrer Konkretisierung und vollziehenden Verwirklichung bedarf. […] Dieser Wandel des Gesetzesbegriffs ist Ausdruck und Erscheinungsform des Übergangs vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsvollziehenden Jurisdiktionsstaat.“360 Zur Erläuterung des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats verweist Böckenförde auf die Typisierung von Schmitt in „Legalität und Legitimität“ von 1932. Zitiert wird das Kapitel „Das Legalitätssystem des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats“.361 Schmitt beschreibt dort als Prototyp des Gesetzgebungsstaats den Staat der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts. In diesem sei der Staat das Gesetz und das Gesetz der Staat. Nur dem Gesetz werde Gehorsam geschuldet, nur ihm gegenüber sei das Widerstandsrecht vernichtet. Nach Otto Mayer kennzeichne dreierlei einen solchen Gesetzgebungsstaat: die objektives Recht schaffende Kraft des Gesetzes (im Gegensatz zum dienstlichen Befehl und Anweisungen an untergebene Behörden und Beamte); der Vorrang des Gesetzes (Vorrang nämlich vor allen anderen hier in Betracht kommenden staatlichen Betätigungsarten, insbesondere Verwaltung und Rechtsprechung) und der Vorbehalt des Gesetzes, d. h. das Monopol, welches die gesetzliche Regelung im Gegensatz zu anderen staatlichen Betätigungsarten habe, in verfassungsrechtlich gewährleistete Grund- und Freiheitsrechte 359 Vor den Gefahren eines verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates wird vielfach gewarnt, siehe nur Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, S. 183 ff. 360 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, Nachwort, S. 402. 361 Schmitt, Legalität, S. 274 ff. Im Hinblick auf eine allgemeine Begriffsklärung und Abgrenzung der verschiedenen Staatsarten hätte jedoch der Verweis auf das vorherige Kapitel „Einleitung: Das Legalitätssystem des Gesetzgebungsstaates gegenüber anderen Staatsarten (Jurisdiktions-, Regierungs- und Verwaltungsstaat)“ näher gelegen.

D. Das Regeldenken als Denken vom Staat her

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einzugreifen.362 Zusammenfassend heißt es bei Schmitt: „[…]: letzter Hüter allen Rechts, letzter Garant der bestehenden Ordnung, letzte Quelle aller Legalität, letzte Sicherheit und letzter Schutz gegen Unrecht ist der Gesetzgeber und das von ihm gehandhabte Verfahren der Gesetzgebung.“363 Das Wesen des Staates ist nach dieser Auffassung das Gesetz bzw. der Gesetzgeber. Auf seine Letztentscheidungen kommt es an. Dementsprechend kann es auch keine Hierarchie der Gesetzgeber (z. B. den verfassungsändernden Gesetzgeber) geben: „Gesetzgeber ist im Gesetzgebungsstaat selbstverständlich immer nur der eine, einfache Gesetzgeber. Jede Konkurrenz von Gesetzgebern verschiedener Art und einander relativierenden Gesetzesbegriffen zerstört, wie schon jetzt betont sei, den Gesetzgebungsstaat selbst. […] Der Gesetzgeber des folgerichtigen Gesetzgebungsstaates muss das ,Monopol‘ der Legalität in der Hand behalten.“364 Doch kann solch ein Gesetzgebungsstaat nicht voraussetzungslos bestehen. Es bedarf eines Vertrauens in die Vernünftigkeit, Gerechtigkeit und Homogenität des Volkswillens: „Keine Demokratie besteht ohne die Voraussetzung, dass das Volk gut ist, und sein Wille infolgedessen genügt.“365 In der Einleitung zu „Legalität und Legitimität“ werden auch die Modelle des Jurisdiktions- sowie des Regierungs- und Verwaltungsstaats erläutert. In einem Jurisdiktionsstaat spreche der Richter das letzte Wort. Typisch für den Regierungsstaat sei der hoheitliche persönliche Wille und autoritäre Befehl eines regierenden Staatsoberhaupts, der Verwaltungsstaat werde geleitet durch sachlich-praktische Zweckmäßigkeit.366 Entscheidend für die Abgrenzung der Staatsarten ist, „wo der Schwerpunkt des entscheidenden Willens liegt und welche der verschiedenen Möglichkeiten für das normale und durchschnittliche Dasein im Mittelpunkt steht, welche Art höchsten Willens im entscheidenden Augenblick maßgebend oder ausschlaggebend hervortritt und für das Gemeinwesen artbestimmend ist.“367 Je nach der Stabilität eines Staates sieht Schmitt unterschiedliche Staatsarten als vorherrschend an. Während in stabilen Zeiten der Jurisdiktionsstaat vorherrsche, stehe der Regierungs- und Verwaltungsstaat oder parlamentarische Gesetzgebungsstaat eher für Zeiten des Umbruchs. Schmitt hält jedenfalls in seiner allgemeinen Erörterung der Staatsarten auch ein Nebeneinander von höchster Justiz, höchster Regierung, höchster Normierung und höchster Verwaltung für möglich: „[…]; in vorübergehenden Zwischenzeiten vielleicht sogar ein glückliches Gleichgewicht mehrerer verschiedenartiger, voneinander unabhängiger, höchster Gewalten.“368 362

Schmitt, Legalität, S. 276. Schmitt, Legalität, S. 276. 364 Schmitt, Legalität, S. 277 (Herv. d. Verf.). 365 Schmitt, Legalität, S. 281. 366 Schmitt, Legalität, S. 265 f. Allerdings wäre nach Schmitt ein Jurisdiktionsstaat gar kein Staat im Sinne einer politischen Einheit, sondern eine unpolitische Rechtsgemeinschaft, ebda, S. 267. 367 Schmitt, Legalität, S. 266; ders., Hüter, S. 99. 368 Schmitt, Legalität, S. 265 f. Zur Vermischung der Staatsarten siehe auch ders., Hüter, S. 99. 363

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

Doch welche Bedeutung soll der Verweis auf die Staatsarten Schmitts für die grundgesetzliche Verfassungstheorie haben? Zunächst steht die demokratisch begründete Forderung Böckenfördes nach einem parlamentarischen Gesetzgebungsstaat (Denken von der Demokratie her) in einem gewissen Gegensatz zur Auffassung Schmitts, der in „Legalität und Legitimität“ den Verfall des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats der Weimarer Republik beschrieben hat.369 Für Schmitt war der parlamentarische Gesetzgebungsstaat nämlich nicht Ausdruck der Demokratie, sondern des Liberalismus, der die Demokratie als Identität von Volk und politischer Einheit gerade störte.370 Die Tradition zu Schmitt scheint daher gebrochen.371 Warum also die Verwendung der Schmittschen Terminologie? 2. Letztentscheidung Die Gemeinsamkeit zu Schmitt liegt nicht in der favorisierten Staatsform (Gesetzgebungs-, bzw. Regierungsstaat), sondern in der Ablehnung einer bestimmten Staatsform, nämlich dem Jurisdiktionsstaat. Schon in der Abhandlung „Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung“ (1929) stellt Schmitt seine Bedenken heraus, gegen den Missbrauch der Gesetzgebungsform den Missbrauch der Justizförmigkeit zu organisieren. Bei einem solchen Versuch hätte „die Justiz alles zu verlieren und die Politik nichts zu gewinnen“.372 Für den Schutz der Verfassung als politischer Gesamtentscheidung käme nur eine politische Instanz, der Reichspräsident, in Betracht.373 Die Forderung nach einer politischen höchsten Instanz erschließt sich aus Schmitts Auffassung über das Verhältnis von Staat und Verfassung. Sieht man den Staat nicht erst durch eine Verfassung hervorgebracht, sondern als ihr vorausliegend und überlegen an, so kann auch die Souveränität nicht bei der Verfassung oder einem Verfassungsgericht liegen.374 Lässt sich nun die Argumentation mit den Schmittschen Staatsarten auf die verfassungstheoretische Diskussion des Grundgesetzes übertragen? Als pauschale Gegenüberstellung von parlamentarischem Gesetzgebungs- und verfassungsge369

Schmitt, Legalität, S. 335 ff. Nach Schmitt schließen sich parlamentarische Repräsentation als Ausdruck des Liberalismus und Demokratie als Identität von Volk und politischer Einheit aus, vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 204 ff., S. 218: „Das Repräsentative enthält nämlich gerade das Nichtdemokratische an dieser ,Demokratie‘. Insofern das Parlament eine Repräsentation der politischen Einheit ist, steht es im Gegensatz zur Demokratie.“ Siehe auch Mehring, Carl Schmitt, S. 214 ff. Zur Präponderanz der politischen Verfassung gegenüber der rechtsstaatlichen Böckenförde, Begriff des Politischen, S. 353 ff. 371 Mehring sieht in Böckenförde den einzigen Nachfolger Schmitts, dem eine liberale Rezeption von Schmitt gelungen sei. Siehe Mehring, Verfassungslehre, S. 195 ff.; ders., Böckenförde, S. 449 ff. 372 Schmitt, Hüter, S. 100. 373 Schmitt, Hüter S. 100 m.w.N. zur These des Reichspräsidenten als Hüter der Verfassung. 374 Siehe dazu oben S. 214. 370

D. Das Regeldenken als Denken vom Staat her

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richtlichem Jurisdiktionsstaat und Ablehnung des Letzteren sicher nicht. Selbst Schmitt hat für die Weimarer Verfassung ein differenziertes Bild gezeichnet. Einbruchstellen für einen Jurisdiktionsstaat seien schon durch die materiell-rechtlichen Verfassungsregelungen des zweiten Hauptteils unvermeidbar.375 Dazu heißt es: „Eine Verfassung, die materiell-rechtliche Verfassungsgesetze in größerem Umfang den einfachen Gesetzen überordnet, ändert nicht nur den Grundsatz des jeweiligen Mehrheitswillens und das darauf beruhende Legalitätsprinzip; sie verändert das organisatorische Gefüge eines solchen Gesetzgebungsstaates von Grund auf.“376 Man müsse daher unterscheiden zwischen Staaten „mit einer auf die organisatorischverfahrensmäßige Regelung und auf allgemeine Freiheitsrechte beschränkten Verfassung, und anderen Staaten, deren Verfassung umfangreiche materiell-rechtliche Festlegungen und Sicherungen enthält. Das sind in Wahrheit Staaten mit zwei verschiedenen, einander prinzipiell konstruktiv und organisatorisch sogar widersprechenden Verfassungen oder Verfassungsstücken“.377 Wenn schon für die Weimarer Verfassung jurisdiktionsstaatliche Elemente zwangsläufig waren, so müssten diese erst recht für die materiell-rechtlichen Sicherungen des Grundgesetzes diskutiert werden, noch dazu angesichts der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für eine Verfassungsgerichtsbarkeit. Für das Grundgesetz konstatiert Böckenförde immerhin einen „Souveränitätszipfel“ zugunsten des BVerfG: „Kein Staat, der als Friedenseinheit organisiert ist, kann der Notwendigkeit, an irgendeiner Stelle die Zuständigkeit zum ,letzten Wort‘ zu institutionalisieren, entgehen. Sie kann nur verlagert, nicht beseitigt werden. Sieht eine Verfassung – wie das Grundgesetz – ein Verfassungsgericht vor mit der Befugnis, über die Verfassungsmäßigkeit und damit die Gültigkeit von Gesetzen und Verfassungsänderungen zu entscheiden, so geht die Zuständigkeit zum verbindlichen ,letzten Wort‘ insoweit auf diese über; der Zipfel der Souveränität kommt dann in einem solchen Gericht zur Erscheinung.“378 Die Gegenüberstellung von parlamentarischem Gesetzgebungs- und verfassungsgerichtlichem Jurisdiktionsstaat ist jedoch auch in anderer Hinsicht zu pauschal. Indem Böckenförde die Frage der Verfassungs- und Grundrechtstheorie auf die Frage zuspitzt, ob die Letztentscheidungen durch das BVerfG oder den Gesetzgeber zu treffen sind, behandelt er materiell nur die Frage nach der Letztentscheidung über 375

Schmitt, Legalität, S. 312. Schmitt, Legalität, S. 307. 377 Schmitt, Legalität, S. 310. 378 Böckenförde, Sittlicher Staat, S. 14, Fn. 9. Zur Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit führt Schmid in der 9. Plenumssitzung des Parlamentarischen Rates vom 6. 5. 1949 (Der Parlamentarische Rat, Plenum, S. 442) aus: „Neben oder über diesen Gerichten steht das Bundesverfassungsgericht. Es ist der eigentliche Hüter der Verfassung. Es ist nicht nur Träger der Gerichtsbarkeit in Streitigkeit zwischen Bund und Ländern, sondern auch dazu berufen, in bestimmten Fällen das Grundgesetz verbindlich auszulegen und bei Zweifeln über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht und Landesrecht mit dem Grundgesetz die letzte Entscheidung zu treffen.“ 376

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen. Nicht problematisiert wird dabei die Anwendung der Gesetze. Durch eine restriktive Verfassungs- und Grundrechtstheorie wachsen jedoch nicht nur die Kompetenzen des Gesetzgebers. Von verfassungsrechtlichen Bindungen befreit werden auch Verwaltung und Fachgerichtsbarkeit. Man muss daher fragen, welche Auswirkungen die Reduktion von verfassungsrechtlichen Bindungen bei der Rechtsanwendung auf die Charaktersierung des Staates hat. Kann es einen reinen parlamentarischen Gesetzgebungsstaat geben oder zieht dieser – mangels verfassungsrechtlicher Bindungen – nicht notwendig einen Verwaltungs-, Regierungs- und Jurisdiktionsstaat nach sich, in dem wesentliche Letztentscheidungen auch von der Verwaltung, Regierung und Fachgerichtsbarkeit getroffen werden? Die Argumentation mit den Begriffen des parlamentarischen Gesetzgebungs- und verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates hat sich jedenfalls als sehr viel voraussetzungsvoller erwiesen, als man auf den ersten Blick vermuten konnte. In der schlichten Argumentation zugunsten eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaates werden weder die im Grundgesetz angelegten jurisdiktionsstaatlichen Elemente, insbesondere die Letztentscheidungsbefugnis des BVerfG, berücksichtigt noch die Folgen einer von verfassungsrechtlichen Bindungen befreiten Staatsgewalt reflektiert. Die Argumentation von den Staatsarten her erweist sich damit als ein Denken vom Staat her, das aus sich heraus noch keine Verbindlichkeit für das Grundgesetz beanspruchen kann. 3. (Relative) Homogenität als Voraussetzung der Demokratie Die Forderung nach einem parlamentarischen Gesetzgebungsstaat steht nicht allein. Für Schmitt folgt aus der Struktur und den Anforderungen des Gesetzgebungsstaates die Forderung nach Sittlichkeit und Homogenität. Ein gegenüber materiell-rechtlichen Verfassungsbindungen weitestgehend unabhängiger einfacher Gesetzgeber ist nur dann erträglich, wenn er nicht Partikularinteressen, sondern dem Gemeinwohl dient und dabei von sich aus nach sittlichen Maßstäben handelt. Der einfache Gesetzgeber in einem Gesetzgebungsstaat schafft nicht die Einheit des Volkes, sondern bringt die bereits bestehende Einheit hervor. Dies rechtfertigt das Vertrauen in die Gesetzgebung: „Denn nach demokratischer Voraussetzung hat das in sich homogene Volk alle Eigenschaften, die eine Garantie der Gerechtigkeit und Vernünftigkeit des von ihm geäußerten Willen enthalten.“379 Im Gegensatz zu Schmitt spricht Böckenförde „nur“ von relativer Homogenität, dem homogenitätsstiftenden Band oder der homogenitätsverbürgenden Kraft.380 Damit distanziert sich Böckenförde vom pluralismus- und freiheitsfeindlichen Ho379 Schmitt, Legalität, S. 281. Zur Homogenität siehe auch ders., Verfassungslehre, S. 229 ff. 380 Böckenförde, Politische Autonomie, S. 109 ff.: ders., Demokratie, Rn. 63 ff.

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mogenitätskonzept Schmitts und postuliert – unter Berufung auf Hermann Heller – ein „Bewusstsein der Zusammengehörigkeit und Gemeinsamkeit, eine Einordnungsbereitschaft, die es erlaubt, bestehende Gegensätze und Interessenwiderstreite zu relativieren, sie nicht zur Sprengkraft werden lassen.“381 Ob damit oder durch eine entsprechende Begriffsverwendung des BVerfG im Maastricht-Urteil der Schmittsche Unterton schon beseitigt ist, sei dahingestellt.382 Interessant für den vorliegenden Zusammenhang ist nicht die Betonung der Bedeutung eines „Wir-Gefühls“ an sich,383 sondern die sich anschließende Frage, wie solch ein Bewusstsein im modernen Verfassungsstaat überhaupt hergestellt und erhalten werden kann.384 Böckenförde gelangt mit dieser Frage in das sog. „Böckenförde-Dilemma“. a) „Böckenförde-Dilemma“ Doch zunächst zur Frage, warum die (relative) Homogenität in der Gesellschaft überhaupt prekär sein sollte. Als wesentlichen Grund nennt Böckenförde den Vorgang der Säkularisation, der mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte seine Vollendung erfahren habe. Die entscheidende Frage lautet: „Woraus lebt der Staat, worin findet er die ihn tragende, homogenitätsverbürgende Kraft und die in381

Böckenförde, Politische Autonomie, S. 110 mit Hinweis auf Heller, S. 427 ff. Danach bedeutet soziale Homogenität einen „sozial-psychologischen Zustand, in welchem die stets vorhandenen Gegensätzlichkeiten und Interessenkämpfe gebunden erscheinen durch ein WirBewusstsein und -Gefühl, durch einen sich aktualisierenden Gemeinschaftswillen“ (S. 429). Lübbe-Wolff, Homogenes Volk, S. 123, beschreibt das Hellersche Homogenitätskonzept als auf die Befriedung der Klassengegensätze gerichtet, und zwar durch Rücksicht und Kompromiss – im Gegensatz zur nationalen Homogenität von Schmitt. 382 Nach Lübbe-Wolff, Homogenes Volk, S. 122, hat der Begriff der relativen Homogenität durch Böckenförde als beteiligten Richter Eingang in die Rechtsprechung des BVerfG gefunden. Siehe BVerfGE 89, 155, 186 (Maastricht): „Die Staaten bedürfen hinreichend bedeutsamer eigener Aufgabenfelder, auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozess politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es – relativ homogen – geistig, sozial und politisch verbindet (vgl. hierzu Heller, S. 421 [427 ff.], rechtlichen Ausdruck geben.“ Weiler hat in der Berufung auf Heller nur eine Camouflage gesehen. Es drücke sich vielleicht eine Art Scham darin aus, dass hier Heller zitiert worden sei, wo eher Isensee, Lepsius oder gar Schmitt hätten zitiert werden sollen, siehe Weiler, S. 95 Fn. 10. 383 Kritisch zu Homogenitätskonzepten als nichts „Verifizierbares oder Falsifizierbares“ im Hinblick auf die Funktionsbedingungen der Demokratie Lübbe-Wolff, Homogenes Volk, S. 123 ff. Deutlich auch die Ablehnung eines gesellschaftlichen Einheitskonzepts von Möllers, Staat als Argument, S. 255: „Für die Beschreibung gesellschaftlichen Zusammenhalts schließlich ist der Einheitsbegriff, sei es als (historisch belastete) demokratische Homogenität, sei es als aufgegebene staatliche Einheit, vollständig ungeeignet. In diesem Kontext soll Einheit zum Ausdruck bringen, dass Gesellschaften nicht nur durch rechtliche Institutionen zusammengehalten werden. Wer wollte das bezweifeln? Zur Erklärung diese schwierigen Phänomens sind jedoch anspruchsvollere Konzepte vonnöten.“ 384 Ausführlich und kritisch zum Konzept Staat als Einheit Möllers, Staat als Argument, S. 228 ff., der insoweit die Vorstellungen einer vorausgesetzten Einheit (Schmitt-Schule) und einer aufgegebenen Einheit (Smend-Schule) untersucht.

