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German Pages [398] Year 2011
Georg Büchner Jahrbuch 5/1985 Für die Georg Büchner Gesellschaft und die Forschungsstelle Georg Büchner — Literatur und Geschichte des Vormärz im Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg herausgegeben von Thomas Michael Mayer in Zusammenarbeit mit Hubert Gersch und Günter Oesterle
Europäische Verlagsanstalt
Redaktionsadresse: Georg Büchner Jahrbuch c/o Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg Wilhelm-Röpke-Str. 6/A; D-3550 Marburg/Lahn (Tel.: 0 64 21/28 45 41) oder über: Georg Büchner Gesellschaft; Postfach 1530; D-3550 Marburg/Lahn
Die Einsendungen von Publikationen (Sonderdrucke wenn möglich in 2 Exemplaren) ist freundlich erbeten; von Beiträgen jedoch nur nach vorheriger Absprache und mit üblicher technischer Manuskripteinrichtung sowie mit bibliographischen und Zitat-Auszeichnungen entsprechend dem vorliegenden Band.
Gedruckt mit Unterstützung durch das Land Hessen, die Stadt Marburg und die Stadt Darmstadt
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Georg-Büchner-Jahrbuch l Für d. Georg-Büchner-Ges. u. d. Forschungsstelle Georg Büchner, Literatur u. Geschichte d. Vormärz, im Inst, für Neuere dt. Literatur d. Philipps-Univ. Marburg hrsg. - Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt Erscheint jährl. 5/1985 © 1986 by Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main Motiv: Georg Büchner im Felsenmeer. Zeichnung von Alexis Muston (Oktober 1833), mit freundlicher Genehmigung von Heinz Fischer Umschlaggestaltung nach Entwürfen von Rambow, Lienemeyer und van de Sand Satz: Computersatz Bonn GmbH, Bonn Druck und Einband: Bercker, Graphischer Betrieb GmbH, Kevelaer Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vertrags, der Rundfunksendung sowie der fotomechanischen Wiedergabe, auch einzelner Teile. Printed in Germany ISBN 3-434-00727-X
Inhalt Abkürzungen und Siglen
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Aufsätze Terence M. Holmes: Druckfehler und Leidensmetaphern als Fingerzeige zur Autorschaft einer Landboten-Stelle Sigrid Oehler-Klein: »Der Sinn des Tiegers«. Zur Rezeption der Hirn- und Schädellehre Franz Joseph Galls im Werk Georg Büchners Alfons Glück: »Herrschende Ideen«: Die Rolle der Ideologie, Indoktrination und Desorientierung in Georg Büchners Woyzeck Alfons Glück: Der Menschen versuch: Die Rolle der Wissenschaft in Georg Büchners Woyzeck
11 18 52 139
Debatten Thomas Michael Mayer: Bemerkungen zur Textkritik von Büchners Lenz Wilhelm Solms: Büchners Tod in aktuellen Unterrichtsmodellen Martin Selge: Dantons Tod in der Schule. Lehrer und Schüler berichten aus Schulstunden über Büchners Drama Inge Rippmann: Ludwig Borne oder Die Kunst des Vergessens. Zum Katalogband der Borne-Ausstellung in Frankfurt a. M.
184 198 218 275
Kleinere Beiträge und Glossen Ilona Broch: Drei Marginalien zu Georg Büchners Schülerschriften Erich Zimmermann: Erinnerungen Minnigerodes an die »Gesellschaft der Menschenrechte«. Aus einer amerikanischen Gedenkschrift von 1895 Nikolaus Dorsch: »Wer einmal nichts hat als Verstand ...« Eine Anmerkung zu Büchners Voltaire-Lektüre Petra Raymond: Gewährsmann Oberlin. Zu Gutzkows literaturpolitischer Strategie in seinem Kommentar zu Büchners Lenz Jan-Christoph Hauschild: Kleine Anmerkung zur Textkritik von Leonce und Lena Volker Kaukoreit: Der »Geburtstag des Königs« und die Republikaner. Eine Anmerkung zu Büchners Brief vom 5. Mai 1835 mit Vorüberlegungen zum Briefkommentar Karin Füllner: Wahnsinn als Anklage. Sozialkritik in Georg Büchners Woyzeck und Richard Huelsenbecks Azteken oder die Knallbude. Eine militärische Novelle
286 292 297 300 313 316 320
Dokumente und Materialien Jan-Christoph Hauschild: Erinnerung an einen »außerordentlichen Menschen«. Zwei unbekannte Rezensionen von Büchners Jugendfreund Georg Zimmermann Thomas Michael Mayer: Ein unbekanntes Dokument zur Hinrichtung Johann Christian Woyzecks
330 347
Rezensionen Henri Poschmann: Georg Büchner, 1983 (Hans-Joachim Ruckhäberle) Alben Meier: Georg Büchners Ästhetik, 1983 (Hans-Georg Werner) " Georg Reuchlein: Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E. T. A. Hoff mann und Georg Büchner, 1985 (Friedhelm Auhuber) Sigrid Damm: Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz, 1985 (Ernst-Ullrich Pinkert)
350 354 358 369
Georg Büchner auf dem Theater 1981-1984/5. Verzeichnis der Aufführungen und Kritiken. Zusammengestellt von Marion Poppenborg
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Anschriften der Mitarbeiter
400
Abkürzungen und Siglen
Benn F G B IIII G B HI GBJb HA Hauschild Hinderer HL Jancke Katalog
Knapp Marburger Denkschrift
Martens H. Mayer N Nö Poschmann
= Maurice B. Benn: The Drama of Revolt. A Critical Study of Georg Büchner. - Cambridge [u. a.] 1976 [21979] = Georg Büchner's Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste kritische Gesammt-Ausgabe. Eingel, u. hrsg. von Karl Emil Franzos. - Frankfurt a. M. 1879. = Georg Büchner II U. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. - München 1979 [21982J (= Sonderband aus der Reihe text + kritik) = Georg Büchner III. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. - München 1981 (= Sonderband aus der Reihe text + kritik) = Georg Büchner Jahrbuch = Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. von Werner R. Lehmann. — Hamburg [dann München] 1967 ff. [Hamburger bzw. Hanser-Ausgabe] = Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Studien und neue Quellen zu* Leben, Werk und Wirkung. Mit zwei unbekannten Büchner-Briefen. Königstein/Ts. 1985 (= Büchner-Studien, Bd. 2) = Walter Hinderer: Büchner-Kommentar zum dichterischen Werk. München 1977 = Gerhard Schaub: Georg Büchner/Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Texte, Materialien, Kommentar. — München 1976 (= Reihe Hanser Literatur-Kommentare, Bd. 1) = Gerhard Jancke: Georg Büchner. Genese und Aktualität seines Werkes. Einführung in das Gesamtwerk. - Kronberg/Ts. 1975 [31979] = Georg Büchner. Leben, Werk, Zeit. Katalog [der] Ausstellung zum 150. Jahrestag des »Hessischen Landboten«. Unter Mitwirkung von Bettina Bischoff, Burghard Dedner [u.a.] bearb. von Thomas Michael Mayer. - Marburg 1985 [21986] = Gerhard P. Knapp: Georg Büchner: Eine kritische Einführung in die Forschung. - Frankfurt a. M. 1975 Marburger Denkschrift über Voraussetzungen und Prinzipien einer Historisch-kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke und Schriften Georg Büchners. [Hrsg. von der] Forschungsstelle Georg Büchner — Literatur und Geschichte des Vormärz — im Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg und [der] Georg Büchner Gesellschaft. Erste Fassung. - Marburg/L. 1984 (Als Manuskript gedruckt) = Georg Büchner. Hrsg. von Wolfgang Martens. - Darmstadt 1965 [31973] (= Wege der Forschung, Bd. LIII) = Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit. - Frankfurt a. M. 1972 [41980] (= suhrkamp taschenbuch 58) = Nachgelassene Schriften von Georg Büchner [Hrsg. von Ludwig Büchner]. - Frankfurt a. M. 1850 = Friedrich Noellner: Actenmäßige Darlegung des wegen Hochverraths eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens gegen Pfarrer D. Friedrich Ludwig Weidig [...]. - Darmstadt 1844 = Henri Poschmann: Georg Büchner. Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung. - Berlin u. Weimar 1983 [21985]
SW Victor WA WuB
= Georg Büchners Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Fritz Bergemann. - Leipzig 1922 = Karl Victor: Georg Büchner. Politik» Dichtung, Wissenschaft. — Bern 1949 = Georg Büchner: Woyzeck. Faksimileausgabe der Handschriften. Bearb. von Gerhard Schmid. — Leipzig [desgl. Wiesbaden] 1981 (= Manu scripta, Bd. 1) = Georg Büchner: Werke und Briefe. Nach der historisch-kritischen Ausgabe von Werner R. Lehmann. Kommentiert von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm u. Edda Ziegler. — München, Wien [desgl. München: dtv] 1980
AUFSÄTZE
Druckfehler und Leidensmetaphern als Fingerzeige zur Autorschaft einer Landboten-Stelle Von Terence M. Holmes (Swansea)
In den Noten zur Textherstellung seiner Ausgabe des Hessischen Landboten erwähnt Gerhard Schaub die »Vielzahl« von »offenkundige[nj Druckfehler [n]«, die in den Erstausgaben beider Fassungen vorkommen und die er so wie Werner Lehmann in HA stillschweigend berichtigt hat (HL, S. 38). Es scheint mir, daß noch eine weitere, von den beiden Herausgebern unangetastete Stelle einen ziemlich offenkundigen Druckfehler aufweist. In Schaubs Text der Juli-Fassung steht in Übereinstimmung mit Lehmann: »Wehe über euch Götzendiener! - Ihr seyd wie die Heiden, die das Krokodill anbeten, von dem sie zerrissen werden. Ihr setzt ihm eine Krone auf, aber es ist eine Dornenkrone, die ihr euch selbst in den Kopf drückt; ihr gebt ihm ein Scepter in die Hand, aber es ist eine Ruthe, womit ihr gezüchtigt werdet; ihr setzt ihn auf euern Thron, aber es ist ein Marterstuhl für euch und eure Kinder.« (HL, S. 18)
Es fällt schwer, über die Wendung »auf euern Thron« einfach hinwegzulesen. Hier stutzt man, da es plötzlich den Anschein hat, als handle es sich um einen rechtmäßigen Landesthron und als bestünde das Übel bloß darin, daß ein »Krokodill« darauf gesetzt worden sei. Es wäre doch keinem der beiden Verfasser des Landboten eingefallen, hier »euern Thron« zu schreiben; Büchner gewiß nicht, der »das m o n a r c h i s c h e P r i n c i p [haßte], welches er für die Ursache alles Elends hielt« (Aussage Beckers, HL, S. 181), aber auch Weidig nicht, der, wenn er gleich »vor der Hand [...] mehr für die M o n a r c h i e « war und »durchaus n i c h t dafür, in Deutschland ein rep u b l i k a n i s c h e s Princip einzuführen«1, und auch wenn er sich einen deutschen Kaiser vorstellte, »der vormals vom Volke frei gewählt wurde«, gerade deshalb den »Thron« eines »Kleinherzog[s]« als Symbol der zersplitternden Usurpation des ehrwürdigen, ehedem vom »Ein[en] Leib« des deutschen Volks verliehenen Kaiseramtes angesehen haben muß (HL, S. 20, 26, 32). Meines Erachtens hat man hier den originalen Wortlaut »auf einen Thron« zu vermuten, zumal die fragliche Wendung »auf euern Thron« auch
l Zitiert nach Thomas Michael Mayer, GB ////, S. 258.
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als Störfaktor im rhetorischen-Aufbau der Periode auffällt, läuft sie doch dem Parallelismus der Konstruktion zuwider, worin die Insignien der Majestät abschätzend-unbestimnit als »eine Krone [...] ein Scepter [...] [einen] Thron« aufgezählt werden, um eins nach dem anderen in drastische Torturmetaphern verwandelt zu werden. Schließlich kann man sich auf die November-Fassung berufen, wo verbessernd »den Thron« gesetzt wurde, wodurch freilich der ursprüngliche rhetorische Effekt nicht ganz zu retten war. Ich glaube, daß sich dieser Druckfehler mit den benachbarten zusammengenommen eventuell für die Frage der Autorschaft der betreffenden Passage auswerten läßt. Zunächst aber muß man zwischen den verschiedenen Arten von Druckfehlern im Juli-Druck2 unterscheiden. Die meisten sind wahrscheinlich durch das Vorkommen einer Drucktype an dem falschen Platz im Setzkasten verursacht worden: »Innrrn« statt »Innern« (S. 3, Z. 20), Punkt statt Komma (S. 4, Z. 5), »Pensidnen« statt »Pensionen« (S. 4, Z. 26), »Bolkes« statt »Volkes« (S. 2, Z. 44), »gezdgen« statt »gezogen« (S. 5, Z. 11) und »abgehen« statt »abgeben« (S. 6, Z. 3). Es ist auch denkbar, daß »aber« statt »über« (S. 2, Z. 6) zu dieser Reihe gehört. Eine zweite Gruppe besteht aus grammatischen Fehlern, die sich wohl am ehesten als Versehen des Setzers deuten lassen, sind doch solche Endungsverwechslungen eine ziemlich häufige Erscheinung bei der Setzerarbeit3: »ihm« statt »ihn« (S. l, Z. 26), »ihrer« statt »ihren« (S. 4, Z. 20), und »diesen« statt »diese« (S. 2, Z. 52). Drittens aber kommen einige Fälle vor, wo der Setzer offensichtlich das Druckmanuskript falsch entziffert hat: »einem« statt »eurem« (S. 2, Z. 3), »euern« statt »einen« (S. 2, Z. 14), und »Marterstrahl« statt »Marterstuhl« (S. 2, Z. 15). Es ist nun auffallend, daß die wenigen offenkundigen Lesefehler ganz dicht beisammen, und zwar innerhalb von dreizehn Zeilen auf S. 2 konzentriert sind. Dieser Sachverhalt scheint darauf zu deuten, daß sich an diesem Punkt in der Druckvorlage eine schwer zu entziffernde Stelle gegen einen sonst besser leserlichen Text abgehoben haben dürfte. Ist es möglich, daß wir es hier mit einem Nachtrag Büchners zu tun haben, den er an diesem Punkt eigenhändig einschleuste, nachdem Becker das Konzept gerade seiner Unleserlichkeit wegen »in's Reine geschrieben« hatte (HL, S. 179) und noch bevor Weidig seine mildernden Änderungen vornahm?4 2 Nach der Faksimile-Ausgabe der beiden Erstdrucke des Hessischen Landboten von Eckhart G. Franz (Marburg 1973). Die falsche Paginierung des Juli-Drucks ist in meinen Angaben beibehalten. 3 Vgl. die zahlreichen von H. Düntzer angeführten neuen Druckfehler, die sich in die vierzigbändige Goethe-Ausgabe von 1840 einschlichen und die zum großen Teil aus solchen Buchstabenverwechslungen bestehen, obwohl eine gedruckte Vorläge, die Ausgabe letzter Hand, der Setzerarbeit an der Ausgabe von 1840 zugrundelag (Düntzer: Heber die neue Octavausgabe von Goethes Werken in 30 Bänden und für die Besitzer derselben. - [Stuttgart 1851], S. 14-20). 4 Aus den Prozeßakten zitiert Thomas Michael Mayer die Aussage Carl Braubachs, »daß die Schriftzüge des Manuskripts nicht von einer und derselben Hand, sondern von mehreren
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Es handelt sich um Lesefehler, die von der Beschaffenheit von Büchners Schriftzügen her ohne weiteres verständlich wären, wie man aus den Seiten der Danton-Handschnit ersieht, die Thomas Michael Mayer in seiner Studienausgabe Georg Büchner: Danton's Tod. Ein Drama faksimilieren ließ.5 Versuchen wir einmal, anhand des Faksimiles anzudeuten, wie der Setzer des Landboten die betreffenden Wörter im hypothetischen Büchner-Einschub hätte mißverstehen können. Das Häkchen über dem u verflüchtigt sich manchmal bei Büchner zu einem winzigen Strichelchen, wodurch der Buchstabe, wenn er zugleich zusammenschrumpft, einem i ähnlich werden kann (siehe »neugeborne«, Becker: Trauerarbeit, S. 17, Z. 13). Auch könnte das Buchstabenpaar re leicht mit ne verwechselt werden (vgl. »treten«, S. 18, Z. 8, und »Keiner«, ebd., Z. 2 am Rand), und somit wären die Voraussetzungen gegeben für die falsche Lesart »einem« statt »eurem«. Wo der Setzer »einen« als »euern« gedeutet hat, ist ihm zunächst der erstgenannte Fehler unterlaufen, nur umgekehrt; hinzu kam die Verwechslung eines n mit einem e und eines e mit einem r (vgl. das r und das zweite e in dem Wort »treten«, S. 18, Z. 8, und das e und das n am Ende von »durchsetzen«, S. 18, Z. 10). Die Lesung »Marterstrahl« statt »Marterstuhl« wird begreiflich, wenn wir unterstellen, daß das u hier wie auf S. 17 in den Wörtern »blutig« (Z. 13) und »durchgesetzt« (Z. 18) unten durchbrochen war und daß das Häkchen entweder ganz fehlte oder so undeutlich war wie bei »muß« (S. 16, 3. Z. v. u.) bzw. »und« (S. 20, Z. 9). In diesem Zustand hätte das u eher wie zwei flüchtig hingekritzelte Buchstaben ausgesehen, so daß der »Marterstuhl« in einen »Marterstrahl« verwandelt werden konnte. In diesem Zusammenhang liegt die Vermutung nahe, daß auch »aber« statt »über« als Lesefehler aufzufassen ist, besonders wenn man in dem Faksimile ein »aber« (S. 20, Z. 4) mit einem »über« (S. 19, Z. 12) vergleicht, wo das Umlaut-Zeichen praktisch seine Schwundstufe erreicht hat. Wenn solche Indizien für Büchners Hand zu sprechen scheinen, so stellt sich freilich vom inhaltlichen Standpunkt her die Frage, ob Büchner als der wahrscheinliche Autor dieser Passage angesehen werden kann; die Lesefehler, die den theoretischen Büchner-Nachtrag abstecken, liegen doch auf beiden Seiten einer Nahtstelle, an der Fritz Bergemann6 und Thomas Michael Mayer gerade umgekehrt einen Eingriff Weidigs in den Text Büchners annehmen. Anhand seiner eingehenden Differenzierung der Ideologien und Ausdrucksweisen beider Verfasser7 ist Mayer deshalb geneigt, den Passus Händen herrührten«, und schließt daraus, daß Büchner vielleicht »noch in Beckers Transkription verändert und korrigiert« hat (Gß ////, S. 183 f.). 5 In: Peter von Becker (Hrsg.): Georg Büchner. Dantons Tod. Die Trauerarbeit im Schönen. - Frankfurt am Main 1980 (zugleich als Sonderdruck für die Mitglieder der Georg Büchner Gesellschaft. - Marburg 1980). 6 Georg Büchner: Werke und Briefe. Hrsg. von Fritz Bergemann. - Wiesbaden 1958, S. 338. 7 Der »subtile und gründliche Rekonstruktionsversuch« Mayers (Schaub: WuB, S. 453) hat
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HL, S. 18, Z. 16-21, Weidig zuzuschreiben, weit'er dort sowie generell in der zweiten Hälfte des Landboten den für Weidig kennzeichnenden Gedanken einer politischen Strafe konstatiert, die von Gott über das deutsche Volk wegen dessen Abkehr von der Liebe und Pflege der gottverordneten Freiheit verhängt worden sei (GB ////, S. 251-267). Die »Ruthe, womit ihr gezüchtigt werdet« (HL, S. 18, Z. 20), ordnet Mayer diesem Schema zu, indem er sie als Variante eines Weidigschen Gemeinplatzes sieht, der auf den biblischen »Stecken ihres Treibers« (Jes. 9,4) zurückgeht (Gß ////, S. 262 f.). Für die aus einem »Scepter« gewordene »Ruthe« scheint aber der Hinweis Schaubs (HL, S. 57) auf die Passion Christi, namentlich Matth. 27, 27-30, relevanter zu sein, weil dort das »Rohr«, zunächst als Scheinzepter »in seine rechte Hand« gegeben, gleich darauf als Zuchtrute gegen ihn gekehrt wird: »und Schaub dazu bewegen, seine frühere Auffassung, der Landbote sei »als Gemeinschaftsarbeit zweier Autoren anzusehen« (HL, S. 39), weitgehend zu revidieren. Er warnt zwar immer noch davor, bestimmte Stellen dieses »wirkungs- und adressatenbezogene(n] Text[es] [...] aufgrund personalstilistischer Argumente [...] voreilig dem einen oder dem anderen der beiden Flugschriftsteller zuzuweisen«, betont aber zugleich, daß damit »keineswegs die Berechtigung und Notwendigkeit von Rekonstruktionsversuchen bezweifelt werden, die zur Lösung der ebenso schwierigen wie interessanten Frage der Textverteilung im HL beitragen« (WuB, S. 453 f.). Es ist daher verwunderlich, daß Gerhard P. Knapp sich noch jetzt auf Schaub berufen zu können glaubt, wenn er behauptet, daß der Landbote »in seiner überlieferten Form das G e m e i n s c h a f t s p r o d u k t zweier Autoren « u n d Mayers Differenzierungsversuch »bestenfalls ein gravierender Rückschritt« in der Forschung sei, der »mit approbierter Editionstechnik, geschweige denn mit philologischer Redlichkeit nichts zu tun [hat]« (Georg Büchner, 2., neu bearb. Auflage. - Stuttgart 1984, S. 37). Erstens muß man dazu bemerken, daß Knapp mit keinem einzigen Beispiel die philologische Unredlichkeit Mayers zu belegen versucht. Zweitens beruht das schroffe Urteil über die editionstechnische Unhaltbarkeit der Analyse Mayers auf der herbeizitierten Meinung Schaubs: »Den Text des HL so zu lesen und zu interpretieren, als sei er der unmittelbare, bekenntnishafte, unretuschierte, authentische Ausfluß der politischen, sozialen und ökonomischen Anschauungen seiner beiden Autoren, [...] ist vom Standpunkt des Rhetorikers aus gesehen ein problematisches, ja naives Unterfangen« (WuB, S. 453). Gewiß ist die Adressatenbezogenheit des Landboten ein vorsichtig zu erwägender Faktor, der aber für Schaub selbst keineswegs eine Lösung der Frage der Textverteilung ausschließt. Es wäre auch naiv, bei einem »wirkungs- und adressatenbezogene[n] Text« zu unterstellen, die jeweiligen Ideologien der Verfasser seien idarin völlig erloschen, wo es ihnen letztendlich doch nicht um einen irgendbeliebigen rednerischen Effekt ging, sondern um eine ganz bestimmte, wenngleich rhetorisch und taktisch vermittelte Wirkung, d.h. die Realisierung ihrer respektiven »politischen, sozialen und ökonomischen Anschauungen« durch die eigens darauf abgezielte Mobilisierung der Adressaten. Auch Werner R. Lehmann betrachtet die Errungenschaften und Aufgaben auf diesem Gebiet mit einer an Unwillen grenzenden Skepsis und will nur zugeben, daß es »in dem politisch motivierten Konglomerat der Verfasserschaften [...] stilistisch und ideologisch markant hervortretende Profile [gibt], die Zuschreibungen zwar nicht erforderlich machen, aber auch nicht verbieten« (WuB, S. 569). Eben aus der von Mayer zutage geförderten Profilierung der »Verfasserschaften« geht aber deutlich hervor, daß der Landbote nicht als Gemeinschaftsarbeit betrachtet werden kann, daß also eine Textverteilung durchaus erforderlich ist; und wo »Profile« schon »markant hervortreten«, lassen sich Zuschreibungen nicht einmal vermeiden, geschweige denn »verbieten«.
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nahmen das Rohr, und schlugen damit sein Haupt«. Der Bezug der hier im Landboten aufgereihten Torturmetaphern zur christlichen Leidensgeschichte wird noch durch die daraus zitierte »Dornenkrone« bestätigt. Gerade damit aber wird die Zuschreibung auf Weidig problematisch. Es ist nämlich kaum vorstellbar, daß Weidig ausgerechnet und ausdrücklich die »Dornenkrone«, dieses mit der Blutzeugenschaft Christi (und wohl auch im übertragenen, politischen Sinn mit der Opferbereitschaft der Burschenschaftler) verbundene Symbol, in einem solchen Zusammenhang verwendete; daß er durch die Symbolik der Erlöser-Qual ein Leid darstellen wollte, welches als göttliche Strafe einem Volk auferlegt worden, das sich selbst durch »Schande und Sünden [...] in die Knechtschaft gestürzt hat« (Weidig, zitiert nach Mayer: Gß ////, S. 263), ein Leid also, das mit dem »Irrthum cures Wandels« (HL, S. 26-28) synonym wäre. Ich möchte also nach den möglichen Antezedenzien dieser Passions-Metaphorik bei Büchner fragen. Unter den von Bergemann entzifferten Schülerglossen und Schulheftnotizen Büchners kommen lyrische Zitate vor, die die Vertrautheit des Gymnasiasten mit der pathetisch-revolutionären Poesie der Burschenschaftler belegen. Da heißt es unter anderem: »Und Freiheit, Freiheit sei mein [Amen! Amen!] Wenn d[u, mein wundes] Vaterland verkümmert, So sei mein Blut noch deine letzte ölungf.] Dann greif ich freudig in den Kranz der Dörner, Hell klingen mir die ewigen Siegeshörner.«8
Der 17-jährige Büchner zitiert hier (auswählend und umstellend) einige exponierte Passagen des patriotischen Opfergedankens aus dem Großen Lied der Brüder Folien von 1817-19.9 Das Zubehör der Passion begegnet dann im Landboten aber mit ganz umgekehrtem Vorzeichen, insofern es sich nicht auf die erhabene und hoffnungsträchtige Todesbereitschaft der Freiheitskämpfer, sondern auf die von der Obrigkeit »regelmäßig eingerichtete Schinderei« (HL, S. 16), das grausame, zermürbende, alltägliche Leiden des unterdrückten Volkes bezieht. Das ist nun eine Umwertung, die für den reifen Büchner kennzeichnend wäre. Heinrich Anz macht auf Büchners »Verfahren der zurücknehmenden Umdeutung christlicher Gehalte« aufmerksam, wobei »die Christusimitation, die in allen poetischen Werken Büchners durchscheint, [...] eine Christusnegation [bedeutet], von der her alle soteriologischen Deutungen ausgeschlos-
8 Georg Büchner: Werke und Briefe. - Wiesbaden 1958, S. 460. 9 Hier aus dem Abschnitt »Stimmen aus dem Volke«, vgl. Walter Grab/Uwe Friesel: Noch ist Deutschland nicht verloren. Eine historisch-politische Analyse unterdrückter Lyrik von der Französischen Revolution bis zur Reichsgründung. - München 1970, S. 71 (Zitatnachweis zuerst bei Mayer, in: Gß ////, S. 286, Anm. 605). 15
sen werden«.10 Nicht anders verhält es sich in dem zur Rede stehenden Landboten-Abschmtt. Auch hier verlieren die Passions-Bilder ihren heilsgeschichtlichen Sinn und werden zu Bezeichnungen einös profanen, unwirksamen, rein kreatürlichen Leidens heruntergesetzt. Die Suggestion der Imitatio schwingt nur noch negativ mit, insofern sie gerade die Sinnlosigkeit solch bitteren materiellen Leidens ironisch unterstreicht. Somit scheint mir ziemlich gesichert, daß Büchner als der Verfasser dieser »Nachtrags«-Zeilen anzusehen ist. Ich stelle nun versuchsweise folgende Erklärung der Mehrschichtigkeit des Kontextes zur Debatte. Ursprünglich fehlte in Büchners Konzept und folglich in der Reinschrift Beckers die ganze Passage HL, S. 18, Z. 2-21. Das Argument lautete also: »Sie thun nichts in ihrem Namen, unter der Ernennung zu ihrem Amt, steht ein L. das bedeutet L u d w i g von Gottes Gnaden und sie sprechen mit Ehrfurcht: >im Namen des Großherzogsneue PhysiognomikJungenliebe< und >Freundschaft< (Anhänglichkeit) aufzustellen. Die Annahme, daß auch der Mensch über derartige Grundfakultäten wie den Diebsinn — die Steigerung des Strebens nach Eigentum —, den Verteidigungsinstinkt, den Ortssinn als biologische Anlage verfügen sollte, stützte Gall über die aus der vergleichenden Verhaltensforschung gewonnenen Ergebnisse hinaus mit dem Hinweis auf die in allen Kulturen und Schichten zu findenden Grundverhaltensweisen und Bedürfnisse. Explizit gegen den französischen Sensualisten Helvetius behauptete Gall, daß sowohl das Lernen wie auch sonstige Umwelteinflüsse lediglich die Wirkungsweise der festgelegten Grundkräfte verändern könnten, sie aber weder zu erzeugen noch abzuschaffen vermögen. Gall nahm keine definitorische Unterscheidung von Instinkten, Trieben, Charaktereigenschaften und geistigen Vermögen vor; er nannte sie allesamt einfach Grundfakultäten und band sie an im Prinzip vergleichbare materielle Substrate, nämlich an verschiedene Gebiete der Hirnrinde. Obwohl er von einer Hierarchie der Grundkräfte im Menschen ausging - der Mensch sollte 8 der 27 Grundkräfte nicht mit dem Tier gemeinsam besitzen —, vermochten diese spezifisch menschlichen Vermögen nicht automatisch eine absolute Herrschaft über die anderen Trieb- und Instinktkräfte zu erlangen. Und diese zusätzlichen Grundkräfte sollten den hauptsächlichen Unterschied zwischen, Tier und Mensch ausmachen und nicht etwa generell eine qualitative Veränderung der gemeinsamen Grundkräfte - wenngleich entsprechend der Größe des jeweiligen Organes die einzelne Grundkraft mit mehr oder weniger Bewußtsein, Vernunft und Einsicht gekoppelt sein konnte12; aber wenn überhaupt, so konnte sich beispielsweise der menschliche Würg- und Mordsinn lediglich durch die Auswahl der Objekte, nämlich in der Regel Artgenossen, und durch die spezifische Befriedigung der Mordneigung von diesem eigentlich tierischen Trieb unterscheiden. Büchner spielt auf diesen Mordsinn an, wenn er den B ü r g e r von einem »Sinn des Tiegers«13 sprechen läßt, denn der Tiger sollte nach Gall den 10 Paul Thiry d'Holbach: System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt. Übersetzt von Fritz-Georg Voigt. - Frankfurt a. M. 1978, S. 88. 11 Vgl. F. J. Gall: Sur les functions du cerveau et sur celles de chacune de ses parties. Tome HI. - Paris 1825, S. 419 ff. und 481 ff. 12 Anhand des Jagdverhaltens von Wölfen glaubte Gall nachgewiesen zu haben, daß auch Tiere über die Einsicht und das Verständnis verfügen könnten, die instinktiv verfolgten Ziele und Handlungsweisen den zufälligen Umständen gemäß abzuändern. Vgl. F. J. Gall: Sur les functions du cerveau ... Tome VI. - Paris 1825, S. 418 ff. Vgl. auch: franz Joseph Call, 1758-1828, Naturforscher und Anthropologe. Ausgewählte Texte. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Erna Lesky ( = Hubers Klassiker der Medizin und der Naturwissenschaften, Bd. 15). - Bern, Stuttgart, Wien 1979, S. 94 ff: Der Verhaltensbiologe. 13 Durch die Formulierung »Sinn des Tiegers« wird klar, daß Büchner direkt auf die Galische
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Mordtrieb besonders ausgeprägt besitzen. Die mäte^Iteßasis dieses >Sinnes< ordnete Gall dem Rindengebiet hinter und über dem äußeren Gehörgang zu; und so ist denn auch im Falle einer besonderen EntMckhih£ des Organes eine Erhebung an der entsprechenden Schädeldecke zu tasten14. Gall hatte das Mordorgan in diese Hirnregion gelegt, weil nach seinen Untersuchungen die entsprechenden Hirnwindungen bei pflanzenfressenden Tieren nicht ausgebildet sind und weil mit der Steigerung der MöixUust ^ wie er sagt — eine Vergrößerung dieses Hirngebietes zu beobachten m: »La partie eerebrale indiquee ci-dessus est sensiblement plus grande dans l'aigle et dans le faucon, que dans le corbeau [...]. plus grande dans le tigre. Pl^XXXHIv fig. V, que dans le lion [...] fig, IV.«15 Der Trieb zu toten dient nach Gall nicht nur dem Mahfcungserwerb, denn der Tiger und auch das Wiesel zum Beispiel töten, ohne Hunger zu haben: »D'autres, au contraire, tels que la belette et le tigre, etc., sans etre pousses par la faim, dechirent et tuent tout ce qu'il y a d'animaux vivans autour deux [!]. La difference qui existe ä cet egard, d'un individu ä l'autre, chez les chiens, prouve, jusqu' ä Pevidence, que la faim et la soif du sang ne sont pas les seuls motifs qui determinent les animaux a en tuer d'autres«.16
Einen im Gehirn zu lokalisierenden Würg- und Mordsinn glaubte Gall auch deshalb aufstellen zu können, weil trotz pflanzlicher Ernährung die fleischfressenden Tiere niemals ihre ursprüngliche Bestimmung vergessen könnten, instinktiv die ihrer Gattung eigentümliche Tötungsart verfolgten und weil weder die Existenz und Struktur von Zähnen und Krallen noch die Form des
Lehre anspielt, denn eine solche Wendung wie: »Du lebst noch, Tyger, mit dem reinsten Blute Frankreichs bespritzt - Henker deines Vaterlandes« j die in einem Schreiben an Robespierre nach Dämons Hinrichtung zu finden ist (In: Unsere Zeit, ödet g&cjtichtliche Uebersicht der merkwürdigsten Ereignisse von 1789-1830, nach den vorzüglichsten französischen, englischen und deutschen Werken bearbeitet von einem ehemaligen Öftieiere der kaiserlichfranzösischen Armee [Hefttitel]. Die Geschichte Unserer Zeit, bearbeitet von Carl Strahlheim. Bd. XII. - Stuttgart 1828, S. 175), und die inGeorg Büchner; D^tons Tod. Die Trauerarbeit im Schönen (s. Anm. 2) auf S. 63 angeführten Belegstellen aus dem angegebenen Band der UZ (= Unsere Zeit) beziehen sich lediglich auf einen allgemeinen Vergleich von Charakter und Blick Robespierres mit «dem Wesen b^ währenddessen Gau durch die Verwendung des Wortes »Sinn« belbi Persoüeh-^ Diebs- und Mordsinn gezielt eine Parallelisierung von inneren und äußeren Sinnen vornimmt. Wie die äußeren Sinne unabhängig voneinander wirken, so sollen auch die inneren Sinne spezifische Organe besitzen und isoliert ihre Funktionen ausüben können. 14 Hierauf spielt Büchner in seinem Woyzeck möglicherweise an, wenn der Doktor die Studenten Woyzecks Schläfe betasten läßt; vgL hierzu auch Abschnitt ) dieses Aufsatzes. 15 F. J. Gall: Anatomie et Physiologie du Systeme nerveuxen general, et du cerveau enparticuliert Avec des observations sur la possibilite de reconnoitre plusieurs dispositions intellectuelles et morales de l'homme et des animaux, par la configuration de leurs tetes. Avec planches. Volume III. - Paris 1818, S. 206 f. 16 Ebd., S. 202. (Es werden nur offensichtliche Orthographiefehler gekennzeichnet.)
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Magens und Darms die Neigung begründen könnten, die die Tiere zum Töten anderer Tiere treibt: »Les naturalistes ont l'habitude de determiner les caracteres qui distinguent les carnassiers, par les dents, les griffes, la forme de Pestomac et des intestins. A les en croire, la conformation de ces parties explique suffisamment Pinstinct qui pousse ces animaux a en tuer d'autres. [...] Tous ces instrumens sont pris en Harmonie avec la force interieure plus elevee«.17
Wenngleich Gall bemüht ist, eine sinnvoll geschaffene Ordnung in der belebten und unbelebten Natur nachzuweisen und dementsprechend die physische Beschaffenheit des jeweiligen Lebewesens aus seiner Funktion innerhalb des Ordnungsgefüges zu erklären, so überschreitet er mit der Bestimmung des Mordsinnes oder des Diebsinnes die einfache ideologische Konzeption seiner Naturgeschichte.18 Doch er ist bestrebt, nach einer Begründung für die Notwendigkeit der Existenz dieses Mordsinnes auch beim Menschen zu suchen. Zunächst klassifiziert er die Menschen wie gewisse Tierarten als fleischfressende Wesen, weshalb er das Schlachten der Tiere als eine notwendige Bedingung der Selbsterhaltung ansieht und weshalb dieser Sinn ebenfalls beim Menschen angelegt sein soll. Des weiteren seien Kriege zur Reduzierung der menschlichen Gattung eben von Zeit zu Zeit notwendig. Mit einer solchen Erklärung suchte Gall - wenn auch völlig unzulänglich - nach einer für die menschliche Sphäre typischen Funktion, um einerseits gemäß dem Stufenleiterdenken der Zeit die besondere Stellung des Menschen im Naturgefüge zu erweisen und um diese Ordnung selbst als einer höheren Planung unterworfen ansehen zu können. Aber angesichts der konkreten Bestimmung dieses Triebes, mit welchem ja auch kaum die sonst angenommene höhere Stellung des Menschen in der aufsteigenden Stufenreihe begründet werden konnte, blieben solche Begründungsversuche eher hilflos und wiesen im Gegenzug dem Menschen tierische, triebhafte Anteile zu. Dies war auch ein Grund für die scharfe Kritik seitens der romantischen Naturphilosophie an der Lehre 17 Ebd., S. 204. Gall wendet sich hier ganz direkt gegen Helvetius, der versucht hatte, seine Ansicht von der ursprünglich grausamen Natur des Menschen damit zu belegen, daß der Mensch das »Gebiß eines fleischfressenden Tieres« habe. »Deshalb muß er gefräßig und folglich grausam und blutrünstig sein.« (Claude Adrian Helvetius: Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung. Hrsg., übersetzt und mit einer Einleitung von Günther Mensching. - Frankfurt a. M. 1972, S. 276). 18 Helvetius begründet ebenso wie La Mettrie und Molbach Existenz und Struktur bestimmter Körperteile allein aus ihrer Funktion: »Die Aufrechterhaltung seines [= des Menschen, S. Oe.] Leben ist wie bei fast allen Tieren an die Vernichtung der anderen gebunden« (Claude Adrien Helvetius: Vom Menschen, a. a. O., S. 276), weshalb er auch das »Gebiß fleischfressender Tiere« besitze. Genau diese Vorgehensweise wird aber von Büchner - zu Unrecht — in seiner Probevorlesung Über Schädelnerven (vgl. HA II, 292) als uneffektiv bezeichnet; Büchner stellt der ideologischen Methode die genetische gegenüber, die — wie in Abschnitt II) dargelegt - auch auf die vergleichend anatomischen Arbeiten Galls verweist. 25
Galls.19 In das erläuterte EridäruiajgscKta - zeitliche Aspekte überhaupt nicht mitbedenkend — teiÄ statischen Interpretation solcher kontinuierlich aufsteigender Stufenleitern ausging, obwohl es im 18. Jahrhundert sehon \%sö Mit der übertreibenden Äußerung Dumas' w^äetlta gegen die Anmaßung eines übermenschlichen Ve^^n^^fen richtigen Weg und das richtige Ziel der Revolution zu kennen und damit — wie St, Just es beispielsweise durch die Parallelisierung von physisiÄn tihd ittaräliseh^h Revolutionen tut (HA i, 45 i.) — eine Rechtf ertigu^ ^ die Ironie richtet sich ebenfalls gegen die öffentliÄ Pröklänap persönlicher Motive, währenddessen in den privaten GÄspräehen die Verknüpfung von Handlungen im Namen der Revöliijtii>n und egoistischen Interessen deutlich wird. Eine solche Interpretation Würde zugleich die Skepsis Büchners gegenüber der Annahme angeborener innerer Sinne^ womit spezifische Fähigkeiten und Eigenschaften (auch diejenigen, die GaHi au%estellt hat) begründet werden sollen, verdeutlichen. Man könnte die Äußerung Dumas' aber auch als sarkastischen Kommentar zur naiven Erwartung einer (zumindest formal) rechtmäßigen Verhand28
lung werten; ungeschminkt deklarierte dann Dumas, einer der »Präsidenten des Revolutionstribunals« (HA I, 8), das Verfahren selbst als Ausdruck des politischen Machtkampfes, indem er mit der Beschwörung eines speziellen Sinnes einer solchen Erwartungshaltung Hohn sprechen würde. Die erste Deutung scheint mir eher zutreffend zu sein, denn sie bietet einen Kontrast zum Kommentar des Bürgers, der diesen speziellen »Sinn« als determinierenden tierischen Trieb charakterisiert, währenddessen die Äußerung Dumas' auf die mögliche Rechtfertigung der Hinrichtungen, die darum eben nicht zum Mord werden, durch die von einigen wenigen erkannte historische Notwendigkeit hinweist. Was aber wollte Büchner mit dieser Anspielung auf den Würg- und Mordsinn Galls ausdrücken? Wollte er einfach nur die Funktion dieses Triebes im Tierreich, die Selbsterhaltung, auf die menschliche Sphäre übertragen, indem er den Wunsch nach Ausschaltung der Gegner an die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung von Machtstrukturen, an die jeweiligen existentiellen bzw. ideologischen Interessen band? Dieser Wunsch erschiene dann - mehr der Naturbestimmung Helvetius' entsprechend - als zweckgebunden und durch die Umstände hervorgebracht, wobei allerdings die Galische Bestimmung des Mordsinnes, welche die nicht situationsabhängige Eigendynamik des Triebes betont, unberücksichtigt bliebe. Es ist nicht anzunehmen, daß Büchner die konkrete Definition des Mordsinnes nicht kannte und daß aus dem Grund ihre Anwendung auf das Verhalten der Dramenfiguren Schwierigkeiten bereitet; denn gerade in der zeitgenössischen forensischen Psychiatrie, mit welcher Büchner zumindest teilweise vertraut war, wurde der Mord ohne Motiv diskutiert und die Lehre Galls von einem inneren unwiderstehbaren Antrieb zur Erklärung solcher Mordtaten herangezogen.25 Es scheint vielmehr, daß Büchner den Inhalten der jeweiligen Äußerungen distanziert gegenübersteht, was durch die Ironie in der Aussage Dumas* und durch die unzutreffende Pauschalisierung und Simplifizierung im Kommentar des Bürgers deutlich wird. 25 Vgl. z. B.: S. G. Vogel: Ein Facultäts-Erachten über die Zurechnungsfähigkeit eines Mörders. - In: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. Hrsg. von Adolph Henke, 16. Ergänzungsheft [zum 12. Jg. gehörend]. - Erlangen 1832, S. 83-171, S. 170 f.; und Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmäßig erwiesen. - In: HA 1,487-534, bes. S. 528, in Zusammenhang mit der Diskussion um den »verborgenen Wahnsinn«; vgl. hierzu Abschnitt III); vgl. weiter: Gutachten des Kammergerichtsrats E. T. A. Hoffmann über die Mordtat des Tabaksspinnergesellen Daniel Schmolling. - In: E. T. A. Hoff mann: Juristische Arbeiten. Hrsg. und erläutert von Friedrich Schnapp. - München 1973, S. 90-120, S. 106: »der Criminal-Richter ·[..·.] wird nicht das Gesetz für unanwendbar erachten können blos deshalb: weil der Bewegungsgrund zur That nicht zu ermitteln war, und der übrigens geistig und körperlich gesunde Verbrecher bloß sagt, daß ihn ein blinder unwiderstehlicher Drang dazu getrieben habe.« Hoff mann führt u. a. die Meinung Johann Christoph Spurzheims des langjährigen Schülers und Mitarbeiters F. J. Galls - auf S. 98 als Beleg für die Auffassung an, daß es einen unwiderstehbaren Drang geben könne, der ohne äußere Ursache zum Mord treibe.