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

neren Regulierungskräfte der Freiheit, deren er bedarf, nachdem die Bindungskraft aus der Religion für ihn nicht mehr essentiell sein kann?“385 Nachdem auch die Idee der Nation ihre einheitsbildende Kraft verloren habe, habe man nach 1945 vor allem in Deutschland versucht, in gemeinsamen Wertüberzeugungen eine neue Homogenitätsgrundlage zu finden. Eine Werteordnung als Homogenitätsgrundlage lehnt Böckenförde jedoch ab, da sie – jedenfalls nach seiner Lesart – nur Ausdruck von Subjektivismus und Positivismus der Tageswertungen sei.386 Daher stelle sich weiterhin die Frage nach den bindenden Kräften. In einem freiheitlichen Verfassungsstaat, der individuelle Grundrechte gewährt, könnten die sich auflösenden bindenden Kräfte aber nicht geschaffen werden, ohne die Freiheit der Einzelnen zu gefährden. Der Staat bedürfe einer moralischen Substanz, die er angesichts grundrechtlicher Freiheiten nicht erzwingen kann. Böckenförde formuliert das Dilemma wie folgt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“387 Der Schmittsche Gedanke von der homogenen Gesellschaft als Voraussetzung der Demokratie388 findet bei Böckenförde eine christlich-religiöse Vertiefung, denn Böckenförde sucht den eigentlichen Grund der den Staat tragenden (relativen) Homogenität und fragt: „Ist die Religion, wie man jahrhundertelang meinte, die eigentlich tragende und formende Kraft, die die Gesittung und Gesinnung verbürgt, aus der der Staat in seinen Bürgern lebt, oder ist sie als solche ersetzbar und entbehrlich?“389 Die Antwort sieht Böckenförde in Hegels Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Religion. Danach existiere der Staat zwar parallel zur Religion, doch werde er von derselben Substanz gespeist, nämlich der christlich-religiösen: „Der Staat erscheint in seiner Allgemeinheit und seiner ausgebildeten Gestalt als eine Verwirklichung und Umsetzung der Inhalte der christlichen Religion in die Form

385

Böckenförde, Entstehung des Staates, S. 111. Böckenförde, Entstehung des Staates, S. 112. 387 Böckenförde, Entstehung des Staates, S. 112 f. 388 Siehe dazu auch Schmitt, Geistesgeschichtliche Lage, S. 14: „Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.“ Ders., Verfassungslehre, S. 229 ff. Den Zusammenhang zwischen dem Böckenförde-Dilemma und dem Denken Schmitts beleuchtend Großmann, S. 407 ff. 389 Böckenförde, Staat und Religion bei Hegel, S. 116. 386

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weltlich-äußerer Wirklichkeit; […].“390 Zwar lasse sich Hegels Auffassung nicht direkt auf den weltanschaulich neutralen Staat des Grundgesetzes übertragen, doch einem Staat, der nur auf Pluralismus und Wertekonsens gründe, fehle gleichwohl die Substanz. Er habe kein geistiges Prinzip und hänge „in der Luft“: „Dieser (Konsens) ist ein fließendes Element, unterliegt den geistigen Fluktuationen, dem sog. ,Wertewandel‘ der Zeit, woran mancherlei Kräfte beteiligt sind, ist aber – unter den Bedingungen des Pluralismus – ohne objektive Orientierung, die ihm als Verbindlichkeit gegenübertritt und an der sich Sitte und Sittlichkeit bilden und befestigen.“391 Das Dilemma besteht also darin, dass Böckenförde mehr fordert, als eine Werteund bloße Rechtsgemeinschaft leisten kann. Er strebt eine Homogenität an, die sich nicht aus Pluralismus und (Werte-)Konsens speist, sondern eine, die aus einer „echten“ gemeinsamen Substanz hervorgeht. Diese gemeinsame Substanz – das macht auch die Anlehnung an Hegel deutlich – sieht Böckenförde letztlich – wenn auch nicht ausschließlich – in der christlichen Religion und den von ihr hervorgebrachten christlichen Anschauungen als kulturelles Erbe.392 Doch wie kann man diesen Geist bzw. diese Sittlichkeit erzeugen und bewahren, ohne grundrechtliche Freiheit, vor allem die Religionsfreiheit zu verletzen? Böckenförde diskutiert einige Auswege aus dem Dilemma. Doch zunächst drängt sich die Frage auf, warum ein Staat überhaupt der (vorstaatlichen) Sittlichkeit bedarf. Wäre es für ein staatliches Zusammenleben nicht ausreichend, sich auf einem weniger anspruchsvollen Niveau zu treffen, die Einheit nicht in gemeinsamen (religiösen) Überzeugungen zu suchen, sondern in der Gleichberechtigung und Tolerierung des „Heterogenen“? Man könnte mit H. Dreier dem Desintegrativen des individuellen Freiheitsgebrauchs eine positive Wendung geben, nämlich in Form des „Konsenses über den Dissens“: „In paradoxer Formulierung könnte man sagen, dass der eigentliche Konsens im Konflikt liegt, im offenen aber (nicht zuletzt rechtlich) geordneten und insofern gehegten Austrag der unterschiedlichen Auffassungen, mit letztlich verbindlichen Entscheidungen, die aber jeweils nur als temporäre Fixierungen, nicht als ewige Wahrheiten zu betrachten sind und unter Änderungsvorbehalt stehen. Dieser Konsens über den Dissens, wie man ihn nennen könnte, stellt gleichsam eine Integration zweiter Stufe dar, nicht die

390 Böckenförde, Staat und Religion bei Hegel, S. 138. Im Ergebnis so auch Taylor, dem Böckenförde zu Unrecht vorwirft, das Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel nur auf einer halben Seite (S. 575) behandelt zu haben (so Böckenförde, Staat und Religion bei Hegel, S. 117, Fn. 4). Zur ausführlichen Auseinandersetzung siehe Taylor, S. 629 ff., insbesondere S. 637 f.: „Worüber der Staat aber unbedingt verfügen muss, will er sich Hoffnung auf eine tatsächliche, gültige Wirklichkeit machen, ist ein instinktives Gefühl seiner Rationalität, seiner in der Idee gegründeten, unabweisbaren Autorität, kurz: eine ,sittliche Gesinnung‘ seitens seiner Bürger. Und diese gründet sich auf der Religion.“ 391 Böckenförde, Staat und Religion bei Hegel, S. 141 f. 392 Unter Berücksichtigung des zunehmenden Bedeutungsverlusts der christlichen Religion Böckenförde, Der säkularisierte Staat, S. 25 ff., 31 ff. Zum christlichen Glauben als Religion der Freiheit bzw. als Grundlage für subjektive Freiheit, rechtliche Gleichheit, Menschenwürde und Toleranz siehe Böckenförde, Staat – Gesellschaft – Kirche (1982), S. 167 f.

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

sachliche Einigkeit in wesentlichen Punkten, sondern die Formung und Hegung der divergenten Positionen gewinnt entscheidende Bedeutung.“393 Böckenförde zieht diesen Gedanken in Betracht und stellt allgemein eine „Toleranzkultur“ als eine mögliche Homogenitätsgrundlage dar.394 Doch zieht er keinen weiteren Nutzen aus einer solchen Homogenitätsgrundlage. Insbesondere prüft er nicht, ob die Werteordnung unter dem Aspekt der Toleranzkultur doch eine ausreichende Homogenitätsgrundlage darstellen könnte. Fraglich bleibt darüber hinaus, ob das Problem der Sittlichkeit nur deswegen entsteht, weil Böckenförde – implizit – von einem Gesetzgebungsstaat ausgeht, der von materiell-rechtlichen Verfassungsbindungen (weitestgehend) befreit ist und als Ausgleich für fehlende Verfassungsbindungen der sittlichen Fundierung im außerrechtlichen Bereich bedarf. Dann müsste das „Böckenförde-Dilemma“ präzisier formuliert werden: Der säkularisierte Gesetzgebungsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann, ohne die Freiheit zu gefährden. Das Problem der Schaffung und Erhaltung homogenitätsstiftender Kräfte als Voraussetzung für den Staat und die Demokratie wären dann untrennbar mit der Vorstellung von einem parlamentarischen Gesetzgebungsstaat verbunden und würde sich bei einem anderen, z. B. einem Werteordnungsverständnis der Verfassung nicht in gleicher Weise stellen. Die Plausibilität des Böckenförde-Dilemmas bedarf hier jedoch keiner vertieften Diskussion. Wichtig für den vorliegenden Zusammenhang ist, dass es die Grenzen des Rahmenordnungs- und Regeldenkens zum Ausdruck bringt. Was für Böckenförde ein Dilemma bedeutet, stellt sich für den Betrachter von außen als ein schlichter Widerspruch dar. Auf der einen Seite steht die Forderung nach einem von verfassungsrechtlichen Bindungen möglichst befreiten Gesetzgeber und nach Vertrauen in die Demokratie,395 auf der anderen Seite bringt aber gerade Böckenförde das geforderte Vertrauen bzw. die geforderte Selbstgewissheit nicht auf, sondern fordert eine bestimmte sittliche Gesinnung des Volkes. Ihm reicht gerade nicht der Konsens einer Werteordnung und sei er auch Ausdruck des freien, demokratischen Willens. Vielmehr soll die Demokratie auf einer (ggf. religiös fundierten) Sittlichkeit beruhen. Dass für solch ein Demokratieverständnis ein Preis zu zahlen ist, und zwar Freiheitseinbußen derjenigen, die sich nicht in diese Homogenität einfinden, wird nicht ausgesprochen, sondern als Dilemma formuliert.

393 H. Dreier, Integration durch Verfassung?, S. 91 ff. Anders Depenheuer, Verfassungspatriotismus, S. 855 ff., der den „Gemütsbedarf des durchschnittlichen Menschens“ nicht durch einen formalen Verfassungspatriotismus erfüllt sieht, sondern darüber hinaus die Homogenität als „irrationales Element staatlicher Wirklichkeit“ fordert. 394 Böckenförde, Politische Autonomie, S. 113. 395 Vgl. Böckenförde, Rechtsstaatsbegriff, S. 167: „Welche Selbstgewissheit hat ein Volk, wenn es glaubt, die sog. Grundwerte seiner Lebensordnung und seiner politischen Ordnungsform mit Rechtszwang unantastbar festlegen zu müssen, für sich selbst und für die künftigen Generationen, denen damit ihre eigene Mündigkeit im Voraus abgesprochen wird?“

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b) Zivilreligion Möglicherweise will Böckenförde diesen letzten Schritt der Freiheitseinbußen und des autoritären Staates auch nicht gehen. Dafür sprechen die Versuche, andere Auswege aus dem „Dilemma“ zu finden. Dem Staat komme im Hinblick auf die Homogenität keine konstituierende, setzende Funktion zu, sondern nur eine schützende und stützende.396 Böckenförde expliziert diese stützenden Maßnahmen u. a. anhand der Aufgabe des Staates, im Hinblick auf die Kultur- und Medienpolitik „den Prozess geistig-kulturellen Lebens und geistig-kultureller Bewegung als einen freien zu gewährleisten und zu schützen, in dem sich das geistig-kulturelle, aber auch das sittliche Bewusstsein des Volkes zu artikulieren und weiterzutragen vermag und nicht durch partikuläre geistige Bewegungen, die auf Alleingeltung und Beherrschung zielen, überwältigt wird“.397 Auch schulische Erziehung und Bildung seien von großer Bedeutung.398 Freiheitseinbußen sind bei diesen Maßnahmen nicht erkennbar, doch kommt Böckenförde dem Ziel der Sittlichkeit auch noch nicht wesentlich näher, insbesondere angesichts weiterer homogenitätsgefährdender Entwicklungen wie Globalisierung und Europäisierung. Das mag der Grund dafür sein, dass er – trotz seiner vehementen Ablehnung von 1978399 – 1998 das Erfordernis einer Zivilreligion diskutiert, wobei verschiedene inhaltliche Ausprägungen in Betracht gezogen werden: „Die bisherigen Beobachtungen und Überlegungen legen die Frage nahe, wie weit auch Elemente einer Zivilreligion für den Bestand und die Handlungsfähigkeit einer demokratisch und staatlich organisierten Gesellschaft unverzichtbar sind. Dies führt freilich zu einem Diskurs, der an dieser Stelle nicht mehr geführt werden kann. Um ihn sinnvoll zu führen, müsste zunächst über bestehende Äquivokationen hinweg der Begriff von Zivilreligion geklärt werden, der dabei zugrundegelegt wird. Wird darunter ein konsensorientiertes Aufgreifen religiöser Phänomene und Aussagen in öffentlichen Reden und gesellschaftlich-politischen Veranstaltungen verstanden, das einen Sinnbezug zu vorhandener, als nicht disponibel angesehener Religion zum Ausdruck bringt und so die Bürger auch religiös an das Gemeinwesen bindet – so wohl Hermann Lübbe, oder geht es um eine Art religion civile nach dem Vorbild von 396

Böckenförde, Sittlicher Staat, S. 31. Böckenförde, Sittlicher Staat, S. 32; siehe später ders., Politische Autonomie, S. 121 f. 398 Böckenförde, Sittlicher Staat, S. 32 ff.; ders., Politische Autonomie, S. 120 f. Zur staatlichen Unterstützung von Religion und religiöser Lebenskraft ders., Der säkularisierte Staat, S. 26. 399 Böckenförde, Sittlicher Staat, S. 25, Fn. 30: „Rousseau entwickelt die Idee der religion civile im contract social, Buch IV, cap. 8. Sie ist ein typisches Modell des politischen Glaubens, das in Anlehnung an die antike Polis-Religion und in deutliche Frontstellung gegen die christliche Religion, die durch die Trennung des theologischen vom politischen System den Staat als ideologisch-politische Einheit aufgehoben habe, entwickelt ist. Liberaler Anschein und totalitäre Konsequenz liegen bereits hier am Ursprung beieinander: Die Artikel der religion civile werden nicht als Glaubenssätze, sondern nur als allgemeine Ansichten (sentiments de sociabilité) festgelegt; der Staat kann niemand zwingen, an sie zu glauben, aber er kann jeden verbannen, der nicht an sie glaubt; verbannen nicht als Ungläubigen, aber als Un-sozialen (insociable). Ein wesentliches Merkmal der religion civile ist Intoleranz (Rousseau, ebendort).“ 397

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

Rousseau, der ja einen Kanon von Verbindlichkeiten zum Erhalt oder der Hervorbringung von Gemeinsamkeiten, von relativer Homogenität, aufstellt?“400 Später distanziert sich Böckenförde wieder von der Zivilreligion und konstatiert, beide Arten bürgerlicher Religion würden keinen Erfolg versprechen. Ohne religiöse Substanz laufe die politische Institutionalisierung religiöser Phänomene und Aussagen leer und werde zu einem „Stück öffentlicher Heuchelei“, die Zivilreligion von Rousseau bringe Intoleranz anstelle von Freiheit.401 c) „Leitkultur“ und „Ethos der Gesetzlichkeit“ Damit steigt die Bedeutung der Kultur als homogenitätsstiftendes Band, freilich auch mit ihren religiösen Wurzeln, Traditionen und Verhaltensweisen. Doch gehe es heutzutage nicht mehr nur um den Schutz und Erhalt des kulturellen Erbes, sondern auch um dessen Behauptung gegenüber anderen, fremden kulturellen und religiösen Einflüssen. Böckenförde stellt insofern die provokante Frage, ob der Staat volle Religionsfreiheit und Gleichberechtigung überhaupt gewährleisten kann, „ohne dass der kulturelle Sockel, auf dem er aufruht, sich zunehmend parzelliert, aushöhlt und seine verbindende Kraft einbüßt“.402 Die Antwort – verpackt in der teilweisen Widergabe eines Briefwechsels mit Kardinal Ratzinger403 – liegt in der Anerkennung einer „Leitkultur“.404 Offen ist jedoch, ob diese „Leitkultur“ einen freiheitlichen oder einen diskriminierenden Charakter haben soll. Die Ausführungen Böckenfördes sprechen zunächst für eine freiheitliche „Leitkultur“, die unter Achtung der Religionsfreiheit lediglich zum Ausdruck bringt, dass der Staat seine religiösen Wurzeln nicht leugnen muss, sondern sie als „ordre public“ aufrecht erhalten kann.405 Die diskriminierende und freiheitsverkürzende Lesart drängt sich aber auf, wenn gleichzeitig von der Loyalität der in der Diaspora lebenden Angehörigen anderer Religionen gegenüber Gesetzen die Rede ist, die „klare, in sich begründete Wegmarken und Linien vorgeben, die auch begrenzte Toleranzräume enthalten, aber nicht in die Unübersichtlichkeit permanenter Abwägung auseinanderlaufen“.406 Soll die Gesetzesloyalität Ersatz für eine volle Religionsfreiheit und Gleichbehandlung sein? 400 Böckenförde, Politische Autonomie, S. 123; zum Begriff der Zivilreligion siehe Lübbe, S. 306 ff. 401 Böckenförde, Der säkularisierte Staat, S. 27 ff. 402 Böckenförde, Der säkularisierte Staat, S. 32. 403 Böckenförde, Der säkularisierte Staat, S. 33 mit Hinweis auf den Brief von Joseph Kardinal Ratzinger vom 30. 4. 2004 und seine Antwort vom 28. 6. 2004. 404 Böckenförde, Der säkularisierte Staat, S. 32 ff. 405 Böckenförde, Der säkularisierte Staat, S. 33. In diese Richtung geht auch ein Beitrag zum Kopftuchstreit, der aus einem in der Süddeutschen Zeitung erschienen Artikel („Ver(w)irrung im Kopftuchstreit“, 16. 1. 2004) hervorgegangen ist, Böckenförde, Bekenntnisfreiheit, S. 314 ff.; siehe auch ders., „Kopftuchstreit auf dem richtigen Weg?“, S. 723 ff.; ders., Anmerkung zu BVerwG, Urt. v. 24. 6. 2004, S. 1181 ff. 406 Böckenförde, Der säkularisierte Staat, S. 34 ff. An anderer Stelle stellt Böckenförde die konkrete Ausgestaltung der Religions- bzw. Bekenntnisfreiheit gerade der Abwägung anheim,

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Böckenförde führt den Gedanken der Gesetzesloyalität fort und erhebt ihn selbst zum homogenitätsstiftenden Band: „Das führt wieder auf die Frage nach der notwendigen Gemeinsamkeit und dem tragenden Ethos im säkularisierten Staat zurück. Geht der Staat in dieser Weise vor, schafft er eine Art von Gemeinsamkeit, die Pluralität und partielle Heterogenität zu übergreifen vermag: Das gemeinsame Leben unter freiheitsbezogenen Gesetzen, deren Grenzziehung von allen gleichermaßen zu befolgen ist. Anstelle von ausgreifenden Wertbekenntnissen wird Gesetzesloyalität zur Grundlage des gemeinsamen Zusammenlebens. Das zugehörige Ethos der Gesetzlichkeit vermag eine solche Ordnung mitzutragen und zu stabilisieren.“407 Relative Homogenität im Sinne von Leitkultur und Gesetzesloyalität führen das Böckenförde-Dilemma und damit auch das staatstheoretische Konzept von Böckenförde ad absurdum. Deutet man die beiden Homogenitätskriterien freiheitlich, so bestehen inhaltlich kaum Unterschiede zur Werteordnung und eine durch sie hervorzubringende Toleranzkultur als Homogenitätsgrundlage. Geht man von einer freiheitsbeschränkenden Lesart aus, so wird das Dilemma, bestehend aus den Alternativen des Homogenitäts- oder des Freiheitsverlusts, zu Lasten der Freiheit aufgehoben. Was bleibt, ist das Ethos nur des Gesetzes, Homogenität würde vermittelt durch die Anpassung an bzw. durch die Loyalität zu Gesetzen, nicht durch einen bestimmten Inhalt. Dann würde der Staat aber – und auch dies würde das Dilemma aufheben – gerade von Voraussetzungen leben, die er sehr wohl selbst schaffen kann, nämlich von Gesetzen. 4. Offenheit des Rechts als Ermächtigung Wie kann sich der parlamentarische Gesetzgebungsstaat entfalten? Das Regeldenken ermöglicht ein Denken vom Staat her, indem es mit einer Offenheitsthese des Rechts korreliert. Danach werden die Offenheitsbereiche des Rechts nicht geschlossen durch Prinzipienbindung, sondern bleiben dem freien Ermessen der rechtsetzenden und rechtsanwendenden Organe überlassen mit der möglichen Folge von Beliebigkeit und Dezisionismus.408 Die Gefahr solcher Offenheitslücken wurde formuliert für die Annahme reiner Regelmodelle. Man wird sie aber auch annehmen können für ein Regeldenken, das Abwägungen in begrenztem Maße zulässt. Denn auch bei dieser Form des Regeldenkens entstehen dort Freiräume für richterliches

Böckenförde, Bekenntnisfreiheit, S. 316 f.: „Als Antwort auf Probleme, die sich aus einer politischen Wahrnehmung des Kopftuchs ergeben, ist nicht ein generelles Verbot des Kopftuchs, sondern sind Regelungen angezeigt, die der Abwehr konkreter Gefahren für das gedeihliche Zusammenwirken in der Schule, den sogenannten Schulfrieden, dienen. Da kann es durchaus gewisser Flexibilität, auch des Zurücksteckens eigener Belange, womöglich sogar eines vorübergehenden Verzichts auf das Kopftuch bedürfen. Das sind Fragen der Abwägung an Ort und Stelle, in dazu geeigneten Verfahren.“ (Herv. d. Verf.). 407 Böckenförde, Der säkularisierte Staat, S. 36. 408 Siehe oben S. 104.