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Die Intention der Textpassage kann deshalb m. E. allein in der Konstruktion des erläuterten Kontrastes liegen, mit welchem Büchner die beiden Extrempunkte festzulegen vermag, zwischen denen sich Rechtfertigungen und Erklärungen für die Ursachen des Tötens bewegen; damit würde zugleich ein essentielles Problem des Dramas - nämlich die Frage, wann das Töten zum Mord wird — dahingehend pointiert, inwieweit die historische Notwendigkeit und die ursprüngliche grausame Natur (die Galische Bestimmung absichtlich beiseite lassend) des Menschen eine Verantwortlichkeit des Handelns erlauben, ohne daß Büchner hier allerdings eine eindeutige Antwort anbietet. Da nun der »Sinn des Tiegers« als Metapher für den Würg- und Mordsinn Galls das Verhalten der Dramenfiguren nicht treffend zu kennzeichnen vermag, muß diese Wendung tatsächlich nur als stilistisches Mittel betrachtet werden, womit die natürliche Determination des tierischen Seins mit der Begrenzung des menschlichen Handlungsspielsraumes durch die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen sich das intelligente Naturwesen Mensch bewegen muß, parallelisiert werden kann. Der damit umschriebene Unterschied zwischen Tier und Mensch — was die Rolle des menschlichen Kalküls und die daran zu knüpfende Schuldmöglichkeit anbelangt - verdeutlicht die weitergeführte Unterhaltung zwischen Dumas und dem Bürger: » B ü r g e r . [...] Du hast ein Weib. D u m a s . Ich werde bald eins gehabt haben. B ü r g e r . So ist es denn wahr! D u m a s . Das Revolutionstribunal wird unsere Ehescheidung aussprechen, die Guillotine wird uns von Tisch und Bett trennen. B ü r g e r . Du bist ein Ungeheuer!« (HA I, 64 f.)
Nicht das Tier, das mehr oder weniger blind seinen Instinkten folgt, kann zum »Ungeheuer« werden, sondern der Mensch, der zur Befriedigung egoistischer Interessen seinen Verstand gezielt zum Töten einsetzt und damit in dem Tier und Mensch gemeinsamen Ordnungsgefüge Natur eine herausragende — nicht zu wertende — Stellung einnimmt. Büchner nimmt mit der geschilderten metaphorischen Verwendung dieses Würg- und Mordsinnes eine — durch den Kontext ersichtliche - gezielte Abweichung von der Triebkonzeption Galls vor, indem er die wechselseitige Einflußnahme von gesellschaftlichen/geschichtlichen Bedingungen und Naturdeterminanten26 betont. Es ist nun zu untersuchen, inwieweit sich diese unterschiedlichen Auffassungen auch in den jeweiligen Vorstellungen Büch26 Die menschliche Natur erscheint unter diesem Einfluß auch als verkrüppelte, deformierte; dies wird einerseits deutlich in dem Gespräch zwischen Danton und Robespierre, indem Danton Robespierres Tugendhaftigkeit auf das egoistische Moment des Genusses zurückführt und hieraus seine unrechtmäßige >Wäschezuberpolitik« erklärt; vgl. HA I, 26 f.; andererseits erscheint auch Dantons Sinnlichkeit durch dessen gleichzeitiges Gefühl der Lange-
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ners und Galls über die Funktionsweise des Gehirnes der Tiere und Menschen manifestieren.
II) Anatomie und Funktionsweise des Nervensystems in den Vorstellungen Galls und Büchners Galls psychologische Thesen standen längst fest, bevor er 1796 anfing, tierische und menschliche Gehirne zu sezieren und einzelne Strukturen miteinander zu vergleichen. Er suchte nach dem anatomischen Substrat, das seine Lehre von den abzugrenzenden einzelnen Fähigkeiten der Tiere und des Menschen stützen konnte.27 Büchner hat sich gleichfalls, wenn auch in geringerem Maße, mit der vergleichenden Anatomie des Nervensystems befaßt und ebenso Schlüsse auf die Funktionsweise des Gehirnes gezogen. Wie interpretiert nun Büchner im Vergleich zu Gall die Strukturen des tierischen und menschlichen Gehirnes? Die eben skizzierte Differenz in der Erklärung der Verhaltensursachen müßte sich konsequenterweise in einer unterschiedlichen Vorstellung von der Funktionsweise des Gehirnes widerspiegeln. Anhand seiner Dissertation über das Nervensystem der Fische28 und seiner Probevorlesung Über Schädelnerven29 wollte Büchner nachweisen, daß das Hirn »ein metamorphosirtes Rückenmark und die Hirnnerven [...] Spinalnerven« (HA II, 293) seien. Büchner wollte damit die neuroanatomische Entsprechung für die u. a. von Lorenz Oken, Johann Wolfgang von Goethe und Carl Gustav Carus vertretene Wirbeltheorie des Schädels erweisen. Diese schon 1858 von Thomas H. Huxley30 widerlegte Theorie ging davon aus, daß der Schädel segmental gegliedert sei, wobei die einzelnen Segmente als Metamorphosen der Rückenwirbel zu betrachten und in ihrer Gestalt mit der Form der Rückenwirbel zu vergleichen seien. Die Fragestellung Büchners: »Wie können die Massen des Gehirns auf die einfache Form des Rückenmarks zurückgeführt werden?« (HA II, 294), die sich aus der Suche nach einem anatomischen Beleg für diese Theorie ergibt, verweist direkt auf die vergleichend anatomischen Arbeiten Galls. Gegen die traditionelle I^hrmeinung31 hatte Gall behauptet, daß das Ge-
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weüe und des Lebensüberdrusses ais Ausdruck eines nicht-befriedigenden, >-naturgemäßen< Lebens. Vgl. hierzu auch sein Erstlingswerk: F. Joseph Gall: Phihsophisch-Medicinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustande des Menschen. - Wien 1791. George Büchner: Memoire sur le Systeme nerveux du barbeau (Cyprinus barbus L.). - In: HA H, 65-135. Georg Büchner: Probevorlesung Über Schädelnerven. Gehalten in Zürich 1836. - In: HA II, 291-301. VgL Otto Dohnen Georg Büchners Naturauffassung. - (Diss.) Marburg 1967, S. 203. Vgl. hierzu z. B.: Friedrich Tiedemann: Anatomie und ßitdungsgescbichte des Gehirns im Foetus des Menschen nebst einer vergleichenden Darstellung des Hirnbaues in denThieren. 31
hirn eine Weiterentwicklung des Rückenmarks sei und daß die aus grauer und weißer Substanz bestehenden Strukturen des Gehirns mit denjenigen des Rückenmarks - allerdings nicht nur in ihrer Gestalt, sondern auch in ihrer Wirkungsweise — analogisierbar seien. Während Gall den die weiße Substanz bildenden Nervenfasern die Leitungsfunktion aller Impulse zuordnete, sollten sich in den einzelnen Ansammlungen grauer Substanz, die er schlicht Ganglien — also Nervenknoten — nannte, die jeweiligen Funktionen wie Erregung motorischer Impulse, Verarbeitung sensibler Reize, aber auch Hervorbringung instinktiver und geistiger Fähigkeiten gemäß ihrer Größe vollziehen.32 Eine Steigerung der Funktion sollte von einer Vergrößerung der grauen Substanz abhängen, womit Gall denn auch die gesamte Schädellehre begründen wollte, denn die graue Substanz der Hirnrinde sollte ja die einzelnen unterschiedlich ausgeprägten Organe der Grundfakultäten beherbergen. Die graue Substanz betrachtete Gall insgesamt als Nährsubstanz, als Ursprungs- und Verstärkungsort aller Nerven.33 So wie Goethe an einen allgemeinen Pflanzentypus dachte, welcher die Idee aller Pflanzen verkörpern sollte, so nahm Gall ein Urnervensystem an, das den Nervensystemen der Tiere und der Menschen metamorphorisiert zugrundeliegen sollte.34 Die verMit 7 Tafeln. - Nürnberg 1816, S. 99: »Wenn also gleich die Ansicht Galls, daß das Gehirn ein Anhang, eine Fortsetzung des Rückenmarks sey, keineswegs neu ist, so gebührt ihm doch die Ehre einen irrigen Lehrsatz [daß das Rückenmark lediglich ein Anhängsel des Gehirnes sei, S. Oe.] angegriffen, und eine richtige und wahre Ansicht wieder von neuem dargestellt und vertheidigt zu haben.« 32 Vgl. Gall und Spurzheim: Untersuchungen ueber die Anatomie des Nervensystems ueberhaupt, und des Gehirns insbesondere. Ein dem französischen Institute überreichtes Memoire. Nebst dem Berichte der H. H. Commissaire des Institutes und den Bemerkungen der Verfasser über diesen Bericht. - Paris und Strasburg 1809, S. 19 ff. und S. 307. 33 Vgl. ebd., S. 19 ff. 34 Vgl. hierzu die Auffassung Galls: »Mit vielem Vergnügen haben wir daher die nämlichen Ansichten in der M e t a m o r p h o s e der P f l a n z e n von G o e t h e [...] gefunden. Die Pflanzen erhalten ihre erste Nahrung, ihre Pflanzenmilch aus den Säamenlappen. Der Ursprung und die erste Fortbildung des Keimes und der Wurzel gleichen also dem ersten Ursprünge und der Fortbildung der Nervenfäderi durch sulzige, gallertartige Substanz. Soll die Pflanze weiter wachsen, so häufet die Natur zuvor den schleimigen Nährstoff, das Cambium, bildet Verdickungen, Anschwellungen der Rinde, Knospen; [.. .·].· Nimmt nicht das Nervensystem auf die nämliche Weise von Punkt zu Punktzu?«Ebd., S. 63-65; und: »Man werfe einen Blick auf die Stufenreihe der empfindenden Wesen. Im Polype liegt das gallertartige Empfindungsorgan noch zerstreut. Auf einer höhern Stufe sammelt es sich schon in Nervenfäden und in gemeinsame Stämme. Um endlich mehr Berührungspunkte mit der Aussenwelt zu bewirken, vervielfältigt die Natur die Anstalten, das ist die Nervensysteme. Auf diese Weise schafft sie immer neue, und zu höhern Kräften gesteigerte Organe [...]«, ebd., S. 16. Vgl. auch die Auffassung Goethes: »Beim Anfang seiner [Galls, S. Oe.] Vorträge brachte er einiges die Metamorphose der Pflanze Berührendes zur Sprache, so daß der neben mir sitzende Freund Loder mich mit einiger Verwunderung ansah; aber eigentlich zu verwundern war es, daß er, ob er gleich diese Analogie gefühlt haben mußte, in der Folge nicht wieder darauf zurück kam, da doch diese Idee gar wohl durch sein ganzes Geschäft hätte walten können.« Johann Wolfgang von Goethe: Tag- und'Jahreshefteoder Annalen als
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schiedenen Ausformungen und Entwicklungen der Nervensysteme wollte Gall in ihrer gesetzmäßigen Bildung erklären, indem er von dem allgemeinen Prinzip der Erzeugung und regelmäßigen Verstärkung der Nervenfasern durch das, was er Ganglien nannte, ausging. Das Gehirn z. B. sollte nach Gall aus den Fasern, die aus der grauen Substanz des verlängerten Markes35 entstehen, gebildet werden, indem die Fasern durch die Formationen der grauen Substanz im Gehirn wie die Sehhügel, die Vierhügel, die gestreiften Körper, mittels der Bildung neuer Fasern verstärkt und in die verschiedenen Regionen der Hirnrinde - den einzelnen Organen - gelenkt werden.36 Wenngleich Büchner die Arbeiten Galls nicht erwähnt, so werden doch dessen Auffassungen in einigen von Büchner zitierten Werken, beispielsweise bei Carus und Weber37, besprochen und als Voraussetzungen für das der Wirbeltheorie des Schädels notwendige neuroanatomische Korrelat gewertet. Diesen Umstand hebt z. B. Carl Gustav Carus in seinem Werk Von den UrTheilen des Knochen- und Schalengerüstes von 1828 hervor: »... und wenn durch G a l l in einem ähnlichen Sinne die Einsicht in die zwischen den Gebilden des Hirns und Rückenmarks bestehende Einheit aufgeschlossen worden war, so führte A u t e n r i e t h [...] ziemlich nahe an die Erkenntniss,
Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse, 1805. - In: Sämtliche Werke in 18 Bänden. — Zürich und München: dtv 1977 (Unveränderter Nachdruck der Bände 1-17 der ArtemisGedenkausgabe 1949. Hrsg. von Ernst Beutler unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter. 2. Aufl. Zürich 1961-1966), Bd. 11, S. 756. 35 Vgl. Gall und Spurzheim: Untersuchungen ueber die Anatomie des Nervensystems, a. a. O., S. 30. 36 Ebd., S. 45 ff.; vgl. hierzu auch Büchners Beschreibung des Verlaufs der Faserbündel des Rückenmarks in das Hirn der Fische: »Je le repete du reste, je crois que la moelle epiniere des poissons est composee de quatre cordons, deux superieurs et deux inferieurs, qui, en s'epanouissant en membranes, ou en rayonnant dans la substance grise, forment le cerveau.« (HA II, 73). 37 Vgl. E. H. Weber: Anatomia comparata nervt sympathici. Cum tab. aeneis. - Lipsiae 1817, S. 89 ff.; Weber zitiert die Auffassung Galls, daß das Rückenmark der niederen und höheren Tiere (und auch des Menschen) aus einer Serie von Anschwellungen aus grauer Substanz aufgebaut sei, deren Stärke mit der Größe der heraustretenden Nerven im Verhältnis stehe; vgl. hierzu auch Gall und Spurzheim: Untersuchungen ueber die Anatomie des Nervensy· stews, a. a. O., S. 25 ff.; diese Auffassung übernimmt Tiedemann in der Besehreibung des Baues von Rückenmark und Hirn der Triglen, wovon ausgehend Büchner sein allgemeines Gesetz zur Bildung der Wirbelriergehirne entwickelt, indem er die Hirnmassen ursprünglich auf solche Anschwellungen zurückfuhrt, die der Einführung der einzelnen Hirnnerven entsprechen sollen; vgl. H All, 116 f.; vgl. auch unten $.37. ^^ber heißt eS: »Ad quam sententiam comprobandam Gallius his argumentis usus est: Vel oculis ipsis id in omnibus vertebratis discerni, medullam spinalem singulis gangliis inter se confluentibus constare. Faciamus eum ipsum loquentem: >[...] Itaque omnia paria nervorum e materia nervea cinerea i. e. e proprio ganglio originem trahunt, singulaque communium ramorum communicarione ad communem actionem conjuncta sunt. Eandem rationem natura in formandis systematis nervosis medullae spinalis mammalium secuta est. In quibus, ubi maximi nervi extremitatum oriuntur, ganglia tumidissima maximaque copia materiae cinereae et gelatinosae circumdata apparent.*« (E. H. Webe*: Anatomia comparata, a. a. O., S. 89-91).
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dass die Ganglien des Hirns eben so, wie die einzelnen Ganglien des Rückenmarks, von einzelnen Wirbeln umschlossen werden müssten.«38 So sehr die von Büchner genannten Vorgänger, Carus und Oken, die anatomische Betrachtungsweise Galls von der Vervollkommnung des Gehirnes durch Weiter- und Umbildung der Nervensysteme des Rückenmarkes zur Begründung der segmentalen Gliederung des Schädels benützen konnten39, so folgten sie doch keineswegs den physiologischen Auffassungen, die Gall mit seiner anatomischen Gestaltlehre eigentlich erst begründen wollte. So schreibt Oken 1805 in einem Brief an Schelling: »Gall war vor 14 Tagen hier, ich habe ihn auch gehört und ihn [...] wirklich interessant gefunden, nicht als wenn die Vertheilung seiner Organe etwas Wahres enthielte, aber wegen seiner mir sehr plausiblen Ansicht des Hirns und des Nervensystems, besonders was das Anatomische betrifft. (...) Es mag nun ein bloßes Geschwätz oder etwas Wahres sein, er sagte, Steffens habe es ihm übel genommen, daß er den Menschen mit den Thieren verglichen, weil er dieselben Organe bei gleichen Eigenschaften in Beiden nachweise.«40 Gall hatte angenommen, daß entsprechend der morphologischen Ausbildung des Gehirnes, vor allem des Endhirnes beim Menschen, auch immer mehr zusätzliche Fähigkeiten entwickelt, dem vorhandenen Gehirn quasi aufgepfropft werden; dementsprechend lokalisierte er die höheren Tieren und Menschen gemeinsamen Grundkräfte in den tiefergelegenen Hirnwindungen des Schläfen- und Hinterhauptlappens, währenddessen er die nur dem Menschen eigenen Grundkräfte in die vordere und obere Stirnregion legte41. In
38 Carl Gustav Carus: Von den Ur-Theilen des Knochen- und Schalengerüstes. Mit XII Kupfertafeln und einer schematischen Schrifttafel. - Leipzig 1828, S. VIII. 39 Daß die anatomische Betrachtungsweise Galls ihren eigenen Vorstellungen von der Bildung des Gehirnes verwandt war, bemerkten alle drei der genannten Autoren; so auch Oken, wenn er auf S. 5 in: Über die Bedeutung der Schädelknochen. Ein Programm beim Antritt der Professur der Gesammt-Unwersität zu Jena. - Jena 1807 schreibt: »Das Hirn ist das zu kräftigern Organen voluminöser entwickelte Rückenmark, so die Hirnschale die voluminösere Rückensäule«, und in einem Brief an Schelling 1805 (s. Anm. 40) Galls Hirnanatomie lobend erwähnt; einen effektiven Zusammenhang konstruierte allerdings nur Carus in dem genannten Zitat ausdrücklich. 40 Zitiert nach Erich Ebstein: Franz Joseph Galt im Kampf um seine Lehre aufgrund unbekannter Briefe an Bertuch usw. sowie im Orteile seiner Zeitgenossen. Mit 2 Bildern Galls. In: Essays on the History of Medicine presented to Karl Sudhoff. - London and Zurich 1924, S. 269-322, hier S. 292. 41 Vgl. F. J. Gall: Sur les functions du cerveau (s. Anm. 11), Tome II. - Paris 1825, S. 367 f.: »De cette maniere, les parties integrantes du cerveau augmentent en nombre et en developpement, a mesure que passe d'un animal moins parfait a un animal plus parfait, jusqif a ce que arrive au cerveau de l'homme qui, dans les regions anterieures-superieures et superieures de 1'os frontal, est doue de parties encephaliques dont les autres animaux sont prives, et moyennant lesquelles Phomme jouit des qualites et des facultes les plus eminentes [...]«. Die Beobachtung Galls, daß die Vermehrung der geistigen Fähigkeiten mit der Entwicklung des Endhirnes und speziell des Windungsreichtums im Verhältnis stehe, bedeutete 34
diesen sollte ja - wie erwähnt - der wesentliche Unterschied zwischen Tier und Mensch begründet sein. Obwohl die in den einzelnen Tieren schon ausgebildeten Grundkräfte im Menschen gemäß einer Zu- oder Abnahme der Organe in den verschiedenen Hirnwindungen variiert vorhanden sein konnten, handelte es sich doch immer um klar voneinander abgrenzbare Eigen-
Windungsrelief mit bezeichneten »Organen«. Die römische Ziffer VI kennzeichnet die Region, in welcher Gall den Würg- und Mordsinn lokalisierte; die Ziffern XX-XXVII beziehen sich auf die typisch menschlichen Fähigkeiten wie den vergleichenden Scharfsinn, den Sinn für Religiosität, den Witzsinn, den Dichtergeist, die Gutmütigkeit usw.