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

Ermessen, wo Verfassungsbindungen und Verfassungswertungen bei der Auslegung des einfachen Rechts zurückgedrängt werden. Nun könnte man davon ausgehen, dass diese Freiräume und deren Ausfüllung durch die Rechtsprechung gerade gesetzlich gewollt sind. Jestaedt macht in diesem Sinne die im Verwaltungsrecht für Ermessens- und Beurteilungsspielräume entwickelte normative Ermächtigungslehre nutzbar und wendet ihre Fragestellung, nämlich die nach der Letztentscheidungskompetenz der Verwaltung, allgemein auf die Rechtsgewinnung bzw. Rechtsanwendung an. Ausgehend von der Prämisse, dass jedweder Rechtsanwendungsakt – sei er legislativer, administrativer oder judikativer Provenienz – Rechtsetzungsingredienzen enthält, müsse nach der entsprechenden Rechtsetzungsermächtigung gefahndet werden. Im Rahmen einer normativen Ermächtigungslehre für die Rechtsprechung müssten die Gesetze auf ihre Rechtsetzungsbefugnisse für die Rechtsprechung hin untersucht werden.409 Wie diese Rechtsetzungsfreiräume konkret zu ermitteln sind bzw. welche Rolle dabei verfassungsrechtlichen Ausstrahlungswirkungen zukommen soll, lässt sich der nur skizzierten Theorie Jestaedts nicht entnehmen. Angedeutet wird allerdings, dass sie durchaus umfangreich ausfallen könnten. Als Anwendungsfälle für richterliche Rechtsetzungsbefugnisse verweist Jestaedt nicht nur auf ausdrückliche gesetzliche Regelungen zu richterlichen Ermessensentscheidungen (freie richterliche Überzeugung, freies richterliches Ermessen),410 sondern allgemein auf die Konkretisierung von Generalklauseln.411 Je weiter die verfassungsrechtlichen Bindungen zugunsten richterlicher Rechtsetzungsbefugnisse zurückgenommen werden, desto dringender stellt sich die Frage, inwieweit dies noch im Zeichen der Verhinderung eines Jurisdiktionsstaates steht. Zwar würde das BVerfG als Letztentscheidungsinstanz an Bedeutung verlieren, dies aber bei gleichzeitigem Bedeutungszuwachs des fachgerichtlichen Richterrechts. Man könnte einwenden, Offenheitslücken könnten zumindest durch die Anwendung von Prinzipien und Rechtsgrundsätzen des einfachen Rechts geschlossen werden und würden damit nicht der freien richterlichen Rechtsschöpfung unterliegen. Böckenförde bringt sein einfachrechtliches Prinzipienverständnis wie folgt auf den Punkt: „Die substantiellen Rechtsgehalte, von denen jede Rechtsordnung lebt, werden dabei nicht beseitigt, sie verlagern sich allerdings. Sie erhalten ihren Ort in den Rechtsgrundsätzen der einzelnen Rechtsgebiete (in meiner Studienzeit wurde noch viel von den Rechtsgrundsätzen des Verwaltungsrechts, des Strafrechts, des Prozessrechts usf. gesprochen; sie sind inzwischen nahezu bedeutungslos geworden 409

Jestaedt, Rechtsprechung, S. 75 ff. Zur freien richterlichen Überzeugung vgl. § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO: „Ist unter den Parteien streitig, ob ein Schaden entstanden sei und wie hoch sich der Schaden oder ein zu ersetzendes Interesse belaufe, so entscheidet hierüber das Gericht unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung.“ Zum freien richterlichen Ermessen vgl. § 938 Abs. 1 ZPO (Inhalt der einstweiligen Verfügung): „Das Gericht bestimmt nach freiem Ermessen, welche Anordnungen zur Erreichung des Zweckes erforderlich sind.“ 411 Jestaedt, Rechtsprechung, S. 77 ff. 410

D. Das Regeldenken als Denken vom Staat her

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und ersetzt durch die Verfassungsprinzipien der einzelnen Rechtsgebiete). Diese werden befruchtet und durchwirkt von dem Achtungsgebot der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), das die Rechtsmoral des Gemeinwesens konstituiert – G. Dürigs nicht aufzugebende Erkenntnis. Sie sind zu wahren und fortzuentwickeln – auch unter Verarbeitung des je neuen gesetzlichen Rechts – von den obersten Bundesgerichten im Austausch und Zusammenwirken mit den einschlägigen Disziplinen der Rechtswissenschaft. Dies aber nicht als Grundrechtskonkretisierung mit Verfassungsrang, sondern als Grundsätze von Teilrechtsordnungen, in denen sich sach- und problembezogen materialer Grundrechtsgehalt und Menschenwürdebezug ausformt. Auf diese Weise bildet sich gewachsene, aber zugleich nicht starre Rechtskultur.“412 Die Bildung und Weiterentwicklung der einfachen Rechtsprinzipien obliegt damit der Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft. Das Problem richterlicher Freiräume wäre dann aber gerade nicht gelöst, vielmehr verbliebe die Prinzipienbildung im richterlichen Ermessen. Führt das Rahmenordnungs- und Regeldenken damit nur vom Regen in die Traufe, nämlich vom vermeintlichen verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat zu einem dezisionistischen Juristenrecht? Manterfeld beschreibt das Problem anders und spricht von der zunehmenden mangelnden Steuerungsfähigkeit von Gesetzen, die die Verwaltung zu selbständigen Abwägungsprozessen und die Rechtsprechung zur justizförmigen Politik nötige. Die hochdifferenzierte, pluralistische und durch schnellen Wandel gekennzeichnete Gesellschaft laufe den auf Dauer angelegten normativen Fassungs- und Steuerungsversuchen des Gesetzgebers davon. Die Steuerungsdefizite seien aber kein Grund für einen Rekurs auf die Verfassung. Institutionell seien Gesetz und Verwaltung besser geeignet, die Steuerung des politischen Gemeinwesens zu übernehmen, als ein überbewertetes und überfordertes BVerfG, was ein Hoffen auf den Gesetzgeber rechtfertige.413 Doch auch ein Hoffen auf den Gesetzgeber vermag die durch Offenheitslücken (bzw. Steuerungsdefizite) ausgelösten Gefahren dezisionistischer Entscheidungen durch Rechtsprechung und Verwaltung nicht zu bannen. Je weniger Offenheitslücken anhand verfassungsrechtlicher Maßstäbe geschlossen werden, desto größer ist die Macht der rechtsanwendenden Organe, eigene Zweckmäßigkeits- oder auch Moralvorstellungen in die Rechtsfindung einfließen zu lassen.

IV. Ergebnis Ob nun religiös fundierte Sittlichkeit, Zivilreligion, Leitkultur oder Gesetzesloyalität: Der parlamentarische Gesetzgebungsstaat von Böckenförde ist nur auf den ersten Blick freiheitlicher und demokratischer. Er ist geprägt von tiefem Misstrauen in die Selbstregulierungskräfte des Volkes und läuft Gefahr, durch außerrechtlich 412

Böckenförde, Grundsatznormen, S. 28 f., allerdings ohne nähere Ausführungen zur Durchwirkung der Rechtsgrundsätze des einfachen Rechts durch das Gebot der Menschenwürde. 413 Manterfeld, S. 140 ff.

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

begründete Sittlichkeits- und Homogenitätsanforderungen Freiheit und Gleichheit zu gefährden. Die Räume für die Verwirklichung staatlicher Macht schafft das Regeldenken. Denn in den damit geschaffenen Offenheitsbereichen des Rechts wirken keine verfassungsrechtlichen Maßstäbe, die das Ermessen der rechtsanwendenden Organe binden könnten. Die Argumentation für den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat rechtfertigt sich nicht schon aus der Verfassung. Denn das Ideal eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaats basiert auf der Ablehnung jurisdiktionsstaatlicher Elemente, insbesondere verfassungsgerichtlicher Letztentscheidungen, die das Grundgesetz gerade prägen. Die Argumentation zugunsten des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates erscheint daher als ein Denken vom Staat her. Der Staat, nicht die Verfassung bildet das maßgebliche Argument. Betont werden nicht die verfassungsrechtlichen Bedingungen, sondern die vorverfassungsrechtlichen Bedingungen von Staat und Demokratie. Gegenüber einem vom Recht her gedachten Staat weist das Sein des Gesetzgebungsstaates und seiner Gesellschaft über das Recht hinaus. Dass solch ein Denken vom Staat her nicht offen in Erscheinung tritt, mag dem von Günther konstatierten schwindenden Interesse an staatstheoretischen Diskussionen geschuldet sein.414 Doch wirken die staatstheoretischen Fragen im Hinblick auf das Verfassungsverständnis und die Verfassungsauslegung fort.415 Man kann sich ihnen jedenfalls nicht – wie Manterfeld – dadurch entziehen, dass man sie dem Verfassungsbegriff zuordnet und damit nicht reflektiert, sondern setzt.416 Ob die Argumentation vom Staat her zulässig ist und sich an der Verfassung bewährt, wird im nächsten Teil bei der Gegenüberstellung von Rahmen- und Werteordnung im Hinblick auf die Frage nach einer verfassungsmäßigen Verfassungstheorie relevant werden.417 Nach der von Böckenförde hervorgehobenen historisch-genetischen 414 F. Günther, S. 321 ff., mit der vorsichtigen Einschätzung einer Renaissance des Staatsdenkens Ende der 80er Jahre. Zur neueren staatsrechtlichen Literatur siehe v. Ooyen, S. 151 ff. 415 Vgl. dazu Möllers, Staat als Argument, S. 231 ff., 236 ff. 416 Manterfeld, S. 47 ff., der auf den „Staat als Voraussetzung der Verfassung“ (S. 47 ff.), die „Nation als Voraussetzung der Verfassung“ (S. 55 ff.) und die „verfassunggebende Gewalt als Voraussetzung der Verfassung“ (S. 57 ff.) abstellt. Ohne Problembewusstsein bezeichnet Manterfeld den Staat bei Böckenförde – beiläufig – als limitierendes Element (S. 45). Gleiches gilt für den von Manterfeld im Hinblick auf das Sozialstaats- und Demokratieprinzip ermittelten „staatstheoretisch unterfassten Prinzipiendiskurs“ (S. 111 ff.). Anstatt die damit verbundenen staatstheoretischen Annahmen weiter zu hinterfragen sieht Manterfeld gerade eine Leistung der Rahmenordnungstheorie darin, den Grundrechtsdiskurs durch einen staatstheoretisch unterfassten Prinzipiendiskurs zu entlasten (S. 125: „Zugleich wurde bei Böckenförde ein staatstheoretisch unterfasster Prinzipiendiskurs nachgewiesen, der zur Reduktion und Spezifikation auch des Grundrechtsdiskurses beiträgt. Die dadurch erreichte und für limitierende Verfassungstheorie typische Verlagerung von Diskursgehalten der Grundrechtstheorie auf die Demokratie- und Staatstheorie konnte anhand des Sozialstaatsprinzips einerseits und des Demokratieprinzips andererseits deutlich gemacht werden.“). Kritisch insbesondere zur Lehre vom Staat als Verfassungsvoraussetzung Möllers, Staat als Argument, S. 256 ff. 417 Siehe unten, 4. Teil, B.

D. Das Regeldenken als Denken vom Staat her

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Sichtweise erscheint ein Denken vom Staat her angesichts seiner vorrechtlichen Sittlichkeitsanforderungen an die Gesellschaft und der damit verbundenen Vereinnahmung der Individuen für den Staat jedoch zweifelhaft. Die bekannte Formel im Entwurf von Herrenchiemsee, „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“ 418, bringt – wenngleich sie letztlich keine verfassungstextliche Verankerung gefunden hat419 – ein Verständnis des Parlamentarischen Rates zum Ausdruck, das nicht die Würde des Staates, sondern die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt. Dies belegen die Diskussionen im Parlamentarischen Recht. Insoweit führt Süsterhenn (CDU) aus: „Das Werk, das wir jetzt zu schaffen haben, muss von dem Geist echter Freiheit getragen sein. Das ist aber nur möglich, wenn wir uns in dem kommenden Grundgesetz ausdrücklich zu dem Prinzip bekennen, dass der Staat nicht den höchsten Wert des Menschen darstellt. (Sehr richtig! Bei der CDU) Wir müssen wieder zurück zu der Erkenntnis, dass der Mensch nicht für den Staat, sondern der Staat für den Menschen da ist. (Lebhafte Zustimmung) Höchstwert ist für uns die Freiheit und die Würde der menschlichen Persönlichkeit.“420 Heuss allerdings verteidigt in seiner Erwiderung zunächst die Würde das Staates: „Meine Herren, was für ein Deutsch! Der Staat ist … da …! Was ist denn das nun? Eine deklamatorische Sentenz oder ein einklagbares Recht, ist das ein Rechtssatz oder was eigentlich? Verzeihen Sie, wenn ich etwas grob bin. In diesem Satz steckt eine heimliche Polemik gegen den schief verstandenen, vor 117 Jahren verstorbenen Hegel drin. Und weil man gegen diesen Hegel, der wehrlos ist, irgendeine Polemik unterbringen muss, wird sie zu den banalsten Dingen, die wir der 418

Der Parlamentarische Rat, Herrenchiemsee, S. 580. Im Bericht des Unterausschusses I (Grundsatzfragen), ebda, S. 217, heißt es dazu: „An die Spitze sollte eine Bestimmung gestellt werden, welche die grundverschiedene Auffassung eines freiheitlich-demokratischen Staates gegenüber der des totalitären Diktaturstaates der jüngsten Vergangenheit in aller Schärfe hervorhebt.“ Eine ähnliche Formulierung wurde in die Verfassung von Mecklenburg-Vorpommern aufgenommen, Art. 5 Abs. 2 S. 1 Verf. M-V: „Das Land Mecklenburg-Vorpommern ist um des Menschen Willen da; […].“ 419 Dass Art. 1 Abs. 1 des Herrenchiemsee-Entwurfs letztlich nicht in das Grundgesetz aufgenommen worden ist, hatte nach v. Mangoldt in erster Linie sprachliche Gründe, sei aber nicht Ausdruck einer geänderten Auffassung gewesen. Man habe im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 des Herrenchiemsee-Entwurfs darin übereingestimmt, dass allgemeine Sentenzen, mit denen nur Selbstverständliches gesagt werde, nicht in die Verfassung aufgenommen werden sollten. Die Aussage des Abs. 1 habe man dann besser in folgendem Satz ausgedrückt gesehen: „Die Würde des Menschen steht im Schutz der staatlichen Ordnung.“ Schließlich habe man aber auch diese Fassung – ohne die Absicht einer inhaltlichen Änderung – zugunsten der jetzigen fallen gelassen, vgl. v. Mangoldt, GG, Anm. 1 zu Art. 1, S. 43. Kunze, S. 394 f., sieht in der späteren Fassung des Art. 1 GG sogar eine noch weitergehende Gewährleistung des Herrenchiemseer Gedankens. Damit sei zum ersten Mal in der deutschen Verfassungsgeschichte die staatliche Gewalt als Funktion der personalen Menschenwürde definiert worden. 420 Der Parlamentarische Rat, Plenum, S. 54 f. (zweite Plenumssitzung vom 8. September 1948). Otto, S. 60 ff., unterscheidet zwischen zwei vorherrschenden Strömungen, zum einen die Vorstellung vom Staat als notwendigem Zweckgebilde (SPD) und zum anderen die von Süsterhenn als Vertreter der christlich-konservativen Abgeordneten geäußerte Vorstellung vom Staat als Organismus. Dabei lässt Otto unberücksichtigt, dass gerade Süsterhenn den dienenden Charakter des Staates verteidigt.

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3. Teil: Die Verfassung als Rahmenordnung

Welt nachreden, dass der Hegel unser Staatsdenken versaut hätte. Bitte, wie sind denn die Dinge? Wir dürfen, wenn wir ein Staatsgrundgesetz machen, nicht damit beginnen, die innere Würde des Staates zu kränken, indem wir ihn nur als eine subsidiäre Angelegenheit für den Menschen – wer ist denn der Mensch? – unterbringen wollen. Weil wir erlebt haben, dass Staatssinn und Menschentum in der Zeit, wo der Hitler die Geschichte bestimmt hat, als Gegensätze behandelt und empfunden wurden, wo der Staat ein Ruinierer des Menschentums wurde, deshalb dürfen wir meiner Meinung nach nun nicht mit einer so negativen Deklaration beginnen. Der Staat ist nicht nur eine Apparatur, sondern er ist auch ein Träger eingeborener Würde, und als Träger der ordnenden Gemeinschaft ist er für den Menschen und ist der Mensch für ihn keine Abstraktion.“421 In der späteren Diskussion des Grundsatzausschusses widerspricht Heuss jedoch nicht, soweit von der dem Menschen dienenden Funktion des Staates die Rede ist,422 sondern tritt ebenfalls für eine Formulierung des Art. 1 GG ein, die eine „Abwendung vom Staat als Machtapparatur“ zum Ausdruck bringen soll.423 Schließlich erklärte Schmid die Voranstellung der Grundrechte damit, dass „klar zum Ausdruck kommen sollte, dass die Rechte, deren der Einzelmensch bedarf, wenn anders er in Würde und Selbstachtung soll leben können, die Verfassungswirklichkeit bestimmen müssen. Letztlich ist der Staat dazu da, die äußere Ordnung zu schaffen, deren die Menschen zu einem auf der Freiheit des Einzelnen beruhenden Zusammenleben bedürfen. Aus diesem Auftrag allein stammt letztlich allein die Legitimität seiner Machtausübung.“424 Mit der Forderung nach relativer Homogenität als Voraussetzung für Staat und Demokratie und einer potentiell freiheitsbeschränkenden Auflösung des Böckenförde-Dilemmas gerät aber das Paradigma der dienenden Funktion des Staates aus dem Blickfeld.

421

1948). 422 423 424

Der Parlamentarische Rat, Plenum, S. 115 f. (dritte Plenumssitzung vom 9. September Der Parlamentarische Rat, Ausschuss für Grundsatzfragen, S. 46, 65, 68. Der Parlamentarische Rat, Ausschuss für Grundsatzfragen, S. 72. Der Parlamentarische Rat, Plenum, S. 437 (neunte Plenumssitzung vom 6. Mai 1949).

Vierter Teil

Rahmenordnung versus Werteordnung Das Verständnis der Verfassung als Werte- oder Rahmenordnung lässt sich anhand der verfassungstheoretischen Ansätze von Alexy und Böckenförde als Ausdruck gegensätzlicher Denktypen, des Rahmenordnungs- und Regeldenkens einerseits und des Werteordnungs- und Prinzipiendenkens andererseits, rekonstruieren. Widersprüche, Vor- und Nachteile sowie die mit den jeweiligen Denktypen verbundenen Einflüsse durch Macht und Moral sind anhand der Ausprägungen als Denken vom Staat und von der Moral her sichtbar geworden. Welche Schlussfolgerungen sind nun zu ziehen? Soll die Verfassung als Rahmen- oder als Werteordnung verstanden werden?

A. Argumentationsrahmen Zunächst bedarf es einer Konkretisierung des Argumentationsrahmens im Hinblick auf die anzuwendenden Kriterien und die Fragestellung: Kann oder muss die Diskussion des Verfassungsverständnisses anhand des Verfassungsrechts geführt und entschieden werden (I.)? Kommen Annäherungen zwischen Rahmen- und Wertordnung in Betracht (II.)?

I. Verfassungsmäßige Verfassungstheorie Fragt man nach der Vorzugswürdigkeit des Rahmen- oder Werteordnungsverständnisses, so stellt sich das Problem, welche Kriterien dafür maßgeblich sein sollen. Zunächst würde man versuchen, die Vorzugswürdigkeit eines Verfassungsverständnisses anhand der Verfassung selbst zu begründen. Böckenförde fordert dementsprechend, der Verfassungsinterpretation eine verfassungsmäßige Grundrechts- und Verfassungstheorie zugrunde zu legen.1 Eine verfassungsgemäße 1 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1536 f; ders., Verfassungsinterpretation, S. 2098: „Die Erarbeitung und Ausformung einer solchen verfassungsgemäßen Verfassungstheorie muss ihren Ausgang von der Verfassung selbst nehmen, ihren Grundentscheidungen und tragenden Prinzipien, den übernommenen oder modifizierten Elementen der Verfassungstradition, der errichteten Zuordnung und Balancierung der Funktionen/Gewalten u. a.m. Sie muss die darin sich ausdrückende leitende Ordnungsidee, die auch eine komplexe sein kann, ermitteln und zu einer systematischen Orientierung zu entfalten suchen. Daraus kann sich das Grundgerüst eines

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4. Teil: Rahmenordnung versus Werteordnung

Grundrechts- und Verfassungstheorie sei geboten, da andernfalls die Verfassungstheorie zur freien Disposition gestellt werden würde: „Es ist nicht schon hinreichend, dass eine solche Verfassungstheorie überhaupt vorhanden ist, unabhängig von ihrem Inhalt. Bleibt die Verfassungstheorie für den Interpreten frei wählbar, verbunden nur mit der Erwartung, dass sie als Interpretationsvorgabe offengelegt wird, nehmen topisches Verfahren und unkontrollierbares Ausufern der Interpretation ihren Fortgang; das ungelöste Problem wird nur auf die Ebene von Ethos und Redlichkeit verlagert. Die Verfassung gerät dabei – bewusst oder unbewusst – zu einem nurmehr formalen Gehäuse, das durch die Tür seiner Interpretation nach- und nebeneinander sehr verschiedenen, auch heterogenen Ordnungsvorstellungen Einlass gewährt, ohne selbst von einer solchen getragen zu sein. Je nach dem Ansatz der gewählten ,Theorie‘ ergibt sich nicht nur in Einzelheiten, sondern auch im Grundsätzlichen ein unterschiedlicher Verfassungsinhalt.“2 Fraglich ist jedoch, ob eine verfassungsmäßige Verfassungstheorie überhaupt möglich wäre oder ob diesem Anspruch ein logischer Fehlschluss zugrunde liegt. Man könnte meinen, die Suche nach einer verfassungsmäßigen Verfassungstheorie stelle selbst einen Interpretationsvorgang dar, der sich nicht von seinem Vorverständnis lösen lasse. Die in der Verfassung gefundenen Ergebnisse würden dann nur die Bestätigung des mitgebrachten Vorverständnisses darstellen. Wimmer erläutert das Problem des Zirkelschlusses wie folgt: „Die Einsicht, dass die Schlüssigkeit jeglicher verfassungsrechtlichen Argumentation erst durch den meist unausgesprochenen Bezug zu einem normtranszendenten, vom Verfassungsinterpreten und nicht von der positiven Verfassung gesetzten Deutungsgrund hergestellt wird, muss für eine Lehre, die die Objektivität ihres wissenschaftlichen Verfahrens aus dessen ,Voraussetzungslosigkeit‘ ableiten will, alles andere als angenehm sein. Die Forderung nach einer ,objektiven‘ Interpretationstheorie gerät dadurch zwangsläufig in einen Zirkel: einerseits soll die Methode der Verfassungsinterpretation der Verfassung entnommen werden, soll also die Frage, nach welchen Grundsätzen ,richtig‘ interpretiert wird, am Maßstab der einzelnen Verfassungsnormen gelöst werden. Nun hängt aber der Inhalt der einzelnen Verfassungsnorm […] von der methodischen Grundeinstellung des Interpreten ab.“3 Danach würde man bestenfalls dasjenige aus der Verfassung „herausholen“, was man zuvor in sie „hineingelegt“ hat. Rensmann versucht, diesem Zirkel durch eine europäische und internationale Einbindung des Grundgesetzes, genauer, durch die Annahme einer grenzüberschreitenden Werttheorie, zu entkommen. Anlass dafür müssen nicht erst die fortschreitenden Europäisierungs- und Internationalisierungsprozesse sein. Wie RensVerfassungssystems ergeben, wie es in den einzelnen Normierungen der Verfassung sich ausprägt (konkretisiert) bzw. ihnen zugrunde liegt.“ 2 Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2098. 3 Wimmer, S. 26 f. Ähnlich Stern, Grundrechtsauslegung, S. 404. Vgl. auch Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 128 ff.; Mahlmann, S. 17 (m.w.N.): „Eine Grundrechtstheorie kann nicht durch den Inhalt der Grundrechte bestimmt werden, deren Inhalt sie selbst festlegen soll.“

A. Argumentationsrahmen

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mann herausgearbeitet hat, stand schon dem Parlamentarischen Rat bei seinen Beratungen vor allem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vor Augen.4 Doch dass der Blick auf internationale Menschenrechtsstandards einen „Ausweg aus dem hermeneutischen Zirkel“5 weisen könnte, erscheint fraglich. Wenn man davon ausgeht, die Verpflichtungsstruktur der völkerrechtlichen Menschenrechte folge durch die Anerkennung menschenrechtlicher Schutz- und Förderpflichten einem weiten Grundrechtsverständnis,6 mag dies die Plausibilität des Werteordnungsdenkens erhöhen. Problematisch wäre aber der von Rensmann nahegelegte Schluss vom Völkerrecht auf das Verfassungsrecht und das Verfassungsverständnis.7 Denn damit würde man den völkerrechtlichen Menschenrechten trotz Art. 25 GG und Art. 59 Abs. 2 GG überverfassungsrechtlichen Rang einräumen.8 Möglicherweise liegt der Schlüssel aber auch nicht darin, dem hermeneutischen Zirkel durch außerverfassungsrechtliche Bezugnahmen zu entkommen. Um dies zu verdeutlichen, soll im Gedankengang zunächst noch einmal zurückgegangen werden: 1. Welchen Sinn hat die Frage nach dem Verfassungsverständnis? – Sie soll dazu 4

Rensmann, S. 25 ff. Rensmann, S. 205 ff. 6 Rensmann, S. 215 ff., S. 240: „In der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs und des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen ist heute die ganze Bandbreite der vom Bundesverfassungsgericht unter der Chiffre der ,objektiven‘ Grundrechtsgehalte ausgearbeiteten Wirkungsmodalitäten abgebildet.“ 7 Rensmann, S. 410: „Die Flankierung der Grundrechte durch Schutz- und Förderpflichten findet heute aber Rückhalt in den auf europäischer und universaler Ebene konsentierten Menschenrechtsstandards. Da Art. 1 Abs. 2 GG – wie das Bundesverfassungsgericht in der Görgülü-Entscheidung bekräftigt hat – die menschenrechtskonforme Auslegung zur ,verfassungsrechtlichen Pflicht‘ erhebt, muss sich auch in den verfassungskräftig verbürgten Grundrechten die duale Verpflichtungsstruktur der völkerrechtlichen Menschenrechte als ,duty zu respect‘ und ,duty to ensure‘ niederschlagen.“ Vgl. aber auch die etwas abgeschwächte Formulierung im Sinne einer „rationalen Abstützung“ ebda, S. 240. 8 Zum innerstaatlichen Rang des Völkerrechts BVerfGE 74, 358, 379; E 83, 119, 128 und BVerfGE 111, 307, 318 (Görgülü): „Das Grundgesetz ist jedoch nicht die weitesten Schritte der Öffnung für völkerrechtliche Bindungen gegangen. Das Völkervertragsrecht ist […] nicht mit dem Rang des Verfassungsrechts ausgestattet. […] Die Völkerrechtsfreundlichkeit entfaltet Wirkung nur im Rahmen des demokratischen und rechtsstaatlichen Systems des Grundgesetzes. Das Grundgesetz erstrebt die Einfügung Deutschlands in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten, verzichtet aber nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität.“ Weitergehend im Hinblick auf die menschenrechtskonforme Auslegung als integralen Bestandteil des klassischen Auslegungskanons, Rensmann, S. 207 ff.; a.A. und m.w.N. Höfling, in: Sachs, GG, Rn. 77 zu Art. 1: „Indes kann aus Art. 1 II kein verbindliches Gebot der menschenrechtskonformen Verfassungsinterpretation bzw. kein (verfassungsbeschwerdefähiges) Recht auf Grundrechtsauslegung im Lichte der EMRK abgeleitet werden. Ausgeschlossen ist es ferner, auf dem Umweg über Art. 1 II Menschrechtsabkommen Verfassungsrang beizumessen. Es ist heute unbestrittene Ansicht, dass der Rechtssatzcharakter des Art. 1 II nicht in der unmittelbaren Konstitutionalisierung zusätzlicher Rechte gesehen werden kann. Der verbindliche Normgehalt des Art. 1 II beschränkt sich somit auf das Verbot, den Grundrechtsbestand in einer Weise abzusenken, dass der menschrechtliche Mindestgehalt (…) unterschritten wird.“ 5

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4. Teil: Rahmenordnung versus Werteordnung

führen, die die Verfassungsinterpretation leitenden Gesichtspunkte zu reflektieren. Daraus folgt die 2. Frage: Sollen oder dürfen die festgestellten Gesichtspunkte der Interpretation zugrunde gelegt werden? – Wenn man dazu die Verfassung befragt, unterläge man nur dann einem logischen Fehlschluss, wenn man das Vorverständnis in der Verfassung nur zu bestätigen versuchte, ohne es kritisch anhand der Verfassungsnormen zu hinterfragen. Dann bliebe man nämlich dem Vor-verständnis als Vorurteil verhaftet. Doch muss man bei diesem „Vor-urteil“ nicht stehen bleiben. Vielmehr kann die Reflexion auf das Verfassungsverständnis genutzt werden, um es wieder mit den konkreten Verfassungsnormen zu vergleichen und einen vertieftes Verständnis des Verfassungstextes zu erreichen. Dies übersieht Morlok, wenn er meint, man könne dem hermeneutischen Zirkel letztlich – auch durch eine kritische Bewährung an der Verfassung – nicht entkommen.9 Bei einer Textinterpretation geht es nicht darum, dem hermeneutischen Zirkel zu entkommen, sondern – wie Heidegger anschaulich formuliert hat – in ihn hinein zu kommen: „Aber in diesem Zirkel ein vitiosum sehen und nach Wegen Ausschau halten, ihn zu vermeiden, ja ihn auch nur als unvermeidliche Unvollkommenheit ,empfinden‘, heißt das Verstehen von Grund aus missverstehen. […] Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen.“10 Die Reflexion auf das Vorverständnis und die Frage nach der Zulässigkeit des Vorverständnisses stellen danach eine Vertiefung des Verstehensprozesses dar. Die Verwechslung dieses hermeneutischen Vorgangs mit logischen Fehlschlüssen hätte zur Folge, dass die Reflexion auf das Vorverständnis selbst sinnlos wäre. Die Reflexion auf das Vorverständnis – hier auf die Verfassungstheorie – hat aber gerade gezeigt, wie wichtig es ist, die – zumeist unbewussten – Vorannahmen, seien sie moralischer oder staatstheoretischer Art, sichtbar zu machen und zu überprüfen, ob diese Vorannahmen nach der Verfassung geboten, möglich oder ausgeschlossen sind. Die Reflexion auf das Verfassungsverständnis zieht damit notwendig seine kritische Bewährung an der Verfassung nach sich.11

9 Morlok, S. 135: „Solange die Prüfkriterien einer verfassungsgemäßen Verfassungstheorie nicht greifbarer herausgearbeitet sind, muss entgegen Böckenförde davon ausgegangen werden, dass der Verfassung nur sehr viel weniger klare Direktiven und Inhaltsbestimmungen für eine Verfassungstheorie abzugewinnen sind. Auch durch eine Bewährung an der Verfassung ist dem hermeneutischen Zirkel nicht zu entkommen: Die Prüfkriterien sind je schon theoretisch aufgeladen.“ 10 Heidegger, S. 153. 11 Böckenförde, Verfassungsinterpretation, S. 2098. Vgl. auch Hesse, Grundzüge, S. 25: „Die damit sich stellende Aufgabe der Begründung des Vor-Verständnisses ist vor allem eine Aufgabe der Verfassungstheorie, die ihrerseits keine beliebige ist, wenn sie im Blick auf die konkrete Verfassungsordnung gewonnen und in fortwährendem Geben und Nehmen durch die konkrete Fallpraxis bestätigt und korrigiert wird.“

A. Argumentationsrahmen

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II. Annäherungen zwischen Rahmen- und Werteordnung Angesichts der Probleme sowohl des Werteordnungsverständnisses nach Alexy als auch des Rahmenordnungsverständnisses nach Böckenförde liegt es nahe, Annäherungen zwischen Rahmen- und Werteordnung in Betracht zu ziehen. Dabei ist aber zu unterscheiden zwischen begrifflichen und konzeptionellen Annäherungen. Hervorzuheben ist insoweit, dass gerade Böckenförde und Alexy Beispiele für bloß begriffliche Annäherungen geben. So bildet Alexy in seinem Nachwort zur englischen Fassung der „Theorie der Grundrechte“ neue Begriffe von Grund- bzw. Werteordnung und Rahmenordnung.12 Ausgangspunkt dafür ist die Annahme von drei möglichen verfassungstheoretischen Szenarien: 1. Ein Modell, das der Legislative überhaupt keine Grenzen setzt, d. h. unbegrenzten Spielraum zubillige („purely procedural model of a constitution“).13 2. Ein Modell, in dem die Verfassung alles bestimme und jeglichen Spielraum ausschließe („a purely substantive one“).14 3. Ein Modell, in dem definitive Verbote und Gebote den verfassungsrechtlichen Rahmen bilden, zugleich aber Spielräume für den Gesetzgeber bereithielten („the substantive-procedural model“).15 Von diesen drei Modellen sei das dritte als Rahmenordnung zu qualifizieren, da eine solche Verfassung durch Ge- und Verbote Grenzen setze und zugleich Freiräume biete.Mit diesem Rahmenordnungsverständnis sei ein Grundordnungsverständnis unvereinbar, wonach die Verfassung alles bestimme oder überhaupt keine Grenzen setze („quantitative Grundordnung“).16 Kompatibel sei die Rahmenordnung aber mit einem Grundordnungsverständnis, das einerseits die fundamentalen Fragen regeln und andererseits auch Spielräume gewähren würde („qualitative Grundordnung“). Rahmen- und (qualitative) Grundordnung konvergieren demnach, wenn sie jeweils darauf gerichtet sind, verfassungsrechtliche Grenzen zu setzen und gesetzgeberische Spielräume zu gewähren. Sie unterscheiden sich von Modellen, die keine verfassungsrechtlichen Grenzen setzen oder keine gesetzgeberischen Spielräume gewähren. Auf dieser abstrakten Ebene sind Rahmen- und Grund- bzw. Werteordnung kompatibel. Die Begriffe sind allerdings so definiert, dass die Kompatibilität unausweichlich ist. Denn den Extrempositionen, wonach die Verfassung alles bestimme oder alles offenlasse, könnte man vernünftigerweise nicht zustimmen. Innerhalb des dritten „substantive-procedural model“ dürften dann nahezu alle vertretenen und vertretbaren verfassungstheoretischen Ansätze aufgehen. Diese be12

Das Nachwort ist bisher nur in der englischen Fassung erschienen. Zur Vereinbarkeit von Rahmen- und Werteordnung siehe auch Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 14; ders., Grundrechte auf Schutz, S. 108. 13 Alexy, Postscript, S. 391. 14 Alexy, Postscript, S. 392. 15 Alexy, Postscript, S. 393. 16 Alexy, Postscript, S. 394; ders., Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 14 f.

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4. Teil: Rahmenordnung versus Werteordnung

griffliche Annäherung zwischen Rahmen- und Grund- bzw. Werteordnung ist zweifellos zulässig, ihr Aussagegehalt allerdings fragwürdig. Die entscheidenden verfassungsrechtlichen Diskussionen handeln nicht davon, der Verfassung jegliche Bindung abzusprechen oder aus ihr alles abzuleiten. Zu der maßgeblichen Frage nach dem Ausmaß der verfassungsrechtlichen Bindung tragen die neuen Begriffe von Rahmen- und Grundordnung hingegen nichts bei. Die analytische Klarheit der Prinzipientheorie wird hier verlassen zugunsten einer begrifflichen Harmonisierung, die die nach wie vor bestehenden konzeptionellen Unterschiede verdeckt. Eine subtilere Form von Annäherung zwischen Rahmen- und Werteordnung zeigt sich bei Böckenförde. So konstatiert er eine zunehmende Anhängerschaft zu seiner Rahmenordnungsposition, ohne auf die jeweiligen konzeptionellen Unterschiede zu verweisen.17 Der Verweis auf Grimm ist bedeutsam. Zum einen spricht Grimm ausdrücklich von der Verfassung als Rahmenordnung.18 Zum anderen hat er sich in seinem verfassungsgerichtlichem Sondervotum für ein enges grundrechtliches Schutzbereichsverständnis der freien Entfaltung der Persönlichkeit ausgesprochen.19 Abgesehen davon redet Grimm aber einer Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis – wie sie Böckenförde vorschwebt – gerade nicht das Wort.20 Einer differenzierten Beurteilung bedürfen auch die vermeintlichen Anhänger Eichenberger und Unruh: Eichenberger lässt eine Sympathie zum Rahmenordnungsverständnis erkennen, allerdings ohne konkreten Bezug zum deutschen Grundgesetz.21 Und Unruh spricht sich für eine Harmonisierung von Rahmenordnungs- und Optimierungskonzept aus.22 Die bloße Bezugnahme zum Rahmenordnungsbegriff reicht damit nicht aus, um eine Anhängerschaft zum Rahmenordnungskonzept zu belegen.23 Rein begriffliche Annäherungen zwischen Rahmen- und Werteordnung mögen auf einer oberflächlichen Ebene Konsensfähigkeit suggerieren. Da sie dabei aber die nach wie vor bestehenden konzeptionellen Unterschiede verschleiern, führen sie die Diskussion nicht weiter.24 Konzeptionelle Annäherungen zwischen Rahmen- und Werteordnung sind freilich nicht ausgeschlossen. 17 Böckenförde, Schutzbereich, S. 186, Fn. 86: „Zur Verfassung als Rahmenordnung zuerst Böckenförde (…). Diese Auffassung findet zunehmen Anhänger, vgl. statt anderer Rainer Wahl, […]; Dieter Grimm, […]; Kurt Eichenberger, […]; Starck […]; jüngst Peter Unruh […]“. 18 Grimm, Verfassung, S. 17. 19 BVerfGE 80, 137, 164 ff. (Reiten im Walde). 20 Grimm, Grundrechtsverständnis, S. 221 ff. 21 Eichenberger, S. 232 ff. 22 Unruh, S. 414 f. 23 Vgl. auch Schulze-Fielitz, S. 267, der darauf verweist, hinter dem scheinbaren Plädoyer für die Offenheit des demokratischen Prozesses innerhalb der Verfassung als Rahmenordnung würden sich mitunter offensive Bindungen für den Gesetzgeber verbergen. 24 So verwundert es nicht, dass der Nutzen der analytischen Unterscheidung nicht mehr gesehen wird, vgl. dazu die kritische Haltung von H. Dreier, Grundlagen, § 1 Rn. 87 und oben Einleitung, A., Fn. 5.

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B. Denken von der Verfassung her Das Rahmenordnungsdenken einerseits und das Werteordnungsdenken andererseits führen zu einer unterschiedlichen Gewichtung der materiellen und formellen bzw. funktionell-rechtlichen Verfassungsgehalte. Während das Werteordnungsdenken auf die Verwirklichung der Verfassungswerte, vor allem der Grundrechte, im einfachen Recht drängt, steht das Rahmenordnungsdenken für eine möglichst weitgehende Unabhängigkeit des einfachen Gesetzgebers und der Wahrung der Verfassungsstruktur. Die jeweils unterschiedlichen Ausgangs- und Zielpunkte der Verfassungsauslegung führen zu den Vorwürfen, entweder die gesetzgeberische und demokratische oder die verfassungs- und rechtsstaatliche Perspektive zu vernachlässigen. Doch sind diese Vorwürfe gleichermaßen berechtigt oder kann einer Perspektive der Vorrang eingeräumt werden?

I. Rechtsstaat und Demokratie Ausgehend von dem Anspruch einer verfassungsmäßigen Verfassungstheorie stellt sich die Frage, ob sich die verfassungstheoretischen Ansätze von Alexy und Böckenförde an der Verfassung bewähren. Nach den bisherigen Untersuchungsergebnissen lässt sich die insoweit entscheidende Frage wie folgt zuspitzen: Beschreiben das Rahmenordnungs- und das Werteordnungsdenken das Zusammenspiel von Demokratie und Grundrechten bzw. von Demokratie und Rechtsstaat auf plausible und verfassungsrechtlich zulässige Weise? 1. Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaat und Demokratie Ein Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaat und Demokratie entsteht nicht, wenn man den Rechtsstaatsbegriff nur formal, in seiner „auf die Schaffung formaler und verfahrensmäßiger Garantien zur Gewährleistung gesetzlicher Freiheit zurückgenommenen Bedeutung“ versteht.25 Der Gesetzgeber wäre nur an die Beachtung formaler Garantien und Verfahren gebunden, um Recht zu begründen. Problematisch wird das Verhältnis zwischen Rechtsstaat und Demokratie, wenn die „Allmacht des Gesetzgebers“ durch einen materiell angereicherten Rechtsstaatsbegriff begrenzt wird, wenn also „die staatliche Gewalt vorab an bestimmte Rechtsgrundsätze oder Rechtswerte gebunden […] und der Schwerpunkt staatlicher Tätigkeit nicht primär in der Gewährleistung formaler Freiheitsverbürgungen, sondern in der Herstellung eines materiell gerechten Rechtszustandes gesehen wird“.26 Unabhängig von der Frage, wie man den formellen und materiellen 25 Zum formellen Rechtsstaat Böckenförde, Rechtsstaatsbegriff, S. 157 und Forsthoff, oben S. 142 f. 26 Böckenförde, Rechtsstaatsbegriff, S. 164.

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4. Teil: Rahmenordnung versus Werteordnung

Rechtsstaat im Einzelnen ausbuchstabiert,27 zeigen die materiellen Sicherungen des Grundgesetzes, insbesondere Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 79 Abs. 3 GG, dass ein formelles Rechtsstaatsverständnis nicht mit der Verfassung in Einklang zu bringen wäre.28 Die Souveränität des Volkes hat sich vielmehr in der Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt29 niedergeschlagen, die Macht des verfassungsändernden und des einfachen Gesetzgebers zu beschränken.30 Den Grund für diese Selbstbeschränkung sieht v. Mangoldt in dem fehlenden Vertrauen in die Vernunft des Gesetzgebers: „Zum Verständnis [erg.: der Grundrechtsbindung des Gesetzgebers] muss man sich vergegenwärtigen, dass der Gesetzgeber heute nicht mehr das Vertrauen genießt, das ihm in der Vergangenheit entgegengebracht wurde. Wenn das 19. Jahrhundert in dem Glauben lebte, dass durch die Beteiligung der Volksvertretungen an der Gesetzgebung die Eigensphäre der Persönlichkeit ausreichend gegen die Übermacht der Staatsgewalt gesichert sei, so hat insbesondere die jüngere Vergangenheit gezeigt, dass auch bei den Volksvertretungen der Sinn für den Wert der Persönlichkeit verloren gehen und sie ihre Aufgabe vergessen können, Schützer der Individualsphäre zu sein. Als einzig möglicher Schutz dieser Sphäre bleiben damit die Sätze des objektiven Rechts, die auch das oberste Staatsorgan, die Volksvertretungen, als Gesetzgeber binden. Dieser Weg ist im Grundgesetz beschritten.“31 Die grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Begrenzungen der Demokratie führen so zu einem gewissen Spannungsverhältnis zwischen (materiellem) Rechtsstaat und Demokratie. Fraglich ist, wie dieses Spannungsverhältnis unter dem Grundgesetz aufzulösen ist: zugunsten des (materiellen) Rechtsstaats, zugunsten der Demokratie oder zugunsten einer Einheit zwischen (materiellem) Rechtsstaat und Demokratie? In welchem Verhältnis stehen Rechtsstaat und Demokratie zueinander? 2. Einheit zwischen (materiellem) Rechtsstaat und Demokratie Man könnte Demokratie und Rechtsstaat als voneinander unabhängige Formprinzipien ansehen, die auf unterschiedliche Fragen antworten, nämlich der Frage nach dem Träger der staatlichen Gewalt einerseits (Demokratie) und der Frage nach 27

Ausführlich dazu Böckenförde, Rechtsstaatsbegriff S. 143 ff. Auf die Frage, ob es sich beim Rechtsstaat um ein selbständiges Prinzip oder „nur“ um ein Sammelprinzip handelt, kommt es insoweit nicht an. Zum Rechtsstaat als Sammelprinzip vgl. insbesondere Kunig, Rechtsstaatsprinzip; a.A. Sobota, S. 399 ff.; zusammenfassend und m.w.N. Unruh, S. 469 ff. 29 Freilich unter Einfluss der alliierten Besatzungsmächte, vgl. Mußgnug, § 8 Rn. 22 ff. 30 Siehe auch oben S. 217. Vgl. auch Grimm, Rechtsstaat, S. 708: „Das demokratische Ärgernis geben nicht die formellen, sondern die materiellen Bindungen der Rechtserzeugung. In einer demokratisch zustandegekommenen Verfassung sind freilich auch diese Produkt einer demokratischen Entscheidung, und zwar einer Entscheidung, die auf breiterem Konsens beruht als Entscheidungen des einfachen Gesetzgebers.“ 31 v. Mangoldt, GG, Anm. 4 zu Art. 1, S. 45. Zur fehlenden Vernunftgewähr des Mehrheitswillens auch Grimm, Rechtsstaat, S. 708. 28