zwar einen großen Fortschritt in der vergleichenden Anatomie und in der Hirnfunktionslehre, da zuvor der Hirnrinde generell nur Schutz- und Versorgungsfunktionen zugesprochen wurden, das Hirnmark als der weitaus edlere Teil des Gehirnes betrachtet wurde und nun vor allem die enorme Ausbildung des Endhirnes in das Blickfeld des Untcrsuchungsinteresses rückte; doch die einfache Zuordnung Galls, die er z. B. in der Lokalisation des Würg- und Mordsinnes in die Windungen hinter und über dem äußeren Gehörgang (vgl. oben S. 22) bei
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Schäften, Instinkte und Fähigkeiten, denen zum Teil keine spezielle Verfeinerung oder Ausbildung zugesprochen werden konnte. Der Unterschied zwischen Tier und Mensch sollte somit nicht in einer Verfeinerung der Hirnstrukturen insgesamt bestehen, wie es bei Herder, Goethe, Carus, aber auch bei dem französischen Materialisten La Mettrie zu finden war, sondern Gall betrachtete das Hirn als etwas Zusammengesetztes, dessen einzelne Teile mehr oder weniger von den geistigen Fähigkeiten kontrolliert, immer aber präsent und wirksam sein sollten.42 Der Auffassung Goethes, »daß man nämlich den Unterschied des Menschen vom Thier in nichts einzelnem finden könne. Vielmehr ist der Mensch aufs nächste mit den Thieren verwandt. Die Übereinstimmung des Ganzen macht ein Jedes Geschöpf zu dem was es ist, und der Mensch ist Mensch sogut durch die Gestalt und Natur seiner obern Kinlade, als durch Gestalt und Natur des letzten Gliedes seiner kleinen Zehe Mensch.«43 steht die These Galls kraß gegenüber: »Setzt einem einfachen Thierhirne neue Hirntheile zu, so veredelt Ihr es zu einem vollkommnern Thiere. Entzieht dem Menschenhirne die Organe seiner spezifischen Menschenkräfte, so würdiget Ihr ihn zum Thiere herab.«44 allen fleischfressenden Tieren und beim Menschen unternahm, kann unter heutigen Gesichtspunkten betrachtet keinesfalls aufrechterhalten werden; vgl. hierzu das Lehrbuch der Anatomie der Haustiere. Bd. IV: Nervensystem, Sinnesorgane, Endokrine Drüsen. Mit 250 Abb. - Berlin und Hamburg 1975 von E. Seiferle, S. 137: »Der Furchen- und Windungsreichtum hängt nicht — wie man leicht anzunehmen geneigt ist — in erster Linie mit der stammesgeschichtlichen Entwicklungsstufe, sondern vor allem mit der Größe des Tieres zusammen und kann darum auch nur bedingt als Ausdruck der psychischen Rangordnung und der Leistungsfähigkeit des Gehirnes gedeutet werden. [...] Das Furchen- und Windungsbild des Großhirnmantels zeigt in seinem >Grundmuster< artspezifischen Charakter, zeichnet sich aber im einzelnen durch eine große rassen- und individualrypische Variabilität aus, und kann nicht selten auch zwischen rechter und linker Hemisphäre Unterschiede zeigen, weshalb Homologisierungen einzelner Furchen und Windungen verschiedener Tierarten nur bedingte Gültigkeit besitzen oder gar problematisch werden können.« 42 Vgl. hierzu z.B. Herder: »Der U n t e r s c h i e d [zwischen Mensch und Tier, S. Oe.] ist nicht in S t u f f e n , oder Z u g a b e von K r ä f t e n , sondern in einer ganzv e r s c h i e d e n a r t i g e n R i c h t u n g u n d A u s w i c k e l u n g a l l e r K r ä f t e . « [Johann Gottfried] Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Zit. nach: Wolf gang Proß: Johann Gottfried Herder. Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Text, Materialien, Kommentar. - München, Wien o. J. (= Reihe Hanser 269), S. 7-110, hier S. 27; vgl. auch S. 26: » . . . d i e M e n s c h e n g a t t u n g [stehe] ü b e r den T h i e r e n n i c h t an S t u f e n des M e h r o d e r w e n i g e r [...], s o n d e r n an A r t « (Hervorhebungen jeweils im Original). Vgl. auch Julien Offray de La Mettrie: L'Homme Machine. - In: La Mettrie's l'Homme Machine. A study in the origins of an idea. Critical edition with an introductory monograph and notes by Aram Vartanian. - Princeton, New Jersey 1960, S. 139-197, hier S. 158 f. 43 Johann Wolfgang von Goethe: Brief vom 17. Nov. 1784 an Knebel. - In: Goethes Werke. IV. Abt.: Briefe. Bd. 6. - Weimar 1890, S. 389 f. 44 Gall und Spurzheim: Untersuchungen ueber die Anatomie des Nervensystems, a. a. O., S. 16. 36
So sehr Oken auch in seinem Lehrbuch der Naturphilosophie der Hirnanatomie Galls verpflichtet ist45, so sehr differiert in diesem Punkt seine Auffassung von derjenigen Galls: »Alle Verrichtungen der Thiere sind im Menschen zur Einheit, zum Selbstbewußtseyn gekommen [...]. Alle Geistesverrichtungen der Thiere sind im Menschen vernünftige geworden. Das Fühlen ist in ihm Bewußtseyn, der Verstand ist Vernunft, die Leidenschaft Freyheit, der Kunsttrieb Kunstsinn, das Vergleichen Wissenschaft.«46
Auch Oken geht also von einem ganzheitlich erscheinenden qualitativen Unterschied zwischen Tier und Mensch aus. Georg Büchner versucht nun in seinen neuroanatomischen Arbeiten, Gestalt und Funktion der Hirnteile auseinander zu erklären und beruft sich dabei auf eine 1816 erschienene Schrift Friedrich Tiedemanns Von dem Hirn und den fingerförmigen Fortsätzen der Triglen. Darin hatte Tiedemann ein allgemeines Gesetz für den Bau des Hirns und Rückenmarkes der Fische aufgestellt: »... mit der grösseren Ausbildung der Organe, und mit dem Hervortreten besonderer Organe bei einzelnen Fischarten ist eine Vermehrung der Massenbildung derjenigen Stellen des Hirns und Rückenmarks verbunden, woraus die Nerven für die ausgebildeten oder besonders hervorgetretenen Organe entspringen.«47
Büchner übersetzte die zitierte Textpassage Tiedemanns, um direkt daran seine Auffassung von den Bildungsgesetzen der Wirbeltiergehirne zu knüpfen: »Je pense qu'on peut etendre cette loi sur la formation du cerveau en genoral. Les masses cerebrales ne sont primitivement que des renflemens, qui repondent ä rinsertion des nerfs cerebraux, et qui se developpent ä Textrenüte antirieure de la moelle, en raison de la gradation des fonctions qui s'ppere dans cette partie anterieure, gradation de laquelie depend le de"veloppement de rextremite anterieure du corps, dorit le resultat est la formation de la tete,«: (£L4 11,117).
Wie aus einer in d^iselten Jähf ^ und ^^tjjn^^^i^^^ Ge^tf^s ^ gleicfaenli& & Ä de# ffi&m, ^.hÄ^^t^-ler^ sich Tiedemann in diesem Punkt auf die: von GaM entwickelten Anschauun45 Vgl. [Lorenz] Oken: Lehrbuch der Naturphilosophie. 2. umgearb. Aufl. — Jena 1831, S. 432 f.: Nerventhiere. 46 Ebd.,S.4^8. 47 F. Tiedemann: Von dem Hirn und den fingerförmigen Fortsätzen der Triglen, — In: Deutsches Archiv ßr die Physiologie. Hrsg. von · J. F. Meckel. Bd. IL - H^lle; ttrtd Beriin 1516, S. 103-110, hier S, 109.
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gen: »Galls Satz, daß die graue Substanz an denjenigen Stellen des Rückenmarks des erwachsenen Menschen am reichlichsten vorhanden sey, wo die größten Nerven aus dem Rückenmark entspringen, [ist] vollkommen richtig.«48 Tiedemann stellte in dieser Arbeit seine Beobachtungen unter Einbeziehung der physiologischen Thesen Galls in einen größeren Zusammenhang, indem er sie auch auf den Bau des menschlichen Hirnes ausdehnt: »Durch die Betrachtung der allmähligen Zusammensetzung und Ausbildung des Hirns der Thiere werden wir in den Stand gesetzt, den so sehr verwickelten Bau des menschlichen Hirns in seiner Zusammenfügung und in seiner organischen Verbindung gehörig aufzufassen und zu deuten«49; und: »So wie wir durch die Untersuchung des Nervensystems und des Hirns der Thiere zur Kenntnis der allmähligen Bildung und Zusammensetzung des Hirns gelangen müssen, so bedürfen wir auch einer vergleichenden Psychologie um die Bedeutung und die Action der Hirntheile zu erkennen. Nämlich man sollte die Aeusserungen und Erscheinungen der Hirn- und Seelen-Thätigkeiten der Thiere aufwärts von den niederen zu den höheren Thieren bis zum Menschen beobachten und verfolgen, und endlich Parallelen dieser Aeusserungen mit dem Bau des Hirns ziehen. Durch eine Vergleichung der Seelenthätigkeiten und des Hirnbaus der verschiedenen Thiere würden wir zur Kenntniss der Function der einzelnen Hirntheile gelangen, eine Kenntniss, die uns noch gänzlich mangelt [...]. Das ist bis jetzt schon als Wahrheit ausgemacht, dass wir die Seelenthätigkeiten der Thiere in gleichem Grade an Mannigfaltigkeit zunehmen sehen, wie wir den Bau ihres Hirns und Nervensystems zusammengesetzter und entfalteter erblicken.«50
Tiedemann bezieht hier eine mittlere Position zwischen der idealistischen Morphologie Goethes, Okens und Cams' und der funktionellen Anatomie und Lokalisationslehre Galls; denn er lehnt einerseits die konkreten Ergebnisse der Galischen vergleichenden Verhaltensforschung ab, da er ja immer noch von der Unkenntnis der Funktionen einzelner Hirnteile ausgeht, aber er akzeptiert Galls psychologische Untersuchungsmethode, die zu der vergleichenden Anatomie des Gehirns in Bezug gesetzt wird, um die spezifischen Funktionen den verschiedenen Hirnteilen zuzuordnen. Auch Tiedemann betrachtet also das menschliche Gehirn als ein zusammengesetztes, stufenweise aufgebautes Funktionssystem, dessen einzelne Teile in Struktur und Funktion prinzipiell mit denen der Tiere zu vergleichen seien. Obwohl Büchner sich den Voraussetzungen Galls und Tiedemanns anschließt — nämlich in der Auffassung, daß jedem Nerv (jeder Nervenfaser) eine Ansammlung grauer Substanz zugeordnet ist, deren Vorhandensein und Größe sowohl über die Existenz als auch über die Funktionsfähigkeit der Nerven entscheidet —, so vollzieht er doch keineswegs die Schlußfolgerungen Galls und Tiedemanns. Ganz traditionell nimmt er die Existenz eines gemein48 Friedrich Tiedemann: Anatomie und Bildungsgeschichte des Gehirns (s. Anm. 31), S. 88. 49 Ebd., S. 2. 50 Ebd., S. 3. 38
samen Koordinationszentrums für alle Empfindungen und alle Willkürakte an: »H faut cependant qu'il y ait un centre commun qui rassemble les impressions, et qui preside a la reaction« (HA II, 117). Die Annahme eines solchen Zentrums, eines Sensorium commune, von welchem die Mehrzahl der Hirnforscher des 18. Jahrhunderts ausgingen, betont natürlich — konträr zu lokalisatorischen Ansätzen — die Notwendigkeit einer einheitlichen Wirkungsweise des Gehirnes. Eine solche Annahme steht auch kraß der Ansicht Galls gegenüber, daß das Denken, das Bewußtsein und die Willensäußerungen ein Ergebnis isolierter Funktionen des Gehirnes sein könnten. Ein gemeinsamer Empfindungsort wurde vor allem dort gesucht, wo eine unmittelbare Verbindung aller durch die verschiedenen Sinne übermittelten Eindrücke zu einer bewußten Wahrnehmung erfolgen und mit den Erfahrungen verglichen und eingeordnet werden konnte. Aus dem Grund war man bemüht, einen Ort zu finden, in welchem alle Nerven sich treffen und direkt ihre Eindrücke mitteilen, aufnehmen und in Willkürakte umsetzen konnten; ansonsten konnte man sich die Einheit des Bewußtseins, der Persönlichkeit und auch der Handlungsweisen nicht erklären. Samuel Thomas Soemmerring legte noch 1796 dieses Zentrum, das er Organ und Sitz der Seele nannte, in die Flüssigkeit der Hirnventiikel, weil er nachgewiesen zu haben glaubte, daß die Ursprünge bzw. die Endigurigen aller Hirnnerven mit diesem Medium uniens, mit der animierten Flüssigkeit in Verbindung stehen.51 Die Annahme eines Sensorium commune konnte allerdings mit ganz verschiedenen letzter für das Bewußtsein verantwortlicher Ursachen verbunden werden. Sie konnte mit der Vorstellung gepaart sein, daß die Seele einen alleinigen Einfluß auf die Verknüpfung und Verarbeitung der Eindrücke besitze und die notwendigen materiellen Bedingungen hierfür selbst erschaffe; sie konnte auf die Auffassung bezögen sein, daß die Seele lediglich von der Beschaffenheit ihrer Organe, d. h. ihrer Werkzeuge, abhängig52, aber durch51 S. Th. Sömmerring: Über das Organ der Seele. - Amsterdam 1966 (Nachdruck d. Ausg. 'Koei^gri^i^^ 52 Gall verteidigte sich beispielsweise gegen den Materialismusvorwurf seiner Zeitgenossen, der ihiii u. a. 1802 das Verbot seiner Atertiiige in Wien eingebrachthatter tiut gestörtem Blutumtrieb< und psychotischen Erscheinungen nicht abwegig ist78, so handelt es sich m. E. weniger um die zynische Darstellung 75 E. Esquirol: Die Geisteskrankheiten (s. Anm. 56), Bd. I, S. 117. 76 Diesen Standpunkt vertritt vor allem der Landgerichts-Physikus und ausübende Arzt zu Bamberg, C. M. Marc, in seiner Schrift: War der am 27ten August1824 w Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig? Enthaltend eine Beleuchtung der Schrift des Herrn fiofrafh pr.Clarus: »pie ^efhnw Mörders foh. Christ Woyzeck nach Grundsätzen gestörten Blutumtriebes< — auf gewisse Funktionen des Gehirnes anerkennen, weshalb sie auch die sogenannte partielle Geisteskrankheit ablehnen müssen. Clarus spricht deshalb in seinem Gutachten nur von einer krankhaften Anlage, die — da es sich um keine wirkliche Krankheit handelte — auch nicht Woyzecks Fähigkeit, klar zu denken und zu urteilen, zerstört habe; erst eine wirkliche Krankheit kann also nach Clarus - die Übermacht über den Geist, der nur insgesamt gestört sein kann, erlangen. Konsequent hierzu führt Clarus auch die Halluzinationen auf die Anlage - auf eine Störung des Blutumtriebes - zurück, ohne gleichzeitig eine Beeinflussung der Willens- und Handlungsfreiheit Woyzecks anzunehmen. Die Problematik dieses Verfahrens macht Johann Chr. A. Grohmann in einem Kommentar zum Clarus-Gutachten deutlich: »Wenn nun diese Delirien, Halluzinationen aus einem riefern Sitze des Uebels, nicht blos aus Blutwallungen und äußern Sinnestäuschungen, sondern aus einem tiefern Leiden des Nerven- und Gehirnlebens hervorgingen, wie dann?«83
Grohmann gibt damit die Unsicherheit und Unkenntnis zu bedenken, die in der Erklärung der Ursachen von Geistesstörungen bestehen, weshalb man — so Grohmann - das Schwergewicht in der Frage der Zurechnungsfähigkeit auf die Feststellung der psychischen Symptome und auf die Betrachtung der gesamten psychischen Verfaßtheit des Betroffenen legen müsse.84 Büchner greift mit der Karikatur der diagnostischen Methoden des Doktors ebenso diese problematische Vereinfachung und Einseitigkeit in der Erlancholischen, die Manie mit dem cholerischen, und [es] ist jedes Temperament auf ein bestimmtes vorwaltendes organisches System basiert, z. B. das melancholische auf das venöse, das cholerische auf das arteriöse [...]«, und S. 611: »Noch weit tadelhafter aber ist die Aeußerung E s q u i r o l ' s (S. 201): »Gelingt es noch durch Leichenöffnungen, die Erkenntniß dieser Hauptform klarer zu machen, so wird sie viel Licht über die Verrichtungen des Gehirns und den Einfluß dieses Organs auf die intellectuellen und moralischen Fähigkeiten verbreiten [...]«. Sollen aus dem todten Gehirn die Verirrungen des menschlichen Herzens und der von ihnen abhängigen verkehrten Denk- und Handlungs-Weise klar werden?« Möglicherweise wendet sich Büchner in der Karikatur der Untersuchungsmethoden des Doktors gegen eine solche noch aus der antiken Temperamentenlehre entstammende Auffassung, daß eine Störung in dem Mischungsverhältnis der Säfte Gemüts- bzw. Geistesstörungen verursachen könne. 83 Johann Christian August Grohmann: {Jeher die zweifelhaften Zustände des Getnüths; besonders in Beziehung auf ein von dem Herrn Hofrath Dr. Clarus gefälltes gerichtsärztliches Gutachten. — In: Zeitschrift für die Anthropologie, 1. Hrsg. von Nasse. — Leipzig 1825, S. 291-337, S. 304. 84 Ebd., S. 298 f. und 301: »Die anthropologische Beurtheilung, denn so möchte ich die erstere symptomatische nennen, verdränge ja nicht in den gerichtsärztlich zu fällenden Urtheilen über den Seelenzustand des Verbrechers die höhere p s y c h o l o g i s c h e Erkenntniß, die nicht von den Symptomen die That sondern die Symptome von tiefer zu erkennenden Ursachen ableitet und so eine gründlichere und gerechtere Erklärung der Erscheinungen liefert.«
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klärung der Geistesstörungen aus einer Herzkrankheit bzw. aus einem gestörten Blutumtrieb< an, ohne damit zugleich ein organisches Substrat für psychische Prozesse zu leugnen. Aber dennoch betont er — beispielsweise gegenüber der Vorstellung Galls, daß vor allem eine Erkrankung des Gehirnes die (partielle) Geistesstörung hervorrufe — die Rolle der äußeren Einflüsse in diesen Prozessen; dies wird ja auch schon in seiner Annahme von der notwendigen Existenz eines Sensorium commune deutlich. Ungeklärt bleiben muß allerdings, ob Büchner die primäre Ursache der psychotischen Störungen Woyzecks in diesen Einflüssen oder in der materiellen Basis ihrer Verarbeitung sieht, wobei mir ersteres der Gesamtintention des Dramas entsprechend eher zuzutreffen scheint.
»Herrschende Ideen«: Die Rolle der Ideologie, Indoktrination und Desorientierung in Georg Büchners Woyzeck Von Alfons Glück (Marburg)
Voraussetzungen (53) Unterdrückung auf der Ebene des Bewußtseins, erste Umrisse - Definitionen: Ideologie, Indoktrination, Desorientierung — Der Mechanismus Introjektion I. Teil. Die drei Hauptfronten der Ideologie, Indoktrination und Desorientierung im Woyzeck: Herrschende Moral - Herrschende Religion - Herrschende Philosophie (65) A. Die herrschende Moral (66) Zu Büchners Moral-Begriff — seine Kritik der herrschenden Moral — Auswirkungen der herrschenden Moral auf das Bewußtsein der Geknechteten — die Unterdrücker als Moralprediger — ein Gipfel der Desorientierung: Woyzeck bewundert die »Tugend« seiner Unterdrücker — die Folgen: Woyzeck faßt Herrschaft als Schicksal und die herrschende Moral als »die« Moral auf — Zweck und Ende: Schuldzuweisung an die Opfer — Konkretisierung an einer der »herrschenden Ideen«: »Sünde« — welche Auswirkung auf Woyzecks Bewußtsein hat die ihm durch die offizielle Religion eingeimpfte Vorstellung, Maries sexuelle Beziehung zum Tambourmajor sei »Sünde«? B. Die herrschende Religion (73) Religion als Herrschaftsmittel - eine religiöse Szene im Leben des historischen Woyzeck Wirkungen der herrschenden Religion auf Woyzecks Bewußtsein - das atheistische »Märchen« — der Gegensatz der herrschenden Religion: die Religion der Unterdrückten, ein zwiespältiges Medium ihrer Bewußtwerdung Exkurs: Ist der Woyzeck ein christliches Trauerspiel? (83) Glaubt Woyzeck an einen religiösen Sinn seiner Leiden? - F. H. Mautner und E. Krause Prüfung der Hauptstütze der »Konversions«-These, der Szene H4,17 und der Verse »Leiden sei all mein Gewinst« C. Die herrschende Philosophie (91) Welchen dramatischen Zweck hat die Philosophie im Woyzeck? — Szenen, in denen philosophische Ideen pervertiert werden - der Idealismus der Herrschaft - Kritik des herrschenden Idealismus — die Rolle der »Willensfreiheit« im historischen Fall Woyzeck — Büchner als Kritiker des Idealismus II. Teil. Die Wirkung der »herrschenden Ideen« auf die Beherrschten (105) Das herrschende Geschwätz beeindruckt die Unwissenden (105)
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A. Ebene des Verstandes: Schwächen und Defekte, Blendung (107) Ist Woyzeck von Natur aus dumm? - Worüber denkt er nach? — Unwissenheit - vorbegriffliches Denken und Bildanalogien - Spintisieren - Woyzeck erkennt seine Feinde nicht — Momente von Identifikation mit dem Feind — Szenen der Bewußtlosigkeit — Ableitung der Schwächen und Defekte seines Denkens aus seiner materiellen Lage B. Ebene des Willens: Lähmungen (vor-psychotische Zustände) (119) Passivität, Apathie - soziale Ableitung dieser vor-psychotischen Zustände - Demoralisierung - graues Elend, Depression, Angst und Verzweiflung C. Die Mündung: Psychose (123) Symptome einer seelischen Erkrankung — Verursachung und Mechanismus — Verhältnis Indoktrination/Psychose III. Teil. Funken unter der Asche: Reste authentischen Bewußtseins und moralischer Identität der Opfer (126) A. Lichte Momente (128) »Wir arme Leut« - »Tugend«/»Geld« - »Lasset die Kindlein zu mir kommen« Zwangsarbeit im Himmel - finstere Grenze: die Bewußtseinsform »Schicksal« B. Menschliche Substanz, moralische Identität (132) Menschliche Substanz — Züge moralischer Integrität des historischen Woyzeck — im Drama: Selbstaufopferung, Fürsorge über das Grab hinaus, die letzte Geste
Voraussetzungen Schlägt man den Woyzeck* auf, so ist es, als stiege man in eine geistige Unterwelt hinab (in der eine noch tiefere Finsternis herrscht als in der Platonischen Höhle)1. Vor uns steht ein Soldat und Gelegenheitsarbeiter, einer der »Armen im Geiste«, auf der untersten Stufe des Bewußtseins, scheint es, an der Grenze des Dahinvegetierens. Panische Bewegungsabläufe zeigen einen Gejagten, vielleicht einen seelisch Kranken; seine reflexartigen Gesten und
* Ich zitiere (mit römischer Band- und arabischer Seitenzahl) nach Georg Buchner: Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Werner R. Lehmann. Bd. l: Dichtungen und Übersetzungen. Hamburg o. J [1967]; Bd. II: Vermischte Schriften und Briefe. - Müncrheri 1971 - £>ie Entstehungsstufen des Woyzecfc-Textes: Hl =Szenengruppe l, H2 = Szenengruppe 2; H3 = Verstreute Bruchstücke; H4 = Vorläufige Reinschrift (H4,l bedeutet also im folgenden: die I.Szene der Vorläufigen Reinschrift usw.). Eine Synopse: I, 337 ff; die von Lehmann erstellte Lese· und Bühnenfassung: I, 407 ff. - Durchgehend habe ich die Transkription der Faksimile-Ausgabe der Woyzedfe-Handschriften (Georg Büchner: Woyzeck. Faksimile-Ausgabe der Handschriften, mit Transkription und Kommentar von Gerhard Schmid. -Wiesbaden 1981) herangezogen, und wo eine von Lehmann abweichende Lesart den Textsinn veränderte, habe ich das berücksichtigt. - Orthographie leicht normalisiert. l Das »Höhlengleichnis«, Staat, 514 ff. - Ein Kontrast: »Goethe sagte mir einmal, daß, wenn er eine Seite im Kant lese, ihm zumute würde, als träte er in ein helles Zimmer«, Schopenhauer: Sämtliche Werke (hg. von W. v. Löhneysen), , S. 186. 53
sein stereotypes »Jawohl« erinnern an einen Roboter oder an jene, die auf Godot warten. Offensichtlich ist er »in seiner >Gesinnung< schwer entfremdet und beschädigt« (Th. M. Mayer)2. Eine solche Figur war - als Protagonist! — in einer Tragödie bis dahin (1837) noch nicht aufgetreten. Unter den massiven Faktoren, die wie in einem konzentrischen Angriff auf das Subjekt Woyzeck einwirken — Not, Arbeitsüberlastung, Militärdisziplin, Demütigung, medizinische Experimente, die an ihm durchgeführt werden, Strafverfolgung, die ihm bevorsteht —, ist ein schwer faßbarer, subtiler Faktor: geistige Unterdrückung, Knechtung auf der Ebene des Bewußtseins, die Desorientierung durch die herrschende Ideologie und Indoktrination. Diese Fesseln sind nicht so sichtbar wie die an Händen und Füßen, aber nicht weniger einschneidend. Um dem Leser die Wirklichkeit »Desorientierung« vorwegnehmend an einem Beispiel vorzustellen, führe ich einen Zug aus dem Gutachten an, das der Psychiater Clarus 1823 über die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck erstellt hat (Büchners Quelle). Clarus behauptete — gegen schwere Psychosesymptome, die er konstatierte, konstatieren mußte — die Zurechnungsfähigkeit seines »Inquisiten« (was schon von Zeitgenossen kritisiert wurde). Diese (Fehl)Diagnose bedeutete für Woyzeck das Todesurteil. Die Stelle im Clarus-Gutachten, die ich hier im Auge habe, lautet: »Auf seine Träume, die er sehr gerne erzählt, und auf seine Weise deutet, baut er auch seine Hoffnungen. So erzählte er mir einst mit großer Freude, daß ihm geträumt habe, er läge in einer Grube, um welche mehrere Menschen beschäftigt wären, ihn heraus zu ziehen.« (I, 516)
Woyzeck träumt von Helfern, die ihn aus einer Grube - dem Grab - herausziehen. (In diesem Traum liegt der von Freud beschriebene Mechanismus »Wunscherfüllung« offen zutage.) Und diesen Traum teilt der Gefangene — und diese Mitteilung ist eine angsterfüllte indirekte Bitte um Hilfe - seinem >Inquisitor< mit, demjenigen, der ihn in die Grube hinabstößt ... Die Bitte um Hilfe richtet er an seinen Verfolger (bei dessen Eintreten in die Zelle ihn jedesmal ein Zittern befällt; I, 504) - ein Zug tragischer Desorientierung.3
2 Büchner-Chronik. - In: Gß ////, S. 416. 3 Man könnte fragen, an wen er sich denn sonst hätte wenden sollen? Antwort: an den Gefängnisgeistlichen, dem er auch sein Stimmenhören anvertraute (das er Clarus verschwiegen hatte!), an seine Wärter oder seine Mitgefangenen. Aber, und das ist scheinbar der springende Punkt, Clarus, der ihn aufs Schafott bringt, ist zugleich der einzige, der ihn vor dem Henker bewahren könnte. Wenn man vorerst nur die logische Ebene berücksichtigt und die seelische Verfassung des Delinquenten ausblendet, dann scheint sein Verhalten rational und die Desorientierung nicht darin liegen zu können, daß er sich mit dem Traum an diese >Adresse< wendet. Aber selbst in einer solchen nur zweidimensionalen Betrachtung verschwindet sie nicht. Sie kommt zum Vorschein in der »großen Freude« über die Rettung verheißenden >Vorzeichen< und in der arglosen (in Wahrheit gewaltsamen, krampfhaften) 54
Die Kritik herrschender Ideologien ist ein zentrales Thema in Büchners Schriften vom Hessischen Landboten bis zum Woyzeck. Nach der Anatomie des Staatsapparats ist die Kritik von Herrschaftsmythen das Hauptthema des Hessischen Landboten. In Dantons Tod werden die Programme (und Intrigen) der Fraktionen um Danton und um Robespierre aus der Sicht der hungernden Massen durchleuchtet. Im »Kunstgespräch« des Lenz (I, 86 ff.) wendet sich Büchner durch den Mund des Stürmers und Drängers gegen eine idealisierende Kunst. Mit dieser Stellungnahme ist die in dem Brief vom 28. 7. 1835 gegen die »Idealdichter« (wie Schiller) deckungsgleich, die »fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affectirtem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Thun und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung einflößt.«
In Leonce und Lena nimmt er einer sterbenden Klasse die Maske ab. Hinter der zur Schau getragenen noblen Nonchalance und dem geistreichen Gerede verbirgt sich ihr hippokratisches Gesicht, die Langweile, ihre Aporien, ihre Perspektivlosigkeit. Diese Komödie gleicht einem Totentanz, seiner letzten, euphorischen Szene. Auch in dieser Hinsicht, Kritik der herrschenden Ideologie, ist der Woyzeck der Gipfel seiner Werke, sein letztes Wort. Das Gerede von »Tugend« und »Freiheit«, das die Herren auf ihren Knecht niedergehen lassen, soll das Keuchen des Arbeits- und Versuchstiers übertönen, wie die Musik im Mythos vom Stier des Phalaris die Schmerzensschreie der Opfer. Nirgends hat Büchner die Einwirkung der herrschenden Ideen auf das Bewußtsein der Beherrschten auf einer solchen Stufe der Konkretion dargestellt. Mit besonderer Schärfe wendet er sich gegen den herrschenden Idealismus, den Idealismus der Herrschaft, gegen dessen Arroganz und Massenverachtung. Den »Aristokratismus« der »Gebildeten« hat er verabscheut; jedesmal, wenn er darauf zu sprechen kommt, hat man den Eindruck, er verliere die Fassung (was ihm sonst kaum je anzumerken ist). Um die Wirklichkeit und Wirkung der Ideologie im Woyzeck in ihrem ganzen Umfang zu ermessen, kommt es sehr darauf an, den Systemcharakter der »herrschenden Ideen« zu erkennen: daß sie keine zufälligen Brocken sind, die Woyzeck aufschnappt (wie, scheinbar, die Begriffe »Struktur« und »Charakter«, H4,8) und die - zufällig, ungerichtet — diesen »geistig Armen« verwirren und verstören. Die »herrschenden Ideen« sind von Büchner konzipiert als Elemente eines umfassenden Systems der Ausbeutung, Unter-
Hoffnung, dem illusorischen Vertrauen auf diesen >Inquisitor. Die verzweifelte Hoffnung soll, für Augenblicke, das verzweifelte Bewußtsein überdecken und die Panik niederhalten, die ihn unwiderstehlich erfaßt (das Zittern), sobald der Vertreter der herrschenden Wissenschaft und der verfolgenden Instanz (die sich so nahe stehen, daß man sie für identisch halten könnte) die Zelle betritt. 55
drückung und Entfremdung, dessen Opfer Woyzeck wird. Die Ideologie seiner Herren lastet auf ihm wie ein Alpdruck. Sie ist weniger massiv als das Militärregiment oder die Arbeitshetze, aber deshalb nicht weniger wirkungsvoll. Die »Tugend«-Anforderungen und die Vorhaltung der »Willensfreiheit« ertönen aus dem Munde seiner Herren zwar nicht so laut, aber kaum weniger herrisch als die Kommandorufe auf dem Exerzierplatz. Ihr Aggregatzustand ist ein >höhererUntreue< erleben, als Verlust von erotischer Hörigkeit bestrafen lassen. Die Bestrafung, der Mord, wird von der Gesellschaft scheinheilig geahndet; von jener Gesellschaft, die durch ihre Verwurzelung im Besitzverhältnis die Anweisung dazu gegeben hat.« »So kann die erotische Bindung noch Geborgenheit bedeuten, aber zum bloßen Teil des sozialen Zusammenhangs gestempelt; wenn sie, als Besitzverhältnis, gestört wird, dann enthüllt sie sich als komplementär jenem Prinzip von Herrschaft, das Woyzeck auf seiner >Stufe< hält, ihn an seiner armen >Habe< festhalten, und zum Mörder werden läßt.«4
Woyzeck bringe eine sexuelle Beziehung, die Maries zum Tambourmajor, und sein eigenes Liebesverhältnis unter eine Kategorie des Rechts; daß Marie sich mit dem Tambourmajor einläßt, erlebe er als Verletzung seines Rechtsund Besitzanspruchs, und ein solcher Besitzanspruch ist, nach Ullman, typisch für die bürgerliche Ehe.5 — Die Verhältnisse, unter denen Woyzeck und Marie zusammenleben, sind nicht danach, die vielleicht nur auf dem Papier stehenden Normen einer bürgerlichen Ehe zu verwirklichen; dennoch, räume ich ein, könnten diese Normen Woyzeck desorientieren. Aber Besitzvorstellungen, die aus einem Liebes- ein Besitzverhältnis machen, kennzeichnen doch nur eine dieser »herrschenden Ideen«. Das Verhalten Woyzecks in H4,4, als er nach Entdeckung der Ohrringe auf Maries »Bin ich ein Mensch [das Mensch, eine Hure]?« einlenkt und das Thema wechselt, spricht nicht für die These »Desorientierung durch Besitzvorstellungen«. Die Verletzung ist anderer Natur; »Recht« und »Besitz« sind (wie »Sünde«, s. u.) nur eine Sprache, in der diese Verletzung zum Ausdruck kommt. Auch wenn Ullman den Sachverhalt »Desorientierung« nur partiell trifft, ist er doch unter den Auslegern des Woyzeck der einzige, der nicht lediglich abstrakt auf »Ideologie« und ihre zerstörerische Einwirkung hinweist, sondern eine solche Eiiiwirkung konkretisiert, ihren Mechanismus aufdeckt und ihre Bedeutung für die Tragödie würdigt. In L, Zägaris un*fangröeher Abhandlung Segni apocätitüci e crüica delle ideologie nelWoyzeck di Büchner6 steht Ideologiekritik im Titel. Zägari behandelt vorrangig »apokalyptische Zeichen« (wie Woyzecks Vision eines Weltendes, 4, l). Über diese »Zeichen« spricht Zagäri wie über objektive Realitäten, mindestens sind es poetische Fiktionen, d. h. >RealitatenSchriftzeichen< der Schwämme auf dem Erdboden). Die »Zeichen« im Woyzeck sind psychische >Zeichenendzeitliche< Zustand, den Büchner anzeigt, ist der Durchbruch einer Psychose, kein »Weltende«, sondern das Ende des Subjekts Woyzeck (das ihm, dem Opfer, als Weltende erscheint, erscheinen muß). Bei Zagari sind diese Zeichen - die allerdings nur Woyzeck sieht — Zeichen für alle dramatischen Personen; meiner Ansicht nach existieren sie nur für Woyzeck (sofern man von einer Projektion sagen darf, sie existiere). Der Unterschied unserer Auffassungen ist dem analog, der, nach Heraklit, zwischen Traum und Wachen besteht: Im Wachen leben wir alle in einer gemeinsamen Welt (Welt der objektiven Zeichen), im Traum lebt jeder in einer Welt für sich (Welt der Projektionen). Zagari kann von seinen »Zeichen« sagen, die Fähigkeit, sie zu lesen, bedinge die Stellung der dramatischen Figuren auf der »scala ideologica« dieser Tragödie.7 Diese »Skala«
7 »Basteranno qui di seguito alcuni cenni per dimostrare ehe la cartina al tornasole capace di indicarci la collocazione dei singoli personaggi ai vari gradini della scala ideologica degli
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reicht von dem Hauptmann und dem Doktor, die sich der zeichenhaften und apokalyptischen Dimension verweigern, bis zu Woyzeck, der über eine »disponibilitä apocalittica«8 verfüge und der zuletzt nicht nur seine »frustrazione sociale«, sondern auch seine Sehnsucht, diese Zeichen zu entziffern, durch den Mord ersticke.9 Zagaris Argumentation bleibt mir auf weite Strecken undurchsichtig. Selbst Begriffe, die in seiner Argumentation den Rang von Axiomen innehaben, definiert er nicht, wie ein »primum irrazionale e vitale«10, das er auftreten läßt wie den »ersten Beweger« in der Aristotelischen Metaphysik. Ist es mit Bergsons »elan vital« verwandt? Gewiß ist es keine Kategorie, in der Büchner gedacht hat, und sicherlich gehört es einer ganz anderen Sphäre als »Ideologiekritik« an. Zagaris »critica delle ideologic« (im Sinne Paretos?) berührt sich kaum mit dem, was ich im folgenden so nenne (und dessen Fundament die klassische Definition in der Deutschen Ideologie von Marx und Engels ist), ausgenommen eine Stelle, die ich hervorheben möchte: Zagari stellt die mystifizierende und konformistische Funktion der »Wissenschaft« im Woyzeck fest und sagt, die »Gleichheit« der Menschen vor der Wissenschaft [?] sei eine extreme Form des Betrugs, und die Freiheit [im Mundes des Doktors] diene dazu, den Opfern die letzte, innere Waffe zu entwinden: »E proprio lo scienziato Büchner a smascherare la funzione mistificante e conformistica della scienza ufficiale. Ben lungi dal condividere la fede di Clarus nella luce ehe Popera della scienza puo diffondere nella societä, egli mostra ehe proprio l'uguaglianza degli uomini di fronte alia scienza in quanto esseri liberi e il supremo inganno. Questo ipocrita riconoscimento di uguaglianza e solo il modicissimo prezzo ehe la societä e piü ehe pronta a pagare per togliere alia sua vittima la sua ultima arma, interiore, di difesa: una volta rieonosciuta libera ed eguale, la vittima finirä non solo col subire ma con l'accettare la condanna ehe un sistema a lei ostile le infligge.«11
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esseri cosi abbozzata e costituita, nel Woyzeck, proprio dalla diversa disponibilita ehe ciascuno di essi rivela nei confront! di quella ehe ormai piü volte abbiamo chiamato la dimensione apocalittica e l'enigma dei segni.« Ebd., S. 173. Ebd., S. 136. - »Vero e ehe il Capitano e il Dottbre, mentre rifiutano attendibilita e consistenza alia dimensione segnica e apocalittica, non esitano poi a strumentalizzarla per affermare tin pesante prtriciptö di dw^minazione.« 1EW.r S. 175. »[...] alludiamo al fatto ehe la sensibilitä di Woyzeck per le dimensioni cosmiche della minaccia apocalittica ricade poi alia fine nelle strettoie di un bestiale fatto privato come l'assassinio di Marie, fe una contraddizione cosi patente da avere indotto Egon Krause a fantasticare di un Woyzeck ehe cristianamente nell'ultima redazione, rinunzierebbe ai suoi propositi omicidi. A noi sembra evidente ehe anche in questo caso non si debba tentare di attenuate la contraddizione ma anzi su essa si debba far leva: la forza della figura di Woyzeck sta proprio nel fatto ehe il meschino assassinio cui lo spingono la possessiva gelosia e la sua frustrazione sociale e si lo sbocco naturale ma anche il efinitivo soffocamento di quella sua ansia di interpretazione delle cose ehe a sua volta era frutto di superstizione e insieme conseguenza del disperato rifiuto di ogni conformismo.« Ebd., S. 199. Ebd., S. 199. Ebd., S. 182.
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Das kann ich verstehen und der Tendenz dieses Urteils kann ich zustimmen. Zuerst ein Wort zu den Grundbegriffen »Ideologie«, »Indoktrination« und »Desorientierung«, minimale Definitionen: Unter I d e o l o g i e ist »falsches Bewußtsein« zu verstehen, Mythen12, perspektivische Illusionen, kollektive Verdrängungen. Die tatsächlichen natürlichen oder gesellschaftlichen Triebkräfte (Ursachen, Beweggründe, Interessen) bleiben verborgen, wie für Woyzeck das Räderwerk, das ihn zermalmt, hinter seiner wahnhaften Spekulation über eine Geheimschrift der Natur (Figuren der Schwämme, H4,8), von der er sich Aufschlüsse über sein Schicksal erwartet (»Wer das lesen könnt«). Um die wirklichen Ursachen seines Schicksals zu erfassen, müßte er den Blick auf ganz andere >Figuren< richten und über andere Kategorien verfügen, wie »Ausbeutung«, »Herrschaft«, »Klassen«. Die »herrschenden Ideen« (Begriffe, Wertungen, Normen usf.) begründen und rechtfertigen die Herrschaft (z. B. der repressive Begriff von »Gesetz und Ordnung«), sie sind, mit anderen Worten, diese Herrschaft »in Gedanken gefaßt« (verallgemeinert, zum Begriffssystem erhoben), als >allgemeingültige< Normen zur Geltung gebracht, wie es Marx und Engels in der Deutschen Ideologie klassisch formuliert haben: »Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, [...] sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.«13
Das heißt auch, in normalen (= nichtrevolutionären) Zeiten müssen sie als Grundmythen (z. B. »es muß immer Arme und Reiche geben«) auch im Bewußtsein der Unterdrückten die herrschenden bleiben, eben deshalb, weil sie (scheinbar) nichts als Feststellungen sind, Reflexe der bestehenden Verhältnisse; in Wahrheit sind sie jedoch »Urteile«14, die im Gewand von Feststellungen auftreten. Ideologie ist keine vorsätzliche Täuschung, sondern eine Illusion, in der man lebt, ohne Bewußtsein, sich und andere zu täuschen (im Gegensatz zu einem Betrüger, der selbst am wenigsten >daran< glauben darf). Ideologie ist 12 Auch in modernisierten, säkularisierten Mythen wie »Schicksal«, »das Unbegreifliche«, »die Ausgesetztheit des Menschen« usf. drücken sich, hypostasiert, Ohnmacht und der Mangel an Wissen aus. Diesen an der Grenze zur Personifizierung stehenden >Begriffen< ist ihr Ursprung noch anzumerken: es sind Überreste mythischer Bewußtseinsformen, die der Prosa des common sense angepaßt sind; daher auch der Schein von Tiefsinn und Poesie, den sie (abnehmend) verbreiten. 13 MEW, Bd. 3, S. 46. 14 »Urteil« im Sinne der Logik.