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Inhalt, Umfang und Verfahrensweise staatlicher Tätigkeit andererseits (Rechtsstaat).32 Die Zusammenfügung von Rechtsstaat und Demokratie ist danach nicht schon notwendig zur Verwirklichung von Rechtsstaat und Demokratie, sondern eine Folge von bestimmten Verfassungsbedingungen. Nicht jede Demokratie muss eine rechtsstaatliche bzw. konstitutionelle sein, ebenso wenig wie der Rechtsstaat ein demokratischer sein muss – wie der Rechtsstaat der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts belegt.33 Als voneinander unabhängige Formprinzipien könnten Rechtsstaat und Demokratie jeweils einzeln verwirklicht werden. Doch welcher Rechtsstaat entsteht ohne Demokratie und welche Demokratie ohne Rechtsstaat? Denkt man den Rechtsstaat ohne Demokratie, so stellt sich die Frage nach der Herrschaftsbegründung. Ohne freie und gleiche Herrschaftsbegründung könnte man auch den Rechtsstaat als nicht verwirklicht ansehen. Es sei denn, man legt weiterhin den wenig anspruchsvollen historischen Rechtsstaatsbegriff des 19. Jahrhunderts zugrunde, der nicht zwingend auf die Sicherung von Grundrechten ausgerichtet war.34 Die Trennung des Rechtsstaats von der Demokratie enthält damit historische Implikationen, die in der Gegenwart nicht gelten müssen – erst recht nicht nach Maßgabe des Grundgesetzes.35 Die Demokratie ohne den Rechtsstaat zu denken, könnte demgegenüber zu einer „Tyrannei der Mehrheit“ führen.36 Die Mehrheitsregel ist für die Minderheit aber nur 32 Böckenförde, Demokratie, Rn. 82 f.; ähnlich H. Dreier, in: H. Dreier, GG, Rn. 150 zu Art. 20 (Demokratie); Sobota, S. 444 f.; Unger, S. 236. 33 Böckenförde, Demokratie, Rn. 84; Sobota, S. 446; Schmitt, Verfassungslehre, S. 200 f. 34 Sobota, S. 446 f. 35 Nach Sobota, S. 446 f., folgt daraus aber keine Anpassung des Rechtsstaatsprinzips an die grundgesetzlichen Ausprägungen. Vorzuziehen sei ein Zurückschneiden des Rechtsstaats auf die Gehalte seiner ursprünglichen Funktionen. 36 Grundlegend dazu Toqueville, S. 145 („Tyrannei der Mehrheit“), S. 147 f.: „Und was mich in Amerika am meisten abstößt, ist nicht die dort herrschende äußerste Freiheit, sondern der geringe Schutz gegen die Tyrannei. Erfährt in den Vereinigten Staat ein Mensch oder eine Partei eine Ungerechtigkeit, an wen sollen sie sich wenden? An die öffentliche Meinung? Gerade sie bildet die Mehrheit. An die gesetzgebende Gewalt? Sie repräsentiert die Mehrheit und gehorcht ihr blind. An die ausführende Gewalt? Sie wird von der Mehrheit ernannt und ist deren gehorsames Werkzeug. An die Geschworenen? Das Geschworenenkollegium ist die Mehrheit mit dem Recht, Urteile zu fällen: in manchen Staaten werden die Richter sogar von der Mehrheit gewählt. […] Stellen wir uns dagegen eine gesetzgebende Gewalt vor, die die Mehrheit repräsentiert, ohne notwendig der Sklave von Leidenschaften zu sein; eine ausführende Gewalt, die eine angemessene Macht besitzt, und eine richterliche Gewalt, die von den anderen beiden Gewalten unabhängig ist; auch dann haben wie eine Demokratie, aber für die Tyrannei wird es kaum noch Chancen geben.“ Siehe auch Mill, S. 8 ff: „Aber in politischen und philosophischen Theorien so gut wie bei Personen enthüllt der Erfolg Fehler und Schwächen, die der Beobachtung bei einem Versagen verborgen geblieben wären. Die Meinung, dass das Volk es nicht nötig hat, seine Macht über sich zu beschränken, mochte grundsätzlich richtig erscheinen, solange Volksregierung etwas war, wovon man nur träumte oder las, sie habe in ferner Vergangenheit bestanden. […] Das Volk, welches die Macht ausübt, ist nicht immer dasselbe Volk wie das, über welches sie ausgeübt wird, […]. Überdies bedeutet der Wille des Volkes praktisch den Willen des zahlreichsten oder des aktivsten seiner Teile, nämlich der

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dann erträglich, wenn letztere durch den Schutz grundrechtlicher Freiheiten die Chance behält, selbst zur Mehrheit zu werden. Bezogen auf das Grundgesetz führt Hesse zur Mehrheitsregel aus: „Wäre Demokratie im Sinne des Grundgesetzes nichts anderes als Mehrheitsherrschaft, dann würde sie die Möglichkeit einer Mehrheitsdiktatur enthalten, die sich von einer Minderheitsdiktatur lediglich durch die geringere Zahl der Unterdrückten unterscheidet. […] Wenn in einem pluralistischen Gemeinwesen der politische Prozess Sache des ganzen Volkes sein soll, dann kommt es nicht nur auf die Mehrheit, sondern auch auf die Minderheiten an. Das Grundgesetz betrachtet deshalb die Minderheiten nicht als Gruppen, die im Irrtum über das Wahre und Richtige sind und im Namen eines fingierten Gemeinwillens unterdrückt oder ausgeschaltet werden dürfen. Es sichert vielmehr die Position von Minderheiten, und es sichert damit zugleich die reale Möglichkeit der Austragung von Konflikten. Dies sucht es dadurch zu bewirken, dass es im Rahmen des institutionell Möglichen mit dem Prinzip der Legitimation der Herrschaft durch die Mehrheit des Volkes unlösbar die Gewährleistung der real gleichen Chance der Minderheiten verbindet, einmal zur Mehrheit zu werden – […].“37 Die Trennung des Rechtsstaats von der Demokratie hätte also Einbußen an demokratischer Legitimation zur Folge. Daher liegt es nahe, zumindest die demokratischen Grundrechte auch der Demokratie zuzurechnen.38 Sie dienen nicht nur der persönlichen Freiheit, sondern auch der Ermöglichung von Demokratie. Habermas geht noch weiter und sieht nicht nur die Grundrechte, die die politische Autonomie sichern, sondern auch die GrundMehrheit oder derjenigen, denen es gelingt, sich als die Mehrheit anerkennen zu lassen. Das Volk kann infolgedessen beabsichtigen, einen Teil der Gesamtheit zu bedrücken, und Vorsichtsmaßregeln dagegen sind ebenso geboten wie gegen jeden anderen Missbrauch der Gewalt. […] und in politischen Theorien wird nun die ,Tyrannei der Mehrheit‘ allgemein unter die Übel gerechnet, gegen welche die Gesellschaft auf der Hut sein muss. […] Schutz gegen die Tyrannei der Behörde ist daher nicht genug, es braucht auch Schutz gegen die Tyrannei des vorherrschenden Meinens und Empfindens, […].“ 37 Hesse, Grundzüge, Rn. 154; vgl. auch Grimm, Rechtsstaat, S. 708 f.: „Auch bei Vorsorge für die Gleichberechtigung der Minderheit durch Unabänderlichkeit der Mehrheitsregel kann ihr Recht, selbst Mehrheit zu werden, jedoch nur real existent gehalten werden, wenn sie auch die gleichen Wirkungsbedingungen genießt wie die Mehrheit. Dies verlangt zum Beispiel die Freiheit der Nichtidentifikation mit den Herrschenden, ein offenes und unverzerrtes Kommunikationssystem, Sicherheit vor staatlicher Rache im elementaren Bereich der Daseinsvorsorge und des Berufslebens. Man könnte statt dieser Formulierungen auch den Grundrechtskatalog verlesen. Ohne Grundrechte gibt es keinen Grund für die Mehrheitsregel.“ Es sei daher ein Fehler, Demokratie mit unbeschränkter Freiheit des Gesetzgebers zu identifizieren: „Diese Freiheit ist ja ambivalent. Heute so genutzt, kann sie in einem Jahr schon anders gewendet werden. Der Rechtsstaat ist dann aber nicht nach Bedarf umpolbar. Entweder bindet er als materieller jeden demokratisch gewählten Gesetzgeber an die Gelingensvoraussetzungen von Demokratie, oder er entlässt als formaler jeden demokratisch gewählten Gesetzeber in die völlige Entscheidungsfreiheit. […] Es ist also daran festzuhalten, dass die Legitimität demokratischer Systeme auf Prinzipien und Verfahren beruht. Grundrechte allein drohen die Gleichheit zu verfehlen. Verfahren allein droht die Freiheit zu verfehlen. Daher ist der materielle Rechtsstaat der falsche Gegner der wahren Demokraten.“ 38 Böckenförde, Demokratie, Rn. 86, 93 f.; H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 38 ff.

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rechte, die die private Autonomie sichern, als Ermöglichung der Demokratie an: „Darin spricht sich die Intuition aus, dass einerseits die Staatsbürger von ihrer öffentlichen Autonomie nur dann einen angemessenen Gebrauch machen können, wenn sie aufgrund einer gleichmäßig gesicherten privaten Autonomie hinreichend unabhängig sind; dass sie aber nur dann zu einer konsensfähigen Regelung ihrer privaten Autonomie gelangen können, wenn sie als Staatsbürger von ihrer politischen Autonomie einen angemessenen Gebrauch machen können.“39 In dieser gegenseitigen Abhängigkeit zeige sich der interne Zusammenhang zwischen Rechtsstaat und Demokratie bzw. ihre Gleichursprünglichkeit.40 Man könnte meinen, die Überlegungen seien für den grundgesetzlichen Verfassungsstaat unbeachtlich. Schließlich folge die Verbindung und Einheit zwischen Rechtsstaat und Demokratie bereits aus dem Grundgesetz selbst. Das Grundgesetz sichert beides, die Demokratie und den Rechtsstaat.41 Der grundgesetzliche Verfassungsstaat ist damit als demokratischer Rechtsstaat42 bzw. als rechtsstaatliche Demokratie zu verwirklichen.43 Bedeutend ist allerdings, ob man darin die Verbindung von gegensätzlichen, einander beschränkenden Geboten sieht oder die Verbindung von sich ergänzenden und fördernden Geboten.44 Je mehr man den 39 Habermas, Rechtsstaat und Demokratie, S. 302. Zur Gleichursprünglichkeit ebda, S. 293 ff.; ders., Faktizität und Geltung, S. 122 f., 154 f. 40 Habermas, Rechtsstaat und Demokratie, S. 293 ff., 299 f.; ders., Faktizität und Geltung, S. 122 f., 154 f. 41 Im Gegensatz zur Demokratie fehlt allerdings ein ausdrücklicher Verweis auf den Rechtsstaat in Art. 20 Abs. 1 GG. Zur Verortung des Rechtsstaatsprinzips in Art. 20 Abs. 1 GG vgl. BVerfGE 63, 343, 353; Schmidt-Aßmann, § 26 Rn. 3; Sachs, in: Sachs, GG, Rn. 76 zu Art. 20 oder in Art. 20 GG: Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 32 f. zu Art. 20 (Abschnitt VII), Stand: November 2006; zur Verortung in der Gesamtheit der insoweit einschlägigen Bestimmungen BVerfGE 2, 380, 403; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 32 f. zu Art. 20 (Abschnitt VII), Stand: März 2006; Stern, Staatsrecht I, S. 779 ff.; zur weiteren uneinheitlichen Rechtsprechung des BVerfG, das das Rechtsstaatsprinzip mit Bezug auf Art. 20 Abs. 2 und 3 GG nennt oder auf Art. 20 Abs. 3 GG abstellt oder auf die Nennung konkreter Verfassungsnormen verzichtet Sachs, in: Sachs, GG, Rn. 75 zu Art. 20 m.w.N. 42 So die Formulierung in Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG, siehe auch Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG. 43 Siehe nur BVerfGE 2, 1, 12 f. (SRP): „So lässt sich die freiheitliche demokratische Grundordnung als eine Ordnung bestimmen, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt.“; Hesse, Rechtsstaat, S. 112 ff., spricht von „einem Verhältnis der wechselseitigen Bedingtheit und Ergänzung“; Stern, Staatsrecht I, S. 623 ff. (m.w.N. und insbesondere mit Hinweis auf Kägi), ebda, S. 623: „Die Untrennbarkeit beider Prinzipien konturiert das grundgesetzliche Verfassungsbild […].“; ebda, S. 870 f.; Schmidt-Aßmann, § 26 Rn. 96; Böckenförde, Demokratie, Rn. 83; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 42 ff. zu Art. 20 (Abschnitt I), Stand: November 2006; Sobota, S. 449; Schulze-Fielitz, in: H. Dreier, GG, Rn. 225 zu Art. 20 (Rechtsstaat). 44 Vgl. Wolff, S. 86: „Das Grundgesetz nimmt beide Garantien in seinen Normtextbestand nicht deshalb zusammen auf, um auf diese Weise diesen Garantien wegen ihrer angeblichen Gegensätzlichkeit die Wirkungskraft zu nehmen. Durch die Verbindung soll für den Bürger und für den Staat ein Gewinn entstehen; […].“

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Gegensatz zwischen Rechtsstaat und Demokratie betont, desto eher besteht die Gefahr, Rechtsstaat und Demokratie gegeneinander auszuspielen.45 Und je weniger man die Angewiesenheit aufeinander berücksichtigt, desto eher besteht die Gefahr, dass Rechtsstaat und Demokratie ohne einander verwirklicht werden.

II. Gefährdungen durch Macht und Moral Alexy und Böckenförde streben die Einheit zwischen Rechtsstaat und Demokratie an. Alexy durch die Vereinbarkeit von materiellen und formellen Prinzipien, Böckenförde durch die Sicherung der rechtsstaatlichen Verfassungsstruktur und der rechtsstaatlichen Freiheit. Doch können das Werte- und Rahmenordnungsdenken in dieser Hinsicht überzeugen? Bringen sie Rechtsstaat und Demokratie auch in ihren Ausprägungen als Denken von der Moral her und als Denken vom Staat her überzeugend in Einklang? 1. Rechtsstaat und Moral Das Werteordnungsdenken tritt nicht nur juristisch als Prinzipiendenken in Erscheinung, sondern auch als Denken von der Moral her. Bereits die Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG hat die Möglichkeit einer transzendenten und einer nicht transzendenten Lesart des Werteordnungsdenkens gezeigt. Im Zentrum der nicht transzendenten Lesart der Werteordnungsrechtsprechung steht das Ziel, die Geltungs- und Wirkkraft der Grundrechte zu verstärken. Insbesondere mit den objektiven Grundrechtsfunktionen soll eine effektive Grundrechtsverwirklichung in allen Bereichen des Rechts gegenüber jeder staatlichen Gewalt gewährleistet werden. In ihren Grenzen, insbesondere den Abwägungs- und Kompetenzgrenzen, ist die Werteordnungsrechtsprechung jedoch ungewiss geblieben. Mit dem – wenn auch vereinzelt gebliebenen – Rückgriff auf überpositive Gerechtigkeitserwägungen hat das BVerfG die Möglichkeit eröffnet, diese Offenheiten mit transzendenten Erwägungen zu füllen. Die Prinzipientheorie von Alexy löst diese Ambivalenz des Werteordnungsdenkens nicht auf, sondern verschärft sie. Zunächst stellt sie aber – in ihrer nicht transzendenten Lesart – eine plausible Erklärung der Grundrechte dar. Die Vorstellung von Prinzipien als Optimierungsgebote fängt den Gedanken der Grundrechtseffektivität rechtstheoretisch ein und erklärt ihre Wirkungsweise bei Prinzipienkollisionen und ihr Verhältnis zu Regeln. Darüber hinaus tritt an die Stelle von Offenheitslücken des Rechts die Bindung an Prinzipien, so dass die Räume für freie Rechtsschöpfung geschlossen werden. Insgesamt spiegelt sich darin ein Denken von den Prinzipien 45 Zum Gegensatz zwischen politischer und rechtsstaatlicher Verfassung bei Schmitt vgl. ders., Verfassungslehre, S. 125 ff., 200 ff. sowie zwischen liberalen und demokratischen Prinzipien vgl. ders., Verfassungslehre, S. 201; ders., Geistesgeschichtliche Lage, S. 21 f.; dazu auch Stern, Staatsrecht I, S. 624.

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her, das darauf angelegt ist, die Verfassung und ihre Prinzipien im Rechtssystem gegenüber den Regeln des einfachen Rechts und ggf. auch gegenüber den Regeln des Verfassungsrechts zur Geltung zu bringen und damit das Rechtssystem zu schließen (Geschlossenheitsthese). Das Prinzipiendenken erweist sich damit als eine überzeugende verfassungstheoretische Erklärung für den rechtsstaatlichen Grundrechtsschutz – insbesondere durch die Ver(grund)rechtlichung des einfachen Rechts. Der Erklärungswert des Prinzipiendenkens stößt aber vor allem im Hinblick auf die Wahrung des gesetzgeberischen Spielraums an Grenzen. Weder die Annahme eines prima-facie-Vorrangs der Regelebene noch die Einbindung des Gesetzgebungsspielraums als formelles Prinzip vermögen die kompetenzrechtlichen Einwände gegen das Prinzipiendenken auszuräumen. Es besteht vielmehr die Gefahr, dass die Rationalisierungsgewinne des Prinzipiendenkens auf Kosten der gesetzgeberischen Autonomie und damit auf Kosten der Demokratie verwirklicht werden. Diese Gefahr wird dadurch verstärkt, dass Alexy zugleich den Weg in ein transzendentes Prinzipiendenken weist. Nun könnte man meinen, transzendente Bezugnahmen seien verfassungsrechtlich zulässig und damit selbst Ausdruck einer demokratischen Entscheidung. Legt die Verfassung also selbst ein transzendentes Werteordnungs- und Prinzipiendenken nahe? Anknüpfungspunkt dafür ist Art. 20 Abs. 3 GG, der die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht vorsieht. Der Begriff des Rechts könnte die in der Verfassung, insbesondere in den Grundrechten verankerte materielle Gerechtigkeit betonen – dafür spricht die Bindung aller staatlichen Gewalt an die „nachfolgenden Grundrechte … als unmittelbar geltendes Recht“ in Art. 1 Abs. 3 GG –, er könnte aber auch auf eine überpositive Gerechtigkeit verweisen. An dieser Stelle kommt es jedoch nicht darauf an, die Diskussion um die Auslegung des Begriffspaars Recht und Gesetz im Einzelnen nachzuzeichnen und abstrakt zu führen.46 Denn selbst wenn man aus dem Begriffspaar Gesetz und Recht einen Verweis auf die Wahrung überpositiver materieller Gerechtigkeit ableitet, würde daraus noch nicht die Zulässigkeit eines transzendenten Prinzipiendenkens folgen. Die Besonderheit des transzendenten Prinzipiendenkens besteht nämlich darin, dass es die Rechtsanwendung als solche als moralischen Diskurs versteht und damit von den demokratischen Entscheidungen entkoppelt. In seiner transzendenten Lesart hebt Alexy die Geschlossenheitsthese des Rechts wieder auf. Den Prinzipien wird eine Wirkung beigemessen, die nicht nur in juristischen Ausnahmesituationen – in Form des Unrechtsarguments –, sondern gerade auch im juristischen Alltag eine unbegrenzte Relativierung von Regeln ermöglichen, seien es Regeln des einfachen Rechts oder – wie beim strafrechtlichen Rückwirkungsverbot – Regeln des Verfassungsrechts. Dies geschieht durch die Öffnung des Prinzipiendiskurses für den moralischen Diskurs. Prinzipien gelten nach dem Prinzipienargument, weil sie moralisch richtig sind. Letzte Ergebnisunsicherheiten bei Abwägungen werden nicht 46 Eingehend dazu die neuere Untersuchung von Hoffman, Das Verhältnis von Gesetz und Recht.