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eine notwendige Illusion, und in dieser Hinsicht mit einer optischen Täuschung vergleichbar. Zwischen den ideologischen Projektionen und den tatsächlichen Triebkräften besteht ein schwieriges dialektisches Verhältnis. Auf einer bestimmten Stufe der historischen Entwicklung wird z. B. kapitalistische Ausbeutung ausgelegt als »freie Entfaltung des Individuums«, aber nicht zufällig oder als Finte, sondern deshalb, weil auf dieser Stufe die freie Entwicklung des Individuums tatsächlich noch an die Entwicklung des Kapitalismus gebunden ist. Und deshalb »erscheint« (unwillkürlich, unvermeidlich) die freie Entwicklung des Kapitalismus als die freie Entwicklung des Individuums (und nicht in beliebigen anderen Vorstellungen und Denkfiguren, die man sich ausdenken könnte). So ist abzuleiten und so wird begreiflich, was als Tatsache niemand in Abrede stellen wird: daß Ideologie eine notwendige und kollektive Illusion und nicht ein Aggregat subjektiver Fiktionen ist.15 Natürlich sind in der Wirklichkeit die Grenzen zwischen Ideologie und Fiktion fließend. Ideologie geht in Betrug über in dem historischen Moment, wo die gesellschaftliche Stufe überschritten wird, an die jene Bewußtseinsformen gebunden waren. Von diesem Augenblick an werden sie instrumenteil16, Ideologie wird zu Indoktrination und Propaganda. Die Inhalte der Propaganda werden gehandhabt. Ein solches Drehmoment für Ideen der Aufklärung (die uns im Zusammenhang mit dem Woyzeck besonders interessieren müssen) war der Thermidor (Juli 1794), als durch den Sturz der Jakobinerdiktatur die Bourgoisrepublik sans phrase etabliert wurde. Die aufrichtigen Deklarationen der Aufklärung, wie die Erklärung der Menschenrechte, werden zunehmend zu Phrasen und Täuschungsmanövern. Von der Ideologie, die man mit der unsichtbaren Luft vergleichen könnte, in der wir alle atmen (der eine in dieser, andere in einer ändern), ist zu unterscheiden die vorsätzliche Täuschung, Lüge, Tarnung, Betrug (»sie sagen Jesus und meinen Kattun«), die Blendung und Desorientierung durch I n d o k t r i n a t i o n und Propaganda, die man mit einem Rauchvorhang vergleichen könnte. Skrupel, ob es auch wahr sei, gelten als unsachgemäß. An einfachen Beispielen: Wenn Woyzeck die herrschende Moral (»Tugend«) bewundert (H4,5), steht er unter dem Bann der Ideologe17; wenn er sich vor »Freimau15 Über »Ideologie«, die Vorgeschichte und Geschichte des Begriffs: Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologiej hg. u. eingel. von K. Lenk. - Neuwied und Berlin 31967 (Ausgewählte Texte von Bacon bis Marcuse, mit einer problemgeschichtlichen Einleitung und ausfuhrlicher Bibliographie.) 16 Ein solches instrumentelles oder zynisches Verhältnis wird fälschlicherweise in der >Ideologiekritik< der Aufklärer, von Fontenelle, Bayle, Voltaire und anderen, z. B. in der Theorie vom »Priesterbetrug« (Muster: Fontenelles Histoire des Oracles) vorausgesetzt. 17 Der Hauptmann glaubt schließlich selbst daran (ob auch der Doktor an seine Philosophie der »Willensfreiheit« glaubt, ist nicht gleich sicher). Für den Effekt, den diese Moral und diese Philosophie auf Woyzeck haben, ist es sekundär, ob die Herren den repressiven Zweck ihrer Moral und Philosophie durchschauen oder nicht, ob sie als Ideologen reden oder als Zyniker. 61
rern« ängstigt (H4,l), wird er Opfer gegenrevolutionärer Propaganda des metternichschen Polizeisystems gegen fortschrittliche Geheimgesellschaften, gegen »Demagogen« (Demokraten) und Aufrührer, die »alles« »unterwühlen«.18 Nicht zufällig sucht Woyzeck diese Freimaurer unter dem Erdboden! Das Feindbild, das ihm seine Herren eingetrichtert haben, baut er in sein Wahnsystem ein (s. u.). Wo Not und Recht (z. B. der ihm aufgezwungene >freie< Arbeitsvertrag, der vom Doktor H4,8 zitierte »Akkord«), Gewalt und Drohungen noch eine Lücke lassen, da schließt Indoktrination — die Ermahnung des Volkes zur Knechtschaft, wie Büchner im Hessischen Landboten sagt19 - diese Lücke. D e s o r i e n t i e r u n g 2 0 : Durch die herrschende Ideologie und Indoktrination werden die Beherrschten in Unwissenheit gehalten, irregeführt und demoralisiert. Das Hauptziel ist, den Beherrschten die Überzeugung beizubringen, Widerstand sei aussichtlos, ja sinnlos (= vernunftwidrig, Unterwerfung sei das Gebot der Vernunft). Die herrschenden Ideen und die Techniken der Bewußtseinslenkung wirken darauf hin, Gehorsam, Ergebung, dumpfen Fatalismus, Passivität und Bewußtlosigkeit zu erzeugen, um Widerstand schon im Keim zu ersticken. Das widerspenstige Subjekt, die wilde, eigensinnige Seele soll gezähmt werden, wie es Büchner in den Jahrmarktszenen (H2,3; Hl,l; Hl,2) an den Pranger stellt, wo die »Fortschritte der Zivilisation« mit Fortschritten der Dressur gleichgesetzt werden. »Sehn Sie die Fortschritte der Civilisation. Alles schreitet fort, ein Pferd, ein Äff, ein Canaillevogel! Der Äff ist schon ein Soldat, s'ist noch nit viel, unterst Stuf von menschliche Geschlecht!« (H2,3)
Diese Szenen sind (ähnlich H3,l) Muster, wie Büchner die Kritik der herrschenden Ideologie dramatisch inszeniert. Die drastische Allegorik, das grel-
18 Über die Freimaurer, Historisches, Geistesgeschichtliches: F. J. Schneider: Die Freimaurerei und ihr Einfluß auf die geistige Kultur in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Prag 1909. Hier interessiert aber weniger, was die Freimaurer »an sich« waren (Exzerpte aus Realenzyklopädien und Monographien wie der Schneiders, im Stil eines Sach-Kommentars); uns hat zu interessieren, was sie im Drama, für Woyzeck sind: Material für eine Projektion seines Verfolgungswahns, s. u. So auch Ullman, der von paranoischen Projektionen spricht und diese vergleicht mit der antisemitischen Wahnbildung »Verschwörung des internationalen Judentums« (a. a. O., S. 86). (An die Stelle der Freimaurer hätten auch »Jakobiner« treten können, und auch dann würden uns Exzerpte aus Lefebvre, Soboul, Markov ebenso wenig helfen.) Auf diesen Unterschied zwischen »Sach-Kommentaren«, die gelegentlich eher den Text befrachten und verdecken als erklären, und »Erklärung der dramatischen Funktion« einer >Sache< muß ich noch öfter hinweisen. 19 »[Die Beamten] ermahnen das Volk zur Knechtschaft« (II, 38). 20 Desorientierung in der aktiven Bedeutung des Wortes: Techniken, Bewußtsein abzufälschen; über Desorientierung in passiver Bedeutung, die Einwirkung der herrschenden Ideologie und Indoktrination auf die Beherrschten, Fremdbestimmung auf der Ebene des Bewußtseins: s. Teil II. 62
le, marktschreierische Kolorit, der demonstrative Stil dieser Szenen dient e i n e m Zweck: herrschende Ideen (umgefälschte Leitideen der Aufklärung) anzuprangern, die, bis zur Kenntlichkeit vergröbert, als Mittel der Dressur und Knechtung entlarvt werden. Der Affe ist ein kleiner Bruder des Affen, der bei Kafka den Bericht für eine Akademie verfaßt.21 Die »Vernunft«, ein Kern der Herrschaftsideologie, besteht hier wie dort in dem >Talent< zu parieren, reibungslos auf Fremdbestimmung zu reagieren, sich gnadenlos anzupassen. Das Ideal, das die exerzierenden Soldaten und sogar noch den Affen in Uniform überbietet, sind die Marionetten (die in Büchners Werken eine so große Rolle spielen), die Automaten, die Roboter. Ihren Gipfel erreicht Indoktrination, wenn es gelingt, in das niedergehaltene Bewußtsein W a h n e l e m e n t e einzuschleusen, zu injizieren, wie im Fall Woyzeck »Freimaurer« oder »Weltuntergang«. Solche Wahnelemente sind nicht etwa partielle Defekte, die sich in Grenzen halten (als ob die Vernunft sie abkapseln könnte); sie haben vielmehr die Tendenz, sich wie eine Infektion auszubreiten und die gesamte Vernunft zu desorganisieren. Hier ist im Fall Woyzeck eine offene Grenze zur Psychose. Das Endziel, jedenfalls das Endergebnis dieser Bewußtseinsverödung könnte man »Enthauptung« nennen. Die intellektuelle und psychische Enthauptung geht im Woyzeck der tatsächlichen physischen voran ... Ein Vorgang wie das Eindringen herrschender Ideen in das niedergehaltene Bewußtsein (»infused opinions«, Bacon), wo sie »verinnerlicht« werden, wird als » I n t r o j e k t i o n « bezeichnet. Was Woyzeck lebenslänglich eingetrichtert wurde und was wir in Szenen wie H4,5, in der Rede des Hauptmanns über die strengen Tugendanforderungen, und in H4,8, in der Rede des Doktors über die alle Bedürfnisse überwindende Willensfreiheit, mitanhören, das reicht von einem Sortiment grober Lügen hinauf bis in die Höhen der Metaphysik, bis zur »Verklärung der Individualität zur Freiheit« (der Doktor in H4,8) und zur »organischen Selbstaffirmation des Göttlichen« (der Professor in H3,l). Die herrschenden Begriffe, Wertungen, Ideale werden den Beherrschten ins Gewissen hineingeschoben und von ihnen assimiliert. Aus den Z^jigeii ; ^|^:·;|6 ^». aus clfiiffefehlen j^i^en^ x|em Druck folgt die moralische Erpressung. Von den Unterdrückten als Maßstäbe und Nonnen übernoi^hien und angeeignet, funktionieren die herrschenden Ideen als Steuermechanismen, als innerliche Herrschaftsinstanzen, als die verfolgende Instanz »Gewissen«, als autoritäres Ober-Ich, als Fremdbestimmung, die als Selbstbestimmung erscheint, als die Stimme des eigenen besseren Ich. So wird die äußere durch die Selbstunterdrückung ergänzt und vervollständigt und das Subjekt im Interesse der Herrschaft konditioniert. Am
2l Auch G. Baumann gemahnt diese Szene an Kafkas Bericht für eine Akademie (Georg Büchner. Die dramatische Ausdruckswelt. - Göttingen 21976, S. 176).
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subtilsten setzt sich die verinnerlichte Gewalt im Gewissen durch (dessen jenseitiger Ursprung ein Stolz der christlichen Metaphysik und noch der Kritik der praktischen Vernunft ist) und dringt so hinab bis an die Quelle der Entschlüsse, ja bis an die Quelle unbewußter Antriebe. Äußere Beaufsichtigung würde da nicht hinreichen. Der Triebverzicht, der dem Arbeitstier Woyzeck durch die herrschende »Tugend« abgenötigt werden soll, gelingt zwar nur unzureichend, bleibt aber deshalb nicht wirkungslos: Woyzeck reagiert auf sein >Versagen< mit Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen, anstatt sich gegen diese Zumutungen aufzulehnen, w e i l sie unerfüllbar sind. Solche Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle machen ihn zahm und gefügig und setzen ihn erneut und verstärkt dem Druck der herrschenden Gewalt und ihrer Moral aus - ein Zirkel. Eine Introjektion hat R. Kreis22 in H4,4 entdeckt: Marie hat die Ohrringe, die ihr der Tambourmajor geschenkt hat, angelegt und beschaut sich in einer Spiegelscherbe. Das Kind soll ihr bei diesem Akt von Untreue nicht zusehen. »Schlaf Bub! Drück die Auge zu, fest, (das Kind versteckt die Augen hinter den Händen) noch fester, bleib so, still oder er holt dich. (Singt) Mädel mach's Ladel zu S'kommt e Zigeunerbu Führt dich an deiner Hand Fort in's Zigeunerland [...] (Das Kind richtet sich auf) Still Bub, die Auge zu, das Schlaf engelchen! wie's an der Wand läuft, (sie blinkt mit dem Glas) die Auge zu, oder es sieht dir hinein, daß du blind wirst. (Woyzeck tritt herein [...]) [...] Was der Bub schläft. Greif ihm unter's Ärmchen der Stuhl drückt ihn. Die hellen Tropfen steh'n ihm auf der Stirn; Alles Arbeit unter der Sonn, sogar Schweiß im Schlaf. Wir arme Leut!« (H4,4)
Woyzeck projiziert auf das Kind, was ihn bedrückt und schwitzen macht, seine Armut, die Arbeitshetze. R. Kreis sagt, die Schweißperlen auf der Stirn des Kindes seien Ausdruck der Angst, die Nachwirkung des »Schlafengelchens«. Marie spricht eine Drohung aus, wie sie Erwachsene häufig genug mit einem scherzhaften Seitenblick (scherzhaft für die umstehenden Erwachsenen) gegen Kinder aussprechen. Diese Drohung - geblendet und geholt (von der Mutter getrennt) zu werden - mustert R. Kreis aus der Sicht des Kindes; er bedenkt, welche Wirkung sie hervorbringen mag, und entdeckt so die Verknüpfung Drohung/Angstschweiß. Eine feine Beobachtung und die überzeugende Auflösung eines >unscheinbaren< Problems!23 Kreis spricht von »Angst einflößendem Aberglauben«, den Marie auf das Kind übertrage: 22 Die verborgene Geschichte des Kindes in der deutschen Literatur. Deutschunterricht als Psychohistorie. - Stuttgart 1980, S. 135. 23 Auf eine Schwierigkeit, die im Text stehengeblieben ist, möchte ich dennoch hinweisen. Das Kind ist etwa ein Jahr alt (Hl, 15 » W o y z e c k . Weißt du auch wie lang es jetzt ist, Magreth
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»Ohne es zu wissen, ohne es vor allem überhaupt zu empfinden, pflanzt die seelisch verkümmerte [?], von Gewissensängsten gedrängte Mutter [...] ihrem Kind in projektiver Reaktion die psychischen Grundlagen zu jenen Verfolgungswahnbildern ein, die Woyzeck so >verhetzt< und >vergeistert< durch die Welt jagen.«24
Daß analog auch Woyzeck in früher Kindheit solche »psychischen Grundlagen« eingepflanzt worden sind (die also, wie Kreis richtig voraussetzt, nicht »Natur« sind), dürfen wir für wahrscheinlich halten. Doch wird das dramatisch nicht realisiert, bleibt eine unterirdische Voraussetzung und muß erschlossen werden.25 Und darauf liegt auch nicht der Akzent. Das Drama führt uns vor, was auf diese »Disposition« auf triff t: die gesellschaftlichen Zerstörungsfaktoren, die Woyzeck zugrunderichten. Einer dieser Faktoren, »Ideologie und Indoktrination«, ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. L Teil Die drei Hauptfronten der Ideologie, Indoktrination und Desorientierung: Herrschende Moral - Herrschende Religion - Herrschende Philosophie Wenden wir uns jetzt den drei Sektoren oder Fronten der Ideologie und Indoktrination im Woyzeck zu: der herrschenden Moral, der herrschenden [Marie]? / M a g r e t h . Um Pfingsten 2Jahr.«). Wenn aber das Kind ein Jahr oder wenig älter ist, dann kann es nicht (und schon gar nicht wörtlich) solche Drohungen verstehen. Das wende ich nicht ein, um die von Kreis gefundene Verknüpfung wieder aufzulösen. Vielmehr meine ich, auch bei einem realistischen Dichter wie Büchner setze sich der dramatische Sinn und die Mitteilung an den Zuschauer gelegentlich über solche Anforderungen des Realismus hinweg, die man deshalb aber nicht für pedantisch halten sollte: Büchner gehört zu den Dichtern, bei denen »die Realien stimmen«. Schon leichte Unstimmigkeiten sind seltene Ausnahmen/Von dem, was so nachsichtig (mit Horaz) »poetische Lizenz« genannt wird, macht er selten Gebrauch. Das sagt etwas über den Charakter seiner Phantasie und deren Nähe zu den Naturwissenschaften; die Exaktheit, die man dem Anatomen Büchner attestierte, darf man gleicherweise dem Dichter nachrühmen. Die Sorge, ein Interpret könnte es mit irgendeiner >nebensächlichen< Texttatsache, z. B. einer Zeitangabe, zu genau nehmen und »das Gras wachsen hören«, ist ganz überflüssig: dieser Dichter hört das Gras wachsen. Zur Mitteilung an den Zuschauer: Sicher ist auch, daß Maries »Drück die Auge zu« (das ebenfalls vom Kind »verstanden« wird: »das Kind versteckt die Augen hinter den Händen«) einen Nebensinn hat, der, aus der Situation Mutter/Kind heraustretend, direkt - wie ein »Beiseite« - an den Zuschauer adressiert ist. 24 Kreis, S. 135. 25 Etwa so: Unter dem Druck, dem Woyzeck ausgesetzt ist, leiden Zehntausende (unter ihnen Woyzecks Leidensgenosse Andres), wenn auch durchschnittlich nicht unter einer so extremen Belastung (der Menschenversuch gibt Woyzeck den Rest). Woyzeck gehört zu denen (es waren nicht wenige, in zeitgenössischen Berichten ist häufig von »Nervenfieber« die Rede), die unter diesem Druck seelisch schwer erkrankten. In diesen Ansatz muß dann auch seine psychische Disposition (wie ein Vektor) miteinbezogen werden.
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R e l i g i o n und der herrschenden P h i l o s o p h i e . — Davon ist zu unterscheiden (und diese Unterscheidung muß der Leser für alles folgende festhalten) die Moral der Unterdrückten und Religion, sofern sie ein (zwiespältiges) Medium der Bewußtwerdung der Erniedrigten und Beleidigten wird, sowie die (wahnhaft verzerrten oder versandenden) Ansätze eigenständigen Denkens in Woyzeck (sein »Philosophieren«, das die Herren belustigt, vielleicht auch beunruhigt): das gehört nicht unter »herrschende Ideen«, sondern ist ihr Gegensatz, authentisches Bewußtsein der Unterdrückten. Darauf werde ich dann am Schluß, nach Darstellung der »herrschenden Ideen« und ihrer zerstörerischen Einwirkungen auf Woyzecks Bewußtsein, eingehen. A. Die herrschende Moral Für Büchner gibt es kein »ewiges« Gesetz moralischen Handelns26, von einem Gott erlassen oder »der« Vernunft innewohnend, keine »Metaphysik der Sitten«, keine ungespaltene Sphäre von Normen über den Klassen, »allgemeinmenschliche«, wie sie die Zehn Gebote verkünden oder wie sie Kant dekretiert und wie sie z. B. in Goethes Iphigenie vorausgesetzt sind. Moral ist für Büchner an materielle Bedingungen gebunden, sie ist klassenspezifisch.27 26 Ein moralisches Gesetz darf natürlich nicht verwechselt werden mit jenem »ehernen Gesetz«, das Büchner im »Fatalismus-Brief« (März 1834) walten sieht: »Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen.« (II, 425) Den Unterschied kann man in kantischer Begrifflichkeit in zwei Worten klarstellen: Das moralische Gesetz ist ein »Gesetz der Freiheit«; das im »Fatalismus-Brief« angesprochene »eherne Gesetz« ein »Naturgesetz« der Geschichte. 27 Das wird in der Sekundärliteratur fast durchweg richtig konstariert. So schreibt Victor: »Moral und Tugend - gegen die alten Ordnungen wird die umstürzende Behauptung gestellt, daß sie Gültigkeit haben nur unter den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen des Bürgertums, die für Büchner Unnatur und Ungerechtigkeit sind.« (Georg Büchner. — Bern 1949, S. 195). Eine rousseauistische Illusion dagegen scheint mir die von Victor angenommene »elementare Natur«, »die nur noch im Volk unverbildet lebt« (ebd.). Als ursprünglich, unverfälscht konnte die >Natur< des Volkes (der arbeitenden Klassen) von Rousseau und seinen Nachfolgern, wie den Romantikern, angesehen werden im Kontrast zu den erstarrten Konventionen einer niedergehenden Aristokratie. Es handelt sich um eine ideologische Projektion mit klarer politischer Stoßrichtung und nicht um die Beschreibung eines Sachverhalts. An der >Natürlichkeit< und >Naivität< im Sinne der Bewußtlosigkeit hatten die Ideologen des aufsteigenden Bürgertums, der künftigen neuen Herren, großes Interesse. - Von »natürlich«, »unverfälschter Natur« kann im Hinblick auf Woyzeck, Marie oder Andres keine Rede sein: Ihre >Natur< ist vielmehr durch Unterdrückung verstümmelt, durch Desorientierung verdreht. So auch H.-D. Kittsteiner und H. Lethen: Ich-Losigkeit, Entbürgerlichung und Zeiterfahrung. Über die Gleichgültigkeit zur »Geschichte« in Büchners Woyzeck. - In: GBJb 3 (1983), S. 244: »daß »unterhalb« der bürgerlichen Anthropologie (?) nicht elementare Natur oder mythisches Dunkel wahrzunehmen ist, sondern historisch anders, >unideal< modellierte Natur.« Was hier nicht »modelliert«, sondern verstümmelt und zerstört wird - wodurch? und konkret wie? -, das herauszuarbeiten ist eben die Aufgabe meiner Untersuchung der »Desorientierung durch herrschende Ideen«. Wieder eine andere Frage als die, ob die Verknüpfung Moral/Klassenlage erkannt wird, ist es, ob aus
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Das hat er in einfachen und klaren Worten ausgesprochen: »Es ist keine Kunst, ein ehrlicher Mann zu sein, wenn man täglich Suppe, Gemüse und Fleisch zu essen hat.«28 Die Kritik der herrschenden Moral (der Moral im Dienst und im Interesse der Herrschaft) ist ein ausgeprägter und durchgehender Zug seiner Werke. Zum einen ironisiert, ja verhöhnt er sie als leere Konvention der Herren (speziell des niedergehenden Adels), wie in dem lachhaften Ausruf des Königs in Leonce und Lena (1/2) »Wo ist die Moral, wo sind die Manschetten?«29 oder in dem Seufzer des Hauptmanns »die Tugend, die Tugend! Wie sollte ich dann die Zeit herumbringen?« (H4,5) Die Triebunterdrückung30 (nicht hinsehen nach den weißen Strümpfen der Mädchen, die nach dem Regen über die Pfützen springen) als Zeitvertreib - das ist, nach Shakespeares Ausdruck, »der Humor davon«. — Zum ändern, und das ist das Schwergewicht und der Ernst, kritisiert Büchner die herrschende Moral als eine Fessel der Geknechteten. Im Einklang mit der herrschenden Religion fordert und preist sie Tugenden, welche Herren an ihren Knechten zu schätdieser Erkenntnis auch die Konsequenzen gezogen werden, ob dieses Axiom Büchners vom Interpreten nicht nur zitiert, sondern auch festgehalten und in der Textauslegung realisiert wird. Das ist dort nicht der Fall, wo Woyzeck moralisch verurteilt wird - »moralisch« im Sinne der christlichen oder der Moral, deren Prototyp die kantische ist und denen Büchners materialistischer Begriff von Moral diametral entgegensteht. So hält W. Wittkowski Woyzeck vor, er wurde sich mit »Fleisch und Blut« (vergeblich) zu entschuldigen suchen, daß er ein uneheliches Kind gezeugt hat (Wittkowski scheint das für eine Sünde zu halten): »Zutraulich erwartet er, daß überall geduldet werde, wozu die Natur, sein Fleisch und Blut ihn treiben. Wie aber, wenn sie ihn treiben, jemand zu ermorden, und wenn dadurch eins dieser Kleinen Vater und Mutter verlieren wird? [...] Von der Tugend hat er eine lächerlich äußerliche Auffassung.« »Armut als moralisches Alibi: das kennen wir an Woyzeck.« (Georg Büchner. - Heidelberg 1978, S. 302, 303, 305). - Woher sollte Woyzeck eine andere Auffassung haben? Sie ist im übrigen weniger weit von der Büchners entfernt (s. o.), als Wittkowski voraussetzt; Armut als moralisches Alibi: das kennen wir auch an Büchner! (Sofern man das Wort »Alibi« nicht in einem herabsetzenden Sinn gebraucht, wobei natürlich nichts weiter als das eben negativ Vorausgesetzte herauskommen könnte.) Wittkowski übersieht Woyzecks Psychose. Was er als^Ugemeingült^e Mäßstäbe voraussetzt, sind christliche, und zwar im Sinn der herrsch6ndiefr ^ die absieht von der materiellen Situation. Diesem ausgebeuteten, aufs Öiwierste iinlerdjfückten und gedemütigten, einem Menschenversuch ausgesetzten, von psychorischen Anfällen geschüttelten Opfer wird Willensfreiheit unterstellt, so daß seine Verantwortlichkeit und Schuldfähigkeit als gesichert gelten können. Das kennen wir aus Clarus. 28 5W (Bergemann, 1922), S. 607 (nach August Becker). 29 In dieser paradoxen Reihe kommen die Manschetten wie eine Apposition der Moral daher und bringen auch einen ernsten Zuschauer zum Lachen. Dieses Lachen kann eine Erkenntnis anbahnen: der zerstreute Duodezfürst plaudert aus, was ihm die Moral ist. Wenn er sie mit Manschetten auf e i n e Ebene, nebeneinander in den Zähler stellt, dann steht fest, was der gemeinsame Nenner ist: »Äußerlichkeit«, »Konvention«, die Moral ist eine Dekorum (das »gewahrt« werden muß), eine Art Vorhemd oder eben eine Manschette. 30 Jancker »Tugend heißt für den Hauptmann die Unterdrückung seiner sexuellen Gelüste«, »die Sexualmoral« werde »verbürgt durch den Ehekontrakt« und »die Arbeitsmoral* »durch einen Arbeitskontrakt«, es finde eine »Affektregulierung« statt (Georg Büchner^ S. 277, 279, 280). 67
zen wissen, wie Gehorsam, Demut und die »Furcht des Herrn« (nach der Bibel Anfang und Ende alier Weisheit). Der Hauptmann nennt Woyzeck in einem Atemzug einen »guten Menschen« und »abscheulich dumm« (H4,5); ein »guter« Mensch ist ein gefügiger, selbst-loser, der sich unverdrossen für andere abarbeitet und nicht aufbegehrt. Bruchlos kann der Hauptmann von seinen Salbadereien zur Drohung übergehen »will [Er] ein Paar Kugeln vor den Kopf haben«? (H2,7), um dann gleich wieder gerührt in Moral zurückzusinken »ich mein es gut [mit] Ihm, weil Er ein guter Mensch ist Woyzeck, ein guter Mensch«. So schlägt Moral in Gewalt und Gewalt in Moral um, nein, so entpuppt sich Moral als Gewalt. Es wäre sehr lohnend für den guten Woyzeck, diese Moralprediger genauer zu mustern: Es sind seine Schinder, die ihn fortwährend Mores lehren. Nur der Ahnungslose kann glauben, die Tugend, die aus dem Munde derer kommt, die ihn unter dem Existenzminimum dahinvegetieren lassen, sei uneigennützig (»interesselos«) und i h r e Moral sei die Moral. Tagaus tagein führt der Hauptmann die Moral im Mund, aber sie fällt ihm nicht ein, um gegen den Menschenversuch an Woyzeck zu protestieren!31 Die fortgesetzten Moralpredigten, die auf Woyzeck niedergehen, haben den Effekt, ja den Zweck, ihn zu demoralisieren32, ihm Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle einzuimpfen. Seine Herren weiden sich daran, ihm schwere Anforderungen aufzuerlegen, es ist ein sadistisches Vergnügen für sie, den Gejagten zusätzlich zu beschuldigen, im Namen der »Tugend« herunterzumachen, zu maßregeln und zu richten. Und Woyzeck bewundert diese »Tugend«! »Woyzeck. Ja Herr Hauptmann, die Tugend! ich hab's noch nicht so aus. Sehn Sie, wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr war und hart ein Hut und eine Uhr und ein anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein. Es muß was Schöns sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl.« (H4,5)
Er wäre auch gern tugendhaft, leider habe er es noch nicht so raus (den moralischen Bogen), denn ihm fehlten dazu die Mittel. (Darin steckt ein Moment von Erkenntnis.) 31 Aber daran kann man nicht einmal denken, so sehr ist es außerhalb der Möglichkeiten, die im Text angelegt sein könnten: so daß einem als abwegig erscheint, was nichts als die beim Wort genommene vielberedete »Tugend« wäre. Kann jemand glauben, diese Moral könnte je für die Geknechteten und Gedemütigten einstehen? Wofür sie dann da ist, das zu erschließen ist danach nur noch eine Frage der Logik; ein Irrtum ist nicht möglich, Ausflüchte sind möglich. 32 Die Tugendpredigten, die Vorhaltung der Willensfreiheit und die »Affirmation des Göttlichen« sind aus demselben Stoff wie alles andere, was Woyzeck zuteil wird, was seine Herren ihm antun. Treffend nennt R. Kreis Dienstleistungen und Vorwürfe in einem Atemzug: »[...] was der Hauptmann ihm an Dienstleistungen und Vorwürfen auflädt« (a.a.O., S. 132), und A. Meier stellt fest, das Lachen über Woyzeck schlage beim Hauptmann [in
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»Sehn Sie, Herr Hauptmann, Geld, Geld. Wer kein Geld hat. Da setz einmal einer seinsgleichen auf die Moral in die Welt. Man hat auch sein Fleisch und Blut.« (H4,5)
Es fehlten ihm auch Hut, Uhr, Gehrock (»Anglaise«) und nicht zuletzt die vornehme Sprache mit ihren schönen Redensarten. Daran >erkennt< er Bildung, wie an Kleidern und Accessoires Kultur (statt Klassen). Seine Wahrnehmung bleibt an der Oberfläche hängen, seine Schlußfolgerungen sind einfältig (nicht aus >angeborener< Dummheit, s. u.), der Ansatz einer Erkenntnis versandet. Seine Argumentation ist rein defensiv.33 Er widerspricht nicht der »Tugend« seiner Herren (er erkennt sie an wie er ihre Bildung anerkennt), vielmehr begründet er, warum er ihr nicht nachkommen könne, wie einer, der nicht das Gesetz bestreitet, das gegen ihn zur Anwendung kommt, sondern lediglich mildernde Umstände für sich geltend zu machen sucht, wie auch in der Berufung auf »Fleisch und Blut« und die »Natur« (Harndrang, Sexualtrieb), »Sehn Sie, wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur [...]« (H4,5) »Aber Herr Doktor, wenn einem die Natur kommt.« (H4,8)
— anstatt, wie gesagt, diese Tugendanforderungen zurückzuweisen, weil sie für ihn unerfüllbar sind. Dadurch, daß er die herrschaftliche Tugend (die von der Herrschaft für ihn vorgesehene) als Prämisse akzeptiert, steht er von vornherein auf verlorenem Posten; denn mit dem herrschenden Ideal erhält er die Herrschaft mit in den Kauf, deren Berechtigung er denn auch nirgends anzweifelt.34 Daß die Herren die Herren sind und bleiben und die »armen Leut« ihre Knechte, erscheint ihm als ewiges Schicksal. Liegt somit seine Einwilligung in seine Knechtung vor? Kapituliert er, weil er gedankenlos, stumpf, unterwürfig und ohne Gefühl für menschliche Würde ist? Eine idealistische Moral wird nicht versäumen, ihm seine Knechtschaft als Schuld anzukreiden. Was die Folge von Not, Druck und Desorientierung ist, wird hingestellt als die Tat des freien Willens. Das tun nicht nur seine Verfolger im Drama. Der Hauptmann und der Doktor beschuldigen ihr Opfer, wie Jäger häufig den Gejagten Verfolgungswahn vorwerfen. Seine Panik habe er selbst verschuldet. Der Doktor erinnert sein zusammensinkendes Versuchstier in barschem Ton an die Willensfreiheit. H4,5] »sogleich in Rührung um, weil er ein Versagen feststellen darf und sich damit in seiner Überlegenheit bestätigt sieht.« (a. a. O., S. 44). 33 Diese Defensive durchbricht Woyzeck in wenigen »lichten Momenten«, darauf komme ich noch zurück (Teil III). 34 So auch Z. Tordai (Woyzeck. - In: Essais sur les formes et leurs significations. - Paris 1981, S. 70): Woyzeck akzeptiere das System; A. Meier: die Unterdrückung werde von allen Personen anerkannt (a. a. O., S. 41). 69
»Woyzeck. Aber Herr Doktor, wenn einem die Natur kommt. D o k t o r Die Natur kommt, die Natur kommt! Die Natur! Hab' ich nicht nachgewiesen, daß der musculus constrictor vesicae dem Willen unterworfen ist? Die Natur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit. Den Harn nicht halten können!« (H4,8) Und der Hauptmann hält seinem Gehherda vor, »du siehst immer so verhetzt [abgehetzt] aus« (H4,5). Was die normale und die pathologische Folge schwerer Arbeitsüberlastung und des Drills ist, wird von diesem Nichtstuer — einem der Verursacher der Hetze — dem Gehetzten ins Gewissen hineingeschoben: Das schlechte Gewissen treibe ihn um (wie umgekehrt das gute ein »sanftes Ruhekissen« wäre), schließlich lebe er in wilder Ehe und habe ohne den Segen der Kirche ein Kind in die Welt gesetzt. (Vorgebildet auch in der Quelle: Clarus und Heinroth erklären Psychosen für Folgen moralischer Verwahrlosung und »Sünde«35.) Die Arbeitshetze wird als gehetztes >Wesenabgeleitetwilde Ehe< Sünde. Dagegen setzen sich Woyzeck und Marie noch zur Wehr: Woyzeck beruft sich auf Jesus, der sprach »Lasset die Kindlein zu mir kommen«, der »liebe Gott« werde »den armen Wurm nicht drum ansehn« (seine Existenz wegen der Sünde der Eltern - die Woyzeck nicht leugnet — nicht beanstanden; H4,5). Und Marie blickt in das »unehrliche Gesicht« des »arm Hurenkinds«, das seiner Mutter dennoch Freude mache (H4,2), und sie stimmt das übermütige, das schwankende Selbstbewußtsein einer ledigen Mutter aufrichtende Volkslied an »Mädel, was fängst du jetzt an Hast ein klein Kind und kein Mann Ei was frag ich danach Sing ich die ganze Nacht Heio popeio mein Bu. Juchhe! Giebt mir kein Mensch nix dazu.«36
Aber auch dieser Sündenvorwurf bleibt nicht ohne Wirkung: Später hören wir aus ihrem Mund »Das Kind gibt mir einen Stich in's Herz« und den >vorwurfsvollen< Seufzer »Das brüst sich in der Sonne!« (H4,16)37 Entscheidend aber wird, daß Woyzeck clas %rhältnis Maries mit dem Tambourmajor als »Sünde« (H4,7 und fil,19) Beg^dft (wie Marie selbst H4,16). Eben hatte er sich noch gegen moralische Vorhaltungen des Haupt-
36 Dieses »Juchhe!« wird etwas gepreßt herauskommen. Daß ihnen kein Mensch etwas »dazu« gebe (um das Kind durchzubringen), so haben ledige Mutter seit jeher und mit Recht den Tadel der Tugendfesten (vom Schlage der Margreth) zurückgewiesen. Die »Sünderinnen« zu ermahnen, könnten die sich allenfalls herausnehmen, wenn sie für das Kind etwas übrig hätten. (Und auch dann nicht.) »Mädel, was fängst du jetzt an?« = Schlußstrophe des Volksliedes »Sitzt e schöns Vogerl«, vgt auch Goethes Gedicht Vor Gericht. 37 »Das brüst sich« (Bergemann; in Schmids Transkription »brüht sich«) ist nicht gesichert, scheint mir aber die zutreffende Lesart. Was sich brüstet in der Sonne, statt sich zu verber-
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manns auf »Fleisch und Blut«, d. h. die Triebbedürfnisse (und auf seine Armut), berufen — und wendet jetzt dieselben repressiven moralischen Normen gegen Marie an38, um seiner Eifersucht einen desto vorwurfsvolleren, aggressiven Ausdruck zu verschaffen. Selbst wenn uns eine solche Reaktion ganz natürlich vorkäme, bewiese das nicht, daß sie Natur ist, sondern lediglich, wie sehr auch wir von den Normen der herrschenden Moral durchdrungen und tyrannisiert sind. Gegen diese eine kritische Distanz zu gewinnen — und sei es nur für Augenblicke -, verlangt eine merkliche Anstrengung. Der Sachverhalt wird greifbar, wenn wir in H4,ll, als Marie und der Tambourmajor an ihm vorbeitanzen, Woyzecks erstickte Stimme hören: »Dreht Euch, wälzt Euch. Warum blast Gott nicht die Sonn aus, daß Alles in Unzucht sich übernander wälzt, Mann und Weib, Mensch und Vieh. Tut's am hellen Tag, tut's einem auf den Händen, wie die Mücken.«
Das sind himmelschreiende Worte, wie die über Sodom und Gomorrha und wie das Wort »Todsünde« (in H4,7; doppeldeutig, die nicht verziehen wird und die den Tod, hier den Mord, verdient), Worte, die eine schwere Drohung enthalten. In der Tonlage sind sie denen verwandt, die in H l, 15 den Messerstichen unmittelbar vorangehen. In dieser apokalyptisch chiffrierten Verzweiflung und Bedrohung wird die Mordtat, noch vorbewußt, vorweggenommen. Doch schon in der nächsten Szene, H4,12, hört Woyzeck die »Stimmen«: »stich, stich die Zickwolfin tot«. Die apokalyptische Sprache deutet schon voraus auf das Ende; diese Worte sind einer der finalen Zeiger, die den Blick des Zuschauers unterschwellig und schon von weitem auf die bevorstehende Katastrophe lenken. Und das noch in einem anderen Sinn: Diese Sprache ist verknüpft mit Woyzecks psychischer Katastrophe, ist ein Medium seines Wahns; ihre Quelle ist eines der Zentren seines Wahnsystems, das »Weltende«, »Sodom und Gomorrha« (H4,l das Feuer am Himmel, die tote Welt, und H4,8 »Wenn die Sonn in Mittag steht und es ist als ging die Welt im Feuer auf hat schon eine fürchterliche Stimme zu mir geredt!«). Bevor Woyzeck in H l, 15 zusticht, redet er von Maries »heißem Hurenatem« und nach dem Mord von ihrer durchschnittenen Kehle als einem »Halsband«, das sie mit ihrer »Sünde« (oder ihren »Sünden«) »verdient« habe: »Du warst schwarz davon, schwarz! Hab ich dich jetzt ge-
gen wie der Dieb in der Nacht, ist die »Sünde« (bzw. die Folge der »Sünde«, das Kind). Der Ton ist biblisch, ich meine Paulinisch, ein Anklang an 1. Kor. 1,29, auf das »Fleisch«, das sich vor Gott nicht »rühmen« soll? In PS. 94,4 »brüsten sich alle Übeltäter«. Auch dieses »das« deutet in dieselbe Richtung; es ist nicht einfach nur das Relativpronomen für »Kind«, sondern trägt einen Sinn mit wie Woyzecks »wir gemeine Leut, d a s hat keine Tugend« (s. o. S. 69). 38 So, grundlegend, B. Ullman, s. o. S. 57; ähnlich Z. Tordai (Woyzeck greife Argumente des Hauptmanns auf), a. a. O., S. 74.