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kompetenziell aufgelöst, sondern für den moralischen Diskurs geöffnet. Den Grundkoordinaten von Rechtserzeugung im Rahmen eines politischen Diskurses (demokratische Entscheidung) und Rechtsanwendung im Rahmen des juristischen Diskurses wird damit ein moralischer Diskurs hinzugefügt. Der moralische Diskurs bedarf jedoch keiner Anknüpfung an demokratische Entscheidungen. Denn das moralisch Richtige steht im Rahmen des transzendenten Prinzipiendenkens über dem demokratisch bzw. institutionell ermittelten Richtigem. Das transzendente Prinzipiendenken kann durch das Unrechts- und Prinzipienargument sowie durch die Verbindung von Abwägung und moralischem Diskurs alle demokratischen Entscheidungen, auch die des Verfassungs(gesetz)gebers unter Moralvorbehalt stellen. Es streitet damit für einen materiellen Rechtsstaat, der sich – unabhängig von der Demokratie – auf das moralisch richtige Recht bezieht. Das demokratisch erzeugte Recht kann demgegenüber nur Bestand haben, wenn es diesem richtigen Recht entspricht. Eine selbständige Quelle von Recht wäre die Demokratie damit nicht. Demokratie und Rechtsstaat müssten nicht als Einheit verwirklicht werden, denn der überpositiv ausgerichtete Rechtsstaat bedarf einer demokratischen Verankerung nicht. In der Folge würde die Herrschaft von denjenigen ausgeübt, die das richtige Recht finden und anwenden. Souverän wäre nicht die Verfassung, insbesondere in ihren Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG, sondern die Gerichtsbarkeit, vor allem die Verfassungsgerichtsbarkeit. Fungiert das BVerfG aber nicht als Hüter, sondern als Herr der Verfassung, verwirklicht sich die Warnung Böckenfördes vor einem verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat. 2. Demokratie und Macht Die Deutung von Verfassungsnormen, insbesondere der Grundrechte, nicht als Prinzipiennormen, sondern als Lapidarformeln führt zu einem Denken von den Regeln her. Es ist darauf gerichtet, vor allem die Regelebene des einfachen Rechts zur Geltung zu bringen und den einfachen Gesetzgeber zu stärken. Der Kompetenzkonflikt zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht würde damit wesentlich entschärft. Im Vergleich zum Prinzipiendenken scheint das Regeldenken die Demokratie besser zu verwirklichen. Der Erklärungswert des Regeldenkens stößt aber im Hinblick auf den Schutz der Grundrechte an Grenzen. Man könnte zunächst hervorheben, dass die Grundrechte ohne objektiv-rechtliche Wirkungen um eine wichtige Bedingung ihrer Wirksamkeit gebracht werden. Hat man die Vorstellung von autarken Individuen, die über einen beherrschten Lebensraum verfügen, so könnte man den Grundrechtsschutz als umso wirkungsvoller bezeichnen, je weniger der Staat in diesen Lebensbereich eingreift. Je abhängiger jedoch das Individuum von staatlicher Lenkung und Regulierung ist, desto dringender wird die Frage, ob die Voraussetzungen der Grundrechtsverwirklichung selbst am normativen Grundrechtsschutz teilnehmen. Böckenförde ignoriert die Pflicht des Staates, in der modernen Welt die Voraussetzungen zur Grund-

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rechtsverwirklichung zu schaffen, nicht, weist sie aber lediglich dem Sozialstaatsgebot zu und sichert sie damit nicht subjektiv-rechtlich ab. Entscheidend ist jedoch, dass die Stärkung des Gesetzgebers nicht nur die objektiv-rechtlichen Grundrechtswirkungen betrifft, sondern – dies haben insbesondere die Wirkungen der Gewährleistungslehre gezeigt – auch auf Kosten der liberalen Freiheit geht. Der Grundrechtsschutz, auch der liberale, wird der gesetzgeberischen Autonomie untergeordnet. Das Denken vom Gesetzgeber her führt nicht zu einer Verbesserung des Grundrechtsschutzes nach dem Motto „weniger ist mehr“. Die Zurückdrängung der Verfassungswirkungen zugunsten des Gesetzgebers erfasst vielmehr notwendig auch den liberalen grundrechtlichen Schutz. Die Entfaltung der gesetzgeberischen Mehrheit gelingt umso eher, je enger grundrechtliche Schutzbereiche gefasst werden, je weniger verfassungsunmittelbare Schranken zu beachten sind und je weniger der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur Anwendung kommt. Es besteht daher die Gefahr, dass die Autonomie des Gesetzgebers auf Kosten der Grundrechte und des Rechtsstaats verwirklicht wird. Die demokratische Entscheidung würde damit zur rigorosen Mehrheitsentscheidung degenerieren. Diese Gefahr wird verschärft durch das Denken vom Staat her. Das Denken vom Staat her ist darauf gerichtet, den Staat als faktische Machteinheit zu stärken. Ihm liegt ein Verständnis von Staat und Verfassung zugrunde, das den Staat und seine Souveränität neben der Verfassung bestehen lässt. Der Staat soll nicht nur vom Recht, sondern auch von seinem Wesen und seiner Wirklichkeit her gedacht werden. Entfalten soll sich der faktische Staat zunächst als parlamentarischer Gesetzgebungsstaat. Die Letztentscheidungen im parlamentarischen Gesetzgebungsstaat obliegen nicht der Verfassung oder dem Verfassungsgericht, sondern dem Gesetzgeber, genauer gesagt, dem einfachen Gesetzgeber, der keine konkurrierenden Gesetzgeber duldet. Die legislative Mehrheit könnte Letztentscheidungen treffen, unabhängig von verfassungsrechtlichen, insbesondere grundrechtlichen Bindungen. Die Freiheitsgefährdungen einer solchen Mehrheitsdemokratie zeigen sich deutlich im Böckenförde-Dilemma. Die Unterordnung unter den Mehrheitswillen setzt, wenn sie nicht rechtlich durch Beachtung der Minderheitenrechte gewährleistet wird, eine außerrechtliche Einheit voraus. Diese außerrechtlichen Sittlichkeits- und Homogenitätsforderungen können aber nur auf Kosten von individueller Freiheit und Gleichheit geschaffen und erhalten werden. Entfalten kann sich der faktische Staat darüber hinaus bei der Rechtsanwendung. Soweit der parlamentarische Gesetzgebungsstaat Verfassungsbindungen reduziert, eröffnet er in den Offenheitsbereichen des Rechts Spielräume für freies Ermessen. In diesen Offenheitsbereichen kann sich der Staat dann als Verwaltungs- und Jurisdiktionsstaat entfalten. Die Forderung nach einem parlamentarischen Gesetzgebungsstaat als Vorrang der Volkssouveränität vor der Verfassung lässt sich aber – wie Böckenförde selbst einräumt – nicht in Einklang bringen mit dem Grundgesetz.47 Der Staat soll sich durch das Recht und nicht neben dem Recht entfalten. Das Grundgesetz hat mit 47

Siehe oben S. 217.

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seinen materiellen Sicherungen die Volkssouveränität beschränkt und durch entsprechende verfassungsgerichtliche Kompetenzen abgesichert. Unabhängig von der Frage, wie weit die Kompetenzen des Verfassungsgerichts im Einzelnen reichen mögen, hat es damit, wenn man denn überhaupt mit diesen Begriffen arbeiten möchte, eine Entscheidung – zumindest auch – für jurisdiktionsstaatliche, insbesondere verfassungsgerichtliche Elemente getroffen. Auf dem Boden des Grundgesetzes besteht danach keine Wahl zwischen verfassungsgerichtlichem Jurisdiktionsstaat und parlamentarischem Gesetzgebungsstaat. Letztentscheidungen werden vielmehr sowohl vom Gesetz- bzw. Verfassungsgesetzgeber als auch vom Verfassungsgericht getroffen. Indem das Rahmenordnungsdenken jedoch Gegensätze herstellt zwischen Staat und Verfassung, Volks- und Verfassungssouveränität, zwischen Gesetz und Verfassung sowie zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht spielt es die Demokratie gegen den Rechtsstaat aus, und zwar zugunsten staatlicher Macht und auf Kosten rechtsstaatlicher Freiheit und Gleichheit.

III. Konstruktive Alternative: Zu einem verfassungsimmanenten Werteordnungsdenken Während das Werteordnungsdenken nach Alexy das Recht für die Moral öffnet und damit die Demokratie gefährdet, öffnet das Rahmenordnungsdenken nach Böckenförde die Demokratie für die Macht des faktischen Staates und gefährdet den Rechtsstaat. Das Rahmenordnungsdenken stellt damit keine überzeugende Alternative zum Werteordnungsdenken dar. Fraglich ist nun, wie man sich einer konstruktiven Alternative zwischen Rahmen- und Werteordnungsdenken annähern könnte. Man könnte zum einen versuchen, eine nicht transzendente Lesart des Werteordnungs- und Prinzipiendenkens weiterzudenken, die die Regelebene des Rechts, also die demokratischen Entscheidungen des Gesetz- und Verfassungsgesetzgebers ernster nimmt. Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, das Rahmenordnungsdenken – soweit möglich – von seinen über die Verfassung hinausgehenden staatstheoretischen Implikationen zu befreien und als Regeldenken weiterzuentwickeln, das die Prinzipienebene des Rechts, also die Verfassung und insbesondere die Grundrechte ernster nimmt. Welcher Denktyp verspricht die größere Aussicht auf Erfolg? 1. Rationalitätsvorteile Auf den ersten Blick scheint das Regeldenken dem Prinzipiendenken überlegen zu sein, da es durch die restriktive Grundrechtsauslegung Abwägungen zurückdrängt und damit Einbruchstellen für moralische Erwägungen verringert. Es hat sich jedoch gezeigt, dass das Regeldenken das Recht nicht durch eine rationalere Methode schließt. Weder kommt es selbst ohne Abwägungen aus, noch vermag es an die Stelle von Abwägungen eine rationalere Methode zu setzen. Die Beispiele historisch-genetischer Grundrechtsauslegung konnten insofern nicht überzeugen. Die Zurück-

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drängung von Abwägungen birgt vielmehr die Gefahr, dass die maßgeblichen Wertungen hinter scheinbar wertungsfreien Auslegungskriterien, wie der historischgenetischen Auslegung, verdeckt werden. Demgegenüber erweist sich das Prinzipiendenken als transparenter, denn Gründe und Gegengründe, Beeinträchtigungsund Wichtigkeitsgrade werden im Rahmen der Abwägung offengelegt und sachfremde Kriterien können identifiziert werden. Eine größere Rationalität kann das Regeldenken auch nicht im Hinblick auf die Abgrenzungsprobleme zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht beanspruchen. Es verringert zwar das Konfliktpotential – zugunsten des Gesetzgebers –, doch liefert es keine eigentlichen Abgrenzungskriterien. Das wesentliche Rationalitätsproblem des Regeldenkens liegt darin, dass es nicht darauf angelegt ist, die Offenheitsbereiche des Rechts, insbesondere des einfachen Rechts, zu schließen, sondern vielmehr Räume für freies Ermessen der rechtsanwendenden Organe schafft. Damit verzichtet es auf teleologische und systematische Argumente. H. Dreier fragt in diesem Zusammenhang zu Recht: „Warum sollen dabei [erg.: bei der Ausfüllung von Generalklauseln] nicht (auch) die Grundrechte als konstitutiver Bestandteil der ranghöchsten Normebene, der Verfassung, ihre Bedeutung entfalten? Wäre es etwa begrüßenswerter, hier einfach auf unreflektierte Vorverständnisse, Weltanschauungen, Naturrechtslehren etc. zurückzugreifen?48 Das Prinzipiendenken hingegen bietet die Möglichkeit, die Rechtsanwendung auch in ihren Offenheitsbereichen als Anwendung von (Verfassungs-)Recht nachvollziehbar zu machen. Damit wird nicht nur die Rechtsbindung erhöht. Die Lückenschließung durch Prinzipienbindung dient zudem in mehrfacher Hinsicht der Einheit der Rechtsordnung. Durch die Ausstrahlungswirkung der Verfassungswerte ins einfache Recht wird nicht nur eine strikte Trennung von Verfassungs- und einfachem Recht vermieden. Die einzelnen Teilrechtsgebiete erhalten durch die Wirkung des Verfassungsrechts auch untereinander einen gemeinsamen, verbindenden Bezugspunkt.49 Die Rationalitätserwägungen sprechen dafür, das Prinzipiendenken als Ausgangspunkt für eine verfassungsmäßige Verfassungstheorie in Betracht zu ziehen. Um Rechtsstaat und Demokratie miteinander in Einklang zu bringen, muss das Prinzipiendenken aber die Regelebene des Rechts ernster nehmen. Alexy legt seiner Prinzipientheorie ein Regel-Prinzipien-Modell zugrunde, das die Regel-Ebene nur 48

H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 58. Zur Einheit der Rechtsordnung Hesse, Grundzüge, S. 10 f.: „Da die Verfassung die Voraussetzungen der Schaffung, Geltung und Durchsetzung der Normen der übrigen Rechtsordnung herstellt und deren Inhalt weitgehend bestimmt, wird sie zu einem Element der Einheit der Gesamtrechtsordnung des Gemeinwesens, innerhalb deren sie eine Isolierung von Verfassungsrecht und anderen Rechtsgebieten, im besonderen vom Privatrecht, ebenso ausschließt wie ein unverbundenes Nebeneinander jener Rechtsgebiete selbst.“ Zur verfassungskonformen Auslegung als Prinzip der Einheit der Rechtsordnung ebda, S. 30, Rn. 30. Kritisch zur Konzeption einer Einheit der Rechtsordnung und der damit verbundenen Vorstellung von einem „Ganzen“ Christensen, S. XV ff., S. XXXI f. Kritisch im Hinblick auf den Verlust des Stufenbaus der Rechtsordnung Jestaedt, Abwägungslehre, S. 271 f. 49

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4. Teil: Rahmenordnung versus Werteordnung

vordergründig schützt. Der prima-facie-Vorrang schließt nicht aus, dass sich die Prinzipienebene stets gegenüber den Regeln des einfachen Rechts und auch des Verfassungsrechts durchsetzt. Dies wiegt umso schwerer, als durch die moralische Aufladung des Prinzipiendenkens die Gründe für einen Vorrang der Prinzipien nicht begrenzt werden. Das Prinzipiendenken muss vielmehr darauf gerichtet sein, die Regelebene auch als Grenze von Abwägungen zu beachten. Im Hinblick auf den einfachen Gesetzgeber bedeutet dies, seinen Gesetzgebungsspielraum zu achten und Abwägungsunsicherheiten nicht in einen weiteren moralischen Diskurs zu leiten, sondern sie – wie in der Spielraumdogmatik von Alexy angelegt50 – kompetenziell aufzulösen. Im Hinblick auf den Verfassungsgesetzgeber bedeutet es, seine Entscheidungen, die denselben normativen Rang wie Verfassungsprinzipien aufweisen, zu achten und strikte Verfassungsregeln nicht durch Prinzipiengründe einzuschmelzen, erst recht nicht durch überpositive moralische Prinzipien. 2. Probleme Freilich sind damit nicht alle Probleme gelöst. Insbesondere das Verhältnis zwischen Verfassungsgericht und einfachem Gesetzgeber wird – wie in der Verfassung angelegt – immer wieder auszuloten sein, und zwar nicht nur mit Augenmerk auf eine Konkretisierung gesetzgeberischer Spielräume (Spielraumdogmatik), sondern ggf. auch unter stärkerer Beachtung der Gerichtsförmigkeit des BVerfG.51 Entscheidend ist aber, dass diese Fragen innerhalb der Verfassung behandelt werden. Im Rahmen eines verfassungsimmanenten Werteordnungsdenkens bedarf es nun der Klärung, welche Verfassungsregeln abwägungsfest sind und wie die Prinzipien bzw. Werte der Verfassung ermittelt werden. Im Hinblick auf die Frage nach strikten oder relativierbaren Verfassungsregeln könnte man an die bereits erörterten Beispiele der Berufsfreiheit und des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes anknüpfen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die beiden Fälle der Regeleinschränkung nicht gleichermaßen überzeugen. Für die Ausdehnung des Regelungsvorbehalts nach Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG auch auf die Berufswahl konnte darauf abgestellt werden, dass eine strikte, d. h. wortlautgetreue 50

Siehe dazu oben S. 123 ff. Vgl. dazu Möllers, Gewaltengliederung, S. 532 f., mit Hinweis auf verfahrenswidrige Praktiken des BVerfG wie Entscheidungen nach Rücknahme einer Verfassungsbeschwerde, Eilentscheidungen ohne entsprechenden Antrag, Appellentscheidungen, etc. Siehe auch H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 61; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Rn. 20 ff. zu Art. 93, danach unterliegt das BVerfG den Kennzeichen der rechtsprechenden Gewalt, also Fallbezogenheit, Passivität, Entscheidungszwang, Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Normbindung; zur unzureichenden gesetzgeberischen Programmierung der Entscheidungsaussprüche ebda, Rn. 46 ff. Dazu auch Hassemer, S. 8 ff.; Kunig, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 52 ff., 66 ff., spricht – bezogen auf das Verhältnis von Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit von prozessrechtlicher Selbstdisziplin. 51

B. Denken von der Verfassung her

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Anwendung zu nicht einleuchtenden Ergebnissen führen würde, da überwiegende Prinzipiengründe auch die Beschränkung der Berufswahl erforderlich machen und angesichts der schwierigen begrifflichen Abgrenzung zwischen Berufswahl und Berufsausübung besser von einem umfassenden Prinzip der Berufsfreiheit ausgegangen wird.52 Anders liegt hingegen der Fall des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes. Die Regeleinschränkung für extremes Unrecht konnte nicht überzeugen, da sich der Verfassungsgesetzgeber – erkennbar – gegen eine solche Ausnahme entschieden hat.53 Anders als bei der Berufsfreiheit ging es nicht um ein besseres Verständnis und um eine sinnvolle Anwendung einer Norm, sondern um das Abweichen von einer konkreten Abwägungsentscheidung des Verfassungsgesetzgebers. In gewisser Weise ist dies wohl auch vom BVerfG und von Alexy erkannt worden, da sie die Ausnahme für extremes Unrecht unter begrifflicher Aufrechterhaltung des strikten Regelcharakters vorzunehmen versuchten.54 Ausgehend von diesen Beispielen könnte man sich weiteren Verfassungsregeln nähern, z. B. dem Folterverbot nach Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG55 oder dem Vorbehalt der allgemeinen Gesetze in Art. 5 Abs. 2 GG56, und zwar mit der Frage, ob sie als Ausdruck einer konkreten Abwägungsentscheidung des Verfassungsgesetzgebers zwischen den betroffenen Verfassungsprinzipien zu deuten sind oder nicht. Soweit eine informierte Abwägungsentscheidung des Verfassungsgesetzgebers erkennbar ist, scheidet eine Relativierung durch Unrechts- oder durch Ausnahmeargumente aus. 52

Siehe oben S. 82. Siehe oben S. 133 f. 54 BVerfGE 95, 96, 131 (Mauerschützen) und oben S. 74 f.; zur Begründung von Alexy siehe oben S. 133. 55 Für einen strikten Charakter des Folterverbots Di Fabio, Sicherheit in Freiheit, S. 424: „Die Gewaltanwendung und deren Androhung gegen Personen im Polizeigewahrsam ist in Deutschland ein absolut unerlaubtes Mittel (Art. 104 I 2 GG). Was für einen Privatmann erlaubte Nothilfe sein mag, ist dem sittlichen Staat, dem Staat des Grundgesetzes, gleichwohl verboten. Es ist insofern nicht richtig, unter Berufung auf den höheren Zweck der Menschenwürde das Folterverbot zu relativieren. Eine solche kurzschließende Argumentationsmöglichkeit soll durch das rigide Folterverbot gerade ausgeschlossen werden. Die Relativierung ist auch deshalb nicht akzeptabel, weil unser historisches Gedächtnis nun gerade die Gewalt gegen Menschen in staatlichem Gewahrsam als Kern, gleichsam als prägenden Typus der Menschenwürdeverletzung ansieht. Relativiert man den Kern, bröckelt die Substanz.“ A.A. Vosgerau, S. 385 ff., der davon ausgeht, Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG regele nicht den Fall der Rettungsfolter, in dem auch die Schutzpflicht gegenüber den zu Rettenden zu berücksichtigen sei, sondern beschränke sich auf das Verhältnis Staat/Bürger (Täter). Die Argumentation überzeugt jedoch nicht. Die Behauptung, der Verfassungsgeber hätte die Möglichkeit staatlicher Schutzpflichten noch nicht gekannt, so dass der Fall der Rettungsfolter nicht vom Folterverbot erfasst war, ist höchst fragwürdig. Selbst wenn die dogmatische Konstruktion staatlicher Schutzpflichten noch nicht vorlag, so dürfte doch die Staatsaufgabe des Schutzes der Bürger vor Gewalttaten anerkannt und auch die Konstellation der Rettungsfolter nicht unbekannt gewesen sein. 56 Siehe dazu BVerfG NJW 2010, S. 47 ff. (Wunsiedel) und oben 2. Teil, B. III. 2. b), Fn. 252. 53

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4. Teil: Rahmenordnung versus Werteordnung

Die Geltung von Verfassungsprinzipien kann im Rahmen eines verfassungsimmanenten Werteordnungsdenkens nur das Ergebnis einer juristischen, genauer gesagt einer verfassungsrechtlichen Argumentation sein.57 Der Verweis auf überpositive Gerechtigkeitserwägungen scheidet damit aus; vielmehr bedarf es verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkte. Das BVerfG fordert insoweit zu Recht die Anknüpfung an konkrete Grundgesetzbestimmungen und nicht nur eine formelhafte Berufung auf allgemeine Ziele wie den „Schutz der Verfassung“.58 Der verfassungstextliche Bezug dürfte aber nur eine notwendige und noch keine hinreichende Bedingung darstellen. Andernfalls könnten – nach der berechtigten Warnung von Böckenförde – aus jedweden verfassungsrechtlichen Kompetenzbestimmungen und Organisationsnormen Rechtswerte mit Verfassungsrang abgeleitet werden.59 Im Vordergrund steht vielmehr die Frage, ob die verfassungsrechtlichen Gründe so gewichtig sind, dass sie die Annahme eines Verfassungswerts, der andere Verfassungswerte einschränken kann, rechtfertigen. Die Begründung von bisher nicht beoder anerkannten Verfassungswerten wird umso schwieriger sein, je weniger begriffliche und wertungsmäßige Anknüpfungspunkte in der Verfassung bestehen. Sie wird umso überzeugender sein, je mehr verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte bestehen und je besser sich der neu gefundene Wert in die Ordnung der anerkannten Werte einfügt.

57 Vgl. Zeidler, S. 9: „Doch entgegen mancher vertretenen Annahme handelt es sich bei Begriffen wie ,Grundentscheidung der Verfassung‘, ,Wertordnung‘ oder ,Grundwert‘ nicht um einen Wertehimmel subjektiver Beliebigkeit, in dem die Juristen mit Interpretationsherrschaft je nach dem Inhalt ihrer politischen und weltanschaulichen Vorurteile ins Blaue fabulieren können, sondern um Rechtsgehalte, deren Substanz mit Methoden der Rechtsfindung festgestellt wird. Die Grundwertordnung überwölbt nicht als frei schwebendes amorphes Gebilde die positive Rechtsordnung, sondern gehört als deren Bestandteil zu ihr.“ 58 BVerfGE 81, 278, 293 (Bundesflagge) mit Verweis auf E 77, 240, 255 (Herrnburger Bericht). Zum Erfordernis verfassungstextlicher Anknüpfungspunkte für Rechtswerte, die vorbehaltlose Grundrechte einschränken, Misera-Lang, S. 311 f., 316 ff. 59 Böckenförde, Schutzbereich, S. 168 f.: „Zu diesen Rechtswerten zählten lange Zeit auch bundesstaatliche Kompetenzbestimmungen, zuweilen tun sie dies auch heute noch. Das eröffnet ein weites Feld. Die zahlreichen Beschränkungen, die sich so gewinnen lassen – wie viele Bestimmungen des Grundgesetzes lassen sich unschwer zu Verfassungswerten stilisieren? – fungieren ja, werden sie als verfassungsimmanente Schranken ernstgenommen, nicht nur als zugelassene Einschränkungsmöglichkeiten, die der Gesetzgeber gegebenenfalls zu realisieren hat, sondern als bereits geltende und als solche effektive Einschränkungen.“ Zur weiteren Kritik an materiellen Gehalten von Kompetenz- und Organisationsnormen vgl. Mehde, S. 98 ff.; Becker, S. 397 ff.; Hoffmann-Riem, Gewährleistungsgehalte, S. 64.

Zusammenfassung und Ausblick Soll die Verfassung als Werte- oder als Rahmenordnung verstanden werden? Die Untersuchung hat ergeben, dass die Antwort differenziert ausfallen muss, da sowohl das Rahmen- als auch das Werteordnungsverständnis der Verfassung spezifischen Gefährdungen durch außerrechtliche Einflüsse ausgesetzt ist. Während ein werteordnungsrechtliches Verständnis der Verfassung Gefahr läuft, das Recht für moralische Argumente zu öffnen (III.), hat sich das rahmenordnungsrechtliche Verständnis der Verfassung als anfällig für machtgestützte Argumente erwiesen, die die Normativität der Verfassung beeinträchtigen können (IV.). Dem Ziel einer verfassungsmäßigen Verfassungstheorie kann man sich jedoch nur annähern, wenn die außerrechtlichen Gefährdungen möglichst reflektiert und zugunsten eines spezifisch juristischen Verfassungsverständnisses zurückgedrängt werden. In diesem Sinne wurde eine konstruktive Alternative vorgeschlagen: das verfassungsimmanente Werteordnungsdenken (V.). Um Werte- und Rahmenordnungsverständnis allerdings überhaupt diskutieren und bewerten zu können, bedurfte es einer schrittweisen Herangehensweise an diese beiden Grundpositionen (I.), ausgehend von der sog. Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG (II.). I. Die Begriffe der Werte- und Rahmenordnung werden nicht einheitlich verwendet. Bestimmte oder gar gegensätzliche verfassungstheoretische Konzepte können ihnen nicht zweifelsfrei zugeordnet werden. Gleichwohl besteht in Anlehnung an die Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG eine Tendenz, die Werteordnung als ein extensives und die Rahmenordnung als ein restriktives Verfassungsverständnis zu verstehen. Im Sinne eines diskursiven Vorgehens wurde dieser Unterscheidung gefolgt und versucht, entsprechende idealtypisierende Konzeptionen herauszuarbeiten. Dabei wurde auf zwei herausragende Vertreter der Verfassungstheorie abgestellt, und zwar auf Robert Alexy einerseits, der mit seiner Prinzipientheorie einem extensiven Verfassungsverständnis folgt sowie auf ErnstWolfgang Böckenförde andererseits, der mit seiner Rahmenordnungstheorie für ein restriktives Verfassungsverständnis steht. Die anhand ihrer Werke vorgenommene idealtypisierende Konkretisierung der Verfassungstheorien erhebt allerdings nicht den Anspruch, die beiden Rechtswissenschaftler in ihrem Gesamtwerk vollständig nachzuzeichnen. Ziel war es vielmehr, die für das Verfassungsverständnis maßgeblichen und typischen Aspekte herauszuarbeiten und als Bestandteile gegensätzlicher Verfassungstheorien zu deuten. Die dabei explizierten Typen verfassungsrechtlichen Denkens, das Prinzipiendenken und das Regeldenken, konnten sodann auf ihre inhaltliche Überzeugungskraft hin befragt werden. Dabei galt es, den hermeneutischen Fehler zu vermeiden, die jeweiligen Verfassungstheorien von einem eigenen oder dem jeweils anderen verfassungstheoretischen Standpunkt aus

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Zusammenfassung und Ausblick

zu kritisieren. Ein solches Vorgehen wäre dem Vorwurf ausgesetzt, in der Auseinandersetzung nur das eigene oder das jeweils andere Vorverständnis über die Bedeutung und normative Reichweite der Verfassung zu verteidigen. Daher wurden die Verfassungstheorien daran gemessen, ob sie ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden. Da sowohl Alexy als auch Böckenförde mit dem mehr oder weniger ausdrücklichen Geltungsanspruch auftreten, eine verfassungsmäßige Verfassungstheorie zu vertreten, konnte auf diesen eigenen Maßstab in immanent kritischer Weise abgestellt werden. II. Den Ausgangspunkt für die Diskussion um das verfassungsrechtliche Vorverständnis bildet die Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG. In das Zentrum ihres Werteordnungsverständnisses stellt das BVerfG den Menschen, seine Würde, Freiheit und Gleichheit. Dementsprechend entfaltet das BVerfG die Werteordnung primär als grundrechtliche Werteordnung. Den Grundrechten wird – maßgeblich in der Lüth-Entscheidung – eine verstärkte Geltungs- und Wirkkraft beigemessen, die zum verbindlichen Maßstab in allen Bereichen des Rechts erklärt wird. Die vom BVerfG konstatierte – über die Eingriffsabwehr hinausgehende – objektiv-rechtliche Wirkung der Grundrechte führt in der Folge zur Entwicklung weiterer Grundrechtsdimensionen, die Fragen nach der Reichweite verfassungsrechtlicher Bindung und verfassungsgerichtlicher Kontrolle einerseits und gesetzgeberischem Entscheidungsspielraum andererseits aufkommen lässt. Auch die Funktionenteilung zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit wird durch die Konstitutionalisierung des einfachen Rechts prekär. Vor diesem Hintergrund hat sich als bedenklich erwiesen, dass Rationalität und Grenzen des verfassungsgerichtlichen Werteordnungsverständnisses nicht gewiss sind. Insbesondere die für das Werteordnungsverständnis zentrale Abwägung konnte das BVerfG nicht in einer Weise konkretisieren, dass sie dem Vorwurf, als Einlasstor für beliebige subjektive Wertungen zu dienen, entgehen könnte. Weder definitive Abwägungsgrenzen noch einen feststehenden Katalog abwägungsfähiger Verfassungswerte stellt das BVerfG bereit. Dass diese Offenheit mit einer transzendenten, d. h. auf überpositive Gerechtigkeitserwägungen verweisenden Lesart der Werteordnung gefüllt wird, lässt sich nicht ausschließen. Zumindest behält sich das BVerfG – wie sein Mauerschützen-Urteil zeigt – eine solche Lesart vor. III. Die auf der normtheoretischen Unterscheidung von Regeln und Prinzipien basierende Prinzipientheorie von Alexy vermag die Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG in ihrem spezifisch juristischen Gehalt plausibel zu rekonstruieren. Der den Grundrechten prinzipientheoretisch beigemessene Optimierungsgedanke beschreibt und erklärt die vom BVerfG postulierte verstärkte Geltungs- und Wirkkraft der Grundrechte. In ihrer überschießenden, auf ein ideales Sollen gerichteten Tendenz wirken die Grundrechte als Prinzipien, die der Abwägung bedürfen. Erst nach Berücksichtigung der tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ergibt sich das reale Sollen. Grundrechtskollisionen lassen sich damit als Prinzipienkollisionen verstehen, die durch Abwägung aufzulösen sind. Über die Wirkungsweise von Grundrechten als Prinzipien hinaus

Zusammenfassung und Ausblick

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kann der Optimierungsgedanke die erweiterten, über die Eingriffsabwehr hinausgehenden Grundrechtsdimensionen begründen. Die Prinzipientheorie muss insofern nicht – wie von Alexy vertreten – auf eine bloße Strukturtheorie begrenzt werden. Vielmehr entfaltet sich der Gedanke der Optimierung am besten in einer extensiven Grundrechtstheorie, die die vom BVerfG entwickelten Grundrechtsdimensionen miteinschließt. Der Logik der auf möglichst weitgehende Grundrechtsverwirklichung gerichteten Optimierungsthese entspricht es ferner, von grundsätzlich weiten grundrechtlichen Schutzbereichen auszugehen und diese nicht durch definitorische Engfassungen der Abwägung mit kollidierenden Grundrechten zu entziehen. Im Hinblick auf die Wahrung des gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums ist der Erklärungswert der Prinzipientheorie jedoch begrenzt. Die Konzeption eines Regelund Prinzipienmodells des Rechts bringt zwar zum Ausdruck, dass die Regelebene des Rechts, also die Entscheidungen des einfachen und des Verfassungsgesetzgebers zu respektieren sind, die Beschreibung dieses Entscheidungsspielraum als formelles Prinzip, das mit materiellen Grundrechtsprinzipien kollidiert und abzuwägen ist, überzeugt jedoch nicht. Nichtsdestotrotz erklärt die Prinzipientheorie mit dem Regel-Prinzipien-Verständnis des Rechts den besonderen Gehalt eines werteordnungsrechtlichen Verfassungsverständnisses. Das Rechtssystem wird nicht von der Regelebene des Rechts her verstanden, insbesondere nicht vom einfachen Recht her, sondern von der Prinzipienebene, d. h. insbesondere von den Grundrechten her (Prinzipiendenken). Die notwendigen Offenheitslücken des einfachen Rechts, die sich in den Auslegungsspielräumen z. B. von unbestimmten Rechtsbegriffen oder Generalklauseln zeigen, werden nicht dem freien richterlichen Ermessen überantwortet, sondern können und sollen mit verfassungsrechtlichen Argumenten gefüllt werden und führen damit – in Fortführung der Lüth-Entscheidung – zu einer Verrechtlichung und einer Rationalisierung der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts (Geschlossenheitsthese). Dass die Prinzipienbindung dabei durch Abwägungen erfolgt, mindert ihren Rationalitätsvorteil nicht. Auch wenn der konkrete Abwägungsvorgang nicht abschließend durch das prinzipientheoretische Abwägungs- und Kollisionsgesetz erklärt werden kann, so hat Alexy gleichwohl gezeigt, dass die Offenlegung der zu begründenden Beeinträchtigungs- und Wichtigkeitsgrade rationalitätssteigernd wirkt. Die Prinzipientheorie weist damit trotz ihrer Schwächen einen beachtlichen verfassungstheoretischen Erklärungswert auf. Neben ihrem spezifisch juristischen, auf Rationalitätssteigerung gerichteten Gehalt verweist die Prinzipientheorie aber auch auf eine moralkognitive Herangehensweise an das Recht, die überrascht. Die möglichen, insbesondere aus dem angloamerikanischen Rechtsraum und der materialen Wertethik stammenden Implikationen eines rechtsethischen Prinzipienverständnisses scheint Alexy zunächst eine deutliche Absage zu erteilen. Auch zeigt er mit seiner neueren Spielraumdogmatik einen Weg auf, wie die unabweisbaren letzten Ergebnisunsicherheiten der Abwägung kompetenzrechtlich zugunsten des Gesetzgebers aufgelöst werden könnten. Umso erstaunlicher ist es, dass die so begründete Geschlossenheitsthese des Rechts in einem zweiten Schritt wieder aufgeweicht wird, um im Rahmen des sog.

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Regel-Prinzipien-Prozedur-Modells die Offenheit des Rechts für die Moral bzw. für den allgemein praktischen Diskurs zu begründen. Die Prozedur-Ebene des Rechts steht danach für die Notwendigkeit, letzte Unbestimmtheitslücken durch die Anwendung der Diskurstheorie zu füllen. Über die Anwendung der Diskurstheorie hinaus führt eine rechtsethische Anreicherung des Prinzipienbegriffs über das sog. Prinzipien- und das Unrechtsargument zu einer moralischen Öffnung des Prinzipiendenkens, die selbst fundamentale Verfassungsregeln, wie das strafrechtliche Rückwirkungsverbot oder das Folterverbot zu relativieren vermag. Damit nähert sich die Prinzipientheorie einem reinen Prinzipienmodell an, in dem die Regelebene nur den Ausgangspunkt der Argumentation darstellt, im Übrigen aber durch überwiegende Prinzipiengründe jeglichen Relativierungen ausgesetzt ist. Im Rahmen der Prinzipientheorie wird damit der juristische Diskurs unter den Vorbehalt des moralischen Diskurses gestellt, dessen Grenzen nicht absehbar sind. Die Überzeugungskraft des Prinzipien- und Werteordnungsdenkens von Alexy leidet damit zum einen unter der tiefen Widersprüchlichkeit ihrer juristischen und moralischen Lesart. In ihrer moralischen Lesart vermag sie es darüber hinaus nicht, dem postulierten Vorrang der Regelebene des Rechts und damit dem Anspruch an eine verfassungsmäßige Verfassungstheorie gerecht zu werden. Denn weder die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen noch die Entscheidungen des einfachen Gesetzgebers können einem solchen moralisch aufgeladenen Prinzipiendenken bzw. einem solchen Denken von der Moral her standhalten. Damit kann es aber auch nicht gelingen Rechtsstaat und Demokratie miteinander in Einklang zu bringen. Vielmehr streitet das transzendente Prinzipiendenken für einen materiellen Rechtsstaat, der sich – unabhängig von der Demokratie – auf das moralisch richtige Recht bezieht. Als Grundlage für eine verfassungsmäßige Verfassungstheorie kommt das Prinzipienund Werteordnungsdenken Alexys daher nicht in Betracht. IV. Die Rahmenordnungstheorie von Böckenförde entfaltet ihren Gehalt zunächst als Kritik eines extensiven Werteordnungsverständnisses der Verfassung. In dieser Hinsicht kann man sie durchaus in der Tradition der besonders prägnanten Methodenkritik von Ernst Forsthoff an der Werteordnungsrechtsprechung des BVerfG sehen. Forsthoff sieht in der Orientierung der Verfassungsauslegung an Werten die Etablierung der geisteswissenschaftlichen Methode Smends, die nicht als Rechtskunst, sondern als Philosophie betrieben werde und zur Auflösung des Verfassungsgesetzes führe. Die Logik des Wertdenkens verwandle den Verfassungsstaat in einen Justizstaat und degradiere den Gesetzgeber zu einem bloßen Vollzugsorgan der Verfassung. Mit einer ähnlichen Zielrichtung, aber konkreter und differenzierter entwickelt Böckenförde verschiedene kritische Blickrichtungen auf die extensive Grundrechts- und Verfassungsauslegung des BVerfG. Aus freiheitsrechtlicher Sicht sieht Böckenförde die rechtsstaatliche, liberale Freiheitsgewähr gefährdet, die sich durch die über die Eingriffsabwehr hinausgehenden Grundrechtsdimensionen wandle von einer „Freiheit schlechthin“ in ein eine „Freiheit um zu“. Die methodische Kritik folgt – wie schon bei Forsthoff und später bei Carl Schmitt – aus einer dem Wertdenken zugeschriebenen Logik der Aggressivität und Irrationalität. Im

Zusammenfassung und Ausblick

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Gegensatz zu Forsthoff aber – und darauf gründet die Vorstellung von der Verfassung als Rahmenordnung – hebt Böckenförde nicht den Gesetzescharakter von Verfassungs- und Grundrechtsbestimmungen hervor, sondern ihren gegenüber einfachen Gesetzen bloß fragmentarischen Charakter. Angesichts der fehlenden Gesetzesfunktionen bedarf es dabei nicht der Auslegung der strukturell vorgegebenen Freiräume. Vielmehr bringen diese einen verminderten Geltungsanspruch zum Ausdruck mit der Folge, dass man ihnen – als Bestandteil einer Rahmenordnung – einen Auftrag an die Politik entnehmen muss. Diesen Gedanken vertieft Böckenförde, indem er in seiner Kritik zunehmend auf die kompetenzrechtlichen Folgen einer extensiven Grundrechts- und Verfassungsauslegung verweist. Die Frage nach Inhalt und Reichweite von (fragmentarischen) Verfassungsnormen wandelt sich dabei zur Frage, wie die Macht des BVerfG einzugrenzen und die Entstehung eines verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates zu verhindern ist. Obwohl Böckenförde die Notwendigkeit einer Verfassungstheorie, noch dazu einer verfassungsmäßigen Verfassungstheorie ausdrücklich hervorhebt, fehlt es an einer ebenso expliziten Entfaltung des konzeptionellen Gehaltes seiner Rahmenordnungstheorie. Gleichwohl konnten drei wesentliche Bestandteile des Rahmenordnungskonzepts herausgearbeitet werden: In konsequenter Fortführung seiner Kritik lehnt Böckenförde die Ausweitung der über die Eingriffsabwehr hinausreichenden Grundrechtsfunktionen, einschließlich der Ausstrahlungswirkung, ab. Ferner postuliert Böckenförde eine modifizierte bzw. restriktive Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei Gesetzen. Im Gegensatz zur intensiven, die Angemessenheit einschließenden Verhältnismäßigkeitsprüfung des Einzelfalls (polizeirechtliche Verhältnismäßigkeit) soll die Prüfung von Gesetzen ohne Angemessenheitsprüfung erfolgen. Die Rationalitätskritik Böckenfördes führt damit zwar nicht zur Eliminierung der Abwägung, doch wird ihr Anwendungsbereich durch die Beschränkung der Grundrechtsfunktionen auf die Eingriffsabwehr sowie durch die restriktive Verhältnismäßigkeitsprüfung stark eingeschränkt. Schließlich schlägt Böckenförde mit der Lehre vom Gewährleistungsgehalt der Grundrechte ihre normative Beschränkung bereits auf der Schutzbereichsebene vor. Ausgangspunkt ist die Kritik an einem zunehmenden Rückgriff auf verfassungsimmanente Schranken, die den Vorrang der gesetzgeberischen Entscheidung gefährde. Bemerkenswert an der Gewährleistungslehre ist zum einen die tatbestandliche Engführung der Grundrechte, die im Hinblick auf die ausgeführten Beispiele der Gewissens-, der Religions- und der Forschungsfreiheit eine allgemeine Handlungsfreiheit nach dem Gewissen, der religiösen oder der wissenschaftlichen Überzeugung ausschließt. Darüber hinaus etabliert Böckenförde die historisch-genetische Auslegung als vorrangige Verfassungsmethode. Dabei stellt er allerdings nicht etwa auf ihre methodologische Überlegenheit ab. Vielmehr verweist Böckenförde auf ihre besondere Eignung für eine restriktive Verfassungsinterpretation im Rahmen einer restriktiven Rahmenordnungstheorie. Die inhaltliche Überzeugungskraft der Rahmenordnungstheorie leidet an dem Unvermögen, der Fokussierung auf den einfachen Gesetzgeber einen überzeugenden

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Grundrechtsschutz gegenüberzustellen. Dem selbst gesetzten Anspruch nach einem verbesserten Schutz liberaler Freiheitsgewähr wird die Rahmenordnungstheorie nicht gerecht, da sich ihr konzeptioneller Gehalt eben nicht darin erschöpft, die Grundrechtsfunktionen auf die Eingriffsabwehr zu beschränken. Die liberale Freiheit wird vielmehr durch eine restriktive Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie durch enge Gewährleistungsgehalte gefährdet. Letztere versagen bestimmten grundrechtlichen Betätigungsformen von vornherein den grundrechtlichen Schutz und geben damit die Art des Freiheitsgebrauchs inhaltlich vor. Eine Kompensation dieser Freiheitseinbußen im Rahmen des Auffanggrundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit ist dabei nicht ersichtlich. Als Ausgangs- und Zielpunkt der Rahmenordnungstheorie erscheint weniger der Schutz liberaler Freiheit als vielmehr der Schutz des einfachen Gesetzes und des Gesetzgebers. Unter Zugrundelegung der Regel-Prinzipien-Unterscheidung, die sich Böckenförde allerdings nicht zu eigen macht, kann man das Rahmenordnungsdenken daher als Regeldenken verstehen, das primär darauf gerichtet ist, die Regelebene des Rechts, insbesondere das einfache Recht zu verwirklichen. Die Unterordnung des Grundrechtsschutzes unter die Autonomie des Gesetzgebers aber birgt die Gefahr, dass die damit verbundene bestimmte Demokratieauffassung zu Lasten des (materiellen) Rechtsstaats verwirklicht wird. Die Möglichkeit einer verfassungsmäßigen Verfassungstheorie wird darüber hinaus durch die staatstheoretischen Implikationen der Rahmenordnungstheorie in Zweifel gezogen. Auch wenn die entsprechenden Aussagen Böckenfördes im Einzelnen verschiedene Deutungen zulassen, so bieten die auf die Wirklichkeit und die Souveränität des Staates bezogenen Argumente die Möglichkeit, die Verfassung für machtgestützte Argumente zu öffnen, die aus sich heraus – als Denken vom Staat her – gegen die Freiheit des Einzelnen gerichtet werden können. Die staatstheoretischen Fragen wirft die Rahmenordnungstheorie durch die im Zentrum ihres kritischen und konzeptionellen Gehalts stehende Ablehnung eines verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates und die Postulierung eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaates auf. Durch den Verweis auf die von Carl Schmitt explizierten Staatsarten bekommt diese Argumentation einen spezifischen Sinn, der über eine allgemeine Plausibilität des Vorrangs gesetzgeberischer vor verfassungsgerichtlichen Entscheidungen hinausgeht. Maßstab für die Charakterisierung eines Staates als Gesetzgebungs- oder als Jurisdiktionsstaates ist danach das Wesen des Staates. Dabei kommt es darauf an, wem die Letztentscheidungen zukommen. Ein Denken vom Staat her ist darauf gerichtet, den Staat als faktische Machteinheit zu stärken. Ihm liegt ein Verständnis von Staat und Verfassung zugrunde, das den Staat und seine Souveränität neben dem Recht und neben der Verfassung bestehen lässt. Letztentscheidungen in einem parlamentarischen Gesetzgebungsstaat obliegen danach gerade nicht – als Ausdruck einer Verfassungssouveränität – den materiellen Bindungen der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern dem Gesetzgeber. Solch ein parlamentarischer (Mehrheits-)Gesetzgebungsstaat kann freilich – wie Böckenförde selbst einräumt – nicht mit den materiellen und verfassungsgerichtlich abgesicherten Verfassungs-