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bleicht.« (Hl,19) »Gebleicht« ist doppeldeutig: blaß, die ausgeblutete Leiche, und gereinigt durch die Bestrafung mit dem Messer (Anklänge an Shakespeares Othello V/2; überhaupt ist die Mordszene im Woyzeck eine Nachbildung der Mordszene des Othello, ihres Eingangs)39. Woyzeck maßt sich die Rolle eines Vollstreckers göttlicher Strafe an40, erhebt sich zu einer verfolgenden Instanz (wie sie dann, als Strafverfolgung, gegen ihn auftreten wird) — einer der tiefsten Einschläge »herrschender Ideen« in seinem Bewußtsein, tragische Desorientierung! Ich übe hier keine theologische Kritik an einer Blasphemie (er habe die von Sünden Geschwärzte mit dem Messer »gebleicht«), die sich mit dem biblischen »Mein ist die Rache, spricht der Herr« und dem »Richtet nicht!« begnügen dürfte. Mich beschäftigen die von Büchner im Text angezeigten p s y c h i s c h e n Folgen der »Sünde«: Der Mörder kann den Mord vor sich selber rechtfertigen als Bestrafung, als >Lohn der Sünde< (»verdient mit deiner Sünde«). Seine Eifersucht und sein Haß machen sich durch dieses Gefühl, im Recht zu sein, durch »Rationalisierung«, die Bahn frei; die letzte Hemmschwelle, die Tötungshemmung, wird abgebaut und damit der destruktive psychotische Mechanismus entriegelt, die angestaute Wut setzt sich zu einem längst von der Aggression anvisierten Ziel in Bewegung, und dieses Ziel ist der Mord. So können wir, Stufe um Stufe tiefer hinabsteigend, die Wirkung der religiös-moralischen Kategorie »Sünde« verfolgen: Von der Eifersucht (die ich einmal, fälschlicherweise, eine natürliche Reaktion nennen will) war es nur ein Schritt zur »Sünde«, zum Verstoß gegen Gottes Gebot, und ein weiterer Schritt zur »Todsünde« (H4,7), die - ohne Reue - nicht vergeben wird und die (nach Woyzeck) nicht ohne Strafe, Vergeltung, Rache bleiben kann, und endlich ein letzter Schritt: Der >Betrogene< selbst tritt als Rächer auf und reinigt die Sünderin durch ihre Ermordung. B. Die herrschende Religion Wenden wir uns jetzt der h e r r s c h e n d e n R e l i g i o n überhaupt zu: Welche Rolle spielt sie im Woyzeck? Was ist sie in den Händen der Herren und wie durchdringt sie das Bewußtsein der Geknechteten? Von ihr gilt analogy
39 Vgl. T. Otten: Woyzeck and Othello: The Dimensions of Melodrama. - In: Comparative Drama 12 (1978), S. 132 zu Othello V/2. 40 R. Kreis meint, Woyzeck empöre sich auch gegen das {ihm aufgeprägte) »Sexualschema«, dem der »Besitztrieb« zugrundeliege (wie es Ullman dargestellt hat); sein »Richter- und Henkerwahn« gelte »dem endlich [statt z.B. in den >FfcimaurernSodom< seiner Welt« (S. 131). — F. H. Mautner meint dagegen, das »immer zu« der Stimmen fordere Woyzeck »zur persönlichen Rache auf, aber auch zur vom Sittengesetz [?] geforderten Bestrafung Maries«, das »muß ich?« Woyzecks in H4,12 scheint Mautner »eher ein Zögern vor der moralischen Pflicht [?·), Marie zu töten« (Wortgewebe, Sinngefüge
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was ich über die herrschende Moral ausgeführt habe. Sie predigt den Niedergehaltenen Demut und die »Furcht des Herrn« und vertröstet diejenigen, die ihr Leben lang Not leiden, mit der Hoffnung auf himmlischen Lohn. Über diese Demut - Demobilisierung im Gegensatz zur Beschleunigung durch »religiösen Fanatismus« (s. u.) - äußerte sich Büchner gegen einen Jugendfreund: »Das Christentum gefällt mir nicht — es ist mir zu sanft, es macht lammfromm.«41 Der Militärgeistliche hetzt, wie erwähnt, gegen Woyzecks >wilde Ehe< und das Kind, gezeugt »ohne den Segen der Kirche«. Dieser Garnisonsprediger würde voraussichtlich auch in Woyzecks letzter Lebensszene wieder auftauchen, um dem armen Sünder auf den Stufen des Schafotts geistlichen Beistand zu leisten, d. h. dem von Todesangst Geschüttelten in einem religiösen Schauspiel vor einer gaffenden Menge Zerknirschung abzunötigen — als letzten Triumph der Herrschaft: Das Opfer bekennt sich schuldig und fleht seine Verfolger, Richter und Henker um Vergebung a n . . . Damit erweist es dem herrschenden System einen letzten, unschätzbaren Dienst: Es erkennt die herrschenden Gesetze und Normen als ewige Gerechtigkeit an, und das in dem Augenblick, wo diese Normen seine Vernichtung bewirken! So verschwinden die tatsächlichen Ursachen seiner Verschuldung und die wahrhaft Schuldigen aus dem Blickfeld und Bewußtsein der Zuschauer. - Der historische Woyzeck zog auf dem Blutgerüst sein Sterbegebet42 in die Länge, in der Hoffnung, es möchte noch im letzten Moment seine Begnadigung zu lebenslangem Kerker eintreffen ... Der Psychiater Clarus berichtet, Woyzeck habe »das Blutgerüst mit einer Fassung bestiegen [...], als stiege er in einen Reisewagen. [!) Den Schlüssel hierzu giebt theils sein unbedingter Glaube, daß seine Seele geradenweges in das Paradies gelange, von dem er sich eine sehr materielle Vorstellung machte, theils auch wohl seine bis zum lezten Augenblick genährte Hoffnung auf Begnadigung [wer ließ ihn das hoffen, wer beließ ihn in dieser Hoffnung?], weshalb er auch das gedachte Gebet, welches er laut und mit sehr lebhaften Gestikulationen verrichtete, absichtlich zu verlängern schien. Uebrigens kam auch wohl s o l d a t i s c h e s Ehrgefühl, Todesverachtung und Eitelkeit bei seinem ganzen Benehmen mit ins Spiel. —« (l, 537)
und »Idee« in Büchners Woyzeck. - In: Martens, S. 518, 532; S. 538 wieder der von Woyzeck »als moralische Pflicht gefühlte Mord«). 41 Georg Büchner: Werke und Briefe, hg. von F. Bergemann.-Wiesbaden 1958, S. 461. 42 Woyzecks letztes Gebet: »Vater! ich komme. Ja. mein himmlischer Vater, Du rufst mich, dein gnädiger Wille geschehe! danke! Herzlichen dank, Preiß und Ehre sey dier, allerbarmer, daß du bey aller meiner grossen Schult, dennoch liebreich auf mich blickst, und mich würdigst, Dein zu seyn! Dank sey dier, daß du nach so vielen außgestandenen Leiden, die Thränen trocknest, die ich dier so manche wäyhte, Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! dier lebe ich, dier Sterbe ich, dein bin ich tott, und lebendig, amen, Herr Hilf! Herr, laß wohl gelingen! amen. Johann, Christ: Woycecky«
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Wirklich zugleich und symbolisch! Büchner hat eine solche letzte Lebensszene nicht entworfen. Dennoch getraue ich mich zu behaupten, auch er hätte diese Realität nicht überboten. Diese Szene hat sich am 27. August 1824 auf dem Marktplatz in Leipzig ereignet. Sie ist ein absolutes Extrem der Unterwerfung. Grell und grausam beleuchtet sie die Rolle der offiziellen, der herrschenden Religion im Leben dieses Verfolgten; sie hat den Charakter einer endgültigen Kennzeichnung. Die Todesfurcht und die Täuschung, sich vielleicht noch retten zu können, sind die Quellen seines >GlaubensIronie< (gegen einen Todgeweihten) kennzeichnet ihn als Repräsentanten der herrschenden Verhältnisse. Clarus merkt an, der »Inquisit« habe sich den »bei solchen Gelegenheiten [Vorbereitung auf die eigene Hinrichtung] gewöhnlichen Religionsübungen [...] gern, aber ohne sonderliche Rührung, unterzogen« (1,537), und er weiß von einer » g ü n s t i g e n Veränderung« zu berichten, die mit dem Todeskandidaten während seiner langen Kerkerhaft vor sich gegangen sei: »Er ist um vieles zugänglicher, offner, zutraulicher und gesprächiger geworden, und scheint das Bedürfniß zu fühlen, sich mitzutheilen. [Allerdings, wenn Clarus seine Zelle betritt, befällt ihn ein schweres Zittern.] Das gleichgültige, kalte, rauhe und verwilderte Wesen, das ich früher an ihm beobachtete, hat sich verloren. Er hat Zeit und Aufforderung gefunden, einen ernsthaften Blick in sein Inneres, auf Vergangenheit und Zukunft zu werfen; die Reue ist in ihm erwacht und mit ihr die Liebe zum Leben. Er scheut sich nicht mehr, zu gestehen, daß er den Tod durch Henkers Hand fürchte, und daß er einen mildern Urtheilsspruch wünsche, so wie sein ganzes Benehmen zeigt, daß er einige Hoffnung dazu nährt.« (l, 505 f.)
Wir ermessen, welche Tragödie sich hinter diesem >SinneswandelLäuterung< verbirgt. Auf den Brettern des Schafotts steht sie in grellem Licht vor unseren Augen: Als der »InqUisk« - jetzt DeliöqiJ^ ~ in panis^em Eifer das von ihm selbst aufgesetzte Gebet »laut und mit sehr lebhaften Gestikulationen verrichtete«, das er in trügerischer Hoffnung »Mein [gestr. letztes] letzter gedancke ich bitte Dich durch Christi Blut, Machs nur mit meinen Ente gut Leipzig den 26. august, 1824. Johann, Christian Woycecky«. Diese und weitere Dokumente zum Fall Woyzeck in: Georg Büchner, Leben, Werft, Zeit [Ausstellungskatalog zum 150 Jahrestag des Hessischen Landboten], bearbeitet von th. M. Mayer. - Marburg 1985, S. 239-247. 75
zu verlängern schien«. Dieses der Sprache der Wissenschaft angehörige »schien« soll die (geradezu habituelle) methodische Vorsicht dessen ausdrükken, der die Zurechnungsfähigkeit Woyzecks als eine G e w i ß h e i t hinstellt (I, 534) und bestätigend das Gerichtsurteil zitiert, »die Zurechnungsfähigkeit des Inquisiten« sei »vollständig erwiesen« [!] worden (I, 535). An diesem >wissenschaftlichen< »schien« und an den »lebhaften Gestikulationen« - ein Kontext für das Wort »lebhaft«, der zynischer wäre als dieser, könnte nicht erfunden werden - muß man den Ideologen der herrschenden Verhältnisse erkennen und wiedererkennen.43 Wie schlägt sich eine Religion, die ein Instrument der Herrschaft ist, im Bewußtsein der Geknechteten nieder? Was wir eben am historischen Fall Woyzeck im Extrem gesehen haben, will ich jetzt im Text der Tragödie an weniger auffälligen, in ihrer Summe aber nicht weniger zerstörerischen Einwirkungen aufzeigen. Das Gottesbild, das Woyzeck eingraviert ist, ist der Gott der »Rache«, der »Herr«.43a Dieser Gott des Strafgerichts ist dann auch ein Hauptinhalt seiner Wahnbildungen, wie in den Visionen vom Jüngsten Gericht und Weltuntergang: 43 Vgl. vor allem das Vorwort, datiert 16. 8. 1824 (11 Tage vor Woyzecks Hinrichtung), die Verbeugung vor der »seegensvollen und milden Regierung« usf. Mit wie vielem Recht sich diese Psychiatrie »Staatsarzneikunde« nennt, kann ich hier nicht ausführen. Die Ideologie des Clarus-Gutachtens ist eines der schwierigsten und interessantesten der unerledigten Woyzeck-Probleme. Aus dem Text des Gutachtens nenne ich von zahlreichen Stellen, die das Verhältnis Wissenschaft/Herrschaft beleuchten, nur einige wenige: Die Lehre von der amentia occulta, den »blinden Antrieben« und dem »gebundenen Vorsatz«, (mit der die »aberratio mentalis« zusammenhängt, die der Doktor an Woyzeck H4,8 diagnostiziert) stellte eine der wenigen Möglichkeiten für die Psychiatrie des frühen 19. Jahrhunderts dar, die Diagnose »unzurechnungsfähig« zu begründen und gerichtlich durchzusetzen und damit die Kranken ihren Richtern und Henkern zu entreißen. (Bahnbrechend war die Psychiatrie der Französischen Revolution, allen voran Philippe Pinel, vgl. M. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft [Paris 1961]. - Frankfurt 1969). Clarus weist amentia occulta, vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit und »instinktartigen, von den Banden der Natur umstrickten Willen« (I, 528) zurück, »ein solcher Antrieb [habe] bei Woyzeck nicht Statt gefunden« (533, mit skandalöser Begründung). Eine »unvorsichtige [Erschleichung der Konklusion!] Anwendung« solcher Lehren würde »die gerichtliche Medicin um ihr wohlverdientes Ansehen [...] bringen« [bei wem?] (528), es bestünde die Gefahr, durch Annahme einer »Nothwendigkeit des Handelns« »die Wirkung der Gesetze zu lahmen« (ebd.). Er versagt es sich nicht, am Schluß auf den Attentäter Sand hinzuweisen, bei dessen Hinrichtung eine ähnliche physiologische Beobachtung (verminderte Propulsionskraft des Herzens) gemacht wurde, wie sie an seinem Inquisiten zu machen war, als man ihm den Kopf abschlug (537), eine Beobachtung, die von den hohen Behörden gewiß verstanden und beifällig aufgenommen wurde. — Darf ich in diesem Zusammenhang an Woyzecks Traum von der »Grube« erinnern, den er Clarus wie eine Bitte um Hilfe mitteilt? (s. o. S. 54) Weiteres über Clarus S. 99. 43a Für die Theologie der Herrschaft ist dieser Gott überhaupt der richtige für die arbeitenden Klassen. Schon Melanchthon hat die Pfarrer angewiesen, dem »gemeinen, groben Mann« (den geschlagenen Bauern) das »Gesetz« zu predigen, das mosaische Gesetz des Alten Testaments; zu betonen seien Buße, Glaube und gute Werke. Das Evangelium könne nämlich erst begriffen werden, wenn der Mensch vorher seine Sündhaftigkeit erkannt habe. Auf den
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»Wie hell! Ein Feuer fährt um den Himmel und ein Getös herunter wie Posaunen. Wie's heraufzieht! Fort. Sieh nicht hinter dich. [. . .] Alles still, als war die Welt todt.« (H4,l) »(geheimnisvoll) Marie, es war wieder was, viel, steht nicht geschrieben, und sieh da ging ein Rauch vom Land, wie der Rauch vom Ofen?« (H4,2) »Wenn die Sonn in Mittag steht und es ist als ging die Welt im Feuer auf hat schon eine fürchterliche Stimme zu mir geredt!« (H4,8) »Warum blaßt Gott nicht die Sonn aus« (H4,ll).
Der Gott des Strafgerichts als p s y c h o t i s c h e P r o j e k t i o n , mit den »Freimaurern« Zentrum eines Verfolgungswahns - das ist eine Texttatsache ersten Ranges! Sie zeigt an, wie die Rolle der herrschenden Religion im Woyzeck zu bestimmen ist (Erlösung, wie E. Krause und andere meinen, oder Desorientierung, wie ich behaupte). Diese Grundtatsache, sobald sie wahrgenommen und ihre Konsequenz durchdacht ist, erschüttert alle Deutungen, die einen christlichen Sinn des Woyzeck (der letzten >Fassung< H4) in Aussicht stellen (s. u.)· Die herrschende Religion als Desorientierung der Beherrschten: Für die Ohnmächtigen und Ratlosen ist diese Religion eine Betäubung, ein narkotischer Trost, der, vorübergehend, psychische Entlastung bringt, aber erkauft werden muß mit um so tieferer Desorientierung und Entfremdung. Zweitens ist sie auch ein Medium, eine Sprache, in der sich ungreifbare, unbegriffene Ängste objektivieren und benennen und somit »bearbeiten« lassen. Und drittens liefert sie eine Projektionsfläche für den Wahn oder ein Arsenal von Bildern, Vorstellungen und Mustern, aus denen sich der Wahn >bedientOpfer< »sicher und ruhig und fest«. In diesem Ton spricht Matthias Claudius vom Tod. — Lenz härte von seinen religiösen Anstrengungen wie der historische Woyzeck sagen können »was hat mirs denn geholfen?« (s.o. S. 83). Zur Herkunft dieser Verse von den heiligen, heiligenden Schmerzen: H. Anz: »Leiden sey all mein Gewinnst.« Zur Aufnahme und Kritik christlicher Leidenstheologie bei Georg Büchner. — In: GBJb l (1981), S. 160-168. Die beiden letzten Verse stammen aus einem pietistischen Gesangbuch von 1714. - Der Schluß, Woyzeck sei Pietist, ist bisher vermieden worden. 59 Taten der metanoia. Jedoch Taten, die beweisen, daß selbst durch den Mord Woyzecks »Substanz« nicht restlos vernichtet werde, stehen im Text, s. u. S. 132 ff.
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aufkommen können, wenn nicht alles, was sich v o r dieser Konversion abgespielt hat (quantifiziert: sieben Achtel des Stücks), dramatisch tote Kosten und blinde Motive gewesen sein sollen. - Drittens: Wenn so (wie Woyzeck in H4,17 und Marie in H4,16) die >Erlösten< aussehen60, wie sehen dann die >Verdammten< aus? (Ich meine die Verdammten dieser Erde.) 2. Die d r a m a t i s c h e S i t u a t i o n: Wir müssen die dramatische Situation beachten, in der Woyzeck dieses Kirchenlied abliest. Er ist im Beg r i f f , zu e i n e r M o r d t a t a u f z u b r e c h e n ! 6 1 Er wird nicht von religiösen Anwandlungen befallen, trägt keine Leidensmystik im Herzen, sondern den Vorsatz, Marie für ihre »Sünden« umzubringen. Wie kann man einen so schreienden Gegensatz verkennen oder >erbaulich< verwischen, wie er besteht zwischen der Nachfolge Christi und einem Mord, zwischen gefalteten Händen und der Faust, die schon den Messergriff umklammert! Es scheint mir fast absurd, einen religiösen Sinn des Woyzeck auf derartige >Belege< zu stützen. Nur in einem Satz möchte ich hinzufügen, was mir eine Sache des >Gehörs< zu sein scheint: Solche gemüthaft-erbaulichen Deutungen sind dieser Figur atmosphärisch fremd. Das tragische Mitleid, das wir für Woyzeck empfinden, hat eine andere Färbung, stammt aus einer anderen Quelle. 3. Ein t r a g i s c h e s Detail: Krause findet es erstaunlich, daß Woyzeck in seinem Testament das Messer nicht auffuhrt: »Erstaunlicherweise spricht Woyzeck nicht mehr von dem Messer, das gerade bei der Aufteilung der Habseligkeiten in der ihm zugedachten Bestimmung so gut zur Sprache kommen könnte, wenigstens in einer dunklen Andeutung.« (222 f.) »Woyzeck spricht nicht mehr von dem Messer oder von einer Ermordung.« (224) Was Krause erstaunlich findet und als Indiz dafür nimmt, Woyzeck habe seinen Mordvorsatz fallenlassen, beweist im Gegenteil, daß der an seinem — längst zwanghaften — >Vorsatz< (H4,12 die Stimmen »stich, stich die Zickwolfin tot«) festhält. Woyzeck hat mit seinem Leben abgeschlossen; er weiß, daß er nach dem Mord an seiner Geliebten keinerlei Aussichten hat, unentdeckt zu bleiben und davonzukommen. Er wird gefangengenommen und hingerichtet werden. Und deshalb kann er schon jetzt, vor der Tat (und nicht erst nach seiner Verhaftung) Ä erst (H4,15) erstandene Messer, das er noch benö^^ 60 Auch K. May: Büchner: Woyzeck. - In: Das deutsche Drama vom Barock bis zur Gegenwart, Bd. II, hg. v. B. v. Wiese. - Düsseldorf 21960* S. 96 hat »nicht eine Spur, nicht einen Schimmer von religiöser Erlösung« entdecken können. - H.-D. Kittsteiner und H. Lethen wenden sich gegen die »Theologen«, die für den Woyzeck »den >Verborgenen Gott< aus der Vertikalen herbeischaffen]« und die gelegentlich, wie ihrer Meinung nach W. Wittkowski, »Büchners Schreibweise als eine Art I n f a m i e beschrieben, die unchristlichen Lesarten Vorschub leistet« (GBJb 3 (1983], S. 240, 241). 61 Richtig E. Kobel: Georg Büchner. Das dichterische Werk. - Berlin, New York 1974, S. 305: »dabei hat Woyzeck vor, Marie und sich selbst [?] umzubringen!« (gegen F. H. Mautner).
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Andres dieses Messer nicht erwähnt (auch nicht in einer »dunklen Andeutung«), ist sehr begreiflich. Andres würde sogleich erraten, was Woyzeck vorhat, und er würde alles daransetzen, den Kameraden von der Tat abzubringen, ihn wenn möglich aufzuhalten. Darauf läßt es Woyzeck natürlich gar nicht erst ankommen. Krauses These einer Konversion wird durch die einfachsten Fragen erschüttert: Wozu hat einer, dem »Leiden« zum »Gottesdienst« geworden ist, ein Messer bei sich? Und warum sagt dieser >Bekehrte< am Ende der Szene »Ja Andres, wann der Schreiner die Hobelspän sammlet, es weiß niemand, wer sein Kopf drauf lege wird«? (Ähnlich schon, vordeutend, in H4,l; der Kopf der Toten wurde im Sarg auf ein Kissen, gefüllt mit Hobelspänen, gebettet). Sehen so die Vorzeichen eines »neu geordneten Lebens« aus, das Krause (224) für Marie und Woyzeck erträumt? 4. Zur L o g i k des G e s c h e h e n s : Die Logik des Ablaufs, in den die Szene H4,17 eingebettet ist, weist einen finalen Zug auf. Unmittelbar vor der angeblichen Konversion in H4,17 hat Woyzeck H4,15 die Mordwaffe erstanden.62 Dazwischengeschoben ist (Technik abwechselnder Handlungsstränge) H4,16 (»Marie blättert in der Bibel«, eine weitere >Konversionirrationale< Wendungen. Darauf erwidere ich: Erstens, die tiefe psychotische 62 Und dieser Auftritt ist überdies - worauf Krause auch hinweist (S. 220), offen argumentierend, wie ich hervorheben möchte - von Büchner für H4 neu entworfen und ausgeführt worden, d. h. H4,15 hat in früheren Handschriften keinen Vorgänger. Diese Tatsache hat philologisch großes Gewicht. Sicherlich ist sie der These nicht günstig, aus H4,15 werde nichts folgen (nicht das, was jeder Zuschauer nach diesem Messerkauf erwarten muß). 63 Nur als Curiosum erwähne ich, daß ein Interpret an den Worten »Eins nach dem ändern« die Anpassung Woyzecks an die (pedantischen) Ordnungsvorstellungen des Hauptmanns erkennen will.
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Verstörung erlaubt keinen solchen umwendenden Entschluß der Freiheit. Zweitens, wenn sich Konversionen so ereignen und sozusagen alles möglich wird, woher weiß man dann, daß es nicht gleich darauf wieder >umschlägt