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bindungen in Einklang gebracht werden. Die pauschale Gegenüberstellung von parlamentarischem Gesetzgebungsstaat und verfassungsgerichtlichem Jurisdiktionsstaat verbietet sich, da diese Alternativen auf dem Boden des Grundgesetzes nicht bestehen. Vielmehr ist die Verfassung auf die Vereinbarkeit von Verfassungs- und Volkssouveränität angelegt. Wie angreifbar das staatstheoretische Fundament der Rahmenordnungstheorie als verfassungsmäßige Verfassungstheorie ist, wird schließlich an dem sog. Böckenförde-Dilemma deutlich. Das Ideal eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaates bedarf nämlich einer vorverfassungsrechtlichen Einheitsstiftung. Als Voraussetzung der Demokratie soll eine zumindest relative Homogenität in der Gesellschaft herrschen. Da Homogenitätsforderungen an die Gesellschaft aber potentiell freiheitsgefährdend sind, formuliert sie Böckenförde von vornherein als Dilemma. Die Gefahr von Freiheitseinbußen ist damit aber nicht gebannt. Im Gegenteil: gerade das Rahmenordnungs- und Regeldenken bietet durch die Beschränkung der Verfassungsbindungen bei der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts die Freiräume, um staatliche Zweckmäßigkeitserwägungen ohne Berücksichtigung grundrechtlicher Freiheiten durchzusetzen. Die staatstheoretische Fundierung der Rahmenordnungstheorie zugunsten eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaates kann daher nicht überzeugen. Vielmehr widersprechen Sittlichkeits- und Homogenitätsvorstellungen an die Gesellschaft einer Verfassung, die den Schutz von Würde und Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt. Die Rahmenordnungstheorie verpflichtet sich insoweit nicht mehr dem Schutz rechtsstaatlicher Freiheitsgewähr, sondern liefert die staatstheoretischen Argumente, um einen solchen zu unterlaufen. Der Anspruch einer verfassungsmäßigen Verfassungstheorie, die Demokratie und Rechtsstaat zur Geltung bringt, wird damit nicht eingelöst. V. Als konstruktive Alternative wird ein verfassungsimmanentes Werteordnungsdenken vorgeschlagen, das sich – als Denken von der Verfassung her – der Demokratie und dem (materiellen) Rechtsstaat gleichermaßen verpflichtet. Das verfassungsimmanente Werteordnungsdenken basiert dabei auf dem Prinzipiendenken und nimmt als Korrektiv die kritischen Gehalte der Rahmenordnungstheorie auf. Man könnte das verfassungsimmanente Werteordnungsdenken daher auch als modifiziertes Prinzipiendenken bezeichnen – nicht aber als Synthese von Prinzipienund Rahmenordnungstheorie. In ihrer Herangehensweise bleiben Rahmenordnungsund Prinzipiendenken vielmehr unversöhnlich: während das Rahmenordnungsdenken – insoweit regelgeleitet – bei der Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Rahmens einem begrifflichen Subsumtionsideal folgt, strebt das Prinzipiendenken nach einer erst durch Abwägungen zu relativierenden verfassungsrechtlichen Durchdringung des Rechtssystems. Diese verfassungsrechtliche Durchdringung bietet einen entscheidenden Rationalitätsvorteil, nämlich – in Anknüpfung an die Lüth-Entscheidung – einen Verrechtlichungsgewinn bei der Anwendung des einfachen Rechts. Werden also die unausweichlichen Offenheitslücken des Rechts nicht mit moralischen Wertungen oder Zweckmäßigkeitserwägungen der rechtsanwendenden Organe gefüllt, sondern mithilfe von verfassungsrechtlichen Argumenten

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Zusammenfassung und Ausblick

geschlossen, wird die Rationalität juristischer Entscheidungen gesteigert. Die entscheidende Modifikation des Prinzipiendenkens liegt darin, dass das verfassungsimmanente Werteordnungsdenken einer moralischen Lesart des Prinzipiendenkens ausdrücklich nicht folgt. Weder die Geltung von Prinzipien obliegt danach einem moralischen Diskurs noch ihre Reichweite. Die Eliminierung des moralischen Diskurses aus dem Prinzipiendenken kann dabei bruchlos erfolgen. Eine begriffliche Notwendigkeit, den juristischen Diskurs mit dem moralischen Diskurs zu verbinden, kann nämlich nicht überzeugen, denn der damit verbundene Richtigkeitsanspruch des Rechts könnte nur zulasten der Demokratie verwirklicht werden, was verfassungsrechtlich unhaltbar ist. Ein verfassungsimmanentes Werteordnungsdenken soll darüber hinaus verhindern, dass Regeln der Verfassung mehr oder weniger beliebig zur Disposition des Verfassungsinterpreten gestellt werden. Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot beispielsweise darf nicht durch überpositive Gerechtigkeitserwägungen relativiert werden. Gleiches gilt für verfassungsrechtliche Prinzipienerwägungen, die gegen erkennbare und in Verfassungsregeln gegossene Abwägungsentscheidungen des Verfassungsgesetzgebers ins Feld geführt werden und z. B. Ausnahmetatbestände für das Folterverbot formulieren. Ziel eines verfassungsimmanenten Werteordnungsdenkens ist es, das verfassungsrechtliche Argumentationspotential für die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts zu nutzen und so die Rationalität juristischer Entscheidungen zu steigern. Die damit mögliche Verzahnung von Verfassungsrecht und einfachem Recht geht über das Bild der Ausstrahlungswirkung der Verfassung hinaus. Indem die verfassungsrechtlichen Argumente die Auslegung aller Rechtsgebiete durchdringen, verbinden sie diese auch untereinander und tragen zur Einheit des Rechts bei.

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Sachwortverzeichnis Abwägung – Abwägungsgesetz 102, 116 f., 125 – Abwägungsgrenzen 62 ff., 76, 126, 131 – Abwägungsvorgang 61, 77, 83, 116 f., 170 – Güterabwägung 27, 57 f., 80 – und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 59 ff., 76, 84, 116, 124, 133, 137, 159, 166, 206 – und Rationalität 61, 115 – 119, 126, 137, 157, 166, 170, 250 Apothekenurteil 59, 82, 133 Argumentation – grundrechtliche und allgemein praktische 121 f. – verfassungsrechtliche und Staatsverständnis 212 Auslegung – des einfachen Rechts 27, 32 ff., 40, 47, 53 f., 76, 86, 109, 115, 201, 230, 251 – Grundrechts- siehe Grundrechtsinterpretation – unbestimmter Rechtsbegriffe 33 – Verfassungs- siehe Verfassungsinterpretation – von Generalklauseln 30, 34, 230, 251 Ausstrahlungswirkung – BVerfG 26 f., 32 ff., 40, 46, 53, 56, 76 – und Prinzipientheorie 86 – und Rahmenordnungstheorie 159, 163 f., 167

Böckenförde-Dilemma 223 ff.; siehe auch Homogenität, (relative) 224 Bundesverfassungsgericht – judicial activism 205 – judicial self-restraint 43, 161, 203 – und einfacher Gesetzgeber 47 ff., 202, 204, 252 – und Fachgerichtsbarkeit 47, 53 f., 76, 202 – und Verfassungsgesetzgeber 209

Demokratie – Denken von der Demokratie her 208 f. – gleichursprünglich mit Rechtsstaat 244 f. – ohne Rechtsstaat 243 – rechtsstaatliche 245 – und Rahmenordnungstheorie 208 f. Diskurstheorie 120 f., 138 – und Regel-Prinzipien-Prozedur-Modell 121 – und Spielraumdogmatik 123, 125 Eingriffsverständnis 92, 171 Elfes-Entscheidung 22, 26, 63, 199 Folterverbot 136, 253 Freiheitsrechte – Freiheit schlechthin 150, 160, 164 – Freiheit um zu 149, 160 – Freiheitsbeschränkungen 52 – Freiheitsverwirklichung 36 f. – liberale Freiheit 149, 164, 166, 192, 194 – 198, 205, 249 Geisteswissenschaftliche Methode 141, 150 Gerechtigkeit – Einzelfallgerechtigkeit 197 – positivierte 71, 247 – überpositive 24, 71 ff., 133, 135, 138, 247 – und extremes Unrecht 131 – und Prinzipien 126, 128 Geschlossenheitsthese 115, 119, 247 Gesetzgebungsspielraum – Alexy 99 – 102, 137, 239, 247; siehe auch Spielraumdogmatik – Böckenförde 155 f., 159, 161, 163 f., 168 – 170, 172, 189 f., 192, 200 f., 205, 248; siehe auch Gesetzgebungsstaat, parlamentarischer – BVerfG 26, 36, 38, 41, 43 f., 47 ff. – und verfassungsimmanentes Werteordnungsdenken 252

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Sachwortverzeichnis

Gesetzgebungsstaat, parlamentarischer 220 f.; siehe auch Staatsverständnis, Staatsarten nach Schmitt – Böckenförde 159 f., 194, 209, 217 f., 222, 226, 229, 231, 249 Gewährleistungslehre – Böckenförde 170 f., 173, 208 – Kritik 196 – 199, 205, 249 Gleichheitsrecht, allgemeines – als Optimierungsgebot 97 f. – Art- und Gewicht-Formel 98 Grundrechte – Doppelnatur der 25 – Drittwirkung siehe Ausstrahlungswirkung – enge, weite Schutzbereiche siehe Schutzbereichsverständnis – Gewährleistungsgehalt, -inhalt, -bereich siehe Gewährleistungslehre – Kernbereiche 62 ff., 76, 83, 91 – Multifunktionalität siehe Grundrechtsdimensionen – Relativierung durch Gesetz 26, siehe auch Regelmodell des Rechts – verstärkte Geltungs- und Wirkkraft 29, 46, 86 – wertsetzende Bedeutung 26, 35 Grundrechtsauslegung siehe Grundrechtsinterpretation Grundrechtsdimensionen 31 – Abwehrfunktion 25 f. – Ausstrahlungswirkung siehe Ausstrahlungswirkung – Grundrechte als Organisationsrechte 37 f. – Grundrechte als Verfahrensrechte 39 ff. – objektiv-rechtliche Funktion 25, 32, 246, 248 – Schutzfunktion 41 ff. – Teilhabe- und Leistungsfunktionen 35 f. – und Prinzipientheorie 85 – und Rahmenordnungstheorie 163 f., 195 Grundrechtseingriff siehe Eingriffsverständnis Grundrechtsinterpretation – extensive 86, 148, 158, 205; siehe auch Verfassungstheorie, extensive – restriktive 201, 205, 209, 250; siehe auch Verfassungstheorie, restriktive – und Grundrechtstheorie 16, 148

Grundrechtskollision 62, 80, 84, 10; siehe auch Prinzipienkollision Grundrechtsschranken – und Gewährleistungslehre 171 – 173, 187 – 190, 196, 199 – und Regel-Prinzipien-Modell der Grundrechtsbestimmungen 80 f. – verfassungsimmanente 68 f. Grundrechtstheorie – (liberale) und Rahmenordnungstheorie 158, 160, 164, 204, 221 – und Grundrechtsinterpretation siehe Grundrechtsinterpretation – und Prinzipientheorie 78, 85, 104 Grundrechtsverständnis siehe Grundrechtstheorie Grundrechtsverwirklichung 36 ff., 46, 86, 164, 246, 248 Güterabwägung siehe Abwägung hard cases 78, 111 Hochschulurteil 36 ff., 41 f., 48 f., 51 Homogenität, (relative) 224 – 229, 234, 249 Jurisdiktionsstaat 230 f., 249; siehe auch Staatsverständnis, Staatsarten nach Schmitt Jurisdiktionsstaat, verfassungsgerichtlicher 248, 250 – Böckenförde 159 – 161, 163, 194, 210, 221 Kollisionsgesetz 116 f. Konstitutionalisierung des einfachen Rechts 27, 30, 46 f., 115 – in Transformationsstaaten 27 Konstitutionalismus 104 – 108 Legalismus 104 – 106, 110, 206 f. Lüth-Urteil 25 ff., 56, 152 Macht, staatliche 17 – 19, 250 – Denken vom Staat her 210 ff., 222, 229, 232 f., 246, 249 – und Letztentscheidung 215, 249 – und Offenheitslücken 231 f. Mauerschützen-Urteil 74 f., 133, 136 Menschenwürde – als Höchstwert 22, 57 f.

Sachwortverzeichnis – als Prinzip 83 – und Abwägung 58 f., 62, 131 – und Grundrechtstheorie 29, 165 Moral – Denken von der Moral her 110, 138, 142, 246 – materiale Wertethik siehe Prinzipientheorie – Naturrecht 28, 71, 106, 157, 192 – Offenheitsthese 115, 119 – 121, 138 – prozedurale Moraltheorie siehe Diskurstheorie – und Prinzipien siehe Prinzipien, rechtsethische, Prinzipienargument, Unrechtsargument, Offenheitsthese, Rechtsbegriff – und Prinzipienargument siehe Prinzipienargument – und Recht siehe Rechtsbegriff – und Unrechtsargument siehe Unrechtsargument Numerus-clausus-Entscheidung 35 f. Offenheitslücken 104, 121, 229 ff., 246; siehe auch Macht, staatliche 231 – und normative Ermächtigungslehre 230 Offenheitsthese siehe Moral Prinzipien – als Optimierungsgebote 79 – Begriff 93 f. – der Verfassung 108, 127, 139, 252 – 254 – des einfachen Rechts 230 f. – formelle 80, 99 – 102; siehe auch Spielraumdogmatik, Gesetzgebungsspielraum – Geltungsbedingungen 129, 254, siehe auch Prinzipienargument – positivierte 115, 127, 130 – rechtsethische 113 – und freies richterliches Ermessen 113 – und Werte 114 Prinzipienargument 126 – geltungstheoretische Version 127, 138, 247 – strukturtheoretische Version 126 Prinzipiendenken – Denken von den Prinzipien her 107, 109 f. – und Denken von der Moral her siehe Moral – und Werteordnungsdenken 78

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Prinzipienkollision 79, 83 f., 246 Prinzipienmodell des Rechts 80, 105, 107, 131, 135; siehe auch Konstitutionalismus Prinzipientheorie – als extensive Grundrechtstheorie 86 – als Strukturtheorie 85 f., 93, 104, 109 – Normkollisionen siehe Prinzipienkollision, Regelkollision – Prinzipien als Optimierungsgebote siehe Prinzipien – Regeln und Prinzipien 78, 93, 96 – und materiale Wertethik 114 – und Werttheorie 82 Radbruchsche Formel 72, 131 Rahmenordnung – als Verfassungsverständnis 13 f., 16, 138 ff.; siehe auch Rahmenordnungstheorie – Begriff 139 – oder Werteordnung 235 – und Werteordnung 239 f. Rahmenordnungsdenken – als Regeldenken 192, 207 – und Denken vom Staat her siehe Macht, staatliche – und Denken von der Demokratie her siehe Demokratie Rahmenordnungstheorie 191 – Autonomie des Gesetzgebers 163 – Gewährleistungslehre siehe Gewährleistungslehre – Grundrechte als Abwehrrechte 163 f. – restriktive Verhältnismäßigkeit 166 f. Rahmenordnungsverständnis siehe Rahmenordnungstheorie Rechtsbegriff – Prinzipienargument siehe Prinzipienargument – Trennungsthese 111 – und Prinzipien 111 – Verbindung von Recht und Moral 113 Rechtsfortbildung 50, 74 Rechtsstaat – formeller 241 – gleichursprünglich mit Demokratie siehe Demokratie – introvertierter 213 f.

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Sachwortverzeichnis

– materieller 241 f. – ohne Demokratie siehe Demokratie – und Moral 246 – und Sozialstaat 146 Rechtstheorie 15 Regel-Prinzipien-Modell des Rechts 107 Regel-Prinzipien-Prozedur-Modell siehe Diskurstheorie Regeldenken 109; siehe Rahmenordnungsdenken Regelmodell des Rechts 105, 107; siehe auch Legalismus Regeln – der Verfassung 81, 108 f., 131, 133, 135 f., 138, 252 f. – des einfachen Rechts 109, 252 – Erfüllbarkeit 78 – prima-facie-Charakter 80, 108 – und freies richterliches Ermessen 111 – und Prinzipien siehe Prinzipientheorie Richtigkeitsanspruch des Rechts 129 f., 138 Rückwirkungsverbot 74, 132 – absolute Geltung 74 – bedingt absolute Geltung 133, 135 – und extremes staatliches Unrecht 75, 133 Schutzbereichsverständnis – BVerfG 88 – 90 – und Prinzipientheorie 91 f. – und Rahmenordnungstheorie siehe Gewährleistungslehre Soraya-Entscheidung 50, 72, 89 Souveränität – und Ausnahmezustand 214 – Verfassungssouveränität 214 f., 217, 220, 250 – Volkssouveränität 216 f., 242, 249 f. Spielraum des Gesetzgebers siehe Gesetzgebungsspielraum Spielraumdogmatik 123 – 125 Staat siehe auch Gesetzgebungsstaat, Jurisdiktionsstaat, Macht, Staatsverständnis – als Argument 212 – faktischer 216 f., 249 – sittlicher 224 f., 232 f. – und Menschenwürde 233 f. – und (relative) Homogenität siehe Homogenität

– und Verfassung 213 – 216, 249 f. Staatsverständnis siehe auch Staat – Denken vom Staat her siehe Macht, staatliche – Staatsarten nach Schmitt 218 – 220 Unrechtsargument 131 f., 135 – 137, 247 Verfassung – als Weltenei 142 – Einheit 68, 133 – Normativität 15, 17, 123 f., 138, 162 – Verfassungsbegriff 13, 154, 232 – Verfassungsgesetz 141, 153 f. Verfassungsgerichtsbarkeit siehe Bundesverfassungsgericht Verfassungsgesetzgeber – das BVerfG als 159 – Entscheidungen des 96, 133 f., 250, 253 – und einfacher Gesetzgeber 209 – und normative Bindungen 24 – und verfassungswidriges Verfassungsrecht 24 Verfassungsimmanentes Werteordnungsdenken – und Geltung von Verfassungsprinzipien 254; siehe auch Verfassungswerte, Entfaltung neuer – und Gesetzgebungsspielraum 252 – und Prinzipiendenken 251 – und Regeln der Verfassung 252 f. Verfassungsinterpretation, Methoden der 152 f. – historisch-genetische Auslegung 174 f.,186, 192 – und Verfassungstheorie siehe Verfassungstheorie Verfassungsprinzipien siehe Prinzipien der Verfassung Verfassungsregeln siehe Regeln der Verfassung Verfassungstheorie – Begriff 15 – extensive 16, 139 – restriktive 16, 140 – und Verfassungsinterpretation 16, 153 – verfassungsmäßige 159 f., 194, 235 – 238, 251

Sachwortverzeichnis Verfassungsverständnis siehe auch Verfassungstheorie – und Rahmenordnung siehe Rahmenordnung – und Werteordnung siehe Werteordnung Verfassungswerte – als Prinzipien ersten Ranges 126 – Entfaltung neuer 67, 69 f., 171, 254 – Katalog 65 ff. – Rangordnung 57 ff., 83, 141, 157 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – als verfassungsrechtlicher Grundsatz 167 f. – Angemessenheits-Verhältnismäßigkeit 167, 169 – polizeirechtliche Verhältnismäßigkeit 166, 1168 f.,191; siehe auch Rahmenordnungstheorie – und Abwägung siehe Abwägung Wertdenken – lebensweltlich orientiertes 156 – Logik des 156 – 158, 161, 166 – objektives 156 – philosophisches 114 – subjektives 156 Werte – der Verfassung siehe Verfassungswerte

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– Tyrannei der 157 f. – Wertbegründung des Rechts 156 Werteordnung – als Verfassungsverständnis 13; siehe auch Prinzipientheorie – grenzüberschreitende 236 – grundgesetzliche 20, 30, 44, 68, 76, 147 – grundrechtliche 32 ff., 46, 56 – objektive 20, 25 f. – oder Rahmenordnung siehe Rahmenordnung – und BVerfG siehe Werteordnungsrechtsprechung – und Rahmenordnung siehe Rahmenordnung – Wert(e)ordnung 13 Werteordnungsdenken – als Prinzipiendenken siehe Prinzipiendenken – verfassungsimmanentes siehe verfassungsimmanentes Werteordnungsdenken Werteordnungsrechtsprechung 20 ff. Wertrangordnung siehe Verfassungswerte, Rangordnung Wertrelativismus 25, 31 Zirkel, hermeneutischer 236 – 238 Zivilreligion 227 f.